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German Pages 321 [324] Year 2016
Invenit, Incisit, Imitavit
Gudrun Knaus
Invenit, Incisit, Imitavit Die Kupferstiche von Marcantonio Raimondi als Schlüssel zur weltweiten Raffael-Rezeption 1510–1700
Gedruckt mit großzügiger finanzieller Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung sowie der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
ISBN 978-3-11-034758-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-034767-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038055-2
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter De Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildungen: oben: Marcantonio Raimondi, Frau mit zwei Schwämmen, Kupferstich © British Museum, London; unten: Anthonis van Dyck, Studie nach Marcantonio Raimondi, Federzeichnung aus dem Italienischen Skizzenbuch fol. 80v © British Museum, London. Layout und Satz: Petra Florath, Berlin Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis
Danksagung
XI
Einleitung
1
Forschungsstand
7
Methodische Grundlagen Druckgrafik in ihren funktionalen Zusammenhängen
Die Zusammenarbeit von Raffael und Raimondi
15 19 27
Das Verhältnis der Kupferstiche Raimondis zu den Zeichnungen Raffaels: Analyse einzelner Werke
51
Kupferstiche als künstlerische Vorbilder
63
Empfehlungen in italienischen Malereitraktaten
73
Die einzelnen Stufen der Künstlerausbildung nach Giovanni Battista Armenini
76
Empfehlungen über den Umgang mit Druckgrafik in Traktaten nördlich der Alpen
82
Ergebnisse
86
Die Rezeption der Kupferstiche Marcantonio Raimondis
87
Überblick
87
Quadrierte Kupferstiche Marcantonio Raimondis
88
Eine Nachzeichnung auf der Rückseite eines Stichs
93
Nachzeichnungen, die das Strichbild eines Kupferstichs imitieren
97
Die Kreuzabnahme
Parmigianino
105 123
Freie Nachzeichnungen von Gesamtkompositionen
123
Die Predigt Pauli vor den Athenern
124
David und Goliath
127
Exkurs: Daniel Hopfers Interpretation des Holzschnitts von Ugo da Carpi
136
Christus im Haus Simons, des Pharisäers
139
Selektive Nachahmung und Integration der Entlehnungen in neue Kunstwerke: Der Bethlehemitische Kindermord
146
Lukrezia
151
Funktionen der Nachahmungen Parmigianinos
153
Das italienische Skizzenbuch von Anthonis van Dyck: Die gezeichnete Nachahmung von Kupferstichen als aide-mémoire
157
Nicolas Poussin und Raimondi: Das augenfällige Zitat
173
Poussins Umgang mit vorbildlichen Kunstwerken
176
Ein Überblick über Poussins künstlerische Reaktionen auf das Werk Raffaels
178
Strategien der Erneuerung der Antike: Die Pest von Aschdod
182
Das Königreich der Flora
188
Die Kombination der Entlehnungen aus Raimondis Stichen mit anderen bildlichen und textlichen Quellen: Der Bethlehemitische Kindermord
193
Parallele Referenz auf originale Werke Raffaels und ihre druckgrafischen Übersetzungen: Der Parnass
200
Ergebnisse
207
Rembrandt und Raimondi: Die Referenz wird verborgen
209
Rembrandts Kenntnisse italienischer Kunst
209
Rembrandts Umgang mit Entlehnungen
213
Exkurs: Über die Druckgrafik vermittelte italienische Vorbilder für das Werk Rembrandts
218
Die Predigt Pauli vor den Athenern
228
Aus Anna wird Hanna: Raimondis Maria an der Wiege und Rembrandts Darbringung im Tempel
231
Galatea und die Pfannkuchenbäckerin – Das Zitat als geistreicher Scherz
232
Ganymed
238
Homer im Kreise seiner Zuhörer: Rembrandts gezeichnete Transformation von Raffaels Parnass
243
Rembrandt tauscht sein Hundertguldenblatt gegen einen Abzug der Pest in Phrygien: Raimondi als technisches Vorbild
249
Ergebnisse
257
Arten der Aneignung von Kupferstichen Die Kupferstiche Marcantonio Raimondis aus der Perspektive der aktuellen Kulturtransferforschung
Schlussbemerkung: Die Bedeutung der Kupferstiche Marcantonio Raimondis als internationale Vermittler der Bildschöpfungen Raffaels
261 267
273
Bibliografie
277
Register
295
Abbildungsnachweis
297
Es geht durch die ganze Kunst eine Filiation. Sieht man einen großen Meister, so findet man immer, dass er das Gute seiner Vorgänger benutzte, und dass eben dies ihn groß machte.
Johann Wolfgang Goethe (Eckermann / Goethe 1999, S. 195–196.)
Danksagung
Die vorliegende Dissertation entstand im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Graduiertenkollegs „Pro*Doc: Kunst als Kulturtransfer seit der Renaissance, 1400–1600“ unter der Leitung von Prof. Dr. Norberto Gramaccini, Prof. Dr. Andreas Beyer sowie Prof. Dr. Andreas Tönnesmann (†). Ohne die großzügige finanzielle Unterstützung durch den Schweizerischen Nationalfonds und den Feldspesenfonds der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern wären die für diese Arbeit notwendigen Recherchen in zahlreichen Kupferstichkabinetten und grafischen Sammlungen nicht möglich gewesen. Forschungsreisen führten mich unter anderem zum Rijksprentenkabinet Amsterdam, zum Kupferstichkabinett SMPK Berlin, zur Pinacoteca Nazionale in Bologna, zum Kupferstichkabinett Staatliche Kunstsammlungen Dresden, zu dem Gabinetto Disegni e Stampe in den Uffizien in Florenz, der Graphischen Sammlung des Städel Museums, Frankfurt am Main, dem Department of Prints and Drawings des British Museum, dem Victoria & Albert Museum in London, der Pierpont Morgan Library, dem Print and Drawing Room des Metropolitan Museum in New York, dem Ashmolean Museum in Oxford, der Biblioteca Apostolica Vaticana und der Calcografia Nazionale in Rom, zum Kupferstichkabinett der Staatsgalerie Stuttgart, zur Albertina in Wien und zur Grafischen Sammlung der ETH in Zürich. Von Herzen danken möchte ich vor allem meinem Doktorvater, Norberto Gramaccini, der mich durch die Ausschreibung des Programms des Graduiertenkollegs erst dazu inspiriert hat, eine solche Arbeit in Angriff zu nehmen. Zahlreiche Tagungen und Kolloquien im Rahmen des Pro*Doc sowie der enge Austausch mit fortgeschrittenen Wissenschaftlern haben mich in der Entwicklung eigener Forschungsansätze wesentlich gefördert. Besonders motivierende Begleitung erhielt ich durch PD Dr. Peter Schmidt, der mich ebenfalls im Prüfungsverfahren betreute. Wann immer ich auf die Auskünfte von Kuratoren internationaler grafischer Sammlungen angewiesen war, konnte ich auf schnelle und unbürokratische Hilfe zählen. Martin Sonnabend und
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Jutta Schütt, die Leiter der Graphischen Sammlung des Städel Museums, nahmen sich in besonderem Maße Zeit, um mit mir gemeinsam vor Zeichnungen und druckgrafischen Blättern zu diskutieren. Wertvolle Hinweise verdanke ich zudem: Bryony Bartlett-Rawlings, Holm Bevers, Peter Black, David Ekserdjian, Marzia Faietti, Frank Hatami-Fardi, Wolfgang Holler, Corinna Höper, Evelyn Lincoln, Ginevra Mariani, Giorgio Marini, Michael Matile, Hans Jakob Meier, Christian Tico Seifert, Hein-Th. Schulze-Altcappenberg, Ad Stijnman, Susan Stronge, Bette Talvacchia, Stéphane Vandenberghe und Matthias Winner. Anne Bloemacher, die parallel ihre Dissertation zu den Stichen Marcantonio Raimondis in ihrem Verhältnis zu den gezeichneten Vorlagen Raffaels erarbeitet hat, versorgte mich regelmäßig mit Literaturhinweisen. Elke Meyer, Michaela Muhmenthaler und Günther Hansen haben die Arbeit Korrektur gelesen. Ihnen allen sei in ganz besonderer Weise gedankt. Nicht zuletzt gilt mein ganzer Dank meiner Familie und vor allem meinem Ehemann, Bernhard Knaus, mit dem ich jeden Tag meines Lebens gern teile. Meinen beiden Töchtern sei dieses Buch gewidmet.
Einleitung
Das Werk von Raffaello Sanzio (1483–1520) ist etwa drei Jahrhunderte lang beinahe ausschließlich in Form von schriftlichen Schilderungen und druckgrafischen Über setzungen zugänglich gewesen. Seine Gemälde und vor allem seine ortsgebundenen Werke, wie die Ausmalung des vatikanischen Palastes, waren bis zur Gründung öffentlicher Museen im späten 18. Jahrhundert nur wenigen ausgewählten Personen bekannt. Dennoch galt Raffael in den Malerwerkstätten und Akademien des 16. und 17. Jahrhunderts als eines der wichtigsten künstlerischen Vorbilder, dem man nach streben sollte. Es waren die Kupferstiche von Marcantonio Raimondi (um 1480 – vor 1534) und seinem Umkreis, die beinahe ausschließlich den Zugang zur Kunst Raffaels gewähr ten, während dessen originale Werke stets nur einem äußerst kleinen Personenkreis erreichbar waren. Durch diese vermittelnde Funktion prägten sie in erheblichem Maße das Verständnis der Kunst des Renaissancemalers, da sie einerseits als Aus gangspunkt von literarischen Beschreibungen seiner Werke verwendet wurden und andererseits die Grundlage der schöpferischen Auseinandersetzung mit Raffaels Wer ken in der Bildenden Kunst lieferten. Dabei geben die Stiche gerade nicht die Fresken oder Gemälde Raffaels wieder, sondern lassen sich ausschließlich auf Zeichnungen Raffaels beziehen, die überwiegend frühe Entwurfsstadien markieren und sich von den vollendeten Werken deutlich unterscheiden. Zudem dürfen die Stiche nicht als linientreue Übertragungen angesehen werden, sondern sie sind von großer interpre tatorischer Freiheit geprägt, die eigene Ergänzungen oder Versatzstücke aus anderen bildlichen Quellen miteinschließen. So hat Raimondi in diesem Prozess die Rolle eines freien Übersetzers inne, dem trotz zahlreicher Abweichungen das wesentliche Verdienst zukommt, zentrale Werke erst verfügbar zu machen. Bereits Giorgio Vasari erkannte in seiner Lebensbeschreibung Marcantonio Rai mondis die große Bedeutung der Kupferstiche als Vermittler der italienischen Kunst in Europa:
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Schließlich also für all’ den Nutzen, den die Nordländer dadurch gehabt ha ben, dass sie mittels der Stiche die Stilweisen Italiens zu Gesicht bekommen haben, und der Italiener, dass sie diejenigen der Fremden und Nordländer ken nen lernten, ist man größtenteils dem Bolognesen Marcantonio verpflichtet. Denn abgesehen davon, dass er die Anfänge dieser Kunstübung gefördert hat, […], hat es auch bis jetzt niemanden gegeben, der ihn wesentlich übertroffen hat; ja, nur wenige sind ihm in einigen Sachen gleichgekommen.1 Kupferstiche ließen sich in hoher Auflage vervielfältigen und galten als beliebte Han delsware. Künstlern und Kunstliebhabern nördlich und südlich der Alpen ermöglich ten sie Kenntnisse über die jüngsten Entwicklungen der italienischen Renaissance. Die Zahl der nordischen Künstler, die sich auf den Weg nach Italien machten, um dort Fresken, Gemälde und Skulpturen im Original zu sehen und sich zu schulen, war im Vergleich zur Vielzahl an Drucken und illustrierten Büchern, die weltweit gehandelt wurden, begrenzt. Bis zur Erfindung der Fotografie war daher das Studium von Druckgrafik die vorrangige Möglichkeit für Künstler, um sich über die Werke anderer Meister zu informieren. In dieser Arbeit soll dargelegt werden, auf welche Weise die Kupferstiche Marcan tonio Raimondis die Rezeption der Kunst Raffaels seitens nachfolgender Künstler prägten. Durch Vergleiche einzelner Zeichnungen Raffaels mit ausgewählten Kupfer stichen Raimondis wird zunächst untersucht, wie viele Informationen die Kupfersti che über die Vorlage vermitteln und inwiefern sie Merkmale eigenständiger Interpre tationen aufweisen und damit die ihnen zugrunde liegenden Werke verfremden. Auf der Grundlage von Äußerungen über den Umgang mit gestochenen Vorbildern in der Traktatliteratur der Zeit werden anschließend Beispiele für künstlerische Aneignun gen der Stiche Marcantonio Raimondis durch nachfolgende Künstler analysiert. Zum Kreis der Künstler, die sich regelmässig der Stiche Raimondis als Quelle künstlerischer Inspiration bedienten, zählen neben einer Reihe anonymer Meister so klangvolle Namen wie Parmigianino, Anthonis van Dyck, Nicolas Poussin oder Rembrandt van Rijn, deren Aneignungen jeweils exemplarisch in meiner Arbeit untersucht werden.
1
Vasari 1910, Bd. IV, S. 587. Vgl. Vasari 1973, Bd. V, S. 442: „E per ultimo, di tutto il giovamento che hanno gli oltramontani avuto dal vedere, mediante le stampe, le maniere d’Italia, e gl’Italiani dall’aver veduto quelle degli stranieri e oltramontani, si deve avere, per la maggior parte, obligo a Marcantonio Bolognese; perché oltre all’aver egli aiutato i principi di questa professione quanto si é detto, non é anco stato per ancora chi l’abbia gran fatto superato, sì bene pochi in alcune cose gli hanno fatto paragone.“ Vgl. Pon 2004, S. 153: „For Vasari, then, Marcantonio was the author of printmaking as a discourse in Italy, instrumental in establishing prints as a major component in the Renaissance traffic in images. It was for this role, Vasari ultimately argued, that artists and art lovers alike were, in his words, ‚obliged to Marcantonio‘.“
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Ziel ist es, nähere Informationen darüber zu erhalten, auf welche Weise die Stiche die Entstehung neuer Kunstwerke auslösten. Das Spektrum der Adaptionen reicht von Zeichnungen, die direkt auf den Stichen oder deren Rückseiten angebracht wor den sind, über zahlreiche Nachzeichnungen in Feder oder Rötel, bis hin zu druckgra fischen Wiederholungen oder Entlehnungen einzelner Motive im Medium der Male rei. Auch in Gegenständen des Kunstgewerbes wurden die über die Druckgrafik vermittelten Erfindungen Raffaels rezipiert, wie zum Beispiel auf Maiolica Geschirr aus verschiedenen Werkstätten in Urbino im frühen 16. Jahrhundert oder in Dekora tionen von Waffenschilden.2 Weiterhin lassen sich einzelne Beispiele von Wandteppi chen, Ikonenmalerei, Fresken oder Miniaturmalerei nennen, die sämtlich auf Bild schöpfungen zurückzuführen sind, welche durch die Stiche Raimondis vermittelt wurden. Keinesfalls kann es daher das Ziel der Untersuchung sein, einen umfassen den Katalog der künstlerischen Rezeption der Stiche Marcantonio Raimondis zu erstellen. Vielmehr sollen anhand pointierter Gegenüberstellungen von Schlüsselwer ken einzelne Kategorien der künstlerischen Aneignung herausgearbeitet und dabei die Bedeutung der Druckgrafik Raimondis als Quelle künstlerischen Schaffens her vorgehoben werden. Indem nach Spuren der konkreten künstlerischen Benutzung der Stiche gesucht wird, werden genauere Kenntnisse über ein spezifisches Publikum der Stiche generiert und aufgezeigt, in welchen Zusammenhängen und an welchen Orten die Stiche als Vorlagenmaterial gebraucht wurden. Die Vorgänge druckgrafischer Vermittlung von Kunst exemplarisch am Beispiel der Zusammenarbeit von Raffael und Raimondi zu untersuchen, ist deshalb sinnvoll, weil die auf diese Weise entstandenen Stiche für mehrere Jahrhunderte zum Kanon künstlerischen Schaffens erklärt wurden. Gerade weil Raffaels Bildschöpfungen durch die Übertragung in Kupferstiche eine weltweite Verbreitung gefunden haben, konnte er die Rolle des zentralen künstlerischen Vorbilds der italienischen Renaissance in den nachfolgenden Epochen einnehmen. Die meisten seiner Zeitgenossen, wie Michel angelo Buonarroti (1475–1564) oder Leonardo da Vinci (1452–1519), lehnten es ab, dass ihre gezeichneten Entwürfe in Kupferstiche übertragen wurden, denn für sie war die Zeichnung das Substrat ihrer bildnerischen, architektonischen oder naturwissen schaftlichen Untersuchungen und Entwurfsprozesse – ein intimes Dokument, das ein unmittelbares Abbild des schöpferischen Gedankens hervorbrachte. Michelangelo ging sogar so weit, beinahe sämtliche seiner Zeichnungen zu verbrennen, um sie gerade nicht der Nachwelt zugänglich zu machen.3 Indem Raffael sich hingegen dafür entschied, seine Zeichnungen vervielfältigen zu lassen, entließ er sie aus dem nicht
2
3
Hinweise zur Dekoration von Maiolica Geschirr finden sich unter anderem bei: Breck 1918. Motivübernahmen aus Stichen Raimondis und Agostino Venzenianos bei Plattnern und Waffenschmieden erklärt: Grancsay 1964. Vasari 1973, Bd. VII, S. 270
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öffentlichen Kontext der Malerwerkstatt und schuf Werke, in denen bereits der Cha rakter eines Modells oder Vorbilds angelegt war. Ein zentrales Anliegen dieser Arbeit ist es, die Rolle der Druckgrafik in ihrer kul tur- und mediengeschichtlichen Dimension hervorzuheben. In Abgrenzung zur Mehrheit der auf die Kupferstiche Raimondis bezogenen Forschungsliteratur werden die Stiche hier nicht als End- sondern als Ausgangspunkte einer Entwicklung betrach tet, indem sie in ihrer Funktion als Vermittler der Bildschöpfungen Raffaels und als Auslöser kreativer Aneignung untersucht werden. Dabei liegt das Augenmerk beson ders auf dem Prozess der Vermittlung zwischen den Produzenten und Rezipienten gedruckter Bilder. Weil das neue Medium der Druckgrafik in einem entscheidenden Maße dazu beitrug, dass Künstlern der Zugang zu Vorbildern eröffnet wurde und damit Wissen über große räumliche Distanzen ausgetauscht werden konnte, wurden neuartige Bildlösungen geradezu hervorgerufen und Prozesse künstlerischer Erfin dung in der Auseinandersetzung mit den Werken anderer ausgelöst. Spannend sind hier besonders Vergleiche von Kunstwerken, die auf den gleichen Stich Raimondis zurückzuführen sind, jedoch in unterschiedlichen kulturellen Kontexten und mit anderen Zielsetzungen entstanden sind. So lassen sich Beispiele von Übertragungen einer „Kreuzabnahme“ (Bartsch XIV.37.32) in eine Antwerpener Altarretabel, einen Wandteppich aus Brügge, eine Miniaturmalerei aus Lahore oder eine Ikone aus einem Kloster auf der griechischen Insel Athos miteinander in Beziehung setzen. Dabei kam es immer wieder zu Momenten gescheiterten Transfers. Elemente, die der eigenen, kulturell geprägten Sichtweise nicht entsprachen, wurden entweder gar nicht wahrge nommen oder schöpferisch umgewandelt. Unbewusste Veränderungen am nachge ahmten Vorbild durch Missverständnisse oder fehlende Wahrnehmung treten oft pa rallel zu gezielten Anpassungen an eigene Darstellungsmodi und Geisteshaltungen auf. Die Künstler, die sich in ihren Werken auf Raimondi bezogen, waren in deutlich zu unterscheidende kulturelle Zusammenhänge eingebunden, auch wenn der zeitli che Rahmen dieser Untersuchung mit dem 16. und 17. Jahrhundert recht eng gewählt wurde. Eine der Arbeit zugrunde liegende These lautet, dass der kulturelle Kontext der nachahmenden Künstler ihren Umgang mit der gestochenen Vorlage prägte. Die verschiedenen Formen von künstlerischer Aneignung lassen sich folglich nach kultu reller Nähe, respektive Ferne zur Vorlage gliedern. Es wird erforscht, inwiefern sich am Beispiel der weltweiten Verbreitung druckgrafischer Werke Grundzüge interkul tureller Transferprozesse ablesen lassen. Während in anderen aktuellen Studien zu Prozessen des interkulturellen Transfers von Leistungen in der Bau- und Bildkunst einzelne Personen in ihrer Rolle als Vermittler betrachtet werden, liegt in dieser Untersuchung das Augenmerk auf Transporten kultureller Güter, nämlich druckgra fisch vervielfältigten Bildern.
Ei n leitu ng 5
Aktuell wird der Umgang mit Kunst durch die massenweise Verwendung von fotografischen und digitalen Reproduktionen auf entscheidende Weise geprägt.4 Samm ler kaufen Kunstwerke zuweilen allein auf der Grundlage digitaler Abbildungen ohne je das Werk im Original gesehen zu haben. Die Präsenz eines Werks in reproduzierter Form auf Internetplattformen oder in Kunstzeitschriften beeinflußt seine ideelle und finanzielle Wertschätzung. Nie sind Bilder durch Reproduktionen mobiler gewesen als heute. Die folgende historische Analyse wird zeigen, dass Reproduktionen in der Wahrnehmung und Beurteilung von Kunst bereits seit dem Ende des 15. Jahrhun derts eine entscheidende Rolle gespielt haben. Den Kupferstichen Marcantonio Rai mondis kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, da sie zum überwiegenden Teil ihren Ursprung in den Zeichnungen eines der bedeutendsten Maler der Renaissance haben und diese einer großen Gruppe von Künstlern und Sammlern als Studienma terial zugänglich machten.5
4
5
Ullrich 2009. Wolfang Ullrich analysiert auf sehr erhellende Weise den aktuellen Bezug zwischen originalen und reproduzierten Kunstwerken mit der zentralen These, dass eine Reproduktion in der Nachahmung des Originals dieses zuweilen sogar verfeinern oder überbieten kann. Zu der Bedeutung der Druckgrafik zwischen Kunstwerk und vervielfältigtem Objekt siehe auch: Michel Melot, L’estampe entre art et édition, in: Kaenel / Reichardt 2007, S. 577–590.
Forschungsstand
Francis Bacon zufolge sind die Konsequenzen der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg (um 1400 – 1468) so erheblich, dass sie die gesamte Welt verändert haben: Um den hohen Wert der Erfindungen zu würdigen, fasse man einmal jene drei den Alten völlig unbekannten […] ins Auge: wir meinen die Buchdruckerkunst, das Schießpulver und die Magnetnadel. – Diese drei haben den ganzen Zustand der Dinge in der Welt durchaus umgewandelt.1 Dennoch blieb eine umfassende wissenschaftliche Analyse der Bedingungen des Mediums des gedruckten Buchs lange Zeit aus. Erst Elizabeth Eisenstein hat in ihrem Standardwerk „The printing press as an agent of change“ auf die vielfältigen Folgen dieser technischen Umwälzung hingewiesen.2 Sie untersucht, inwiefern es die Art zu lernen und zu denken verändert, wenn Informationen plötzlich in beträchtlich größerem Umfang bereitgestellt werden und die Produktion von Büchern sich endgültig aus den Schreibstuben der Klöster in Verlagshäuser verschiebt.3 Es ist viel Aufmerk1
2
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Bacon 1990, 1. Buch, Aphorismus Nr. 129, S. 96 (We should note the force, effect, and consequences of inventions which are nowhere more conspicious than in those three which were unknown to the ancients, namely, printing, gunpowder, and the compass. For these three have changed the appearance and state of the whole world.). Eisenstein 1979, hierin besonders: „The unacknowledged revolution“, S. 3–42. Ähnlichen Fragen nach den Formen und Folgen internationalen Wissensaustauschs in der Neuzeit widmet sich aktuell auch das Augsburger Graduiertenkolleg „Wissensfelder der Neuzeit. Entstehung und Aufbau der europäischen Informationskultur“, das am Institut für europäische Kulturgeschichte angesiedelt ist, siehe: http://www.uni-augsburg.de/institute/iek/html/ gk.html. Hier werden ausschließlich textliche Vermittlungswege in den Blick genommen. Ebenda, S. 8: „It is one thing to describe how methods of book production changed after the mid-fifteenth century or to estimate rates of increased output. It is another thing to decide how access to a greater abundance or variety of written records affected ways of learning,
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samkeit darauf gelenkt worden, wie es zu dieser technischen Entwicklung kam, aber es lassen sich kaum Informationen darüber finden, welche Konsequenzen es hatte, dass mittels des Buchdrucks ein Wissensaustausch ermöglicht wurde, der schon bald die Grenzen Europas hinter sich lassen sollte.4 In Bezug auf den Bilddruck hat es erstaunlicherweise eine solche mediale Analyse kaum gegeben. Zwar fragt man nach den Folgen, die zeitgenössische Medien für den Umgang mit Informationen haben, doch blieb die Epoche der Reproduktionsgrafik von diesen Überlegungen bisher weitestgehend unberücksichtigt.5 Eine Ausnahme bildet die Dissertation von Peter Schmidt, die sich den Anfängen druckgrafischer Produktion in ihrem Wechselverhältnis zum Medium des handgeschriebenen Buches widmet.6 Ähnlich dem hier verfolgten Ansatz untersucht Schmidt Druckgrafik vor allem in ihren Gebrauchszusammenhängen. Auch der von Philippe Kaenel und Rolf Reichardt herausgegebene Band „Interkulturelle Kommunikation in der europäischen Druckgraphik im 18. und 19. Jahrhundert“ widmet sich der Druckgrafik hinsichtlich ihrer funktionalen Aspekte.7 Der Schwerpunkt liegt hier auf der historischpolitischen Bildpublizistik, etwa der politischen Karikatur. Die Herausgeber haben
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thinking, and perceiving among literate élites. Similarly, it is one thing to show that standardization was a consequence of printing. It is another to decide how laws, languages, or mental constructs were affected by more uniform texts.“ Wenn Ideen losgelöst betrachtet werden von den Eigenschaften des Mediums, das sie transportiert, dann geht auch ein Wissen um die historischen Umstände verloren, das diese Ideen geprägt hat. Vgl. Eisenstein 1979, S. 24: „When ideas are detached from the media used to transmit them, they are also cut off from the historical circumstances that shape them, and it becomes difficult to perceive the changing context within which they must be viewed.“ Für aktuelle Studien zu den Konsequenzen des frühen Buchdrucks im Rahmen der Kulturtransferforschung, siehe: Lambrecht 2001 sowie Roeck 2000. Hinsichtlich der Analyse moderner Medien der Vervielfältigung und Verbreitung von Bildern siehe vor allem: Benjamin 1977; Maar / Burda 2004 und McLuhan 2001. Schmidt 2003. Kaenel / Reichardt 2007, vgl. ebenda, Rolf Reichardt, „Interkulturelle Wechselbeziehungen der historischen Bildpublizistik als Forschungsaufgabe“, S. 8–9: „Im Gegensatz zu der gängigen Annahme, der interkulturelle künstlerische Austausch beschränke sich hauptsächlich auf Architektur, Skulptur und Malerei sowie die neuen elektronischen Medien, hat die Druckgraphik im 18. und 19. Jahrhundert weit mehr zu ihm beigetragen als heute bewusst ist. […] Seit dem Beispiel Marcantonio Raimondis von Kupferstechern gepflegt, machte sie nicht nur beliebte Gemälde und Skulpturen für bürgerliche Sammler erschwinglich, sondern diente auch der Vermittlung und wissenschaftlichen Erschließung ‚klassischer‘ Kunstwerke.“ Eine Zusammenfassung der die Publikation vorbereitenden Tagung vom 7.–12. 4. 2002 in Ascona liefert: Raimund Rüttgen, „Kongressbericht, Interkulturelle Kommunikation in der europäischen Druckgraphik vom 18. zum 19. Jahrhundert“, in: kritische berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, Mitteilungsorgan des Ulmer Vereins – Verband für Kunstund Kulturwissenschaften e.V., H. 3, Jg. 30, 2002, S. 91–94. Rolf Reichardt macht zudem auch auf die Bedeutung der Druckgrafik im Zusammenhang mit Perspektiven der aktuellen Kulturtransferforschung aufmerksam, indem er auf die Vielfalt der Medien hinweist, über die Prozesse interkultureller Transfers vermittelt werden, siehe: Reichardt 2003. Pascal Griener weist zudem auf neuartige Prozesse der Produktion und Rezeption von Faksimile Ausgaben nach Zeichnungen in England im 18. Jahrhundert hin und behandelt damit ebenfalls ein verwandtes Thema, siehe: Griener 2004.
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das Verdienst, international verstreute Ansätze aus verschiedenen Fachdisziplinen problemorientiert miteinander zu vernetzen. Sie fordern eine fächerübergreifende Erforschung und historische Neubewertung der Druckgrafik, insbesondere der Gebrauchsgrafik, unter einem kulturhistorischen Blickwinkel, der die internationalen und intermedialen Beziehungen der historischen Druckgrafik miteinschließt. Im Vergleich zu diesem umfassenden Ansatz ist das im Folgenden behandelte Problemfeld deutlich begrenzter – hier geht es ausschließlich um Vermittlungsprozesse im Rahmen der Bildenden Kunst. Außerdem ist der Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung historisch einer früheren Epoche, nämlich dem Zeitraum von 1510 bis etwa 1700, zuzurechnen. Doch auch hierfür gilt, was bereits Rolf Reichardt als Forschungsdesiderat festgestellt hat: Was die Frage nach [der] spezifischen interkulturellen Relevanz bestimmter Bildgattungen betrifft, verdient besonders die lange gering geschätzte Reproduktionsgrafik erhöhte Aufmerksamkeit. Grafische Umsetzungen und Nachstiche sowohl der antiken Kunst wie der großen neuzeitlichen Bildwerke seit Raffael waren international so omnipräsent und oft so qualitätvoll, dass nicht nur ihre Bedeutung für den wachsenden bürgerlichen Kulturkonsum neu zu bewerten ist, sondern dass sie auch als Quelle einer interkulturellen historischen Ästhetik auswertbar sind.8 Geprägt durch das heutige Kunstverständnis, das als Kernqualitäten von Kunstwerken deren Einzigartigkeit und Innovationskraft hervorhebt, gibt es nach wie vor kein verbreitetes wissenschaftliches Bewusstsein über die Bedeutung von Kupferstichen nach Zeichnungen, Gemälden oder Skulpturen, welche diese Werke erst rezipierbar machten, auch wenn immer wieder bedeutende Forscher, wie David Landau und Peter Parshall, darauf hingewiesen haben: On the overall scale of human ingenuity, the invention of printmaking should rank somewhere below the discovery of how to make a soufflé. Yet its consequences were profound for the history of art, as indeed they were for the exchange of images and ideas in western culture generally.9 Der speziellen Frage, inwiefern die Kupferstiche Raimondis als Vorbilder für andere Künstler gedient haben, ging zunächst Albert Oberheide im Rahmen seiner bereits 1933 publizierten Dissertation „Der Einfluß Marcantonio Raimondis auf die nordi-
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Reichardt 2003, S. 44. Landau / Parshall 1994, S. 1.
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sche Kunst des 16. Jahrhunderts“ nach.10 Obwohl er seine Untersuchung auf Deutschland, Frankreich und die Niederlande begrenzt, kommt er auf etwa 500 Kunstwerke, die seiner Auffassung nach eine Referenz auf die Stiche Marcantonios enthalten. Die Untersuchung Oberheides beschränkt sich auf die reine, meist tabellarische Erhebung der Art und Anzahl motivischer Übernahmen und lässt eine tiefergehende Analyse dessen, was die Kupferstiche Marcantonio Raimondis und seiner Schule vermitteln, unberücksichtigt. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf der Untersuchung des Einflusses der Stiche Raimondis im Bereich der Druckgrafik, doch auch andere Kunstformen bleiben nicht gänzlich unberücksichtigt. Auch Elizabeth Broun macht in ihrem Essay „The portable Raphael“ darauf aufmerksam, dass Künstler jahrhundertelang auf Reproduktionsgrafik angewiesen waren, wenn sie sich über die Bilderfindungen Raffaels informieren wollten, die ihnen nicht im Original zugänglich waren.11 Marc antonio spielte hierbei eine zentrale Rolle. Dennoch seien die Anregungen, die Künstler aus den Stichen schöpften, schwer nachzuweisen, da Entlehnungen in den allermeisten Fällen umfassend transformiert worden seien. Trotz vereinzelter Hinweise auf künstlerische Entlehnungen, die auf die Stiche Raimondis zurückzuführen sind, hat es bisher keine tiefergehende Untersuchung darüber gegeben, auf welche Weise die Stiche Marcantonio Raimondis eigene und fremde Bildschöpfungen an nachfolgende Künstler vermittelten und damit die Entstehung neuer Werke auslösten.12 Wie an anderer Stelle in dieser Arbeit näher ausgeführt wird, sind die Kupferstiche Raimondis deshalb lange Zeit aus dem Blick der kunsthistorischen Forschung geraten, weil sie als Reproduktionsgrafiken betrachtet wurden, die ausschließlich in Abhängigkeit von den Erfindungen seiner Vorbilder entstanden und vermeintlich eigenschöpferische Leistungen vermissen ließen.13 Von einer solchen abwertenden Haltung distanziert sich die jüngere Forschung deutlich. Vor allem Norberto Gramaccini und Hans Jakob Meier heben in ihrer aktuellen Untersuchung „Die Kunst der Interpretation. Italienische Reproduktionsgrafik 1485 – 10
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Oberheide 1933. Die Dissertation enthält eine Tabelle, die nach den Bartsch Nummern der Stiche Raimondis gegliedert ist und genaue Kopien, Abwandlungen, indirekt abhängige Werke sowie zweifelhafte Einflüsse auflistet. Es folgt eine alphabetische Tabelle, die nach Ländern und Meistern geordnet ist sowie eine nach Jahrzehnten gegliederte chronologische Tabelle der Kunstwerke mit Bezug auf die Stiche Raimondis, welche im 16. Jahrhundert entstanden sind. Der einzige Teil der Arbeit, in dem eine theoretische Reflexion des untersuchten Materials stattfindet, ist der achtseitige Exkurs „Marcantons technischer und motivischer Einfluss auf die deutsche Graphik des 16. Jahrhunderts“. Broun / Shoemaker 1981, S. 20–46. Zu den Untersuchungen einzelner Übertragungen der Kupferstiche Marcantonio Raimondis in andere Kunstwerke zählen: Avila 1990; Bury 1989 oder Fabianski 1996. Exemplarisch für diese Haltung sei Franz Wickhoff zitiert. Wickhoff 1899, S. 182: „Denn jener unvergleichliche Techniker des Stichels [Marcantonio Raimondi] konnte nicht componiren [sic!], ja, wie manche seiner Blätter beweisen, kaum selbständig zeichnen und war so schon in der Werkstatt des Francia in Bologna nur zum Übersetzen von gezeichneten Vorlagen in die Technik des Kupferstiches zu gebrauchen gewesen. […] Denn hätte Marcanton auch anders gewollt, er konnte eigene Erfindungen nicht stechen, weil er keine hatte.“
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1600“ die Eigenständigkeit Raimondis hervor.14 In der Betrachtung des engen zeitlichen und strukturellen Zusammenhangs zwischen den Entwicklungen im Buchdruck und den zwischen 1450 und 1510 neu entstehenden Techniken des Bilddrucks unterstreichen die Autoren zudem die entscheidende Rolle, die der frühen italienischen Druckgrafik als Träger des internationalen Wissenstransfers zukam. Selbstverständlich ist man sich seit jeher der zentralen Vorbildfunktion Raffaels bewusst, doch beginnt man erst in der jüngeren Forschung, dies nicht nur anhand des literarischen Echos zu belegen, sondern bildliche Zeugen dafür auszuwerten. So belegt zum Beispiel Sebastian Dohe Raffaels Autorität anhand seines letzten Gemäldes – der Transfiguration – und nimmt dazu zahlreiche Reproduktionen in den Blick.15 Um besser verstehen zu können, in welchem Ausmaß die Kupferstiche überhaupt als Vermittler fremder oder eigener Bilderfindungen betrachtet werden können, muss zuerst das Verhältnis der Stiche zu ihren gezeichneten Vorlagen näher untersucht werden. Die wesentlichen Grundlagen dafür legte Konrad Oberhuber. Ihm ist es in enger Zusammenarbeit mit Marzia Faietti zu verdanken, dass wir heute Raimondi ein eigenes zeichnerisches Œuvre zuweisen können.16 Zudem war Oberhuber der Erste, der einzelne Stiche Raimondis im Verhältnis zu ihren gezeichneten Vorlagen präzise analysierte und Aussagen darüber traf, wie viele Stiche überhaupt auf Anregungen Raffaels zurückzuführen sind.17 Die Art der Zusammenarbeit zwischen Raffael und Raimondi, respektive Albrecht Dürer (1471 – 1528) und Raimondi, erforschte auch Lisa Pon in ihrem Essay „Raphael, Dürer, and Marcantonio. Copying and the Italian Renaissance Print“.18 Parallel zu dieser Arbeit entsteht zudem die Dissertation „Raffael und Marcantonio Raimondi. Werkstattpraxis und Kupferstichproduktion“ von Anne Bloemacher, die die Arbeitsweise von Raffael und Raimondi genau analysiert, um Schlüsse darüber zu ziehen, wie hoch etwa der eigenschöpferische Anteil Raimondis bei der Entstehung der Stiche war.19 Corinna Höpers umfangreicher Katalog „Raffael und die Folgen. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner graphischen Reproduzierbarkeit“ trägt darüber hinaus entscheidend dazu bei, die schier unüberschaubare Fülle der Druckgrafik nach Raffael chronologisch zu ordnen und einzelnen Händen zuzuweisen. Auf diese Weise gelingt es, Raimondis druckgrafisches Werk genauer von dem seiner Zeitgenossen oder Schüler abzugrenzen.20 14 15 16 17 18 19 20
Gramaccini / Meier 2009. Dohe 2014. Im Fokus der Arbeit steht Raffaels Gemälde Die Transfiguration, Öltempera auf Kirschbaumholz, 405 × 278 cm, Vatikanische Museen, Inv. Nr. 333. Knab / Mitsch / Oberhuber 1983 und Oberhuber / Gnann 1999 sowie Faietti / Oberhuber 1988. Oberhuber 1984. Pon 2004. Die Dissertation erscheint voraussichtlich 2016 im Deutschen Kunstverlag München. Höper 2001. Der Autorin verdanke ich eine Reihe wertvoller Hinweise auf mögliche Nachzeichnungen oder gemalte Nachschöpfungen nach Raimondi. Weitere wichtige Überblick-
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Dabei ist nicht nur entscheidend, was die Stiche vermitteln – ob gezeichnete Erfindungen Raffaels oder Ideen Raimondis –, sondern auch wie sie es tun. Mit welchen Begriffen lassen sie sich am treffendsten beschreiben: Interpretation, Reproduktion oder Übersetzung? Um dies zu klären, müssen die genannten Kategorien selbst genau definiert werden. Wesentliche Denkanstöße dazu liefert ebenfalls Norberto Gramaccini in der oben genannten Publikation.21 Er grenzt Raimondis Rolle als intimer Kenner und begabter Interpret der Zeichnungen Raffaels deutlich vom druckgrafischen Schaffen ab etwa 1520 ab, wo nicht mehr Zeichnungen, sondern vollendete Gemälde, Fresken und Skulpturen in Kupferstiche übertragen wurden. Zugleich vervielfachte sich die Produktion von Kupferstichen und der Vertrieb wurde professionalisiert. Während Gramaccini die Stiche Raimondis der Kategorie der Interpretationsgrafik zuweist, schlägt er den Begriff des „übersetzenden Kupferstichs“ für die letztgenannte Gruppe vor. Die Grenzen dieser Kategorien sind jedoch unscharf, die chronologischen Entwicklungen verlaufen fließend. Deshalb wird auch im Rahmen dieser Arbeit erneut der Versuch unternommen, vor allem die Begriffe der Reproduktion und Übersetzung zu definieren und auf die untersuchten Stiche anzuwenden. Schließlich wird in dieser Arbeit nach den Formen der künstlerischen Reaktion auf die Stiche gefragt. Zwar werden wichtige Aspekte hinsichtlich Nachzeichnungen nach Kupferstichen in der jüngeren Forschungsliteratur diskutiert, jedoch muss hier einschränkend bemerkt werden, dass sich die wissenschaftliche Bearbeitung solcher Blätter umgekehrt proportional verhält zur Quantität und Qualität des erhaltenen künstlerischen Materials. Wenn ein Blatt einmal als Nachzeichnung nach einer druckgrafischen Vorlage identifiziert worden ist, wird es in den meisten Fällen noch immer als Kopie abgewertet und von der Forschung kaum mehr beachtet. Nachzeichnungen nach Kupferstichen werden sozusagen als Reprodukte von Reprodukten angesehen und verlieren damit anscheinend jeden Anspruch auf die Wertschätzung als eigenständige Kunstwerke. Dabei geht der Blick für das kreative Potenzial solcher Aneignungsprozesse verloren. Rühmliche Ausnahmen bilden die aktuelle Forschungstätigkeit von Stephanie Buck, Tarnya Cooper, Michael Kwakkelstein oder Christian Tico Seifert.22 Auch Michael Roth wendet sich in seiner aktuellen Forschung Nachzeichnungen nach Kupferstichen zu und fragt nach der Funktion solcher Blätter. Er unterscheidet zwischen Zeichnungen, die zum Zweck der Künstlerausbildung angefertigt wurden, und solchen, die einen Zwischenschritt bilden in der selektiven Überführung von Teilmotiven in neue Bildzusammenhänge.23 Hinsichtlich der Anfertigung von Nachzeichnungen nach Kupferstichen im Zuge der Ausbildung von Künstlern liefern zeitgenössische Malereitraktate wertvolle Infor-
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skataloge zur Druckgraphik nach Raffael sind auch: Massari / Pezzini / Rodinò 1985 und Mason / Natale 1984. Gezeichnete Kopien nach Raffael nennen vor allem: Cordellier / Py 1992. Bann 2002 und Men 1994. Buck 2001; Cooper 1998; Kwakkelstein 2000 und Seifert 2010. Roth 2009 und Roth 2010.
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mationen über die allgemeine Lehrpraxis in den Künstlerwerkstätten und Akademien in dem hier festgelegten Untersuchungszeitraum des 16. und 17. Jahrhunderts.24 Diese werden zum Teil auch in der aktuellen Forschungsliteratur reflektiert.25 Einzelne herausragende Beispiele gezeichneter Aneignungen seitens etablierter Künstler nennen Egbert Haverkamp-Begemann und Carolyn Logan in ihrem Katalog „Creative Copies“ sowie Werner Schmidt in „Dialoge. Kopie, Variation und Metamorphose alter Kunst in Graphik und Zeichnung vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart“.26 Gemälde oder Erzeugnisse des Kunsthandwerks, deren Motive auf gestochene Vorlagen zurückzuführen sind, werden in der Forschung kaum beachtet oder im Zusammenhang umfassenderer Fragestellungen diskutiert. Hier muss man neben Artikeln, die Einzelbeispiele näher untersuchen, auf die exemplarische Erwähnung in verschiedenen Ausstellungskatalogen zurückgreifen. Dazu zählen die Kataloge „Bilder nach Bildern: Druckgrafik und die Vermittlung von Kunst“, „Bild und Abbild. Meisterwerke von Meistern kopiert und umgeschaffen“ sowie „Déjà-vu? Die Kunst der Wiederholung von Dürer bis YouTube“ .27
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Siehe vor allem: Armenini 1988, Goeree 1998, Hoogstraeten 1969, Lairesse 1969 und Mander 1973. Bambach 1999; Bleeke-Byrne 1984; Goldstein 1996; Pevsner 1986 und Tonelli 1984. Haverkamp-Begemann / Logan 1988 und Schmidt 1970. Langemeyer / Schleier 1976, Maison 1960 und Mensger 2012.
Methodische Grundlagen
Reproduzieren […] gehört zu den grundlegenden menschlichen Kulturtechniken. Die Nachbildung bestimmter ‚Vorlagen‘ ist nicht nur eine Form materieller oder geistiger Aneignung, sondern auch wesentliches Merkmal von Traditionsbildung und -verbreitung in nahezu jeder Gesellschaft. Wer reproduziert, erspart sich einerseits die eigene Erfindung, kann aber andererseits die dadurch freigesetzten Leistungsressourcen für Anpassungen und ‚Verbesserungen‘ am Reprodukt nutzen; die Ökonomie des Reproduzierens ermöglicht auf diese Weise Variationen, die sich auch als ‚Distanzierungen‘ von der Vorlage äußern können.1 Mit diesen Worten fasst Albrecht Hausmann das Wesen der Reproduktion treffend zusammen. Eine Form des Reproduzierens im Bereich der bildenden Kunst ist die sogenannte Reproduktionsgrafik. Dieser Begriff verweist auf die Tatsache, dass zuvor in anderen Techniken ausgeführte Bildkompositionen in das vervielfältigende Medium der Druckgrafik übertragen werden, um singuläre Kunstwerke einem größeren Publikum zugänglich zu machen.2 Während mechanische Verfahren der Vervielfältigung von Bildern bereits seit dem frühen 15. Jahrhundert nördlich und südlich der Alpen üblich waren, ist das Phänomen der Übertragung einer fremden Bildschöpfung in das druckgrafische Medium mit wenigen Ausnahmen erst im späten 15. Jahrhundert in Italien zu beobachten. Von hier aus sollte die druckgrafische Reproduktion einen Siegeszug antreten, der sie für einen Zeitraum von etwa 300 Jahren zum führenden Medium in der Vermittlung von Kunstwerken machte. Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts fotografische Verfahren erfunden und sogleich für die Reproduktion von Kunstwerken verwendet wurden, prägte dies in entscheidender Weise die Wahrneh1 2
Hausmann 2005, S. 13. Schmidt 2005, S. 132–133.
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mung und ästhetische Wertung von zuvor hoch geschätzten druckgrafischen Reproduktionen. Denn man erkannte in der Fotografie ein schnelleres und scheinbar genaueres Verfahren der bildlichen Reproduktion. In den kunsthistorischen Betrachtungen der Zeit wurde, nicht zuletzt durch die neuerliche Rezeption der Schriften Giorgio Vasaris, die künstlerische Invention in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Kreativität und Originalität wurden zum zentralen Bewertungsmaßstab von Kunst, denn durch die Gründung öffentlicher Museen wurde Kunst in höherem Maße vergleichbar. Damit stieg die Notwendigkeit, sich von bereits vorhandenen Erfindungen abzugrenzen.3 Diese Faktoren führten zu einer ausdrücklichen Abwertung von Reproduktionsgrafik. Sie hält vor allem im Kunstmarkt bis heute an und spiegelt sich in den deutlich geringeren Marktpreisen von Werken sogenannter Reproduktions stecher wider. Der Begriff der Reproduktionsgrafik hat zwei entscheidende Nachteile: Erstens leitet er dazu an, eine Vielfalt von Funktionen zu übersehen, die Druckgrafik im 16. Jahrhundert ebenfalls innehaben konnte, wie die Porträtkunst, die Vermittlung biblischer Historie oder die Herstellung von Vorlagen für bestimmte Berufszweige. Eine ganze Epoche der druckgrafischen Produktion allein auf die Funktion des Reproduzierens von Kunstwerken zu begrenzen, verengt den Blick auf eine nicht zulässige Weise.4 Der zweite Nachteil des Begriffes liegt in seiner wertenden Verwendung. Die Unterteilung druckgrafischer Werke in ‚Künstlergrafik‘ und ‚Reproduktionsgrafik‘ hat unter anderem ihren Ursprung in Adam von Bartschs Kompendium „Le Peintre Graveur“, wo bereits im Titel das Ideal des Maler-Stechers formuliert wird, der sein Werk autonom entwirft und seine Erfindung selbst auf die Kupferplatte oder den Holzstock überträgt.5 Im Gegensatz dazu ist ein Reproduktionsstecher stets auf Erfindungen anderer angewiesen, die er scheinbar ohne jede eigene Invention in einem rein technischen Prozess in die Druckgrafik übersetzt. Eine solche Annahme greift deutlich zu kurz, denn – wie zu zeigen sein wird – ist es besonders bei der Zusammenarbeit von Raffael und Raimondi oft der Fall, dass der Stecher die von Raffael nur in Umrissen skizzierte Bildidee weiterentwickelt und damit ein eigenständiges Werk schafft. So mag auch hier der von Wolfgang Ullrich geprägte Begriff der „Raffinierten Kunst“ für die Grafik Raimondis gelten, denn Ullrich verwendet das aus dem Französischen entlehnte Wort in Bezug auf Reproduktionen, um auf ihren verfeinernden, vollendenden Charakter gegenüber den Originalen hinzuweisen.6
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Groys 1997, darin bes. S. 7–24. Lincoln 2000, S. 15: „I join those who, in thinking about these issues, wish to refrain from using the expression ‚reproductive print‘ altogether. It is not a useful way to categorize sixteenth-century prints.“ Bartsch 1802–1821. Ullrich 2009. Ullrich äußert sich auch ausführlich zum Thema der Analogie von sprachlicher Übersetzung und der Übersetzung von Gemälden in Stiche, ebenda S. 19–33.
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Seit Beginn der theoretischen Reflexion über druckgrafische Werke, denen gezeichnete oder gemalte Entwürfe anderer Künstler zugrunde liegen, spielt auch der Begriff der Übersetzung eine zentrale Rolle.7 Marcantonio Raimondi wird bereits im 1876 erschienenen Überblickswerk von Charles Blanc, „Grammaire des Arts du Dessin“, die Rolle eines Übersetzers zugewiesen: Sous la surveillance de Raphaël, sous l’empire de des conseils souverains, Marc-Antoine conçoit la gravure comme il la faut concevoir quand on est aux prises avec les grands maîtres. Il la conçoit comme une traduction concise qui met en lumière l’essentiel, qui sait tout indiquer, tout dire.8 Auch in jüngeren Publikationen wird Raimondi nach wie vor als Übersetzer charakterisiert.9 Um die Wirkungsweise bildlicher Übersetzung besser zu verstehen, wird in der kunsthistorischen Forschung nach Parallelen zu Prozessen sprachlicher Übersetzung gesucht und reflektiert, ob der Prozess der Übertragung einer Zeichnung in einen Stich tatsächlich die Bedingungen seines literarischen Pendants erfüllt.10 Auf diese theoretische Tradition kann hier jedoch nicht im Detail eingegangen werden. Im Bereich der Sprachwissenschaft versteht man im Allgemeinen unter dem Begriff der Übersetzung den „Vorgang und das Ergebnis der Übertragung eines Textes aus einer Ausgangssprache in eine Zielsprache.“11 In diesem Zusammenhang wird in vielen Fällen das Kriterium der Äquivalenz zwischen beiden Texten untersucht.12 Denn 7
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Gramaccini 1997, S. 100. Gramaccini verweist auf mehrere französische Autoren, die den Begriff der ‚traduction‘ im oben genannten Zusammenhang verwenden, u.a. Adam von Bartsch, François Basan, Toussaint-Bernard Emeric David, Denis Diderot. Bereits Basan trifft einen Vergleich mit sprachlichen Übersetzungsvorgängen. François Basan, Adresse à l’Assemblé Nationale, par les graveurs et propriétaires de planches gravées (1791), zitiert nach: Gramaccini 1997, S. 119: „La gravure est une traduction dans une langue qui a son génie, ses difficultés, et ses beautés particulieres; ses procédés, quoique mécaniques en apparence, sont le fruit du talent et d’une imagination soutenue par l’étude.“ Blanc 1876, S. 626. Vgl. ebenda, S. 658: „Contrairement à l’opinion d’Emeric David (Histoire de Gravure), nous croyons avec Diderot que la gravure est moins une copie qu’une traduction. Semblable au musicien qui transpose un air, semblable au prosateur qui interprète dans sa langue les poëtes d’une langue étrangère en s’attachant surtout et avant tout au génie du poëme, le graveur qui burine sur le cuivre une peinture en fait revivre l’esprit.“ Rebel 1981, S. 12: „Wer wie Marcanton über das Studium der Dürergrafik auch auf die Höhe von Dürers Stecherkunst gelangt war, hatte die Mittel in den Händen, Originale angemessen zu übersetzen. Angemessene Übersetzung aber verlangte, dass die Eigengesetzlichkeit des Originals in der Eigengesetzlichkeit des Druckbildes weiterlebte.“ Gramaccini / Meier 2009, S. 39; vgl. Bann 2002 sowie Men 1994. Letztere behandelt die Frage, ob sich die Kunstkritik als Vorgang der Übersetzung, Interpretation und Vermittlung als ein analoger Vorgang zum Reproduktionsstich betrachten lässt. Bußmann 2002, S. 758. Die Überprüfung und Anwendung der Begriffe Äquivalenz und der Varianz führe ich vor allem zurück auf die Beobachtungen von Albrecht Hausmann, Übertragungen: Vorüberlegungen zu einer Kulturgeschichte des Reproduzierens, in: Bußmann u. a. 2005, S. XI–XX sowie Britta Bußmann, „Äquivalenz“, in: ebenda, S. 2: „Unter Äquivalenz versteht man
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es muss jeweils beurteilt werden, in welchem Maße Eingriffe des Übersetzers, bedingt durch den Wechsel der Sprache, vorliegen. Auch für die Übertragung eines Kunstwerks in die Druckgrafik gilt das Kriterium der Äquivalenz als zentraler Bewertungsmaßstab. Den Ausgang bildet hier nicht ein Text, sondern eine gezeichnete oder gemalte Vorlage, die in ein neues Zielmedium übertragen wird. Die Frage ist nur, unter welchen Bedingungen man ein druckgrafisches Werk als ein gelungenes Äquivalent zur bildlichen Vorlage bewerten kann. Wenn man von einer druckgrafischen Übersetzung erwartet, möglichst wahr und umfassend über das zugrunde liegende Werk zu informieren, dann ist jegliche persönliche Interpretation, Selektion oder Ergänzung eigentlich unerwünscht.13 Doch Henri Delaborde formuliert 1856 die überzeugende These, dass ein Stich einem zugrunde liegenden Gemälde oder einer Zeichnung nur dann gerecht werden kann, wenn der Stecher die Vorlage interpretiert. Um die Intention des ursprünglichen Autors im Stich überzeugend wiedergeben zu können, darf dessen Werk gerade nicht Linie für Linie übertragen werden, sondern es muss, gemäß den Bedingungen der jeweiligen Drucktechnik, ein Äquivalent zum Originalwerk geschaffen werden. Dazu ist eine künstlerische Urteilskraft seitens des Stechers notwendig: Il ne suffit pas que le graveur s’attache à rendre de point en point tout ce qu’il voit dans son modèle: il est nécessaire qu’il juge et détermine l’importance relative de chaque objet, qu’il prenne certains partis pour simuler un coloris varié avec deux tons seulement et pour conserver au dessin soit sa grâce, soit sa fierté.14 Der Übersetzungsvorgang kann dabei nicht als passives Nachahmen verstanden werden, sondern bedeutet vielmehr einen aktiven Prozess der Neuschöpfung eines Bildes gemäß den Bedingungen der jeweiligen grafischen Technik. Dieser von Delaborde geprägte Übersetzungsbegriff ist für diese Arbeit besonders wertvoll, da er meines Erachtens dazu beiträgt, die Leistungen Marcantonio Raimondis besser zu verstehen und entsprechend zu würdigen.
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gemeinhin die Gleichwertigkeit zweier aufeinander bezogener Objekte […]. Obwohl das Reprodukt somit als Ersatz für das Original eintritt, meint ‚Gleichwertigkeit‘ dabei nicht zwangsläufig vollständige Gleichheit. Vielmehr ist der jeweilige Grad der Entsprechung abhängig von historisch und medial zu differenzierenden Erwartungshaltungen. Partielle Varianz des Reprodukts gegenüber der Vorlage schließt daher nicht von vornherein die Wahrnehmung als gelungene Wiedergabe des Originals aus, im Einzelfall genügt die singuläre mimetische Übertragung von Details, um das Original in ausreichender Weise als Vorlage kenntlich zu machen.“ Blanc 1876, S. 620: „Si c’est la reproduction d’un ouvrage d’art, peinture, sculpture, architecture […], la première qualité du graveur est la fidélité, en ce sens qu’il doit non-seulement rendre l’original trait pour trait, en redire les contours et les reliefs, mais encore et surtout, conserver l’esprit et l’aspect de l’ouvrage reproduit.“ Henri Delaborde, La photographie et la gravure, in: Revue des deux-mondes, 1.4.1856, S. 617– 638, Neuabdruck in: Rouillé 1989 .
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Der Begriff der Kopie schließlich ist in Bezug auf druckgrafische Werke in den meisten Fällen problematisch, wenn sie sich auf Vorlagen beziehen, die in anderen Techniken geschaffen wurden. Zwar kann jedwede Form der Wiederholung eines Kunstwerks mit dem Sammelbegriff der Kopie bezeichnet werden, jedoch wird dieser Begriff im Folgenden allein in seiner engeren Definition verwendet, nämlich als manuelle oder mechanische Wiederholung eines Werks in der gleichen Technik und in der Regel auch im gleichen Maßstab.15 In diesem Zusammenhang sind also nur solche Kupferstiche als Kopien zu bezeichnen, die andere Kupferstiche getreu wiederholen. Beispielsweise ist der Stich des Urteils des Paris von Marco Dente nach Raimondi kopiert worden. Eine solche Anfertigung einer zweiten Fassung eines Werkes durch denselben oder einen anderen Autor kann dem Zweck der Duplizierung eines Kunstwerks und damit schlicht als zusätzliche Einnahmequelle dienen. Hier ist eine Interpretationsleistung seitens des Kopisten gerade nicht erwünscht.16 Im Gegensatz dazu muss sich ein Reproduktionsstecher oder Holzschneider in einem höheren Maße in die Vorlage einfühlen, um mit neuen künstlerischen Mitteln eine Entsprechung zu schaffen. Ebenso bedeutet die Übertragung eines Stichs in neue künstlerische Techniken immer ein gewisses Maß an eigenständiger Übersetzungsleistung. Für alle in dieser Arbeit untersuchten Werke, die auf die Stiche Raimondis zurückzuführen sind, eignet sich daher eher der Begriff der Nachahmung. Wie variantenreich die Fälle dieser schöpferischen Interpretation der gedruckten Vorlage sein können, wird in den folgenden Kapiteln belegt.
Druckgrafik in ihren funktionalen Zusammenhängen Der Sprung vom Medium der Zeichnung – als einmaliger Spur der zeichnenden Hand – zum Medium der Druckgrafik – als Resultat der Übersetzung der gezeichneten Vorlage durch den von anderer Hand geführten Grabstichel und als mechanisches Verfahren der Vervielfältigung – hat vielfältige Implikationen: Zunächst stellt sich die Frage nach der Autorschaft: Wen soll man als den Autor der Stiche betrachten, den 15
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Bartsch 1821, Bd. I, S. 100: „Copie nennt man eigentlich nur denjenigen Kupferstich, welcher nach einem anderen Kupferstiche in allen seinen Theilen nachgestochen worden.“ Auch der Begriff der „Fälschung“ ist wenig hilfreich, denn täuscherische Absichten können bei der Übertragung von gezeichneten Vorlagen in die Druckgrafik in den meisten Fällen ausgeschlossen werden. Bloch 1979, S. 48: „‚Kopie‘ ist ein Sammelbegriff, unter dem verschiedene Formen der Wiederholung zu subsumieren sind, nämlich: Repliken (oder Werkstattkopien) – Nachbildungen (freie Kopien) – Kopien – Reproduktionen (mechanische Kopien).“ Vgl. ebenda, S. 57: „Unter Kopien im strengen Sinn verstehen wir wörtliche Wiederholungen, die ein Höchstmaß an Werkgerechtigkeit im Sinne von handwerklichem Anspruch und Materialtreue erstreben.“ Bloch behandelt die Begriffe Original – Kopie – Fälschung jedoch im Bereich von Gemälden und Skulpturen und nicht im Bereich der Grafik. Vgl. Augustyn / Söding 2010, S. 3–6. Siehe auch: Bartsch u. a. 2010, dort vor allem S. 1–21.
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entwerfenden Künstler oder den Kupferstecher? Die in dieser Arbeit im Folgenden dargestellten Untersuchungen zeigen, dass die meisten Künstler, die Motive aus Raimondis Kupferstichen entlehnten, Raffael als den eigentlichen Autor betrachteten. Dies gilt auch für die Fälle, in denen mangels erhaltener Zeichnungen heute nicht mehr nachgewiesen werden kann, ob – und wenn ja – in welchem Ausmaß die Bilderfindungen auf Raffael selbst zurückgehen. Selbst wenn die Bildidee ihren Ursprung in einer Erfindung Raffaels hat, ist der erfinderische Anteil Raimondis an der Entstehung der gestochenen Bilder erheblich. Diese verändernde Wirkung wurde jedoch vermutlich von keinem der nachahmenden Künstler reflektiert. Da die Kupferstiche Raimondis nicht als Werke nach Raffael, sondern von Raffael verstanden wurden – Dürer bezeichnet diese Stiche in seinem niederländischen Tagebuch als „Raphaels Ding“ – wird ihre transformative Wirkung von den Rezipienten gar nicht wahrgenommen.17 Sie treffen hier keinen Unterschied zwischen den originalen Zeichnungen Raffaels und deren Interpretation durch Raimondi. Um die durch Druckgrafik ausgelösten Transferprozesse besser zu verstehen, ist es nicht nur von Belang, was vermittelt wird, sondern vor allem, wie dies geschieht und innerhalb welcher kulturellen Matrix der Vorgang der Vermittlung verortet werden muss.18 Bereits im 16. Jahrhundert wurden Kupferstiche weltweit gehandelt und brachten damit Bildschöpfungen der italienischen Renaissance in fremde kulturelle Umgebungen. Wenn aber die Kupferstiche unabhängig von ihrem räumlichen oder zeitlichen Entstehungskontext betrachtet werden konnten, liegt es nahe, dass nicht sämtliche Inhalte vom Rezipienten wahrgenommen oder verstanden wurden. Denn dem Rezipienten des Abbilds erschlossen sich weder der ursprüngliche Funktions zusammenhang der den Stichen zugrunde liegenden Werke noch die historischen Umstände der Bildentstehung. Hier spielt die Übersetzungsleistung des Kupferstechers vor allem dann eine Rolle, wenn es sich bei der Vorlage um ein ortsgebundenes Werk handelt, das eine bestimmte Ansichtigkeit voraussetzt. Man denke etwa an die Deckenfresken der Stanze, die auf Untersicht gearbeitet sind, in der druckgrafischen Reproduktion jedoch bildparallel betrachtet werden können. Zu einer noch größeren Verfremdung des der Reproduktion zugrunde liegenden Kunstwerks kommt es, wenn der Stecher nur ein Detail aus der Vorlage auswählt und dieses unabhängig vom ursprünglichen bildlichen Zusammenhang zu einem eigenständigen Bild erhebt. Auf eine solche Weise löste zum Beispiel Agostino Veneziano die Gruppe um Pythagoras aus dem Sinnzusammenhang der Schule von Athen und deutete sie um zur Gruppe der Vier Evangelisten (Bartsch XIV.366.492).19 So kann es zu einer Vielzahl von Arten der 17 18 19
Rupprich 1956, S. 158. McLuhan 2001, S. 11: „the latest approach to media study considers not only the ‚content‘ but the medium and the cultural matrix within which the particular medium operates.“ Höper 2001, S. 62 und 375, Kat. Nr. F 2.3: „Obgleich der Stecher das Fresko sicherlich kannte, transferiert er die aus dessen Komposition herausgegriffene Figurengruppe in einen christlichen Kontext.“ Im Buch des Schreibenden auf dem Stich ist eine längere Passage aus dem
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Umwandlung und Verfremdung im Zuge der Übertragung eines Bildes in die Druckgrafik kommen, die dem Rezipienten, der das zugrunde liegende Werk nicht kennt, verborgen bleiben.20 Eine solche Loslösung von Bildschöpfungen aus ihrem ursprünglichen Entstehungskontext und deren Transfer in neue kulturelle Umgebungen bewirkt, dass einzelne Motive von rezipierenden Künstlern entlehnt wurden, ohne dass ihr ursprünglicher Sinn vollkommen entschlüsselt worden wäre.21 Es ist keine Seltenheit, dass nachahmende Künstler einzelne Elemente allein um ihrer Gestalt willen aus den Stichen entlehnt haben und diese, unabhängig von ihrer ursprünglichen inhaltlichen Bedeutung, für die Darstellung neuer Bildinhalte verwendeten.22 Der Transfer von Gemälden, Fresken oder Skulpturen in die Druckgrafik beinhaltet noch eine Vielzahl weiterer Konsequenzen: Dazu zählt die Veränderung des Maßstabs der Vorlagen. Die Größe einer Grafik ist abhängig von der Größe der verfügbaren Kupferplatte, des Holzstocks oder des Papiers und nicht allein von der Größe des zu reproduzierenden Kunstwerks. So kann – je nach künstlerischer Entscheidung des Kupferstechers – eine gemalte Miniatur in der druckgrafischen Übersetzung die gleichen Maße haben wie ein großes Altarretabel. Eine weitere wichtige Implikation der Verbreitung von Bildern durch druckgrafische Vervielfältigung ist die erhöhte Vergleichbarkeit von Werken unterschiedlicher Meister und unterschiedlicher Bildthemen. Kupferstiche wurden üblicherweise in Mappen oder Klebebänden aufbewahrt. So sind sie auch in den Nachlässen von Nicolas Poussin (1594 – 1665) und Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1606 – 1669) dokumentiert. Wenn diese Künstler sich an Stichen schulten und erfreuten, indem sie ihre Sammlung in Alben durchblätterten, liegt es nahe, dass sie auch einzelne Entlehnungen aus verschiedenen Stichen in neuen Werken kombinierten. So konnten druckgrafische Sammlungen den Künstlern als vielfältiges Formenreservoir dienen. Nicht nur ihre vergleichsweise leichte Erreichbarkeit und Rezipierbarkeit, sondern auch ihre Eigenschaft, gezeichnete oder gemalte Vorbilder in ihrer Komplexität zu reduzieren, mag dazu beigetragen haben, dass gerade druckgrafische Werke eine breite Wirkung als Quelle künstlerischen Schaffens innehatten. Indem Bildideen Raffaels durch die Kupferstiche Raimondis zugänglich gemacht wurden, wirkten sie als Impulsgeber für die Schöpfung neuer Bildideen, die nicht nur durch den Wettstreit mit oder das Lernen von Raffael ausgelöst wurden.
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Lukas-Evangelium in griechischer Sprache abgebildet, was vor allem diese Neu-Interpretation auslöst. Goldstein 1996, S. 80–82. Vries 1992, Bd. I, S. 59: „The context in which the sheet was seen, was no longer the philosophy of the original patron, nor the culture of the artist. It was […] stripped of most of its original meaning and submerged in the history of visual arts. The idea that art is wholly unconnected to the place and time of its origin, answering its own intrinsic laws only, is a romantic aberration, which has its roots in print rooms rather than picture galleries.“ Vries 1992, Bd. I, S. 56: „Forms can break adrift, lose their original meaning, and be used for the presentation of new content. […] It was graphic art, more than anything else, that helped to spread forms without transmitting their original contents.“
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Über die weiteren Auswirkungen technischer Verfahren der Vervielfältigung von Kunstwerken hat Walter Benjamin in seinem viel zitierten Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ nachgedacht.23 Allerdings sind seine Ausführungen vor allem in Bezug auf die Medien Fotografie, Film oder Tonträger entwickelt worden und werden im Schwerpunkt auf eine deutlich spätere Epoche bezogen. Benjamin untersucht die ästhetischen, sozialen und politischen Folgen, die Kunst als Massenware hervorbringt.24 Den technisch leicht zu vervielfältigenden Werken gegenüber hebt er den Wert von einmaligen Kunstwerken hervor. Mit dem Begriff der Aura umschreibt er die spezifischen, nicht wiederholbaren Eigenschaften eines Kunstwerks als Unikat, dessen Erleben stets an ein bestimmtes Hier und Jetzt gebunden ist. Jedoch lassen sich die hier untersuchten Verfahren der manuellen Übertragung der Zeichnungen Raffaels auf Kupferplatten oder Holzstöcke nicht als Methoden der massenweisen Kunstproduktion bezeichnen. Wir kennen zwar nicht die tatsächliche Auflagenhöhe der Stiche Raimondis, doch es ist anzunehmen, dass vor allem im Bereich der frühen Druckgrafik der Rezipientenkreis im Vergleich zu modernen Reproduktionsmedien noch recht klein war.25 Von einem Massenphänomen kann hier keine Rede sein. Technische Reproduktion von Kunst kann, laut Walter Benjamin, „das Abbild des Originals in Situationen bringen, die dem Original selbst nicht erreichbar sind. Vor allem aber macht sie ihm möglich, dem Aufnehmenden entgegenzukommen.“26 Diese Beobachtung trifft auch auf die Druckgrafik zu und hat weitreichende Auswirkungen: Durch die Möglichkeit, eine Vielzahl von Abzügen herstellen zu können und diese mit Papier als Bildträger leicht transportieren zu können, wird ein größerer und vielschichtigerer Rezipientenkreis erschlossen. Es ist offensichtlich, dass ein leichterer Transport von Bildern Auswirkungen auf den Umgang mit ihnen hat. Aby Warburg bezeichnete druckgrafische Werke treffend als „beweglichere Bilderfahrzeuge“.27 Der Autor ging sogar so weit, die Renaissance als „Zeitalter internationaler Bilderwanderung“ zu charakterisieren.28 Mit dieser Aussage hat er einen
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Benjamin 1977. Benjamin 1977, S. 13: „Die Reproduktionstechnik […] löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte.“ Gramaccini / Meier 2009, S. 9: „Die Distribution ist noch, den Kleinbronzen und Medaillen in ihrer Frühzeit vergleichbar, auf einen engen Kreis von Liebhabern beschränkt.“ Benjamin 1977, S. 12–13. Vgl. Ebenda, S. 13: „Die Umstände, in die das Produkt der technischen Reproduktion des Kunstwerks gebracht werden kann, mögen im übrigen den Bestand des Kunstwerks unangetastet lassen, sie entwerten auf alle Fälle sein Hier und Jetzt.“ Warburg 1998, S. 463. Warburg bezog diesen Ausdruck auf die seiner Auffassung nach im Norden entdeckte Druckkunst, die dazu beitrug, dass sich bestimmte Bilderfindungen umso leichter international verbreiteten. Ebenda, S. 479.
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wesentlichen Kern getroffen.29 Eine solche Verringerung der Distanz zwischen Kunstwerk und Betrachter im Medium der Druckgrafik ist aber nicht allein räumlich zu verstehen, wie Peter Schmidt deutlich macht.30 Sondern sie findet auch auf einer hierarchischen Ebene statt. Während das singuläre Werk eher in respektvollem Abstand betrachtet wird, wird das vervielfältigte Werk oft in direktem Sinn vom Betrachter benutzt, indem zum Beispiel auf die Stiche gezeichnet wird oder indem sie beschnitten, beschriftet und in Bücher eingeklebt werden. Auf diese Weise machen die Betrachter sie sich in einem hohen Maß zu eigen. Mithilfe von druckgrafisch vervielfältigten Bildern lassen sich sowohl zeitliche als auch räumliche Grenzen überwinden.31 Im Gegensatz zu gedruckten Texten ermöglichen vervielfältigte Bilder zudem die Vermittlung kulturellen Wissens über Sprachgrenzen hinaus.32 Damit werden neue Formen der Wahrnehmung und interkulturellen Verständigung generiert. Der Rezipientenkreis bildlich vermittelter Informationen ist deutlich größer und möglicherweise auch vielfältiger als der Kreis derjenigen, die fremdsprachliche Texte zu lesen verstehen. Doch auch in diesen Prozessen der visuellen Kommunikation bilden Missverständnisse, Neuinterpretationen und Anpassungen an die eigene, kulturell geprägte Formensprache eher die Regel als die Ausnahme.33 Nur wenige kunsthistorische Forscher haben bislang ihr Augenmerk auf die herausragende Funktion von Druckgrafik in der Vermittlung von bildlicher Informa-
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Langemeyer / Schleier 1976, S. 166: „Die grafischen Wiedergaben sorgen für den internationalen Bildaustausch. Neue Kunstrichtungen können sich mit dem Instrument der Grafik durchsetzen, vorbildliche Werke in ganz Europa aufgenommen werden. Die Kunst überschreitet enge regionale Grenzen. Sie wird international. Das Studium der Vorlagen und verbindlichen Regeln sichert die Kontinuität in der europäischen Kunst. Konvention und Inspiration werden nicht als Gegensätze begriffen, sondern als wechselseitige Bedingung.“ Peter Schmidt, Das vielfältige Bild: Die Anfänge des Mediums Druckgraphik, zwischen alten Thesen und neuen Zugängen, in: Parshall / Schoch 2005, S. 37–56. Vgl. ebenda, S. 51: „Durch die druckgraphischen Techniken wurden Bilder in neuem Maße zum Medium der Kommunikation, auch in diesem Sinne wurden sie beweglicher und Gegenstand des Austauschs und der Kultur des Schenkens. Dies geht Hand in Hand mit einer Verringerung der Distanz zwischen Bild und Betrachter, die zu den neuen Eigenschaften des Mediums gerechnet werden muß. Deutlichster Beleg dafür ist die große Zahl von Beschriftungen, die Benutzer auf gedruckten Bildern angebracht haben – ein Phänomen, das bei anderen Bildmedien in diesem Umfang nicht zu beobachten ist.“ Zerner 1983, S. 1–6. Vgl. Pon 2004, S. 8: „Taken together, multiplicity, portability, and low cost meant that prints could easily be transferred between individuals, and across geographical and temporal boundaries.“ und ebenda, S. 16: „Printmaking was without question the sixteenth century’s most powerful technique for sending images through time and space.“ Reichardt 2003, S. 45: „Gerade die nicht nationalsprachlich gebundene Bild-, Musik- und materielle Kultur verharrt nicht in regionaler und nationaler Isolation oder Autarkie, sondern überschreitet laufend die Landesgrenzen und ist ein Hauptträger des interregionalen und internationalen Austauschs.“ Schließlich hatten auch ökonomische Schranken eine geringere Wirkung, weil Kupferstiche als Auflagenkunst deutlich preiswerter waren als Unikate. Dadurch wurde der Kreis derjenigen, die dieses neue Medium nutzen konnten, auch im sozialen Sinn größer und neue Formen der Kommunikation erschlossen.
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tion und als Mittel der Kommunikation gelenkt.34 In Anlehnung an Modelle aus dem Bereich der Kommunikationswissenschaft kann man druckgrafische Werke als Medium verstehen, über das Informationen von einem Sender an einen Empfänger vermittelt werden. William Ivins betrachtete als erster in seiner bereits 1953 erschienenen Schrift „Prints and visual communication“ Druckgrafik als Mittel der visuellen Kommunikation und beschrieb in umfassender Form die Konsequenzen dessen, dass Bilder durch das Medium der Druckgrafik in einem hohen Maße mobil wurden und dadurch einem deutlich größeren Kreis von Betrachtern zur Verfügung standen.35 Er hob den Wert von gedruckten Bildern als Grundlage modernen Lebens und Wissensaustauschs hervor. Far from being merely minor works of art, prints are among the most important and powerful tools of modern life and thought. […] If we define prints from the functional point of view so indicated, rather than by any restriction of process or aesthetic value, it becomes obvious that without prints we should have very few of our modern sciences, technologies, archaeologies, or ethnologies – for all of these are dependent, first or last, upon information conveyed by exactly repeatable visual or pictorial statements.36 Der besondere Wert von gedruckten Bildern liegt, laut Ivins, darin begründet, dass mittels druckgrafischer Techniken identische Abzüge eines Bildes herstellbar sind. Im Gegensatz zu manuellen Reproduktionen erlauben die verschiedenen Drucktechniken die exakte Vervielfältigung von Bildern, so wie der Buchdruck exakte Wiederholungen von Texten ermöglicht. Damit wird eine entscheidende Grundlage für präzise Kommunikation über einen spezifischen Gegenstand gelegt. Eine solche Funktion eines exakt wiederholbaren Bildes als Vermittler bestimmter Informationen findet eine besondere Bedeutung vor allem in Zusammenhängen, die nicht künstlerischer Natur sind. Wenn gedruckte Bilder in Form von wissenschaftlichen Illustrationen Texte begleiten, können sie in erheblicher Weise erkenntnisfördernd sein. Dann ist es entscheidend, dass den Lesern des Textes jeweils identisches Bildmaterial vorliegt, denn nur so kann ein Wissensaustausch stattfinden und technologische Entwicklungen ermöglicht werden. Ivins zufolge hat aber die Übertragung eines Kunstwerks in ein druckgrafisches Bild stets bestimmte Grenzen. Diese sind abhängig von der individuellen Fähigkeit eines Kupferstechers oder Holzschneiders, eine Vorlage zu verstehen
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Als einer der ersten hat Roger de Piles auf die Nützlichkeit von Druckgrafik als Informationsmaterial für verschiedene Berufsgruppen hingewiesen, Piles 1969 [1699], Kapitel 27, De l’utilité des estampes, & de leur usage, S. 74–92. Zur jüngeren Forschung siehe: Gramaccini / Meier 2003. Ivins 1953, für eine Rezension dieses Buches siehe: E. H. Gombrich, „Review“, in: The British Journal for the Philosophy of Science,1954, Bd. V, H. 18, S. 168–169. Ivins 1953, S. 3.
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und in das eigene Medium zu übertragen. Das, was dem eigenen, kulturell geprägten Verständnis nicht entspricht, wird bisweilen vom übertragenden Kupferstecher gar nicht erkannt. Mitunter nimmt ein Stecher auch gezielte Veränderungen gegenüber der Vorlage vor oder er wählt bewusst nur einzelne Teile aus. Je individueller die Handschrift des übersetzenden Stechers ist, desto weniger getreu ist die druckgrafische Übersetzung gegenüber der Vorlage und desto weniger Informationen über sie werden vermittelt. Auch können bei der Übertragung Missverständnisse entstehen und zu druckgrafischen Neuschöpfungen führen.37 Ivins weist allein der Fotografie als Reproduktionsmedium die Möglichkeit zu, ein unverfälschtes Abbild eines Kunstwerks zu geben, weil hier die „verfälschende“ Hand des Reproduktionsstechers durch einen Apparat ersetzt worden sei.38 Gerade in der aktuellen Kunstentwicklung wird jedoch mehr als deutlich, dass Ivins’ Vertrauen in die Fotografie unbegründet ist. Nirgends kann ein Bild so leicht und umfassend manipuliert werden, wie hier. Es ist auch seiner These deutlich zu widersprechen, Marcantonio habe stets ein immer gleiches, rationalisiertes Linienschema angewendet, unabhängig davon, ob es sich bei der Vorlage um eine Zeichnung, ein Gemälde oder eine Skulptur handelte.39 37
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Ivins 1953, S. 60–61: „Courageous and sharp-sighted as he [the observer and recorder] might be, he had learned to see in a particular way and to lay his lines in accordance with the requirements of some particular convention or system of linear structure, and anything that that way of seeing and that convention of drawing were not calculated to catch and bring out failed to be brought out in his statement. For shortness’ sake I shall frequently refer to such conventions as syntaxes. Thus the Germans of the Renaissance had one kind of vision and drawing and the Italians had another.“ William Ivins’ Beobachtungen liefern wertvolle Erkenntnisse, die anhand des in den folgenden Kapiteln untersuchten Materials bestätigt werden. Dennoch ist der sprachwissenschaftliche Begriff der „Syntax“ in diesem Zusammenhang irreführend. Das, was Ivins hier zu beschreiben versucht, ist die individuelle Darstellungsweise eines jeden Stechers oder Holzschneiders. Der Begriff der Syntax meint aber vielmehr allgemein gültige Regeln des Satzbaus. Estelle Jussim schlägt vor, das Wort „Syntax“ in Ivins’ Modell durch andere, ebenfalls der Sprach- und Kommunikationswissenschaft entlehnte Bezeichnungen zu ersetzen, nämlich durch die Begriffe: „Nachricht“, „Kanal“ und „Code“, vgl. Jussim 1974, S. 12. Für eine Rezension dieses Buches siehe: John Adkins Richardson, „Review“, in: Leonardo,1976, Bd. IX, H. 2, S. 165–166. Doch auch diese Begriffe sind, von der Kommunikationswissenschaft in die Kunstwissenschaft kritiklos übertragen, wenig hilfreich. Ivins 1953, S. 176–177: „For the first time [it became] possible to have reproductions of works of art that had not been distorted and vulgarized by the middle-man draughtsman and engraver [… and] had not been reduced to the syntax and the blurring technical necessities of a manufacturing trade and craft. […] Man had at last achieved a way of making visual reports that had no interfering symbolic linear syntax of their own. In the whole history of human communication it is doubtful if any more extraordinary step had ever been taken than this.“ Ivins’ Abwertung der Reproduktionsgrafik als Verzerrung und Vulgarisierung von Kunst ist nicht haltbar. Vgl. Bann 2002, S. 54: „Wenn Ivins annimmt, dass Reproduktionsstiche ‚die Wahrheit‘ über ein und dieselbe Sache mitteilen sollen‘, dann vertritt er ein völlig unhistorisches Konzept von Identität, das implizit mit fotografischer Reproduktion einhergeht und das jene vergleichende Beurteilungen überflüssig macht, die die Anstrengungen ‚der historischen Imagination‘ erfordern.“ Ivins 1953, S. 166: „These prints [Marcantonio’s] were made and sold not so much as works of art but rather as informational documents about works of art. Thus Dürer, in his Nether-
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Auch Carl Goldstein kommt zu der irrigen Annahme, Raimondi habe in seinen Stichen jegliche Vorlagen zu erbarmungsloser Gleichförmigkeit verdammt.40 Damit verkennt der Autor die Tatsache, dass Raimondi nie Gemälde in Stiche übersetzte. Zudem hat sich Raimondi gerade durch das Übersetzen gezeichneter oder in Holz geschnittener Vorlagen verschiedener Meister einer großen Bandbreite an unterschiedlichen Darstellungsweisen anpassen müssen und beweist darin eine besondere Vielfalt. Von Gleichförmigkeit kann hier keine Rede sein. Wie sehr die Beurteilung der Stiche Marcantonio Raimondis von Moden in der Kunstwissenschaft abhängig ist, zeigt die Gegenüberstellung zu der Aussage Charles Blancs, die 120 Jahre früher formuliert wurde: Vienne Marc-Antoine, […] quelque chose se produira dans l’art du graveur qui n’y avait pas encore paru. La beauté de l’exécution va s’unir à l’ampleur du style. A la monotonie barbare et sublime de Mantegna va succéder une manière élégante et contenue, variée sans bigarrure, imitative sans minutie.41
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lands diary, refers to prints after Raphael as ‚Raphaels Ding‘, which he knew they were not. […] The most particular personal characteristics of the original works of art, their brush strokes and chisel marks, were thus omitted, and what was transmitted in the print was little more than an indication of iconography combined with general shapes and masses.“ Goldstein 1996, S. 84: „Among the works especially widely circulated and studied, certainly in academies, were The Judgment of Paris and Massacre of Innocents, both engraved by Marcantonio after drawings by Raphael, according to his schematized linear practice. This is the same scheme of crosshatching and swelling and tapering lines that he used in engraving Raphael’s paintings and also ancient sculptures. Works by Raphael are united, of course, by a style that, in turn, was formed in response to classical sculpture. But in Marcantonio’s engravings the unity of drawing, painting, and sculpture is far greater, and of a different kind, from that of the originals: the inexorable unity of the same reproductive technique.“ Blanc 1876, S. 626.
Die Zusammenarbeit von Raffael und Raimondi
Die kunsthistorische Forschung hat sich bisher ausschließlich mit der Frage befasst, wie man sich wohl die Zusammenarbeit von Raffael und Raimondi vorzustellen habe. Das Ziel dieser Arbeit ist es, vor allem Raimondis Vermittlungsleistung hervorzuheben. Um jedoch klären zu können, worin diese Vermittlungsleistung genau besteht, ist es notwendig zu untersuchen, in welchem Ausmaß der Maler oder der Stecher die Gestalt der Stiche bestimmten. Es wird zu zeigen sein, wie eigenständig Raimondi war, da er die gezeichneten Vorlagen Raffaels überwiegend frei interpretierte und somit seinem Publikum einen verfremdeten Blick auf Raffaels Werk lieferte. Wie Lodovico Dolce (1508–1568) berichtet, lernte Raffael im Austausch mit Werken Albrecht Dürers auch dessen Holzschnitte und Kupferstiche kennen, die ihn so beeindruckten, dass er sie in seinem Atelier aufhängte.1 Als Reaktion auf die druckgrafischen Werke Dürers zog auch Raffael die Möglichkeit einer Übersetzung seiner Entwürfe in Druckgrafik in Betracht: Einerseits, weil er in den Werken Dürers die technische Perfektion und das breite Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten der Druckgrafik erkannte, andererseits, weil er vermutlich ahnte, dass eine solche Vervielfältigung seiner Zeichnungen half, Bildschöpfungen über die Grenzen Italiens hinaus bekannt zu machen.2 Im Unterschied zu Dürer, der die Kupferplatten und Holzstöcke selbst bearbeitete, war es für Raffael eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung der Kupferstiche, dass die Arbeit auf mindestens zwei Personen aufgeteilt wurde – den entwerfenden Künstler einerseits und den Kupferstecher andererseits. Mit dem Drucker und dem Verleger kamen später weitere Personen hinzu, welche die Gestalt der Kupfersti-
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Dolce 1998, fol. 24r: „E per testimonio di cio vi affermo, che l’istesso Rafaello non si recava a vergogna di tener le carte di Alberto attaccate nel suo studio, e le lodava grandemente.“ Vasari 2004a, S. 61: Unter anderem erhielt Raffael ein heute unbekanntes Selbstporträt Dürers, das Vasari vor allem hinsichtlich der verwendeten Technik der Aquarellmalerei lobt.
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che mitprägten. Aus dem singulären Akt des spontanen Zeichnens wurde eine Abfolge mehrerer Arbeitsgänge, wie der Herstellung einer Druckvorlage, dem Bearbeiten der Kupferplatte mit dem Grabstichel, dem Färben der Platte und dem Vorgang des Dru ckens. Das Prinzip der Herstellung eines Kunstwerks durch die Aufteilung einzelner Arbeitsschritte auf mehrere Personen und aufeinander folgende Etappen war fest in Raffaels Werkstattorganisation verankert.3 Damit waren die so entstandenen Werke aber nicht weniger Zeugnisse individuellen Kunstschaffens. Vielmehr traten an die Stelle einer einzelnen persönlichen Ausdrucksweise mehrere, übereinander gelagerte Interpretationen – die des Zeichners und die des Kupferstechers. Den Tausch von Kunstwerken zwischen Raffael und Dürer belegt eine Zeichnung Raffaels zweier männlicher Akte (Abb. 1), auf der Dürer notierte: 1515 / Raffahell de Urbin der so hoch peim / popst geacht ist gewest hat der hat / dyse nackette bild gemacht Und hat / sy dem albrecht dürer gen nornberg / geschickt Im sein hand zu weysen.4 Die Tatsache, dass Raffael Dürer hier eine Studie und keine vollendete Präsentationszeichnung zukommen ließ, lässt vermuten, wie hoch Raffael selbst Studien und solche Zeichnungen wertschätzte, die eine erste Idee in der Entwicklung eines Bildgedankens festhalten. Diese Wertschätzung spiegelt sich auch in der Auswahl seiner für die Übertragung in den Stich vorgesehenen Zeichnungen, bei denen rasch skizzierte Entwürfe überwiegen. Die Bewunderung für Dürer teilte Raffael mit Raimondi, denn dieser hatte in seinem Frühwerk nach Dürers Holzschnittfolgen des Marienlebens aufwendige Kopien in der Technik des Kupferstichs angefertigt. In Rom schuf er weitere Kopien nach Dürer.5 Ohne die umfassende technische Schulung an Dürer wäre
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Eine solche Aufgabenteilung und Spezialisierung etablierte sich in gesteigerter Form nach Raffaels Tod. Sobald Raffaels Gemälde in Kupferstiche übertragen wurden, gab es Zeichner, die seine Gemälde oder Fresken in monochrome Darstellungen übersetzten. Die Stecher übertrugen diese Zeichnungen, die nicht notwendigerweise von ihrer Hand sein mussten, anschließend auf die Kupferplatten. Die Verleger der Stiche gewannen an Einfluss und prägten zusätzlich deren zunehmend standardisierte Gestalt. Es lassen sich sogar unterschiedliche druckgrafische Stile je nach Verlagshaus unterscheiden. Raffael, Zwei Männerakte mit Kopfstudie (Studie für die „Schlacht von Ostia“, Stanza dell‘ Incendio, Vatikan), Rötel über Metallgriffel, Bezeichnung in Feder, 403 × 283 mm, Wien, Graphische Sammlung Albertina, Inv. Nr. 17 575, R. 74, S.R. 282, Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, Nr. 504, Vgl. auch Oberhuber / Gnann 1999, Kat. Nr. 5 und Arnold Nesselrath, „Raphaels Gift to Dürer“, in: Master Drawings,1993, Bd. XXXI, H. 4, S. 376–389. Die Zeichnung ist zusätzlich von der Hand Dürers mit dem Jahr 1515 datiert. Interessant ist die Beobachtung, dass Raffael ein Zeugnis seiner Hand sendet, während Dürer ihm, laut Vasari, ein Selbstbildnis geschickt hatte – also ein Zeugnis seines Gesichtes. Passavant 1860–1864, Bd. VI, S. 46, Der Stich Maria am Tor, den Bartsch als ein Werk Dürers ansieht und im Werkverzeichnis Dürers unter der Nummer 45 nennt, weist Passavant Raimondi zu. Dieser Stich ist mit 1520 datiert – ein Hinweis darauf, dass Raimondi in seiner gesamten Karriere Dürer kopierte.
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1 Raffael, Zwei Männerakte mit Kopfstudie (Studie für die „Schlacht von Ostia“, Stanza dell‘ Incendio, Vatikan), Rötel über Metallgriffel, Bezeichnung in Feder, 403 × 283 mm (Farbtafel I)
Raimondi vermutlich nicht in der Lage gewesen, Raffaels Bildschöpfungen in einer solch’ überzeugenden Weise in Kupferstiche zu übersetzen.6 Raffael arbeitete sehr schnell. Seine Einbindung in eine Vielzahl von Auftragswerken bedingte, dass er nicht jedes Werk seines Ateliers durch eine detaillierte Skizze
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Dillon 1984, S. 559: „E mi sembra si possa aggiungere che una simile intesa fra l’incisore [Raimondi] e l’inventore [Raffael] sia nata proprio sulla base della comune ammirazione per gli esemplari düreriani.“
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vorbereiten konnte. Er musste auf die Fähigkeiten seiner Werkstattmitglieder vertrauen, auch auf der Basis verkürzter Hinweise vollständige Bildkompositionen zu entwickeln. Je fähiger ein Geselle Raffaels war, desto größerer Spielraum zur Umsetzung eigener Ideen konnte ihm gewährt werden. Der für den Bereich der Druckgrafik am besten geeignete Spezialist in Italien zu Lebzeiten Raffaels war Marcantonio Raimondi. Raffaels Skizzen bildeten die Grundlage für eine Vielzahl von Werken in unterschiedlichen Medien, die nicht vom Meister selbst ausgeführt wurden. Dies tat ihrer Wertschätzung jedoch keinen Abbruch, denn der Rang eines Künstlers wurde vor allem an seiner Fähigkeit zur inventio, dem Erfinden einer gelungenen Bildidee, gemessen. Diese ließ sich scheinbar gleichberechtigt von verschiedenen Händen übertragen, sei es als Fresken oder Kupferstiche. „Statt zwischen Original und Reproduktion unterschied man somit zwischen unterschiedlichen Medien der inventio, die jeweils ihre Vor- und Nachteile hatten, aber nicht generell in eine Rangfolge gebracht wurden. Vor allem spielte es keine entscheidende Rolle, ob der Künstler als Urheber der inventio selbst Hand angelegt hatte – oder ob andere, Lehrlinge in der Werkstatt sowie selbständige Stecher, seine Ideen umsetzten. Nur der Entwurf mußte von ihm stammen, wobei dieselbe Zeichnung als Vorlage ebenso für ein Gemälde wie für eine Reproduktionsgrafik fungieren konnte.“7 Eine solche Beurteilung steht in deutlichem Gegensatz zu heutiger Kunstbetrachtung, würde es doch niemandem einfallen, einen Stich Raimondis mit einer Zeichnung Raffaels gleichzusetzen. Dennoch trifft die zitierte Einschätzung Wolfgang Ullrichs auf Raffaels zeitgenössische Betrachter sicherlich zu, wie auch das von mir im Folgenden untersuchte Material belegt. Es ist zu betonen, dass Marcantonio Raimondi und seine engsten Mitarbeiter, Agostino Veneziano (eigentlich de’ Musi, um 1490 – um 1540) und Marco da Ravenna (eigentlich Marco Dente, um 1493–1527), ausschließlich nach Zeichnungen Raffaels arbeiteten. Es kann kein einziges Beispiel dafür belegt werden, dass ein Stich nach einem Gemälde oder Fresko entstanden sei.8 Allein die Kupferstiche Raimondis, die 7 8
Ullrich 2009, S. 11. Kristeller 1907, S. 200 und S. 228. Landau / Parshall 1994, S. 120–121. Landau und Parshall nennen noch zwei weitere Beispiele, wo Stiche sehr ähnlich den gemalten Vorlagen sind, um in beiden Fällen zu beweisen, dass es sich auch hier nicht um eine Abweichung von der Arbeitsweise, allein nach Zeichnungen zu stechen, handelt. a) Agostino Veneziano: Kreuztragung Christi ( Bartsch XIV.34.28) ähnelt dem gleichnamigen Gemälde sehr, nur ist dieses mehr als 3 × 2 m groß, was eine enorme Übersetzungsleistung in der Veränderung der Maßstäbe bedeutet hätte. Außerdem wurde das Gemälde hauptsächlich von Assistenten angefertigt, die eines Modells bedurft hätten. Dieses Modell nahm sicherlich auch Agostino zur Vorlage. b) Marco Dente wird ein Stich nach dem Fresko des Borgobrandes zugeschrieben (Bartsch XV.33.6), der dem Fresko sehr nahe kommt, allerdings ist die Zuschreibung an Dente nicht sicher, wahrscheinlicher ist es, dass es sich hier um einen Stich aus den 1540er
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2 Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Der Parnass, Kupferstich, 357 × 467 mm
3 Raffael, Der Parnass, Fresko, 1508–1511, Stanza della Segnatura, Vatikanische Museen, Rom
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sich auf die Fresken in der Villa Farnesina in Rom beziehen, wie Jupiter und Amor (Bartsch XIV.256.342), Merkur (Bartsch XIV.257.343), Amor und drei Grazien (Bartsch XIV.257.344) sowie der Triumph der Galatea (Bartsch XIV.262.350) ähneln den Fresken so sehr, dass es die Möglichkeit gäbe, diese seien nach den vollendeten Werken entstanden, zumal es außer der Studie für den Merkur keine Zeichnungen Raffaels mehr gibt, die den Stichen zugrunde gelegen haben könnten.9 Dennoch deuten leichte Abweichungen zwischen den Stichen und den Fresken darauf hin, dass sie eher auf eine gemeinsame gezeichnete Vorlage zurückzuführen sind, als dass es sich tatsächlich um Reproduktionsstiche im klassischen Sinn handelte.10 Auch der Stich des Parnass (Abb. 2, Bartsch XIV.200.247) wurde von Raimondi trotz der vermeintlich unmissverständlichen Inschrift RAPHAEL PINXIT IN VATICANO / MAF nicht nach dem Fresko (Abb. 3) angefertigt, sondern nach einem heute verlorenen gezeichneten Modell.11 Das Fresko Raffaels im Vatikan war bereits 1510 – 1511 fertiggestellt. Der Stich wird aufgrund seiner stilistischen Einordnung in das Gesamtwerk Raimon-
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Jahren handelt, wo Reproduktionsstiche nach vollendeten Werken bereits übliche Praxis waren. Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, Nr. 543, Die Studie Raffaels Merkur und Amoretten, Feder, 189 × 172 mm, Köln, Wallraf-Richartz Museum, Inv. Nr. Z 1984 ist die einzige Zeichnung, die in einen Zusammenhang mit den Fresken der Farnesina gebracht werden kann, sie ist allerdings noch sehr skizzenhaft und kann nicht als Modellzeichnung für den entsprechenden Stich betrachtet werden. Bei der Zeichnung Jupiter und Amor, Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, Nr. 551, Rötel, 362 × 252 mm, Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nr. MJ 1120 recto handelt es sich um eine Kopie nach Raffael. Auf dieser Zeichnung trägt Jupiter noch keinen Bart und sein Hals ist weniger muskulös. Vgl. Cordellier / Py 1992, S. 372, Nr. 550. Zudem gibt es im Louvre zwei Nachzeichnungen nach dem entsprechenden Stich Raimondis, siehe Cordellier / Py 1992, S. 374, Nrn. 551 und 552. Kristeller 1907, S. 205–206. Raimondi stellt zwar eine architektonische Einbindung der Lünetten dar, doch entspricht diese nicht der tatsächlichen Anbringung der Fresken. Auch wurden weitere dekorative Ergänzungen an den Fresken, wie der Schmuck durch gemalte Festons, nicht in den Stichen wiedergegeben. Außerdem hätte Raimondi, wenn er tatsächlich nach den Fresken gearbeitet hätte, die stark auf Untersicht gearbeiteten Figuren mühevoll wieder in eine Parallelperspektive umwandeln müssen. Nähere Ausführungen dazu finden sich in Oberhuber / Gnann 1999, Kat. Nrn. 75–77. Raffael, Der Parnass, Fresko, 1508–1511, Stanza della Segnatura, Vatikanische Museen, Rom. Vgl. Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Der Parnass, Kupferstich, 357 × 467 mm, Bartsch XIV.200.247, British Museum, London, Inv. Nr. 1895,0915.119. Es gibt lediglich gezeichnete Studien Raffaels zu einzelnen Bildfiguren des Freskos. Siehe Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, Kat.-Nrn. 363–369; 371–373 sowie 375–379. Eine Kopie nach einer verlorenen Zeichnung Raffaels für die Gesamtanlage der Komposition befindet sich in Oxford, Ashmolean Museum, Inv. Nr. WA1846.272. Vgl. Kristeller 1907, S. 218: „Für unsere Begriffe von Reproduktion, selbst der freiesten, ist es allerdings schwer begreiflich, warum Marcanton sich für seinen Stich, den er noch dazu durch die Aufschrift: ‚Raphael pinxit in Vaticano’ ausdrücklich als eine Nachbildung nach dem Gemälde bezeichnet hat, nicht eine mit dem Fresko wenigstens in der Komposition genauer übereinstimmende Zeichnung verschafft hat. Man sollte meinen, dass er das Gemälde, das zur Zeit, als er den Stich ausführte, schon mehrere Jahre vollendet gewesen sein muss, nie gesehen hätte. […] Wir werden wohl eher annehmen müssen, dass der Stecher auf die Nachbildung als solche gar keinen Wert gelegt, sondern nur mit Hilfe einer Raffaelischen Zeichnung einen ansprechend wirkenden Stich zustande zu bringen beabsichtigt habe.“
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dis um 1517–1520 datiert.12 Das Fresko hätte also durchaus als Vorlage dienen können. Dennoch arbeitete Raimondi nach einer früheren gezeichneten Fassung, denn sein Stich weist einige deutliche Unterschiede zum Fresko auf: Raffael schuf eine an die Gegebenheiten der Raumarchitektur angepasste Komposition eines halbrunden Bildfeldes in einer Bogenlaibung oberhalb eines Fensterrahmens. Dieses geschlossene Fenster stellt auch Raimondi in seinem Stich dar, doch ergänzt er das halbkreisförmige Bildfeld zu einem rechteckigen Bildformat, um es an die Form seiner Kupferplatte anzupassen.13 Sowohl das Fresko Raffaels als auch der Stich Raimondis zeigen Apoll in frontal ausgerichteter Haltung im Kreis von neun Musen.14 Etwas weiter vom Gott entfernt sind antike und zeitgenössische Dichter zu Gruppen angeordnet.15 Im Fresko spielt Apoll die Viola, im Stich hingegen eine antike Lyra. Auf dem Fresko entspringt unterhalb Apolls eine Quelle, die im Stich nicht dargestellt wird. Im Vergleich zum Fresko fehlen auf dem Stich einige Bildfiguren, wie zum Beispiel die beiden, den Fensterrahmen überschneidenden Figuren der Muse Sappho und des Dichters Äschilos.16 Der bemerkenswerteste Unterschied sind jedoch die fünf im Himmel schwebenden Putten, die allein auf dem Stich vorkommen. 12
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Broun / Shoemaker 1981, S. 155–157, Kat. Nr. 48a und 48b. Im Cleveland Museum of Art gibt es einen Probeabzug, auf dem noch nicht das Fenster integriert ist und einige Details im Blattwerk der Lorbeerbäume fehlen. Möglicherweise wurde der Stich von anderer Hand vollendet, da besonders einige Figuren am rechten Bildrand Fehler in ihren Proportionen aufweisen. Vasari 1973, Bd. IV, S. 335, für die deutsche Übersetzung siehe: Vasari 2004a, S. 37. Vasari informiert den Leser, dass die Bildnisse antiker Dichter nach Vorlagen von Statuen, Medaillen oder Gemälden geschaffen wurden und die der zeitgenössischen Dichter auf persönliche Porträts zurückgehen. Reale 1999, S. 39–50: In einem Halbkreis sind um Apoll herum die neun Musen Calliope, Thalia, Euterpe, Erato, Terpsichore, Clio, Melpomene, Polyhymnia und Urania angeordnet. Die Identifikation der einzelnen Musen ist Gegenstand anhaltender kunsthistorischer Kontroverse, ihnen sind keine eindeutigen Attribute zugeordnet. Einen Überblick über verschiedene Vorschläge zur Klassifizierung sämtlicher Bildfiguren durch verschiedene Kunsthistoriker liefern Cordellier / Py 1992, S. 127–129. Reale 1999, S. 58–96: Unten links vom Fenster sind vier lyrische Poeten dargestellt, nämlich Horaz, Properz, Petrarca, Pindarus, gefolgt von der Muse Sappho, die allein im Fresko vorkommt. Zur Rechten Apolls befinden sich die epischen Poeten Ennius, Dante, Homer, Vergil und Statius. Zur Linken Apolls folgen die zeitgenössischen Dichter Ariost, Boccaccio, Antonio Tebaldi (Tebaldeo) und Jacopo Sannazaro, die um eine nicht abschließend identifizierte Figur – möglicherweise die Personifikation der Poesie – angeordnet sind. Und schließlich sieht man drei tragische griechische Dichter, nämlich: Äschilos, Sophokles und Euripides. Raffael formulierte die Identität der einzelnen Personen erst im Zuge der fortschreitenden Entwicklung des Freskos genauer. Es verwundert nicht, dass gerade die Darstellung der zeitgenössischen Dichter nicht von Anfang an festgeschrieben war. Außerdem fehlt im Stich auf der linken Bildhälfte der Dichter Statius. Die Muse Urania ist im Stich nicht als Rückenfigur angelegt, sondern im nach links gerichteten Profil, ein Streichinstrument haltend. Die deutlichsten Unterschiede sind auf der rechten Bildhälfte auszumachen. Hier zeigt der Stich nur sechs lorbeerbekrönte Dichter, während im Fresko an dieser Stelle sieben Dichter angeordnet sind. Fast alle unterscheiden sich deutlich in ihren Posen. Auf dem Stich wird an dieser Stelle klarer, dass einige der Dichter erst noch im Begriff sind, den Berg zu erklimmen und sich der göttlichen Inspiration zu nähern.
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Von den mehr als 630 von der kunsthistorischen Forschung als eigenhändig anerkannten Zeichnungen Raffaels lassen sich etwa 48 Blätter in einen motivischen Zusammenhang mit den Kupferstichen Raimondis und seiner Schüler, Agostino Veneziano und Marco Dente, bringen.17 Dem stehen etwa 200 Stiche Raimondis gegenüber, die er entweder nach eigenen Entwürfen oder nach antiken Vorbildern schuf.18 Die Zeichnungen Raffaels mit Bezug zur Druckgrafik variieren stark im Thema, Stil, der Zeichentechnik und dem Grad der Vollendung, weshalb sich nur wenige allgemeine Schlüsse über das Verhältnis der Zeichnungen Raffaels zu den Stichen Raimondis und seines Umkreises ziehen lassen. Erhellend ist es aber, diese Gruppe an Zeichnungen in Skizzen – concetti – und detaillierte Vorlagen zu den Stichen – modelli – zu unterteilen, denn nur cirka 15 Zeichnungen aus dieser Gruppe haben einen modellhaften Charakter.19 Davon führte Raimondi Kupferstiche nach etwa neun Modellzeichnungen Raffaels aus: Der Bethlehemitische Kindermord, welchem drei andere Studien zu diesem Thema vorangehen (Barsch XIV.19.18 [Variante mit der Tanne am rechten Bildrand] und Bartsch XIV.21.20 [Variante ohne Tanne]); Das Abendmahl (Bartsch XIV.33.26 – kopiert von Marco Dente, Bartsch XIV.33.27); Pietà (Bartsch XIV.40.34 und Bartsch XIV.40.35); Martha führt Magdalena zu Christus (Bartsch XIV.51.45); Madonna mit Kind in den Wolken (Bartsch XIV.58.52); Alexander, der Große, rettet das Manuskript der Ilias (Bartsch XIV.168.207); möglicherweise zwei Zeichnungen, die zwei Bildkompartimente des Kupferstichs Neptun besänftigt den Sturm (genannt Quos Ego, Bartsch XIV.264.352) vorbereiten, nämlich Dido führt Aeneas zum Bankett und Illioneus und die Trojaner vor Dido sowie die Pest in Phrygien (genannt Il Morbetto [Die Kleine Pest], Bartsch XIV.314.417).20 Sein Schüler Marco 17
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Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, Nrn. 180 (B. 18/ 20), 187 (B. 37), 193 (B. 37), 211 (B. 1), 219 (B. 32), 238 (B. 476), 334 (B. 382), 340–341 (B. 18/ 20), 344–345 (B. 18/ 20), 356 (B. 381), 358 (B. 311), 365 (B. 247), 383 (B. 34), 417 (B. 297), 427 (B. 52 – 53), 444 (B. 48), 445 (B. XV. 11), 450 (B. 417), 451 (B. 26), 452 (B. 417), 458–459 (B. 54), 475 (B. 481), 483 (B. 460), 494 (B. 207), 519 (B. 44), 524 (B. 43), 529–530 (B. 323) – (Nr. 529: Zuschreibung an Raffael unsicher; Nr. 530 Abklatsch eines verlorenen Originals), 532 (B. 321), 533 (B. 325), 534 (B. 286), 535 –536 (B. 352), 538 (B. 352), 543 (B. 343), 545 (B. 245), 551 (B. 342) und 583 (B. 10); Höper 2001, Kat. Nr. II.1, Abb. 13 (B. 7) sowie Oberhuber / Gnann 1999, Kat. Nrn. 21 (B. 92), 26 (B. 28), 35 (B. 229), 37 (B. 250 – ehemals Giulio Romano zugeschrieben, Vgl. Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, S. 137, Abb. 137), ebenda Kat. Nr. 88 (B. 106 und 105), 116 (B. 45). Oberhuber 1984, S. 334 und Faietti / Oberhuber 1988, S. 52. Raimondi schuf, wenn man alle Schaffensperioden betrachtet, etwa 160 Stiche nach eigenen Entwürfen, dazu kommen etwa 45 Stiche nach antiken Vorbildern. Die meisten dieser Stiche, wie die Serie der Heiligen, sind jedoch sehr kleinen Formats. Etwa 50 seiner Stiche haben, laut Oberhuber, einen Bezug zu Raffaels Werk. Landau / Parshall 1994, S. 128–131. Meine Analyse weicht vom Vorgehen Landau und Parshalls ab, da ich die Zeichnungen Raffaels von denen seiner Werkstatt trenne. Außerdem weicht in einigen Fällen meine Einschätzung dahingehend ab, welches Blatt als Skizze oder Modello einzuordnen sei. Landau / Parshall untersuchten insgesamt 32 Zeichnungen Raffaels und seiner Schüler. Knab / Mitsch / Oberhuber 1983: Nr. 345, Der Bethlehemitische Kindermord, Feder in Braun, 265 × 402 mm, Budapest, Szépmüvészeti Múzeum, Inv. Nr. 2195; Nr. 383, sowie Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, Nr. 451, Das Abendmahl, Feder in Braun, 307 × 467 mm, um
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Dente stach nach den folgenden Vorlagen Raffaels: Gott erscheint Isaak, der um die Schwangerschaft Rebekkas bittet (Bartsch XIV.9.7); Lesende Madonna mit Kind (Bartsch XIV.54.48); Madonna mit dem Fisch (Bartsch XIV.61.54) sowie Erzengel Michael (Bartsch XIV.94.106, kopiert von Agostino Veneziano Bartsch XIV.94.105).21 Agostino Veneziano arbeitete nach der genauen Vorlage der Blendung des Elymas (Bartsch XIV.48.43).22 Die Gründe dafür, dass Raimondi und sein Umkreis allein Zeichnungen als Vorlage nutzten, liegen auf der Hand: Zeichnungen waren im Atelierbetrieb leicht verfügbar. Sie konnten im Maßstab 1:1 in Druckgrafik übersetzt werden. Raimondi passte sich tatsächlich in den Maßen den gezeichneten Vorlagen aufs Genaueste an. Es war zudem wesentlich leichter, die Spuren einer Linienzeichnung mit dem Grabstichel nachzuahmen, als ein farbiges Werk in einen Stich zu übersetzen, denn die Schwierigkeit, Farbe in Abstufungen von Hell und Dunkel zu übersetzen, entfiel. Neben diesen äußeren Faktoren spielten auch künstlerische Ziele Raimondis eine
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1514, Windsor Castle, Royal Library, Inv. Nr. RCIN 912745. Pietà, Kohle, Pinsel und Weißhöhung über Griffel, 304 × 216 mm, Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nr. 3858; Oberhuber / Gnann 1999, Kat. Nr. 116, Martha führt Magdalena zu Christus, Feder in Braun, braun laviert, weiß gehöht über schwarzer Kreide, 222 × 349 mm, Chatsworth, Devonshire Collection, Trustees of the Chatsworth Settlement, Inv. Nr. 63, Vgl. Broun / Shoemaker 1981, S. 172, Abb. 37. Eine weitere Zeichnung zu diesem Thema, diesmal Giulio Romano zugeschrieben, befindet sich in der Staatlichen Grafischen Sammlung in München, Inv. Nr. 2467; Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, Nr. 427, Madonnenstudie, schwarze Kreide auf blau grundiertem Papier, 402 × 268 mm, London, British Museum, Inv. Nr. 1900,824.107. Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, Nr. 494, Alexander, der Große, rettet das Manuskript der Ilias, Rötel über Griffelvorzeichnung, 243 × 413 mm, Oxford, Ashmolean Museum, WA1935.152; Nrn. 536 und 538, Dido führt Aeneas zum Bankett und Illioneus und die Trojaner vor Dido, Feder, schwarze Kreide und Rötel sowie Feder und Kreide, jeweils Konturen durchstochen, 77 × 75 mm und 78 × 74 mm, Chatsworth, Devonshire Collection, Trustees of the Chatsworth Settlement, Inv. Nr. 727a und c; Nr. 452, Pest in Phrygien, Feder in Braun, braun laviert und Weißhöhung, 200 × 248 mm, Florenz, Uffizien, Inv. Nr. 525 E (Hierbei handelt es sich um eine spiegelverkehrte Vorlage). Höper 2001, Kat. Nr. II.1, Abb. 13, Gott erscheint Isaak, der um die Schwangerschaft Rebekkas bittet, Feder in Braun, braun laviert, weiß gehöht, quadriert, 176 × 231 mm, Staatsgalerie Stuttgart, Grafische Sammlung, Inv. Nr. C 96/4478 – Zu dieser Zeichnung gibt es eine Giovanni Francesco Penni zugeschriebene Kopie, Feder in Braun, braun laviert, weiß gehöht, 196 × 261 mm, Wien, Graphische Sammlung Albertina, Inv. Nr. 174, die das Blatt im noch unbeschnittenen Zustand wiedergibt, allerdings auch Pentimenti, vor allem bei Isaak, übernimmt. Die Figur des Gottvaters verheimlicht nicht das Vorbild aus Michelangelos Sixtinischer Kapelle, Vgl. Höper 2001, Kat. Nr. I.5. Eine weitere anonyme Version in Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nr. 4069, Cordellier / Py 1992, S. 412, Nr. 662 Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, Nr. 444, Lesende Madonna mit Kind, Silberstift. und Weißhöhung auf braun grundiertem Papier, 190 × 140 mm, Chatsworth, Devonshire Collection, Trustees of the Chatsworth Settlement, Inv. Nr. 728; Nr. 459, Madonna mit dem Fisch, Pinsel und Weißhöhung über schwarzer Kreidevorzeichnung, 258 × 213 mm, London, Privatsammlung und Oberhuber / Gnann 1999, Kat. Nr. 88, Erzengel Michael, Feder in Braun mit Weißhöhung, 280 × 197 mm, Oslo Nasjonalgalleriet, Inv. Nr. 15281. Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, Nr. 524, Blendung des Elymas, Feder in Braun, braun laviert, Metallstift und Weißhöhung auf grau grundiertem Papier, 270 × 355 mm, Windsor Castle, Royal Library, Inv. Nr. 12 750.
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wesentliche Rolle, denn bei der Übersetzung von Zeichnungen blieb ein größerer Spielraum zur eigenen Interpretation erhalten, als es bei der Übertragung von Gemälden der Fall gewesen wäre. Es war Raimondis Ziel, die Zeichnungen Raffaels eigenschöpferisch zu vollenden. Er ging an die Quelle der Bilderfindung zurück, um von diesem grafischen Ausgangspunkt in eigener Methode wieder zum vollständig ausformulierten Erscheinungsbild des Kupferstichs zu gelangen.23 Nur sehr wenige Zeichnungen wurden von Raffael allein zum Zweck der Übertragung in den Kupferstich geschaffen. Für die meisten seiner in den Kupferstich übersetzten Skizzen und schnellen Entwürfe lässt sich sagen, dass sie andere Werke, wie Gemälde, Fresken oder Teppiche vorbereiten und die Übertragung in den Kupferstich lediglich ein Nebenprodukt bildet. Dies gilt auch für die Mehrzahl der genannten modellhaften Zeichnungen. Während Landau und Parshall davon ausgehen, dass die Modelle für die Pietà und das Abendmahl von Raffael mit der Intention eines Stichs gefertigt wurden, sind Broun und Shoemaker der Auffassung, es handele sich hierbei um Studien zu Gemälden oder Fresken, die entweder nie ausgeführt wurden oder sich nicht erhalten haben.24 Das Blatt Alexander der Große rettet das Manuskript der Ilias bereitet ein in Grisaille ausgeführtes Fresko vor, das sich unterhalb des Parnass in der Stanza della Segnatura befindet. Bei dem Modell Raffaels handelt es sich daher um eine Zeichnung, die vorbereitend für ein Fresko angefertigt wurde und zusätzlich von Raimondi in einen Stich übertragen wurde.25 Die Zeichnung Madonna mit Kind in den Wolken, welche von Raimondi gestochen wurde, bereitet in erster Linie das Gemälde Madonna di Foligno vor.26 Auch das Modell für die Madonna mit dem Fisch diente vornehmlich zur Vorbereitung des entsprechenden Gemäldes.27 Das Modell für die Blendung des Elymas wurde als Vorlage für einen der Teppiche zur Ausschmückung der Sixtinischen Kapelle geschaffen.28 Auch hier ist der Kupferstich parallel zu einem anderen Werk entstanden, das auf dem gleichen Modell beruht. Für das Urteil des Paris (Abb. 4, Bartsch XIV.197.245) haben sich zwar keine Vorzeichnungen Raffaels erhalten, doch lässt sich anhand der außergewöhnlichen Qualität des Stichs, was sowohl den komplexen Bildaufbau, als auch die ausgefeilte Technik anbelangt, schließen, dass es sich um eine besondere Form der Zusammenarbeit zwischen 23 24 25
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Rebel 1981, S. 12. Broun / Shoemaker 1981, S. 9. und Landau / Parshall 1994, S. 123 und S. 131. Das Blatt stellt eine Episode aus Plutarchs Epos über Alexander, den Großen dar. An der in der Stanza della Segnatura gegenüberliegenden Wand wird Augustus gezeigt, der die Zerstörung der Aeneis verhindert. Es wird daher jeweils die Rettung der wichtigsten griechischen und lateinischen Epen dargestellt. Raffael, Madonna di Foligno, Öltempera auf Leinwand, 308 × 198 cm, 1511–1512, Rom (Vatikan), Pinacoteca; Inv. Nr. 40329. Raffael, Madonna mit dem Fisch, Öl auf Leinwand, 215 × 158 cm, 1513 – 1514, Madrid, Museo del Prado, Inv. Nr. P00297. Vgl. den erhaltenen Karton im Londoner Victoria & Albert Museum: Raffael, Die Bekehrung des Prokonsuls, http://www.vam.ac.uk/collections/paintings/features/raphael/cartoons/ index.html.
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4 Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Das Urteil des Paris, Kupferstich, 295 × 438 mm
Künstler und Stecher handelt.29 Außerdem weist Vasari darauf hin, dass Raffael eine Vorzeichnung zu diesem Stich angefertigt habe.30 Vergleicht man die gesamte Menge der heute erhaltenen, sicher zugeschriebenen Zeichnungen Raffaels, die in ein Ver-
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Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Das Urteil des Paris, Kupferstich, 295 ×438 mm, Bartsch XIV.197.245, British Museum, London, Inv. Nr. H,2.24. Nicht zuletzt nennt der Stich Raffael als Inventor. Fischel 1962, S. 231, bringt die Zeichnung Weiblicher Akt in der Haltung der Venus pudica, Silberstift und Weißhöhung auf blassbraun grundiertem Papier, 189 × 75 mm, Budapest, Szépmüvészeti Múzeum, Inv. Nr. 1934, Knab / Mitsch / Oberhuber Nr. 545, in einen Zusammenhang mit dem Stich Das Urteil des Paris. Vgl. eine weitere anonyme Kopie nach Raffael, Paris, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inv. Nr. 4300 verso, vgl. Cordellier / Py 1992, Nr. 219. Raimondi raute die Oberfläche der Kupferplatte zunächst vollständig mit dem Wiegemesser auf, um anschließend die hellen Flächen durch das erneute Glätten der Oberfläche herauszuarbeiten. Diese später als Mezzotintoverfahren bekannte Technik sollte Ende des 17. und im 18. Jahrhundert vor allem in England Furore machen. Weiterhin haben sich Kopien nach Raffael erhalten, die möglicherweise auf das Modell für den Stich hinweisen: Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nr. 4300 verso, Schule Raffaels, Feder (recto sind Personifikationen des Glaubens und der Barmherzigkeit dargestellt.) Im Louvre befindet sich auch eine spiegelverkehrte, gezeichnete Kopie nach Raimondis Stich, Inv. Nr. 4191 recto. Eine weitere Kopie nach einzelnen weiblichen Figuren des Stichs befindet sich in Wien, Graphische Sammlung Albertina, vgl. Erika Tietze-Conrat, „A sheet of Raphael drawings for the Judgement of Paris“, in: Art Bulletin, 135, 1953, S. 300–302. Zu möglichen antiken Bildwerken als Vorbilder für diese Komposition siehe: Thode 1881, S. 24–25. Vasari 1910, Bd. IV, S. 557, vgl. Vasari 1973, Bd. V, S. 411. Siehe auch: Oberhuber / Gnann 1999, Kat. Nr. 33.
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hältnis zu den Stichen Raimondis gebracht werden können, mit der Anzahl von etwa 140 Hinweisen Adam von Bartschs, die Stiche Raimondis seien nach einer unbekannten Zeichnung Raffaels entstanden, so ergibt sich ein frappierendes Missverhältnis.31 Sollen tatsächlich so viele Zeichnungen Raffaels verloren sein? Oder will Bartsch es Raimondi nicht zugestehen, auch nach eigenen Entwürfen gearbeitet zu haben? Ein möglicher Grund dafür, dass sich so wenige Zeichnungen Raffaels mit einem engen Bezug zu den Stichen Raimondis und seiner Schüler erhalten haben, könnte darin liegen, dass diese Zeichnungen im Zuge eines Übertragungsverfahrens auf die Kupferplatte zerstört worden sind. Um dies zu klären, sollen im Folgenden noch einmal einige der erhaltenen, modellhaften Zeichnungen Raffaels dahingehend untersucht werden, ob sie Spuren einer technischen Übertragung aufweisen. Eine gebräuchliche Übertragungstechnik war das Nachfahren von Konturen mithilfe eines Griffels oder Metallstifts, wobei die farbig präparierte Rückseite des Blattes einen Abdruck auf einem anderen Bildträger hinterließ. Bei diesem Verfahren wurde die originale Zeichnung nicht zerstört.32 Cennino Cennini (1360–1440) beschreibt in seinem Libro dell’arte verschiedene Techniken, transparentes Papier für Übertragungszwecke, sogenannte carta lucida, herzustellen, was ebenfalls den Erhalt der gezeichneten Vorlage sicherte.33 Eine andere, weit verbreitete Technik, die allerdings erhebliche Risiken für die Modellzeichnung bedeutete, war die Methode des spolvero. Dabei wurden die Konturen der Vorlage mit kleinen Nadelstichen perforiert. Von der Rückseite her bearbeitete man die Zeichnung anschließend mit einem kleinen Säckchen, das mit Kohlenstaub oder Kreide gefüllt war. Dieses Material rieselte durch die Perforierung und hinterließ in spiegelverkehrter Richtung die Umrisse des Motivs auf dem neuen Bildträger. Das Verfahren wurde vor allem für die Übertragung von Kartons auf nassen Putz zur Vorbereitung von Freskenmalerei genutzt, war aber auch gut dafür geeignet, Zeichnungen auf Kupferplatten zu übertragen, da, wie gesagt, das Motiv auf diese Weise spiegelverkehrt auf der Platte wiederholt wurde und anschließend seitenrichtig gedruckt werden konnte.34 Zwei Zeichnungen aus Chatsworth, die Teile des Stichs Quos Ego vorbereiten (Abb. 5, Bartsch XIV.264.352), sind in einem kritischen Erhaltungszustand, denn die 31
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Oberhuber 1978, gezählt wurden sämtliche Hinweise auf eine Vorlage Raffaels für Stiche von Marcantonio Raimondi, Marco Dente und Agostino Veneziano. Nicht eingerechnet wurden solche Hinweise, die mit einem Fragezeichen versehen sind oder Raffael neben anderen möglichen Künstlern für eine Vorlage heranziehen. Um auf diese Weise eine Zeichnung auf eine Kupferplatte zu übertragen, wurde die Platte mit einer sehr dünnen Wachsschicht versehen, in die man die Vorzeichnung ritzte. Zu diesem Zweck färbte man die zu übertragende Vorzeichnung auf der Rückseite mit Kohle, Rötel oder Kreide ein. Anschließend wurden die Konturen der Zeichnung mit einem Metallgriffel nachgezogen, so dass sich die Spuren in die Wachsschicht durchdrückten. Cennini 2001, Kap. 23, S. 24, In che modo puoi ritrarre la sustanza d’una buona figura o disegno con carta lucida. Die Technik des spolvero war im 15. und 16. Jahrhundert ein weit verbreitetes Übertragungsverfahren, vgl. Bambach 1999, S. 1–32.
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5 Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Quos Ego, Kupferstich, 432 × 337 mm
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6 Raffael (zugeschrieben), Dido führt Aeneas zum Bankett (recto), Feder und schwarze Kreide, Konturen durchstochen, 77 × 75 mm
Konturen einzelner Figuren sind perforiert (Abb. 6, 7 und 8).35 Die Zeichnungen sind seitengleich mit dem Kupferstich und entsprechen in ihren Maßen den jeweiligen Bildfeldern aufs Genaueste. Bei der Zeichnung Dido führt Aeneas zum Bankett wurden nur die Konturen der beiden äußeren weiblichen Figuren perforiert. Auf der Rückseite der Zeichnung sind die Umrisse des Aeneas sowie Teile der weiblichen Figuren nachgezeichnet. Auch wenn es außer Zweifel steht, dass Raffael die Komposition des Stichs Quos Ego im Wesentlichen vorbereitete, ist es wahrscheinlich, dass nicht Raffael, sondern Raimondi der Autor der beiden Zeichnungen aus Chatsworth war und diese unmittelbar im Prozess des Transfers der Motive auf die Kupferplatte verwen-
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Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, Nrn. 535, 536, 538. Raffael (?), Dido führt Aeneas zum Bankett, Feder und schwarze Kreide, Konturen durchstochen, 77 × 75 mm, Chatsworth, Devonshire Collection, Trustees of the Chatsworth Settlement, Inv. Nr. 727a und b (recto und verso eines Blattes) sowie Illioneus und die Trojaner vor Dido, Feder und Kreide, Konturen durchstochen, 78 × 74 mm, Chatsworth, Devonshire Collection, Trustees of the Chatsworth Settlement, Inv. Nr. 727 c. Vgl. Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Quos Ego – Neptun bändigt den Sturm, den Aeolus gegen Aeneas Flotte geschickt hat, Kupferstich, 419 × 320 mm, Bartsch XIV.264.352, Hamburger Kunsthalle, Inv. Nr. 296.
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7 Raffael (zugeschrieben), Dido führt Aeneas zum Bankett (verso)
8 Raffael (zugeschrieben), Illioneus und die Trojaner vor Dido, Feder und Kreide, Konturen durchstochen, 78 × 74 mm
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dete.36 Für die Zeichnung Illioneus und die Trojaner vor Dido weisen John Arthur Gere und Nicholas Turner eine Zuschreibung an Raimondi zurück, denn sie zeige ein höheres Maß an Lebendigkeit und zeichnerischer Intelligenz als die entsprechende gestochene Szene.37 Vergleicht man jedoch die Zeichnungen aus Chatsworth mit anderen Federzeichnungen Raffaels, deren Vorbilder antike Reliefs oder Skulpturen sind, wird deutlich, dass Raffael die Modellierung von Hell und Dunkel in der Regel durch Parallelschraffuren oder Pinsellavierungen gestaltet hat – nicht aber durch eng gesetzte Kreuzschraffuren wie im vorliegenden Beispiel.38 Solche Kreuzschraffuren entsprechen vielmehr der Liniensprache eines Kupferstechers wie Raimondi. Erhärtet wird diese These durch den Umstand, dass es eine weitere Zeichnung aus der Albertina gibt, die die Szene auf dem Stich Quos Ego oben links zeigt, in welcher Juno Aeolus, dem Gott des Windes, befiehlt, die Flotte der Trojaner zu zerstören (Abb. 9).39 Diese Zeichnung weist eine hohe stilistische Nähe zu den Blättern aus Chatsworth auf und wird von Veronika Birke und Janine Kertész Raimondi selbst zugeschrieben, denn die äußerst feine Strichführung der Feder und die detaillierten Schraffuren sind anderen von Oberhuber an Raimondi zugeschriebenen Zeichnungen sehr ähnlich.40 36
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Die Zuschreibung an Raffael des Blattes 536 und verso 535 ist bei Knab / Mitsch / Oberhuber mit einem Fragezeichen versehen. Vgl. Nees 1978, Nees schlägt G. F. Penni als möglichen Autor der Zeichnungen vor. Gere / Turner 1983, Kat. Nr. 124 und 125, S. 150–152. Ebenda, S. 151: „The authorship of nos. 124 and 125 is something of a puzzle. No. 124 verso is so badly defaced that no conclusion is possible, but comparison of no. 125 with the engraving reveals a much greater degree of liveliness and intelligence in the draughtsman than in the engraver. The theoretical possibility of an attribution to Marcantonio can therefore be ruled out.“ Vgl. Oberhuber 1974, Kat. Nr. 17, S. 31–35. Als Vergleichsbeispiele für Zeichnungen Raffaels, die sich auf antike Vorbilder beziehen und das Schattenspiel in den Draperien mittels Parallelschraffuren andeuten, seien hier genannt: Lucrezia, Feder in Braun über schwarzer Kohle, 470 × 291 mm, 1508–1510, New York, Metropolitan Museum, Inv. Nr. 1997.153 oder Alexander rettet die Schriften des Homer, Rötel, 243 × 413 mm, Oxford, Ashmolean Museum, Inv. Nr. WA 1935.152. Ein Beispiel für die Verwendung von Lavierungen ist die Zeichnung Frau am Fenster, Studien für das Gewölbe der Stanz di Eliodoro und architektonische Skizzen für St. Peter, Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Inv. Nr. 1973 F. Die Liniensprache Raffaels in der Wiedergabe antiker Vorbilder untersucht an diesem Beispiel Marzia Faietti, siehe: Faietti 2012. Marcantonio Raimondi, Juno auf ihrem Wagen, der von zwei Pfauen gezogen wird, befiehlt Aeolus, dem Gott des Windes, die Flotte der Trojaner zu zerstören, Feder in brauner Tusche, 90 × 125 mm, Albertina, Wien, Inv. Nr. 13263, siehe auch: Birke / Kertész 1992, Bd. IIII, S. 1818. Zu den weiteren Raimondi zugeschriebenen Zeichnungen gehören: Leda mit dem Schwan, London, British Museum, Inv. Nr. 1946,0713.210, Feder in Braun über schwarzer Kreide, 121 × 155 mm; Junger Gefangener, Oxford, Ashmolean Museum, Inv. Nr. WA1945.102, Feder in Braun, 188 × 108 mm, an den oberen Ecken beschnitten; Stehender männlicher Akt, New York, Metropolitan Museum, Inv. Nr. 2001.452, Feder in brauner Tinte, 178 × 92 mm, an den Ecken beschnitten, Geschenk Katrin Henkel, 2001; Studie nach einer antiken weiblichen Statue, New York, Metropolitan Museum, Inv. Nr. 2003.110, Feder in brauner Tinte, 216 × 108 mm, Papier zum Oktogon geschnitten, bezeichnet in Feder in brauner Tinte, „Baldasar di Siena / 3.3“, Harry G. Sperling Fund, 2003; Stehende Frau mit Kadukäus, Frankfurt am Main, Städel Museum, Inv. Nr. 6970 (Das Städel Museum führt diese Zeichnung noch unter Mantegna,
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9 Marcantonio Raimondi, Juno auf ihrem Wagen, der von zwei Pfauen gezogen wird, befiehlt Aeolus, dem Gott des Windes, die Flotte der Trojaner zu zerstören, Feder in brauner Tusche, 90 × 125 mm
Demzufolge hätte Raimondi im Falle der Zeichnungen aus Chatsworth nicht eine originale Ideenskizze Raffaels als unmittelbare Vorlage für den Kupferstich genutzt, sondern eigene Zeichnungen für die Übertragung auf die Kupferplatte angefertigt.41
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die Zuschreibung an Raimondi nahm Konrad Oberhuber vor.), Feder in Braun, 110 × 91 mm, verso Studie nach den Beinen von Adam nach dem entsprechenden Kupferstich Albrecht Dürers. Vgl. Marcantonio Raimondi, Studie nach Dürers Adam, Feder in brauner Tinte, 1505–1509, 195 × 109 mm, Schenkung Frank Jewett Mather Jr., The Art Museum, Princeton University, Inv. Nr. 45–47; Männlicher Akt, nach links blickend, verso: Studie von zwei Beinen, New York, Pierpont Morgan Library, Inv. Nr. I, 93c, Feder in Braun, 151 × 69 mm; Junger Mann, an einen Baum gefesselt, verso: versch. Skizzen, New York, Pierpont Morgan Library, Inv. Nr. I, 93b, Feder in Braun, 165 × 92 mm; Mann auf einem Pferd mit Federhut, New York, Pierpont Morgan Library, Inv. Nr. 1992.150, Feder in Braun, 187 × 91 mm; Tanzendes Mädchen in Rückenansicht, verso: Skizze eines unteren Teils einer Gewandstudie, New York, Pierpont Morgan Library, Inv. Nr. I, 42, Feder in Braun, 130 × 73 mm; Schlafender Putto, an einem Stein lehnend, New York, Pierpont Morgan Library, Inv. Nr. 1992.149, Feder in Braun, 73 × 81 mm sowie Kauernde Venus, Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nr. 10401, Cordellier / Py 1992, S. 166, Nr. 224, hierbei handelt es sich um eine Vorstudie des Stichs Bartsch XIV.235.313, Feder in Braun, 211 × 159 mm. Umfassend wird das Thema der Zuschreibung von Zeichnungen an Marcantonio Raimondi von Konrad Oberhuber behandelt, in: Faietti / Oberhuber 1988, S. 51–88. Gramaccini / Meier 2003, S. 23: „Raffaels Anteil beschränkte sich darauf, den Stechern eine eigenhändige Zeichnung als Grundlage zu geben. Das eigentliche modello, das entscheidend
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Die Zeichnung aus der Albertina hingegen scheint, ein früheres Entwurfsstadium als die Blätter aus Chatsworth zu markieren, da sie vor allem in der Haltung des Aeolus motivische Unterschiede zum Stich aufweist. Zudem ist sie zum Stich seitenverkehrt, kann also nicht unmittelbar für eine Übertragung auf die Kupferplatte mittels des spolvero Verfahrens angefertigt worden sein. War Raimondi bei diesem Bildkompartiment womöglich der Erfinder der Stichvorlage – geübt darin, Motive seitenverkehrt zum Stich zu entwerfen? Auch auf der Studie Raffaels zum Bethlehemitischen Kindermord im British Museum wurden die Konturen einzelner Figuren durchstochen, und zwar nur von jenen, die auch auf dem Stich vorkommen (Abb. 10).42 Weitere Figuren, wie eine fliehende Frau rechts mit einem Kind auf dem Arm und der sie verfolgende Henker, wurden nicht übernommen und sind daher auch nicht mit der Nadel perforiert. Diese Zeichnung Raffaels bereitet nur Teile des Stichs vor. Die Einbindung in einen architektonischen Rahmen und eine Vielzahl weiterer Figuren fehlen hier. Die Konturen wurden also nicht durchstochen, um sie direkt auf die Kupferplatte zu übertragen, vielmehr wurden die Figuren auf ein anderes Studienblatt transferiert, das den Stich in weiteren Details vorbereitet.43 Es wurde angenommen, die Skizze Raffaels aus Windsor sei das Blatt, das unmittelbar auf die Studie aus dem British Museum folgt, da diese Zeichnung durch Punktierung erzeugte Markierungen in Kohle aufweist (Abb. 11).44 Lisa Pon konnte jedoch zeigen, dass sich die Konturen der Windsor Studie nicht mit jenen der Studie aus dem British Museum decken.45 Daher muss es mindestens eine andere Zeichnung gegeben haben, die einen weiteren Schritt in der Entwicklung der Bildidee markiert. Die Zeichnung in Budapest, die außer den zwei am Boden liegenden toten Säuglingen sämtliche Figuren des Stichs vorbereitet, architektonische Details jedoch noch nicht enthält – außer dem Hinweis auf eine Brüstung im Hintergrund – ist in ihrer Zuschreibung an Raffael ebenfalls umstritten (Abb. 12).46 Diese Zeichnung entspricht in ihren Konturen sehr genau der Variante des Stichs mit der Tanne am rech-
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für den Druck war, zeichnete anschließend Marcantonio.“ Gramaccini schildert diese Vorgehensweise als einen allgemein geltenden Grundsatz für die Arbeitsaufteilung zwischen Raffael und Raimondi. Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, Nr. 340, Raffael, Der Bethlehemitische Kindermord, Feder, Gruppe im rechten Hintergrund in Rötel, Konturen durchstochen, 231 × 374 mm, London, British Museum, Inv. 1860,0414.446. Pon 2004, S. 118–136. Hier diskutiert die Autorin ebenfalls die Frage, welche der beiden Raimondi zugeschriebenen Varianten des Stichs – Bartsch 18 und 20 – die frühere Version sei. Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, Nr. 341, Raffael, Der Bethlehemitische Kindermord, Kreide über Vorgriffelung, 248 × 411 mm, Windsor Castle, Royal Collection, Inv. Nr. 12737. Pon 2004, S. 118–136. Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, Nr. 345, Raffael ? (auch hier ist die Zuschreibung an Raffael im Werkverzeichnis mit einem Fragezeichen versehen), Der Bethlehemitische Kindermord, Feder in Braun, 265 × 402 mm, Budapest, Szépmüvészeti Múzeum, Inv. Nr. 2195, siehe auch: http://www2.raphael.printsanddrawings.hu/?page_id=1710; Vgl. Bambach 1999, S. 310. Laut Carmen C. Bambach weist die Budapester Studie ebenfalls durch Punktierung erzeugte
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10 Raffael, Der Bethlehemitische Kindermord, Feder, Gruppe im rechten Hintergrund in Rötel, Konturen durchstochen, 231 × 374 mm (Farbtafel II)
11 Raffael, Der Bethlehemitische Kindermord, Kreide über Vorgriffelung, 248 × 411 mm
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ten Bildrand (Bartsch XIV.19.18). Diesen Stich wiederholte Raimondi in einer zweiten Fassung ohne Tanne (Abb. 13, Bartsch XIV.21.20).47 Lorand Zentai und mit ihm Lisa Pon ziehen eine Zuschreibung dieser Zeichnung an Raimondi in Betracht.48 Wenn man Raimondi zutraut, die Zeichnung auf der Kupferplatte zu reißen, warum sollte er nicht in der Lage gewesen sein, eine genaue Vorzeichnung für die Kupferplatte zu schaffen, auf der Grundlage der Ideen Raffaels?49 Raimondi mag vielleicht nicht die Gabe gehabt haben, ein so komplexes Bildprogramm eigenständig zu entwickeln, doch sollte man ihm nicht gleichzeitig jegliche Fähigkeit zur guten Zeichnung absprechen.50 Bereits 1504 wurde er aufgrund seines Zeichentalents in einem Lobgedicht mit Markierungen auf, die eine Grundlage für die Ausarbeitung dieses Modells gebildet haben könnten. 47 Marcantonio Raimondi, Der Bethlehemitische Kindermord, Kupferstich, 276 × 425 mm, Bartsch XIV.21.20, Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Inv. Nr. A 89030. Warum Raimondi dasselbe Motiv zweimal gestochen hat, bleibt rätselhaft. Eine These besagt, er habe nach Raffaels Tod keinen Zugang mehr zu den Kupferplatten gehabt und sei daher von den Einnahmen ausgeschlossen gewesen. Um dennoch etwas zu verdienen, stach er das beliebteste Motiv einfach neu. 48 Zentai 1991, Vgl. Pon 2004, S. 130. Die Budapester Zeichnung ist leider stark berieben. Sie entspricht in den Binnenstrukturen genauestens den Maßen der ersten gestochenen Fassung. Zentai argumentiert vor allem auf der Grundlage eines stilistischen Vergleichs zwischen den anderen Vorzeichnungen Raffaels für den Bethlehemitischen Kindermord aus London und Windsor und der Budapester Zeichnung. Während es für Raffaels Zeichnungen typisch ist, einen perfekten Ausgleich zwischen leichten Konturen und plastischen Binnenzeichnungen herzustellen, ist es für Raimondi als Grafiker eher typisch, die Konturen stark zu betonen, während die Schraffuren in den Binnenzeichnungen nicht immer einen überzeugenden Eindruck von Plastizität schaffen. Diesen Charakter weist auch die Budapester Zeichnung auf. Vgl. Zentai 1991, S. 41: „Certaines particularités du dessin de Budapest qui peuvent à juste titre être considérées comme médiocres si l’on part des critères de l’art de Raphaël peuvent s’expliquer si l’on y voit la manière graphique de Raimondi.“ Gegen eine Zuschreibung der Budapester Zeichnung an Raimondi sprechen sich Landau und Parshall aus, denn die Art der Schraffuren auf der Zeichnung weicht deutlich von der Schraffiertechnik des Stichs ab, siehe: Landau / Parshall 1994, S. 130. Die Tatsache, dass die Budapester Zeichnung seitengleich mit der Platte ist, spricht nicht gegen die These, sie sei das von Raimondi gefertigte modello, denn die meisten Zeichnungen, die wir heute in eine Verbindung mit den Stichen bringen können, seien sie von Raffael oder Raimondi, sind seitengleich zu den Stichen. Auf welche Weise sie technisch auf die Platte übertragen wurden, kann nicht mit Gewißheit festgestellt werden. Dafür, dass es sich hier nicht um eine Kopie nach dem Stich, sondern um ein genaues modello handelt, spricht die Tatsache, dass die Architektur im Hintergrund fehlt. Alle anderen gezeichneten Kopien nach dem Stich folgen diesem in allen Details. 49 Gramaccini / Meier 2009, S. 56–57. Die Autoren nennen eine weitere Zeichnung, die Raimondi vermutlich als Werkkopie nach einer verlorenen Zeichnung Raffaels anfertigte, um sie anschließend in den Stich Kniende Venus und Amor (Bartsch XIV.235.313) zu übertragen: Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nr. 10401, Feder in braun, 210 × 160 mm. Auch die von Wood genannte Zeichnung eines Fahnenträgers aus dem Musée des Beaux-Arts in Rennes könnte von Raimondi stammen, siehe: Wood 2010, Kat. Nr. 40, Abb. Nr. 102, Raffael zugeschrieben, Inv. Nr. 794.1.3007, Feder in braun, 215 × 136 mm. Diese Zeichnung ist sehr wahrscheinlich das Modell für den berühmten Stich, Bartsch XIV.357.481. Passavant 1860–1864, Bd. I, S. 249, „Mais la vraie différence entr´eux [les élèves] et le maître 50 se trouve en ce que celui-ci [Marcantonio Raimondi] était un excellent dessinateur et un véritable artiste dans toute la force du mot, tandis que ses élèves, ne copiant que d’après les
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12 Raffael, Der Bethlehemitische Kindermord, Feder in Braun, 265 × 402 mm
13 Marcantonio Raimondi, Der Bethlehemitische Kindermord, Kupferstich, 276 × 425 mm
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den Worten „col dissegno e bollin molto e’ profondo“ geehrt.51 Vasari besaß Zeichnungen Raimondis: „in unserm Buch sind von seiner [Raimondis] Hand einige Federzeichnungen von Engeln und andere sehr schöne Blätter, kopiert aus den Zimmern, die Raffael von Urbino gemalt hat.“52 Kein weiteres Beispiel einer modellhaften Zeichnung Raffaels mit deutlichen Bearbeitungsspuren, wie durchstochenen Konturen, ist heute bekannt. Die genannten Befunde deuten darauf hin, dass die Stecher um Raffael Verfahren ausgewählt haben, die die zugrunde liegende Zeichnung Raffaels nicht zerstörten, vor allem weil die Entwürfe des Meisters in vielen Fällen mehreren Bildzwecken zugeführt wurden. Auch kam es vor, dass dieselbe Zeichnung von mehreren Stechern auf verschiedene Platten übertragen wurde. So ist es wahrscheinlicher, dass die Stecher um Raffael auf der Grundlage seiner Entwürfe eigene Vorzeichnungen anfertigten. Die Werkstattpraxis der Übertragung der Zeichnungen auf die Druckplatten kann daher insgesamt nicht als Begründung dafür ausreichen, dass sich nur so wenige Zeichnungen Raffaels erhalten haben, die in einen Zusammenhang mit Raimondis Stichen gestellt werden können. Weitere Hinweise Adam von Bartschs auf Vorzeichnungen Raffaels lassen sich möglicherweise erklären, wenn man Arbeiten aus der Werkstatt Raffaels mit einbezieht, die Raimondi und seinem Umkreis als Vorlage dienten, auch wenn sie nicht vom Meister selbst ausgeführt wurden. Die Zuschreibung einiger Zeichnungen an Raffael selbst oder an seine Schüler ist auch heute noch Gegenstand fortwährender kunsthistorischer Debatten. Zieht man diese aktuellen Zuschreibungen in Betracht, so ergibt sich, dass Raimondi nicht nur nach Zeichnungen Raffaels arbeitete, sondern vor allem auch nach Zeichnungen Giovanni Francesco Pennis (um 1496/97–1528). Nach Raffaels Tod übertrug er auch Zeichnungen Giulio Romanos (eigentlich Giulio Pippi, um 1499–1546) in Kupferstiche. Darüber hinaus ist es sinnvoll, davon auszugehen, dass es weitere vorbereitende Zeichnungen aus der Hand Raffaels oder seiner Schüler gegeben hat, wenn Gemälde oder Fresken Raffaels bekannt sind, die in einem inhaltlichen Zusammenhang mit den Stichen aus dem Umkreis Raimondis stehen, auch wenn keine vermittelnden Zeichnungen erhalten sind. Außerdem sind solche Drucke als Gemeinschaftswerke
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dessins des autres, acquirent une manière servile et pas céla même tombèrent plus ou moins dans une manière mécanique de graver.“ Giovanni Francesco Achillini, Il Viridario, Bologna 1513, in: Cose notabili della città di Bologna ossia storia cronologica de’ suoi stabili pubblici e privati, hrsg. von F. Guidicini, 5 Bde, Bologna 1868–73: zitiert nach: Gramaccini / Meier 2009, S. 451, Quelle Nr. 7: „Consacro anchor Marcantonio Raimondo / che imita degli antiqui le sante orme / col dissegno e bollin molto e’ profondo / come se vedon sue vaghe e riche forme / Hamme retratto in rame come io scrivo / Ch’en dubio de noi prende, quale é vivo.“ Vasari 1910, Bd. IV, S. 587, vgl. Vasari 1973, Bd. V, S. 442. „Nel nostro Libro sono di sua mano [Raimondi] alcuni disegni di Angeli fatti di penna, ed altre carte molto belle, ritratte dalle camere che dipinse Raffaello da Urbino.“
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Raffaels mit Raimondi und seinem Umkreis zu betrachten, die Raffael als Inventor bezeichnen, auch wenn sich keine Vorzeichnungen aus seiner Hand erhalten haben.53 Zwar enthalten gerade die Stiche den Hinweis auf Raffael als Inventor, die in ihrer Qualität klar herausstechen. Dennoch ist davon auszugehen, dass es nicht in erster Linie Raffaels Ziel war, seine Erfindungen mit einer Signatur als sein geistiges Eigentum zu markieren und seinen Namen in der Welt bekannt zu machen – ein Verhalten, das in deutlichem Widerspruch zu Dürer steht, der nicht nur beinahe jeden Holzschnitt und Kupferstich signierte, sondern in den als Buch herausgegebenen Bildfolgen im Kolophon möglichen Kopisten scharf drohte.54 Auch wenn es außer Zweifel steht, dass die Stiche, die in enger Zusammenarbeit mit Raffael entstanden sind, zu den bedeutendsten Werken aus der Hand Marcantonios zählen und er wesentliche Impulse von Raffael erhielt, ist das Ausmaß der Abhängigkeit Raimondis von den Entwürfen Raffaels geringer einzuschätzen als es in der Literatur allgemein angenommen wird. Denn Raimondi hat insgesamt nur etwa 63 Stiche nach den Entwürfen Raffaels und seiner Schüler geschaffen.55 Nur eine sehr geringe Anzahl der heute bekannten und sicher zugeschriebenen Zeichnungen aus der Hand Raffaels wurden allein mit dem Zweck der Übertragung in einen Kupferstich geschaffen. Die meisten seiner Zeichnungen, die sich zu den Stichen Raimondis in Verbindung bringen lassen, sind lockere Skizzen einer prima idea, welche im Stich ausgearbeitet und in einen szenischen Zusammenhang eingegliedert wurden. Neben den Entwürfen Raffaels arbeitete Raimondi in einer Vielzahl von Stichen mit großer Wahrscheinlichkeit nach eigenen Entwürfen. Diese Stiche sind meist kleineren Formats als die Kompositionen nach Vorlagen Raffaels. Außerdem übertrug er antike Standbilder und Motive antiker Reliefs oder Medaillen in den Kupferstich.56 Zu Raimondis Vorbildern gehörten zudem eine Anzahl weiterer zeitgenössischer Künstler. In diesem Zusammenhang ist zuallererst Albrecht Dürer zu nennen, von dessen druckgrafischen Vorlagen Raimondi etwa 67 Motive im Stich nachahmte. Einzelne Motive entlehnte Raimondi den Stichen Lukas van Leydens (1494–1533). In seiner 53
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Landau / Parshall 1994, S. 142–146. Insgesamt nennen nur etwa zwölf Stiche Marcantonio Raimondis und Agostino Venezianos Raffael als Erfinder (B. XIV, Nrn. 6, 18, 20, 42, 116, 117, 208, 244, 245, 247, 349, 417 und 492). Davon sind fünf Stiche vermutlich erst nach Raffaels Tod entstanden (B. XIV, Nrn. 6, 208, 244, 349, 492) und bei drei Stichen wurde der Hinweis auf den Autor erst in späteren Abzügen hinzugefügt (B. XIV, Nrn. 18, 20, 247). Dürer versuchte, das Marienleben durch ein Privileg des Kaisers Maximilian zu schützen und verbot im Kolophon der gebundenen Ausgabe das Kopieren der Schnitte oder Verkaufen von Kopien. Doch fand seine Drohung nicht viel Gehör, er wurde innerhalb und außerhalb Deutschlands weiterhin vielfach kopiert, unter anderem von Israel van Meckenem, Giulio Campagnola, Nicoletto da Modena und Hieronymus Hopfer. Zu Raffaels Praxis des Signierens siehe auch: Pon 2004, S. 68–73. Bartsch 1802–1821, Bd. XIV, Nrn. 1, 3, 7, 9, 10, 18, 20, 23, 26, 32, 34, 37, 44, 45, 47, 48, 52, 53, 57, 60, 62, 63, 65–76, 113, 116, 117, 187, 192, 207, 209?, 217, 245, 247, 250, 297, 306, 311, 325, 342, 343, 344, 346?, 350, 352, 381, 382, 397, 417, 460, 476, 481, 484, 489. Raimondi fertigte insgesamt mehr als 200 Stiche nach eigenen Entwürfen. Vgl. Oberhuber 1984, S. 334.
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Bologneser Zeit orientierte er sich darüber hinaus an den Entwürfen seines Lehrers Francesco Raibolini, genannt Il Francia (um 1450–1517).57 Die Druckgrafik aus dem Umkreis Andrea Mantegnas (1431–1506) war für Raimondi vor allem hinsichtlich technischer und stilistischer Aspekte prägend.58 Schließlich ist es in einigen Fällen auch möglich, dass Raimondi sich an druckgrafischen Vorlagen seiner Mitstreiter orientierte, denn in der Literatur wird sich immer wieder dafür ausgesprochen, dass in vielen Fällen Ugo da Carpi (1480–1532) als erster Raffaels Entwürfe in Holzschnitte übersetzte. Auch ist nicht immer klar, ob Raimondis Werkstattmitglieder, Agostino Veneziano und Marco Dente, seine Stiche kopierten, oder ob sie nicht in einzelnen Fällen die ersten waren, die auf Raffaels Zeichnungen Zugriff hatten und anschließend von Raimondi kopiert wurden. Raimondis Arbeitsweise unterscheidet sich deutlich von der nachfolgenden Generation an Kupferstechern.59 Nach Raffaels Tod fanden Stecher, wie Giovanni Giacomo Caraglio (um 1505–1565), Giulio Bonasone (um 1500/10 – nach 1574), der Meister B mit dem Würfel (tätig 1532–1550), Nicolas Beatrizet (um 1507/ 20–1565), Enea Vico (1523–1567) oder Giorgio Ghisi (1520–1582) völlig andere Arbeitsbedingungen vor. Nun waren Raffaels Zeichnungen nicht mehr so leicht verfügbar, weshalb seine Gemälde und Fresken in Kupferstiche übersetzt wurden. Auch waren die genannten Stecher nicht mehr in der glücklichen Situation, sich mit dem Erfinder ihrer Vorlagen austauschen zu können.60 Doch löste der Tod Raffaels auch gerade erst eine große Nachfrage 57
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Faietti / Oberhuber 1988, S. 51ff. Nach Francia schuf er möglicherweise Die Taufe Christi (Bartsch XIV.28.22), Die Grablegung Christi (Bartch XIV.36.30), Johannes, der Täufer (Bartsch XIV.86.99), Der Heilige Sebastian (oder nach Mantegna? (Bartsch XIV.97.109), Die Heiligen Katharina von Alexandrien und Luzia (Bartsch XIV.108.121) oder auch Der Dornauszieher (Bartsch XIV.346.465). Zu allen diesen Stichen sind jedoch keine Vorzeichnungen Francias bekannt. Vgl. Landau / Parshall 1994, S. 117, Hind 1913, S. 251–252 sowie Gramaccini / Meier 2009, Kat. Nr. 49. Eine weitere mögliche Verwandtschaft zu Francia lassen B. XIV, Nrn. 41 und 50 erkennen. Auch der mit 1505 datierte Stich Pyramus und Thisbe (Bartsch XIV.242.322) basiert möglicherweise auf einer Erfindung Francesco Francias oder einer Aneignung seines Stiles durch Raimondi. Passavant 1860–1864, Bd. VI, S. 5: Laut Passavant schuf Raimondi den Stich Mars, Venus und Amor, datiert 16.12. 1508, nach Mantegna und den Stich Der Traum Raffaels nach einem Entwurf Giorgiones. Gramaccini / Meier 2009, S. 9–52. Gramaccini charakterisiert verschiedene Arten des Verhältnisses eines Kupferstichs zur gezeichneten Vorlage in Italien in der Zeit vom späten 15. bis in das 16. Jahrhundert hinein und unterscheidet zwischen dem monologischen Kupferstich (1450–1500: Idee und Ausführung liegen bei derselben Person), dem dialogischen Kupferstich (1500–1510: die Zeichnung und die gestochene Umsetzung obliegen unterschiedlichen Personen, die Art der Arbeitsteilung ist aber noch nicht vollständig geklärt), der Interpretationsgrafik (1510–1520: Die Arbeitsteilung zwischen Zeichner und Stecher ist klar gegliedert, wobei dem Stecher noch ein großer interpretatorischer Freiraum überlassen wird) und dem übersetzenden Kupferstich (ab 1520: Die Rollen von Zeichner, Stecher und Verleger professionalisieren sich zunehmend, man arbeitet für den freien Markt, vom Stecher wird eine möglichst linientreue Übersetzung der Vorlage erwartet). Kurita 1999, S. 19: „Defined strictly, a reproductive print would be a print in which the printmaker has had no communication whatsoever with the original designer, has reproduced faithfully in monochrome the motifs from a separate, independent work of another
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nach gestochenen Reproduktionen aus. Um seine oftmals nicht öffentlich zugänglichen Werke einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, entwickelten die Stecher schnell die technischen Voraussetzungen, um farbige Werke überzeugend in Stiche zu übersetzen. Solche Stiche wurden nicht länger als eigenständige Kunstwerke betrachtet, sondern hatten den Zweck, möglichst genau das der Reproduktion zugrunde liegende Kunstwerk wiederzugeben. Raimondi hatte im Gegensatz dazu die Möglichkeit zu einem regen Gedankenaustausch mit dem Erfinder der seinen Stichen zugrunde liegenden Bildschöpfungen. Für den überwiegenden Teil seiner Kupferstiche, die auf Zeichnungen Raffaels Bezug nehmen, gilt, dass er ein großes Maß an interpretatorischem Freiraum besaß und die nur lockeren Skizzen Raffaels zu eigenständigen Bildern ausformulierte. Daher ist der von Norberto Gramaccini geprägte Begriff der ‚Interpretationsgrafik’ eine deutlich präzisere Bezeichnung für die Kupferstiche Raimondis – im Gegensatz zu dem oft zu allgemein verwendeten Terminus der Reproduktionsgrafik.61
Das Verhältnis der Kupferstiche Raimondis zu den Zeichnungen Raffaels: Analyse einzelner Werke Im Folgenden sei an ausgewählten Beispielen das Verhältnis der Stiche Marcantonio Raimondis zu den Zeichnungen Raffaels ausführlicher erläutert. Es lassen sich sehr unterschiedliche Einzelfälle herausarbeiten, je nachdem, wie eng Raffael und Raimondi bei der Entstehung eines Kupferstichs zusammengearbeitet haben. Bei den sogenannten Modellzeichnungen entschied Raffael in detaillierter Form, wie der Stich auszusehen habe. Der kreative Eigenanteil des Stechers ist hier gering ausgeprägt. Interessanterweise sind es besonders die Blätter antiken Inhalts, die Raffael so am Herzen lagen, dass er ein komplexes Bildprogramm entwickelte und darauf achtete, dass seine Zeichnungen liniengetreu übertragen wurden. Doch wie bereits gezeigt worden ist, überwiegen die Beispiele, in denen Raimondi die Vorlage sehr frei umgeformt und sie gemäß seiner technischen Fähigkeiten und stilistischen Eigenarten in Kupferstiche übertragen hat. Um die Unterschiede zwischen den beiden Arten der Zusammenarbeit zu verdeutlichen, sei im Folgenden ein Stich nach einer Modellzeichnung einem anderen Stich gegenübergestellt, der nach einem grob skizzierten Entwurf Raffaels geschaffen wurde. Im Gabinetto Disegni e Stampe der Uffizien befindet sich eine um 1515–1516 geschaffene, in braun lavierte Federzeichnung Raffaels, die den Stich Raimondis mit dem Thema der Pest in Phrygien vorbereitet (Abb. 14 und 15, Bartsch XIV.314.417).62
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medium, be it painting or drawing, down to the details, and has attempted to reproduce faithfully the rendering of shading through his technical mastery.“ Gramaccini / Meier 2009, S. 27–37. Raffael, Die Pest in Phrygien [Il Morbetto], Feder, braun laviert, Spuren von schwarzer Kreide, weiß gehöht, 200 × 249 mm, Florenz, Uffizien, Gabinetto Disegni e Stampe, Tofani 1987, Kat.
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14 Raffael, Die Pest in Phrygien, genannt Il Morbetto, Feder, braun laviert, Spuren von schwarzer Kreide, weiß gehöht, 200 × 249 mm
Die Zeichnung ist zwar aufgrund des schlechten Erhaltungszustands schwer zu lesen, dennoch gilt ihre Zuschreibung an Raffael als die überwiegende Lehrmeinung. Eine Inschrift auf dem Stich weist Raffael zudem als den Erfinder der Szene aus, in Kürzeln ist zu lesen: INV[ENTOR] RAP[HAEL] UR[BINAS], darunter erscheint das Monogramm des Stechers MAF. Zeichnung und Stich gleichen sich in der Größe bis auf wenige Millimeter, doch verhält sich der Stich spiegelverkehrt zur Vorzeichnung, eine Seltenheit in Raimondis Werk.63 Es ist die Vermutung aufgestellt worden, Raimondi
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Nr. 525 E, Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, Nr. 452. Vgl. Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Die Pest in Phrygien, Kupferstich, 194 × 250 mm, Bartsch XIV.314. 417, KupferstichKabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Inv. Nr. A 1902-179. Eine anonyme Detailstudie nach Raimondis Stich der Pest in Phrygien befindet sich in London, Victoria & Albert Museum, Inv. Nr. Ionides 6a, PWJ 268, Feder in Tinte über Rötel und roter Tusche, 135 × 158 mm. In Oxford, Ashmolean Museum, befindet sich ein Abzug des Stichs, der nachträglich weiß gehöht wurde, um ihn wie eine Zeichnung erscheinen zu lassen. Landau / Parshall 1994, S. 128–129. Landau und Parshall haben insgesamt 32 Zeichnungen Raffaels und der Raffael Schule untersucht, die Stiche Raimondis, Dentes und Venezianos vorbereiten, und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass 25 dieser Zeichnungen seitengleich zu den entsprechenden Stichen sind. Die Praxis, der Ausrichtung der Zeichnung im Stich
Die Zusa m mena rbeit von Ra f fael u nd Ra i mond i 53
15 Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Die Pest in Phrygien, Kupferstich, 194 × 250 mm
habe die in Tusche ausgeführte Studie Raffaels spiegelverkehrt wiedergegeben, da es sich als zu schwierig erwiesen hätte, eine Tuschezeichnung, die noch dazu differenzierte Abstufungen verschiedener Lichteinflüsse darstellt, spiegelverkehrt auf die Platte zu übertragen, um sie seitenrichtig drucken zu können. Es war vermutlich die erste vollständig ausformulierte Vorzeichnung Raffaels für einen Druck Raimondis, die mit Pinsel in Tusche ausgeführt worden ist. Das Thema der Zeichnung und des Stichs entstammt dem dritten Gesang aus dem Epos Vergils der Aeneis. Raimondi fügte im Stich wörtliche Zitate aus der Textquelle ein, um keine Missverständnisse über das textliche Vorbild aufkommen zu lassen.64 In möglichst getreuer bildlicher
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zu folgen, sollte bereits eine Generation später vollkommen aufgegeben werden. Alle Stiche Caraglios, Bonasones oder des Würfelmeisters sind spiegelverkehrt zu ihren Vorlagen. Einen Hinweis auf das Thema des Stichs gibt die lateinische Inschrift im Sockel der Herme: LINQUEBANT / DULCES ANI / MAS, AUT AE / GRA TRAHE / BANT / CORP[ORA], die übersetzt lautet: „Viele mussten ihr süßes Leben lassen oder schleppten sich matt dahin.“ Es handelt sich hierbei um Vers 141 aus dem dritten Gesang von Vergils Aeneis (29–19 v. Chr.). Durch das Fenster über Aeneas erstrahlt ein Lichtschein, der ebenfalls ein verkürztes Zitat aus der Aeneis beinhaltet: EFFIGIES SACRAE DIVOM PHRIGI [QUE PENATES] – „Da erschienen die heiligen Bilder der Götter und Ilions Penaten.“ In dieser Darstellung folgen
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Umsetzung der schriftlichen Vorlage wird hier ein zeitlicher Ablauf deutlich gemacht: Der aus dem brennenden Troja geflohene Aeneas und sein Gefolge landeten in Kreta, um eine Siedlung zu gründen, da sie eine Weissagung Apolls falsch gedeutet hatten. Kaum hatten sie begonnen sich niederzulassen, wurden sie von der Pest heimgesucht. Auf der nächtlichen Seite des Stichs ist Aeneas selbst dargestellt, dem von den Hausgöttern der Phrygier geraten wird, Kreta zu verlassen. Sie weisen ihm den Weg nach Italien, wo er dem Mythos nach der Stammvater Roms werden sollte. Unter dem Schlafraum des Aeneas befinden sich in einem Stall die Kadaver von Schafen und ein noch lebender Ochse, erhellt vom Schein einer Fackel. Der einfallsreichste Teil der Bilderzählung ist die Szene mit der der Pest erlegenen Mutter, an deren Brust ihr Kind vergebens zu trinken versucht. Ein junger Mann beugt sich über die Frau, um das Kind am Trinken zu hindern und so vor der Ansteckung zu bewahren. Vor dem Gestank der Pesttoten und einer möglichen Infektion schützt er sich durch das Zuhalten seiner Nase. Eine Frau hinter ihm legt ihre Hand auf seine Schulter, um ihn daran zu hindern, der Toten zu nahe zu kommen. Eine trauernde Frau hat sich neben dieser Szene am Sockel einer Herme niedergelassen. Hinter ihr wendet sich ein Mann mit abwehrender Gebärde vom Geschehen ab.65 Das Besondere an Raffaels bildlicher Interpretation des Themas ist die Art, in der aufeinander folgende Begebenheiten, die sich einmal am Tage und das andere Mal in der Nacht ereignen, in einem Bild vereint werden. Raimondi gelingt es, in überzeugender Weise die Wirkung verschiedener Lichtquellen, wie Mondlicht, den Schein der Fackel und Tageslicht darzustellen und dennoch die Einheit des Bildes nicht zu gefährden. Die Pest in Phrygien ist neben dem rätselhaften Stich Raphaels Traum (Bartsch XIV.274.359) die einzige Nachtszene, die Raimondi je gestochen hat. So fand dieser Stich stets besondere Aufmerksamkeit aufgrund seiner reichen Tonalität und der beinahe malerischen Effekte in der Wiedergabe der Wirkung unterschiedlicher Lichtquellen.66 In der Forschung wird diskutiert, ob die in Florenz aufbewahrte Zeichnung Raffaels bereits mit der Intention angefer-
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Raffael und Raimondi eng der literarischen Quelle, denn dort ist vom Schein des Vollmonds die Rede, der durch ein Fenster sein Licht erstrahlen lässt. Ein Abzug des Stichs avant la lettre befindet sich im British Museum, wo ebenfalls eine spiegelverkehrte Kopie aufbewahrt wird. Vgl. Emison 1985, S. 166–169, Emison stellt die Vermutung auf, die Idee zu dieser ungewöhnlichen Bildszene habe Raffael gemeinsam mit seinem Freund Baldassare Castiglione entwickelt, der in Anlehnung an den Wortlaut Vergils das lateinische Gedicht Prosopopeia Ludovichi Pichi Mirandoli verfasst hat, das ebenfalls mit den Worten „Nox erat“ beginnt. Die Chronologie der Szene lässt sich in der Zeichnung Raffaels besser erfassen, wenn man einer Leseweise des Bildes von links nach rechts folgt. Denn erst nachdem die Phrygier von der Pest heimgesucht worden sind, erhält Aeneas den Rat von den Penaten, Kreta zu verlassen, um sein Gefolge zu schützen und anderswo eine Bleibe zu finden. Die Herme deutet Matthias Winner als Darstellung des antiken Gottes Terminus: „Raffaels Terminus bezeichnet hier die Grenze zwischen einer Nachtszene aus Vergils Aeneis und dem Tagesgeschehen rechts. Auf beiden Blatthälften aber geht es um den Tod als Terminus des körperlichen Lebens von Mensch und Tier.“ Siehe: Winner 2009, S. 85. Der Zeichnung Raffaels, welche den Stich im Detail vorbereitet, geht eine weitere Studie voraus, in welcher die räumliche Verortung der Szene bereits angelegt ist. Es handelt sich
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tigt worden sei, Raimondis technisches Können hervorzuheben.67 Die Zeichnung Raffaels weist einen engen Zusammenhang zum Fresko Die Befreiung des Petrus in der Stanza di Eliodoro auf, was sowohl die Komposition der Szene als auch das abwechslungsreiche Spiel mit der Wirkung unterschiedlicher Lichtquellen betrifft und kann daher in den Zeitraum um 1512–1513 datiert werden. Der Stich wird aufgrund einer angenommenen stilistischen und technischen Entwicklung Raimondis um 1515 – 1516 datiert. So ergibt sich zwar eine Zeitspanne von etwa drei Jahren, die zwischen beiden Werken liegt, doch ist es sehr wahrscheinlich, dass Raffael die komplexe Komposition bereits mit der Absicht der Umsetzung in einen Kupferstich schuf.68 Die besondere Leistung Raimondis besteht darin, dass er es vollbrachte, die sanften Lasuren der Tuschezeichnung in ein Bild zu übersetzen, das allein aus Schraffuren des Grabstichels aufgebaut werden kann – noch dazu in einem großen Spektrum von sehr dunklen und hellen Partien. Er arbeitete zu diesem Zweck vor allem mit Parallelschraffuren, bei denen der Abstand zwischen den Linien mehr oder weniger eng gesetzt wurde, um verschiedene Abstufungen von Hell und Dunkel zu generieren. Auch variiert die Länge der einzelnen Linien, um die unterschiedlichen Oberflächenstrukturen von Tüchern, Muskelstrukturen, Blattwerk oder Hausmauern zu charakterisieren. In guten Abzügen des Stichs kommt die beinahe samtene tonale Wirkung, die mit einem solchen Liniengeflecht erreicht werden kann, zum vollen Ausdruck. Stich und Zeichnung unterscheiden sich trotz der offensichtlichen Ähnlichkeit in einigen Details, wie zum Beispiel in den Bäumen vor dem Haus im Hintergrund. Daher ist es wahrscheinlich, dass Raimondi die Szene im Sinne einer eigenhändigen
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um eine vermutlich vom Forum Romanum inspirierte Studie, welche verstreute Säulenteile vor Gebäuderuinen zeigt: Raffael, Landschaft mit Figuren und Säulenresten, um 1512, Metallgriffel und Weißhöhung auf graubraun grundiertem Papier, berieben. 270 × 355 mm, Windsor Castle, Royal Library, Inv. Nr. 0117, Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, Nr. 450. Vgl. Clayton 1999, Nr. 24. So wird deutlich, wie eine archäologische Studie umgewandelt wird in die Kulisse eines historischen Themas. Um die bildliche Umsetzung der antiken Textvorlage möglichst überzeugend zu gestalten, wählte Raffael das passende Dekorum, indem er tatsächliche steinerne Zeugen der Antike skizzierte und sie in die Komposition um Aeneas integrierte. Der verfallene Charakter der ruinenhaften Gebäude entspricht dabei der Stimmung des Bildthemas – dem durch die Seuche ausgelösten Siechtum der Menschen. Auf der Zeichnung in den Uffizien wurde die römische Landschaft von einem Säulentambur und den Repoussoirfiguren im Vordergrund bereinigt. Wo auf der Landschaftsstudie ein dicker Mann auf dem Weg stand, liegt nun ein von der Pest dahin gerafftes Pferd. Von Landau und Parshall wird eine weitere Studie Raffaels mit dem Kupferstich in Zusammenhang gebracht: Eine Federskizze kauernder Kühe, die sich ebenfalls in Windsor befindet. (Feder, 321 × 256 mm, unten rechts beschnitten, verso, Royal Library, Windsor Castle, Inv. Nr. 12735.) Diesen Zusammenhang halte ich für nicht evident, da es sich bei dem toten Tier auf der Zeichnung, resp. dem Stich, nicht um eine Kuh handelt. Vgl. Landau / Parshall 1994, S. 127. Unter anderem wird diese Frage diskutiert in: Landau / Parshall 1994, S. 125–127. Carolyn H. Wood in: Broun / Shoemaker 1981, Kat. Nr. 31: „It is, therefore, tempting to think that the composition of The Morbetto, like that of the Judgement, was designed specifically for Marcantonio to engrave.“ Dieser These widerspricht Paul Joannides, Vgl. Joannides 1983, Kat. Nr. 349: „Given the technique, this drawing was probably not intended for Marc antonio, though the composition was later engraved by him.“
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16 Marcantonio Raimondi, Adam und Eva, Kupferstich, 240 × 177 mm
Nachschöpfung gestochen hat und kein transparentes Papier oder Ähnliches zur Übertragung benutzte. Raffael, der die Komposition genauestens vorbereitete, gibt hier programmatisch seiner bildlichen Interpretation eines antiken Textes Ausdruck. Es ist denkbar, dass dieser Stich für ein solventes, gebildetes Publikum – studiosi – geschaffen wurde, das ihn im privaten Studium mit gedruckten Ausgaben antiker Texte vergleichen konnte, um auf dieser Grundlage das komplexe Bildprogramm zu entschlüsseln. Hier ergab sich eine bemerkenswerte Veränderung in der Rezipierbarkeit antiker Historie. Dem noch nicht sehr alten Medium des gedruckten Buches wurde das gedruckte Bild gegenübergestellt und ließ zum ersten Mal einen direkten Vergleich textlicher und bildlicher Darstellungsmodi zu. Im Buchdruck hatte man sich nach mittelalterlichem Vorbild auf einen gültigen Archetypus zu einigen, der die
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17 Raffael, Adam und Eva, Feder über Griffelvorzeichnung, 265 × 330 mm (Farbtafel III)
Grundlage für gedruckte Editionen bildete.69 Auch im Bilddruck wurden nicht zuletzt im Umkreis Raffaels verbindliche Darstellungsmodi geschaffen, die einen Vorbildcharakter innehaben sollten und dem Rezipienten bereits eine verbindliche Interpretation der zugrunde liegenden Zeichnung Raffaels vorgaben. Der Stich Raimondis ist als gelungene Übersetzung der gezeichneten Vorlage Raffaels zu betrachten. Seine Meisterschaft zeigt sich hier vor allem im technischen Können, nicht aber in der motivischen Interpretation oder Ergänzung der Vorlage. Anders verhält es sich bei den Stichen, die allein auf raschen Skizzen und Figurenstudien Raffaels basieren. Allerdings gilt hier die Einschränkung, dass nicht bewiesen werden kann, ob es zum Zeitpunkt der Anfertigung der Stiche weitere Zeichnungen Raffaels gegeben hat. Vieles spricht dafür, dass es keine weiteren Zeichnungen gab und Rai69
Gramaccini / Meier 2009, S. 15.
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18 Albrecht Dürer, Adam und Eva, Kupferstich, 249 × 191 mm
mondi auch auf der Basis von Skizzen einzelner Figuren eigenständige Bildkompositionen entwickelte. Wie groß der Raimondi gewährleistete Interpretationsspielraum zuweilen sein konnte, belegt der im Folgenden zu betrachtende Stich Adam und Eva (Abb. 16, Bartsch XIV.3.1). Er wird durch eine Federskizze Raffaels vorbereitet, in der allein die Figur des nackten Adam vollständig angelegt ist (Abb. 17).70 Die genannte Zeichnung Raffaels bereitet ein entsprechendes Fresko im Deckengewölbe der Stanza delle Seg70
Raffael, Adam und Eva, Feder über Griffelvorzeichnung, 265 × 330 mm, Oxford, Ashmolean Museum, Inv. Nr. WA1846.180_v, Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, Nr. 211 (verso von 210), vgl. Joannides 1983, Nr. 260v, hierbei handelt es sich möglicherweise um eine Kopie Giulio Romanos nach der Zeichnung Raffaels in Oxford, Weimar, Grafische Sammlung, Inv. Nr. 10143 verso, Cordellier / Py 1992, S. 158, Nr. 210. Vgl. Marcantonio Raimondi, Adam und Eva, Kupferstich, 240 × 177 mm, Bartsch XIV.3.1, British Museum, London, Inv. Nr. H,1.4.
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19 Marcantonio Raimondi, Studie nach Dürers Adam, Feder in brauner Tinte, 195 × 109 mm
natura vor, das sich jedoch vor allem in der Haltung des Adam deutlich von der raschen Skizze unterscheidet. Die Gestalt der Eva ist in der Skizze Raffaels nur grob angedeutet, lediglich ihr Gesicht und ihre rechte Hand sind hier dargestellt. In Raimondis Komposition wurde die spontane Skizze zu einer vollständig ausformulierten Szene weiterentwickelt. Der Kupferstich erreicht hier nicht die gleiche Eindeutigkeit wie die zugrunde liegende Zeichnung: Während auf der Skizze Eva Adam einen Apfel reicht, scheint es auf dem Stich eher so, als ob Adam Eva zwei Äpfel reiche, da Eva in einer etwas manierierten Haltung ihre Rechte zurückhält, also nicht die gebende, sondern die nehmende Figur ist. In diesem Stich kombiniert Raimondi die von Raffael entworfenen Figuren mit einer Landschaft, in der sich nordisch anmutende Häuser befinden, die an Stiche Lukas van Leydens erinnern. Es gelingt Raimondi, durch starke Hell-Dunkel Kontraste im Vordergrund den Eindruck von Plastizität hervorzurufen, während im Bildhintergrund durch zarte Linienführung und Freilassen
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einiger Passagen räumliche Ferne vorstellbar gemacht wird. Ohne Zweifel ist der berühmte Stich Albrecht Dürers mit der Darstellung von Adam und Eva eine weitere direkte Vorlage (Abb. 18).71 Raimondi hat Dürers Variante des Adam zuvor in einer Federstudie wiederholt (Abb. 19).72 Man kann die Entwicklung von Raimondis Kupferstich so rekonstruieren, dass er zunächst den Stich Dürers zeichnend studierte und anschließend auf der Grundlage von Raffaels raschem Entwurf in die Lage versetzt wurde, im Wettstreit mit Dürer eine eigenständige Fassung des Bildthemas zu gestalten. Von Raffael übernahm er das Standmotiv Adams, in Anlehnung an Dürer schuf er Eva mit einem durch die Kenntnis antiker Vorbilder veredelten, klassischen Profil. Sämtliche Vorbilder integrierte Raimondi auf eine harmonische Weise. Ein besonderer kompositorischer Einfall ist die Art, in der Adam und Eva sich an einen Baum lehnen, der in der Biegung des Stammes jeweils ein Echo auf ihre Körperhaltung bildet und so ihre wohlgeformten Proportionen unterstreicht. Vergleicht man also die lockere Skizze Raffaels mit der Interpretation Raimondis, so lässt sich sagen, dass Raimondi das gezeichnete Vorbild seinem eigenen Stil, den er durch das Kopieren nordischer Grafik entwickelt hatte, unterordnet. In deutlichem Gegensatz zum oben beschriebenen Beispiel der Pest in Phrygien ist es in diesem Fall nicht das Ziel Raimondis, den Vorgaben Raffaels möglichst nahe zu kommen, sondern er schafft auf der Grundlage einer fremden Idee ein eigenständiges Werk. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Zeichner und Stecher kann hier ausgeschlossen werden. Fasst man die bisherigen Ergebnisse zusammen, so wird deutlich, dass es eine übliche Praxis in Raffaels Werkstatt war, denselben Entwurf einerseits als Grundlage eines Gemäldes oder Freskos zu verwenden und ihn andererseits in einen Kupferstich zu übertragen. Bis auf wenige Ausnahmen sind keine vollendeten Bildkompositionen von Raimondi in Kupferstiche übertragen worden, sondern meist mit der Feder ausgeführte, rasche Skizzen, die erste Ideen im Prozess der Bildfindung festhalten. So dokumentieren in einigen Fällen allein die Stiche Raimondis „die wahre inventio, dann nämlich, wenn Raffael diese für Fresken oder Gemälde seinen Auftraggebern zuliebe
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Meder 1971, Nr. 1. Albrecht Dürer, Adam und Eva, Kupferstich, 249 × 191 mm, 1504, Meder 1, British Museum, London, Inv. Nr. E,4.176.+. Auch Dillon weist darauf hin, dass Raimondi ohne das Studium der Druckgrafik Dürers den Stich nicht in dieser Weise hätte entwickeln können, vgl. Dillon 1984, S. 558–559. Marcantonio Raimondi, Studie nach Dürers Adam, Feder in brauner Tinte, 1505–1509, 195 × 109 mm, Schenkung Frank Jewett Mather Jr., The Art Museum, Princeton University, Inv. Nr. 45–47; siehe Broun / Shoemaker 1981, Abb. 18, S. 64 und Faietti / Oberhuber 1988, Kat. Nr. 52, S. 197. Raimondi hatte Dürers Druckgrafik bereits eingehend studiert, bevor er mit Raffael zusammenarbeitete. Die Zeichnung des Adam wird in die Zeit seines Venedigaufenthaltes 1506–1509 datiert. Es handelt sich hierbei um eine zeichnerische Aneignung, die durchaus Abweichungen gegenüber dem Vorbild zulässt: Die Neigung der Schulter ist anders, die Beine sind weniger lang und muskulös. Auf den Stich Dürers Adam und Eva ist möglicherweise auch der Stich Raimondis Apoll, Hyazinth und Amor (Bartsch XIV.260.348) zurückzuführen, siehe: Broun / Shoemaker 1981, Kat. Nr. 7.
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verändern mußte.“73 In anderen Fällen entwickeln die Kupferstiche Bildideen Raffaels weiter, die dieser bereits verworfen hatte und die sich demzufolge nicht mit Gemälden oder Fresken nach seinen Erfindungen in Verbindung bringen lassen. Nur eine verschwindend geringe Zahl an Zeichnungen Raffaels können als detaillierte Modellzeichnungen betrachtet werden, die allein mit der Absicht der Anfertigung eines Stichs geschaffen wurden. Daraus lässt sich schließen, dass das Ziel Raffaels nicht die Verbreitung vollendeter Werke war, wie man es von einem Reproduktionsstich erwartet, sondern vielmehr die Wiedergabe erster Bildideen. Der Stich ist dabei „ein zur malerischen Fassung alternatives, eigenwertiges Produkt“.74 Da Raffael in vielen Fällen beim Anlegen einer Zeichnung die spätere Übertragung in einen Kupferstich noch nicht beabsichtigte, nahm er auch in der Linienführung keine Rücksicht darauf, ob sich die Linien mit dem Grabstichel leicht nachahmen ließen. So blieb Raimondi nichts anderes übrig, als die jeweilige Vorlage in seine eigene Darstellungsweise zu übersetzen. Raimondi besaß die Freiheit, die gezeichneten Vorlagen nicht getreu wiedergeben zu müssen, sondern einen Interpretationsspielraum inne zu haben, der Ergänzungen, Vollendungen oder die Hervorhebung einzelner Teile ermöglichte. Auch wenn Raimondi Ergänzungen vornahm, wie die landschaftlichen Hintergründe nach den Vorbildern Albrecht Dürers und Lukas van Leydens, so veränderte er doch nie den Sinn einer Zeichnung.75 Adam von Bartsch kritisiert den Umstand, dass es nur sehr wenige Kupferstecher gegeben habe, die in der Lage gewesen seien, sich in die Zeichnungen anderer Künstler hineinzuversetzen und exakte Reproduktionen zu erstellen. Aus diesem Grunde seien stets druckgrafische Werke vorzuziehen, die vom Erfinder des Motivs selbst aus-
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Ullrich 2009, S. 12. Höper 2001, S. 55. Der Stich Raimondis ist von Buonaventura Genelli (1798–1868) wieder in eine Zeichnung zurückübersetzt worden, die ähnlich der Vorlage Raffaels allein den männlichen Akt festhält, ergänzt durch weitere Studien einzelner Beine und Füße. Die Figur der Eva sowie jegliche szenische Einbindung wurden nicht übernommen: Buonaventura Genelli (1798–1868), Adam, nach Marcantonio Raimondi; mit Studien von Beinen und Füßen, nach einem unbekannten Vorbild, Bleistift, 230 × 146 mm, um 1860. Oxford, The Ashmolean Museum, Bequeathed by Dr Grete Ring, 1954; Inv. Nr. WA1954.70.104. Laut Bernice Davidson basiert auch das Deckenfresko von Josaphat Araldi im Konvent von San Paolo in Parma auf diesem Stich, ausgeführt 1514, Davidson 1954, S. 124. Damit kann ein terminus ante quem für die Datierung des Stichs genannt werden. Araldi ersetzte, Davidson zufolge, Raimondis Adam mit der Fassung Michelangelos auf dem Fresko der Vertreibung aus dem Paradies. Weitere anonyme gezeichnete Kopien nach Raimondis Stich befinden sich in Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nrn. 3896 und RF 8027, Cordellier / Py 1992, S. 158, Nrn. 210bis und 211. Im Antwerpener Rubenshuis befindet sich ein ehemals Rubens zugeschriebenes Gemälde, das sich klar auf Raimondis Stich bezieht. Otto van Veen (1556 – 1629) zugeschrieben, Adam und Eva, Öl auf Leinwand, 180 × 158 cm, 1599–1600, Antwerpen, Rubenshuis, siehe Wood 2010, S. 34–37. Weiterhin wäre es interessant, auch Rembrandts Radierung von Adam und Eva ( White / Boon 1969, Nr. B 28) zu den genannten Stichen in Beziehung zu setzen. Anregungen dazu gibt: Smith 1987.
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geführt werden, da sie in diesem Fall die ursprüngliche Intention nicht verfälschten.76 Wie die genannten Beispiele zeigen, ist die Erwartung getreuer Reproduktion gegenüber den Kupferstichen Marcantonio Raimondis nach Raffaels Zeichnungen unangebracht. Die Stiche Raimondis können nicht danach bewertet werden, wie „wahr“ sie sind, das heißt, wie getreu sie sich gegenüber der jeweiligen Vorlage verhalten, sondern ihr Wert liegt gerade darin, die Vorlage zu vollenden und sie nach eigenen Maßstäben zu interpretieren.77 Eigene künstlerische Erfindungen sind hier eng mit den Informationen über die Bildschöpfungen Raffaels verwoben. Die Stiche Marcantonio Raimondis können daher nicht allein auf ihre Funktion der Verbreitung von Informationen über gezeichnete Entwürfe Raffaels reduziert werden. Ihr Wert liegt nicht ausschließlich in einer möglichst umfassenden Dokumentation der heute in vielen Fällen verlorenen Zeichnungen Raffaels, sondern die Stiche Raimondis zeichnen sich in der überwiegenden Zahl durch ein hohes Maß an eigenständiger Interpretationsleistung aus. Sie behaupten sich damit gegenüber den gezeichneten Vorlagen als eigenständige Kunstwerke.
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Bartsch 1802–1821, Bd. I, S. III: „L’estampe faite par un graveur d’après le dessin d’un peintre, peut-être parfaitement comparée à un ouvrage traduit dans une langue différente de celle de l’auteur; et comme une traduction ne peut être exacte que quand le traducteur s’est pénétré des idées de l’auteur, de même une estampe ne sera jamais parfaite, si le graveur n’a le talent de saisir l’esprit de son original, et d’en rendre la valeur par les traits de son burin. Cependant le traducteur et le graveur qui possédent cette qualité, sont rares l’un et l’autre. A cet égard les estampes gravées par les auteurs, c’est-à-dire, par les peintres mêmes, on presque toujours l’avantage sur celles des graveurs, en ce qu’il ne peut s’y trouver rien qui soit contraire aux idées de l’inventeur.“ Passavant 1860–1864, Bd. VI, S. 6: „Le talent hors ligne et la perfection de Marc Antoine comme dessinateur, ressortent dans toute leur force quand il grave d’après des simples esquisses de Raphaël que celui-ci n’avait point préparées pour la gravure, puisque certaines parties seulement sont terminées, tandis que les autres ne sont que légèrement indiquée. Le graveur devait donc s’être complétement pénétré de la manière du maître pour nous avoir laissé, d’après ces esquisses, des travaux aussi parfaits que ceux que nous admirons dans ces estampes.“
Kupferstiche als künstlerische Vorbilder
Seit Beginn des 16. Jahrhunderts wurden Schüler der Malerei dazu angehalten, neben dem Studium von Zeichnungen bedeutender Vorbilder auch druckgrafische Vorlagen zeichnend nachzuahmen und so ihre Kunstfertigkeit auszubilden.1 Künstler legten für ihr eigenes Studium und für die Ausbildung ihrer Schüler Sammlungen mit Vorlagenmaterial an. Dazu gehörten eigene Zeichnungen, Zeichnungen anderer Meister, Gipsabgüsse, kleine Bronzeskulpturen und schließlich auch Drucke.2 Mit Sicherheit waren einige der im Umkreis Raffaels entstandenen Stiche bereits mit dem Zweck geschaffen worden, anderen Künstlern als Vorlagenmaterial zu dienen, wie es Giorgio Vasaris viel zitierte Aussage aus der Vita des Marcantonio Raimondi vermuten läßt: Marcantonio fuhr mit dem Stechen fort und gab in einigen Blättern die zwölf Aposteln (sic!) klein in verschiedenen Arten wieder und viele Heilige, Männer und Frauen, damit die armen Maler, die nicht recht zeichnen können, sich ihrer in ihren Nöten bedienen möchten.3 1 2 3
Bleeke-Byrne 1984, S. 32. Goldstein 1996, S. 79. Vasari 1910, Bd. IV, S. 563, vgl. Vasari 1973, Bd. V, S. 417: „Marcantonio intanto, seguitando d‘intagliare, fece in alcune carte i dodici Apostoli, piccoli in diverse maniere, e molti Santi e Sante, acciò i poveri pittori che non hanno molto disegno, se ne potessero ne‘loro bisogni servire.“ Dass gedruckte Werke im Kontext von Maleraterliers mit dem Zweck zur Ausbildung von Schülern verwendet worden sind, schildert auch Carlo Cesare Malvasia (1616–1693). Er schreibt, der Antwerpener Künstler Denys Calvaert (1540–1619) habe in seiner in Bologna errichteten Malschule neben Gipsabgüssen, antiken Büsten und Reliefs auch Druckgrafik von Albrecht Dürer, Lukas van Leyden, Heinrich Aldegrever, Marcantonio Raimondi, Giulio Bonasone, Martino Rota, Marco da Ravenna, Agostino Veneziano, Parmigianino, Ugo da Carpi und Jacopo Caraglio aufbewahrt, um seine Schüler danach zeichnen lernen zu lassen. Vgl. Malvasia 1841, Bd. I, S. 199: „Di quante carte famose sino a quell’ora fossero fuori uscite […] che tanto istruirsi e risvegliarsi sentivano dalla invenzione e ricchezza di quelle del Durero, di Luca d’Olanda e d’Altogravio; dalla erudizione e giustezza di quelle cavate da Rafaelle, da’ nostri Marcantonio, Bonasone, da Martin Rota,
64 Kupferstiche als künstlerische Vorbilder
Neben anderen Autoren äußert auch Konrad Oberhuber in Bezug auf die genannten Stiche die These, dass Druckgrafik in Italien von Beginn an auch als Vorlagenmaterial für Künstler geschaffen wurde: La tecnica dell’incisione venne introdotta in Italia con un duplice scopo: da un lato fornire idee utili agli artisti e agli artigiani meno dotati d’inventiva; dall’altro mettere a disposizione del gran pubblico materiale didattico e decorativo di tema religioso e profano.4 So wird unter anderem mit den Serien aus Raimondis Werkstatt der heidnischen Götter und Musen, der Tugenden, der Porträts römischer Imperatoren sowie weiterer Stiche nach antiken römischen Standbildern beinahe ein Lexikon klassischer Formen geschaffen.5 Diese Stichserien einzelner, plastisch herausgearbeiteter Figuren vor neu-
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Marco da Ravenna, Agostin Veneziano e simili: dalla grazia ineffabile e dal vivace spirito di quelle del Parmigianino, e da lui stesso tagliate all’acqua forte: o da Ugo da Carpi in legno con le due e le tre stampe o col bolino dal Caraglio provedendo la sua sala, dalle mura anche della quale pendevano appesi, come per trofei della somma sua providenza in tutto e cortesia, i più famosi bassi rilievi, i più insigni getti, le più singolari teste, i più ricerchi torsi, che andassero in volta.“ Vgl. Kwakkelstein 2000, S. 45 und Bleeke-Byrne 1984, S. 35, Fußnote 50. Auch einzelne Verleger und Stecher verweisen auf den beabsichtigten Zweck der Stiche als Studienmaterial für Künstler. Hieronymus Cock gab 1558 in Antwerpen eine Serie von 12 Landschaftsdarstellungen heraus mit dem expliziten Hinweis auf dem Titelblatt: „in publicum pictorum usum“. Siehe: Broos 1985, S. 12., Vgl. Hollstein / Luijten 1993, Bd. IV (Brun – Coques), S. 184, Nr. 24–35. Der vollständige Titel lautet: „Variae variarum regionum typographicae Adumbrationes, in publicum pictorum usum a Hieronimo Cok delineatae, in aes incisae et editae. Antverpiae 1558.“ Oberhuber 1999b, S. 146. Vgl. Faietti / Oberhuber 1988, S. 51: „Oggi noi sappiamo che fin dall’inizio l’incisione su lastra di rame serviva alla trascrizione delle opere pittoriche die famosi Maestri, le cui riproduzioni così divenivano accessibili ai giovani artisti che volevano studiarle ed acquistarle per le loro raccolte di modelli.“ Siehe auch: Dillon 1984, S. 560: „Intagliando i disegni di Raffaello, o anche dei ‚facsimili‘ di bottega e dei disegni parziali […] Marcantonio crea un campionario delle idee figurative del maestro, divulgabile, dimostrativo, utile agli artisti.“ Kristeller 1907, S. 221: „Sicher kam es ihm [Raimondi] wesentlich auf die ‚Erfindungen‘ an, denn in erster Linie hatten seine Stiche den Zweck, den Künstlern Studienmaterial und Vorbilder zu liefern.“ Vgl. auch: Broun / Shoemaker 1981, S. 37: „The development of this new kind of didactic print, along with the adoption of the empty tablet „signature“ at about the same time, shows that Marcantonio had fully evaluated the role of the reproductive engraver. He understood the dual function of the reproductive print, first in recording the designs of others and then in presenting motifs for the convenience of future artists, and developed two distinct types of prints accordingly. He worked intentionally to translate genius into method, providing artists with an index of useful forms derived from the dramatic visual language being created in Rome.“ Bartsch XIV.211.263–278; Bartsch XIV.283.371 sowie Bartsch XIV.286.375–376 und Bartsch XIV.293.386–392; Bartsch XIV.372.501–512, siehe auch: Broun / Shoemaker 1981, S. 42: „The prints of Marcantonio and other reproductive engravers had offered artists the ‚consecrated‘ conventions – the lexicon of classical forms which made it possible for artists of many styles to speak to each other across the centuries.“ Vgl. Höper 2001, S. 56: „Raimondi und seine Mitarbeiter schufen mit ihren Stichen nach Erfindungen Raffaels eine Art Handbuch der neuen, visualisierten Sprache der Hochrenaissance.“
Kupferstiche als künstlerische Vorbilder 65
tralem Hintergrund eignen sich sehr gut als Vorlagenmaterial, da sie in keinen Erzählzusammenhang eingebettet sind. Parallel dazu wird auch im Bereich der christlichen Ikonografie ein breites Formenrepertoire geliefert.6 Dazu zählen die großformatige Serie Raimondis der Apostel (Bartsch XIV.74.64–76), die Vier Evangelisten, gestochen von Veneziano (Bartsch XIV.83.92–95), die kleinere Serie der Apostel (Bartsch XIV.111.124– 136) und weitere kleinformatige Heilige (Bartsch XIV.122.137–Bartsch XIV.151.184, Abb. 20 und 21).7 Es fällt auf, dass vor allem in Raimondis Fassung der größeren Apostelfolge in beinahe pädagogischer Weise jeder einzelne Apostel klar benannt wird, da die Namen der zwölf Schüler Christi in ihren Aureolen geschrieben stehen (Abb. 22, Bartsch XIV.75.66).8 Jeder Apostel hält das ihm zugewiesene Attribut in seinen Händen. Doch geht es hier nicht nur um die Vermittlung der Ikonografie. Vielmehr wird im Umkreis Raffaels in klarer Abgrenzung von der mittelalterlichen Tradition der Charakter der Apostel neu formuliert. Die Grundlage für die Gestaltung der Apostel bildeten sowohl Antikenstudium als auch Naturbeobachtung, wie sich an den antiken 6
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Gramaccini / Meier 2009, S. 62–63. Die Autoren weisen darauf hin, dass die Serien von Heiligenbildnissen Raimondis auch vom blühenden Devotionalienhandel genutzt wurden. Ob ihre Verwendung als Andachtsbilder bereits von Raffael oder Raimondi intendiert war, lässt sich nicht mit Bestimmtheit beantworten. Im Berliner Kupferstichkabinett befinden sich zwei Bögen, auf denen jeweils acht Platten mit Abbildungen von Aposteln und Heiligen gedruckt worden sind. Inventarnrn. 255–1886 und 256–1886. Die Platten messen durchschnittlich etwa 83 × 49 mm, sie gehören daher zur Serie von Heiligendarstellungen kleineren Formats. Es sind keine gezeichneten Vorlagen Raffaels oder seiner Schüler zu dieser Stichfolge bekannt. Jeweils drei Platten tragen das Monogramm MAF. Auf beiden Berliner Blättern ist keine einheitliche Serie der Apostel abgedruckt, sondern ein Blatt enthält auch die Darstellung der Heiligen Apollonia mit dem Attribut der Zange, das andere Blatt zeigt einen Stich Mariens mit dem Kind. Außerdem kommen die Platten von Johannes, dem Täufer, Bartholomäus und Apollonia auf beiden Blättern vor. Es wurde also in loser Folge gedruckt, was an gleichformatigen Platten mit Heiligendarstellungen in der Werkstatt vorhanden war. Die Bögen sollten sicherlich zerschnitten werden, denn die Platten sind so angeordnet, dass die Darstellungen einander gegenüberliegen. Marcantonio Raimondi, Der Apostel Andreas, Kupferstich, 209 × 140 mm, Bartsch XIV.75.66, Hamburger Kunsthalle, Inv. Nr. 191. In der Literatur herrscht Uneinigkeit darüber, wer diese Folge zuerst gestochen haben könnte. Oberhuber und Gnann gehen davon aus, dass Marco Dente der Erste gewesen sein müsse, da seine Stiche den Zeichnungen in Chatsworth ähnlicher seien, was sich unter anderem in den gestrichelten Aureolen erkennen lässt. Dem widersprechen Landau und Parshall mit dem überzeugenden Argument, dass nur in Raimondis Folge, die seitengleich mit den Zeichnungen ist, die Apostel ihre Attribute in der sinnvollen rechten Hand halten, während sie bei Dente die Attribute unrichtigerweise in der linken Hand tragen. Deshalb muss ihnen zufolge davon ausgegangen werden, dass Dente die Folge Raimondis kopierte. Wie an einigen anderen Bildvergleichen in dieser Arbeit noch deutlich werden wird, halte ich die Frage, welcher Stecher der erste war, für nicht Erkenntnis fördernd. Vielmehr sollte man davon ausgehen, dass sich beide Stecher, vermutlich gleichzeitig, auf dieselbe gezeichnete Vorlage beziehen und diese ihrem eigenen Vermögen nach in den Stich übersetzen. Raimondi achtete dabei darauf, dass der ikonografische Gehalt korrekt in den Stich übertragen wird. In kleinen Details, wie den Aureolen, Haartracht oder Gesichtsausdruck, nahm er sich gestalterische Freiheiten gegenüber der Vorlage heraus. Dente signierte seine Folge, während Raimondi darauf verzichtete. Vgl. Oberhuber 1972, S. 31, Fußnote 86, und Oberhuber 1984, S. 339. Vgl. Landau / Parshall 1994, S. 139–141. Eine Zusammenfassung dieses Disputes findet sich auch in Oberhuber / Gnann 1999, S. 80.
66 Kupferstiche als künstlerische Vorbilder
20 Marcantonio Raimondi, Acht Heilige, Kupferstich
Gewändern und den für antike Skulpturen typischen Standmotiven einerseits, den expressiven, menschlichen Gesten der Männer andererseits ablesen lässt. Im Städel Museum in Frankfurt am Main befinden sich zwei Stiche Raimondis aus der kleineren Serie der Apostel (Bartsch XIV.119.133–134) sowie die Darstellung von Christus (Bartsch XIV.111.124), welche Flecken von Ölfarbe aufweisen. Diese Blätter sind im Kontext von Künstlerwerkstätten verwendet worden.9 Bereits 1517 dienten die Stiche der Apostel Bartholomäus (Bartsch XIV.81.85) und Simon (Bartsch XIV.81.88) von Marco Dentes Fassung der größeren Folge als Vorlage für Fresken von Pellegrino da Modena (eigentlich Pellegrino Aretusi, um 1460 – 1523) in der Kirche Santa Maria Assunta in Trevignano.10 Ebenfalls war diese Folge der Prototyp für die lebensgroßen, auf den Pfeilern des mittleren Kirchenschiffs angebrachten Fresken von Christus und den Zwölf Aposteln in der Abtei von San Paolo alle Tre Fontane in Rom. Goethe besuchte diese Kirche im Dezember 1787 und begeisterte sich für die, seiner Vermutung nach, auf Zeichnungen Raffaels basierenden Fresken.11 Als er 42 Jahre später, 1829, seine 9
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Marcantonio Raimondi, Christus als Erlöser (Bartsch XIV.112.124) Exemplar Frankfurt, Städel Museum, Inv. Nr. 34154; Ders., Die Apostel Simon und Thomas (Bartsch XIV.119.133 und 134), Inv. Nrn. 34163 und 34164. Höper 2001, Kat. Nr. A 26, S. 172. Goethe 1987, Bericht Dezember, S. 463–466. Goethe beschreibt sie wie folgt: „Was ihr [der Kirche] aber zur größten Zierde dient, sind Christus und seine Apostel, die Reihe her an den Pfeilern des Schiffs, nach Zeichnungen Raffaels farbig in Lebensgröße gemalt. Dieser außerordentliche Geist hat jene frommen Männer, die er sonst am rechten Orte in versam-
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21 Marcantonio Raimondi, Acht Heilige, Kupferstich
22 Marcantonio Raimondi, Der Apostel Andreas, Kupferstich, 209 × 140 mm
68 Kupferstiche als künstlerische Vorbilder
Aufzeichnungen über die Italienische Reise verfasste, beschrieb er nicht die Erinnerungen an das in Rom Gesehene, sondern fügte stattdessen eine Beschreibung der von Raimondi gestochenen Apostelfolge ein: Um uns aber von den Vorzügen dieser Bilder [der Fresken in der Abtei San Paolo alle Tre Fontane] auch in der Ferne zu belehren, sind uns Nachbildungen der Originalzeichnungen von der treuen Hand Marc Antons übriggeblieben, welche uns öfters Gelegenheit und Anlass gaben, unser Gedächtnis aufzufrischen und unsere Bemerkungen niederzuschreiben.12 Die Wertschätzung Goethes der Fresken und der entsprechenden Stichfolge war so groß, dass er ihre Beschreibung zur umfangreichsten Kunstbetrachtung in der gesamten „Italienischen Reise“ werden ließ, indem er einen bereits 1789 im „Deutschen Merkur“ publizierten Aufsatz zitiert. Goethe ging davon aus, die von ihm in Italien bewunderten Fresken basierten auf den gleichen Vorzeichnungen Raffaels wie auch die Stiche Raimondis, weshalb er es als legitim erachtete, die Stiche statt der Fresken zu beschreiben. Doch diese Wandmalereien haben keineswegs einen direkten Bezug zu Raffaels Werkstatt, sondern sie sind mittelbar durch die Verwendung der Stiche Raimondis als Vorlagen entstanden. Die Stiche waren Goethe unmittelbar vor Augen, als er sich an das in Rom Gesehene erinnerte. Als solche Gedächtnisstütze prägten sie seine Kunstbetrachtung in erheblicher Weise – weshalb der Leser zum Beispiel nichts über die Farben der Fresken erfährt. Francesco Mazzola, genannt Il Parmigianino (1503–1540), aktualisierte die Apos telfolge in einer Serie von Zeichnungen (Abb. 23) und passte sie einem neuen Stil an.13 Zwei Radierungen – den Heiligen Philipp und den Heiligen Johannes, d. Ä. – schuf er selbst, dann übertrug er die Aufgabe an einen anonymen, unter dem Monogramm
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melter Schar als übereinstimmend gekleidet vorgeführt, hier, da jeder einzelne abgesondert auftritt, jeden auch mit besonderer Auszeichnung abgebildet, nicht als wenn er im Gefolge des Herrn sich befände, sondern als wenn er nach der Heimfahrt desselben, auf seine eignen Füße gestellt, nunmehr seinem Charakter gemäß das Leben durchzuwirken und auszudulden habe.“ Vgl. Osterkamp 1986. Ein eindrucksvolleres Zeugnis für Raffaels modernes Verständnis der Apostel, als vom Glauben getragene, machtvoll handelnde Menschen, bildet vor allem die Folge der sieben, für die Ausschmückung der Sixtinischen Kapelle bestimmten Teppiche mit Szenen aus dem Leben der Apostel. Goethe 1987, S. 464. Parmigianino, Der Heilige Andreas, Feder in Braun, braun laviert, 117 × 64 mm, Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nr. 6487BIS recto, Gnann 2007a, Kat. Nr. 361 sowie Gnann 2007b, S. 16 und Ekserdjian 2006, S. 236. Zu den Vorzeichnungen Parmigianinos für eine geplante neue druckgrafische Fassung der Apostelfolge siehe: Gnann 2007a, Nrn. 359–372. Popham 1971, Nr. 468–474 und Nr. 96, 221, 372, 760 und 818. Siehe auch: http://sammlungenonline.albertina.at/?query=Inventarnummer=[DG2002/439]&s howtype=record, Zitat Katalogtext Achim Gnann: „Diese und spätere geplante Apostelserien von Parmigianino sollten womöglich wie zuvor die Stiche nach Entwürfen Raphaels von Marcantonio Raimondi und Marco Dente (B. XIV, S. 74ff., Nr. 64–91) als Vorlagen für Künstler und Kunstliebhaber dienen. Parmigianino löst dabei das raphaelische Ideal
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23 Parmigianino, Der Heilige Andreas, Feder in Braun, braun laviert, 117 × 64 mm
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F.P. bekannten Meister, der die Serie der Radierungen vollendete. Antonio da Trento (1508–1550) schuf nach diesen Entwürfen eine Serie von Chiaroscuro Holzschnitten (Bartsch XII.69.1–12). Selbst im 19. Jahrhundert blieb die Apostelfolge noch als Studienvorlage aktuell, denn auch Eugène Delacroix (1798–1863) fertigte nach dem Vorbild Marco Dentes eine Skizze Heiligen Bartholomäus an.14 Es steht daher außer Zweifel, dass die Stiche Raimondis und Dentes mit Darstellungen von Heiligen als Grundlage für neue Kunstwerke verwendet worden sind.15 Die Vorläufer für diese gestochenen Darstellungen von Aposteln und Heiligen bildeten möglicherweise gezeichnete Musterbücher, die bis dahin ein gebräuchliches Instrument zur Künstlerausbildung darstellten und darüber hinaus in der Werkstattpraxis als Sammlung von Motivvorlagen dienten, die durch manuelle oder mechanische Übertragungsverfahren in neue Werke eingegliedert werden konnten.16 Die oben genannten Kupferstichvorlagen Raimondis mit Darstellungen von Heiligen lassen sich mit gezeichneten Varianten der Heiligen Paulus und Christopherus sowie der Heiligen Nikolaus und Bartholomäus vergleichen, die von Raffaellino del Garbo (um 1466/70 – nach 1527) angefertigt wurden und gemäß Carmen C. Bambach als Stickvorlagen dienten.17 Die Konturen sämtlicher Figuren sind mit der Nadel durchstochen, die Vorder- und Rückseiten der Blätter zeigen jeweils Spuren von Kohlenstaub. Die Zeichnungen sind also ohne Zweifel durch das mechanische Verfahren des spolvero übertragen worden. Mit den durchschnittlichen Maßen von 220 × 115 mm entsprechen sie in etwa den Maßen von 210 × 140 mm der größeren Apostelfolge von Raimondi. Musste in diesem Fall die gezeichnete Grundlage in gewisser Weise zerstört werden, um eine liniengetreue Reproduktion zu erhalten und damit eine einmal geschaffene Vorlage verschiedenen Übertragungszwecken zugänglich zu machen, so bildeten die Kupferstiche eine nützliche technische Weiterentwicklung. Nun konnten Reproduktionen in höherer Zahl 14
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durch einen gelängteren und graziöseren Aposteltypus ab, der dem neuen Stilempfinden der 1520er Jahre entspricht.“ Cordellier / Py 1992, S. 521, Nr. 894. Die Autorinnen führen zwei weitere anonyme Kopien nach den Aposteldarstellungen auf, die sich heute im Louvre befinden, vgl. ebenda, S. 520– 521, Nrn. 892 und 893. Auch Meister E.S. hat zwei Apostelserien gestochen (Bartsch VI.19.38–49). Auch diese Stichfolge diente als Vorlage für Nachzeichnungen, beispielsweise des Meisters der Gewandstudien, vgl. Roth 2009, S. 101–105. Bambach 1999, S. 114: „A great number of the extant pricked, relatively finished drawings from the fifteenth and sixteenth centuries represent single, isolated figures. These could have easily been reused and reworked for different contexts, much like a child’s cut-out paper dolls.” Bambach 1999, S. 118–119: Istituto Nazionale per la Grafica, Rom, Inv. Nrn. FC 130454 und FC 130456, 225 × 113 mm und 219 × 121 mm. Die Rückseite des Heiligen Christopherus weist deutliche Spuren von Kohlenstaub auf, was erneut darauf hindeutet, dass hier das spolvero Verfahren angewendet worden ist. Vgl. Enrichetta Beltrame Quattrocchi, Disegni toscani ed umbri del primo rinascimento dalla collezione del Gabinetto Nazionale delle Stampe. Katalog der Ausstellung, Istituto Nazionale per la Grafica di Roma, Rom 1979, S. 40–41, Nrn. 22 a und b; Palais des Beaux-Arts, Lille, Inv. Nrn. PL 264 und 265, 215 × 105 mm und 220 × 100 mm. Beide jeweils montiert, weshalb nicht klar ist, ob auch die Rückseiten der Blätter mit Kohlenstaub eingerieben wurden.
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von der stets gleichen gestochenen Vorlage hergestellt werden. Die Stiche eigneten sich gegenüber den gezeichneten Mustern daher in einem höheren Maße als Vorlagenmaterial.18 So lässt sich im Verlauf des 16. und frühen 17. Jahrhunderts eine Entwicklung erkennen, die vom ehemals gezeichneten zum gedruckten Musterbuch führte. Ein Beispiel für ein solches druckgrafisches Zeichenlehrbuch bildet das 1608 in Venedig von Odoardo Fialetti herausgegebene Buch: Il vero modo et ordine per disegnar tutte le parti et membra del corpo humano.19 Allerdings lassen sich anhand eines Drucks lediglich das Motiv, respektive die Darstellungsweise einer Figur vermitteln. Der Gebrauch eines bestimmten Zeicheninstruments oder die für einen Künstler typische Linienführung der Zeichnung kann man an ihnen nicht studieren.20 Wie an den genannten Ausführungen deutlich wird, ist in einer Vielzahl der Stiche Marcantonio Raimondis der Zweck der Verwendung als Studienmaterial bereits angelegt worden. In Themenwahl und Darstellungsweise waren sie den bereits üblichen gezeichneten Vorlagen in Musterbüchern angenähert, stellten diesen gegenüber 18
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Langemeyer / Schleier 1976, S. 158: „Das Musterbuch erfüllte im Mittelalter die Funktion der Bildvermittlung. Wie die Abschrift die einzige Form der Vervielfältigung von Texten, war Abzeichnen und Kopieren die einzige Möglichkeit, eine gute Bilderfindung ferstzuhalten. Ein Lehrling zeichnete die Werke seines Lehrers und anderer Künstler ab und legte sich damit eine Sammlung von Mustern an, um sie später selbst zu verwenden. Die Erfindung von Buchdruck, Holzschnitt und Kupferstich löst das Abschreiben und Kopieren ab. Die Druckgrafik versorgt zahlreiche Künstler gleichzeitig mit derselben Bilderfindung. Die frühen grafischen Wiedergaben von Kunstwerken sind daher wohl auch als Muster gedacht, die in den verschiedensten Bereichen verwendet werden können.“ Amornpichetkul 1984. Die Autorin nennt ein weiteres Vorlagenbuch, das unter anderem Stichvorlagen von Luca Ciamberlano enthält: Scuola perfetta per imparare a disegnare tutto il corpo humano cavata dallo studio, e disegni de Caracci, Rom, ohne Datum. Künstler bildeten sich außerdem anhand von gedruckten Buchillustrationen fort. Dies gilt vor allem für Handbücher der Anatomie, da zum Beispiel das öffentliche Sezieren von Leichen an der 1560 gegründeten florentinischen Accademia del Disegno nur einmal jährlich stattfand. Als Vorlage dienten hier unter anderem Kupferstiche aus Juan Valverde, Historia de la composicion del cuerpo humano, 1556 oder Holzschnitte aus Vesalius, De humani corporis fabrica, 1543. Vgl. Barzman 1989. Carmen C. Bambach weist auf Beispiele von Stichen hin, deren Konturen ebenfalls durchstochen sind. Hierbei handelt es sich um Beispiele, wo Künstler nach der gestochenen Vorlage nicht freie Kopien herstellten, sondern die Stiche als Vorlage für mechanische Übertragungen verwendeten. Vgl. Bambach 1999, S. 118–122. Mir sind keine Beispiele von Stichen Marc antonio Raimondis bekannt, deren Konturen durchstochen sind. Bambach nennt unter anderem den Stich eines Andrea Mantegna Nachfolgers, Herkules und Antäus darstellend, Bartsch 16, Metropolitan Museum of Art, New York, Inv. Nr. 18.65.3. Sämtliche Konturen des Stichs, ausgenommen einige Steine im Vordergrund, wurden perforiert, die Rückseite des Blattes mit Kohle berieben. Außerdem befinden sich im Berliner Kupferstichkabinett zwei im Abklatschverfahren hergestellte Gegendrucke von Holzschnitten mit Portraits Martin Luthers und Katharina von Boras nach Lukas Cranach, d. Ä., deren Konturen ebenfalls durchstochen sind, Inv. Nrn. 4794 und 4795. Es kann sich in solchen Fällen um die Übertragung der gestochenen Vorlage für verschiedene kunsthandwerkliche Zwecke, wie Stickereien oder bemalte Teller, handeln. Dies belegt ein im J. Paul Getty Museum aufbewahrtes Konvolut an perforierten Kupferstichen italienischer und nordischer Meister, der sich im Nachlass verschiedener Töpfer-Familien aus Castelli befand. J. Paul Getty Center, Los Angeles, Inv. Nr. 880209 und GJPA88–A274.
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jedoch einen entscheidenden Fortschritt dar, da nun zum ersten Mal identische Vorlagen in hoher Zahl hergestellt und so an Künstler verschiedener Werkstätten weitergereicht werden konnten. Sicherlich begann hier eine Entwicklung, die am Beginn des 17. Jahrhunderts erst zur Blüte kommen sollte, wo es besonders in den Niederlanden üblich war, gedruckte Vorlagenbücher herzustellen.21 Die Stiche Raimondis blieben als künstlerische Vorbilder im Zuge der Ausbildung an den Akademien bis in das späte 19. Jahrhundert hinein aktuell. Kurz bevor die Epoche der Reproduktionsgrafik durch die Erfindung der Fotografie ihr Ende finden sollte, schuf Edouard Manet (1832–1883) in Anlehnung an die Darstellung der Nymphen und Flussgötter auf dem Stich Das Urteil des Paris die Aufsehen erregende Gegenüberstellung eines weiblichen Aktes und zweier bekleideter Männer sowie einer Badenden, auf dem Gemälde Frühstück im Freien.22 Manet entlehnte zwar die Haltung der entsprechenden Figuren aus dem Stich, doch deutete er ihren Sinn um, indem er sie in neue Kostüme kleidete und sie aus dem mythologischen in einen zeitgenössischen Kontext transferierte. Zu diesem freien Umgang mit den entlehnten Motiven gelangte Manet, gerade weil er in akademischer Tradition durch das Zeichnen nach Kupferstichen ausgebildet worden war.23 Weitere gezeichnete Studien nach diesem Stich haben sich von Eugène Delacroix und Edgar Degas (1834–1917) erhalten.24 21
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Cooper 1998, solche Vorlagenbücher wurden unter anderem von Crispin van de Passe, Abraham Bloemaert und Jan de Bisshop gedruckt mit der Funktion, zeichnend nachgeahmt zu werden. Edouard Manet, Le Déjeuner sur l’herbe (Frühstück im Freien), Öl auf Leinwand, 208 × 264,5 cm, 1863, Paris, Musée d’Orsay. Weitere gezeichnete Studien nach diesem Stich haben sich von Eugène Delacroix und Edgar Degas erhalten: Eugène Delacroix, Figurenstudien nach dem ‚Urteil des Paris’, Bleistift, 184 × 194 mm, um 1830, New York, Privatsammlung, Haverkamp-Begemann / Logan 1988, Kat. Nr. 59 und Edgar Degas, Figurenstudien nach dem ‚Urteil des Paris‘ und dem ‚Parnass’, Feder in brauner Tinte, 317 × 152 mm, Privatsammlung, Haverkamp-Begemann / Logan 1988, Kat. Nr. 60. Das Skizzenblatt von Delacroix wurde am 19.–20. Juni 1985 in der Galerie Kornfeld, Bern, verkauft, Los Nr. 161. Weitere anonyme Kopien nach dem Stich des Urteils des Paris befinden sich in Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nrn. 4191, 4190, Cordellier / Py 1992, S. 164–165, Nrn. 220 und 221. Jean Auguste Franquelin zeichnete nach der Figur der Minerva nach dem Stich, Louvre, Inv. Nr. RF 13419, Cordellier / Py 1992, S. 165, Nr. 222. Zu weiteren gezeichneten Studien von Delacroix nach Raffael, bzw. nach Stichen Raimondis siehe Lichtenstein 1971b sowie Lichtenstein 1971a und Lichtenstein 1977. Jacques Louis David studierte zudem zeichnend den Stich Lukrezia nach einer spiegelverkehrten Kopie des Enea Vico (B. XV, 162, 16): Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nr. RF 9137, fol. 17 recto, Cordellier / Py 1992, S. 157, Nr. 209. Auf einem weiteren Studienblatt kombinierte er Interpretationen nach einem Engel aus dem Stich Madonna mit Kind in den Wolken (Bartsch XIV.53.47) sowie nach einem Säugling aus dem Bethlehemitischen Kindermord: Cordellier / Py 1992, S. 161, Nr. 218, Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nr. RF 9137, fol. 6 verso. Nach dem Stich von Agostino Veneziano Die sterbende Kleopatra, beweint von Amor (Bartsch XIV.161.198) skizzierte David einzelne Amoretten. Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nr. RF 9137, fol. 13 verso, Cordellier / Py 1992, S. 166, Nr. 223. Eugène Delacroix, Figurenstudien nach dem ‚Urteil des Paris‘, Bleistift, 184 × 194 mm, um 1830, New York, Privatsammlung, Haverkamp-Begemann / Logan 1988, Kat. Nr. 59 und Edgar Degas, Figurenstudien nach dem ‚Urteil des Paris‘ und dem ‚Parnass‘, Feder in brauner
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Empfehlungen in italienischen Malereitraktaten Um einzelne künstlerische Reaktionen auf die Stiche Raimondis genauer beurteilen zu können, ist es hilfreich, die zeitgenössische Traktatliteratur auf Äußerungen hinsichtlich der Aneignung von druckgrafischen Vorbildern zu überprüfen. Dies soll im Folgenden in Umrissen geschehen. Neben dem Studium der Natur war und ist die Aneignung künstlerischer Vorbilder ein unverzichtbares Instrument zur Schulung eines Malers.25 Erst nachdem man sich an zweidimensionalen Vorlagen anderer Meister geschult hatte, ging man dazu über, nach dem lebenden Modell zu zeichnen. Das zeichnende Kopieren von Repliken oder Originalen bildete das Fundament für die Vermittlung und Neuschöpfung künstlerischer Ideen. Bereits seit Beginn der theoretischen Reflexion über die Ausbildung eines Malers wurde das Zeichnen nach vorbildlichen Kunstwerken als ein wesentliches Fundament der Kunstfertigkeit beschrieben. So äußert sich Cennino Cennini in seinem um 1390 erschienenen Libro dell’Arte: „So vergnüge dich unermüdlich mit dem Nachahmen der besten Sachen, die du von Händen großer Meister finden kannst. […] Den Rat aber gebe ich dir: Trachte stets das Beste zu wählen, und was den höchsten Ruhm hat.“26 Er präzisiert seine Empfehlung dergestalt, dass es ratsam sei, nur einem großen Vorbild zu folgen. Wenn man nach zu vielen verschiedenen Meistern zeichne, werde man sich kein Vorbild richtig aneignen. Für Leon Battista Alberti (1404–1472) ist hingegen die Natur der größte Lehrmeister. Er äußert sich in seinem Traktat Della Pittura – Über die Malkunst dahingehend, dass der Maler die Natur vervollkommnen solle, indem er von verschiedenen Körpern die schönsten Teile auswähle.27 Sollte es einem Maler dennoch einfallen, nach Werken anderer zu
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Tinte, 317 × 152 mm, Privatsammlung, Haverkamp-Begemann / Logan 1988, Kat. Nr. 60. Degas benutzte Transparentpapier zur Übertragung einzelner Figuren. Das Skizzenblatt von Delacroix wurde am 19.–20. Juni 1985 in der Galerie Kornfeld, Bern, verkauft, Los Nr. 161. Weitere anonyme Kopien nach dem Stich des Urteils des Paris befinden sich in Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nrn. 4191, 4190, Cordellier / Py 1992, S. 164–165, Nrn. 220 und 221. Jean Auguste Franquelin zeichnete nach der Figur der Minerva nach dem Stich, Louvre, Inv. Nr. RF 13419, Cordellier / Py 1992, S. 165, Nr. 222. Zu weiteren gezeichneten Studien von Delacroix nach Raffael, bzw. nach Stichen Raimondis siehe Lichtenstein 1971b sowie Lichtenstein 1971a und Lichtenstein 1977. Haverkamp-Begemann / Logan 1988, S. 13–21. Vgl. Bambach 1999, S. 81: „The tradition of drawing freehand copies after works of art is certainly older than that of exploratory drawing, and such copying was an integral part of artistic training from the Medieval scriptoria to at least the early-twentieth century Beaux-Arts academies.“ Cennini 2001, Kapitel 27, S. 17–18, vgl. Cennini 2001, S. 27: „Ma per consiglio io ti do: guarda di pigliar sempre il migliore e quello che ha maggior fama; e, seguitando di dì in dì, contra natura sarà che a te non venga preso di suo’ maniera e di suo’ aria; perocché se ti muovi a ritrarre oggi di questo maestro, doman di quello, né maniera dell’uno né maniera dell’altro non n’arai, e verrai per forza fantastichetto, per amor che ciascuna maniera ti straccerà la mente.“ Alberti 2002, Vers 55–56, S. 154–159: „E di tutte le parti li piacerà non solo renderne similitudine, ma più aggiungervi bellezza, però che nella pittura la vaghezza non meno è grata che
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arbeiten, so solle er sich Skulpturen und nicht Gemälde zum Vorbild nehmen, denn an Skulpturen ließe sich das Wechselspiel von Licht und Schatten besser erlernen.28 Auch Leonardo da Vinci empfiehlt in seinem Trattato della Pittura (ca. 1480–1516) das Zeichnen nach anderen Meistern, um die eigene Hand zu schulen: „Der Maler soll zuerst die Hand gewöhnen, indem er Zeichnungen von guter Meister Hand kopiert.“29 Zudem legt Leonardo die einzelnen Schritte zur Ausbildung eines Künstlers fest, welche für eine lange Zeit verbindlich bleiben sollten: Zunächst sollten die theoretischen Grundlagen gelegt werden, wie das Studium von Perspektive, Proportion und Veränderung von Maßstäben. Danach solle man zuerst nach Zeichnungen anderer zeichnen, dann nach Gemälden und schließlich nach Reliefs, bevor man die Natur nachahme. Gleichzeitig warnt Leonardo davor, sich zu sehr an einem anderen Künstler zu orientieren und dessen Stil – maniera – nachzuahmen, denn dadurch würde man zum Enkel und nicht zum Sohn der Natur.30 Für Leonardo ist daher das letztliche Ziel jeglicher Kunst die Nachahmung der Natur. Würde man sich stattdessen nur an der durch die Kunst vermittelten Natur orientieren, würde man die wesentliche Aufgabe der Kunst verfehlen und nur ein verfälschtes Abbild der Natur liefern können. Leonardos Theorien bilden das Fundament für alle zukünftigen Systeme künstlerischer Ausbildung. Leonardo erwähnt nicht das Zeichnen nach Kupferstichen, da diese Technik zu seinen Lebzeiten noch neu war und er selbst kein Interesse daran hatte, seine Zeichnungen in Kupferstiche übertragen zu lassen. Die erste literarische Empfehlung in Italien, Druckgrafik im Zuge der künstlerischen Ausbildung zu studieren, stammt von Giovanni Battista Armenini (um 1533– 1609). Der Autor veröffentlichte 1586 eine dreibändige Abhandlung mit dem Titel
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richiesta. […] Per questo gioverà pigliare da tutti i belli corpi ciascuna lodata parte. E sempre ad imparare molta vaghezza si contenda con istudio e con industria. Qual cosa bene che sia difficile, perché nonne in uno corpo solo si truova compiute bellezze, ma sono disperse e rare in più corpi, pure si debba ad investigarla e impararla porvi ogni fatica.” Ebenda, Vers 58, S. 158–161. Vinci 1989, S. 45. Vgl. Trattato della pittura di Lionardo da Vinci, Novamente dato in luce, con la vita dell’istesso autore, scritta da Rafaelle du Fresne. Si sono giunti i tre libri della pittura, & il trattato della statua di Leon Battista Alberti, con la vita del medesimo, Paris: Giacomo Langlois, 1651, 12. Kapitel: „Il pittore deve prima assuefar la mano col ritrar disegni di buoni maestri, e fatta detta assuefattione, col giuditio del suo precettore, deve poi assuefarsi col ritrar cose di rilievo buone, con quelle regole che del ritrar rilievo si dirà.“ Zitiert nach: Online Datenbank: Art Theorists of the Italian Renaissance, Chadwyck und Healey Ltd. 1998. Vgl. Pevsner 1986, S. 49. und Müller 1991. Ebenda, Kapitel 14: „Del non imitare l‘un l‘altro pittore: Un pittore non deve mai imitare la maniera d‘un altro, perche sarà detto nipote e non figlio della natura; perche essendo le cose naturali in tanto larga abbondanza, più tosto si deve ricorrere ad essa natura, che alli maestri, che da quella hanno imparato.“ Vgl. Vinci 1989, S. 52, Von der Nachahmung anderer Maler: „Ich sage zu den Malern, dass nie einer die Manier eines anderen nachahmen soll; denn er wird, was die Kunst betrifft, nicht ein Sohn, sondern ein Enkel der Natur genannt werden. Weil nämlich die natürlichen Dinge in so großer Fülle vorhanden sind, so will und soll man sich viel eher an sie wenden, als zu den Meistern seine Zuflucht nehmen, die von ihr gelernt haben.“
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De’ veri precetti della pittura – Von den wahren Grundlagen der Malerei.31 Der Text liefert wertvolle Informationen über die Künstlerausbildung im 16. Jahrhundert. Er enthält eine Vielzahl von praktischen Anleitungen dazu, wie bei der Nachahmung künstlerischer Vorbilder vorzugehen sei. Für Armenini ist Kunst grundsätzlich eine lehr- und erlernbare Sache und nicht allein von gottgegebenem Talent abhängig. Durch die Formulierung klarer Regeln und den Verweis auf klassische Vorbilder soll jungen Malern Hilfestellung gegeben und die Kunst vor dem Niedergang bewahrt werden. Den Kern von Armeninis Kunstverständnis bildet die Annahme, dass das Fundament der Kunst nichts anderes als Nachahmung sei.32 Der Schwerpunkt künstlerischer Nachahmung liege im Studium der Werke anderer Meister, seien es antike oder zeitgenössische Vorbilder, und nicht im Studium der Natur. Es reiche nicht aus, Natur zu imitieren, denn die unvollkommene Natur bliebe hinter dem besonders in antiken Bildwerken durch Selektion erreichten Ideal zurück. Wenn man schon Natur nachahme, dann solle man sich am Beispiel des antiken Malers Zeuxis orientieren, welcher, laut einer von Plinius überlieferten Schilderung, die schönsten Teile von fünf Frauen aus Kroton zeichnend auswählte, um daraus kraft eigener Imagination das vollkommene Bildnis einer Helena zu schaffen.33 Denn das letzte Ziel der Malkunst ist 31
Quellen: Giovanni Battista Armenini, On the true precepts of the art of painting, hrsg. von Edward J. Olszewski (Übersetzer), ohne Ort: Burt Franklin 1977 und Giovanni Battista Armenini, De’ veri precetti della pittura, hrsg. von Marina Gorreri, Turin: Giulio Einaudi 1988 [Ravenna 1587]. Online Datenbank Art Theorists of the Italian Renaissance, Chadwyck und Healey Ltd. 1998. Giovanni Battista Armenini wurde um 1533 in Faenza geboren. Aufgrund seines Fachwissens und diverser Selbstaussagen können wir annehmen, dass Armenini selbst als Maler tätig war, auch wenn er keinen Epochen überdauernden Ruhm erhielt. Ein einziges heute bekanntes Werk kann ihm sicher zugewiesen werden, nämlich das Gemälde der Himmelfahrt Mariens in der Pinakothek in Faenza. Von 1549 bis 1556 lebte er in Rom, bevor er neun Jahre lang Norditalien bereiste. 1564 wurde er zum Priester geweiht. Er starb 1609. Die erste Auflage des Traktats von 1586 enthält eine Widmung an den Herzog Wilhelm von Mantua, verfasst vom Verleger Francesco Tebaldini. Weitere Auflagen: Venedig, 1678: Mailand 1820, verlegt von Stefano Ticozzi; Pisa 1823, mit einer Biografie Armeninis, ebenfalls von Ticozzi verlegt. 32 Online Datenbank Art Theorists of the Renaissance, Chadwyck und Healey Ltd. 1998, Armenini, Buch 1, Kapitel 2, S. 23, Vgl. Armenini 1988, S. 37: „Onde per venire alla vera dichiarazione, è da sapere, che la pittura altro nô è, che imitazione, […], e il Pittore, altro ancor egli nô è, che imitatore, perciocché sempre si rappresenta la forma di qualche cosa, ò insensibile, ò sensibile che sia.” Eine einheitliche Sprachregelung, wie der Begriff der Nachahmung zu verstehen und zu verwenden sei, hat sich bis heute nicht durchgesetzt. Vgl. Ueding 1992–2009, Bd. IV, Hu-K, Stichwort imitatio, Sp. 235–239. 33 Hier bezieht sich Armenini klar auf die Thesen Albertis, vgl. Anm. Nr. 27, S. 73. Armenini, Buch 2, Kapitel 3, S. 88–89, siehe Armenini 1988, S. 108–109. Vgl. Blunt 1956, S. 155. Die Nachahmung der Natur gelingt, laut Armenini, überall dort nicht, wo sie nicht durch das an der Antike geschulte Ideal veredelt wird. Vgl. Armenini, Buch 1, Kapitel 6, S. 48–49 und Armenini 1988, S. 64: „Né qui ci vale il dire che siano bastevoli da per tutto le cose naturali e che in ogni luogo si trovi, e che colui si può tener sufficiente, il quale si è veduto imitarle bene, il che non si concede cosi di leggieri, perché fra noi si sa e da per tutto si vede che è disprezzato quel naturale, il quale non è da maniera antica e gagliarda aiutata da chi se ne serve per tutte le cose sue.“
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nicht die Naturwahrheit, sondern die Schönheit. Dieser eklektizistische Ansatz wird von Armenini insofern präzisiert, als es darauf ankäme, die ausgewählten Elemente auf der Grundlage eines eigenen sicheren Stils auf eine harmonische Weise im neu geschaffenen Werk miteinander zu verknüpfen. Man soll sich die fremden Vorlagen in einem solchen Maß aneignen, dass die Anleihen eine ausgewogene Komposition ergeben und die Figuren einander in natürlicher Haltung ergänzen. Durch kleine Veränderungen an den Entlehnungen sollen diese sogar wie eigene Erfindungen wirken.34 Das kontinuierliche Studium der Werke anderer Künstler bildet daher die entscheidende Grundlage für die Kunstfertigkeit eines Malers, ähnlich wie bei einem Dichter, der viele andere Bücher lesen muss, um selbst ein beachtenswertes Werk zu schaffen.35 Doch solle man keinesfalls in der Entwicklung dabei stehen bleiben, nach den Werken anderer Meister zu arbeiten, sondern die Studien lediglich zum Fundament der eigenen Kunst machen.
Die einzelnen Stufen der Künstlerausbildung nach Giovanni Battista Armenini Hinsichtlich konkreter Empfehlungen äußert sich Armenini im 7. Kapitel des 1. Buchs wie folgt: Man beginne damit, nach von erfahrener Hand gezeichneten Vorbildern einzelne Körperteile, wie Augen, Mund und Nase zu zeichnen.36 Die gezeichnete Vorlage imitiere man, laut Armenini, punktgenau, da die Essenz des Nachahmens darin bestehe, so genau zu kopieren, dass es unmöglich werde zu unterscheiden, welche der beiden Zeichnungen die Nachahmung sei.37 Eine bemerkenswerte künstlerische Entsprechung zum Ratschlag des Kopierens einzelner Körperteile nach den Werken anderer befindet sich auf dem Stich Marcantonio Raimondis Amor und drei Grazien nach einer Zeichnung Raffaels für ein Fresko in der Villa Farnesina, der sich in der
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Hier erkennt man das von Seneca [84. Epistula moralis] begründete Prinzip der Nachahmung, dass man ein Werk nie direkt kopieren, sondern jeweils der eigenen Bildsprache anpassen sollte, wie Bienen, die Nektar zu Honig verarbeiten. Armenini, Buch 1, Kapitel 6, S. 48 und Armenini 1988, S. 63–64: „sì come è necessario a’ buoni Poeti il veder molti volumi di libri, i quali trattino di materie diverse per aiuto di poter far belle, & riguardevoli le loro opere, & composizioni; cosi parimente è tenuto à fare, chi è per dovere adoperarsi à sufficienza nelle pitture.“ Armenini, Buch 1, Kapitel 7, S. 52, Vgl. Armenini 1988, S. 68–69: „Colui dunque, il qual vorrà dar principio a disegnare, preparato ch’egli s’avrà li debiti strumenti, gli è necessario che prima egli abbia alcuni essempi, che siano fatti di tratti facili e sottili da uomo prattico, i quali danno volontieri qualche cosa dell’uomo, per esser piú note, che sono occhi, bocca, orecchie, naso, testa, mani, braccia et altre simili.“ Diese Empfehlung spiegelt eine weit verbreitete Praxis wider, wie eine Vielzahl von Schülerzeichnungen nach einzelnen Körperteilen belegt. Die Empfehlung der punktgenauen Nachahmung gilt offensichtlich nur für den Anfänger, der sich an fremden Werken schult. Der erfahrene Maler ist dazu angehalten, die Vorlage zu übertreffen.
Kupferstiche als künstlerische Vorbilder 77
24 Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Amor und drei Grazien, Kupferstich, von anderer Hand bezeichnet mit diversen Nasen und einer Brust, 308 × 206 mm
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Biblioteca Apostolica Vaticana befindet (Abb. 24, Bartsch XIV.257.344).38 Ein unbekannter Zeichner hat mit dem Bleistift direkt auf der Vorderseite dieses Stichs die Profile der Frauen nachgezeichnet. Am oberen Bildrand und in den Leerstellen zwischen den Figuren verteilt findet man drei Skizzen einzelner Nasen, ein angedeutetes Gesicht im Dreiviertelprofil und eine Skizze eines Profils. Letztere entsprechen den Gesichtern der beiden weiblichen Figuren rechts auf dem Stich. Eine Brust der äußeren rechten Frau ist ebenfalls mit dem Bleistift nachgeahmt. Hier handelt es sich um erste Versuche eines Amateurs, der sich in der zeichnenden Nachahmung an dem im Stich formulierten antiken Ideal eines weiblichen Gesichtes schulen wollte. Erstaunlich ist dieses Zeugnis vor allem deshalb, weil es eine Aussage über die Wertschätzung des Stichs enthält. Offensichtlich diente der Stich Raimondis als nicht allzu hoch bewertetes Arbeitsinstrument. Hätte der anonyme Zeichner dem Stich die Bedeutung eines eigenständigen Kunstwerks beigemessen, hätte er die Vorlage wohl auf einem gesonderten Blatt zeichnend nachgeahmt und nicht den Stich selbst als Zeichenunterlage verwendet. Weiterhin lässt sich an diesem Exemplar erkennen, dass der Zeichner lediglich einzelne Teile nachgeahmt hat, die für ihn von Interesse waren. Die Vorlage als Gesamtkomposition war für ihn nicht von so großer Bedeutung, als dass er sie in Gänze zeichnend nachgeahmt hätte. Armenini empfiehlt im Anschluss an das Zeichnen nach gezeichneten Vorlagen einzelner Teile des menschlichen Körpers das Zeichnen nach solchen Entwürfen, die in Kupfer geschnitten und gedruckt sind. Darauf solle man so viel Zeit und Übung verwenden wie nötig, bis man diese Form der Nachahmung perfekt beherrsche: Dann beginne man, die Zeichnungen nachzuzeichnen, die gestochen und in Kupfer gedruckt sind. Ich wünsche, dass man darauf so viel Fleiß und Zeit verwende, wie nötig ist, bis man die Nachahmung sicher beherrscht. Dieses Vorgehen war üblicher bei den Malern der vergangenen 100 Jahre, die nicht viel anderes als diese Darstellungen verwendeten, und ich verurteile das nicht, weil es die Hand geschickt, leicht und sicher erhält und weil es viele in ihrem Zeicheneifer bremst und sie aufmerksam macht, denn sobald sie die ersten Linien oder Striche gesetzt haben, auch wenn sie nicht gut gezogen sind oder nicht am rechten Ort sind, können sie sie nicht mehr löschen, ohne dass Flecken bleiben, seien es wenige oder viele, es bleibt eine schlechte und hässliche Sache, diese Linien nachzuzeichnen. Deshalb ist diese Fähigkeit vielleicht wichtiger, als es die meisten erachten, und umso mehr halte ich es für ein nützliches und hilfreiches Mittel für jene, welche vollendete Kartons herstellen wegen der Anforderungen ihrer Werke. Daneben ist es sehr geeignet für die Schwierigkeit, Akte zu malen, besonders für jene Künstler, die Fresken herstellen, wenn 38
Anonymer Zeichner auf Kupferstich von Marcantonio Raimondi, Amor und drei Grazien, Bartsch XIV.257.344, Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Inv. Nr. Stampe: V.4 tavola 155.
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sie sie gut vollenden wollen. Aber weil Viele sich zu sehr verlieren, spare ich nicht mit Warnung an den, der sich zu sehr in die zu kleinen Strichelchen verliebt, die man in einigen gedruckten Blättern, wie denen von Albrecht Dürer, findet. Sie sind von sehr zeitraubender Art und man weiß nicht, wie man sich von ihrer Kleinteiligkeit lösen soll. Auch wenn sie sehr schön anzuschauen sind, sind sie nur nützlich für die Kupferstecher und nicht für die Zeichner, denen jene Wege aufgezeigt werden müssen, wie man schnell und ohne Unterlass zeichnet.39 Es ist Armenini bewusst, dass Zeichnungen, die mit Feder, Rötel, Kohle oder Tuschelavierungen angefertigt werden, eine vollkommen andere Linienart erfordern, als ein Kupferstich, bei dem in aufwendigen Schraffuren das Wechselspiel von Licht und Schatten dargestellt und die einzelnen Bildfiguren hervorgehoben werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Zeichnen nach Kupferstichen für Armenini ein wesentliches Instrument der Ausbildung eines Künstlers ist, sich aber nicht mehr für den reifen Künstler eignet.40 Nachdem man sich im Zeichnen nach Zeichnungen und Kupferstichen geübt hat, gehe man zur Nachahmung von Gemälden oder antiken Skulpturen über. Beim Kopieren nach Gemälden beginne man mit Vorbildern der Grisaille Malerei, beispielsweise mit dem gemalten Fassadenschmuck des Polidoro da Caravaggio (um 1495–1543), der wie ein Wörterbuch der Kunst zu verwenden sei. Erst, wenn man einen sicheren
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Das Zitat ist eine eigene Übersetzung nach Armenini, Buch 1, Kapitel 7, S. 53–54, Vgl. Armenini 1988, S. 69–70: „Ed indi si perviene al ritrarre i disegni, che sono intagliati, e stampati sul rame, sopra i quali io vorrei che tanto studio, e tempo vi si dovesse porre, quanto essi conoscessero esser atti à saperli imitare. Or questo modo fu più usato assai da’ Pittori passati cento anni sono, conciosia che essi poco altro usavano che i ritratti, nè io perciò la biasimo, conciosia che questa via mantien la mano destra, leggierissima, e sicura, ed à molti poi, per la furia ch’essi hanno in disegnare, li raffrena, e li tiene avertiti, perciocché posto che si sono i primi lineamenti, o vero tratti, dove si siano, se quelli per sorte non vengon ben tirati, o che non siano à punto à i propri luoghi loro, essi non li possono già scancellare, che non vi resti la macchia, o poco, o molto che si sia, onde è cosa schifa, e brutta à ritornarvi poi sopra di novo, si che questa facoltà è forse migliore, che molti non stimano, e io ci trovo ancor questo di più, che riesce molto utile, e espediente per quelli, che fanno i cartoni finiti per i bisogni delle opere loro e appresso per le difficoltà degli ignudi, è giovevole molto, e massime per quelli che si sogliono lavorare in fresco, per volerli finir bene. Ma di poi perché molti in ciò si perdono troppo, io non intendo, nè manco consiglio niuno, che si voglia invaghire sù quei trattolini troppo minuti, i quali, sono in alcune carte in stampa, si come sono di quelle d’Alberto Durero, di maniera che da essi si consuma il tempo, per non sapersi levare da quelle loro minutezze, perciò che, se ben quelli son bellissimi à vederli, quanto all’utile poi, sono giovevoli agli intagliatori, ma non a i disegnatori, à i quali li devono esser mostrate quelle vie, le quali per essi siano espedite, e senza stento.” Die besondere Empfehlung des Zeichnens nach Kupferstichen für jene, die vollendete Kartons herstellen oder all’affresco arbeiten, wird nur verständlich, wenn man die weiteren Ausführungen des Traktats berücksichtigt. Darin wird offensichtlich, dass Armenini Kartons und Fresken als den Gipfel der Kunstfertigkeit und als das eigentliche Ziel jeder Künstlerausbildung betrachtet.
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eigenen Stil habe, solle man beginnen, nach farbigen Gemälden zu kopieren. Hier werden namentlich Raffael, Sebastiano del Piombo (Sebastiano Luciani, 1485–1547) und Perino del Vaga (Pietro Buonaccorsi, 1501–1547) als geeignete Vorbilder genannt.41 Parallel dazu solle man immer wieder zum Kopieren nach Antiken zurückkehren, weil man von ihnen mehr lerne, als von sämtlichen anderen Vorbildern, da sie wahrer und lebensnaher seien. Das letzte und höchste Vorbild jedoch sei die Sixtinische Kapelle des Michelangelo mit den Deckengemälden und dem Jüngsten Gericht.42 Hier wird also bereits ein fester Kanon an nachahmenswerten künstlerischen Vorbildern genannt, der für lange Zeit verbindlich bleiben sollte. Es wird deutlich, dass Armenini die Nachahmung von Kunstwerken je nach Schwierigkeitsgrad der Übertragung gliedert. Man beginne mit monochromen Vorbildern, bevor man eine farbige Vorlage wählt. Ebenfalls beginne man erst mit Detailskizzen, bevor man ganze Kompositionen nachahmt. Dem Anfänger legt Armenini nahe, die Vorlage punktgenau zu imitieren, doch vom geschulten Künstler erwartet er einen schöpferischen Umgang mit den Vorbildern, verbunden mit dem Ziel, das Vorbild zu übertreffen: Die Gedanken zusammenfassend über jene, die aufgrund ihres Kleingeists nicht über Erfindungsgabe verfügen, glaube ich, dass sie sich, solange sie ausreichend Kunsturteil besitzen, mit Geschick der Dinge anderer bedienen können, ohne sich jeglichen Tadel zukommen zu lassen, […], vorausgesetzt, man gibt Acht darauf, sie mit einigen Veränderungen anzupassen, und vorausgesetzt, man hat die Fähigkeit, sie so erscheinen zu lassen, als seien sie dem eigenen Geist entsprungen. Das erreicht man, indem man sich in einigen Teilen [vom Vorbild] entfernt und es so sehr wie möglich, dem eigenen Stil annähert, welcher auch immer es sei, dies tue man mit dem Ziel, [die Entlehnungen] in Qualität und Form zu übertreffen, was vielen leicht fällt. Jegliche Figur kann durch geringe Veränderung einzelner Teile deutlich von der ursprünglichen Form abweichen, zum Beispiel durch die Wendung oder geringe Veränderung des Kopfes oder das Heben eines Arms, Entfernen eines Tuches oder Hinzufügen von Tüchern in anderer Weise oder an anderen Stellen, durch Umwenden oder Verwischen der Zeichnung mit geringem Aufwand, oder durch die Vorstellung, es handele sich um eine rundes Relief. All dies führt dazu, dass sie nicht mehr wie dieselbe Figur aussieht, weshalb es uns gefällt, welche wundersame Kraft und große Hilfe für jegliches schwächste Talent daraus hervorgeht.43 41 42 43
Armenini, 1. Buch, 7. Kapitel, S. 58, Vgl. Armenini 1988, S. 74. An dieser Stelle hört man deutlich Vasari heraus, der ebenfalls Michelangelos Kunst über alles Andere stellte. Das Zitat ist ebenfalls eine eigene Übersetzung nach: Armenini, Buch 1, Kapitel 9, S. 78, Vgl. Armenini 1988, S. 95: „Ma ripigliando il ragionare sopra di quelli, che per loro meschinità non possiedono invenzione alcuna, di questi; quando però il giudizio li serva, stimo che delle cose altrui essi si possano con destrezza aiutar molto senza riportarne alcun biasimo, […], pur che si abbia avvertimento di ridurle con qualche mutazione, & tenere una certa facoltà,
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Armenini gibt in dieser Quelle sehr genaue Hinweise darauf, wie eine aus einer Vorlage entlehnte Figur zu verändern sei. Alle diese Hilfsmittel dienen dazu, eine Figur nicht länger als dieselbe erscheinen zu lassen. Der Fantasie der Künstler waren in der Umwandlung von Entlehnungen kaum Grenzen gesetzt. Doch fällt auf, dass Armenini dieses Vorgehen allein den ‚kleingeistigen‘ Künstlern empfiehlt, die keine Erfindungsgabe besitzen. Er wertet dieses Vorgehen ab als sehr hilfreich auch für das schwächste Talent – „qualunque ingegno debolissimo“.44 Deshalb wird klar, warum man so viel Mühe darauf verwenden solle, Entlehnungen zu verändern und damit die Quelle zu verschleiern: Man soll sich nämlich möglichst nicht dabei auf die Schliche kommen lassen, dass man es nötig hat, auf die Erfindungen anderer zurückzugreifen. Auch Vasari spricht in seiner Biografie Marcantonio Raimondis davon, dass die kleinen und vielgestaltigen Stiche Raimondis mit Heiligenfiguren gerade für die ‚armen‘ Maler geschaffen worden seien, die über wenig Erfindungsgeist verfügen.45 Beide Autoren weisen darauf hin, dass das Zeichnen nach Kupferstichen eine durchaus übliche Methode zur Ausbildung in den Künstlerwerkstätten des 16. Jahrhunderts war und auch etablierte Künstler Druckgrafik als Motivquelle nutzten. Doch werten sie es in den genannten Zitaten nicht als ein rühmliches Vorgehen begabter und geistreicher Künstler, sondern lediglich als ein nützliches Hilfsmittel für Schüler, dessen Gebrauch nach Möglichkeit verborgen werden soll. Vasari warnt zudem ausdrücklich davor, bei der Entlehnung von Motiven zu versuchen, sich dem Stil der druckgrafischen Vorlage anzupassen, weil dadurch der eigene Stil verdorben würde. Dies schildert er eindrücklich am Beispiel Jacopo Pontormos (1494–1557), der nach Dürers Großer und Kleiner Holzschnittpassion fünf Fresken mit Passionsszenen im Kreuzgang des Kartäuserklosters San Lorenzo al Monte in Galluzzo anfertigte.46
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che paiano esser nate, & fabbricate per suo proprio ingegno, il che si fa cercando scostarsene con l’altre parti, & farle al più che si può conforme alla sua maniera, quale ella si sia, & si faccia con animo di avanzarli di bontà, & di forma, il che si conseguisce da molti agevolmente. Conciosia cosa che qualunque figura; per poca mutazione d’alcuni membri; si leva assai della sua prima forma, perciò che col rivoltarle, ò con mutarli un poco la testa, o alzarli un braccio, torli via un panno, o giungerne in altra parte, o in altro modo, ò rivoltar quel disegno, ovvero ungerlo per minor fatica, o pur con l’immaginarselo che sia di tondo rilievo, pare che non sia più quello, […], laonde ci piace che mirabil forza ne apporti, & à qualunque ingegno debolissimo aiuto grande.” Armenini, Buch 1, Kapitel 9, S. 78: „Ma però bisogna che quelle mutazioni siano condotte di maniera e si sappiano fare in modo, che non paia ch’elle vi stiano come in prestito.” Vgl. Anm. Nr. 3, S. 63. Vasari 2004b, S. 36–37: „Daher gedachte Jacopo, der in den Ecken jenes Kreuzgangs Szenen der Passion des Erlösers malen sollte, sich der Einfälle des oben genannten Albrecht Dürers zu bedienen, im festen Glauben, damit nicht nur sich selbst, sondern auch dem Großteil der Florentiner Künstler Genüge zu tun, die alle die Schönheit dieser Drucke und ihre Vortrefflichkeit durchweg einvernehmlich und in einhelligem Urteil priesen. Als sich nun Jacopo daran machte, jenen Stil zu imitieren, indem er versuchte, dem Aussehen der Köpfe seiner Figuren jene Lebendigkeit und Vielfalt zu verleihen, die Albrecht ihnen gab, übernahm er ihn in einem Maß, dass der Liebreiz seines früheren Stils voll Zartheit und Anmut, die ihm die Natur mitgegeben hatte, von dieser neuen Beschäftigung und Anstrengung verdorben
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Auch wenn hier der Eindruck entsteht, dass beide Autoren Entlehnungen aus anderen Werken gering schätzen, handelte es sich um eine weit verbreitete Praxis, die an anderer Stelle auch mit positiven Konnotationen erwähnt wird. Armenini lobt nämlich Perino del Vaga, der neben Skizzen nach antiken Bildwerken auch Zeichnungen nach Kupferstichen italienischer und deutscher Meister anfertigte. Seine Meisterschaft liege gerade darin, die Vorbilder so geschickt zu verändern und zu ergänzen, dass selbst der geübte Betrachter nicht mehr erraten kann, auf welche Vorbilder er zurückgreift.47 Sobald man selbst über einen eigenen reifen Stil verfügt und mit Leichtigkeit die Erfindungen anderer in die eigene Bildsprache integriert, kann einem auch der Rückgriff auf Werke anderer Meister zur Ehre gereichen.
Empfehlungen über den Umgang mit Druckgrafik in Traktaten nördlich der Alpen In der holländischen Kunstliteratur war Willem Goeree (1635–1711) der Erste, der sich mit dem Kopieren nach Druckgrafik als Teil der Künstlerausbildung theoretisch auseinandersetzte. In seiner fünfbändigen „Einführung in die allgemeine Zeichenkunst“ entwickelte er ein umfassendes Programm zur Ausbildung eines Künstlers durch Zeichnungen. Sein Programm besteht, in Anlehnung an die Theorie Leonardo da Vincis, aus fünf Schritten, gegliedert nach zunehmendem Schwierigkeitsgrad des zeichnenden Studiums. Dabei bildet das Zeichnen nach Kupferstichen einen der ersten Schritte der praktischen Ausbildung. Darauf folgt das Zeichnen nach Zeichnungen, Gemälden, Gipsabgüssen und schließlich nach dem lebenden Modell.48 Während die ersten vier Stufen der Ausbildung im Rahmen der Werkstatt eines Meisters erfolgen, solle man sich zum Aktzeichnen zu größeren Gruppen innerhalb eines Kollegs zusammenschließen. Goeree äußert sich besonders in der ersten Auflage (1668) abwertend über das Zeichnen nach Stichen und vertritt die Auffassung, das Kopieren gut ausgeführter Zeichnungen sei viel nützlicher als das Zeichnen nach Stichen, weil Stiche über die Linienführung, die Ausführung von Hell-Dunkel-Kontrasten, Zeichenstil oder die Benutzung verschiedener Zeichenmittel nichts lehren könnten. In der zweiten Auflage seines Traktats (1670) präzisiert er diese Aussage und revidiert sie
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und von dem unglücklichen Umstand dieses deutschen Stils so geschädigt wurde, dass man in all diesen Werken, so schön sie auch sein mögen, fast nichts von jener Güte und Anmut erkennen kann, mit denen er bis dahin alle seine Figuren gestaltete.“ Vgl. Vasari 1973, Bd. VI, S. 266–267. Die genannten Fresken Pontormos befinden sich heute in der Pinakothek des Klosters. Armenini, 1. Buch, 8. Kapitel, S. 65 , Vgl. Armenini 1988, S. 81–82: „le riduceva in modo tale, con quella sua leggiadra maniera, ch’era cosa difficile da’ ben pratichi a conoscere di dove egli cavate le avesse. […] Sí che si conchiude alla fine che, presa che si ha la bella maniera, si può servire con facilità delle cose altrui e con poca fatica adoperarle come sue proprie, e farsi onore senza riportarne biasimo da niuno.” Klerk 1989, S. 284.
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zum Teil. Nun empfiehlt er das Zeichnen nach Kupferstichen ausschließlich fortgeschrittenen Schülern, die bereits über einen eigenen Zeichenstil verfügen und begonnen haben, eigenständig zu arbeiten.49 Kurioserweise erwähnt er, dass das Zeichnen nach Drucken am besten geeignet sei für lange Winterabende. Ebenfalls weist er ausdrücklich darauf hin, dass man nicht die gesamte Komposition eines Stichs wiederholen solle, sondern nur die besten Teile daraus, damit durch das wiederholte Kopieren schöner Dinge die eigene Handfertigkeit geschult und der Geist mit herrlichen Erfindungen angefüllt werde – ein Hinweis, der in der künstlerischen Praxis eine breite Entsprechung fand, wie in den folgenden Ausführungen noch deutlich werden wird. In seinem Traktat über die „Kunst der Malerei“ (1670) geht Goeree erneut auf das Zeichnen nach Stichen als Teil der Künstlerausbildung ein. Er warnt davor, dass man in Gefahr sei, „durch die Brille eines anderen zu schauen“ und nicht selbstständig seine eigene Vorstellungskraft zu entwickeln, wenn man die Kompositionen anderer vollständig wiederhole. Man solle sich im Studium von Drucken nur das für das eigene Bildgedächtnis aneignen, was ein Druck vorteilhaft vermitteln kann, nämlich schöne Kompositionen, ungewöhnliche Bildideen und besondere Beobachtungen. Wie auch Armenini, macht Goeree deutlich, dass es darauf ankommt, die Bilderfindungen anderer in die eigene Bildsprache zu verwandeln. Es geht also um einen Aneignungsprozess, der über das bloße Wiederholen einer Komposition weit hinausgeht. Goeree unterscheidet daher zwischen simplen Kopien (simpel na-copieeren) und meisterhaften Studien (meesterlijck studeeren). Letztere bedeuten das kritische Durchdenken der Vorlage und die Korrektur von möglichen Fehlern. Goerees Ausführungen liegt also die Idee der aemulatio – des kritischen Überwindens der Vorlage – zugrunde. Er schließt mit der Nennung eines Kanons von studierenswerten gedruckten Vorbildern nach antiken Skulpturen und Gemälden. Auch Karel van Mander (1548–1606) empfiehlt das Studium der Druckgrafik in seinem Lehrgedicht Den Grondt der Edel Vry Schilder-Const, das 1604 als erster Teil des Schilderboeck erschien. Besonders rät er zum Kopieren von Chiaroscuro Holzschnitten, um die Verteilung von Licht und Schatten, also die Verwendung von Weißhöhungen und dunklen Lavierungen in der Zeichnung zu üben.50 Als ein mögliches
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Goeree 1998, S. 13–14, vgl. Kommentar S. 48: „soo willen wy hier den eersten trap van oeffeninghe aenwijsen, namentlijck dat men haer seer neerstigh besich houdt, in het na Teyckenen, van goede, el-gehandelde en wytvoerige Teyckeningen, welcke ick oordeele veel nuttiger en bequamer te zijn dan eenighe Print-kunst, de reden daer van is, om datse in een goede Teyckeningh, niet alleen en sien de schickinghe, valte Teyckeningh, dagh en schaduwe, maer sy sien oock met eenen de maniere van handelinge ende Teyckeninge, t’ welcke sy in een Print niet en sien, ende by-gevolgh daer oock niet uyt en konnen leeren.“ Mander 1973, Bd. I, S. 103, Kapitel 2, Vers 12, Vgl. Bd. II, S. 433–434: „Goede prenten met grondtint en effectieve hoogsels hebben menige geest de ogen geopend; zo bijvoorbeeld die van de beroemde Parmigianino en anderen. Dus, om vruchtbaar te zijn in de kunst, ent je geest met zulke loten. Of werk naar iets goeds van pleister gegoten, en let er goed op hoe je de lichten aanbrengt; want de hoogsels spreken waarlijk hun woordje mee.“
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Vorbild nennt er dabei Parmigianino. Zudem gibt er eine passende Umschreibung dafür, wie man die einzelnen Entlehnungen geschickt in neue Werke integriert: Stiehlt Arme, Beine, Körper, Hände, Füße. Es ist hier nicht verboten, wer es will, muss die Rolle des Rapiamus gut spielen. Gut gekochte Rüben ergeben eine gute Suppe.51 Es ist nicht verboten, viele einzelne Körperteile aus den Vorlagen zu entnehmen, doch muss man seine Entlehnungen geschickt verschleiern. Im letzten Satz dieses Verses benutzt van Mander ein Wortspiel. Das holländische Wort rapen meint sowohl Rüben als auch den Raub. Wenn man die Rüben gut kocht, ergibt es eine gute Suppe. Wenn man also die entlehnten Zitate geschickt zu einer neuen sinnvollen Einheit kombiniert und sie der eigenen Darstellungsweise anpasst, kann man ein ordentliches Kunstwerk schaffen. In der Lebensbeschreibung von Cornelis Ketel (1548–1616) berichtet van Mander, dieser habe seinen Schüler Isaac Oserijn durch das Zeichnen nach einem Stich Cornelis Corts unterrichtet mit dem Ziel einer möglichst großen Ähnlichkeit zum gedruckten Vorbild. Erst nachdem Oserijn die Aufgabe gut bestanden hatte, wurde er zum Malen zugelassen.52 Im Leben des Michiel Coxcie (1499–1592) weist van Mander jedoch auf den peinlichen Umstand hin, dass durch die immer größere Verbreitung von Druckgrafik manche unschöpferische Entlehnung durch einen Künstler offensichtlich wurde. Coxcie hatte nach einem Stich nach Raffaels Schule von Athen große Teile seines Altarbildes Der Tod Mariens geschaffen. Als Hieronymus Cock diesen Stich verlegte, wurde es den Kunstkennern offensichtlich, dass dies keine eigenschöpferische Leistung war.53 Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts ändert sich die kunsttheoretische Einstellung gegenüber dem Umgang der Künstler mit Stichen. Das Kopieren einzelner Figuren 51
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Das Zitat ist eine eigene Übersetzung nach: Mander 1973, Bd. I, S. 86, Kapitel 1, Vers 46, Vgl. Broos 1985, S. 12–13: „Steel hebzuchtig armen, benen, rompen, handen, voeten. Het is hier niet verboden; wie willen die moeten wel de rol van Rapiamus spelen. Goed gekookte rapen is goede soep.“ Mander 1994–1998, Bd. I, S. 378 (fol 280r): „Among other good pupils who he has had was a Isaac Oserijn, born in Copenhagen. […] When he came to Ketel, Ketel had him copy a print in his own way, one of the deeds or labours of Hercules which Cort had engraved after Floris. When he had done that he had him do it again under his guidance, and had him scratch out his own botched job. Then it was astonishing to see the great difference from the former, and the similarity to the print, so that he was straight away put to painting.“ Vgl. Kwakkelstein 2000, S. 45. Weiterhin führt van Mander aus, Bartholomäus Spranger habe Drucke von Parmigianino und Frans Floris kopiert. Ebenda, S. 334 (fol 269r). Mander 1994–1998, Bd. I, S. 293, folio 258 v: „He was not copious in his composition and in fact made use of Italian designs now and then; for this reason he rather took offence with Jeroon Cock when he published in print the School of Raphael, after which he had worked and from which he had used a great deal for the altarpiece with the Death of Mary in the St. Goelen in Brussels, which then became clear to everyone.“
Kupferstiche als künstlerische Vorbilder 85
oder ganzer Kompositionen aus Stichen wurde nun mehrheitlich als schlechte Angewohnheit abgewertet. Gérard de Lairesse schreibt im Groot Schilderboeck (1707), er kenne viele Künstler, deren Werk komplett von fremden Vorbildern abhängig sei.54 Sie würden sämtliche Stiche, Zeichnungen und akademische Studien zusammenwerfen, um einen Arm hieraus, ein Bein daraus, ein Gesicht hier oder ein Gewand dort zu entlehnen. Man hört aus diesen Worten deutlich Karel van Manders Lehrgedicht heraus, das nun bis zur Lächerlichkeit übertrieben wird. De Lairesse rät, höchstens im Geiste eines vorbildlichen Künstlers zu malen, aber keine direkten Entlehnungen vorzunehmen, es sei denn für landschaftliche Hintergründe, wie Ruinen, Bäume, Steine oder Brunnen. Wer nicht nach dem Leben zeichne, werde nie ein richtiger Künstler mit eigener Erfindungsgabe werden. 1699 hat auch Roger de Piles auf die Nützlichkeit von Druckgrafik für Künstler hingewiesen. Er weist die Maler nicht explizit dazu an, nach Kupferstichen zu zeichnen, jedoch hält er es für notwendig, durch Anschauung von den Vorbildern zu lernen: [Les estampes sont utiles] aux peintres, tout ce qui peut les fortifier dans les parties de leur art ; comme les ouvrages antiques, ceux de Raphaël & du Carache pour le bon goût, pour la correction du dessein, pour la grandeur de manière, pour le chois des airs de tête, des passions de l’âme, & des attitudes.55 Neben den Künstlern empfiehlt de Piles das Studium der Druckgrafik aber vor allem Connaisseuren und Kunstliebhabern, da mittels der Grafik in viel umfassenderer Weise Werke einzelner Künstler miteinander verglichen und ihre jeweilige Entwicklung nachvollzogen werden könne. Die Betrachtung der Grafik hat sich hier vom nützlichen Arbeitsinstrument für Künstler zum Mittel der Aneignung von Wissen und Geschmack gewandelt, weil man durch bildliche Anschauung schneller lerne als durch das Studium von Büchern.56
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Lairesse 1969, S. 50–51: „Zy, zo haast zy iets zullen aanvangen, het zy Geschiedenis, Zinnebeld of Fabel, haalen het met stukken en brokken by een, werpende al hun printen, teekeningen en Collegiebelden overhoop, neemende uit de eene een arm, uit deze een been, hier een tronie, daar een kleed, en uit andere het lichaam, en dus hun geheele ordinantie ann een flanssende. […] Verre van door zulks te doen voordeel te vinden, bewerken zy hen zelf een groote schaade; zy verachten het leeven, ja vergeeten meenigmaal het zelve; streeven tegens alle grondreegelen aan, buiten welke het onmogelyk is een goed uitvinder te worden, daar zy dezelve opvolgende, met meer gemak, grooter nut en eere bekomen zoude.” Piles 1969 [1699], S. 80. Ebenda, S. 85.
86 Kupferstiche als künstlerische Vorbilder
Ergebnisse Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Zeichnen nach Kupferstichen am Ende des 16. und vor allem im 17. Jahrhundert eine weit verbreitete Praxis war, die in verschiedenen Traktaten über die Kunst der Malerei erwähnt wird. Vor allem handelt es sich dabei um eine Etappe in der Ausbildung junger Künstler, die sich zunächst an zweidimensionalen Modellen schulen sollten, bevor sie nach Gipsabgüssen und lebenden Modellen zeichnen durften. Allerdings wird in den Traktaten jeweils davor gewarnt, sich an der Art der Linienführung von Kupferstichen zu orientieren und sich zu sehr von den gestochenen Modellen prägen zu lassen. Zwar ist das Zeichnen nach Kupferstichen vor allem ein nützliches Hilfsmittel zur Schulung der eigenen Hand, doch ist es auch dem reifen Künstler nicht verboten, auf Kupferstiche als Vorbilder zurückzugreifen. Dem erfahrenen Maler sollen Kupferstiche vor allem als Quelle ungewöhnlicher Motive und Bildkompositionen dienen, nicht aber vorrangig als stilistisches Vorbild. Wenn ein Künstler Erfindungen aus gestochenen Vorlagen entlehnt, soll er sie daher seiner eigenen Darstellungsweise anpassen. Bei der Entlehnung von Motiven aus verschiedenen Vorbildern ist es wichtig, die Anleihen auf harmonische Weise miteinander zu verbinden. So fand die Ausbildung von Künstlern zu großen Teilen nicht vor Originalen statt, sondern dem lernenden Maler standen lediglich Nachbilder originaler Werke zur Verfügung, seien es Gipsabgüsse anstelle von Skulpturen oder gestochene Reproduktionen anstelle von Malerei. Es lassen sich verschiedene Kontexte hinsichtlich der Aneignung von Kupferstichen von einander abgrenzen, nämlich einerseits während der praktischen Ausbildung von Künstlern und andererseits als Entlehnung einzelner Motive im Rahmen der Bildschöpfungen etablierter Künstler.57 Schließlich wird das Zeichnen nach Kupferstichen als Freizeitbeschäftigung des Connaisseurs empfohlen.
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Kwakkelstein 2000, S. 41: „In studying copies by old masters it is very important to keep in mind the distinction between copies by pupils as opposed to those by fully qualified artists, […], pupils copied in order to learn the arts of drawing and imitation, to acquire a desirable drawing style and to commit as many forms as possible to memory. Mature artists also copied to learn, but more importantly they did so to build up a supply of themes, motifs, figures, compositional themes, and so forth, on which they could draw for their own inventions.“
Die Rezeption der Kupferstiche Marcantonio Raimondis
Überblick Die im Folgenden analysierten Beispiele für künstlerische Reaktionen auf die Stiche Raimondis stammen aus dem Untersuchungszeitraum von 1510 bis 1700. Den Untersuchungsgegenstand bilden ausschließlich freihändige Kopien nach gestochenen Vorlagen, seien es Aneignungen im Medium der Druckgrafik, gezeichnete oder gemalte Nachahmungen. Das Material ist in der Weise gegliedert, dass eine Entwicklung erkennbar wird, die von geringen Abweichungen von der gestochenen Vorlage zu umfassenden Transformationen und Übertragungen in andere künstlerische Ausdrucksformen reicht. Zunächst werden einzelne Stiche Raimondis vorgestellt, die Spuren künstlerischer Bearbeitung aufweisen, seien es Quadrierungen oder Zeichnungen auf den Stichen selbst. Anschliessend werden zwei Zeichnungen erläutert, die Raimondis Stiche liniengetreu in Federzeichnungen übertragen. Da dies eine technische und funktionale Ausnahme darstellt, verdienen diese Werke besondere Beachtung. Die Spannweite der Interpretation und Wirkung der Stiche Raimondis soll zudem exemplarisch anhand verschiedener Bearbeitungen des Stichs der Kreuzabnahme demonstriert werden, die von Tapisserien, über Tafel- und Buchmalerei bis hin zu Fresken reichen. Erstaunlich ist hier die frühe Verbreitung der Stiche Raimondis über große räumliche Distanzen hinweg, denn es ließ sich ein Beleg dafür finden, dass ein Abzug von Raimondis Kreuzabnahme bereits um 1598 in Lahore im heutigen Pakistan zu finden war. Des Weiteren werden in chronologischer Folge einzelne künstlerische Referenzen auf die Stiche Raimondis geschildert, ausgehend von Parmigianino, der vermutlich in persönlichem Kontakt zu Raimondi stand und gleichzeitig Zugang zu einzelnen Zeichnungen Raffaels hatte. Anhand des Italienischen Skizzenbuchs von Anthonis van Dyck (1599–1641), welches im British Museum aufbewahrt wird, wird schließlich
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eine weitere mögliche Funktion der Stiche demonstriert. Van Dyck machte sich zeichnend Notizen nach Stichen Raimondis, um sie besser in Erinnerung zu behalten. Er rezipierte die Stiche also in ähnlicher Form wie besonders erinnernswerte Gemälde. Es folgt eine Gegenüberstellung des Umgangs mit den Stichen Raimondis durch die Zeitgenossen Nicolas Poussin und Rembrandt van Rijn. Beide Künstler reagierten auf die Stiche in unterschiedlicher Weise vor dem Hintergrund ihrer gegensätzlichen kulturellen Umfelder. Während Poussin überwiegend in Rom lebte und daher originale Werke Raffaels und ihre Reproduktionen parallel als Vorbilder verwenden konnte, war Rembrandt auf das angewiesen, was im Amsterdamer Kunsthandel an italienischen Werken zugänglich war – und dies war vor allem Druckgrafik.1 Neben der Unterscheidung nach verschiedenen Arten der künstlerischen Nachahmung sollen die Werke daher nach kultureller Nähe respektive Ferne zur Vorlage gegliedert werden. Je nach zeitlichem, geografischem oder kulturellem Abstand der übernehmenden Künstler zu Raimondi lassen sich deutliche Unterschiede in der Art der künstlerischen Adaption erkennen. Dabei ergibt sich ein methodisches Problem: Je größer die schöpferische Eigenleistung des übernehmenden Künstlers ist, desto schwerer ist es, die zugrunde liegende Quelle offen zu legen. Einige künstlerische Anleihen werden auf diese Weise wohl für immer unentdeckt bleiben.
Quadrierte Kupferstiche Marcantonio Raimondis Bereits im Zusammenhang mit den Empfehlungen Giovanni Battista Armeninis hinsichtlich möglicher Methoden des Lernens durch gezeichnete Kopien nach Stichen wurde auf den Kupferstich Raimondis Amor und Drei Grazien aufmerksam gemacht, bei welchem sich die gezeichnete Wiederholung direkt auf der Vorderseite des Stichs befindet. Während meiner Recherchen in verschiedenen Kupferstichkabinetten konnte ich weitere Stiche Raimondis finden, die offensichtlich als Studienmaterial dienten. Diese wurden von Künstlern oder Amateuren mit einer Quadrierung versehen, um sie in ein anderes Medium zu übertragen und möglicherweise den Maßstab der Komposition zu verändern.2 Filippo Baldinucci (1624–1696) kennzeichnete diese weit verbreitete künstlerische Praxis, ein Liniennetz über die Vorlage zu zeichnen, um 1
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Sicherlich wäre es auch aufschlussreich, den Umgang mit Modellen der italienischen Druckgrafik von Peter Paul Rubens zu untersuchen und zu den genannten Künstlern in Beziehung zu setzen. Unter anderem zeichnete Rubens nach Raimondis Stich des Pan und Syrinx (Bartsch XIV.245.325), London, British Museum, Inv. Nr. 1910,0212.192, Rote Kreide, rot laviert, weiß gehöht, 217 × 175 mm. Auf diesem Gebiet hat bereits Jeremy Wood bedeutende Forschungsarbeit geleistet: Wood 2010. Auch wurde jüngst in einer Ausstellung in der Münchener Alten Pinakothek auf eindrucksvolle Weise veranschaulicht, dass Rubens zeit seines Lebens nie aufhörte, sich an vorbildlichen Werken anderer Meister zu schulen und damit seine eigene Kunstfertigkeit zu vollenden, siehe: Baumstark / Neumeister 2009. Im Rahmen dieser Arbeit kann den umfassenden und aktuellen Forschungsergebnissen zu diesem Thema nichts hinzugefügt werden. Rom, Vatikan, Biblioteca Apostilica, Inv. Nr. Stampe.V.4, fig. 155.
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sie getreu wiederholen zu können, in seinem Traktat Vocabolario toscano dell‘Arte del disegno (1681) mit den folgenden Worten: Die Maler sagen, dass sie ein [Linien-] Netz ziehen, wenn sie aus einer kleinen Zeichnung ein großes Werk machen wollen oder auch wenn sie ein Gemälde oder eine große Zeichnung kopieren wollen. Sie ziehen einige Linien in der Höhe und Breite der Zeichnung oder des Gemäldes mit gleichmäßigen Abständen, und so füllt sich durch die Überschneidungen der Linien die Zeichnung oder das Gemälde, das sie kopieren wollen, mit perfekten Quadraten, von denen jedes über einen Teil des Gemäldes fällt und es damit leichter macht, den enthaltenen Teil nachzuahmen und zu den anderen Teilen in ein Verhältnis zu setzen; weil sie im Gegenzug die gleichen Quadrate auf dem zu malenden Bild ziehen, so viel größer im Maßstab, wie sie wollen, dass das neue Werk wird, und so zeichnen sie mit großer Leichtigkeit in jedem Quadrat den Teil nach, der dem Vorbild entspricht.3 Die Methode, eine Vorlage mittels eines Liniennetzes zu übertragen, geht ursprünglich auf die von Leon Battista Alberti in seinem Traktat „Über die Malkunst“ beschriebene Vorgehensweise zurück, mithilfe eines Fadengitters auf einem hauchdünnen Tuch, das sich zwischen dem darzustellenden Gegenstand und dem Auge des Malers befindet, die Natur perspektivgetreu abzubilden.4 Ihre Anwendung in der Nachahmung von Kunst ist eine nachrangige Entwicklung. Beispiele solcher Quadrierungen befinden sich auf Stichen Marcantonio Raimondis und seiner Schüler in verschiedenen grafischen Sammlungen, beispielsweise in der Biblioteca Apostolica Vaticana, wo auf einem Abzug der Lukrezia eine Quadrierung in
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Eigene Übersetzung nach: Filippo Baldinucci, Vocabolario toscano dell‘Arte del disegno nel quale si esplicano i propri termini e voci, non solo della Pittura, Scultura, & Architettura; ma ancora di altre Arti a quelle subordinate, e che abbiano per fondamento il Disegno, con la notizia De‘ nomi e qualità delle Gioie, Metalli, Pietre due, Marmi, Pietre tenere, Sassi, Legnami, Colori, Strumenti, ed ogn‘altra materia, che servir possa, tanto alla costruzione di edifici e loro ornato, quanto alla stessa Pittura e Scultura. Opera di Filippo Baldinucci Fiorentino, Firenze: Per Santi Franchi al segno della Passione 1681, zitiert nach Online Datenbank Art Theorists of the Italian Renaissance, Chadwyck und Healey Ltd. 1998, S. 134: „Rete f. Dicono i Pittori tirar la rete, quando volendo da qualche piccolo disegno fare un’opera grande, o copiare appunto una pittura o disegno grande, tirano alcune linee per l’altezza e per la larghezza del disegno o pittura, con distanze eguali, e così coll’intersecarsi delle linee, viene a riempiersi il disegno o pittura, che essi vogliono copiare, di perfetti quadrati, ciascun de’ quale, cadendo sopra alcuna parte della pittura, rende più facile l’imitare, e proporzionare la parte contenuta; perché all’incontro tirano anche i medesimi quadrati, tanto maggiori a proporzione, quanto vogliono che sia l’opera, nel quadro da dipingersi, e così in ogni quadrato ritraggono quella parte, che corrisponde nel restato esemplare, con gran facilità, e danno la stessa proporzione al tutto, che hanno i quadrati dell’esemplare con quelli della copia.“ Alberti 2002, Abschnitt 31, S. 112–117.
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25 Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Lucrezia, Kupferstich, von anderer Hand quadriert, 212 × 131 mm
Rötel angebracht wurde (Abb. 25, Bartsch XIV.155.192).5 Weiterhin befindet sich im Kupferstichkabinett Dresden ein Abzug des Stichs Die Heilige Familie von Marco Dente (Abb. 26, Bartsch XIV.68.61), der mit einer Quadrierung in Kreide versehen wurde und ebenso ein quadrierter Abzug von Raimondis Dido (Abb. 27, Bartsch XIV.153.187).6 Im Kupferstichkabinett in Berlin wird ein Abzug des Stichs Quos Ego
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Marcantonio Raimondi, Lukrezia, Kupferstich, von anderer Hand mit einer Quadrierung in Rötel bezeichnet, 212 × 131 mm, Bartsch XIV.155.192, Biblioteca Apostolica Vaticana, Inv. Nr. Stampe V.4., fig. 165. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. A 125124 und A 89115. Bei dem Stich Dentes handelt es sich um eine Wiederholung des Stichs Die Heilige Familie von Marcantonio Raimondi nach Raffael, Bartsch XIV.67.60. Allerdings lässt Dente in seiner Fassung die Figur des Joseph fort.
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26 Marco Dente, Die Heilige Familie, Kupferstich, von anderer Hand quadriert, 167 × 119 mm
27 Marcantonio Raimondi, Dido, Kupferstich, 160 × 126 mm
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28 Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Madonna mit Kind in den Wolken, Kupferstich, von anderer Hand quadriert, 245 × 168 mm
von Marcantonio Raimondi aufbewahrt, bei dem lediglich das rechte untere Bildfeld quadriert wurde.7 Hier interessierte den Kopisten offensichtlich nur ein Bildausschnitt. Ebenfalls in Berlin ist ein Abzug von Raimondis Stich Venus und Amor (Bartsch XIV.234.311) mit einer Quadrierung.8 In der Albertina in Wien wird in einem Klebeband ein Abzug der Venus nach dem Bad (Bartsch XIV.2254.297 Kopie A) aufbewahrt, der mit einer Quadrierung in Rötel versehen wurde.9 Schließlich ist im Victoria & Albert Museum ein quadrierter Abzug des Stichs Madonna mit Kind in den
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Staatliche Museen zu Berlin, Preussischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. 803–24. Staatliche Museen zu Berlin, Preussischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. 312– 1893. Wien, Graphische Sammlung Albertina, Klebeband Italien I. / Bd. XXI.
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Wolken (Abb. 28, Bartsch XIV.58.52).10 Im British Museum findet man ein quadriertes Exemplar des Stichs David schlägt Goliath das Haupt ab (Bartsch XIV.12.10).11 Sicherlich ließen sich in anderen Sammlungen ähnlich bezeichnete Abzüge recherchieren, dennoch ist davon auszugehen, dass ein großer Teil solcher Stiche mit nachträglich hinzugefügten Atelierspuren in vielen Sammlungen als minderwertig aussortiert wurde. Die Belege liefern dennoch ein wertvolles Zeugnis für die ursprüngliche Verwendung von Kupferstichen als künstlerisches Vorlagenmaterial. Sie waren in Malerwerkstätten und Akademien ein übliches Arbeitsinstrument. Den Stichen selbst wurde dabei kein hoher Eigenwert jenseits ihres Zwecks als Vorlagenmaterial zugewiesen, da man die Quadrierung jeweils direkt auf den Stichen aufbrachte und auf die Verwendung von Transparentpapier oder ähnlicher Hilfsmittel verzichtete. Die Quadrierungen lassen zudem den Schluss zu, dass die Stiche in den genannten Fällen getreu kopiert und nicht interpretiert oder verändert wurden. Bis auf das genannte Beispiel des Stichs Quos Ego, bei dem nur ein Bildfeld quadriert ist, wurde jeweils die gesamte Bildkomposition als nachahmenswert betrachtet, da die Quadrierung über das gesamte Bildfeld gelegt worden ist. Hier geht es also nicht um Formen künstlerischen Wettstreits, sondern um die möglichst rationelle Aneignung fremder Motive. Die zweite wesentliche Implikation der Quadrierungen ist die, dass sie der Vergrößerung des Maßstabs der Vorlage in der Wiederholung dienen können. Denkbar wäre eine solche Übertragung in Gemälde oder in Gegenstände des Kunsthandwerks. Bei den Personen, die die Stiche ehemals mit dem Zeichenstift bearbeiteten, handelt es sich in den meisten Fällen um Amateure oder Künstler in der Lehre.
Eine Nachzeichnung auf der Rückseite eines Stichs Im Victoria & Albert Museum befindet sich eine seitengleiche, gestochene Kopie nach Raimondis zweiter Fassung des Bethlehemitischen Kindermords (ohne Tanne), die mithilfe der Beschreibungen von Adam von Bartsch nicht näher zu identifizieren ist.12
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London, Victoria & Albert Museum, Inv. Nr. Dyce 1017. Das Exemplar ist oben beschnitten. London, British Museum, Inv. Nr. V,4.49. Weitere quadrierte Exemplare befinden sich auch in Stuttgart, Staatsgalerie, Grafische Sammlung, nämlich die Fortitudo und Temperantia aus der Serie der Tugenden, Bartsch XIV.295.389 sowie Bartsch XIV.295.390, Inv. Nr. A53 / 1378 und A53 / 1382, Höper 2001, S. 185–186, Kat. Nr. A 45.1A und Kat. Nr. A45.3, Abb. Nr. 192. Kopie nach Marcantonio Raimondi, Der Bethlehemitische Kindermord, Kupferstich, 255 × 423 mm, unregelmässige Ränder, London, Victoria & Albert Museum, Inv. Nr. GG20, 12398 recto. Vor allem an den Gesichtern der Bildfiguren wird deutlich, dass es sich hier um eine Kopie und nicht um den originalen Kupferstich Raimondis handelt, da unter anderem die bedrohten Säuglinge keine überzeugenden kindlichen Züge aufweisen. Weitere gestochene Kopien nach Raimondis Stich Der Bethlehemitische Kindermord stammen von Agostino Veneziano, Giovanni Battista de Cavaleriis, Michele Lucchese und Jacob Binck. Ugo da Carpi schuf nach diesem Werk einen Chiaroscuro Holzschnitt. Insgesamt handelt es sich wohl um den meist kopierten Stich Raimondis.
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29 Anonym (nach Marcantonio Raimondi), Die Heilige Familie, Feder in Braun, 255 × 423 mm (Farbtafel IV)
Bemerkenswert ist die Rückseite des Stichs (Abb. 29).13 Hier wurde von einem anonymen Zeichner eine Figurengruppe aus dem Kupferstich herausgelöst und in einer Federzeichnung wiederholt, nämlich die Mutter, welche sich auf dem Stich unten links auf dem Boden niedergelassen hat und sich trauernd über ihr totes Kind beugt. Der Tod des Kindes wird auf dem Stich durch seinen leblos herabhängenden Arm anschaulich gemacht. Ein solcher Arm lässt sich in der Bildtradition am toten Leib Christi in unzähligen Darstellungen der Kreuzabnahme, Beweinung Christi oder der Grablegung beobachten. Raimondi hatte ihn auch im Stich der Pietà als klassische Bildformel verwendet, da diese Geste vom Betrachter sofort entschlüsselt werden kann. In der Zeichnung wird die Haltung des Kindes mit dem über dem Knie seiner Mutter herabhängenden Arm wiederholt, doch kann hier nicht mehr auf den Tod des Kindes geschlossen werden, denn es hat im Gegensatz zum Stich keine geschlossenen Lider, sondern richtet den Blick zu seiner Mutter empor. Diese wendet sich ihm, wie auf dem Stich, innig zu. Auch stützt sie den Kopf des Kleinen und hat ihre Hand auf die Brust des Kindes gelegt. Als kleine Veränderung gegenüber dem Stich hat sie nun ihr Haar mit einem Mittelscheitel zurückgebunden, statt eine Haube zu tragen. Die Zeichnung befindet sich verso unten rechts – ihr gestochenes Pendant ist recto unten links. Zudem ist sie spiegelverkehrt. Bryony Bartlett-Rawlings, Kuratorin der Sammlung, geht davon aus, dass der anonyme Zeichner zunächst die Konturen der 13
Nach Marcantonio Raimondi, Die Heilige Familie, Feder in Braun, 255 × 423 mm, London, Victoria & Albert Museum, Inv. Nr. GG20, 12398 verso.
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Mutter-Kind-Gruppe in groben Zügen durchgepaust hat, dann aber schrittweise immer freier mit der Vorlage umging.14 Er ergänzte die Figuren durch eine auf einer hohen Plinte stehenden Säule. Hinter dieser lugt ein Mann hervor, der den Blick auf den Betrachter gerichtet hat. Hinter ihm sind mit wenigen Strichen Bäume, eine Stadt und ein Feld angedeutet. Es liegt nahe, in diesen drei Figuren eine Heilige Familie zu erkennen. Maria befindet sich auf vielen Darstellungen der Anbetung der Hirten oder der Anbetung der Heiligen Drei Könige vor einem mit einer Säule geschmückten Stall in Bethlehem, wie zum Beispiel auf dem Portinari Altar von Hugo van der Goes.15 In diesem Zusammenhang verweist die Säule symbolisch auf die Leiden Christi, denn sie ist eines seiner Geißelungswerkzeuge. Auch ist es in der christlichen Ikonografie kein Einzelfall, dass das Christuskind in den Armen seiner Mutter mit dem herabgesenkten Arm Anklänge an Pietà-Darstellungen enthält und damit bereits auf das ihm bevorstehende Schicksal hindeutet. Eine vergleichbare Darstellung stammt von Giovanni Bellini (um 1430–1516) im Altargemälde Madonna della Milizia di Mare (Abb. 30).16 Auf diesem Bild thront Maria mit gefalteten Händen in andächtiger Pose; ihr Kind liegt in einer für den toten Christus typischen Körperhaltung in ihrem Schoß. Es hat die Augen geschlossen und bietet sich dem ihm prophezeiten Schicksal dar. Ein ähnlicher doppelter Sinngehalt liegt möglicherweise auch in der beschriebenen Zeichnung verborgen. Dennoch sollte nicht unberücksichtigt bleiben, dass es sich um einen schnell skizzierten Entwurf handelt, der auch aufgrund seines reduzierten Charakters noch eine gewisse Vieldeutigkeit enthält. Im Gegensatz zu Bellinis erwähntem Gemälde entspricht hier auch nicht der gesamte Körper des Kindes der für PietàDarstellungen typischen Bildformel, sondern lediglich der Arm. Meiner Ansicht nach ist diese Skizze ein Beispiel für eine Aneignung, die zwar bereits auf einen neuen Bildsinn hindeutet, diesen aber noch nicht vollständig enthält. Mosaikartig werden einzelne Elemente der Vorlage unverändert übernommen und andere ergänzt oder deutlich abgewandelt. Auch ist es möglich, dass eine weitere grafische Vorlage Anlass zur Darstellung des Hintergrundes und der Figur Josephs gab, denn dieser scheint, eher nordischen Prototypen zu folgen. Doch auch diese These muß aufgrund des skizzenhaften Charakters der Zeichnung offen bleiben. Unterhalb der Zeichnung, nahe an Mutter und Kind, befindet sich eine handschriftliche Notiz des unbekannten Zeichners in gleicher Tinte, die von Bryony Bartlett-Rawlings unter ultraviolettem Licht in ihren schwer lesbaren Teilen transkribiert wurde. Ihr zufolge, ist hier zu lesen: „Gueranni che lui vista cos‘ e che invariato al d‘originale influenzato / No. ZZ r. B (6)“. 14 15 16
Ich verdanke Bryony Bartlett-Rawlings, Assistant Curator of Paintings, Word and Image Department, Victoria & Albert Museum, London, wesentliche Hinweise zu diesem Blatt. Hugo van der Goes, Anbetung des Kindes, Portinari Altar, Öl auf Holz, 253 × 586 cm, 1475, Florenz, Uffizien. Diesen Hinweis verdanke ich Edgar Bierende. Giovanni Bellini, Madonna della Milizia di Mare, Öl auf Holz, 120 × 63 cm, um 1470, Venedig, Gallerie dell Accademia, Kat. Nr. 591, vgl. Tempestini 1998, S. 199, Kat. Nr. 20.
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30 Giovanni Bellini, Madonna mit schlafendem Kind, auch genannt: Madonna della Milizia del Mare, Öl auf Holz, 120 × 63 cm (Farbtafel V)
Besonders die Worte „invariato“ und „influenzato“ sind jedoch nicht eindeutig identifizierbar. Es ist schwer, diesen Satz ins Deutsche zu übersetzen. Möglicherweise enthält die Inschrift einen Hinweis auf den Prozess der Entstehung der Zeichnung. Eine mögliche Interpretation des Satzes wäre die, dass der Autor der Zeichnung Gueranni hieß und hier behauptet, er habe die Vorlage unverändert übernommen – was nicht mit dem tatsächlichen Befund des Bildes übereinstimmt. Die Zeichnung enthält zwei wesentliche Merkmale der schöpferischen Aneignung, nämlich das Herauslösen eines einzelnen Elementes aus der Vorlage und die inhaltliche Umdeutung dieser Entlehnung durch das Hinzufügen eines neuen Kontextes. Man kann davon ausgehen, dass der Kupferstich dem Zeichner nicht als wert-
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volles, erhaltenswertes Kunstwerk erschien, sondern als preiswert erworbenes Studienmaterial, weil er direkt auf die Rückseite des Stichs zeichnete. Dies tat er hauptsächlich deshalb, weil er so die Konturen der Mutter-Kind-Gruppe durchpausen konnte. Nachdem diese aus dem ursprünglichen Sinnzusammenhang herausgelöst war, fiel es leicht, den grausamen Kontext außer Acht zu lassen und durch eine neue Szene zu ersetzen. Eine solche ikonografische Mutation der Entlehnung ist kein Einzelfall und wird im Folgenden durch weitere Beispiele belegt. Die Bilderfindung der Mutter, die schützend ihren Säugling in ihrem Schoß geborgen hat, wird hier zeichnend wiederholt, weil sie eine überzeugende Darstellung von inniger Mutterliebe ist, die vom Betrachter leicht nachempfunden werden kann. Im Zusammenhang mit der Tötung der Kinder Bethlehems durch die Truppen des Herodes, handelt es sich um eine dramatische Darstellung der unendlichen Trauer einer Mutter, die ihr Kind verloren hat. Auch diese Konnotation eignet sich für die neue Szene der Heiligen Familie, wenn man in Betracht zieht, dass Maria das Schicksal Jesu bereits vorausahnt. Das Pathos der Vorlage bildet somit eine geeignete Vorlage, um eine Heilige Familie darzustellen. Obwohl der Zeichner hier den technischen Trick des Durchpausens angewendet hat, ist nicht davon auszugehen, dass es sich um einen Amateur handelt, denn die gewitzte Umdeutung zeigt eine erstaunliche Kreativität. Abschließend lässt sich festhalten, dass es sich hier im Gegensatz zum vorhergehenden Beispiel nicht um eine Nachzeichnung handelt, die sich der Liniensprache des vorbildlichen Kupferstichs anpasst, sondern die Entlehnung in einen eigenen Zeichenduktus überträgt. Der Zweck der Zeichnung ist die Aneignung eines überzeugenden Motivs. Ob es sich bei der schnellen Skizze um einen Entwurf für ein Gemälde handelt, der in einer weiteren Fassung ausgearbeitet werden sollte, lässt sich nicht beantworten.
Nachzeichnungen, die das Strichbild eines Kupferstichs imitieren Ein wesentliches Kriterium zur Beschreibung von Nachzeichnungen bildet die Frage, ob sich der nachahmende Künstler bemüht hat, sich dem Charakter gestochener Linien anzupassen oder ob er den Stich in die Zeichnung übertragen hat, ohne die spezifischen Eigenschaften der Liniensprache eines Kupferstichs zu berücksichtigen. Beispiele für diese gegensätzlichen Arten, mit der Vorlage umzugehen, sollen im Folgenden vorgestellt werden, verbunden mit der Frage, für welchen Zweck solche gezeichneten Nachahmungen hergestellt wurden.17 17
Wesentliche Anregungen verdanke ich hier Christian Tico Seifert, Senior Curator, The National Gallery of Scotland, Edinburgh, durch seinen Vortrag: „Hendrik Goudt nach Lukas van Leyden. Überlegungen zu gezeichneten und gemalten Kopien von Druckgrafik“, gehalten während der Tagung „Druckgrafik zwischen Reproduktion und Kunst“, veranstaltet vom Europäischen Graduiertenkolleg der TU Dresden und dem Kupferstichkabinett Dresden, 24.–25.10.2008. Der Vortrag erschien in: Seifert 2010.
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31 Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Madonna mit Kind an der Wiege, Kupferstich, 208 × 175 mm
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Im Hunterian Museum in Glasgow befinden sich zwei Federzeichnungen nach Kupferstichen Marcantonio Raimondis, nämlich nach der Maria an der Wiege (Abb. 31, Bartsch XIV.70.63) und nach der Heiligen Cäcilie (Abb. 32, Bartsch XIV.101.116).18 Die Zeichnung nach der Maria an der Wiege (Abb. 33) ist mit 1567 datiert und mit den Initialen BAHIR signiert, gleichzeitig ist auch Raimondis Signet der leeren Tafel in die Zeichnung aufgenommen worden, allerdings mit der kuriosen, wenn auch oft beobachteten Veränderung, dass diese Tafel nicht leer ist – wie in der Stichvorlage –, sondern mit seinem Monogramm MAF versehen wurde, als doppelter Hinweis auf den ursprünglichen Autor.19 Die Zeichnung nach dem Stich der Heiligen Cäcilie (Abb. 34), die sehr wahrscheinlich von der gleichen Hand ausgeführt worden ist, trägt verso in Bleistift eine Zuschreibung an Giovanni Paolo Cavagna (1550–1627), die der Handschrift nach vermutlich aus dem 19. Jahrhundert stammt.20 Recto trägt diese Zeichnung weder ein Datum noch eine Signatur. Ebenfalls werden hier die Namen des Zeichners und Stechers der Vorlage verschwiegen. Raimondi hatte seinen Stich auf der Seite der am Boden liegenden lira da braccio signiert und auch den Erfinder Raffael genannt: MAF RAPH IVE. Diese Stelle bleibt in der Zeichnung leer. Dies ist bemerkenswert. Denn wäre es dem Kopisten in erster Linie darum gegangen, sich eine Erfindung Raffaels anzueignen, hätte er sicherlich den Hinweis auf den berühmten Schöpfer der Vorlage übernommen. In seinem Interesse steht vor allem der Autor der Stiche – Raimondi.21 Anhand der Imitation der Liniensprache des Kupferstichels lässt
18 Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Madonna mit Kind an der Wiege, Kupferstich, 208 × 175 mm, Bartsch XIV.70.63, British Museum, London, Inv. Nr. 1910,0212.331 sowie Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Die Heilige Cäcilie, Kupferstich, 265 × 160 mm, Bartsch XIV.101.116, Hunterian Museum and Art Gallery, University of Glasgow, Inv. Nr. GLAHA 7160. Vgl. Giovanni-Paolo Cavagna (1556–1627) zugeschrieben, Maria an der Wiege, Feder in schwarzer Tinte, 238 × 175 mm, datiert 1567, signiert BAHIR, Hunterian Museum and Art Gallery, University of Glasgow, Inv. Nr. GLAHA 10110 und Ders., Die Heilige Cäcilie, Feder in schwarzer Tinte, 262 × 157 mm, verso in Bleistift bezeichnet G. P. Cavagna, unten links nummeriert „39“, Hunterian Museum and Art Gallery, University of Glasgow, Inv. Nr. GLAHA 10120. In der Größe sind beide Zeichnungen den zugrunde liegenden Stichen angenähert. Maria an der Wiege, Zeichnung = 238 × 175 mm – Stich = 245 × 173 mm; Heilige Cäcilie, Zeichnung = 262 × 157 mm – Stich = 260 × 155 mm. 19 Es kommt häufig vor, dass Sammler in die leere Tafel mit Feder die Initialen Marcantonio Raimondis eingefügt haben. Cavagna stammt aus Bergamo und war überwiegend als Porträtist tätig. Er soll ein Schüler 20 Tizians gewesen sein und mit Giovanni Battista Moroni in Kontakt gestanden haben, zu dessen Malstil sich eine Verwandtschaft erkennen lässt. Vgl. Giovan Paolo Cavagna e il ritratto a Bergamo dopo Moroni, hrsg. von Enrico De Pascale und Francesco Rossi, Katalog der Ausstellung Bergamo, 22.10.–13.12. 1998, Bergamo, Accademia Carrara, 1998. Die Zuschreibung an diesen Künstler ist tentativ und passt nicht zum Monogramm auf der Vorderseite der Darstellung der Maria an der Wiege. Eine weitere Federzeichnung nach dem Stich Raimondis befindet sich in Oxford, Ash 21 molean Museum, Feder, in Braun auf gelblichem Papier, 263 × 183 mm, Blattgrösse, Inv. Nr. WA1863.814 (Mac Andrew A91). Auch hier wird der Hinweis auf Raffael auf dem am Boden liegenden Instrument nicht übernommen.
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32 Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Die Heilige Cäcilie, Kupferstich, 265 × 160 mm
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33 Giovanni-Paolo Cavagna (zugeschrieben) (nach Marcantonio Raimondi), Madonna mit Kind an der Wiege, Feder in schwarzer Tinte, 238 × 175 mm
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sich ablesen, dass hier dem Kupferstich bereits ein eigener ästhetischer Wert zugemessen wird, der von seiner Funktion der Vermittlung der Ideen Raffaels unabhängig ist. In der Zeichnung nach dem Stich der Maria an der Wiege fügte der unbekannte Kopist eine auffallende Ergänzung ein: Während im Stich im Hintergrund ein Fenster nur durch einen Rahmen angedeutet ist, welches mit der gleichen Schraffur wie die umgebende Wand ausgefüllt wurde und dadurch keinen Ausblick mehr bietet, fügte er hier einen Blick auf eine Landschaft ein: Man sieht eine Burg auf einer Felskuppe und am Fuße des Berges weitere burgähnliche Gebäude. Diese Ergänzung ist insofern sehr geschickt, als sie sich im Stil den landschaftlichen Hintergründen anderer Raimondi-Stiche anpasst, welche wiederum auf Landschaften aus den Stichen nordischer Meister verweisen. Eine solche Burg kommt unter anderem im Hintergrund der frühen Stiche Raimondis, Mars, Venus und Amor (Bartsch XIV.257.345) oder Junger Mann mit Schlange (Bartsch XIV.298.396) vor, ebenso auf dem Stich Dornausziehende Venus von Marco Dente (Bartsch XIV.241.321). So entspricht auch diese frei erfundene Zugabe durchaus dem Stil des nachgeahmten Stechers. Auffällig an diesen Federzeichnungen ist die Art und Weise, in welcher der Kopist die Kupferstiche Linie für Linie nachgeahmt hat und sich dabei auch im Strichbild der Federzeichnung dem Duktus der ehemals mit dem Grabstichel ausgeführten Linien und Schraffuren angepasst hat, gekennzeichnet durch besonders breite Linien an den Konturen der Bildmotive und eine minutiöse Kreuzschraffur an dunklen Stellen des Bildes. Aufgrund einiger Unterschiede in kleinsten Details kann man schließen, dass der Kopist kein Pauspapier oder Ähnliches für den Transfer der Stiche in die Zeichnungen verwendete, sondern sich vor die Herausforderung stellte, die Vorlagen liniengetreu eigenhändig nachzuzeichnen.22 Wenn man die Binnenstrukturen genauer betrachtet, fällt zum Beispiel auf, dass auf der Zeichnung Maria an der Wiege die linke Hand Annas viel näher am Kamin ist als auf der gestochenen Vorlage. Ihre Rechte ist hingegen weiter von der V-förmigen Falte des Vorhangs entfernt, als es auf dem Stich der Fall ist. Hätte der Kopist ein mechanisches Übertragungsverfahren angewendet, wären solche Abstände sicherlich gleich ausgefallen. Ebenso lassen sich auf der Zeichnung der Heiligen Cäcilie geringfügige Unterschiede in den Binnenstrukturen erkennen, auch wenn diese nicht so offensichtlich sind. Vor allem die Abstände zwischen den Köpfen der einzelnen Heiligen fallen auf der Zeichnung geringer aus als auf dem Stich. Folgt man der Annahme, beide Zeichnungen seien aufgrund der Zeichenweise und dem gleichen verwendeten Material demselben Autor zuzuschreiben, kann man daraus folgern, dass diese zeitnah geschaffen wurden und jeweils um 1567 entstanden sein müssen. In diesem Zeitraum war es bereits eine gebräuchliche Arbeitsweise, sich durch das Nachzeichnen von Stichen zu schulen und sich damit fremde Bildmotive anzueignen. Armenini postuliert in seinem Traktat von 1583 mit der Empfehlung des 22
Es ist, laut dem Kurator Peter Black, keine Unterzeichnung in Bleistift zu erkennen. Leider hatte ich nicht die Möglichkeit, die Blätter im Original zu betrachten.
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34 Giovanni-Paolo Cavagna (zugeschrieben) (nach Marcantonio Raimondi), Die Heilige Cäcilie, Feder in schwarzer Tinte, 262 × 157 mm
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Zeichnens nach Stichen schließlich keine neuartige Lehrmethode, sondern er beschreibt eine zu seiner Zeit durchaus übliche Werkstattpraxis. Diese war ihm durch die eigene Ausbildung zum Maler und durch zahlreiche Besuche in italienischen Künstlerwerkstätten geläufig. Allerdings warnt Armenini deutlich davor, sich zu sehr in die Kleinteiligkeit gestochener Linien und Schraffuren zu verlieben, denn diese Linien seien sehr zeitraubend und daher nur für den Kupferstecher geeignet.23 Dieser Empfehlung stehen die genannten Zeichnungen diametral entgegen. Wenn im beschriebenen Beispiel das minutiöse Kopieren der Stiche Raimondis tatsächlich dem Studium eines jungen Malers diente, dann ist es ungewöhnlich, dass dieser sich dem Liniengefüge der Vorlage anpasste. Auf diese Weise würde es dem jungen Malerlehrling sicherlich nicht gelingen, einen eigenständigen Zeichenduktus zu erlangen, denn was sich durch ein solches minutiöses Nachzeichnen eines Stichs lernen lässt, ist allein die Gestaltung von Figurenproportionen oder Bildkompositionen. Eine bestimmte Zeichenweise lässt sich hieran nicht studieren, denn Raimondi folgt in seiner Linienführung den technischen Gegebenheiten des Arbeitens auf der Kupferplatte und lässt vom Duktus seines von Raffael oder Giovanni Francesco Penni gezeichneten Vorbildes nichts erahnen. Deshalb ist im genannten Fall ein anderer Funktionszusammenhang wahrscheinlicher: Am Ende des 16. Jahrhunderts wäre es auch denkbar, dass ein Amateur Druckgrafik Raimondis in einem Klebealbum sammelte und fehlende Stiche, die er zwar aus einer anderen Sammlung kannte, aber nicht selbst erwerben konnte, durch solche Zeichnungen in seiner Sammlung ergänzte. Damit würde sich auch die durchaus die mühevolle Arbeit erklären, sich dem Erscheinungsbild eines Stichs durch eine liniengetreue Kopie anpassen zu wollen. Über die Provenienz der Blätter ist gegenwärtig nichts bekannt bis zu dem Zeitpunkt, als sie 1940 von Professor William Scott an das Hunterian Museum übergeben wurden. Scott hatte Druckgrafik nach Raffael gesammelt und in losen Blättern aufbewahrt. Beide Zeichnungen nach Raimondi tragen jedoch rückseitig in den Ecken alte Spuren von Klebstoff, mit welchem sie ehemals in einem Album befestigt worden waren. Dies würde die erwähnte These über ihren ehemaligen Funktionszusammenhang unterstützen. Auf einen weiteren wesentlichen Aspekt weist Christian Tico Seifert hin, nämlich auf den Aspekt der Augentäuschung. Es handelt sich hier um ein virtuoses Spiel, das vom Betrachter eine hohe Aufmerksamkeit verlangt, um die verwendete Technik und den Autor der Vorlage zu identifizieren. Wenn diese Blätter ehemals im Zusammenhang eines Klebealbums aufbewahrt worden sind, dann forderten sie den Betrachter zum sorgfältigen und vergleichenden Schauen heraus. Das Ziel des nicht identifizierten Zeichners dürfte die „Ununterscheidbarkeit von Original und Kopie gewesen sein, die nur in der Signatur durchbrochen wird, um den kunstvollen Autor der Zeichnung
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Armenini, Buch 1, Kapitel 7, S. 53–54.
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dem berühmten Inventor und Stecher ebenbürtig zu machen.“24 Deutlich abzugrenzen sind diese Zeichnungen vom Begriff der Fälschung, denn die gewählten Vorlagen waren weder besonders selten, noch teuer. Außerdem wären im Falle einer Fälschung die Signaturen der Vorlage übernommen und nicht durch ein eigenes Monogramm ersetzt worden.
Die Kreuzabnahme Einen Eindruck von den enormen räumlichen Distanzen, die mithilfe der Druck grafik aus dem Umkreis Marcantonio Raimondis überwunden werden konnten, liefern verschiedene künstlerische Adaptionen des Stichs Die Kreuzabnahme (Abb. 35, Bartsch XIV.37.32).25 Der um 1520–1521 datierte Stich steht in Zusammenhang mit einer rasch skizzierten Zeichnung Raffaels (Abb. 36).26 Diese wird aufgrund ihrer stilistischen Verwandtschaft zu den Vorzeichnungen zur Grablegung um 1506–1507 datiert. Sie zeigt nicht mehr als eine lockere Federskizze des toten Körpers Christi, dessen Gewicht von einem Mann gehalten wird, der seine Arme um den Oberkörper Christi geschlungen hat, während ein anderer den Leichnam an einem Seil hält, um ihn langsam herabzulassen. Während die dynamische Skizze Raffaels die Figuren mit nur wenigen Federstrichen festhält, zeigt der Stich eine ausformulierte Bildkomposition mit neun Figuren. Es ist allein die Körperhaltung Christi mit dem noch immer ans Kreuz genagelten rechten und dem schwer herabhängenden linken Arm, die in Raimondis Stich ein Echo findet. Folgt man der Annahme, dass es keine weitere, ausgearbeitete Modellzeichnung Raffaels gegeben hat, so rückt die Möglichkeit in Betracht, dass Raimondi in diesem Fall zwei Vorbilder miteinander verwoben hat, nämlich einerseits den locker skizzierten Entwurf Raffaels und andererseits einen Kupferstich gleichen Motivs von oder nach Andrea Mantegna (Abb. 37, Bartsch XIII.230.4).27 Dieser 24
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Seifert 2010, S. 19. Seifert bezieht die zitierte Aussage jedoch nicht auf die oben erwähnten Zeichnungen, sondern auf vergleichbare Blätter von Hendrik Goudt, Jan Wierix und Hendrick Hondius. Meiner Auffassung nach passt diese Aussage aber auch sehr gut auf die hier beschriebenen Fälle. Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Die Kreuzabnahme, Kupferstich, um 1520–1521, Bartsch XIV.37.32, British Museum, Inv. Nr. 1910,0212.326, Broun / Shoemaker 1981, S. 160.161, Kat. Nr. 50. Langemeyer / Schleier 1976, S. 152–156. Oberhuber / Gnann 1999, S. 172–173, Oberhuber und Gnann schlagen eine Datierung um 1523–1525 vor. Raffael, Studien für eine Kreuzabnahme, Feder in Braun über Vorzeichnung in schwarzer Kreide, 380 × 272 mm, um 1507, Wien, Albertina, Inv. Nr. 245v, R. 51, S.R. 301, Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, Nr. 219 (verso von Nr. 218, Caritas). Vgl. Cordellier / Py 1992, S. 66–67, Nr. 56, Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, Nr. 221, Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nr. 3880 – Dieses Blatt ist in seiner Eigenhändigkeit von Raffael umstritten. Es zeigt vielleicht den Schächer einer unausgeführt gebliebenen Kreuzabnahme oder Kreuzigung. Landau 1992, S. 189, Kat. Nr. 32 und 33: Andrea Mantegna (Umkreis), Die Kreuzabnahme, Kupferstich, um 1465, 448 × 359 mm, Bartsch XII.43.22, British Museum, London, Inv. Nr. 1845,0825.599. Der Stich wurde in der kunsthistorischen Forschung zunächst als Kupferstich nach Mantegna klassifiziert, so u.a. bei: Lightbown 1986, S. 491, Kat. Nr. 214. Erst
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35 Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Die Kreuzabnahme, Kupferstich, 406 × 284 mm
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hatte bereits die Idee, zwei lange Leitern darzustellen, die am Kreuz lehnen, wobei ein auf der rechten Leiter stehender Mann das Gewicht des toten Leibes Christi zu halten versucht. Ebenfalls lässt sich die Figur, die über dem Querbalken des Kreuzes lehnt, um
36 Raffael, Studien für eine Kreuzabnahme, Feder in Braun über Vorzeichnung in schwarzer Kreide, 380 × 272 mm
Christus vorsichtig herabzulassen, auf den Stich Mantegnas zurückführen. Mantegna zeigt auch die Gruppe trauernder Frauen um die in Ohnmacht gefallene Mutter Christi. Doch sind es nicht nur die auf die klassische Ikonographie einer Kreuzabnahme zurückzuführenden Bildelemente, die eine Verwandtschaft beider Stiche erahnen lassen. Vielmehr sind es marginale Details, die den Verdacht erhärten, Raimondi habe sich hier an Mantegna geschult, denn hier wie dort wird die Komposition am rechten Bildrand durch einen überdimensional großen Baum mit einem langen mageren Stamm abgeschlossen. Auch die rohe felsige Landschaft, die treppenartig in das Bild Landau schrieb ihn Mantegna selbst zu. In der jüngeren Forschung wird er Mantegna wieder abgeschrieben und Gian Marco Cavallo (um 1454 – nach 1508) zugewiesen, siehe: Metze / Böckem 2013, Kat. Nr. 77. Der Stich ist in drei Zuständen bekannt, wobei davon ausgegangen wird, dass die Bearbeitungen der Zustände zwei und drei von anderer Hand ausgeführt worden sind. Im British Museum, London, befindet sich eine frühe Zeichnung nach dem Kupferstich, Inv. Nr. 1895,0915.777. Vgl. David Ekserdjian, in: Landau 1992, S. 192, Kat. Nr. 34. Auf dieser Zeichnung hängt eine leere tabula ansata am verdorrten Ast des Baumes rechts. Eine solche Tafel kommt auch auf einigen Stichen Raimondis vor.
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37 Andrea Mantegna (Umkreis), Die Kreuzabnahme, Kupferstich, 448 × 359 mm
hineinführt, scheint auf Mantegna zurückzugehen.28 Bereits im Bologneser Frühwerk hatte sich Raimondi an Mantegna orientiert. Es ist für die Entstehung seiner Kupferstiche nicht unüblich, dass Raimondi Versatzstücke aus verschiedenen Quellen in einer neuen Komposition vereint. So ist auch die kleine Stadt im Hintergrund, die auf das ferne Jerusalem verweisen soll, nach Art des Lukas van Leyden gestaltet. Darüber hinaus gibt es einen zum Stich Raimondis spiegelverkehrten Chiaroscuro Holzschnitt Ugo da Carpis, der mit wenigen Änderungen das Motiv der Kreuzabnahme wieder 28
Davidson 1954, S. 97–99. Eine solche Felslandschaft kommt nur bei Raimondi, nicht aber bei Ugo da Carpi vor. Auch der Baum am rechten Bildrand fehlt bei da Carpi. So sieht auch Davidson eine enge Verbindung zwischen Raimondis und Mantegnas Fassungen der Kreuzabnahme.
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38 Ugo da Carpi (nach Raffael), Die Kreuzabnahme, Chiaroscuro Holzschnitt von drei Stöcken, 356 × 281 mm
aufnimmt (Abb. 38, Bartsch XII.43.22).29 Der Holzschnitt verweist im Gegensatz zum Stich Raimondis durch die Inschrift RAPHAEL URBINAS deutlich auf den ursprünglichen Autor der Szene. Ob der Holzschnitt auf Raimondis Stich basiert oder ob die
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Ugo da Carpi, Kreuzabnahme, Chiaroscuro Holzschnitt von drei Stöcken, 356 × 281 mm, British Museum, Inv. Nr. 1918,1010.34, Rebel 1981, S. 15–19. Im Vergleich zum Stich fehlt auf dem Holzschnitt der Baum am rechten Bildrand sowie die Wolkengruppe links, das Kreuz ist kürzer und die Figuren sind zu einer großen Gruppe zusammengezogen, während Raimondi seine Komposition in zwei voneinander getrennte Handlungsstränge unterteilt: Die Kreuzabnahme einerseits, die Gruppe der trauernden Frauen andererseits. Vgl. Höper 2001, Kat. Nr. A 12.3.
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beiden druckgrafischen Werke auf eine unbekannte gemeinsame Vorlage zurückzuführen sind, lässt sich nicht abschließend klären.30 Im Westfälischen Landesmuseum in Münster befindet sich ein Triptychon, dessen Mitteltafel von einem anonymen Antwerpener Maler nach Raimondis Stich entwickelt worden ist (Abb. 39).31 In der zum Stich seitengleichen Komposition übernahm der Maler die wesentlichen Elemente des Stichs: Christus ist in der gleichen Haltung wiedergegeben und wird ebenfalls auf die gleiche Weise vom Kreuz genommen, indem drei Männer seinen Leichnam stützen, während einer noch dabei ist, den letzten Nagel aus seiner rechten Hand am Kreuz zu entfernen. Im Gegensatz zu Raimondis Entwurf hält der Mann auf der rechten Leiter seinen Kopf nicht durch die Sprossen, sondern er wendet sein Gesicht von der Leiter ab. Unterhalb des Kreuzes wurde die Gruppe der Trauernden um vier weitere Figuren ergänzt. Insgesamt sind deutliche Anpassungen in den Kostümen und Physiognomien der Bildfiguren auszumachen. Sämtliche Personen erhalten individuellere, weniger typisierte Züge. Auch die kostbaren Stoffe ihrer Kleider werden genau charakterisiert und der zeitgenössischen Mode angepasst. So kann man zum Beispiel an einem der Gewänder den für die Zeit typischen, besonders kostbaren Brokatstoff erkennen. Die zwei auf dem Stich im Vordergrund liegenden Kreuzesnägel werden durch die Dornenkrone als arma christi ergänzt. Betont wird auch der Blick in eine weite Landschaft mit einer Stadt in der Ferne. Der übergroße knorrige Baum, der sich rechts auf dem Stich befindet, wird im Gemälde ausgelassen und durch eine Auferstehungsszene in einer Grabeshöhle ersetzt. Am linken Bildrand wurde eine Schlossarchitektur hinzugefügt. Dass hier der Stich Raimondis und nicht der Holzschnitt Ugo da Carpis Vorbild war, kann man daran erkennen, dass allein der Stich seitengleich zum Gemälde ist. Zudem eignen sich die präzisere Linienführung und die Ausarbeitung der Details im Stich deutlich mehr als Vorlage für das Gemälde als die schematisierte Darstellung auf dem Holzschnitt.
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Oberhuber / Gnann 1999, S. 172–173, Kat. Nr. 109 und 110. Während Bartsch noch der Auffassung war, da Carpi habe den spiegelverkehrten Kupferstich Raimondis kopiert, vertreten Oberhuber und Gnann die These, Raimondi habe da Carpi kopiert. Aus den oben genannten Gründen halte ich Raimondis Stich für eine eigenständige Leistung. Schon allein aus technischen Gründen ist es meiner Auffassung nach nicht möglich, die abstrahierte Liniensprache eines Chiaroscuro Holzschnittes in die detailfreudige Darstellungsweise eines Kupferstichs zu übersetzen. Es ist daher am wahrscheinlichsten, dass beide Werke auf eine gemeinsame gezeichnete Vorlage Raffaels zurückgehen, die jeder gemäß seiner Fähigkeiten in die jeweilige Drucktechnik umgesetzt hat. Meister der weiblichen Halbfiguren, Kreuzabnahme mit Stifterfamilie, Öl auf Holz, 119 × 90,5 cm (Mitteltafel), 1501–1533, Münster, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Inv. Nr. 167 WKV. Auf den Seitentafeln sind die Stifter mit Heiligen abgebildet. Vgl. Langemeyer / Schleier 1976, Abb. 129, Vgl. Lorenz 2000, S. 16–24: „Eine bedeutsame Vermittlerrolle für die Verbreitung dieses veränderten Kunstverständnisses bildete die Druckgrafik, in deren Blättern zum Teil viel früher und freier als in der Malerei das antike Formengut umgesetzt ist.“
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39 Meister der weiblichen Halbfiguren (nach Marcantonio Raimondi), Die Kreuzabnahme mit Stifterfamilie, Öl auf Holz, 119 × 90,5 cm (Farbtafel VI)
Die Übernahme der Motive aus dem Kupferstich Raimondis bedeutet eine deutliche Veränderung des Maßstabs, die Übersetzung eines schwarz-weißen Vorbilds in ein farbiges Gemälde und die Interpretation der gestochenen Liniengefüge in Malerei. Anhand dieses Beispiels wird deutlich, dass der in der Kunstgeschichte intensiv erforschte Vorgang der Übertragung eines farbigen Gemäldes in die Druckgrafik auch durchaus in der gegenläufigen Variante der Übersetzung eines Stichs in ein Gemälde angewendet werden konnte. Hier würde man sicherlich nicht den Passivität vermittelnden Begriff der Reproduktion anwenden. Denn es wird schnell deutlich, auf wie vielen Ebenen eine Umdeutung und Anpassung stattgefunden hat. Diese sind nicht nur bedingt durch den Wechsel von einer Technik in eine andere, sondern sie sind auch geprägt von Veränderungen, die auf den Maler oder Auftraggeber zurückzuführen sind. Dies gilt vor allem für eine „Verlebendigung“ der Darstellung, bewirkt durch eine große Naturtreue, sowohl in der Landschaft als auch bei den deutlich plastischeren Figuren mit natürlicheren Gesichtszügen. Auch die an der Bibel orientierten inhaltlichen Ergänzungen weisen auf eine interpretierende Aneignung des gestochenen Vorbilds hin. Im Kreis der flämischen Künstler der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts war eine solche Nutzung italienischer Vorlagen gebräuchlich. Dieser Umstand wurde sicherlich durch die regen Handelsaktivitäten der flämischen Kaufleute mit Italien begünstigt. Es ist sehr gut möglich, dass auf den gleichen Wegen, auf denen
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Seiden- und Damaststoffe, Gewürze und andere Handelswaren transportiert wurden, auch Grafiken gehandelt wurden.32 So verwundert es nicht, dass sich gerade in der flämischen Kunst Motive wiederfinden lassen, die über druckgrafische Blätter vermittelt worden waren, welche aus Italien kamen. Das um 1530 datierte Gemälde ist nur wenig jünger als ein um 1525 von einem unbekannten Künstler vermutlich in Brügge gewirkter Wandteppich nach der gleichen Stichvorlage, der heute im Gruuthusemuseum ebenfalls in Brügge aufbewahrt wird (Abb. 40).33 Bei diesem Teppich gibt es keinen Zweifel, dass das Motiv auf den Kupferstich Raimondis zurückgeht, denn der Mann, welcher die Füße Christi hält, hat – wie im Stich – sein Haupt zwischen die Sprossen der Leiter gesteckt. Dies ist eine einmalige Bilderfindung. Auch bei diesem Teppich wird, wie beim genannten Gemälde, die Entlehnung des zentralen Motivs der Kreuzabnahme und der vier trauernden Frauen durch eine Landschaft ergänzt, die links ein Schloss zeigt und rechts zwei weitere Szenen aus der Passion Christi. In zwei von einander getrennt dargestellten Grabeshöhlen werden hier einmal die Grablegung Christi und darunter eine Auferstehungszene gezeigt. Im Vordergrund wurden darüber hinaus heimische Pflanzen und Tiere eingefügt. Die Szene ist eingefasst in eine Triumphbogenarchitektur mit reich geschmückten Pilastern. Um den Stich in den Teppich umzuwandeln, musste auch in diesem Fall eine bedeutende Veränderung des Maßstabs vollzogen werden. Während der Stich nur etwa 40,9 × 28,4 cm misst, hat der Teppich die Maße von 297 × 267 cm. Grundsätzlich wäre es möglich, dass hierfür das bereits geschilderte Verfahren einer Quadrierung angewendet worden wäre. Ein mit einer Quadrierung in Rötel bezeichneter Abzug von einer Kopie nach Raimondis Kreuzabnahme, verlegt von Giovanni Battista de Rossi (um 1640 – nach 1672), befindet sich beispielsweise im Ashmolean Museum in Oxford (Abb. 41, Bartsch XIV.37.32 (Kopie B).34 Doch der Karton für den genannten Teppich wurde nicht durch das Nachzeichnen mittels einer Quadrierung geschaffen, denn im Unterschied zum Stich sind hier die beiden Figurengruppen der Trauernden
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Blondé / Gelderblom / Stabel 2007, S. 168: „Thus the presence of an Italian merchant community contributed to the adoption of Italian banking and commercial techniques, the spread of Renaissance architecture in northern Europe, and the introduction of several luxury industries by Italian craftsmen. Antwerp’s maiolica, glass and mirror-making industries all profited from the influx of skilled artisans.“ Neben Brügge wurde Antwerpen im 16. Jahrhundert zu einem der wichtigsten Handelszentren in Europa. Um 1540 waren 300 Antwerpener Firmen in den Handel mit Italien involviert. Parallel zu den „reisenden Kunstwerken“ sind natürlich auch italienische Künstler und Kunsthandwerker nach Flandern gezogen und haben sich dort unter Umständen sogar dauerhaft niedergelassen. In den oben genannten Fällen wird aber davon ausgegangen, dass die Werke aus der Hand flämischer Künstler stammen. Nach Marcantonio Raimondi, Die Kreuzabnahme, Wandteppich, 297 × 267 cm, um 1525, Brügge, Gruuthusemuseum, Inv. Nr. 73.111.XVII, Vermeersch 1980, S. 272–273. Den Hinweis verdanke ich vor allem Stéphane Vandenberghe. Nach Marcantonio Raimondi, Die Kreuzabnahme, Kupferstich, von anderer Hand quadriert, 400 × 280 mm, Ashmolean Museum, Oxford, Inv. Nr. WA1863.5428.
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40 Anonym (nach Marcantonio Raimondi), Die Kreuzabnahme, Wandteppich, 297 × 267 cm (Farbtafel VII)
und der Kreuzabnahme näher zusammengerückt. Der Längsbalken des Kreuzes ist deutlich kürzer. Dies geschah vermutlich, um das Motiv den vorgegebenen Teppichmaßen anzupassen und den Teppich nicht allzu hoch werden zu lassen. Weitere Veränderungen in einzelnen Details, wie den Physiognomien der Gesichter, die unterschiedliche Anordnung der Kreuzesnägel im Vordergrund sowie die Ergänzung eines Salbgefäßes, machen deutlich, dass es sich hier um eine freie und kommentierende Aneignung handelt. Anders als beim zuvor beschriebenen Gemälde, findet hier jedoch keine deutliche Anpassung an die lokale Mode und Bildtradition statt. Vielmehr war
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41 Anonym (nach Marcantonio Raimondi), Die Kreuzabnahme, Kupferstich, von anderer Hand quadriert, 400 × 280 mm
es das Ziel der Teppichweber, den Bezug auf die Renaissancevorlage zu verdeutlichen durch die Einpassung des Motivs in die Pilasterarchitektur. Eine ähnliche Einbindung von einzelnen Bildfeldern in gemalte Architektur findet man unter anderem in den Loggien im Vatikan, welche sich auf das antike Vorbild der Domus Aurea beziehen. Der auf dem Teppich dargestellte Pilasterschmuck aus Fruchtkörben, Füllhörnern und fantasiereichen floralen Formen ähnelt sehr dem Pilasterschmuck der Loggien, jedoch ohne dem Modell getreu zu entsprechen. Im Gegensatz zum vorangegangenen Beispiel wird hier also nicht eine stilistische und motivische Anpassung an lokale Traditionen angestrebt, sondern die Nähe zur Bildsprache der Ausgangskultur forciert. Im genannten Teppich verbinden sich italienische Motive mit nordischer Handwerkskunst auf eine prachtvolle Weise.
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42 Anonym (nach Marcantonio Raimondi), Die Kreuzabnahme, Aquarell und Blattgold, 194 × 117 mm (Farbtafel VIII)
Eine in Aquarell und Blattgold ausgeführte Miniatur, die um 1598 von einem unbekannten Meister vermutlich in Lahore im heutigen Pakistan für den Mughal Herrscher Jahangir (1569–1627) ausgeführt wurde, zeigt eine weitere Fassung der Kreuzabnahme (Abb. 42).35 Hier war vermutlich nicht der Stich Raimondis das Vorbild,
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Nach Marcantonio Raimondi, Die Kreuzabnahme, Aquarell und Blattgold, 194 × 117 mm, um 1598, vermutlich in Lahore, Pakistan, geschaffen, London, Victoria & Albert Museum, Inv. Nr. IS.133:79–1964, Link zum Onlinekatalog: http://collections.vam.ac.uk/objectid/ O70026. Vgl. Digby 1970. Diese Miniaturmalerei wurde vermutlich für den Mughal Herrscher Jahangir (r.1605–1627) angefertigt, als dieser noch ein Prinz war und in den 1590er Jahren in Lahore lebte. Das Blatt wurde herausgelöst aus dem sonst komplett erhaltenen „Kleinen Clive Album“, das ehemals im Besitz von Robert Clive, Baron von Plassey (1725–
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denn die Miniaturmalerei ist spiegelverkehrt zum Stich. Möglicherweise bezieht sich das Blatt auf den erwähnten seitengleichen Chiaroscuro Holzschnitt Ugo da Carpis. Denn hier wie dort hält der Träger auf der rechten Leiter den Kopf neben die Leiter und steckt ihn nicht durch die Sprossen, wie im Stich. Allerdings ist die Liniensprache des Chiaroscuro Holzschnitts zu grob, um als unmittelbares Vorbild für die Miniaturmalerei gedient zu haben. Vielleicht gab es weitere gezeichnete oder gedruckte Varianten des Motivs, die hier als Vorlage dienten. Was auch immer das direkte Vorbild war – es ist sehr wahrscheinlich von Jesuiten an den Hof des Mughal Herrschers Akbar oder seines Sohnes Jahangir gebracht worden. Vor allem Jahangir stand in engem Kontakt zu den Jesuiten und ließ sogar drei seiner Neffen christlich taufen.36 Die Jesuiten führten illustrierte Bibeln und Kupferstiche als Geschenke mit sich, verbunden mit dem Ziel, durch christliche Texte und Bilder ihren Glauben weiter zu tragen. Sie konnten nicht absehen, welchen intensiven Austausch zwischen Mughal Kunst und europäischen Präsentationsformen sie damit auslösten.37 Ihnen kommt eine wesentliche Funktion als kulturelle Vermittler zu, da sie die Bilder am Mughal Hof auch mündlich erklärten. Der Jesuitenpater Jérôme Xavier, der ab 1595 in Lahore war, berichtet, dass der Herrscher Jahangir auch europäische Gemälde und Druckgrafik sammelte. In einem Brief vom 26. Juli 1598 schreibt Xavier zudem, dass er gesehen habe, wie ein Miniaturist im Auftrag Jahangirs eine Kopie einer Kreuzabnahme nach einem europäischen Original anfertigte – ein sehr seltenes Motiv in der Mughal Malerei.38 Es lässt sich nicht nachweisen, dass die von Jérôme Xavier erwähnte Malerei mit dem genannten Blatt übereinstimmt, dennoch kann es ohne Zweifel in diesen Zeitraum datiert werden. Europäische Druckgrafik wurde von den örtlichen Miniaturisten entweder direkt in Pausverfahren durch das Nachzeichnen der Konturen kopiert und anschließend koloriert, oder nur in Teilen übernommen und mit lokalen Motiven erweitert.39 Im
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1774), war. Susan Stronge, Senior Curator, Asian Department, Victoria & Albert Museum, London, verdanke ich wertvolle Hinweise zu diesem Blatt. Maclagan 1932, S. 72–74. Koch 1982. Koch weist nach, welche Bibel in der ersten Mission um 1580 nach Lahore gebracht wurde, nämlich die in Antwerpen von Christophe Plantin zwischen 1569 und 1572 gedruckte achtbändige Royal Polyglot Bibel, deren jeweilige Bände mit gestochenen Frontispizen verschiedener flämischer Künstler ausgestattet waren. Maclagan 1932, S. 236. Jerome Xavier wurde 1549 im spanischen Navarra geboren. Er verbrachte den grössten Teil seines Lebens in Indien, 20 Jahre lang lebte er am Hofe der Mogulherrscher. Er starb 1617 in Goa. Beach 1965. In einem für Jahangir gestalteten Album, das sich heute in der Gulshan Bibliothek in Teheran befindet, kann man besonders außergewöhnliche Beispiele für den kreativen Umgang der Miniaturmaler mit europäischer Druckgrafik beobachten: Entweder wurden einzelne Drucke aus völlig verschiedenen Kontexten collageartig auf einzelnen Albumseiten vereint oder aber es wurden einzelne Figuren aus verschiedenen Stichen zeichnend herausgelöst und in neuen, frei erfundenen Szenen miteinander kombiniert. In dieser vermutlich unter der Ägide Jahangirs angelegten Sammlung verbinden sich in sehr eklektischer Weise der lokalen Tradition verpflichtete Miniaturmalereien mit europäischer Druckgrafik, die entweder als Collage in die Malereien eingeklebt oder malend nachgeahmt wurde. Jahan-
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Fall der erwähnten Kreuzabnahme wurde die Vorlage nicht mittels mechanischer Verfahren übertragen, sondern frei nachgeahmt. Der Figurenverband wurde in seiner Gesamtheit übernommen, jedoch mit weiteren christlichen Bildelementen ergänzt. Dazu zählen zwei Engel, welche die trauernden Frauen im Bildvordergrund einrahmen. Zwei trompetende Engel fliegen vom Himmel herab, begleitet von weiteren Putten. Einzelne Knochen und ein menschlicher Schädel im Bildvordergrund verweisen auf den Berg Golgatha. Ergänzt wurden zudem die Grabeshöhle sowie eine im Bildhintergrund aufragende orientalische Stadt mit prächtigen, von Kuppeln überfangenen Häusern. Links und rechts der Kreuzabnahme sieht man zudem nackte Menschen, welche sich aus Erdlöchern zu erheben scheinen. Damit wird auf die Auferstehung der Toten am Tag des Jüngsten Gerichts verwiesen. So erklären sich auch die trompetenden Engel, welche das Jüngste Gericht ankündigen. Eine solche Verschränkung der beiden Bibelszenen ist mir aus keinem anderen Beispiel bekannt. Weiterhin wurden die Kostüme der Bildfiguren ausgearbeitet und farbig interpretiert. Dabei wurde in Teilen den europäischen Konventionen gefolgt. Die in Ohnmacht gefallene Mutter Gottes trägt das typische blaue Gewand. Aber auch Christus hat einen dunkelblauen Lendenschurz. Vor allem jene Details der Vorlage, die womöglich nicht genau zu erkennen waren, wurden interpretierend umgeformt. Dies trifft unter anderem auf die Frisuren der trauernden Frauen im Bildvordergrund zu. Aus dem geflochtenen Haarkranz derjenigen, welche die Mutter Gottes stützt, wurde in der gemalten Fassung eine Kopfbedeckung. Einer der beiden Helfer, die über dem Querbalken des Kreuzes lehnen, trägt nun eine Art Turban. Insgesamt lässt sich – bis auf die genannten Ergänzungen – zwar eine große ikonografische Nähe zum Vorbild erkennen, auf eine Komposition des Bildes nach den Konstruktionsregeln für räumliche Perspektive wurde jedoch verzichtet. Das, was in der Vorlage plastisch und räumlich war, wird in der gemalten Adaption ornamental und flächig. Wie beim oben erwähnten flämischen Teppich verbinden sich auch bei der indischen Miniaturmalerei lokale Technik und fremde Motive. Soweit bekannt, gibt es in der zeitgenössischen persischen Literatur keinen Hinweis darauf, wer diese Bilder entwarf und wer womöglich beratend unterstützte. Doch lässt sich aus den genannten Ergänzungen schließen, dass der Miniaturist in der Übernahme der druckgrafischen Vorlage von jemandem beraten worden ist, der die Bibel gut kannte. So ist es wahrscheinlich, dass dieser Berater ebenfalls aus dem Umkreis der Jesuiten stammte, welche die Druckgrafik aus Europa mitgebracht hatten. Die Szene wurde in der malerischen Übernahme mit dem Ziel umgeformt, den christlichen Inhalt noch deutlicher zu erfassen. Dennoch ist der Stil der Malerei mit keinem europäischen Vorbild zu vergleichen. Der Prozess der Assimilation an die lokale Bildsprache lässt sich nur
gir zögerte nicht, Kunstwerke aus sehr konträren Kontexten auf einer Albumseite zu vereinen, sie wurden anschließend mit gemalten Bordüren in einen bildlichen Zusammenhang gebracht, obwohl sich keine inhaltliche Verwandtschaft unter ihnen erkennen lässt.
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schwer beschreiben. Während die Architektur der Stadt im Hintergrund des Bildes eine deutliche Verwandtschaft zu regionalen Baustilen erkennen lässt, changieren die Physiognomien der dargestellten Personen zwischen europäischen und indischen Typen. Es hat sich hier eine Mischform zwischen lokalen Traditionen und Entlehnungen aus einem fremden kulturellen Kontext herausgebildet. Anhand dieses Beispiels wird deutlich, dass nicht nur die Druckgrafik selbst eine bedeutende Funktion als Vermittler europäischer Bilderfindungen im asiatischen Kontext innehatte. Auch die Jesuiten wirkten als Vermittler, indem sie die Stiche an den Mughalhof brachten und ihren religiösen Inhalt erklärten. Die Übertragung der Stiche in Miniaturmalerei regten sie womöglich nicht selbst an, dennoch formten sie deren Gestalt durch ihre mündlichen Bibelauslegungen mit. Sie waren sich der im religiösen Sinn didaktischen Funktion der Stiche wohl bewusst, denn sie hatten sie vor allem ihres Inhaltes wegen mitgebracht. Ihr erstes Ziel war es sicher nicht, explizit italienische Darstellungsformen nach Asien zu bringen. Dennoch lösten sie – möglicherweise unbeabsichtigt – einen Kulturtransfer zwischen Europa und Asien auch auf formaler, künstlerischer Ebene aus. Weiterhin gibt es eine griechische Ikone aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, bei der sich der nicht namentlich bekannte Künstler ebenfalls das Motiv der Kreuzabnahme aus Raimondis Stich aneignet.40 Auch hier wurde erneut das ungewöhnliche Motiv des Mannes aufgegriffen, der sein Haupt zwischen die Leitersprossen steckt, sodass kein Zweifel daran bestehen kann, dass die Ikone auf dem Stich Raimondis basiert. Zudem ist sie das einzige mir bekannte Beispiel, wo ebenfalls der überlebensgroße Baum vom Stich übernommen wurde. Während das Motiv der Kreuzabnahme recht getreu entlehnt worden ist, nahm sich der Künstler deutliche Freiheiten im unteren Teil des Bildes, indem er die Haltungen sämtlicher Trauernden veränderte und sie durch sechs weitere Frauen ergänzte. In diesem Teil des Bildes ist der Maler den spätbyzantinischen Darstellungen der Beweinung Christi sehr nahe gekommen. Besonders charakteristisch für den Zeitgeschmack ist die dramatische Figur der klagenden Frau mit den erhobenen Armen – ein Motiv, das sich schon in griechischen Miniaturen des 11. und 12. Jahrhunderts findet. So fügte der anonyme Meister Versatzstücke aus verschiedenen bildlichen Quellen und ikonografischen Zusammenhängen zu einer neuen Komposition zusammen. Dieses Verfahren wurde auch im beschriebenen Beispiel der indischen Miniaturmalerei angewandt. In der Verwendung italienischer Vorbilder in fremden kulturellen Kontexten ist somit eine außerordentliche Freiheit im Umgang mit bildlichen Vorlagen zu erkennen, nicht zuletzt gekennzeichnet durch ungewöhnliche Kombinationen einzelner Bildthemen. Ebenfalls bemühte sich der unbekannte Ikonenmaler, die Stadt im Hintergrund in seinem Gemälde nachzuahmen. Allerdings wurde sie viel näher an die Szene im Vor40
Nach Marcantonio Raimondi, Die Kreuzabnahme, Tempera auf Holz, 40 × 36 cm, erste Hälfte des 17. Jh., Athos, Kloster Lawra, Hadzidakis 1940, Abb. Nr. 7.
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dergrund herangerückt und in größerem Maßstab aufgefasst. Dadurch wurde die Wirkung räumlicher Ferne aufgegeben. Die Gebäude sind der byzantinischen Idealarchitektur angepasst. Weitere stilistische Veränderungen sind offensichtlich: Die anatomische Realität des nackten Körpers Christi interessiert unseren Künstler nicht, und die reiche plastische Modellierung der menschlichen Formen ist verloren gegangen. Die starken athletischen Männer, die Raimondi bildete, sind in orthodoxer Atmosphäre sozusagen leichte überirdische Gestalten geworden.41 Auch die Frauen sind in der Gestaltung ihrer Körper deutlich zurückgenommen und wurden damit der byzantinischen Ästhetik angepasst. Manolis Hadzidakis weist darauf hin, dass solche Ikonen wiederum von anderen Malern nachgeahmt wurden und damit das einmal aus dem italienischen Kontext entlehnte Motiv weitere Nachahmungen bewirkte.42 Wie dieser kurze Überblick über verschiedene Aneignungen von Druckgrafik nach Raffaels Bilderfindung der Kreuzabnahme gezeigt hat, lässt sich eine große Vielfalt der Aneignungen erkennen, die auch Übertragungen in andere künstlerische Medien beinhaltet, wie Malerei mit Öl oder Tempera auf Holz, gewebte Wandteppiche oder Miniaturmalerei auf Papier. Erstaunlich ist die Vielfalt der Umgebungen, in welche die Stiche jeweils gelangten. So unterschiedlich die Aneignungen auch sein mögen, sie gleichen sich sämtlich in der Strategie der Anpassung der Entlehnung an das eigene kulturelle Umfeld. Denn in allen genannten Fällen wird lediglich das durch die Druckgrafik vermittelte Motiv übernommen, nicht aber der Stil der Vorlage. Es wird eine eigene Formensprache entwickelt, die aus den Bedingungen der jeweiligen Technik resultiert, aber auch geprägt ist von der individuellen Ausdrucksweise der übernehmenden Künstler sowie der formalen Tradition, auf die sich ihr Werk gründet. Vor allem in Details, wie der Einbettung der Szene in landschaftliche Rahmen, in Kostümen und der Wiedergabe der Gesichtszüge fühlten sich die nachahmenden Künstler nicht dem Vorbild verpflichtet. Darüber hinaus wird jeweils das Motiv mit Bezug auf die biblische Historie durch weitere Bildfiguren ergänzt und verdeutlicht. So muss davon ausgegangen werden, dass in der Rezeption des Kupferstichs nicht nur das druckgrafische Werk selbst vom nachahmenden Künstler in den Blick genommen wurde. Sondern die Ergänzungen beruhen entweder auf einer parallelen Rezeption von Bild und Text, wenn zur Vervollkommnung der Entlehnung auch die Bibel zu 41 42
Hadzidakis 1940, S. 155. Hadzidakis 1940, S. 156–158: a) Athen, Sammlung Velimesi, 38 × 27,5 cm, 2. Hälfte 17. Jh. (Hier wurden die beiden Männer, die sich über den Querbalken des Kreuzes beugen, seitenverkehrt dargestellt, eine dritte Leiter wurde ergänzt sowie eine weitere Trauernde); b) Athen, Byzantinisches Museum, Inv. Nr. 656, Tempera auf Holz, 40,5 × 31,5 cm (Hier findet sich erneut das Motiv der dritten Leiter).
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Hilfe genommen wurde. Oder aber es überlagern sich Rezeptionen verschiedener visueller Vorlagen. Es wird deutlich, dass es sich in sämtlichen hier beschriebenen Beispielen der Aneignung des Kupferstichs Marcantonio Raimondis um produktive Rezeptionen handelt, die jeweils Anpassungen an lokale Traditionen einschließen. Den Künstlern kam es nicht darauf an, sich explizit eine Erfindung Raffaels anzueignen und sich mit ihm in einem künstlerischen Wettstreit zu messen. In Einzelfällen kann sogar angenommen werden, dass den Rezipienten gar nicht bewusst war, auf wen die Erfindung zurückging, da Raimondi Raffael als Autor der Vorlage nicht namentlich erwähnt. Was hier zu beobachten ist, ist vielmehr die Wanderung eines Motivs, das wegen seines erzählerischen Einfallsreichtums wertgeschätzt wurde. In deutlichem Gegensatz zu den genannten Beispielen steht schließlich Rembrandts künstlerische Reaktion auf denselben Stich Raimondis: Hatte er sich in seinem Frühwerk bei den fünf Passionsszenen, die er im Auftrag des Prinzen Frederik Hendrik van Oranje-Nassau gemalt hatte, vor allem mit der Malerei von Peter Paul Rubens (1577–1640) gemessen, die ihm durch Radierungen von Lukas Vorsterman (1595–1675) bekannt war, so wendet er sich um 1653–1654 erneut dem Thema der Kreuzabnahme zu.43 Auf einem New Yorker Skizzenblatt vereint er drei Studien nach Raimondis gestochener Fassung des Themas (Abb. 43).44 Rembrandt greift hier aus der Vorlage allein das Detail des Mannes heraus, der versucht, den Leichnam Christi zu stützen. Dieser kommt dabei mit seinem Gesicht dem Kopf Christi sehr nahe. Ein solcher Moment der innigen Begegnung mit Christus, vereint mit der körperlichen Anstrengung, das Gewicht des toten Leibes zu halten, ist für Rembrandt von größtem Interesse. Bereits in der gemalten Fassung spielte dieser Aspekt – wie der schwere Leichnam Christi zu halten sei – eine zentrale Rolle.45 Hier ließ Rembrandt sich von Rubens’ Bilderfindung leiten und zeigte deshalb in ähnlicher Form, wie Christus in frontaler Haltung langsam vom Kreuz herabgelassen wird. Ein Träger stützt dabei das Gewicht Christi von unten. Doch Rembrandts gleichzeitige Tendenz, die Entlehnung hinsichlich einer weniger idealisierten und somit lebensnaheren Darstellung umzu43 44
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Stechow 1929. Rembrandt, Drei Studien der Kreuzabnahme, Rohrfeder in Tinte, 190 × 205 mm, um 1654, New York, The Pierpont Morgan Library, Inv. Nr. B3 FS 031 05, siehe auch: http://corsair. themorgan.org/cgi-bin/Pwebrecon.cgi?BBID=247243, Benesch 1973, Bd. V., Kat. Nr. 934, Abb. Nr. 1211. Vgl. Campbell 1975, S. 28–31. Rijckevorsel 1932, S. 152–153. Van Rijckevorsel erkennt in Rembrandts Gemälde der Grablegung Christi (1639) aus der genannten Serie von Passionsbildern eine Verwandtschaft zum Stich der Beweinung Christi von Marcantonio Raimondi, und zwar vor allem hinsichtlich der Gestaltung des Hintergrundes mit dem Kalvarienberg. Auch schließt die Grabeshöhle auf dem Gemälde nach oben hin in ähnlicher Weise ab wie die entsprechende Felsformation auf dem Stich. Rembrandt, Kreuzabnahme Christi, Öl auf Holz, 89,4 × 65,2 cm, 1633, München, Alte Pinakothek, Inv. Nr. 395. Sicherlich war Rembrandt der Stich Raimondis noch nicht bekannt, als er seine erste Fassung der Kreuzabnahme malte. Diese ließ er anschließend von Jan van Vliet in eine Radierung übertragen, um durch Reproduktionsgrafik auf das eigene Werk aufmerksam zu machen – ähnlich wie es Raffael und Raimondi oder Rubens und Vorsterman getan hatten, Vgl. White 1999, S. 14–18, White / Boon 1969, Nr. B 81.
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43 Rembrandt, Drei Studien für die Kreuzabnahme, Rohrfeder in Tinte, 190 × 205 mm, um 1654
formen, führt dazu, dass der Träger auf seinem Gemälde, welcher Christus von unten hält, sein Gesicht unmittelbar am Bauch und an der Scham Christi hat. Gerade weil der Leib Christi in keiner Weise einen idealisierten Körper vorstellt, entspricht diese Lösung sicherlich nicht dem nötigen Dekorum. Raimondi liefert ihm nun eine neue Bildlösung. Hier schwebt Christus noch beinahe in der Luft. Es ist nicht angegeben, wie er einmal sicher auf den Boden gelangen soll. Doch gefällt Rembrandt die Idee, wie der Körper Christi in sich gedreht ist: Während der Oberkörper nach hinten gewendet ist, weil noch eine Hand ans Kreuz genagelt ist, ist der Unterkörper leicht nach vorn geschraubt. Der Träger hält ihn am Oberkörper und vermeidet es damit, seinem Unterleib zu nahe zu kommen. Diese beiden Ideen wiederholt Rembrandt in der New Yorker Zeichnung. Bei der größten Skizze rechts ist der rechte Arm Christi erhoben, womit angedeutet wird, dass dieser noch ans Kreuz genagelt ist. In allen drei Studien konzentriert sich Rembrandt darauf, wie nun die Köpfe des Trägers und Christus geschickt zueinander zu bringen sind. Dabei lässt sich eine unmittelbare Transformation der Entlehnung konstatieren. Auch hier ist aus dem idealisierten, athletischen Körper Christi ein gebrechlicher Leib geworden, dem nichts Göttliches mehr anhaftet. Rembrandts Interesse an einer möglichst
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realitätsnahen Darstellung christlicher Inhalte führt dazu, dass er sein Augenmerk auf das Gewicht Christi lenkt sowie auf das Bemühen des Mannes, ihn zu halten, welcher zudem auf der Leiter in einer schwierigen Position ist. Das Resultat ist sehr berührend, vor allem weil sich im Gesicht des Tragenden die Sorge um das Wohl des Leibes Christi widerspiegelt. Diese Skizze hat nicht zu einer weiteren gemalten Fassung Rembrandts der Kreuzabnahme geführt. Benesch schlägt vor, bei der genannten Zeichnung könne es sich um eine Studie für Rembrandts späte Radierung der Kreuzabnahme bei Fackelschein handeln.46 Doch zeigt diese keinerlei formale Ähnlichkeit zur Zeichnung. Bei einer unvollendet gebliebenen, wenn auch kurioserweise signierten und mit „1642“ datierten Radierung Rembrandts der Kreuzabnahme erinnert möglicherweise die Idee, den Nagel aus der rechten Hand Christi mit einer übergroßen Zange zu entfernen, noch einmal an den Stich Raimondis.47 Insgesamt lässt sich festhalten, dass Rembrandt sich hier im Gegensatz zu den oben erwähnten Bildbeispielen gezielt mit der Kunst Raffaels misst. So wie er sich im Frühwerk im künstlerischen Wettstreit mit Rubens einer eigenen Fassung des Themas angenähert hatte, so entlehnt er hier aus dem gestochenen Vorbild eine für ihn zentrale Erfindung, um erneut durch die aemulatio mit Raffael zu einer neuen Bildlösung zu gelangen.
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White / Boon 1969, Nr. B. 83, Vgl. Benesch 1973, Bd. V., S. 259. White / Boon 1969, Nr. B. 82.
Parmigianino
Freie Nachzeichnungen von Gesamtkompositionen Parmigianino fertigte eine Vielzahl von gezeichneten Studien nach Druckgrafik aus dem Umkreis Raffaels an.1 Dabei ist zwischen Wiederholungen der Gesamtkomposition einzelner Stiche und Entlehnungen ausgewählter Motive zu unterscheiden. Im Folgenden werden exemplarisch einzelne Aneignungen vorgestellt, um Aufschluss darüber zu erlangen, warum Parmigianino Druckgrafik nach Raffael zeichnend studierte. Dass er sich so sehr dafür interessierte, liegt sicherlich nicht nur im Bestreben begründet, ein „zweiter Raffael“ werden zu wollen, wie es Vasari meint, sondern es geht Parmigianino auch darum, Vorbilder für sein eigenes druckgrafisches Werk zu studieren.2 Parmigianino erreichte Rom erst vier Jahre nach Raffaels Tod. Vermutlich hatte er nur zu wenigen Zeichnungen Raffaels direkten Zugang. In Rom begann er damit, selbst Drucke anzufertigen oder nach seinen Entwürfen herstellen zu lassen, weshalb es nahe liegt, dass er die Werke des führenden römischen Stechers studierte. Es ist möglich, dass sich Marcantonio Raimondi und Parmigianino kannten. Man nimmt sogar an, Raimondi habe Parmigianino in die Kunst des Radierens eingeführt, da Raimondi als einer der ersten Künstler in Italien diese neue Technik in allegorischen Darstellungen und Heiligenbildern sehr kleinen Formats anwendete.3 Auch zu
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Wesentliche Beiträge zu diesem Thema liefert Achim Gnann, „Einflüsse der Kunst Roms“, in: Gnann 2007a, S. 92–101. Vasari 1973, Bd. V, S. 223–224: „Lo spirito del qual Raffaello si diceva poi esser passato nel corpo di Francesco, per vedersi quel giovane nell’arte raro e ne’costumi gentile e grazioso, come fu Raffaello; e, che è più, sentendosi quanto egli s’ingegnava d’imitarlo in tutte le cose, ma sopra tutto nella pittura.“ Vgl. Deutsche Übersetzung in: Vasari 2004b, S. 21. Gnann 2007b, S. 17, Landau / Parshall 1994, S. 266: „It was almost certainly through Marc antonio that Parmigianino had his first encounter with etching […]; It is not unlikely that Marcantonio himself taught him [Parmigianino] the secrets of etching on copper, either in
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Ugo da Carpi pflegte Parmigianino einen engen Kontakt, der später in eine Zusammenarbeit mündete.
Die Predigt Pauli vor den Athenern Eine Parmigianino zugeschriebene, gezeichnete Wiederholung nach dem Kupferstich von Marcantonio Raimondi Die Predigt Pauli vor den Athenern (Abb. 44, Bartsch XIV.50.44) befindet sich im Städel Museum (Abb. 45).4 Raffael hatte in mehreren Zeichnungen und einigen Kartons den Teppichzyklus mit Szenen aus dem Leben der Apostel vorbereitet. Als Studie für die Predigt Pauli hat sich neben dem entsprechenden Karton nur ein erster Entwurf in Form einer Rötelskizze erhalten, der schildert, wie fünf Zuhörer den Worten des Apostels lauschen (Abb. 46).5 Es muss mindestens noch eine ausgearbeitete Studie Raffaels zu diesem Thema gegeben haben, welche einen weiteren Schritt in der Vorbereitung des Kartons für die Teppichfolge markierte und heute nur in zwei Kopien erhalten ist.6 Dieses Modell bildete die Grundlage für den Stich Raimondis, der anschließend Parmigianino als Studienmaterial diente. Die Zuschreibung der lavierten Federzeichnung in Frankfurt an Parmigianino ist von Pouncey angezweifelt worden.7 Popham, Malke und Franklin gehen von der Eigen-
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Rome or, more probably, in Bologna, where they had both taken refuge from the German invaders.“ Die gleiche These vertritt auch Ekserdjian 2006, S. 223. Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Die Predigt Pauli vor den Athenern, Kupferstich, um 1517–1520, Bartsch XIV.50.44, London, The British Museum, Inv. Nr. 2005,U.106 und Parmigianino, Die Predigt Pauli vor den Athenern, Feder in Braun, braun laviert, 275 × 355 mm, um 1524–1527, Frankfurt / Main, Städel Museum, Inv. Nr. 4314. Gnann 2007a, Nr. 381, Popham 1971, Nr. 144. Auch in dieser Zeichnung wird die leere Tafel als Signatur Raimondis nicht übernommen. Raffael, Predigt Pauli vor den Athenern, Rötel, Spuren von Metallstift, 278 × 419 mm, Blattgrösse, Fehlstelle unten links, verso in vertikaler Richtung: „Raffaello“, oben links „198“ am unteren Rand, „Rafaello da / urbino“, am oberen Bildrand „52“, Florenz, Uffizien, GDSU, Inv. Nr. 540E, Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, Kat. Nr. 519. Kopie nach Raffael (ehemals Raffael Schule), Predigt Pauli vor den Athenern, Feder, leichte Spuren von schwarzem Bleistift, braune und graue Tusche, Weißhöhung, komplett aufgelegt, 253 × 332 mm, Blattgrösse, diverse Fehlstellen im Papier, verso auf der Montur „44“, Florenz, Uffizien, GDSU, Inv. Nr. 1217E, Tofani 1987, Bd. II, S. 505. Eine weitere Kopie nach der verlorenen Zeichnung Raffaels befindet sich in Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nr. 3884, recto. Beide Zeichnungen weisen deutliche Unterschiede zum Stich auf, vor allem fehlen Häuser im Hintergrund zwischen den Tempelanlagen, weshalb anzunehmen ist, dass sie nicht nach dem Stich Raimondis, sondern nach dem verlorenen Original Raffaels gefertigt wurden. Vgl. Kristeller 1907, S. 206. Weitere Nachzeichnungen aus dem Umkreis von Rubens, die eher auf Raffael, denn auf Raimondi zurückgehen, sind in Uppsala, Universitetsbibliothek, Inv. Nr. 39 und in Weimar, Schlossmuseum, Inv. Nr. KK 5737, Vgl. Wood 2010, Kat. Nr. 28, Abb. Nr. 63 und 64. Pouncey 1976, S. 174: „Only about half a dozen sheets unambiguously echoing Raphael have been mustered and one of these, a copy after the tapestry design of St. Paul preaching at Athens […], unfortunately seems to be no more than a copyist’s dull travesty of a lost Parmigianino.“
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44 Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Die Predigt Pauli vor den Athenern, Kupferstich, 264 × 347 mm
45 Parmigianino (nach Marcantonio Raimondi), Die Predigt Pauli vor den Athenern, Feder in Braun, braun laviert, 275 × 355 mm, um 1524–1527
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46 Raffael, Predigt Pauli vor den Athenern, Rötel, Spuren von Metallstift, 278 × 419 mm
händigkeit des Blattes aus.8 Wie Achim Gnann in seinem aktuellen Katalog der Zeichnungen Parmigianinos bemerkt, handelt es sich jedoch „vermutlich nicht um eine eigenhändige Zeichnung des Künstlers“, auch wenn die Figurentypen „unverkennbar parmigianesk“ seien.9 Zugleich weist Gnann aber darauf hin, dass sich in anderen, zweifellos Parmigianino zugewiesenen Werken Weiterentwicklungen der Figuren aus der Komposition der Predigt Pauli erkennen lassen, was die Vermutung unterstützt, dass das Frankfurter Blatt eine heute verlorene Zeichnung Parmigianinos wiedergibt.10 Das Interesse Parmigianinos gilt hier vor allem der Gliederung des Bildes, der
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Malke 1980, Nr. 27: „Die Zeichnung gibt den Marcanton-Stich nach Raffaels berühmter Komposition ‚Predigt des heiligen Paulus in Athen‘ wieder. Marcanton als reproduzierender Stecher passte sich dabei seiner Vorlage, vermutlich einer Raffael-Zeichnung, weitgehend an, während Parmigianino den künstlerischen Nachvollzug in seinem eigenen Stil angestrebt, die Figuren in seine eigene Formensprache umgesetzt hat. Die Rückumwandlung eines Kupferstichs in eine Zeichnung belegt die Bedeutung druckgrafischer Blätter in ihrer Verbreitung von Bilderfindungen wie auch die Austauschbarkeit des Mediums.“ Vgl. Franklin 2003, Nr. 22. Dass der Stich die Vorlage war, wird deutlich durch das Einfügen einer Abschlusslinie am Bildrand oben links. Gnann 2007a, Kat. Nr. 381, vgl. ebenda S. 94: „Wenn sie tatsächlich eine Nachzeichnung ist, muss sie jedenfalls getreu ein Blatt von Parmigianino wiedergeben, dem mit großer Wahrscheinlichkeit der etwa gleich große Stich von Marcanton zugrunde lag.“ Gnann 2007a, Nr. 213, Popham 1971, Nr. 193, Die Verehrung Jupiters, Feder, braun laviert, weiß gehöht, teilweise oxidiert, 205 × 263 mm, London, British Museum, Inv. Nr. 1853-10-
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„Balance zwischen machtvoll auftretenden Einzelfiguren und bewegten Gruppen, deren Gegenüberstellung er mit Hilfe monumentaler architektonischer Versatzstücke wirkungsvoll betont.“11 Auffallend ist die Detailgenauigkeit, mit der sich die Zeichnung auf den zugrunde liegenden Stich bezieht. Jede Gewandfalte und jeder Grashalm werden wiederholt. Auch an Stellen, an denen der Stich unklar geblieben ist, wie im Falle eines männlichen Kopfes in der Bildmitte, werden diese Unklarheiten nicht schöpferisch ergänzt, wie man es von Parmigianino erwarten würde, sondern ebenso getreu nachgeahmt. Einzig in der Gestaltung einiger Gesichter erlaubt sich der Zeichner Freiheiten gegenüber dem Stich. Doch sind diese gezeichneten Gesichter höchst unterschiedlicher Güte. In den meisten Fällen entbehren sie einer klar erkennbaren Emotion oder eines individuellen Charakters. Auch im Stich sind sie von nicht allzu hoher Qualität und zeigen in vielen Fällen anatomische Fehler. In der Übersetzung der gestochenen Linien in die lavierte Federzeichnung kam es dem Zeichner vor allem um eine Akzentuierung tonaler Werte an. Hell-Dunkelwerte werden, bis auf wenige Ausnahmen, nicht durch Schraffuren gebildet, sondern durch die nachträgliche Ergänzung einzelner Pinsellavierungen. So ist besonders die Figur des predigenden Paulus durch dunklere Lavierungen hervorgehoben worden. Dennoch sind in der Zeichnung kaum stärkere Akzente auszumachen und die Gestaltung der Lavierungen unterscheidet sich nicht, je nachdem ob es sich um Personen oder Architektur handelt. Gnann bemängelt in der Qualität der Zeichnung „das mangelnde Verständnis für die organische Gestaltung des Standbildes, die Unklarheiten bei der Wiedergabe der Fältelungen an manchen Stellen und die schwunglose Strichführung“.12 In der Qualität kommt dieses Blatt tatsächlich den anderen gezeichneten Wiederholungen Parmigianinos nach Stichen Raimondis nicht gleich. Die Zeichnung enthält fast keine Pentimenti, was zusätzlich die Vermutung unterstützt, sie wiederhole eine andere Zeichnung.
David und Goliath Um 1518–1519 entwickelte Raffael die Komposition der Ermordung Goliaths durch den zukünftigen König David (1. Buch Samuel, Kap. 17). Eine mit schwarzer Kreide auf hellbraunem Papier ausgeführte Figurenstudie Raffaels zu diesem Thema befindet sich in der Albertina (Abb. 47).13 Sie zeigt allein die beiden Protagonisten und zu ihrer
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8-2 und Gnann 2007a, Nr. 215, Popham 1971, Nr. 374, Der heilige Paulus predigt in Athen, Feder in Braun, hellbraun laviert, weiß gehöht, 210 × 153 mm, Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nr. 6394. In diesen beiden Blättern sieht Gnann allerdings nicht den Stich als Vorbild, sondern den Teppichkarton Raffaels, resp. den Teppich selbst, Vgl. Textteil, S. 94. Gnann 2007a, S. 94. Ebenda. Raffael, David schlägt Goliath das Haupt ab (Studie für das Deckenfresko in den Loggien, Vatikan), schwarze Kreide, 242 × 321 mm, 1516–18, Albertina, Wien, Inv. Nr. 178, R. 114,
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Linken einen fliehenden Philister. David ist im Begriff, dem zu Boden geworfenen Goliath das Haupt abzuschlagen. Bei dieser Studie handelt es sich um eine Bilderfindung Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle, die Raffael sich aneignet.14 Es ist sehr
47 Raffael, David schlägt Goliath das Haupt ab (Studie für das Deckenfresko in den Loggien, Vatikan), schwarze Kreide, 242 × 321 mm, 1516–1518
wahrscheinlich, dass es mindestens eine weitere Modellzeichnung Raffaels gegeben hat, in welcher die Szene um angreifende israelische Soldaten und fliehende Philister ergänzt wurde und einen landschaftlichen Rahmen erhielt. Diese heute nicht mehr erhaltene Zeichnung bildete vermutlich die Grundlage für das Perino del Vaga zugeschriebene Fresko im elften Joch der Loggien im vatikanischen Palast.15 Da es sich bei den anderen erhaltenen Vorzeichnungen für die Fresken in den Loggien beinahe ausschließlich um lavierte Federzeichnungen handelt, ist anzunehmen, dass auch das verlorene Modell für David und Goliath eine Federzeichnung war. Doch soll im Folgenden allein die noch erhaltene Kreidestudie Raffaels in ihrem Verhältnis zu ihren druckgrafischen Übertragungen untersucht werden: Marcantonio Raimondi fertigte einen Stich gleichen Themas an, der sich spiegelverkehrt zur Kreidezeichnung Raf-
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S.R. 216. Knab/Mitsch/Oberhuber 1983, Nr. 583, Mitsch 1983, Nr. 44. Der folgende Abschnitt wurde in Auszügen bereits publiziert, siehe: Knaus 2010. Michelangelo Buonarroti, David und Goliath, Deckenfresko, Rom, Sixtinische Kapelle, 1508–1512. Die meisten heute bekannten Vorzeichnungen zur sogenannten Raffael-Bibel, mit der im Auftrag Papst Leo X. die Kuppelwölbungen der Loggien geschmückt wurden, sind lavierte Federzeichnungen mit Weißhöhungen. Ihre Zuschreibung an Raffael oder Giovanni Francesco Penni ist Gegenstand kunsthistorischer Diskussion. Ob die heute verlorene Modellzeichnung für David und Goliath von der Hand Pennis oder Raffaels stammte, lässt sich nicht mehr feststellen. Wenn sie aus der Hand Pennis stammte, steht dies nicht im Widerspruch zu der Annahme, sie habe als Vorlage für die Drucke gedient, da weitere Beispiele bekannt sind, in denen Raimondi Zeichnungen Pennis und nicht Raffaels in Kupferstiche übertrug.
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48 Marcantonio Raimondi (nach Raffael), David und Goliath, Kupferstich, von anderer Hand quadriert, 267 × 395 mm
faels verhält (Abb. 48, Bartsch XIV.12.10).16 Die in der Vorlage anatomisch nicht sinnvoll erfasste, gekrümmte rechte Hand Goliaths ist im Stich in korrigierter Weise dargestellt. Die übrige Körperhaltung, Haartracht und Gewand Goliaths und Davids sind eng am Vorbild Raffaels orientiert. Die deutlichsten Veränderungen lassen sich am davoneilenden Mann erkennen. Trägt die michelangeleske Gestalt bei Raffael noch zivile Kleidung mit offenem wehendem Haar, so handelt es sich auf dem Stich eindeutig um einen Soldaten in antikem Harnisch. Sein linker Fuß berührt auf dem Stich nicht mehr den Boden, in der rechten Hand hält er nun einen Speer. Es lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren, auf wen die genannten Veränderungen gegenüber 16
Marcantonio Raimondi (nach Raffael), David und Goliath, Kupferstich, von anderer Hand quadriert, 267 × 395 mm, London, British Museum, Inv. Nr. V,4.49. Die Autorschaft Raimondis für diesen Stich ist von Delaborde angezweifelt worden. Vgl. Delaborde 1888, S. 278–280, Nr. 1. Außerdem vertritt Delaborde die Ansicht, die gezeichnete Vorlage für diesen Stich könne aufgrund einiger Fehler in der Komposition nicht von Raffael stammen, sondern müsse eine Schülerarbeit sein. Auch Kristeller schreibt diesen Stich Raimondi ab – siehe: Kristeller 1907, S. 220. Eine Signatur Raimondis in Form einer Tafel, die das Monogramm MAF einschließt, erscheint erst auf dem zweiten Zustand der Platte. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass diese Signatur von Raimondi stammt, denn es gibt nur einen weiteren Stich (Die Geburt der Venus, Bartsch XIV.234.312), in dem Raimondi die Tafel mit dem Monogramm kombiniert. Üblicherweise verwendet er ausschließlich eine leere Tafel als Signatur. Doch möchte ich nicht soweit gehen, die Autorschaft des Stichs anzuzweifeln. Möglicherweise ist der Stich in Zusammenarbeit mit Agostino Veneziano entstanden.
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49 Ugo da Carpi (nach Raffael), David und Goliath, Chiaroscuro Holzschnitt von drei Stöcken, 260 × 383 mm (Farbtafel IX)
der Zeichnung Raffaels zurückzuführen sind. Ein Holzschnitt Ugo da Carpis mit der Darstellung der gleichen Szene zeigt den davoneilenden Philister in derselben Rüstung und die Hand Goliaths ist ebenfalls in gleicher Weise korrigiert (Abb. 49, Bartsch XII.26.8).17 Meiner Ansicht nach ist dies ein Indiz dafür, dass es eine ausgearbeitete Modellzeichnung Raffaels gegeben hat, in der diese Veränderungen gegenüber dem ersten Entwurf bereits enthalten waren. Da Carpi stand vor der Herausforderung, seine Vorlage in solche Liniengefüge zu übersetzen, dass sich erst im Zusammenspiel von drei Holzstöcken das vollständige Bild ergibt.18 Dies verlangt ein hohes Abstrak-
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Ugo da Carpi (nach Raffael), David und Goliath, Chiaroscuro Holzschnitt von drei Stöcken, 260 × 383 mm, London, British Museum, Inv. Nr. 1868,0612.2. Hierbei handelt es sich vermutlich um einen frühen Chiaroscuro Holzschnitt da Carpis, da der Holzstock, von dem in schwarzer Farbe die Konturen gedruckt werden, noch einen großen Teil des Bildes enthält. In späteren Holzschnitten, die unter anderem in Zusammenarbeit mit Parmigianino entstanden sind, zeigt sich das Zusammenspiel der einzelnen Holzstöcke noch variantenreicher und die Tonplatten übernehmen einen größeren Teil der beschreibenden Funktion. Auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, als sei da Carpis Holzschnitt ein sehr gut geeignetes druckgrafisches Pendant zu einer lavierten Federzeichnung, lässt sich im Vergleich anderer Holzschnitte da Carpis mit gezeichneten Vorlagen erkennen, dass er sich nie in der Farbgebung an der Vorlage orientierte, sondern diese nach eigenen ästhetischen Zielen in den Holzschnitt übersetzte. Es gibt auch Abzüge, in denen das Bild nur mit zwei Holzstöcken gedruckt wird. Da Carpi experimentierte gern mit verschiedenen Farbvarianten.
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tionsvermögen. Da sein Holzschnitt seitengleich mit Raffaels Skizze und dem vermutlich verlorenen Modell ist, musste er zudem Vorzeichnungen anfertigen, um das Bild spiegelverkehrt auf die Holzstöcke zu übertragen und es dann seitenrichtig zur Vorlage drucken zu können.19 In der Literatur werden gegensätzliche Thesen über die Beziehung zwischen dem Holzschnitt da Carpis und dem Stich Raimondis aufgestellt: Innis Howe Shoemaker und Elisabeth Broun gehen davon aus, dass beide Werke auf eine heute verlorene gemeinsame Modellzeichnung zurückgehen.20 Dieser Auffassung schließt sich Corinna Höper an.21 David Landau und Peter W. Parshall argumentieren, da Carpi habe den Stich Raimondis kopiert, wie er es auch schon beim Bethlehemitischen Kindermord oder der Beweinung Christi (Bartsch XIV.43.37) getan habe.22 Konrad Oberhuber widerspricht der Annahme einer Abhängigkeit da Carpis vom Stich Raimondis.23 Er kommt zu dem Schluss, dass der Holzschnitt den Stich in der Qualität übertrifft und demzufolge Raimondi da Carpi kopiert habe. An einem kleinen Detail zeige sich ein Fehler Raimondis, welcher entstand, weil Raimondi da Carpi nicht richtig verstanden habe. Im Chiaroscuro ist rechts neben David im Hintergrund ein Soldat zu erkennen, dessen rechter Arm nach hinten zeigt. Im Stich erscheint dieser Arm ohne eine klare Zuordnung zum Körper. Es ist richtig, dass dieses Detail im Stich unklar bleibt, doch ist es gefährlich, hier vorschnelle Schlüsse zu ziehen. Schließlich handelt es sich um zwei Blätter, die in verschiedenen Techniken mit jeweils unterschiedlicher Liniensprache und anderen technischen Herausforderungen an den Formschneider beziehungsweise Kupferstecher ausgeführt sind. Es lassen sich bei näherer Betrachtung viele Stellen finden, an denen andererseits Raimondis Stich überzeugender ist als der
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Busch 2009, S. 40–41. Busch weist auf die interessante Technik des Illusionismus im Falle des David und Goliath Holzschnittes da Carpis hin: da Carpi hat einen scheinbaren Rahmen des Bildes dargestellt, der am rechten und unteren Rand als hell erleuchtet wiedergegeben wird. Über den unteren Rand ragt der Fuß eines fliehenden Kriegers. Auch seine nach vorn gestreckte rechte Hand überschneidet die ästhetische Grenze, indem sie in den Raum des Betrachters zu greifen scheint. Broun / Shoemaker 1981, Kat. Nr. 53. Höper 2001, S. 58–59 und Kat. Nrn. G.10.1.A und G 10.2. Landau / Parshall 1994, S. 150: „Ugo had no obligations towards Raphael, il Baviera, or any other printmaker, and he was printing, according to the inscription, on his own premises. Hence, he was free not only to copy Agostino Veneziano’s or Marcantonio’s prints (such as the Massacre of the Innocents or the David slaying Goliath) but also to inscribe them with Raphael’s name in association with his own signature, something that […] no other printmaker had felt able to do. […] It is unlikely that Ugo produced many prints that were not copies of other prints, but original, independent works made alone or in collaboration with another artist.“ Die gleiche These wird auch formuliert von: Mason / Natale 1984, Kat. Nrn. 8–9. Oberhuber / Gnann 1999, Kat. Nr. 107. Auch wenn die Figurenbewegungen auf den ersten Blick identisch erscheinen, wirken sie, laut Oberhuber, bei Raimondi eher leblos und unnatürlich. Vor allem das letzte Aufbäumen des beinahe geschlagenen Kriegers überzeuge ihn nicht. Die Figurengruppen seien hingegen auf dem Holzschnitt mit größter Sicherheit wiedergegeben und besser in den landschaftlichen Rahmen eingepasst.
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Holzschnitt da Carpis, so zum Beispiel im Falle des Kriegers mit Schild, der sich unterhalb der erhobenen Arme Davids befindet. Gleiches trifft auch auf das erhobene Bein des fliehenden Philisters im Bildvordergrund zu, dessen perspektivische Verkürzung Raimondi überzeugender gestaltet. Auch ist bei da Carpi an vielen Stellen die Ausführung der Hände nicht so gelungen. Vermutlich könnte man dieses Suchen nach Details noch unendlich fortführen. Ich möchte an dieser Stelle allein darauf aufmerksam machen, dass man sich nicht von den divergierenden optischen Eigenschaften des Stichs oder des Holzschnitts täuschen lassen sollte. Wahrscheinlich haben beide Künstler auf die jeweils eigene Art und Weise dieselbe gezeichnete Vorlage übersetzt. Solche Stellen, die schon in der Vorlage unklar waren, wurden dann unterschiedlich interpretiert.24 So zeigt der Vergleich beider Drucke klar, dass die Übermittlung visueller Informationen vom jeweiligen Übersetzer abhängig ist. Man kann nicht erwarten, dass ein Kupferstecher oder Holzschneider am Beginn des 16. Jahrhunderts eine gezeichnete Vorlage getreu wiedergibt.25 Vielmehr ist jedwede Übertragung in die Druckgrafik geprägt von der individuellen Ausdrucksweise des jeweiligen Kupferstechers oder Holzschneiders. Auch technische Aspekte müssen berücksichtigt werden, wenn man entscheiden will, ob eine Druckgrafik ein gültiges Äquivalent zur Vorlage bildet. Zu den Werken, die auf den genannten Drucken basieren, zählt unter anderem eine lavierte Federzeichnung von Parmigianino (Abb. 50).26 Sie legt ein Zeugnis davon ab, wie der Künstler kurz nach seiner Ankunft in Rom 1524 Raffaels Erfindungen studierte.27 Parmigianino wählte den Holzschnitt Ugo da Carpis als Vorlage und nicht 24
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Laut Ernst Rebel besteht die mimetische Leistung des Chiaroscuro Holzschnitts „weniger im Näherkommen an die primäre Erscheinungswelt, noch weniger in einer ideal-vollendeten Definition des Bildgedankens, sondern vorwiegend im materialen Nachbilden der subjektiven Ausdruckswelt des Künstlers.“, siehe: Rebel 1981, S. 17. Eine getreue Übersetzung der Vorlage ermöglicht er jedenfalls nicht. Vgl. Busch 2009, S. 34. Raimondi vermeidet in seinem Kupferstich hingegen alles, was den originären Bildgedanken verundeutlichen könnte. Karpinsky 1989, S. 104: „Throughout the entire sixteenth century, reproductive printmakers altered their models according to their own aesthetic biases, without that aesthetic necessarily having been articulated.“ Nur in Ausnahmefällen, wenn dem Stecher eine genaue Modellzeichnung zur Verfügung stand und er beim Bearbeiten der Kupferplatte vom Erfinder des Bildes korrigiert wurde, kann von einer getreuen Übersetzung einer Zeichnung in den Stich ausgegangen werden. Parmigianino – nach Ugo da Carpi, David und Goliath, Feder in Braun, braun laviert, weiß gehöht über schwarzer Kreide, 282 × 406 mm, Frankfurt, Städel Museum, Inv. Nr. 4304. Die Zuschreibung an Parmigianino gelang Konrad Oberhuber, Drawings by artists working in Parma in the sixteenth century, in: Master Drawings, Bd. VIII, 1970, S. 276–287. Vgl. Gnann 2007a, Nr. 377. Vgl. Ferino-Pagden / Schianchi 2003, S. 297, Kat. Nr. II.3.27. Neben den im Detail besprochenen Reaktionen auf die Drucke nach Raffael gibt es weitere Blätter, welche den Kampf Davids gegen Goliath darstellen. Es ist im Einzelnen jedoch nicht abschließend geklärt, ob es sich dabei um Zeichnungen nach Druckgrafiken, um Kopien der verlorenen Zeichnung Raffaels oder Zeichnungen nach dem Fresko in den Loggien handelt: Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nr. 12503 verso, Inv. Nr. 3919 und Inv. Nr. 4086, vgl. Cordellier / Py 1992, S. 437, Nr. 731 und S. 438, Nr. 732. Außerdem in Hamburg, Kunsthalle, Inv. Nr. 38654, Vgl. Broun / Shoemaker 1981, S. 166, Abb. 36.
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50 Parmigianino (nach Ugo da Carpi), David und Goliath, Feder in Braun, braun laviert, weiß gehöht über schwarzer Kreide, 282 × 406 mm (Farbtafel X)
den Stich Raimondis. Man sieht es einerseits an der Seitenausrichtung und andererseits auch an kleinen Details, wie einzelnen Händen oder den Verwerfungen im Boden im Vordergrund. Hätte Parmigianino hier den Stich als Vorlage verwendet, hätte er an dieser Stelle deutlich die Grashalme und Erdverwerfungen erkennen und nachahmen können. Stattdessen gibt er die durch die Technik des Holzschnitts bedingte schematische Vereinfachung des Bildvordergrundes wieder. Dass Parmigianino in diesem Fall auf eine Druckgrafik nach Raffael und nicht auf eine Zeichnung des Meisters zurückgegriffen hat, wird ebenfalls an dem tendenziell schematisierten Linienspiel deutlich. Die Pinsellavierungen, mit denen Licht- und Schattenpartien gesetzt werden, entsprechen den starken Kontrasten des Chiaroscuro Holzschnitts, mit der dieser bereits ein variantenreiches Wechselspiel von Licht und Schatten vorgibt. Auch wenn Parmigianino den Holzschnitt detailgenau studierte, wandelte er ihn an einigen Stellen ab. Er lässt für ihn nicht wesentliche Details, wie Baumkronen, die Zelte oder die Landschaft im Hintergrund weg oder deutet sie nur schemenhaft an. Insgesamt lässt sich feststellen, dass Parmigianino die Darstellung stärker akzentuiert. Zentrale Gestalten, wie die David – Goliath – Gruppe, der Philister im Vordergrund und die fliehende Rückenfigur mit wehendem Gewand werden durch starke HellDunkelkontraste hervorgehoben. Andere Figuren, vor allem im Bereich der fliehenden Soldaten, werden lediglich mit Bleistiftkonturen angedeutet. David ist hier größer
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dargestellt als im Holzschnitt und direkt ins Zentrum der Komposition gerückt. Er hat einen entschlosseneren Gesichtsausdruck. Der fliehende Soldat im Vordergrund befindet sich näher an David und Goliath. Parmigianino studiert vor allem die räumliche Gliederung der Szene, akzentuiert sie und bindet sie durch eine dunkle Schattenpartie in der Bildmitte zusammen. Die Wiederholung des Holzschnitts in der Zeichnung dient hier ausschließlich dem eigenen Studium des Künstlers. Parmigianino nutzt den Holzschnitt da Carpis, weil er vermutlich keinen Zugang zu der Zeichnung Raffaels hatte.28 Es fällt auf, wie frei Parmigianino mit der gedruckten Vorlage umgeht, auch wenn er die gesamte Komposition wiederholt. Ferner gibt es eine freie Detailstudie, mit welcher der Künstler erneut auf die gedruckte Vorlage reagiert. Auf einem nur als Fragment erhaltenen Skizzenblatt führte Parmigianino mit wenigen schnellen Federstrichen eine Detailstudie des Kopfes und Oberkörpers König Davids aus, der mit dynamischem Schwung die Hände emporhebt (Abb. 51).29 Die Vorlage dazu bildete vermutlich ebenfalls der Holzschnitt Ugo da Carpis. Bemerkenswert ist der so gegensätzliche Charakter dieser Zeichnung im Vergleich zur ausgearbeiteten lavierten Federstudie. Hier greift Parmigianino nur eine Figur aus der gesamten Komposition der Vorlage heraus und verwandelt sie seiner eigenen Darstellungsweise an. Nichts erinnert mehr an die Liniensprache des druckgrafischen Vorbilds. In ihrer Spontaneität und Dynamik hat diese Zeichnung nicht den Charakter einer Studie nach einer bildlichen Vorlage. Vielmehr würde man annehmen, sie sei nach dem Leben gezeichnet, wenn sie nicht den deutlichen Bezug zur Bilderfindung Raffaels aufweisen würde. Es ist davon auszugehen, dass Parmigianino zuerst die detaillierte Studie ausführte.30 Wieder und wieder kehrte er zu den druckgrafischen Vorbildern zurück, um von ihnen zu lernen und dabei nach und nach freier im Umgang mit der Vorlage zu werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich Parmigianino durch das zeichnende Studieren der Druckgrafik aus dem Umkreis Raffaels dessen ungewöhnliche 28 29
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Beide Künstler kannten sich und profitierten wechselseitig von einander. Vgl. Ekserdjian 2006, S. 219. Parmigianino, Studienblatt, Rötel sowie Feder in brauner Tinte, 189 × 134 mm, um 1524– 1527, Frankfurt, Städel Museum, Inv. Nr. 15276, Gnann 2007a, Nr. 486, Popham 1971, Nr. 147. Weiterhin befinden sich auf diesem, nur als Fragment erhaltenen Skizzenblatt mehrere, mit der Feder gezeichnete Studien von Kindesbeinen, die wohl als Vorlage für die Darstellung von Putten dienen sollten, sowie zentral die Skizze eines nackten, männlichen Unterkörpers, der an den Henker in der Radierung Giovanni Giacomo Caraglios nach einer Zeichnung Parmigianinos Das Martyrium des heiligen Paulus und die Verurteilung des heiligen Petrus (B. XV, 41, 8) erinnert. (Die Vorzeichnung von Parmigianino zu dieser Radierung befindet sich ebenfalls im British Museum, Inv. Nr. 1904,1201.2). Weitere Details aus der David und Goliath – Darstellung, vor allem das linke Bein Goliaths und Teile von Davids Körper befinden sich auch auf der Rückseite einer weiteren Zeichnung Parmigianinos in den Uffizien: Gruppe von Figuren in langen Gewändern (recto), David erschlägt Goliath (verso), Feder in Braun, braun laviert, 145 × 198 mm, Fehlstelle oben links, Florenz, GDSU, Inv. Nr. 1221 E, Gnann 2007, Nr. 376, Béguin / Giampaolo / Vaccaro 2000, Nr. 19, Abb. S. 224.
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51 Parmigianino, Studienblatt, Rötel sowie Feder in brauner Tinte, 189 × 134 mm
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Bilderfindungen hinsichtlich der lebensnahen Wiedergabe bewegter menschlicher Körper und einer geschickten Raumerfassung aneignen wollte. In der gezeichneten Wiederholung durchdachte und überarbeitete Parmigianino die jeweilige Vorlage. Seine geringfügigen Korrekturen dienten lediglich dem Zweck, das Vorbild noch besser zu verstehen und es zu vollenden.
Exkurs: Daniel Hopfers Interpretation des Holzschnitts von Ugo da Carpi Während Parmigianino den Holzschnitt Ugo da Carpis mit dem Kampf Davids gegen Goliath in Zeichnungen überführte, übersetzte der Augsburger Daniel Hopfer (um 1470–1536) diesen in eine Eisenradierung (Abb. 52, Bartsch VIII.473.3).31 Entgegen der verbreiteten Annahme, Hopfer habe seine Radierung nach dem Stich Raimondis angefertigt, wird anhand einer Gegenüberstellung der Werke offensichtlich, dass es vielmehr der Holzschnitt war, der hier als Vorbild diente.32 Das ist vor allem an den Formen erkennbar, mit denen kleine Erhebungen und Bodenspalten im Bildvordergrund angedeutet werden. Diese sind bereits bei da Carpi eher abstrakte Kürzel natürlicher Formen. Bei Hopfer kann man ohne Kenntnis des Vorbilds kaum verstehen, warum an dieser Stelle solche Löcher im Boden dargestellt werden.33 Bei Raimondi
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Daniel Hopfer, David und Goliath, Radierung, 221 × 288 mm, London, British Museum, Inv. Nr. 1845,0809.1289. Vgl. Vogt 2008, S. 109: Die Familie Hopfer übersetzte sämtliche Vorlagen anderer Künstler in die Radierung, da es eben die Technik war, die sie am besten beherrschte. Thieme / Becker 1907–1950, Bd. XVII, S. 474–477 und Hollstein / Luijten / Zijlma 1996–, Bd. XV, Elias Holl – Hieronymus Hopfer, S. 33: Daniel Hopfer, Waffenätzer, Radierer und Holzschneider, geb. um 1470 in Kaufbeuren, gestorben 1536 in Augsburg. Hopfer wird zugeschrieben, als erster das Ätzverfahren in die Kunst der Druckgrafik eingeführt zu haben, da er als Verzierer von Waffen und Schilden mit ähnlichen Verfahren vertraut war. Hopfer und seine Söhne Hieronymus und Lambert benutzten ausschließlich dünne Eisenplatten für ihre Radierungen. D. Hopfer kopierte einen weiteren Stich Marcantons, nämlich Tanzende Putti (Bartsch XIV.177.217) = Hopfer (Bartsch VIII.483.40). Der Nürnberger Kunsthändler David Funck besaß im 17. Jh. 230 Platten von Hopfer, die er mit den sogenannten Funck Nummern versah und unter dem Titel Operae Hopferianae herausgab. 1802 wurden 92 dieser Platten in Frankfurt erneut publiziert, nun unter dem Titel Opus Hopferiana. Erst in der aktuellen Literatur wird der Holzschnitt Ugo da Carpis als mögliche Vorlage für Hopfer in Betracht gezogen, siehe: Metzger 2009, S. 318–319, Kat. Nr. 3: „Hopfers Vorlage kann nicht mit Bestimmtheit benannt werden. Wegen des spiegelbildlichen Verhältnisses zu Raimondi wurde bislang diesem Blatt der Vorzug gegeben. Doch gibt es zu da Carpis Fassung (die sich zu Hopfer gleichseitig verhält) engere Übereinstimmungen als bislang diagnos tiziert: etwa die charakteristische Bodenstruktur, der Schattenwurf des am Boden schleifenden Speers des Kriegers vorn rechts, vor allem aber die kontrastreiche Verteilung von Licht und Schatten.“ Weitere Details sprechen für den Holzschnitt als Vorlage: Der mit der erhobenen rechten Hand im zeigenden Gestus herbeieilende Soldat hat die Hand im Holzschnitt neben dem Schwert, im Stich ist sie dahinter, in der Radierung ist sie wieder neben dem Schwert.
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52 Daniel Hopfer, David und Goliath, Radierung, 221 × 288 mm
sind hingegen Grashügel klar erkennbar. Hopfers Radierung ist seitengleich zum Holzschnitt, weshalb auch hier eine Zeichnung angefertigt worden sein muss, mit der das Bild spiegelverkehrt auf die Platte übertragen wurde. Er verwendete aber kein Transparentpapier oder ähnliche mechanische Hilfsmittel, denn die Radierung unterscheidet sich in vielen Punkten deutlich vom Holzschnitt: Am offensichtlichsten sind die Veränderungen beim Kostüm Goliaths. Trug dieser bei Raffael und seinen italienischen Nachfolgern noch ein schlichtes Hemd mit weitem Ausschnitt, so ist er nun im Harnisch wiedergegeben. Das Visier des Helms ist hochgeklappt und gibt den Blick frei auf seinen modischen Schnurrbart. Hopfer folgt damit getreu der Beschreibung in der Bibel, in der ausdrücklich auf eine Rüstung Goliaths hingewiesen wird (Samuel, Kap.17, Vers 4–6). Bemerkenswert ist, dass hier kein Bemühen erkennbar ist, eine antik anmutende Kleidung darzustellen, wie sie der davoneilende Soldat rechts trägt. Vielmehr orientierte sich Hopfer für die Rüstung an zeitgenössischen Vorbildern. Dies liegt nahe, denn Daniel Hopfer war als Waffenätzer tätig und mit der Gestaltung von Rüstungen vertraut. Er eignete sich das fremde Motiv auf eine Weise an, die es für ihn und sein Publikum geläufiger machte. Zu den Hinzufügungen Hopfers zählen darüber hinaus der lange Speer, den Goliath in den Händen hält, und die zu Boden geworfene Steinschleuder Davids. Beide Elemente werden ebenfalls in der
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Bibel erwähnt. So wird klar, dass Hopfer die Vorlage korrigierte, indem er den Bibeltext zuhilfe nahm.34 Hopfer ist sehr wahrscheinlich nie nach Italien gereist. So lebte er zwar zur gleichen Zeit wie der Schöpfer seiner Vorlage, stand jedoch in einem anderen kulturellen Kontext. Zudem hatte er ganz andere Ziele im Sinn als Parmigianino, denn es ging ihm nicht in erster Linie um die eigene Schulung, sondern – verbunden mit finanziellen Interessen – um die Verbreitung eines beliebten Motivs nördlich der Alpen. Es fällt auf, dass er den im Holzschnitt da Carpis enthaltenen Hinweis auf den Schöpfer der Vorlage – RAPHAEL URBINAS – nicht in seiner Bildunterschrift aufgreift. Auch die Signatur da Carpis übernimmt er selbstverständlich nicht. Hopfer nennt allein das Thema des Bildes DAVIT GOLLIAS und sein Monogramm. Daraus kann man schließen, dass er seine Radierung nicht als Reproduktion eines Raffaelentwurfs verkaufen wollte, sondern das entlehnte Motiv vielmehr als eigene Erfindung ausgab. Es ging ihm nicht explizit um die Verbreitung italienischer Formen, sondern um die Wiedergabe einer überzeugenden bildlichen Interpretation des bekannten Bibeltextes. Die Unterschiede in der jeweiligen Aneignung des Holzschnitts von Ugo da Carpi in den Zeichnungen Parmigianinos und der Radierung Hopfers lassen sich auf zwei wesentliche Ursachen zurückführen, nämlich auf die unterschiedliche Funktion der Nachahmungen – dem Selbststudium einerseits und dem am Publikumsgeschmack orientierten Entwurf andererseits – und auf den jeweils eigenen kulturellen Kontext des Rezipienten. Parmigianino entstammte dem gleichen kulturellen Milieu wie sein Vorbild und konnte dessen Holzschnitt bis ins Detail nachvollziehen. Wir können in seinen gezeichneten Adaptionen keine Strategien der kulturellen Transformation erkennen. Hopfer hingegen war mit einer völlig anders gearteten, nordisch geprägten Bildkultur aufgewachsen. Seine Unkenntnis dessen, was zu dieser Zeit in Italien an Wissen über den Formenreichtum der Antike verbreitet war, hinderte ihn daran, die antiken Formen in der Vorlage zu erkennen und wertzuschätzen. Der Kenner ist geneigt, die Radierung Hopfers abzuwerten, da sie sich von der ursprünglichen Erfindung Raffaels weit entfernt. Tatsächlich handelt es sich hier um eine Wiederholung in zweiter Instanz. Ähnlich wie beim Spiel „Stille Post“ ist am Ende das ursprünglich Gesagte, oder in diesem Fall Dargestellte, sehr stark verändert durch die einzelnen Interpretationen der Weitergebenden. Zwar zeigt die Radierung an vielen Stellen zeichnerisches Unvermögen, wie zum Beispiel in den Körperproportionen oder den Gesichtern der Soldaten. Doch Hopfer nahm auch gezielte Korrekturen an der Vorlage vor, wie am Beispiel der an der Bibel orientierten Ergänzungen gezeigt worden ist. Man muss hier also zwischen bewussten und unbewussten Veränderungen bei den Entlehnungen unterscheiden. Die Radierung Hopfers ist damit ein wertvolles Dokument für den
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Die Steinschleuder ist zudem ein Zeichen für die Ergänzung der bildlichen Erzählung um den zeitlich vorangegangenen Moment, denn erst nachdem David Goliath mit der Steinschleuder niedergestreckt hat, vermag er ihn zu enthaupten.
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Akt der kreativen Interpretation einer Vorlage und die Übersetzung eines fremden Motivs in die eigene Kultur. Peter Burke formuliert den beschriebenen Prozess in seinem Aufsatz „Kultureller Austausch“ wie folgt: Im Zuge eines kulturellen Austauschs [wird] normalerweise auch dasjenige, was entliehen wird, den Bedürfnissen des Entleihenden angepasst, es findet also eine doppelte Bewegung von De- und Rekontextualisierung statt. Dieser Prozess mag mit Missverständnissen einhergehen, die zuweilen auch als ‚schöpferische‘ oder ‚konstruktive‘ Fehlschlüsse beschrieben werden. 35 Die behandelten Werke bestätigen diese These. Wie besonders an der Radierung Hopfers beobachtet werden konnte, ist es für den Transfer von Bildschöpfungen von einem kulturellen Kontext in einen anderen entscheidend, welche Fähigkeiten der Empfänger besitzt, das Fremde zu verstehen und wiederzugeben. Dabei können bemerkenswerte Umformungen entstehen. Daniel Hopfer nimmt in diesem Zusammenhang nicht nur die Rolle des Rezipienten des fremden Kulturguts ein, sondern auch die Rolle des Vermittlers, denn: „seine druckgrafischen Reproduktionen nach italienischen Meistern sorgten für deren schnelle Verbreitung und trugen entscheidend dazu bei, dass die Reichsstadt Augsburg zum ersten Einfallstor ‚welscher‘ Kunst in Deutschland wurde. Somit hat Daniel Hopfers Werk weiten Künstlerkreisen eine Auseinandersetzung mit neuen Kunstströmungen erst ermöglicht.“36
Christus im Haus Simons, des Pharisäers Parmigianinos wunderschöne Zeichnung Christus im Haus Simons, des Pharisäers ist sehr wahrscheinlich direkt auf eine heute verlorene Zeichnung Raffaels zurückzuführen und nicht auf den entsprechenden Stich Marcantonio Raimondis (Abb. 53 und 54, Bartsch XIV.29.23).37 Es ist naheliegend anzunehmen, dass es eine solche Zeichnung 35 36 37
Burke 2000, S. 13. Metzger 2009, S. 9. Parmigianino, Christus im Haus Simons, des Pharisäers, Feder in Braun, in brauner Tusche laviert, mit Weißhöhungen und Spuren von Gelb (teilweise oxidiert), 187 × 324 mm, komplett aufgelegt, Privatsammlung, Auktion, Sotheby’s, New York, 29. Januar 1997, Nr. 30; Oberhuber / Gnann 1999, S. 182, Kat. Nr. 119, Ferino-Pagden / Schianchi 2003, S. 297–298, Kat. Nr. II.3.28, Gnann 2007a, Nr. 522, Béguin / Giampaolo / Vaccaro 2000, Abb. 32 und Grazia 1984, Nr. 45, Ekserdjian 2006, S. 229–230. Eine Kopie dieser Zeichnung befindet sich im Art Museum, Princeton. Zur Kopie nach der Zeichnung Parmigianinos siehe: Robert A. Koch, „A note on a drawing in the milieu of Parmigianino”, in: Art Quarterly,1965, Bd. XXVIII, H. 4, S. 305–310. Vgl. Marcantonio Raimondi, Christus im Haus Simons, des Pharisäers, Kupferstich, 231 × 345 mm, Bartsch XIV.29.23, Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Inv. Nr. 1920-499. Der Stich Raimondis erhält in späten, von Antonio Lafrery verlegten Abzügen einen Fußboden in Schachbrettmuster. Ein Abzug davon befindet sich im Kupferstichkabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Inv. Nr. A 89032. Broun / Shoemaker 1981, Nr. 57. Es ist möglich, dass sich die schweren
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Raffaels gegeben hat, da es einige weitere gezeichnete Kopien nach Raffael im Louvre gibt (Abb. 55).38 Raffael lieferte den Entwurf für ein Fresko, das nach seinem Tod von Giulio Romano und Giovanni Francesco Penni in einer Lünette der Massimi – Kapelle in der Kirche Santissima Trinità dei Monti in Rom ausgeführt wurde.39 Die Szene war Teil eines zu Beginn des 19. Jahrhunderts verlorenen Freskenzyklus mit vier Episoden aus dem Leben der Maria Magdalena.40 Wie Vasari berichtet, war es auch Giulio Romano, der Raimondi beauftragte, Stiche nach diesem Zyklus anzufertigen, wovon lediglich zwei Motive von Raimondi ausgeführt wurden.41 Einer davon zeigt den hier genannten Moment, in welchem Maria Magdalena Christus die Füße wäscht und sie mit ihren Haaren trocknet, bevor sie diese salbt (Lukas, Kap. 7, 36–50). Der andere Stich stellt die Szene Martha führt Maria Magdalena zu Christus dar. Popham datiert die Zeichnung Parmigianinos in die Zeit seines Romaufenthalts von 1524 bis 1527.42 Der genannte Stich Raimondis wird um 1520–1524 datiert.43 Von der chronologischen Abfolge her könnte er damit gut als Vorbild gedient haben. Auch waren die Stiche Raimondis sicherlich leichter für Parmigianino zugänglich als originale Zeichnungen des verstorbenen Raffael. Dennoch lässt sich hier der Stich als Vorbild ausschließen, da er sich von Parmigianinos Zeichnung in einer Reihe von Details unterscheidet. Zunächst zeigt der Stich eine Person mehr, nämlich einen Diener am linken Bildrand. Parmigianinos Zeichnung erfasst hingegen einen an allen vier Seiten schmaleren Bildausschnitt und führt den Betrachter näher an das Geschehen heran. Sein Blatt beginnt links mit Simon, der befiehlt, das Essen aufzutragen. Zwar ist es ebenfalls denkbar, dass Parmigianino das gestochene Vorbild kritisch durchdachte und gezielt an einigen Stellen änderte, wie er es auch in anderen Fällen von Nachzeichnungen nach Stichen getan hat. Doch gibt es ein Detail, das Parmigianino nicht im Sinne einer überwindenden Nachahmung verändert haben kann: Auf seiner
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Vorhänge im Stich damit begründen lassen, dass Raimondi einen Weg suchte, um die halbrunde Form der zugrunde liegenden Zeichnung, die ein Fresko in einer Bogenlaibung vorbereitete, in eine rechteckige Form zu bringen. Giorgio Vasari, Christus im Haus Simons, des Pharisäers, Feder in brauner Tinte, braun laviert, weiß gehöht über Vorzeichnung in schwarzer Kreide, 231 × 366 mm, Paris, Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nr. 6559 recto, Cordellier / Py 1992, S. 599, Nr. 1001. Weitere Kopien, siehe ebenda, S. 599–600, Nrn. 1002 – 1004, Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv.-Nrn. 3959, 6560 und 6561. Oberhuber / Gnann 1999, S. 182. Ekserdjian 2006, S. 230. Die Kapelle wurde zwei Jahre nach Raffaels Tod gegründet. Es ist daher auch möglich, dass Giulio Romano die Szene eigenständig entwickelte. Mariette 1851–1860, Bd. IV, Mocchi – Roberti, S. 284–285. Vasari 1973, Bd. V, S. 417: „Dopo queste cose, Giulio Romano, il quale vivente Raffaello suo maestro non volle mai per modestia far alcuna delle sue cose stampare, per non parere di voler competere con esso lui; fece, dopo che egli fu morto, intagliare a Marcantonio […] quattro storie della Maddalena”. Popham 1971, Nr. 746, vgl. Popham 1971, Nr. 189. Parmigianinos Zeichnung ist etwas kleiner als der Stich: Grösse der Zeichnung Parmigianinos: 187 × 323 mm; Grösse des Stichs: 230 × 346 mm. Broun / Shoemaker 1981, S. 174–175, Kat. Nr. 57.
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Zeichnung scheint der Deckel des Salbgefäßes im Raum zu schweben, weil er allein auf einer Seite den Boden berührt. Ein solcher Deckel ist auch auf Ugo da Carpis Holzschnitt nach Raffaels Zeichnung zu sehen (Abb. 56, Bartsch XII.20.17) sowie auf allen weiteren bekannten Nachzeichnungen nach Raffaels Original.44 Allein auf Raimondis Stich ist dieses Detail korrigiert und der Deckel des Salbgefäßes liegt so auf dem Boden, dass leicht nachvollziehbar ist, wie Maria Magdalena ihn eben abgenommen hat.45 Warum sollte Parmigianino dieses Detail in seiner Nachahmung verfälschend verändert haben? Ich schlage daher folgende Rekonstruktion der Bezüge zwischen den einzelnen Blättern vor: Sowohl der Stich Marcantonio Raimondis als auch der Holzschnitt Ugo da Carpis sind zeitnah nach der nicht mehr erhaltenen Zeichnung Raffaels entstanden. Nach Raffaels Tod war es sowohl für den Stecher als auch für den Holzschneider wichtig, weiterhin Zugang zu den Zeichnungen Raffaels zu haben, um nicht gänzlich von möglichen Verdienstquellen abgeschnitten zu sein. Giulio Romano scheint hier unterstützend gewirkt zu haben. Wie es für Raimondis Arbeitsweise üblich ist, ergänzte er einige Details gegenüber der Vorlage, wie zum Beispiel das Geschirr auf dem Tisch sowie die von links hinzutretende Figur. Auch Parmigianino, der in engem Kontakt zu Raimondi und da Carpi stand, hatte vermutlich Zugang zu Raffaels Zeichnung, die er in ihrer Gesamtheit nachahmte, um sich durch das zeichnende Kopieren am Vorbild zu schulen. In dieser Rekonstruktion der Ereignisse weiche ich deutlich vom Vorschlag Werner Buschs ab, der argumentiert, alle drei Blätter von Raimondi, da Carpi und Parmigianino gingen auf das nicht mehr erhaltene Fresko zurück, dessen Buntfarbigkeit dem jeweiligen Medium gemäß übersetzt werden musste.46 Doch haben weder Raimondi, noch da Carpi je nach einem vollendeten Fresko Raffaels oder Giulio Romanos gearbeitet, wie eingangs gezeigt worden ist. Auch schlägt Busch vor, da Carpi und Raimondi hätten unterschiedlicher Vorlagen bedurft, da Raimondis Stiche vor allem dem disegno Raffaels, also der genauen Schilderung seiner Erfindung, verpflichtet sind, während sich da Carpis Chiaroscuro Holzschnitte vor allem um die tonalen Werte der Vorlage bemühen und in ihrer Abstrahierung das ergänzende Schauen des Betrachters herausfordern. Eine reine Federzeichnung wäre für Ersteres, eine mit dem Pinsel lavierte und mit Weiß gehöhte Federzeichnung hingegen für Letzteres die geeignete Vorlage. Wie ebenfalls bereits gezeigt worden ist, hat 44
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Ugo da Carpi, Christus im Haus Simons, des Pharisäers, Chiaroscuro Holzschnitt von vier Stöcken, 230 × 369 mm, Bartsch XII.40.17, Fine Arts Museums, San Francisco, Inv. Nr. 1963.30.704. Ebenso zeigen alle anderen gezeichneten Kopien des verlorenen Originals Raffaels den auch von Parmigianino gewählten schmaleren Bildausschnitt. Allein Raimondi ergänzte die Szene um den linken Diener. Ein weiterer Holzschnitt desselben Themas stammt von Alessandro Gandini (Bartsch XII.41.18). Auch die linke Seite der Bank, auf welcher Christus sitzt, unterscheidet sich in Parmigianinos Zeichnung von Raimondis Stich. Auf der Zeichnung ist hier eine zusätzliche Volute angegeben. Busch 2009, S. 36–38.
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53 Parmigianino, Christus im Haus Simons, des Pharisäers, Feder in Braun, in brauner Tusche laviert, mit Weißhöhungen und Spuren von Gelb (teilweise oxidiert), 187 × 324 mm
54 Marcantonio Raimondi, Christus im Haus Simons, des Pharisäers, Kupferstich, 231 × 345 mm
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55 Giorgio Vasari, Christus im Haus Simons, des Pharisäers, Feder in brauner Tinte, braun laviert, weiß gehöht über Vorzeichnung in schwarzer Kreide, 231 × 366 mm
56 Ugo da Carpi, Christus im Haus Simons, des Pharisäers, Chiaroscuro Holzschnitt von vier Stöcken, 230 × 369 mm
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Raffael in der Regel keine Rücksicht darauf genommen, ob seine Zeichnungen leicht in einen Stich oder Holzschnitt zu übersetzen seien. Zum Beispiel bereitete er Raimondis Stich der Pest in Phrygien mit einer mit dem Pinsel lavierten Federzeichnung vor, die eigentlich für die Übersetzung in einen Holzschnitt besser geeignet gewesen wäre. In vielen anderen Fällen lieferte er nur rasche Skizzen, die jeweils eigenständig übersetzt und interpretiert werden mussten. So bleibt auch Werner Buschs letzte Schlussfolgerung fragwürdig, dass nämlich Parmigianino die freskierte Vorlage Raffaels in seine Federzeichnung übertragen habe, um damit Ugo da Carpis Holzschnitt vorzubereiten. Es ist zweifellos richtig, dass sich die Zeichnung Parmigianinos und der Holzschnitt sehr ähneln. Auch hätte Parmigianinos Zeichnung tatsächlich eine ideale Vorlage für den Holzschnitt gebildet, doch lässt sich diese Ähnlichkeit ebenso mit der Annahme begründen, dass sie auf eine gemeinsame Vorlage zurückzuführen sind.47 Wie da Carpi bereits in früheren Holzschnitten nach Entwürfen Raffaels gezeigt hat, war er sehr wohl fähig, auf der Basis verschieden gearteter Vorlagen eine eigenständige Bildlösung zu schaffen – einer gezeichneten Interpretation Parmigianinos des Entwurfes von Raffael bedurfte es sicherlich nicht. Darüber hinaus hat Parmigianino auch ein Studienblatt mit Teilkopien nach demselben Thema geschaffen, das heute im British Museum aufbewahrt wird (Abb. 57).48 Auf der Rückseite eines Blattes mit Studien einer Madonna mit Kind befindet sich oben eine Federskizze des Apostels, der in der Mitte des Tisches Simons sitzt und nach rechts gewendet ist. Dieser wird mit wenigen lockeren Federstrichen erfasst und ähnelt in seiner Haltung sehr Parmigianinos vorangegangener Zeichnung. Zu seiner Linken schließt ein weiterer sitzender Apostel an. Dieser wird jedoch umfassend transformiert, was vor allem die Haltung seines Kopfes und die Geste seiner rechten Hand betrifft. Zwei sich darunter befindende Skizzen von geöffneten Händen können als Einzelstudien der linken Hand des letztgenannten Apostels erkannt werden. Auch der bärtige Apostel, der als Zweiter von links hinter dem Tisch sitzt und sich gerade Wein in eine Schale gießt, ist auf dem Studienblatt wiederzuerkennen. Insgesamt wird deutlich, dass Parmigianino in dieser Skizze nicht eine fremde Vorlage wiederholt, sondern seine bereits zuvor vorgenommene Aneignung aus der anderen Zeichnung
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Umgekehrt ist hier der Holzschnitt da Carpis als Vorbild Parmigianinos deutlich auszuschließen, weil er mit einem nur sehr schematischen Liniengefüge arbeitet, das im Vergleich zu Parmigianinos Zeichnung stark abstrahiert ist. Parmigianino, Studienblatt, Feder, in brauner Tinte, 153 × 126 mm, London, British Museum, Inv. Nr. 1856,0614.2 verso, Popham 1971, Nr. 189. Gnann 2007a, Nr. 509 v. Recto befinden sich vier Studien einer knienden Madonna mit Kind, die vermutlich Caraglios mit 1526 datierte Anbetung der Hirten vorbereiten, zu der es eine weitere Vorzeichnung im British Museum gibt, Vgl. Inv. Nr. 1853,1008.3. Ebenfalls befindet sich recto eine Zeichnung eines Mannes, der einen anderen Mann vor einem Zelt angreift. Eine genaue Kopie dieses Studienblattes befindet sich in Turin, Königliche Bibliothek, hier Battista Franco zugeschrieben, Inv. Nr. 14760, 12 d.
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57 Parmigianino, Studienblatt, Feder, in brauner Tinte, 153 × 126 mm
weiterentwickelt. Als Studium einzelner Köpfe und Hände bildet dieses Skizzenblatt möglicherweise die Vorlage für ein neues, eigenes Werk. Erst nachdem Parmigianino die Vorlage Raffaels in ihrer gesamten Komposition zeichnend studiert hatte, wählte er die Elemente aus, die ihm bei der Entwicklung einer neuen Bildidee nützlich sein konnten.
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Selektive Nachahmung und Integration der Entlehnungen in neue Kunstwerke: Der Bethlehemitische Kindermord Das Kopieren von Vorbildern und die eigenschöpferische Tätigkeit sind nur auf den ersten Blick Gegensätze. Die Aneignung bildlicher Vorlagen kann ein sehr kreativer Prozess sein. Ein erstaunliches Beispiel hierfür stammt erneut aus der Hand Parmigianinos. Aus dem berühmten Stich Marcantonio Raimondis nach der Erfindung von Raffael Der Bethlehemitische Kindermord wählte Parmigianino, neben diversen Einzelstudien, den ermordeten Säugling als Vorlage, der in der Mitte des Stichs auf dem Boden liegt (Abb. 58, vgl. Abb. 13).49 Er wiederholte ihn zunächst in einer mit wenigen lockeren Federstrichen ausgeführten Zeichnung, um ihn schließlich zur Grundlage einer Radierung zu machen. In der Radierung wird das ehemals grausame Bild eines nackten, schutzlosen, toten Kindes vollständig umgedeutet in eine liebliche Darstellung eines Schlafenden Amors (Abb. 59, Bartsch XVI.13.11).50 Die Konturen des Körpers mit der auf dem Bauch liegenden Hand werden sowohl in der Zeichnung als auch in der spiegelverkehrten Wiedergabe der Radierung getreu übernommen, lediglich die verkürzten Proportionen des nach hinten überstreckten Kopfes werden korrigiert.51 Statt auf einem Steinboden liegt das Kind auf der Radierung Parmigianinos auf einer mit wenigen Grasbüscheln angedeuteten Wiese. Ergänzt wurden Flügel
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Parmigianino, Auf dem Rücken liegendes Kind, Feder in brauner Tinte, 60 × 88 mm, London, British Museum, Inv. Nr. 1905,1110.21 recto. Verso befindet sich eine Studie von Beinen und einem antiken Helm. Fragment eines ehemals größeren Studienblattes. Popham 1971, Nr. 210. Gnann 2007a, Nr. 350. Popham datiert auch diese Zeichnung in die Zeit des Aufenthalts Parmigianinos in Rom (1524 – 1527). Im British Museum befindet sich darüber hinaus eine Rötelzeichnung Parmigianinos, die eine andere Fassung eines Schlafenden Amors darstellt, diesmal ohne Bezug zum Stich Raimondis, Rötel, weiß gehöht, 247 × 181 mm, London, British Museum, Inv. Nr. 1858,0724.8, Popham 1971, Nr. 214. Weiterhin schuf Parmigianino folgende Zeichnungen nach dem Stich des Bethlehemitischen Kindermords: Popham 1971, Nr. 49 und 756. Gnann 2007a, Nr. 499 und 349. Auf der Rückseite einer Darstellung der Heiligen Familie befindet sich eine verworfene Skizze nach dem toten Säugling ganz links auf dem Stich, Feder in brauner Tinte, laviert, 153 × 146 mm, Cambridge, Fitzwilliam Museum, Inv. Nr. P.D. 123–1961. Parmigianino zeichnete den Säugling genau ab, strich die Zeichnung aber anschließend durch. Außerdem skizzierte Parmigianino die zentrale Figur des Stichs, nämlich die Frau, die fliehend ihr Kind an sich presst, Rötel, 215 × 140 mm, London, Sammlung Mrs. A Rook. Parmigianino, Schlafender Amor, Radierung und Kaltnadel, 70 × 111 mm, Bartsch XVI.13.11, British Museum, London, Inv. Nr. 1977,U.1200, Gnann 2007b, Nr. 22 und ebenda S. 15. Die Rötelzeichnung im British Museum sowie die Budapester Zeichnung kommen, laut Gnann, stilistisch dem Altarbild mit der sogenannten Hieronymusvision von 1526–1527 nahe. Siehe auch Ekserdjian 2006, S. 223. Die Seitenverkehrung des Motivs in der Radierung hat noch einen weiteren Effekt: Während das sterbende Kind auf dem Stich Marcantonios und der seitengleichen Zeichnung Parmigianinos seine Hand auf dem Herzen liegen hat – und zudem auf der Zeichnung Parmigianinos durch die gespreizten Finger auch noch Schmerz auszudrücken scheint – liegt bei dem als Amor umgedeuteten Kind auf der Radierung die Hand entspannt auf der rechten Bauchseite.
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58 Parmigianino, Auf dem Rücken liegendes Kind, Feder in brauner Tinte, 60 × 88 mm
59 Parmigianino, Schlafender Amor, Radierung und Kaltnadel, 70 × 111 mm
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60 Parmigianino, Madonna und Kind, schwarze Kreide und Weißhöhung, 271 × 109 mm, am oberen Blattrand mit einem 4 mm Papierstreifen ergänzt, auf dem von fremder Hand die Darstellung fortgeführt wurde
sowie ein unter den Flügeln liegender Bogen. So folgt Parmigianino zwar zunächst formal der Quelle, doch deutet er sie ins Gegenteil um, was Thema und Stimmung seiner Radierung betrifft. Interessant ist auch, dass sich Parmigianino in der Linienführung nicht an den Schraffuren des Kupferstichs orientiert, sondern sich die lockere Zeichenweise der Radiernadel zunutze macht und durch den Einsatz mehr oder weniger eng aneinander gesetzter Punkte sanftere Übergänge zwischen Licht- und Schattenpartien schafft. In dieser Technik diente ihm möglicherweise Giulio Campagnola (1482–1516?) als Vorbild. In ähnlicher Haltung wie der Schlafende Amor ist auch Herkules, als schlafendes Kind in einer Zeichnung Parmigianinos wiedergegeben.52 52
Fenyö 1969. Parmigianino, Der kleine Herkules, schlafend, Feder, in brauner Tinte, 141 × 138 mm, Budapest, Szépmüvészeti Múzeum, Inv. Nr. 2130, unten links von fremder
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61 Parmigianino, Madonna della Rosa, Öl auf Holz, 109 cm × 88,5 cm, um 1529–1530
Hier würde man allerdings keine Beziehung mehr zu Raimondis Stich herstellen, wenn nicht der Zwischenschritt der Radierung mit dem Schlafenden Amor bekannt wäre. So hat sich Parmigianino mit jeder neuen Interpretation immer weiter vom Vorbild entfernt. Gleich neben dem auf dem Boden liegenden Säugling befindet sich auf dem Stich Der Bethlehemitische Kindermord ein weiteres Kind, welches alle vier Gliedmaßen von sich streckt und von seiner knienden Mutter im rechten Arm gehalten wird. Dieses Kind durchläuft in der gezeichneten Bearbeitung durch Parmigianino ebenfalls eine
Hand datiert 1539, unten rechts bezeichnet ‚Francesco Parmigianino f.‘. Reproduziert von Wenceslaus Hollar (1607–1677), Der Kleine Herkules, schlafend, Radierung, 155 × 140 mm, 1639, Hollstein / Bartrum 1998–, Bd. I, S. 254–255, Nr. 264.
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bemerkenswerte Transformation: Es wird zum spielenden Jesusknaben auf einer der Zeichnungen, die das in Dresden befindliche Gemälde Madonna della Rosa vorbereiten (Abb. 60 und 61).53 Auf dem Stich wehrt die Mutter mit ihrer Linken einen Henker ab, der im Begriff ist, mit dem Schwert auszuholen. Aus diesem Grund hat sie ihr Kind nur gerade eben unter ihren Arm gepackt. Es droht, aus ihrem Griff zu gleiten und hält in einer erschrockenen Geste seine Linke empor. Diese dynamische Darstellung eines Säuglings hat Parmigianino wegen der ungewöhnlichen Bilderfindung fasziniert. In seiner Zeichnung in schwarzer Kreide wird das Kind spiegelverkehrt unterhalb des linken Armes Mariens gezeigt, die ähnlich einer Venus pudica die rechte Hand über den linken Oberarm hält. Parmigianino ist sich des Problems bewusst, dass ein Kind, das alle Gliedmaßen von sich streckt, nicht sicher von der Mutter gehalten werden kann. Deshalb stützt er es zusätzlich mit einem mit wenigen Strichen angedeuteten Kissen ab. Deutlich wird hier, wie Parmigianino lediglich die Elemente aus der Vorlage entlehnt, die ihm für die weitere Verwendung in einer thematisch fremden Komposition von Nutzen sind. Der Bezug zur Vorlage lässt sich nur aufgrund formaler Analogien herstellen. Die Liniensprache oder Darstellungsweise des Kupferstichs sind für Parmigianino von keinem Interesse. Hier sucht er allein die Erfindung Raffaels. Der Kupferstich ist ihm lediglich ein nützliches Hilfsmittel dafür. Von seiner außergewöhnlichen Erfindungsgabe zeugt die Fähigkeit, sich nicht vom Thema und emotionalem Gehalt der Vorlage einschränken zu lassen, sondern die Entlehnungen in einen vollkommen neuen Kontext transferieren zu können. Folgt man einer von Popham und Gnann angedeuteten chronologischen Reihenfolge der Skizzen, die mit dem Gemälde der Madonna della Rosa in Verbindung gebracht werden können, fällt auf, dass Parmigianino nicht von Anfang an den Bezug zum Stich beabsichtigte.54 Die Erfindung des mit den Füßen und Händen nach vorn greifenden Kindes war lediglich eine Inspiration im Prozess der Entwicklung des Gemäldes. Im Gemälde selbst, das der Künstler, anlässlich der Krönung Karls V. zum Kaiser in Bologna, Papst Clemens VII. präsentierte, ist kein Bezug zum Stich Raimondis mehr enthalten.55 Die dramatische Geste des alle Gliedmaßen von sich streckenden Kindes wird schließlich stark abgemildert und dem Dekorum eines Altarbildes angepasst. 53
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Parmigianino, Madonna und Kind, schwarze Kreide und Weißhöhung, 271 × 109 mm, am oberen Blattrand mit einem 4 mm Papierstreifen ergänzt, auf dem von fremder Hand die Darstellung fortgeführt wurde, Sotheby’s, London, 18. November 1982, Nr. 14. Gnann 2007a, Nr. 714. Zu den weiteren Vorstudien zum Gemälde Madonna della Rosa gehören Popham 1971, Nrn. 88 (Florenz), 227 (London), 493 und 494 (Paris), 675 verso (Amsterdam), 702 recto und verso, 739, 740 ( jeweils Chatsworth), OR 14, OR 15 und OR 16. (Vgl. Gnann 2007a, Nrn. 706–713.) Das Gemälde Madonna della Rosa befindet sich in der Gemäldegalerie, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Inv. Nr. 161, Öl auf Holz, 109 cm × 88,5 cm, um 1529 bis 1530, Vaccaro 2002, S. 175–176, Kat. Nr. 31. Es wird in die späte Bologneser Zeit datiert. Popham 1971. Eine eingehendere Analyse findet sich bei Katalognummer 88. Gnann 2007a, Textteil, S. 236–245. Vasari 2004b, S. 28. Parmigianino hatte das Bild ursprünglich im Auftrag Pietro Aretinos geschaffen.
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Das Jesuskind ruht nun entspannt auf einer nicht näher bezeichneten Draperie und hält lässig seine Linke über einem Globus, als Symbol der Funktion Christi als Weltenherrscher. Die Auseinandersetzung mit dem Stich Raimondis lässt sich in diesem Beispiel daher klar in die Situation der Entwicklung eines Bildgedankens im Atelier einordnen. Es handelt sich um ein privates Studium zum Zweck des Ausprobierens verschiedener Bildlösungen. Der ikonografische Gehalt der Vorlage ist nicht von Bedeutung. Die Entlehnung geschieht allein aufgrund der überzeugenden Darstellung des sich heftig bewegenden Kindskörpers.
Lukrezia Ein weiteres Beispiel für Parmigianinos Fähigkeit, die gedruckte Vorlage zeichnend zu korrigieren, respektive sie sich in sehr freier Weise anzueignen, liefert die Studie der Lukrezia (Abb. 62).56 Hier wird ein Bezug zu Raimondis Stich gleichen Themas deutlich (Abb. 63, Bartsch XIV.155.192), der nach einem Entwurf Raffaels geschaffen worden ist (Abb. 64).57 Im Gegensatz zum Stich hat Parmigianinos Lukrezia die dem Schwert nähere Brust entblösst, was der Zeichnung zusätzliche Dramatik verleiht, da die Schwertspitze drohend auf die Brustwarze gerichtet ist. Zudem blickt sie nun auf das Schwert und bringt damit ihre Entschlossenheit klarer zum Ausdruck. Dem Stich ähnlich sind ihr klassisches Profil mit der geraden Nase, ihre Frisur, die vertikale Haltung des Schwerts sowie die Drapierung des antiken Gewands. Die Betonung der Hüfte durch die leichte Andeutung eines Kontraposts wurde beibehalten, jedoch ist nun das linke Bein das Standbein und der rechte Fuß wurde leicht nach hinten ver56
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Parmigianino, Studien für die Figuren der Lukrezia, Proserpina und Merkur, Feder in Braun, braun laviert, weiß gehöht, 188 × 96 mm, um 1535–1538, Szépmûvészeti Múzeum, Bupapest, Inv. Nr. 1883, Gnann 2007a, Nr. 957, Popham 1971, Nr. 25. Weiterhin befinden sich auf dem Blatt eine Skizze einer Proserpina, die Askalaphus in eine Eule verwandelt, eine männliche Aktstudie und eine Wiederholung der das Schwert haltenden Hand Lukrezias, verso eine weibliche Aktstudie. Die Skizze wird zu Parmigianinos Spätwerk gerechnet. Vergleiche auch die Ausführungen zur Zeichnung Raffaels und dem entsprechenden Stich Raimondis in dieser Arbeit, S. 54–59. Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Lukrezia, Kupferstich, 212 × 131 mm, Bartsch XIV.155.192, Rijksmuseum, Amsterdam, Inv. Nr. RP-P-1951-575 und Raffael, Lukrezia, Feder in brauner Tusche über schwarzer Kohle, die Konturen mit dem Griffel nachgezogen, verso zu Übertragungszwecken mit Kohle eingerieben, 397 × 292 mm, um 1508–1510, New York, Metropolitan Museum of Art, Inv. Nr. 1997.153, siehe auch: http://www.metmuseum. org/collection/the-collection-online/search/337075. Auch wenn die New Yorker Zeichnung ohne Zweifel auf ein anderes Blatt transferiert worden ist, woraufhin die Kohlespuren auf der Rückseite deuten, ist sie kein direktes Vorbild für Raimondis Stich, da sie deutlich größer als der Stich ist und in vielen Details von diesem abweicht. Laut Vasari gab Raimondis Stich nach Raffaels Lukrezia den Anstoß zur Zusammenarbeit. Vgl. Vasari 1910, S. 556–557: „Marcantonio aber, […], stach nach seinem Eintreffen in Rom ein herrliches Blatt von Raffael von Urbino in Kupfer, darauf eine römische Lukrezia, die sich den Tod gab, mit so vielem Fleiß und in so schöner Manier, dass Raffael, dem es alsbald von einem seiner Freunde gebracht worden war, sich entschloß, einige Zeichnungen seiner Werke im Druck herauszugeben.“
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62 Parmigianino, Studien für die Figuren der Lukrezia, Proserpina und Merkur, Feder in Braun, braun laviert, weiß gehöht, 188 × 96 mm, um 1535–1538
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setzt. Dieses Studienblatt, auf welchem sich überlagernd weitere Zeichnungen Parmigianinos befinden, ist erneut dem Atelierkontext zuzuweisen. Es macht deutlich, wie Parmigianino die gedruckte Vorlage in der gezeichneten Aneignung durchdachte, ihren Sinn hinterfragte und nach Wegen suchte, die Dramatik des Momentes zu steigern.
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Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Lukrezia, Kupferstich, 212 × 131 mm
Raffael, Lukrezia, Feder in brauner Tusche über schwarzer Kohle, 397 × 292 mm, um 1508–1510
Funktionen der Nachahmungen Parmigianinos Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Parmigianino sowohl Stiche Marcantonio Raimondis als auch Holzschnitte Ugo da Carpis nach Raffael zeichnend studierte und sie sowohl in ihrer Gesamtkomposition als auch in Teilstudien wiederholte. Pa rallel dazu kopierte er ebenfalls Zeichnungen Raffaels.58 Die Stiche oder Holzschnitte dienten ihm dabei in erster Linie als Informationsquelle über die nur begrenzt 58
Zu den Zeichnungen Parmigianinos, die sehr wahrscheinlich direkt auf Zeichnungen Raffaels zurückzuführen sind, zählen: Die Königin von Saba vor Salomon, Feder in Braun, braun laviert, weiß gehöht, 224 × 349 mm, die oberen Ecken beschnitten, Angers, Musée des Beaux-Arts, Inv. Nr. MTC 5042, Gnann 2007a, Nr. 380, Vgl. den Stich von Raimondi Salomon und die Königin von Saba (Bartsch XIV.13.13), Broun / Shoemaker 1981, Nr. 54
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zugänglichen Originale Raffaels. Es ist anzunehmen, dass Parmigianino sie als gültiges Äquivalent zu den Zeichnungen Raffaels wahrnahm. Der Charakter der Federzeichnungen Parmigianinos gibt keinen Aufschluss über die Art der Vorlage, da der Künstler die entlehnten Motive seiner eigenen Zeichenweise anpasste. Er wählte seine entsprechenden Zeichenmittel gemäß dem von ihm beabsichtigten Zweck der Nachahmung: In den hier untersuchten Fällen, da er die Vorlagen in ihrer Gesamtheit zeichnend kopierte, wendete er ausschließlich die Technik der lavierten Federzeichnung an. Die Studien von Einzelmotiven sind hingegen schnelle, allein mit der Feder ausgeführte Zeichnungen. Während die Nachzeichnungen nach Gesamtkompositionen vor allem dem Studium der Bilderfindungen Raffaels und der Schulung der eigenen Hand dienten, bildeten die herausgelösten Einzelmotive Vorstufen zur Vorbereitung eigener Bildschöpfungen. Solche Skizzen waren für das private Studium des Malers gedacht und sollten das Atelier nicht verlassen. Parmigianino ging mit der Vorlage jeweils kritisch um, durchdachte und korrigierte sie in der gezeichneten Wiederholung. Es reicht daher nicht, in diesen Kopien nur sein Bemühen zu erkennen, es Raffael gleichzutun. Vielmehr versuchte er, das Vorbild zu übertreffen. Neben dem künstlerischen Wettstreit mit Raffael diente das Studium der in dessen Umkreis geschaffenen Druckgrafik auch der Vorbereitung eigenen druckgrafischen Schaffens. Zu Raimondi und Ugo da Carpi stand Parmigianino in persönlichem Kontakt. Vermutlich erst durch ihre Anregung wendete er sich der Herstellung von Radierungen zu und gab Kupferstiche und Holzschnitte nach seinen Entwürfen in Auftrag. Zwar wählte er für die eigenen Werke eine andere Technik als Raimondi, nämlich die Radierung und Kaltnadel; auch lassen sich deutliche Unterschiede in der Linienführung zu den Kupferstichen Marcantonios erkennen. Dennoch waren ihm die Kupferstiche Marcantonios und Holzschnitte Ugo da Carpis wichtige Vorbilder auch hinsichtlich technischer Merkmale der Ausführung. Parmigianino war sich der Macht der Verbreitung von Bildideen im Druck deutlich bewusst. In Rom ging er schließlich eine ähnliche
– Gruppe von Männern in langen Gewändern, (recto), David erschlägt Goliath (verso), Feder in Braun, braun laviert, 145 × 198 mm, Fehlstelle oben links, Florenz, GDSU, Inv. Nr. 1221 E, Tofani 1987, Bd. II, S. 507. Gnann 2007a, Nr. 376, Béguin / Giampaolo / Vaccaro 2000, Nr. 19, Abb. S. 224 – Die Schule von Athen, Gnann 2007a, Nr. 383 recto und Popham 1971, Nr. 666, Feder in Braun, braun laviert, über schwarzer Kreide, 222 × 415 mm, Windsor, Royal Library, Inv. Nr. 0533. Verso befinden sich verschiedene Skizzen: Zwei fliegende Engel, ein liegender Männerakt, ein in acht Segmente geteilter Kreis, ein Astrolabium, Entwurf für eine Kuppeldekoration. Zu den nach Originalen Raffaels geschaffenen Skizzen zählen zudem: Eine freie Kopie nach Raffaels Gemälde im Museo Capodimonte, Neapel, Madonna del divino amore – Gnann 2007a, Nr. 2r, eine Kopie nach einer verlorenen Vorzeichnung Raffaels für die Madonna di Loreto – Gnann 2007a, Nr. 222; eine Studie mit vier Figuren nach Raffaels Teppich – oder Teppichmodell der Heilung des Lahmen an der Tempelpforte, Gnann 2007a, Nr. 214, die ebenfalls die Grundlage für eine Radierung bildete.
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Allianz ein, wie Raffael sie mit Raimondi geschlossen hatte, indem er Giovanni Giacomo Caraglio mit Kupferstichen nach seinen Entwürfen beauftragte. Allerdings unterschied er sich von Raffael darin, dass er seinem Stecher wenig Spielraum für eigene Interpretationen ließ und überwiegend genaueste Modellzeichnungen anfertigte.59 In Bologna begann später die Zusammenarbeit mit Antonio da Trento, der Chiaroscuro Holzschnitte nach seinen Entwürfen schuf. Im gedruckten Bild nahm Parmigianino an einem öffentlichen Wettstreit mit seinen Vorbildern teil, denn im Rahmen des neuen, für die Vervielfältigung geschaffenen Mediums wurden Kunstwerke am Beginn des 16. Jahrhunderts zum ersten Mal in einem besonderen Maße vergleichbar.60 Parmigianinos Umgang mit seinen Vorbildern ist insgesamt von großer Freiheit geprägt. Er entlehnt nur solche Elemente, die seinen eigenen Bildthemen und seinem Stil dienlich sind. Der bildliche Wettstreit mit seinen Vorgängern – neben Raffael zählen dazu auch Mantegna und Dürer – ist für ihn ein selbstverständliches Mittel der Bildgenese. Während Raffael nur wenige Jahre zuvor im Wesentlichen textliche Vorlagen als Grundlage seiner künstlerischen Erfindungen nahm, stellte Parmigianino eine ähnliche Beziehung zu bildlichen Quellen her. Seine künstlerische Leis tung manifestiert sich vor allem in der Fähigkeit, Motive anderer Meister in einem neuen Stil erscheinen zu lassen und neue künstlerische Techniken anzuwenden.61 Die Übertragung druckgrafischer Vorlagen in Zeichnungen oder Radierungen bedingt eine mediale Übersetzung, die in einigen Fällen zu deutlich veränderten Resultaten führt und somit aus der Nachahmung Raffaels eine eigenständige künstlerische Leis tung werden lässt.
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Zu den Stichen Caraglios nach Parmigianino zählen Die Anbetung der Hirten (B. XV, 39, 4), Die mystische Vermählung Mariens (B. XV, 38, 1), Diogenes (B. XV, 53, 61) sowie Das Martyrium des Petrus und Paulus (B. XV, 41, 8). Niccolò Vicentino (um 1510 – tätig in Bologna bis ca. 1540), fertigte seine Chiaroscuro Holzschnitte nach Parmigianinos Entwürfen vermutlich erst nach dessen Tod an. Vgl. Ekserdjian 2006, S. 213–238. Zu den Parmigianino zugeschriebenen Radierungen, die auf Erfindungen Raffaels zurückzuführen sind, zählen neben dem bereits erwähnten Schlafenden Amor die Auferstehung Christi (B. XVI, 6, 6) sowie Petrus und Johannes heilen einen Lahmen an der Schönen Pforte des Tempels (B. XVI, 7, 7). Siehe: Gnann 2007b, Kat. Nrn. 22, 23–24, 30–32. Die Radierung der Auferstehung Christi ist möglicherweise von Raffaels Entwürfen für das nie ausgeführte Altarbild in der Chigi-Kapelle in Santa Maria della Pace angeregt; Petrus und Johannes heilen einen Lahmen an der Schönen Pforte des Tempels folgt in spiegelverkehrter Richtung einem verlorenen modello Raffaels für einen der für die Sixtinische Kapelle geschaffenen Wandteppiche. Möglicherweise geht seine Radierung der Liebenden auf einen heute verlorenen Kupferstich aus Raimondis Serie der Modi zurück. Vgl. Ekserdjian 2006, S. 226. Emison 1985, S. 202: „Raphael’s, Giulio Campagnola’s, and Mantegna’s inventions had been innovative because their sources lay in poetry and poetical thinking; Parmigianino treated their engravings themselves like texts, as sources the reference to which was not to be lost, but whose style and sense were not binding.“
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Das italienische Skizzenbuch von Anthonis van Dyck: Die gezeichnete Nachahmung von Kupferstichen als aide-mémoire
Im 6. Kapitel des ersten Buches seiner Veri precetti della pittura schildert Armenini, die nachzuahmenden Kunstwerke seien in verschiedenen Ländern und Städten verstreut. Daher sei es für junge Maler notwendig, viele Reisen auf sich zu nehmen, um sie im Detail zu studieren, unter Aufwendung von viel Zeit und harter Arbeit. Wenn möglich, solle man mit Pastellkreiden oder anderen Materialien Kopien anfertigen, damit man diese stets vor sich habe, wenn man sie brauche.1 Beispiele für nach Stichen Raimondis angefertigte Reisenotizen, als Erinnerung an nicht dauerhaft zugängliche Werke, bilden einige Federzeichnungen aus dem italienischen Skizzenbuch von Anthonis van Dyck, das im British Museum aufbewahrt wird.2 Es liegt ebenfalls als Faksimile Ausgabe vor.3 Dieses Skizzenbuch enthält neben den Nachahmungen nach Raimondi, nahezu 200 Zeichnungen nach Gemälden, Zeichnungen, Drucken und Skulpturen, aber auch Naturbeobachtungen, die der Künstler während seines Aufenthaltes in Italien von 1621 bis 1627 angefertigt hat.4 Zu den von ihm studierten Meistern gehören unter anderem Tizian (eigentlich Tiziano Vecellio, um 1490–1576), Raffael, 1
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Armenini 1988, S. 64: „Et perché queste son sparse in più paesi, e Città, gli è necessario di andarli con più tempo, e con stenti à minuto considerarle, e se gli è possibile provarsi ad imitarle con i colori, ò in tauolette, ò in carte, ò tutte, ò parte le cose più belle e con i pastelli, ò con altra materia haverne copia per poter servirsene poi ne’ lor bisogni.“ Anthonis van Dyck, Italienisches Skizzenbuch, 121 Blätter, je ca. 205 × 165 mm, 1614–1641, London, British Museum, Inv. Nr. 1957,1214.207.1. Ob die heutige Reihenfolge der Blätter der ursprünglichen Kollationierung entspricht, ist fraglich. Sämtliche Seitenzahlen sind von späteren Besitzern hinzugefügt worden. Während ausgedehnter Studienreisen in Italien (Abreise aus Antwerpen am 3.8. 1621) gelangte van Dyck zuerst nach Genua, dann nach Padua, Venedig, Bologna, Florenz, Rom und schließlich bis nach Palermo. Das Skizzenbuch führte er wohl von Herbst 1622 – Herbst 1627 mit sich. Es enthält ein Datum, den 12.7.1624, als er die greise Sophonisba Anguisciola skizzierte, Vgl. Adriani 1940, S. 6–7. Siehe auch: Jaffé 2002, Bd. I, S. 70–127. Adriani 1940. Jaffé 2001, S. 623–624: “Through the sketchbook it is possible to discern Van Dyck’s process of absorbing and personalising other artist’s inventions into his own idiom. […] He resus-
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Leonardo, Guercino (Giovanni Francesco Barbieri, 1591–1666) und Annibale Carracci (1560–1609).5 Oftmals notierte van Dyck auf seinen Skizzen die Namen der Maler, nach denen er arbeitete. Einige Vorlagen sind dabei berühmten Meistern zugeschrieben worden, obwohl es sich sehr wahrscheinlich um Werkstattarbeiten oder Kopien handelte.6 In vielen nach Gemälden geschaffenen Skizzen fügte van Dyck zudem schriftliche Notizen über die im Original verwendeten Farben ein. Ergänzend zu den Studien nach anderen Malern schuf er auch eine Vielzahl von Skizzen nach dem Leben. Hier gehören Studien von Frauen- und Männerkleidern, Kopfstudien, Tierdarstellungen und Landschaften zu den bevorzugten Bildthemen. Mindestens ein Sechstel der Zeichnungen geht jedoch auf druckgrafische Vorlagen zurück. Dazu zählen Kupferstiche und Holzschnitte nach Tizian (fol. 10v, 11, 24v–26, 41v–42, 45v, 54v–55), druckgrafische Werke von Dürer (fol. 77v) sowie Kupferstiche nach Raffael von Marc antonio Raimondi und Giorgio Ghisi.7 Ähnlich wie Parmigianino eignete sich van Dyck nicht zufällig druckgrafische Vorlagen an, denn er war selbst als Radierer tätig und gab Drucke nach seinen Zeichnungen in Auftrag. Nach einer Zeichnung aus dem Skizzenbuch fertigte er eine Radierung an, nämlich Tizian und seine Geliebte (fol. 112), nach einem verlorenen Gemälde Tizians aus der Sammlung Borghese in Rom.8 Zu den auf der Italienreise angefertigten Skizzen nach Marcantonio Raimondi zählen eine Detailstudie der rechten Seite des Stichs Martha führt Maria Magdalena zu Christus und die Wiedergabe sämtlicher Figuren aus dem Letzten Abendmahl, das sowohl von Marco Dente als auch von Raimondi gestochen worden war. Auf einem weiteren Skizzenblatt kombinierte van Dyck Federzeichnungen nach zwei Stichen Raimondis, nämlich der Frau mit zwei Schwämmen sowie Venus nach dem Bad. Nach dem Stich Giorgio Ghisis nach Raffaels Fresko der Disputà fertigte van Dyck ebenfalls
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citates and reforms his sources, adjusting, even refining the inventions of other artists, and making them his own.“ Außerdem zählen zu den Vorbildern: Giorgione, Sebastiano del Piombo, Jacopo Tintoretto, Palma il Vecchio und Paolo Veronese. Der Name Tizians in der Handschrift van Dycks erscheint etwa 60 Mal auf den Seiten seines Skizzenbuchs, insgesamt eignete sich van Dyck 95 Motive nach Tizian an. Jaffé 2001: Im Fall von Tizians Noli me tangere oder Sebastiano del Piombos Kreuztragung Christi zeichnete er nach gemalten oder gezeichneten Kopien, da sich die Originale Anfang des 17. Jahrhunderts bereits nachweislich in Spanien befanden. Studien nach Michelangelo, Caravaggio (eigentlich Michelangelo Merisi, 1571–1610) oder nach Rubens’ Werken in Genua oder Rom fehlen in diesem Skizzenbuch. Da diese Meister aber eine bedeutende Wirkung auf van Dyck ausübten, ist davon auszugehen, dass es weitere Skizzenbücher oder lose Zeichenblätter von seiner italienischen Reise gegeben hat. Nach Dürers Holzschnitten Die Herodias empfängt das Haupt Johannes (Meder 1971, Nr. 232) und Die Enthauptung Johannes des Täufers (Meder 1971, Nr. 231) zeichnete van Dyck einzelne Kopfstudien (fol 77v a und b). Depauw / Luijten 1999, Kat. Nr. 32, Van Dyck hat außer der schnellen Skizze nach Tizians Gemälde vermutlich auch eine gemalte Kopie angefertigt, welche die Grundlage für die Radierung bildete, denn in seinem Sammlungsinventar ist das Bild „Copie appo Titiano di mano dell Cavallre van Dyck – ritratto del medemo Titiano con una Cortegiana“ erwähnt.
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zwei Zeichnungen an. Sämtliche Zeichnungen nach Stichen, die auf Erfindungen Raffaels basieren, werden im Folgenden näher beschrieben, um Aufschluss darüber zu bekommen, auf welche Weise sich van Dyck druckgrafische Vorbilder aneignete und worin die spezifischen Charakteristika seines gezeichneten Reisetagebuches bestehen. Besonders im Fall der lavierten Federzeichnung nach dem Stich Martha führt Magdalena zu Christus wird deutlich, dass van Dyck sehr schnell gearbeitet hat (Abb. 65, Bartsch XIV.51.45 und Abb. 66).9 Zunächst wählte er nur den Teil der Vorlage aus, der ihn wirklich interessierte, nämlich die Gruppe der zuhörenden Apostel, die sich um den an der Tempelpforte thronenden Christus gruppiert haben (Lukas, Kap. 10, Vers 38–42). Ihre Gesten und Gesichter werden mit wenigen Feder- oder Pinselstrichen nur gerade eben angedeutet. So fehlt der erhobenen Rechten Christi ein Finger, sein im Stich durch einen Bart hervorgehobenes Kinn springt nun deutlich hervor, die Aureole fehlt. Der hinter ihm stehende Apostel ist in der gezeichneten Wiederholung kaum noch zu erkennen, sein bärtiges Gesicht wirkt wie eine Maske. Genaueres Augenmerk widmete van Dyck der auf einem steinernen Löwenkopf
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Marcantonio Raimondi, Martha führt Magdalena zu Christus, Kupferstich, 230 × 343 mm, Bartsch XIV.51.45, Rijksmuseum, Amsterdam, Inv. Nr. RP-P-OB-11.744 und Anthonis van Dyck (nach Raimondi), Martha führt Magdalena zu Christus, auch: Christus lehrend, Rohrfeder und Pinsel in Braun, braun laviert, 199 × 151 mm, oben rechts und links nummeriert „29“, aus seinem italienischen Skizzenbuch, fol 29r, London, British Museum, Inv. Nr. 1957,1214.207.29. Jaffé 2001, S. 619: „In general all the drawings in the sketchbook give the impression of having been made in haste.“ Die Modellzeichnung für den Stich Raimondis stammt von Raffael, Martha führt Magdalena zu Christus, Feder in Braun, braun laviert, weiß gehöht über Spuren einer Kreidevorzeichnung, 222 × 349 mm, Chatsworth, Devonshire Collection, Trustees of the Chatsworth Settlement, Nr. 63, Oberhuber / Gnann 1999, Nr. 116, vgl. Broun / Shoemaker 1981, S. 172, Kat. Nr. 56, dort ist diese Zeichnung Giulio Romano zugeschrieben. Von dieser Zeichnung gibt es eine Giulio Romano zugeschriebene Kopie, Martha führt Magdalena zu Christus, Feder in Braun über Spuren einer Vorzeichnung in schwarzem Stift, 226 × 333mm, München, Staatliche Graphische Sammlung, Inv. Nr. 2467, Oberhuber / Gnann 1999, Kat. Nr. 117. Zudem gibt es eine lavierte Federzeichnung in Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nr. 4282, vgl. Cordellier / Py 1992, S. 597, Nr. 999. Diese gibt, wie die Zeichnung Raffaels, eine oben halbrund abgeschlossene Szene wieder, zeigt aber einen größeren Bildausschnitt. Am rechten Bildrand befindet sich neben dem ruhenden Apostel noch ein Kind – wie auch in der Münchner Fassung. Somit ist diese Zeichnung nicht eine Wiederholung der Zeichnung Raffaels, sondern von der Giulio Romano zugeschriebenen Zeichnung in München. Weiterhin befindet sich in der Graphischen Sammlung Albertina, Wien, eine zum Stich spiegelverkehrte Zeichnung. Sie gibt den gleichen Bildausschnitt wie der Stich wieder. Ähnlich dem Stich und im Gegensatz zur Zeichnung Raffaels enthält sie keine Skulptur auf dem Tympanon des mittleren Tempels. Laut Birke / Kertesz erlaubt der schlechte Erhaltungszustand der Zeichnung keine Entscheidung darüber, ob es sich hierbei um die Vorzeichnung zum Stich handelt. Birke / Kertész 1992, Bd. I, S. 103, Inv. Nr. 183, SR 227, Anonym, nach Raffael, Martha führt Magdalena zu Christus, braune und weiße Ölfarbe, 336 × 220 mm. Vermutlich von George Matheus stammt ein Clair-obscur Holzschnitt, der nach dem Stich Raimondis geschaffen worden ist (Bartsch XII.37.12). Die Szene der Martha, die Maria Magdalena zu Christus führt, ist der zweite Stich Raimondis, zu dem es ein entsprechendes Fresko Giulio Romanos in der Kirche Santissima Trinità dei Monti gegeben hat, vgl. S. 140.
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ruhenden linken Hand Christi sowie den beiden auf den Treppenstufen versammelten Apostel, von denen einer sein Haupt ruhend auf sein rechtes Knie stützt. Ein weiterer Apostel schaut rechts hinter einer Säule hervor – Hände und Gesicht auch dieses Apostels wurden nur rasch skizziert. Van Dyck nahm in diesem Fall keine schöpferi-
65 Marcantonio Raimondi, Martha führt Magdalena zu Christus, Kupferstich, 230 × 343mm
sche Ergänzung oder inhaltliche Interpretation der Vorlage vor. Dennoch passte er den Kupferstich seiner eigenen Liniensprache an und verlebendigte die Darstellung gewissermaßen durch seine dynamische Strichführung.10 Seine grobe Wiedergabe der gestochenen Vorlage deutet darauf hin, dass er den Stich nicht eingehend studierte, sondern ihn sich nur mit wenigen Federstrichen in Erinnerung behalten wollte. Sein besonderes Interesse galt dabei dem Faltenspiel an den Gewändern Christi und der Apostel. Allein in den Gewändern gab van Dyck den Stich getreu wieder und intensivierte das reizvolle Faltenspiel durch klare Hell-Dunkelkontraste, die mit dem Pinsel erzeugt wurden. Wie bereits erwähnt, schuf van Dyck mehrere Zeichnungen nach 10
Adriani 1940, S. 11: „Gewiß notierte er die Kompositionen, die ihn interessierten, um sich später an Hand seiner mehr oder minder flüchtigen Skizzen der einst gesehenen Gemälde leichter erinnern zu können. Jedoch begnügte er sich in vielen Fällen nicht damit, die Komposition mit wenigen Strichen festzuhalten, oft wurde aus der Vorlage unter seiner Feder etwas anderes, etwas Selbständiges.“
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66 Anthonis van Dyck (nach Marcantonio Raimondi), Martha führt Magdalena zu Christus, auch: Christus lehrend, Rohrfeder und Pinsel in Braun, braun laviert, 199 × 151 mm
67 Simon du Bois (nach Marcantonio Raimondi), Martha führt Magdalena zu Christus, 1632–1708, Feder in Braun, 52 × 74 mm
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gemalten und nach tatsächlich getragenen Kostümen. Diese konnten ihm bei seinen späteren Aufträgen als Porträtmaler nützlich sein. Möglicherweise verfolgte er hier einen ähnlichen Zweck. Die Qualität dieser Aneignung wird deutlich, wenn man van Dycks Blatt mit einer Zeichnung von Simon du Bois vergleicht, der wahrscheinlich in einer ähnlichen Situation eine gezeichnete Notiz nach dem Stich angefertigt hat (Abb. 67).11 Die Skizze von du Bois ist nur halb so groß wie van Dycks Studienblatt. Auf der winzigen Zeichnung gibt er allein die Konturen sämtlicher Protagonisten wieder. Die Volksmenge im Hintergrund wird lediglich durch Kreise angedeutet, Details in den Gesichtern sämtlicher Personen werden nicht näher notiert. Auch hier fehlen die Aureolen. Du Bois wiederholt den Stich also nur in Umrissen, seinen Figuren fehlt jegliche Körperlichkeit. Ihm war wohl nur daran gelegen, die Komposition des Stichs festzuhalten. Da auch diese Zeichnung sehr flüchtig ist, handelt es sich auch hier nicht um ein Studienblatt zur Ausbildung eines Künstlers, sondern um eine Notiz – angefertigt mit dem Zweck, die Erfindung Raffaels in Erinnerung zu behalten. Gleich auf der Rückseite des eben beschriebenen Blattes schuf van Dyck eine Skizze nach einer von Raimondi oder Dente gestochenen Fassung des Letzten Abendmahls (Abb. 68, Bartsch XIV.33.26 und Abb. 69).12 Diese gibt eine weitere Erfindung Raffaels wieder, die auf Leonardos Entwurf für das Wandbild im Refektorium des Klosters Santa Maria delle Grazie in Mailand zurückgeht.13 An diesem Blatt wird offensichtlich, dass van Dyck bei seinen Nachzeichnungen nicht planvoll vorging, sondern sich spontan Notizen machte. Er beginnt seine Zeichnung auf einer Doppelseite links und studiert die Gruppe von drei Aposteln, welche sich auf dem Stich am linken Ende der Tafel befinden. Geschickt fängt er durch einzelne Pinselspuren ein kontrastreiches Spiel von Licht und Schatten ein. Rechts daneben folgt eine weitere Dreiergruppe, deren Zeichnung über den mittleren Falz des Skizzenbuches hinausgeht. Nun wird van Dycks Zeichnung immer reduzierter, allein die Gesichter und Gewänder werden in Konturen festgehalten, Binnenstrukturen jedoch nicht näher 11 12
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Simon du Bois, nach Marcantonio Raimondi, Martha führt Magdalena zu Christus, 1632– 1708, Feder in Braun, 52 × 74 mm, London, British Museum, Inv. Nr. 1932,0623.4. Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Das Letzte Abendmahl, Kupferstich, 299 × 431 mm, Barsch XIV.33.26, Rijksmuseum, Amsterdam, Inv. Nr. RP-P-OB-12.109 und Anthonis van Dyck (nach Marcantonio Raimondi), Das Letzte Abendmahl, Feder in Braun, braun laviert, 200 × 157 mm, aus dem italienischen Skizzenbuch, fol. 29v und 30r, London, British Museum, Inv. Nr. 1957,1214.207.30. Zur Vorzeichnung Raffaels siehe: Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, Nr. 451, Feder in Braun, 307 × 467 mm, Windsor Castle, Royal Library, Inv. Nr. 12745 Raffaels Modellzeichnung bildete allein die Grundlage für die beiden Stiche, sie mündete in kein farbiges Werk. Seine Zeichnung war van Dyck mit Sicherheit nicht zugänglich. Zum Stich siehe: Broun / Shoemaker 1981, Kat. Nr. 30. Auf Leonardo geht die Idee eines bildparallelen Tisches zurück. Er hatte die zwölf Jünger Christi zu einzelnen Gruppen zusammengefasst und Christus in das Zentrum einer symmetrisch gegliederten Komposition gesetzt. Eine weitere anonyme Kopie nach dem Stich Dentes oder Raimondis befindet sich in Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nr. 4289, Cordellier / Py 1992, Nr. 226, S. 170. Das Modell Raffaels für diesen Stich befindet sich in Windsor, Vgl. Anm. Nr. 20, S. 34.
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68 Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Das Letzte Abendmahl, Kupferstich, 299 × 431 mm
69 Anthonis van Dyck (nach Marcantonio Raimondi), Das Letzte Abendmahl, Feder in Braun, braun laviert, 200 × 157 mm (Farbtafel XI)
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notiert. Mit der Darstellung von Christus und Johannes gelangt van Dyck bereits an den rechten Blattrand und hat nun für die Darstellung der übrigen fünf Apostel, die auf dem Stich am rechten Ende der Tafel sitzen, keinen Platz mehr. Kurzerhand setzt er sie darunter. Auch hier bleibt es in der Erfassung ihrer Körpersprache bei wenigen Federstrichen. Bis auf ein durch ein Kreuz markiertes, gesegnetes Brot skizziert van Dyck keinen der auf dem Tisch liegenden Gegenstände. Auch zeichnet er außer beim Apostel ganz links jeweils nur die Oberkörper von Christus und seinen Jüngern. Die räumliche Anlage des Stichs wird überhaupt nicht wiedergegeben. So kann man an dieser Skizze ablesen, welche Elemente der Vorlage sich van Dyck zeichnend aneignen wollte: Ihn interessierte vor allem die gelungene Aufteilung der einzelnen Apostel in Gruppen. Besondere Aufmerksamkeit legte er auf ihre Gestik und Mimik, welche das erschrockene Gespräch unter den Aposteln deutlich werden lassen, nachdem Christus die unheilvolle Ankündigung seines baldigen Todes gemacht hat. Christus selbst ruht in sich. Seine ausbalancierte, symmetrische Körperhaltung spiegelt das wider. Doch alle seine Getreuen sind erregt. Johannes hat in einer abwehrenden Geste beide Hände vor den Brustkorb gelegt. Gert Adriani beschreibt die Zeichnung van Dycks mit folgenden Worten: Von der trockenen, grafischen Auffassung Marc Antonio Raimondis ist hier nicht viel übrig geblieben. […] So zeigt sich das Schöpferische […] darin, dass er einen Teil dieser streng linearen Komposition so in seine Sprache umsetzte, dass man bei der Betrachtung der Gruppe von drei Aposteln am linken Rand nur noch van Dyck zu sehen glaubt. Das Vorbild ist ganz von seiner eigenen Art durchdrungen.14 Deutlich wird, dass van Dyck die bildliche Szene in ihrer Erzählstruktur durchdenkt. Er sucht in seiner zeichnerischen Aneignung das Vorbild Raffaels, respektive Leonardos. Die lineare Struktur und jegliche stilistischen Merkmale der gestochenen Vorlage interessieren ihn nicht. Es zählen allein die Figurenerfindungen der Vorlage, nicht die materialgebundene Darstellungsweise. Van Dyck hat auch eine gemalte Fassung des Letzten Abendmahls geschaffen.15 In dieser bezieht er sich jedoch nicht auf den Stich Raimondis, sondern auf eine heute verlorene Zeichnung seines Lehrers Rubens nach 14 15
Adriani 1940, S. 12–15. Larsen 1988, Kat. Nr. 274, Anthonis van Dyck, Das Letzte Abendmahl, Öl auf Holz, 190 × 108 cm, Madrid, Sammlung Jose Luis Alvarez. Auf dem Gemälde van Dycks wird Christus nicht durch eine Fensterarchitektur, sondern durch einen gebauschten Vorhang hinterfangen. Judas hält einen Geldbeutel in der Hand, ihm ist ein Hund als Zeichen für seine Untreue zugeordnet. Vor dem Tisch befinden sich eine Wanne, in der Wein gekühlt wird, eine Kanne und ein Brotkorb, als weitere Hinweise auf das Abendmahlssakrament. Diese Bildgegenstände sind vermutlich auf einen Stich des Hendrik Goltzius zurückzuführen, der wiederum ein Gemälde von Pieter Cocke van Aelst zur Grundlage hatte: Hendrik Goltzius nach Pieter Cocke van Aelst, Das Letzte Abendmahl, Kupferstich, Bartsch III.23.39.
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70 Giorgio Ghisi (nach Raffael), Disputà, Kupferstich, 512 × 833 mm, 1552
Leonardos Abendmahl, deren Komposition durch eine Radierung Pieter Claesz. Soutmans (um 1580 – 1657) spiegelverkehrt wiedergegeben worden ist.16 Auf der Rückseite der Abendmahlsdarstellung fährt van Dyck mit dem Studium druckgrafisch vermittelter Werke Raffaels fort. Nun liegt ihm jedoch kein Stich Raimondis vor, sondern ein Reproduktionsstich Giorgio Ghisis (Abb. 70, Bartsch XV.394.23), nämlich die Übertragung des Freskos der Disputà aus der Stanza della Segnatura im vatikanischen Palast.17 Das Fresko entstand zwischen Ende 1508 und Anfang 1509, Ghisi schuf seinen Stich erst 1552. Es ist sicher, dass der Stich Ghisis hier der Vermittler war und van Dyck nicht das Fresko Raffaels gesehen hatte, denn auf dem Stich wie auch auf van Dycks Zeichnung fehlt der erhobene Dolch Abrahams, der auf dem Fresko hingegen deutlich zu erkennen ist. Auf den Blättern 30v und 31 wählt van Dyck aus der gestochenen Vorlage allein die Gruppe der im rechten oberen Halbrund sitzenden Heiligen Laurentius, Moses, Jacobus d. Ä. und Abraham aus (Abb. 71).18 16 17 18
Pieter Soutman nach Rubens, Das Letzte Abendmahl, Radierung, zwei Platten, 984 × 297 mm, Hollstein / Luijten 1993–, Bd. XXVII, Christoffel van Sichem – Herman Specht, S. 225, Nr. 4. Giorgio Ghisi (nach Raffael), Disputà, Kupferstich, 512 × 833 mm, 1552, Bartsch XV.394.23, British Museum, London, Inv. Nr. V,5.129. Auf fol. 30v hat eine ungeübte Hand den von der rückseitigen Abendmahlsdarstellung durchscheinenden Kopf von Johannes mit der Feder nachgefahren. Von van Dyck stammt lediglich die über beide Blätter hinausgehende Studie der Gruppe von Personen aus der Disputà: Anthonis van Dyck, Vier sitzende Figuren nach Raffaels Disputà, Feder in Braun, 200 × 156 mm, aus dem Italienischen Skizzenbuch, Fol. 30v und 31, London, British Museum, Inv. Nr. 1957,1214.207.31. Verso: Fünf Figuren aus der Disputà sowie: Ders., Sechs stehende
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71 Anthonis van Dyck (nach Giorgio Ghisi), Drei sitzende Figuren nach Raffaels Disputà, fol. 31r, Feder in Braun, 200 × 156 mm
72 Anthonis van Dyck (nach Giorgio Ghisi), Elf stehende Figuren nach Raffaels Disputà, aus dem Italienischen Skizzenbuch, fol. 31v und 32r, Feder in Braun über schwarzer Kreide, 199 × 156 mm
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Auf den Blättern 31v und 32 notiert er mit wenigen Federstrichen elf Personen, die auf dem Stich unten rechts vom Altar angeordnet sind (Abb. 72). Aufgrund der ihm vorgegebenen Blattbreite rückt er die Figuren näher zusammen und lässt einige Köpfe im Hintergrund fort. In diesen beiden Zeichnungen geht van Dyck im Gegensatz zu den zuvor beschriebenen, mit dem Pinsel lavierten Zeichnungen nach Raimondi nicht auf die Gestaltung von Licht- und Schattenzonen ein. Er arbeitet allein mit der Feder und notiert mit wenigen Strichen die äußeren Konturen. Details in Gesichtern und auf Gewändern lässt er fort. Man spürt, dass ihm die gestochene Vorlage hier nicht behagt, denn der Stich formuliert physiognomische Details manchmal zu typisiert und lässt trotz größter Bemühungen um Genauigkeit den jeweiligen individuellen Charakter nicht deutlich werden. Van Dyck lässt daher persönliche Züge beinahe ganz fort. Es scheint ihm vor allem darum gegangen zu sein, die sinnvolle Anordnung mehrerer Figuren in einem Bildgefüge zu studieren und perspektivische Verkürzungen nachzuahmen. Raffaels Fresko ist vor allem aufgrund der außergewöhnlichen Komposition und des komplexen, mit theologischen Überlegungen angefüllten Bildprogramms berühmt geworden.19 Davon vermitteln van Dycks rasche Skizzen fast nichts. Möglicherweise lag ihm nur die rechte Hälfte des Stichs vor, aus der er einzelne Personen für die gezeichnete Nachahmung auswählte.20 Dies ist nicht ungewöhnlich, da vor allem größere Stiche oft in der Mitte gefaltet wurden, um sie in Alben aufzubewahren. Es ist daher möglich, dass der Stich entlang des mittleren Falzes gebrochen war. So hat hier auch der Zufall eine Rolle gespielt und bestimmt, welche Informationen über die Bilderfindung Raffaels schließlich beim Rezipienten ankamen. Weil van Dyck nicht die Komposition in ihrer Gesamtheit bekannt war, notierte er sich lediglich Ausschnitte. Anders ist es nicht zu erklären, warum er gerade diese Selektion traf und nicht den Kern der Komposition wiedergab.
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Figuren nach Raffaels Disputà, aus dem Italienischen Skizzenbuch, fol. 32, Feder in Braun über schwarzer Kreide, 199 × 156 mm, London, British Museum, Inv. Nr. 1957,1214.207.32. Verso: Vier Apostel. Entlang der zentralen vertikalen Bildachse sind eine Monstranz mit einer Hostie, der Heilige Geist in Form einer Taube, Christus in einer Mandorla sowie Gottvater angeordnet. Das theologische Programm der sich in der Abendmahlsfeier manifestierenden Dreifaltigkeit wird hier in einer einmaligen Bildkomposition anschaulich gemacht. Gott befindet sich in der obersten Hemisphäre im Kreis der Engel, darunter sind auf einem Halbrund aus Wolken Heilige aus dem Alten und Neuen Testament angeordnet. Christus befindet sich leicht erhöht in ihrer Mitte, begleitet von Maria und Johannes dem Täufer. Der irdischen Zone sind Kirchenväter, Humanisten, Dichter und zum Teil zeitgenössische Mitglieder der katholischen Kirche zugeordnet. Diese Vermutung wird unterstützt durch die Tatsache, dass der Stich von zwei Platten auf zwei Blätter gedruckt ist.
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Auf Blatt 80v fügte van Dyck schließlich zwei Skizzen nach verschiedenen Stichen Raimondis zusammen, weil er in ihnen ein ähnliches Bildthema vermutete (Abb. 73).21 Auf der oberen Hälfte des Skizzenblattes zeichnete van Dyck mit der Feder die beiden Protagonisten des rätselhaften Stichs Frau mit zwei Schwämmen (Abb. 74. Bartsch XIV.284.373).22 Bartsch ordnet dieses Blatt den Sujéts Allegoriques zu, ohne jedoch den vermeintlichen allegorischen Sinn der Darstellung näher zu erklären. Der Stich zeigt eine Frau, die nur mit einem um die Hüften und Schultern gelegten Tuch bekleidet ist. Sie steht im Kontrapost, den rechten Arm erhoben. In beiden Händen hält sie jeweils einen rätselhaften Gegenstand, in welchem Bartsch je einen Schwamm erkannte. Zu ihrer Linken ist ein junger Mann gerade dabei, aus einem Krug Wasser in eine Schale zu gießen. Sein rechter Fuß steht auf einem runden Sockel. Im Hintergrund erhebt sich eine ruinenhafte Mauer mit einer leeren Skulpturennische. Fast könnte man meinen, Raimondi habe hier zwei Darstellungen nach antiken Skulpturen zusammengefügt, die ehemals im Rahmen einer Therme aufgestellt waren. Doch ist kein antikes Vorbild für eine solche Szene bekannt. Van Dyck skizziert diese beiden Figuren recht genau, jedoch lässt er das entscheidende Detail, die beiden Schwämme, fort und zeigt den rechten Arm der Frau als Torso, die linke Hand bleibt leer geöffnet. Darunter skizziert er in einer neuen Komposition Venus und Amor nach dem Stich Venus nach dem Bad (Abb. 75, Bartsch XIV.224.297 Kopie D).23 Hier lag ihm nicht der Stich Raimondis zugrunde, sondern eine spiegelverkehrte, anonyme Kopie. In der Nachahmung lässt van Dyck auch hier den architektonischen Rahmen fort und notiert sich nur die beiden Figuren, deren Körperhaltung er jeweils genau erfasst. Die untere Zeichnung ist mit einer dunkleren Tinte ausgeführt worden als die obere. Es ist daher anzunehmen, dass die beiden Zeichnungen nicht gleichzeitig entstanden sind. Vermutlich ordnete van Dyck die zweite Zeichnung der ersten zu, weil er in beiden eine badende Venus erkannte und ebenfalls den gleichen Autor der Bilderfindung vermutete. Bemerkenswert ist, dass sich van Dyck in diesem Fall zwei Stiche Raimondis zeichnend angeeignet hat, die nicht eindeutig auf Erfindungen Raffaels zurückzuführen sind. Für beide Stiche hat sich keine Vorzeichnung Raffaels erhalten. Den Stich der Frau mit zwei Schwämmen schuf Raimondi sehr wahrscheinlich nach eigener Erfindung in Anlehnung an antike Skulpturen, denn der Stich gehört zu einer Vielzahl weiterer kleinformatiger Allegorien, die Raimondi unabhängig von Raffael schuf. Es ist davon auszugehen, dass es für van Dyck bei diesen beiden Nachzeichnungen nicht 21
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Anthonis van Dyck, Zwei Studien nach Marcantonio Raimondi, Feder in Braun, 200 × 158 mm, aus dem Italienischen Skizzenbuch fol. 80v, London, British Museum, Inv. Nr. 1957,1214.207.80. Marcantonio Raimondi, Frau mit zwei Schwämmen, Kupferstich, 110 × 80 mm, Bartsch XIV.284.373, British Museum, London, Inv. Nr. 1850,0525.16. Passavant schreibt diesen Stich Barthel Beham zu, der angeblich bei Raimondi gelernt haben soll, Passavant 1860– 1864, Bd. VI, S. 8. Anonyme Kopie nach Marcantonio Raimondi, Venus nach dem Bad, Kupferstich, 195 × 160 mm, Bartsch XIV.224.297 Kopie D, Rijksmuseum, Amsterdam, Inv. Nr. RP-P-OB-11.943.
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von entscheidender Bedeutung war, wer der ursprüngliche Autor der Bilderfindung war. Er schuf die raschen Skizzen nach gestochenen Vorlagen vermutlich deshalb, weil ihm die Motive erinnernswert erschienen. Nur in den Fällen, wo er Skizzen nach Gemälden schuf, die von Raffaels Hand stammten oder ihm zugeschrieben wurden, notierte van Dyck jeweils den Namen des vorbildhaften Künstlers.24 Dies tat er bei keiner Zeichnung nach einer gestochenen Vorlage. Es kann daher keine Aussage darüber getroffen werden, ob ihm hier bewusst war, auf wessen Erfindungen er sich bezog. Es wird anhand sämtlicher beschriebener Skizzen van Dycks nach Werken anderer Meister deutlich, dass der situative Kontext ein bestimmender Faktor für die Art der gezeichneten Nachahmung ist. Da es sich um Reisenotizen handelt, nicht aber um im Atelier angefertigte Vorstudien für eigene Werke, wurde das Vorbild nicht kritisch durchdacht oder schöpferisch weiterentwickelt. Es wurde jeweils nur eine Selektion von Elementen aus der Vorlage getroffen, die van Dyck durch die gezeichnete Notiz im Gedächtnis behalten wollte. Druckgrafische Vorlagen galten van Dyck insgesamt als gleichwertiger Ersatz für Originale. Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Arbeitsweise Parmigianinos und van Dycks besteht darin, dass Parmigianino selbst in flüchtigen Skizzen, wie im Falle der Zeichnung nach dem Stich Raimondis der Lukrezia, die druckgrafische Vorlage
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Zu den Skizzen van Dycks, bei denen man originale Werke Raffaels als Grundlage vermutet, zählt unter anderem das fünfte Blatt seines Skizzenbuches, das eine Heilige Familie mit kniendem Johannesknaben zeigt: Anthonis van Dyck, Heilige Familie mit Johannesknaben, nach Francesco Penni, schwarze Kreide und Feder in Braun, 199 × 154 mm, aus dem Italienischen Skizzenbuch, London, British Museum, Inv. Nr. 1957,1214.207.5. Auf Blatt 107 verso kombinierte van Dyck eine Skizze nach Raffaels Porträt Papst Leo × zwischen den Kardinälen Giulio de‘ Medici und Luigi de‘ Rossi mit einem Bildnis Tizians eines Venezianischen Admirals, das er zu einem späteren Zeitpunkt zum Teil über die Skizze nach Raffael legte: Anthonis van Dyck, Leo X, nach Raffael, darunter ein Admiral nach Tizian (Privatsammlung Mailand), Feder in Braun, braun laviert, bezeichnet: „Leon × di Rafaello“ und „Titian“, 198 × 158 mm, London, British Museum, Inv. Nr. 1957,1214.207.107. Weiterhin befindet sich auf Blatt 109 verso eine Kreidezeichnung van Dycks nach Raffaels Portrait eines Jünglings, die später von fremder Hand mit der Feder nachgezogen wurde. Das zugrunde liegende Gemälde Raffaels befand sich in der Czartoryski Sammlung im Nationalmuseum Krakau. Leider wurde es während des II. Weltkrieges geraubt und ist bis heute nicht wiedergefunden worden. Vgl. Anthonis van Dyck nach Raffael, Porträt eines Jünglings, Feder in Braun über schwarzer Kreide, 200 × 153 mm, aus dem Italienischen Skizzenbuch, fol 109 v, London, British Museum, Inv. Nr. 1957,1214.207.109. Es wird aufgrund der mangelnden Qualität der Zeichnung hier nicht näher besprochen. Van Dyck hat diese Skizze sehr wahrscheinlich nach dem originalen Gemälde Raffaels geschaffen. Er kann nicht den Reproduktionsstich von Paulus Pontius nach Raffael kopiert haben, da dieser gegensinnig zum Original und zu van Dycks Skizze ist. Auf Blatt 114 v befindet sich eine Federzeichnung von Merkur und Psyche im Olymp, die eine gewisse Verwandtschaft zu Raffaels Fresko in der Villa Farnesina zeigt, dennoch muss van Dyck nach einer anderen Vorlage gearbeitet haben. Anthonis van Dyck, Merkur und Psyche, Feder in Braun, 199 × 158 mm, aus dem Italienischen Skizzenbuch fol 114 v, London, British Museum, Inv. Nr. 1957,1214.207.114.
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73 Anthonis van Dyck, Zwei Studien nach Marcantonio Raimondi, Feder in Braun, 200 × 158 mm
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74 Marcantonio Raimondi, Frau mit zwei Schwämmen, Kupferstich, 110 × 80 mm
75 Anonym (nach Marcantonio Raimondi), Venus nach dem Bad, Kupferstich, 195 × 160 mm
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durchdacht und vervollkommnet hat. Van Dyck jedoch schuf sich mit seinen im Italienischen Skizzenbuch festgehaltenen flüchtigen Zeichnungen lediglich eine Erinnerungshilfe. Eigene schöpferische Aneignungen im Sinn einer aemulatio lassen sich hier nicht erkennen.
Nicolas Poussin und Raimondi: Das augenfällige Zitat
Es gilt als kunsthistorischer Gemeinplatz, dass sich Nicolas Poussin in seinem gesamten Œuvre immer wieder auf Bilderfindungen seines großen Vorbilds Raffael bezogen hat.1 Ihren gemeinsamen Bezugspunkt haben beide Künstler in den Texten und Bildwerken der Antike. Das heißt, in der Beschäftigung mit Raffaels Werk setzte sich Poussin nicht nur mit dessen Formensprache, sondern auch mit Raffaels Vermittlung der Antike auseinander.2 Geboren 1594 in Les Andelys in der Normandie, lebte Poussin mit einer kurzen Unterbrechung von 1624 bis zu seinem Tod 1665 in Rom.3 Er hatte also Zugang zu Werken Raffaels, wie der malerischen Ausstattung des vatikanischen Palastes, und machte sich zeichnend Notizen davon. Zu den Werken, die Poussin sehr wahrscheinlich im Original gesehen hat, zählen die Fresken in den Stanze und Loggien, die Ausmalung der Villa Farnesina und die Serie der Teppiche mit den Aposteldarstellungen. Dennoch griff Poussin stets auch auf Kupferstiche aus dem Umkreis Raffaels zurück. Vor allem die Stiche Marcantonio Raimondis waren für Poussin eine wichtige Inspirationsquelle. Innerhalb eines vielfältigen Bezugssystems auf bildliche und literarische Quellen waren sie für ihn ein reicher Bildschatz, der ihm
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Oberhuber 1996, Bätschmann 1982, Kurita 1999. Oberhuber 1996, S. 67: „Raphaël représentait pour Poussin la voie qui devait le conduire à la compréhension de l’Antiquité.“ 1639 wurde Poussin zum Premier Peintre du Roi ernannt und reiste Ende 1640 nach Paris, um die Grand Galerie des Louvre im Auftrag von König Ludwig XIII. und Kardinal Richelieu zu gestalten. Dieser Großauftrag entsprach nicht Poussins künstlerischen Zielen und seiner Arbeitsweise. Unter dem Vorwand, seine Frau nach Paris holen zu wollen, kehrte Poussin 1642 nach Rom zurück. Er hatte jedoch nicht vor, je wieder nach Paris zu gehen. Durch den baldigen Tod Richelieus und König Ludwigs XIII. konnte er der Erfüllung seines Pariser Auftrags entgehen. Es gibt vier Biografien von Poussin, die sämtlich von Autoren verfasst wurden, welche ihn persönlich kannten. Die bedeutendste unter ihnen ist die von Giovanno Bellori (1613–1696). Zu den weiteren Autoren zählen André Felibien (1619–1695), Giovanni Battista Passeri (1610/16–1679) und Joachim von Sandrart. Außerdem haben sich mehr als 200 Briefe Poussins erhalten.
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im Atelier stets verfügbar war und den er demzufolge unmittelbar im Prozess der Entstehung eines Gemäldes vor Augen hatte.4 Zudem überließen die Stiche, als nicht farbige Werke, Poussin einen größeren Spielraum, die entlehnten Bildschöpfungen selbst farbig zu interpretieren. Poussin liebte das Meditieren vor Stichen in der Stille seiner Werkstatt; selbst wo das Original leicht zugänglich war, wie z. B. die Werke Raffaels im Vatikan, brauchte er das intime Studium der Stiche, umso mehr, als er Formanregungen suchte und nicht koloristische.5 Das Ziel des folgenden Kapitels ist es zu untersuchen, warum die Stiche aus dem Umkreis Raffaels für Poussin eine so wichtige Quelle waren und welche Elemente er hauptsächlich aus ihnen entlehnte. Dass Poussin Druckgrafik nach Raffael sammelte, ist in schriftlichen Quellen belegt: Poussins Schwager Jean Dughet (1614–1679) bot in einem Brief vom 26. April 1678 an den Abt Nicaise, knapp dreizehn Jahre nach Poussins Tod, neben persönlichen Manuskripten, dessen Sammlung von Zeichnungen, Stichen, antiken Statuen und Büsten zum Kauf an. Es wird sich hierbei um die Sammlung von Vorlagenmaterial gehandelt haben, die Poussin in der Entwicklung von Bildschöpfungen möglicherweise zu Rate gezogen hat. Dughet nennt in diesem Brief namentlich Marcantonio und Agostino Veneziano neben Größen der Kupferstichkunst, wie Dürer und den Caracci.6 Im gleichen Satz werden aber auch Giulio Romano, Polidoro da Caravaggio und Tizian erwähnt. Dughet trifft hier keinen deutlichen Unterschied zwischen Stichen nach berühmten Meistern, eigenhändigen Stichen oder Zeichnungen. In der Korrespondenz des Abtes befindet sich ein weiterer Brief eines Fr. Chappuys vom 10. Januar 1679, den Nicaise vermutlich gebeten hatte, die Angaben Dughets zu prüfen. Chappuys gibt an, er habe die Sammlung Poussins bei Jean Dughet gesehen. Sie enthalte 1300 Drucke nach den berühmtesten Malern, die Poussin für seine Studien ausgewählt hatte.7 Interessanterweise weist Chappuys ausdrücklich dar4 5 6
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Kurita 1999, S. 23: „No doubt Poussin constantly kept these various masters’ prints by his side and repeatedly interacted with them to develop his compositions.“ Wild 1980, S. 197. Chennevières 1967, S. 6–8: „Io dunque Giovanni Dughet, il cognato di mons. Poussin amico di V:S: carissimo, son quello che al presente prende ardire di scrivergli in questa lettera la quale contiene solamente che, se V.S. […] è curioso di cose belle come sarebbe di manoscritti di monsieur Poussin, di disegni, di stampe di Marcantonio, Agostino Venetiano, Caracci, Alberto, Giulio Romano, Polidoro, Titiano et altri, come ancora di statue di marmo antiche, busti et teste antiche di marmo, io di tutte le sudette cose ne ho una quantità considerabile che potrebbe contentare la curiosità di ogni sig[no]re e principe essendo cose gia scelte per mano del Ill[ust]re Pittore Monsieur Poussin. Se V.S. overo altri sig[no]ri suoi amici volessero attendere alla compra di simil cose, mi sarebbe caro che V.S. mi facesse favore di scrivermene due righe di risposta.“ Der Abt Nicaise war Stiftsherr der Saint-Chapelle in Dijon. Ebenda, S. 10: „J’ay vù les bustes et les desseins de feu Mr. Poussin chez M. Jean Dughet. Il y a de très-belles choses et de grand usage pour les peintres. Je verray une autre fois les stampes qui sont au nombre de 1300. Mais je ne croys pas que cela soit bien necessaire, vû qu‘elles sont
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auf hin, dass diese Sammlung für Maler sehr nützlich sei. Daraus lässt sich erneut schließen, dass im 17. Jahrhundert das Studium von Kupferstichen und Zeichnungen ein übliches Arbeitsmittel für Maler darstellte. Ein Dankesbrief schließlich von Dughet an den Abt Nicaise deutet darauf hin, dass der Verkauf erfolgreich abgeschlossen werden konnte.8 Ein Dokument aus dem Nachlass der Familie Fontette, die wie Nicaise aus Dijon stammte, listet die Drucke aus Poussins Besitz genau auf und nennt 270 Drucke nach Raffael, gestochen von Marcantonio, Agostino Veneziano und anderen guten Stechern, in guten Abzügen und gut erhalten, ohne Flecken zum Preis von 100 doppie.9 Dazu kommt, neben einer Vielzahl weiterer Druckgrafik, noch ein Klebeband mit 150 Drucken nach Giulio Romano zum Preis von 15 doppie.10 Giovanni Bellori (1613–1696), ein Zeitgenosse und Freund Poussins, berichtet in seinen Künstlerviten, Poussin habe bereits vor seiner Ankunft in Rom Kupferstiche nach Raffael und Giulio Romano aus der Sammlung von Alexandre Courtois in Zeichnungen kopiert.11 Poussin ahmte die Stiche mit einem solchen Eifer und einer solchen Sorgfalt nach, dass die Kompositionen der Stiche, die Bewegungsmotive und Bildideen tief in sein Bildgedächtnis eindrangen. Durch dieses frühe Studium erscheint er, laut Bellori, als ein Schüler Raffaels, dessen Ideen er aufgesogen hat, so wie ein Säugling bei seiner Mutter Milch trinkt. Er hörte nicht auf, sich an Raffael und Giulio Romano ein Beispiel zu nehmen.12 Eine wesentliche Motivquelle bildete dabei stets die Druckgrafik nach Raffael. Poussin betätigte sich selbst nicht im Bereich der Druckgrafik. Sein Neffe Jean Dughet veröffentlichte um 1650 achtzehn Drucke nach Gemälden Poussins. In den letzten Lebensjahren Poussins stach Jean Pesne (1623–1700) nach seinen Werken in
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toutes des plus célèbres peintres et du choix de fû Mr. Poussin qui les avoit choisies pour son estude.“ Ebenda, S. 10–11. Der Brief datiert vom 8.2.1679. Montaiglon 1967, S. 241–254: „Stampe di Raffaelle, intagliate da Marco Antonio, da Agostino Veneziano, et da altri buoni autori, conservate et bene impresse, e senza macchie, nel numero di 270: 100 doppie.“ Aus diesem Dokument geht auch hervor, dass es sich bei den Werken von Dürer aus Poussins Sammlung um Holzschnitte und Kupferstiche handelte, von Caracci waren Kupferstiche und Radierungen vorhanden, von Polidoro Caravaggio, Tizian, Mantegna und Giulio Romano gab es gebundene Sammelmappen. Diese werden wohl auch zum Teil Reproduktionsgrafik enthalten haben. Ebenda, S. 244. Doppie waren die wertvollste Geldeinheit in Rom im 16. Jahrhundert. Sie entsprachen zwei Goldmünzen. Bellori 1976, S. 423: „Nicolò restò senza maestri, e gli fu favorevole la sorte nella conoscenza der Cortese [Alexandre Courtois], matematico regio, il quale allora aveva luogo nella galeria del Lovro: questo signore, dilettandosi del disegno ed avendo raccolto le più rare stampe di Rafaelle e di Giulio Romano, ne fece copia e le insinuò nell’animo di Nicolò, il quale con tanto ardore ed essattissima diligenza le imitava che non meno s’impresse il disegno e le forme che li moti e l’invenzioni e l’altre parti mirabili di questi maestri. Per tal cagione nel modo d’istoriare e di esprimere parve egli educato nella scuola di Rafaelle, da cui certamente bibbe il latte e la vita dell’arte.“ Ebenda, S. 425: „E ben si comprende da quei disegni quanto sin d’allora egli avesse feconda ed impressa la mente nelli buoni esempii di Rafaelle e di Giulio.“
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der Sammlung des Pariser Mäzens Chantelou. Der Hauptanteil der Druckgrafik nach Poussins Zeichnungen und Gemälden entstand jedoch nach dessen Tod. Deshalb kann nicht davon ausgegangen werden, dass Poussin die Stiche Raimondis hinsichtlich technischer oder stilistischer Aspekte studierte, um Einfluss auf die Reproduktionsgrafik nach seinen Werken zu nehmen.13
Poussins Umgang mit vorbildlichen Kunstwerken Bevor einzelne Motiventlehnungen aus den Stichen Marcantonio Raimondis im Werk Poussins detailliert untersucht werden, soll die allgemeine Vorgehensweise Poussins im Umgang mit bildlichen Zitaten im Zuge der Entstehung eines Bildgedankens beschrieben werden. Poussins Arbeitsweise gestaltete sich üblicherweise so, dass er zunächst ein Bildthema in sehr freien Skizzen, oft in Anlehnung an schriftliche Quellen, entwickelte. Dieser ersten Disposition des Bildaufbaus in der Zeichnung folgte die Umsetzung der Komposition mithilfe kleiner Wachsfigürchen, die Poussin – wie auf einer Bühne – auf einem mit einer Quadrierung versehenen, flachen Untergrund positionierte und so ihr Verhältnis zueinander genau studierte.14 Erst nachdem das Thema erfasst war, begann Poussin, nach geeigneten Vorbildern zu suchen, die ihn
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Kurita 1999, S. 21–22: „In contrast to the cases of Raphael and Rubens, Poussin’s involvement with the production of prints after his works was extremely limited and not always enthusiastic, so that only a few such examples were executed during his lifetime. […] One reason for this was that, as can be seen from how the several reproductive prints he saw failed to satisfy him at all, no aggressive attempts were made during Poussin’s lifetime to publish such prints even without the artist’s support.“ Zu den Stechern, die während Poussins Lebenszeit Reproduktionen nach seinen Zeichnungen anfertigten, gehörten Fabrizio Chiari, Cornelius Bloemaert und Claude Mellan. Seine Gemälde wurden zudem von Rémy Vuibert und François de Poilly gestochen. Über diese Anordnung setzte er eine Haube aus Karton mit einem Guckloch und mehreren Löchern in den Seiten, um den Lichteinfall auf die Figuren zu studieren. Für eine genaue Versuchsanordnung siehe Bätschmann 1982, S. 37. Bellori ergänzt, dass Poussin im Anschluss an die Wachsmodelle kleine Figuren aus Ton formte, denen er Tücher umlegte, um so Gewandstudien vorzunehmen. Vgl. Wohl / Wohl / Montanari 2005, S. 323. und Joachim von Sandrart, Teutsche Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste, 1675, II, Buch 3 (niederl. u. dt. Künstler), S. 368: „Er war sonsten auch Seine Art zu mahlen. von gutem Discurß/ und hatte stets ein Büchlein/ worein er alles nöhtige/ so wol mit dem Umriß als auch Buchstaben aufgezeichnet/ bey sich; wann er etwas vorzunehmen im Sinn gehabt/ thäte er den vorhabenden Text fleißig durchlesen/ und deme nachsinnen/ alsdann machte er zwey schlechte Scitz der Ordinanzien auf Papier/ und so fern es einige Historien betroffen/ stellte er auf ein glattes mit Pflasterstein ausgetheiltes Brett/ seinem Vornehmen gemäß/ die von Wachs darzu gemachte nackende Bildlein in gebührender Action, nach der ganzen Historie geartet/ denenselben aber legte er von naßem Papyr oder subtilem Taffet die Gewand nach seinem Verlangen um/ mit durchgezogenen Fäden/ daß sie nämlichen gegen dem Horizont in gebührender Distanz stünden/ und deme nach er seine Werk auf Tuch mit Farben untermahlen könte/ worzu er dann oft im Ausmachen sich des Lebens bedienet/ und sich Zeit genug darzu gelaßen.“ Zitiert nach: www.sandrart.net.
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darin unterstützten, seine malerischen Intentionen überzeugend zu realisieren. Daher lassen sich im Fall Poussins die Bezüge auf Raffael tendenziell eher in seinen Gemälden als in seinen Zeichnungen erkennen. Erst in der genauen Formulierung der Haltungen einzelner Figuren griff er auf den aus vorbildlichen Kunstwerken entlehnten Formenvorrat zurück und verschmolz die Zitate mit seiner eigenen Erfindungsgabe. Laut Oskar Bätschmann hat „die produktive Arbeit nicht in diesem Fundus ausgewählter Teile ihren Ursprung. Das dürfte als Regel für Poussins Arbeit gelten.“15 Poussin war ein Künstler, der auf der Basis eines geschulten Kunsturteils eine Auswahl an verschiedenen nachahmenswerten Vorbildern traf. Er hat jeweils einzelne Elemente aus dem ursprünglichen Sinnzusammenhang herausgelöst und nach Bedarf in neue bildliche Kontexte integriert. Dabei überführte Poussin die Entlehnungen stets in seinen eigenen Malstil. Er erschien mit seiner ständigen Aufmerksamkeit auf vorbildliche Kunst, begleitet von fortwährenden Zeichnungen und Notizen in sein Skizzenheft, und mit seiner gelehrten Begründung dessen, warum das jeweilige Kunstwerk vorbildhaft sei, seinen Biografen als „die ideale Verkörperung des wählenden und reflektierenden Künstlers.“16 Wenn Poussin also einzelne Bilderfindungen aus anderen Kunstwerken entlehnt hat, so darf man ihn nicht als passiven, von wechselnden künstlerischen Einflüssen abhängigen Künstler betrachten, sondern man sollte das Augenmerk auf seine aktiv wählende und transformierende Rolle lenken. Poussin übernahm nicht einfach szenische Einfälle, sondern kommentierte sie durch seine veränderte Darstellungsweise und die Einbindung der Zitate in einen neuen narrativen Zusammenhang. Dieser Umgang mit Entlehnungen lässt sich im Wesentlichen in zwei Schritte gliedern: Selektion: Auf der Basis eines entwickelten Kunsturteils werden verschiedene Kunstwerke verglichen und einzelne Vorbilder ausgewählt. Der Sinnzusammenhang dieser bildlichen Vorlagen wird gedanklich aufgelöst und lediglich die für Poussins Bildziele wichtigsten Teile ausgewählt. Dies setzt ein kritisches Durchdenken des Vorbildes und den Vergleich mit literarischen Quellen voraus.17 15
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Bätschmann 1982, S. 35; Vgl. Kurita 1999, S. 167: „Poussin’s concept drawings, in which, as told by Sandrart, he swiftly set down the free-floating ideas that were born in his mind as he read source documents, referred to the prints he had at hand, or leafed through his mental stock of visual memories of shapes, can be described as Baroque. In his paintings, however, he shows not a trace of the uninhibited freedom he possessed at the stage of conception. And in this interval between the initial drawing and the painting, it was in fact Raphael and antique sculpture that often played an important role for Poussin. […] While these influences exist on multiple levels such as style, composition, and individual motifs, the correspondences in motif can be pointed out only after Poussin’s preparations for his work have progressed to an advanced stage.“ Bätschmann 1982, S. 27. Bätschmann 1982, S. 34: „Zum Elektionsverfahren gehört die Vorstellung, dass Vollkommenheit nie in einem Ganzen, sondern immer nur in Einzelteilen erlangt worden sei. Um
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Transformation: Die Entlehnungen werden in die eigene Darstellungsweise überführt und in neue Bildzusammenhänge integriert. Ein wesentliches Merkmal im Umgang mit Vorbildern ist Poussins Fähigkeit, bildliche Anregungen aus verschiedenen Quellen im vollendeten Gemälde zu einer sinnvollen Einheit zu verbinden. Neben Raffaels Werken gehören dazu Zeichnungen nach antiken Monumenten, Buchillustrationen sowie die Kunst Tizians, Annibale Caraccis, Pietro da Cortonas (1596–1669), Domenichinos (eigentlich Domenico Zampieri, 1581–1641) und Guido Renis (1575–1642). Parallel zur Schulung an vorbildlichen Kunstwerken zeichnete Poussin auch nach der Natur. Er unternahm Spaziergänge in die römische Campagna, wo faszinierende Landschaftsstudien entstanden. Zudem zeichnete er menschliche Akte. Doch in der Natur begegnete ihm nicht das vollkommene Ideal. Dieses versuchte er, vor allem auf der Grundlage des im Werk Raffaels und in antiken Vorbildern formulierten Ideals neu zu schöpfen und damit sein Werk einer möglichen Vollkommenheit anzunähern. In seinem Frühwerk orientierte sich Poussin vor allem an Tizian, dessen Werke er in Venedig und in einigen römischen Sammlungen kennen gelernt hatte. Raffael war hier nur eine unter vielen Inspirationsquellen. Erst ab 1630, als Poussin sich als Maler zu etablieren begann und als Mitglied der Accademia di San Luca in Rom aufgenommen wurde, ist eine klare Ausrichtung am Vorbild Raffaels zu erkennen.
Ein Überblick über Poussins künstlerische Reaktionen auf das Werk Raffaels Poussins Rückgriffe auf das Werk Raffaels durchziehen seine gesamte künstlerische Laufbahn. Sie sind sehr vielgestaltig hinsichtlich der Art der Vorbilder und hinsichtlich dessen, was Poussin aus den Vorbildern entlehnte. Poussin rekurierte oft parallel auf originale Bildschöpfungen Raffaels und deren druckgrafische Übersetzungen. Er schuf einerseits Gemälde, die ausgewählten Werken Raffaels thematisch sehr verwandt sind. Andererseits entlehnte er einzelne Figuren oder Kompositionsschemata und transferierte sie in völlig neue Bildzusammenhänge. Man kann zwischen formal und inhaltlich begründeten Entlehnungen unterscheiden. Nicht nur im Frühwerk gibt es Fälle, in denen Poussin lediglich die Komposition einer Bildschöpfung Raffaels aufgegriffen hat und diese in ein neues Bildthema transferierte. Zum Beispiel nahm er Bezug auf die bereits zuvor besprochene Bildschöpfung Raffaels David und Goliath. In seinem Gemälde Der Kampf Gideons gegen die Midianiten orientierte er sich in der räumlichen Gliederung der kämpfenden Menge am Vor-
des vollkommenen Teils willen wird das Ganze aufgelöst.“ Diesen Gedanken hatte Alberti in Bezug auf die Auswahl einzelner vollkommener Teile aus der Natur bereits formuliert, unter Rückgriff auf die Zeuxis-Legende, vgl. Anm. Nr. 27, S. 73.
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bild und entlehnte die einzelne Figur des rechts im Vordergrund fliehenden Soldaten in antiker Rüstung.18 Ob Poussin für diese Bildschöpfung auf das nach Entwürfen Raffaels geschaffene Fresko in den Loggien zurückgegriffen hat oder auf die druckgrafischen Übertragungen von Raimondi und Ugo da Carpi, lässt sich nicht mit Bestimmtheit feststellen. Möglicherweise verwendete Poussin hier parallel das Fresko und die druckgrafischen Fassungen desselben Themas. Auch das Gemälde Die Heiligen Petrus und Johannes heilen den Lahmen an der Tempelpforte zeigt eine deutliche Aneignung der Komposition einer Erfindung Raffaels – nämlich des Stichs Martha führt Magdalena zu Christus von Raimondi.19 Weiterhin gibt es einzelne Gemälde Poussins, die Bildthemen zeigen, welche Raffael bereits in Zeichnungen, Gemälden oder Fresken umgesetzt hatte. Diese Werke konnten Poussin sowohl als Originale als auch in ihrer druckgrafischen Übersetzung zugänglich gewesen sein. Oft schuf Poussin in seiner Neuinterpretation derselben mythologischen oder biblischen Bildthemen eine Synthese aus den gedruckten und gemalten Vorlagen. Poussin durchdachte und aktualisierte dabei das Vorbild auch unter Zuhilfenahme weiterer bildlicher Vorlagen aus der Hand anderer Künstler. Beispielhaft stehen für diese Vorgehensweise Poussins die Gemälde Apoll und die Musen des Parnass, Der Bethlehemitische Kindermord (zwei Fassungen), Das Urteil Salomons,
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Nicolas Poussin, Der Kampf Gideons gegen die Midianiten, Öl auf Leinwand, um 1625/1626, 98 × 137 cm, Rom, Vatikanische Museen. Blunt 1967, Kat. Nr. 31; Thuillier 1974, Kat. Nr. 13 und Wild 1980, Kat. Nr. M4 – Doris Wild zieht die Zuschreibung an Poussin in Zweifel, sie schreibt das Gemälde Charles Mellin zu. Vgl. Oberhuber 1996, S. 69. Oberhuber geht davon aus, dass das Fresko in den Loggien Poussins Vorbild war. Die Haltung Gideons ähnelt der Davids auf dem Stich und dem Fresko. Der tote Soldat im Vordergrund auf Poussins Gemälde ähnelt der Darstellung Goliaths mit dem von sich gestreckten Schild, wie sie nur im Fresko vorkommt. Die räumliche Ausrichtung des nach rechts fliehenden Soldaten entspricht hingegen der Darstellung auf dem Holzschnitt. Nicolas Poussin, Die Heiligen Petrus und Johannes heilen den Lahmen an der Tempelpforte, 1655, Öl auf Leinwand, 125,7 × 165,1 cm, New York, The Metropolitan Museum, Inv. Nr. 24.45.2. Einzelne Figuren auf diesem Gemälde hat Poussin zudem Raffaels Fresko der Schule von Athen entlehnt – so z.B. den Mann in Rückenansicht, der die Treppen zum Tempel hinaufgeht. Vgl. Oberhuber 1996, S. 73. Blunt 1967, Kat. Nr. 84; Thuillier 1974, Kat. Nr. 197; Wild 1980, Kat. Nr. 184 sowie Hidenori Kurita, A visual source for Poussin’s ’St. Peter and John healing the lame man’, in: The Burlington Magazine, Bd. CXL, H. 1148, 1998, S. 747– 748. Ein weiterer Bezugspunkt ist Raffaels Fassung des gleichen Themas in der Teppichfolge. Kurita schlägt zudem vor, der Stich von Philips Galle nach Maerten van Heemskerck (1558), ebenfalls mit dem Thema der Heilung des Lahmen könnte eine weitere Motivquelle für Poussin gewesen sein. Der inhaltlich eng verwandte Stich Christus im Haus Simons, des Pharisäers, war darüber hinaus eine wichtige Quelle für Poussins zweite Fassung des Sakraments der Buße: Nicolas Poussin, Die Buße, zweite Serie der Sakramente für Chantelou, Öl auf Leinwand, um 1647, 117 × 178 cm, Edinburgh, National Gallery of Scotland. Vor allem die Haltung der Christus mit ihren Haaren die Füße trocknenden Maria Magdalena ist vergleichbar, auch einige Gefäße im Vordergrund sind sehr ähnlich dem Stich. Wild 1980, S. 122, Kat. Nr. 131, Thuillier 1974, Kat. Nr. 143, Blunt 1967, Kat. Nr. 115.
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Der Tanz um das Goldene Kalb, Die Anbetung der Könige und Die Beweinung Christi.20 Das letztgenannte Bild weist vor allem deutliche Referenzen an den Stich Raimondis der Pietà auf.21 Auch in seinem Gemälde Der Triumph von Neptun und Amphitrite vereinte Poussin Elemente aus verschiedenen Werken von und nach Raffael.22 Während er die zentrale Figur vor allem in Anlehnung an Raffaels Galatea entwickelte, die er durchaus in der freskierten Fassung in der Villa Farnesina gesehen haben kann, führte er die Figur des Neptun auf Raimondis Stich Quos Ego zurück. Einzelne Figuren aus Raffaels Fresko der Galatea verwendete Poussin auch in dem Gemälde Acis und Galatea.23 Ein weiteres Gemälde, in welchem Poussin Entlehnungen aus verschiedenen druckgrafischen Vorlagen zusammenzog, ist sein letztes, unvollendet gebliebenes Werk Apoll und Daphne.24 20
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Nicolas Poussin, Apoll und die Musen auf dem Parnass, Öl auf Leinwand, um 1626–35, 145 × 197 cm, Madrid, Museo del Prado, Blunt 1967, Kat. Nr. 129; Thuillier 1974, Kat. Nr. 69; Wild 1980, Kat. Nr. 26. Vom Thema des Bethlehemitischen Kindermords schuf Poussin zwei Fassungen a) Paris, Petit Palais, Öl auf Leinwand, um 1625–1626, 98 × 133 cm, Blunt 1967, Kat. Nr. 66, Thuillier 1974, Kat. Nr. B 7, Wild 1980, Kat. Nr. 45 und b) Chantilly, Musée Condé, Öl auf Leinwand, um 1630, 147 × 171 cm, Blunt 1967, Kat. Nr. 67, Thuillier 1974, Kat. Nr. 25, Wild 1980, Kat. Nr. 59. Das Urteil des Salomon, Öl auf Leinwand, 1649, 101 × 150 cm, Paris, Musée du Louvre, Inv. Nr. 7277, Blunt 1967, Kat. Nr. 35; Thuillier 1974, Kat. Nr. 162; Wild 1980, Kat. Nr. 148. Der Tanz um das Goldene Kalb, Öl auf Leinwand, 1633–1634, 153,4 × 211,8 cm, London, National Gallery, Inv. Nr. NG5597; Blunt 1967, Kat. Nr. 26; Thuillier 1974, Kat. Nr. 84; Wild 1980, Kat. Nr. 64 – Zwei frühere Fassungen von Poussin der Anbetung des Goldenen Kalbs haben sich a) nur in Kopie und Stich und b) nur als Fragment erhalten – Blunt 1967, Kat. Nrn. 25 und 27; Thuillier 1974, Kat. Nrn. 63 und 64; Wild 1980, Kat. Nrn. 23 und 24. Die Anbetung der Könige, Öl auf Leinwand, 1633, 161 × 182 cm, Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Gemäldegalerie, Inv. Nr. 717, Blunt 1967, Kat. Nr. 44; Thuillier 1974, Kat. Nr. 75; Wild 1980, Kat. Nr. 51. Die Beweinung Christi, Öl auf Leinwand, um 1656–1658, 94 × 130 cm, Dublin, National Gallery, Blunt 1967, Kat. Nr. 83, Thuillier 1974, Kat. Nr. 206; Wild 1980, Kat. Nr. 190, Eine frühere Fassung befindet sich in München in der Pinakothek: Blunt 1967, Kat. Nr. 82; Thuillier 1974, Kat. Nr. 18; Wild 1980, Kat. Nr. 12. Oberhuber 1996, S. 73. Nicolas Poussin, Der Triumph von Neptun und Amphitrite, Öl auf Leinwand, 1634, 108 × 148 cm, Philadelphia, Museum of Art, Blunt 1967, Kat. Nr. 167; Thuillier 1974, Kat. Nr. 93; Wild 1980, Kat. Nr. 66. Nicolas Poussin, Acis und Galatea, Öl auf Leinwand, 97 × 135 cm, um 1627–28, Dublin, National Gallery of Ireland, Blunt 1967, Kat. Nr. 128, Thuillier 1974, Kat. Nr. 46, Wild 1980, Kat. Nr. 37. Nicholas Poussin, Apoll und Daphne, Öl auf Leinwand, 155 × 200 cm, 1664, Paris, Musée du Louvre, Inv. Nr. M.I. 776, Blunt 1967, Kat. Nr. 130, Thuillier 1974, Kat. Nr. 222, Wild 1980, Kat. Nr. 205. Für eine ausführliche Analyse dieses Bildes siehe: Kauffmann 1961. Wie Georg Kauffmann überzeugend dargelegt hat, kombinierte Poussin hier verschiedene, aus Stichen entlehnte Bilderfindungen zu mehreren Personengruppen. Die Gruppe unten rechts zeigt Daphne, welche im Kreise einiger Quellnymphen zärtlich ihren Vater, den Flussgott Peneus, umarmt. Diese in der ikonografischen Tradition äußerst seltene Darstellung findet möglicherweise ihr Vorbild in einem Stich des Meisters B mit dem Würfel (Bartsch XV.197.20). Außerdem ist an dieser Stelle die Ähnlichkeit mit der Gruppe der Quellnymphe und Flussgötter von Raimondis Parisurteil offensichtlich. Weiterhin weist Kauffmann nach, dass der Stich Marco Dentes des Apoll (Bartsch XIV.183.225) eine weitere Quelle für Poussin
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Andere Gemälde Poussins sind so nah am Vorbild Raffaels, dass es scheint, als habe er mit möglichst geringem Aufwand die Bilderfindungen des Renaissancemalers übernommen. Dazu zählt das Gemälde Die Ekstase des Heiligen Paulus, die in Bilderfindung und Komposition an Raffaels Gemälde Die Vision des Hesekiel angelehnt ist und sich zudem auf Domenichinos Fassung der Paulusdarstellung bezieht.25 Üblicher für Poussins Vorgehensweise war es jedoch, lediglich einzelne Elemente aus der Vorlage herauszugreifen und diese in einen jeweils neuen Kontext zu integrieren. Beispielhaft können hierfür Die Pest von Aschdod und Das Königreich der Flora genannt werden. Poussins Vorgehensweise in der Verwendung entlehnter Einzelelemente ist zum Teil von einer erstaunlich ökonomischen Herangehensweise gekennzeichnet. Das Motiv eines liegenden Flussgottes, welches unter anderem auf Raimondis Stich Das Urteil des Paris zu finden ist, verwendete Poussin im Sinn von nützlichem Staffagematerial, das er in nicht weniger als 13 Gemälden und einigen Zeichnungen integrierte, in welchen das Bildthema jeweils in einem ähnlichen landschaftlichen Rahmen und in einer ähnlichen Stimmung wiedergegeben ist.26 Hierbei verschmolz Poussin Ele-
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gewesen sein könnte, da der Stich mehrere Attribute Apolls vereint und somit parallel auf verschiedene Eigenschaften Apolls verweist. Zwar könnte Poussin jedes dieser Elemente auch direkt aus einem antiken Bildwerk entlehnt haben, doch kommt es in sämtlichen antiken Darstellungen Apolls nicht zu einer Kombination verschiedener Attribute, sondern es wird jeweils nur auf eine Eigenschaft des Gottes verwiesen. Ein solches Pasticcio, wie es der Stich Marco Dentes vorstellt, ist eine rein neuzeitliche Erfindung. Auch Poussin schätzt eine solche Vieldeutigkeit und greift ebenfalls mehrere Attribute des Gottes auf. Es wird daher deutlich, dass Poussin hier nicht die Antike selbst zum Vorbild nimmt, sondern deren Vermittlung durch die Bildsprache der Renaissance benötigt. So bezog Poussin seine Kenntnis der Antike nicht nur durch das Studium originaler Bildwerke, sondern im Wesentlichen durch die aktive Rezeption der Stiche Marcantonio Raimondis und seiner Schüler. Nicolas Poussin, Die Ekstase des Heiligen Paulus, Öl auf Leinwand, 1649 – 1650, 148 × 120 cm, Paris, Musée du Louvre, Inv. Nr. 7288, Blunt 1967, Kat. Nr. 89; Thuillier 1974, Kat. Nr. 169; Wild 1980, Kat. Nr. 160 – Im Vergleich dazu: Raffael, Die Vision des Hesekiel, um 1518, 40,7 × 29,5 cm, Florenz, Galleria Palatina. Eine zweite Fassung des Gemäldes Poussins befindet sich in Sarasota, The John and Mable Ringling Museum of Art – Blunt 1967, Kat. Nr. 88; Thuillier 1974, Kat. Nr. 134; Wild 1980, Kat. Nr. 116. Das Gemälde von Domenichino mit der Ekstase des Paulus befindet sich ebenfalls im Louvre und hat die Inv. Nr. 792. Dieses Bild befand sich ab 1640 in Paris, wo es Poussin während seines Aufenthaltes in Paris von 1640– 1642 gesehen haben könnte. Als Poussins Gemälde als Pendant zu Raffaels Vision des Hesekiel gehängt werden sollte, flehte Poussin seinen Mäzen Fréart de Chantelou an, das eigene Gemälde möglichst weit entfernt von Raffaels Werk aufzuhängen, um es dem direkten Vergleich zu entziehen, siehe: Poussin 1989, S. 93, Brief an Chantelou vom 2. 12. 1643: „Qu’il le supplie, tant pour éviter la calomnie, que la honte qu’il aurait qu’on vît son tableau en paragon de celui de Raphaël, de le tenir séparé et éloigné de ce qui pourrait le ruiner, et lui faire perdre si peu qu’il a de beauté.“ Dazu gehören: Nicolas Poussin, Apoll und Daphne, Paris, Musée du Louvre, Inv. Nr. M.I. 776 (Vgl. Fassung von Apoll und Daphne, München, Alte Pinakothek); Landschaft mit Polyphem, St. Petersburg, Eremitage, Inv. Nr. GE-1186; Das Königreich der Flora, Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Gemäldegalerie Alter Meister, Inv. Nr. 719; Landschaft mit Nymphe und schlafendem Satyr, Montpellier, Musée Fabre, Inv. Nr. 825.1.169; Et in Arcadia Ego (erste Fassung), Chatsworth, Devonshire Collection, Trustees of the Chatsworth Settlement, Armida
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mente aus Raimondis Stich mit Formen, die er den in Rom aufgestellten Statuen antiker Flussgötter, wie Nil und Tiber, entlehnt hatte.27 Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass Poussin auf mehreren Ebenen vom Vorbild Raffaels profitierte: Seien es Bildideen für einzelne Figuren, deren komplexe Haltungen und plastische Körperdarstellungen vorbildhaft waren, sei es die Anordnung der Figuren im Bildraum oder auch die klare und helle Farbgebung Raffaels, an der sich Poussin orientierte.
Strategien der Erneuerung der Antike: Die Pest von Aschdod Zu den ersten Gemälden, die eine sehr deutliche Aneignung raffaelischer Motive, vermittelt durch die Kupferstiche Marcantonio Raimondis, zeigen, gehören die gemeinsam 1631 von Fabrizio Valguarnera erworbenen Werke Die Pest von Aschdod und Das Königreich der Flora.28 Bereits Giovanni Bellori erkannte in Poussins Gemälde Die Pest
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entführt den schlafenden Rinaldo, Berlin, SMPK, Gemäldegalerie, Inv. Nr. 486; Die Auffindung Moses, Paris, Musée du Louvre, Inv. Nr. 7272 (Vgl. zweite Fassung ebenfalls Paris, Musée du Louvre, Inv. Nr. 7271); Venus weist Aeneas die Waffen, Rouen, Musée des Beaux-Arts; Der Triumph des Bacchus, Kansas City, Nelson-Atkins Museum; Cephalus und Aurora, London, National Gallery, Inv. Nr. 65: Vgl. Thuillier 1974, Nrn. 9, 22, 30, 55, 67, 91, 98, 102, 119, 166, 190, 222 und R 123. Beispiele für Zeichnungen, in denen ähnliche Flussgötter vorkommen, sind: Der Raub der Europa, Feder in Braun, braun laviert, 262 × 590 mm, Stockholm, Nationalmuseum, Inv-Nr. NMH 68/ 1923, Rosenberg / Christiansen 2008, S. 244–245, Kat. Nr. 49, Rosenberg / Prat 1994a, S. 650–651, Kat. Nr. 336; Apoll als Hirte, Feder in Braun, Spuren schwarzer Kreide, 290 × 424 mm, Turin, Biblioteca Rale, Inv. Nr. 16295, Rosenberg / Prat 1994a, SA. 730–731, Kat. Nr. 380, Rosenberg / Christiansen 2008, S. 300–301, Kat. Nr. 69; Apoll und Daphne, Feder in Braun, braun laviert, schwarze Kreide, quadriert, 307 × 439 mm, Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nr. 32448, Rosenberg / Christiansen 2008, S. 302–303, Kat. Nr. 70, Rosenberg / Prat 1994a, S. 732–733, Kat. Nr. 381; Apoll und Daphne, Feder in Braun, schwarze Kreide, 355 × 548 mm, Florenz, Uffizien, Gabinetto Disegni e Stampe, Inv. Nr. 8105 S, Rosenberg / Christiansen 2008, S. 304–305, Kat. Nr. 71, Rosenberg / Prat 1994a, 734–735, Kat. Nr. 382. Bober / Rubinstein 1986, S. 99–104, Kat.-Nrn. 64–67. Die Autorinnen nennen die antiken Statuen der Flussgötter Marforio, Tiber und Nil, welche bereits in der Renaissance bekannt waren. Die Statue des Tiber wurde 1512 ausgegraben. Im folgenden Jahr wurde in der gleichen Gegend das Pendant, der Nil, gefunden. Am 2.2.1512 wurde die Statue des Tiber in den Cortile delle Statue del Belvedere im Vatikan verbracht. Vgl. http://census.bbaw.de/easydb: Nil: CensusID 151520 / Tiber: CensusID 151521; auch der Flussgott Tigris (ebenfalls Arno genannt), der im Vatikan Aufstellung gefunden hatte, war Poussin sicherlich zugänglich, Vgl. CensusID 151561. Siehe auch: Oberhuber / Gnann 1999, S. 121, Kat. Nr. 59. Oberhuber 1996, S. 69: „De tels dieux-fleuves, accompagnés de nymphes et de dryades que Poussin put également trouver dans des œuvres de Raphaël comme le Jugement des Pâris gravé par Raimondi, font désormais partie intégrante de son répertoire iconographique.“ Nicolas Poussin, Die Pest von Aschdod, Öl auf Leinwand, 148 × 198 cm, 1630–1631, Paris, Musée du Louvre, Inv. Nr. 7276; Blunt 1967, Nr. 32; Thuillier 1974, Nr. 65; Wild 1980, Nr. 31 Folgende Zeichnung wurde wiederholt als Vorzeichnung Poussins zum Pestgemälde betrachtet: Die Pest von Aschdod, Feder in Braun, braun laviert über Rötel, 191 × 252 mm,
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76 Nicolas Poussin, Die Pest von Aschdod, Öl auf Leinwand, 148 × 198 cm, 1630–1631 (Farbtafel XII)
von Aschdod (Abb. 76) den Stich Marcantonio Raimondis Die Pest in Phrygien (Abb. 15) als ein Vorbild.29 Poussin habe aus dem Stich vor allem die Bewegungen und Affekte der Figuren entlehnt. Bellori beschreibt ausführlich den Eindruck von Verderben und Gestank, der von den gemalten Pestkranken und Toten ausgeht und hebt das Bild besonders wegen seiner drastischen Darstellungsweise hervor. Dargestellt sind die zwei Strafen, die Gott über das Volk der Philister verhängte, weil sie die Bundeslade gestohlen hatten (1. Buch Samuel, 4.–6. Kapitel).30 Auf der linken Bildhälfte befindet sich die goldene Bundeslade in einem offenen Tempel vor dem gefallenen Bildnis des
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Paris, Musée du Louvre, Département des art graphiques, Inv. Nr. RF 751 recto. Dieses Blatt wird jedoch von Rosenberg und Prat abgelehnt, siehe: Rosenberg / Prat 1994a, S. 998–999, Kat. Nr. R 894. Bellori 1976, S. 429–431: „Pussino in questa istoria imitò in gran parte il Morbo di Rafaelle intagliato da Marco Antonio, seguitando i moti e gli affetti stessi delle figure; benché egli non ne riportasse premio, e ’l solo prezzo di sessanta scudi, dove passando a diverse mani e rivenduta più volte ultimamente si accrebbe a mille scudi, quanto fu comperata dal signor duca di Richilieu, ed oggi risplende in Parigi nella regia.“ Zur Analyse des Stichs siehe S. 51–58. Die Philister hatten im Kampf die Israeliten geschlagen und die Bundeslade gestohlen. Diese brachten sie nach Aschdod und stellten sie neben einem Bildnis ihres Gottes Dagon auf. Als sie am nächsten Morgen den Tempel des Dagon aufsuchten, fanden sie das Abbild ihres Gottes am Boden liegen, am darauf folgenden Tag waren sein Haupt und seine Hände abgeschla-
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Gottes Dagon, dessen abgeschlagener Kopf und rechte Hand auf dem Boden liegen. Eine Menschenmenge in der Bildmitte eilt zum entweihten Tempel und erkennt staunend, was durch die Gegenwart der Bundeslade geschehen ist. Die Darstellung der zweiten Strafe Gottes, der Pestseuche, nimmt den gesamten Bildvordergrund und Teile des Bildhintergrundes ein. Wie ein Echo auf den zerschlagenen Körper des Götterbildes, windet sich links ein Mann in Todesqualen. Seinen Kopf hat er an eine Säulenbasis gelehnt. Rechts neben ihm steht ein Mann, der zwar seinen Blick auf ihn richtet, doch eine abwehrende Geste vollführt. Er scheint, aus dem Bildraum heraus, auf den Betrachter zuzutreten, im Versuch, vor der Pest zu fliehen.31 Auch auf Raimondis Stich ist in der Bildmitte eine fliehende männliche Person mit abwehrender Geste dargestellt, die jedoch nach hinten, in den Bildraum hinein flieht und lediglich das Haupt umwendet. Poussins frontal dargestellte Figur wirkt im Vergleich dazu bewegungsreicher und lebensnaher. Die Figurengruppe daneben bildet das offensichtlichste Zitat Poussins aus Raimondis Kupferstich: Es ist die Szene der toten Mutter mit dem vergebens nach Milch suchenden Kind, die Poussin so ergriffen hat, dass er sie in das Historiengemälde integrierte. Poussin verknüpft hier den Rekurs auf Raffael mit der Übersetzung einer weiteren Bildquelle, der antiken Statue einer sterbenden Amazone, die an der entblößten rechten Brust von einem Pfeil verletzt ist und ähnlich der Figur Poussins den rechten Arm über den Kopf hält als Ausdruck ihrer tödlichen Qual.32 Ein Mann, welcher mit einer Berührung am Kopf den Säugling vom Trinken abhalten will, beugt sich von den Füßen her über den Leib der Toten und nicht mehr – wie im Stich – vom Kopf her. Durch seine Geste, das Kind von der Mutter fern zu halten, wird die innere Tragik der Mutter, die nicht mehr für ihr Kind sorgen kann, in eine äußere Handlung übersetzt und damit anschaulicher gemacht. Zur Intensivierung des tragischen Gehalts der Szene bedient sich Poussin des Mittels der Verdopplung. Nicht nur dieser Mann, der sich durch das Zuhalten seiner Nase vor einer Infektion und dem schrecklichen Pestgestank zu schützen versucht, ist zweimal im Gemälde dargestellt. Auch die tote Mutter lässt nun zwei Säuglinge zurück, von
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gen. Außerdem wurde das Volk der Philister für die Tat mit der Beulenpest bestraft. So sahen sie sich schließlich gezwungen, die Bundeslade dem Volk Israels zurückzugeben. Doris Wild erkennt in dieser Figur den Stich nach Annibale Carracci Die Almosenspende des heiligen Rochus von 1610 als Vorbild, siehe: Wild 1980, S. 39. Ein mögliches Vorbild für diese Figur könnte die antike Skulptur Sterbende Amazone vom Denkmal des Attalos sein, Römische Kopie eines pergamenischen Originals, 160–140 v. Chr., Neapel, Museo Archeologico Nazionale, Inv.-Nr. 6012, Fundort: Rom, Census ID: 151658. Diese Figur, die 1514 gefunden wurde, wurde zunächst in der Villa Madama in der Sammlung von Alfonsina Orsini aufbewahrt. Wie eine Zeichnung von Frans Floris in seinem Basler Skizzenbuch dokumentiert, trug die Amazone ehemals ein nacktes Kind an ihrem Busen. Dieses Kind wurde zwischen 1550 und 1566 während einer Restauration entfernt, es ist kaum zu belegen, ob Poussin vom ehemaligen Zustand der Figur wusste. Siehe. Schütze 1996, Abb. 6., S. 578–579. Vgl. Cropper / Dempsey 1996, S. 85–86. Die Skulpturen wurden gezeichnet für die Zeichnungssammlung von Cassiano dal Pozzo, eines wichtigen Mäzens Poussins. Vielleicht hat Poussin auch von dal Pozzo erfahren, dass zu der Skulptur ehemals ein Kind gehörte. Siehe auch: Bober / Rubinstein 1986, S. 179–180, Kat. Nr. 143.
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denen einer bereits gestorben ist, wie an der leblosen Haltung seiner Glieder und dem blassen Inkarnat deutlich wird. Diese Mitgefühl erregende Darstellung des toten Kindes entlehnt Poussin einem anderen berühmten Stich Raimondis, auf den er in seinem Werk noch mehrfach zurückgreifen wird, nämlich dem Bethlehemitischen Kindermord, wo in ähnlicher Haltung ebenfalls im Bildvordergrund zwei Säuglinge tot am Boden liegen (Abb. 13). Weiterhin greift Poussin das architektonische Element eines Säulentamburs aus dem Stich Die Pest in Phrygien auf, lässt ihn aber nicht mehr einfach auf dem Boden liegen, sondern bindet ihn in den Erzählzusammenhang ein, indem sich hier ein Kranker über den Tambur beugt und an ihm Halt sucht. Schließlich übernimmt Poussin aus dem Stich ebenfalls die Frau, die den Mann davon abhalten will, der Toten zu nahe zu kommen und verleiht ihr einen neuen erzählerischen Gehalt, denn nun zieht sie ein kleines Kind vom Geschehen weg, um es vor Ansteckung zu schützen. Es hat eine dramatischere Wirkung, dass sie ein Kind anstatt eines erwachsenen Mannes zu schützen versucht.33 Ergänzt wird das Gemälde durch einen prächtigen architektonischen Rahmen, der einer Illustration aus dem Architekturtraktat des Serlio entlehnt ist, in welcher dieser angibt, wie der richtige Rahmen für eine tragische Szene dargestellt werden müsse.34 Einzelne, kleinere Figuren im Bildhintergrund erinnern zudem an Bildschöpfungen Raffaels, die Poussin möglicherweise im Original gekannt hat. So lässt der Mann, welcher sich auf den zu einem weiteren Tempel führenden Stufen niedergelassen hat, an die Darstellung des Dionysos in Raffaels Schule von Athen denken. Links daneben bergen zwei Männer einen Leichnam. Sie beugen ihre Oberkörper weit zurück aufgrund der Last des toten Leibes und verweisen damit auf eine bereits von Raffael in seinem berühmten Gemälde Die Grablegung Christi dargestellte Beobachtung.35 Ähnliche Darstellungen des Tragens einer Leiche gibt es aber auch auf Reliefschmuck antiker Sarkophage, welche die Sage um den toten Meleager zeigen. Solche Sarkophage hat Poussin möglicherweise gekannt. Man kann zusammenfassend eine formale Ähnlichkeit zwischen dem Kupferstich Raimondis und dem Gemälde Poussins hinsichtlich der Haltung der zentralen Bildfi33
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Boeckl 1991, S. 133. Rätsel gibt das auf dem Gemälde beinahe schlafwandlerisch von rechts hinzutretende Kind auf. Christine Boeckl interpretiert es als den jungen Samuel, der ein Prophet des Volkes Israels werden wird. Die kleine Darstellung des alten Mannes auf der Treppe dahinter, zu dem ein weiterer Mann tritt, deutet sie als die Bibelszene, in welcher ein Bote dem Priester Eli mitteilt, dass die Bundeslade von den Philistern gestohlen wurde und seine beiden Söhne im Kampf getötet worden seien. Daraufhin stirbt Eli und Samuel übernimmt sein Amt. Die Interpretation Boeckls ist jedoch nicht schlüssig, da sich Eli gemäß des Bibeltextes in Silo in Israel und nicht in der Stadt der Philister aufhält, als der Bote zu ihm eilt, außerdem sitzt er auf einem Stuhl und nicht auf einer Treppe, denn nur durch den Sturz vom Stuhl stirbt er. Auch die Deutung des Kindes als Samuel teile ich nicht, da nichts an dieser Figur auf ein bevorstehendes Priesteramt hinweist. Meiner Auffassung nach, fügte Poussin diesen Knaben nur ein, um den Moment des Fernhaltens der Kinder von der Sterbenden zweifach im Bild darstellen zu können. La Scena tragica, Holzschnitt. In: Sebastiano Serlio, De Architectura, Venedig 1566, S. 46 verso. Raffael, Die Grablegung Christi, Öl auf Holz, 184 × 176 cm, 1507, Rom, Galleria Borghese.
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guren, ihrer Interaktion und ihrer Affekte feststellen. Poussin transferiert den aus Raimondis Kupferstich entlehnten szenischen Einfall eines Kindes, das vergeblich an der Brust seiner verstorbenen Mutter zu trinken versucht, aus einem antiken Mythos in eine biblische Historie. In beiden literarischen Quellen – der im Stich dargestellten Aeneis des Vergil einerseits und der von Poussin gezeigten alttestamentarischen Szene andererseits – wird die Pestseuche als Bestrafung eines Volkes aufgrund der Nichtbefolgung göttlicher Weisung gedeutet. So ist die Bilderfindung Raffaels für Poussin sehr nützlich, weil sie thematisch nah ist, obwohl sie aus einem anderen Kontext stammt. Poussin unterzieht die Zitate im Zuge des Transfers vom Kupferstich in das Ölgemälde einer tiefgreifenden Verwandlung, denn in der kreativen Umformung und der gelungenen Synthese verschiedener bildlicher und textlicher Quellen zeigt sich die Qualität eines Künstlers. Armenini hatte in seinem Traktat einige Hinweise gegeben, wie man Entlehnungen geschickt in neue Bildschöpfungen integriert.36 In Anlehnung an seine Empfehlungen können folgende Strategien der Aneignung erkannt werden: Poussin verändert die Haltung der Figuren, ihre Kleidung, ihre Anordnung zueinander und die Ansicht auf sie. Dies wird besonders bei der toten Mutter deutlich, deren Körper nun nicht mehr bildparallel angeordnet ist, sondern im Vergleich zum Stich um etwa 45° gedreht ist, so dass er in den Bildraum hineinragt. Der Betrachter blickt nun leicht von oben herab auf ihren Körper. Zudem hat sich ihre Kleidung verändert. Ihre nun entblößten Brüste ragen hervor und locken den voyeuristischen Blick des Betrachters, der jedoch im Bewusstsein darüber ins Stocken gerät, dass es sich hier um eine Tote handelt. Die von Raffael entwickelte Idee, im Bild nicht nur visuelle Eindrücke zu vermitteln, sondern auch den eigentlich nicht bildlich fassbaren Geruch der Pestkranken durch den sich die Nase zuhaltenden Mann darzustellen, hat Poussin so gut gefallen, dass er dieses Element gleich zwei Mal im Bild verwendet. Durch die gleichzeitige Darstellung visueller und olfaktorischer Eindrücke soll eine möglichst große Nähe zur sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit erreicht werden. Zudem verbindet Poussin die dem Stich entlehnten Figuren mit anderen Bildquellen, wie durch den Hinweis auf die antike Darstellung einer sterbenden Amazone gezeigt worden ist. Weitere wesentliche Veränderungen gegenüber dem Kupferstich sind durch den Transfer in ein neues Bildmedium bedingt: Poussin intensiviert den dramatischen Gehalt der Vorlage, indem er sich unterschiedliche Farben zunutze macht. Besonders deutlich wird das durch die verschiedenen Abstufungen menschlichen Inkarnats. Während die hinzutretenden gesunden Männer eine von der Sonne gebräunte Haut haben, weisen die Kinder eine blasse Haut auf. Der über den Säulentambur gelehnte Kranke hat eine grünlich schimmernde Haut und die tote Mutter ist tatsächlich leichenblass. Außerdem trägt die monumentale Größe des Gemäldes zu einer völlig neuen Bildwirkung bei. Aus einem kleinen, im Kabinett zu betrachtenden Kupferstich ist ein raum-
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Siehe S. 80.
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füllendes Ölgemälde geworden. Durch die veränderte Größe der Figuren muss sich der Betrachter zu ihnen in ein neues Verhältnis setzen. Offen bleibt, ob der Rückgriff Poussins auf den nach Entwürfen Raffaels geschaffenen Kupferstich allein den Zweck hatte, sich Raffaels Formensprache anzueignen oder ob nicht vielmehr das letztliche Ziel Poussins darin lag, die idealisierte Formenwelt der Antike wieder aufleben zu lassen. Bereits der Kupferstich Die Pest in Phrygien ist, wie bereits gezeigt worden ist, eine bildliche Interpretation eines antiken Mythos. Doch gibt es noch auf einer weiteren Ebene eine Verknüpfung mit der Antike: Im 35. Buch seiner Naturgeschichte beschreibt Plinius ein Werk des griechischen Malers Aristides von Theben (tätig 376–336 v. Chr.) mit dem Motiv eines Kindes, das versucht, an der Brust der sterbenden Mutter zu trinken. Die Mutter ist verletzt, weshalb sie befürchtet, dass ihr Kind statt Milch ihr Blut trinken muss.37 Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Plinius zuvor Aristides als den ersten Maler lobt, der die Fähigkeit hatte, die Seele des Menschen, seine sinnlichen Empfindungen und Leidenschaften darzustellen.38 Es ist gut möglich, dass Raffael diese antike Ekphrasis kannte und sie zum Anlass genommen hat, die Tragödie des an der Pest erkrankten Volkes im Motiv des vergeblich an der Brust der Mutter säugenden Kindes zu verdichten.39 Das Leid und die Trauer, welche die auf dem Stich bereits als verstorben dargestellte Mutter nicht mehr ausdrücken kann, versinnbildlicht die trauernde Frau zu Füßen der Herme. Es war das ausdrückliche Ziel Raffaels, seelische Empfindungen, wie Todesangst, Mutterliebe oder Mitgefühl im Bild überzeugend zu vermitteln, weshalb er sich die von Plinius lobend erwähnte Bildidee zu Eigen machte. Weil bereits Raffael die Formenwelt der Antike in seinem Werk erneuerte und sowohl auf literarische als auch auf bildliche Überlieferungen der Antike zurückgriff, kann Poussin sich nun in eine besondere Tradition einreihen. Durch das leicht zu entschlüsselnde Zitat aus dem Kupferstich nobilitiert Poussin sein Werk, indem es einen doppelten Bezug auf Bilderfindungen der Renaissance und der Antike aufweist. In geradezu systematischer Weise wendet Poussin diesen parallelen Bezug auf textliche und bildliche Quellen der Antike einerseits und Vorlagen aus Werken der Renaissance andererseits an, wie in folgenden Bildbeispielen noch deutlich werden wird. Darüber hinaus strebt er an, seine Vorbilder in der Dramatik der Szene und Anschaulichkeit menschlicher Affekte durch Wiederholung einzelner Figuren und Steigerung ihrer Bewegungsmomente zu übertreffen. Während es sich in der literarischen Beschreibung lediglich um eine Zweiergruppe von Mutter und Kind handelt, stellt Raffael bereits 37
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Secundus 1958–1962, S. 332–335: „oppido capto ad matris morientis ex volnere mammam adrepens infans, intellegiturque sentire mater et timere, ne emortuo lacte sanguinem lambat.“ Ebenda: „Aequalis eius fuit Aristides Thebanus. Is omnium primus animum pinxit et sensus hominis expressit, quae vocant Graeci ‘èthè’, item perturbationes.“ Schütze 1996. Plinius’ Hinweis auf Aristides war ein in der Renaissance weit verbreiteter Topos. Schütze nennt 11 zeitgenössische literarische Quellen, die sich auf Aristides beziehen. Vgl. Blunt 1967, S. 94.
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eine Gruppe von sieben Personen dar, die unterschiedliche Aspekte der Pestseuche versinnbildlichen. Poussin vervielfacht die Anzahl der Figuren, welche der Pestgruppe angehören, noch einmal und zeigt allein im Bildvordergrund zwölf Personen.40 Das von Plinius formulierte Ziel der Malerei, eigentlich nicht sichtbare menschliche Gefühle anschaulich werden zu lassen, hat Poussin in seinem gesamten Werk verfolgt. Poussin ging es vor allem darum, Momente starker äußerer und innerer Bewegung festzuhalten. Sämtliche Strategien der Umwandlung seiner Vorbilder dienen letztlich dazu, Anteilnahme im Betrachter auszulösen. Er soll von der Dramatik des Geschehens ergriffen sein und sich auf der Grundlage einer emotionalen Reaktion mit dem Bildsinn auseinandersetzen. Poussin äußerte sich einige Jahre nach Vollendung des Gemäldes in einem berühmten Brief an seinen Mäzen Paul Fréart de Chantelou über bereits in der antiken griechischen Musiktheorie angewendeten Darstellungsmodi.41 Diese Modi sind vielmehr Tonarten, die sich dem Thema des Musikstücks anpassen müssen. Auf das eigene – allerdings spätere – Werk bezogen, bedeutet dies, der Stil eines Gemäldes müsse sich dem Thema anpassen. Für ernste Themen müsse ein ernster, schwerer Darstellungsmodus gefunden werden und für fröhliche Themen ein leichter Modus.
Das Königreich der Flora Geht man aufgrund ihrer zeitnahen Entstehung davon aus, dass das Gemälde Das Königreich der Flora als Pendant zum Pestbild geplant war, dann kann man im Vergleich beider Gemälde nachvollziehen, wie Poussin diese unterschiedlichen Modi selbst anwendete, auch wenn er sie in den frühen 1630er Jahren noch nicht schriftlich reflektiert hat (Abb. 77).42 Während im Pestbild dunkle Farben vorherrschen, überwiegen in Floras Reich helle und frohe Farben. War die Pest als Sinnbild einer tragischen Szene konzipiert worden, so ist das Reich der Flora die exemplarische Konzeption einer leichten und fröhlichen Szene.43 Sie ist angefüllt mit Anspielungen auf 40
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Poussins Gemälde der Pest von Aschdod hat seinerseits vielfältige künstlerische Aneignungen ausgelöst. Zum einen zeigt das Gemälde Pest in einer Antiken Stadt (um 1652–1654) von Michael Sweerts (1618–1664) eine Vielzahl von Entlehnungen sowohl der Bildfiguren als auch des architektonischen Rahmens – Öl auf Leinwand, 118,75 × 170,82 cm, Los Angeles County Museum, Geschenk der Ahmanson Foundation, Inv. Nr. AC1997.10.1. Zum anderen greift auch Eugène Delacroix die Bilderfindung der toten Mutter, an deren Brust ein Kind zu trinken versucht, auf: Das Massaker von Chios, Öl auf Leinwand, 1824, 419 × 354 cm, Paris, Musée du Louvre, Inv. Nr. 3823. Jouanny 1968, S. 370–375, Quelle 156. Brief vom 24.11. 1647. Nicolas Poussin, Das Königreich der Flora, Öl auf Leinwand, 131 × 181 cm, 1630–1631, Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Gemäldegalerie, Inv. Nr. 719, Blunt 1967, Nr. 155; Thuillier 1974, Nr. 67; Wild 1980, Nr. 32. Vgl. ebenda, S. 39. Die Pest von Aschdod wurde im Februar 1631 vollendet und Das Königreich der Flora im April 1631, wie Poussin selbst im Prozess um den Diamantenhändler Valguarnera zu Protokoll gab, der beide Gemälde erworben hatte. Neben dem offensichtlichen Gegensatz in der Bildstimmung und dem Bildthema (biblische Historie einerseits und antike Mythologie andererseits) gibt es auch Parallelen zwischen bei-
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77 Nicolas Poussin, Das Königreich der Flora, Öl auf Leinwand, 131 × 181 cm, 1630–1631 (Farbtafel XIII)
Ovids Beschreibungen von Figuren, die in Blumen verwandelt wurden.44 Auch für dieses Gemälde war einer der in enger Zusammenarbeit mit Raffael entstandenen
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den Bildern, denn das Königreich der Flora lässt sich in groben Zügen hinsichtlich seiner Komposition mit der Pest von Aschdod vergleichen. In der linken Bildhäfte befindet sich eine männliche Herme, die als Priapus, als Gott der Fruchtbarkeit, verstanden werden kann. Diese Götterstatue erhält einen, durch geschmückte Baumstämme abgegrenzten Umraum, ähnlich der von ionischen Säulen begrenzten Halle für den Gott Dagon, welche auf dem Pestbild ebenfalls in der linken Bildhälfte angeordnet wurde. Hinter der Herme mit der Darstellung des Gottes Priapus befindet sich auf dem Königreich der Flora ein steinernes Relief. Auch auf dem Pestbild ist an ähnlicher Stelle ein antikes Relief integriert. Auch die Idee, Gerüche bildlich darzustellen, ist in diesem Gemälde erneut aufgenommen worden – hier wird in deutlichem Gegensatz zum Pestbild – der Geruch von Frühlingsblumen anschaulich gemacht, indem ein kleiner Putto unten rechts an einer Blüte riecht. Vgl. Winner 1994, S. 390. Zu Vorschlägen für mögliche textliche Quellen Poussins zu diesem Bild siehe: Panofsky 1949 und Spear 1965. Nachdem von Dora Panofsky Verse aus Ovids Metamorphosen und Fasti (Buch V, Vers 195 ff.) als Ursprung für das Bild genannt wurden, weist Spear darauf hin, dass bei Ovid weder Ajax noch Klythia erwähnt werden. Spear nennt das Gedicht „La Rosa“ von Giambattista Marino als mögliche Quelle, da es die sechs Hauptfiguren von Poussins Gemälde erwähnt. Das Gedicht ist in einer ersten Ausgabe 1602 in Venedig erschienen. Laut Spear tanzt auch nicht Flora in der Bildmitte, sondern Venus, was Ovids Fasti widerspricht. Vgl: Thomas Troy, ‚Un fior vano e fragile’: The symbolism of Poussin’s Realm of Flora, in: The Art Bulletin, Bd. LXVIII, Nr. 2, 1986, S. 225–236. Thomas betrachtet die Metamorphosen
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Meisterstiche Raimondis vorbildhaft – nämlich Das Urteil des Paris (Abb. 4).45 Sofort fällt der Sonnenwagen Apolls ins Auge, der, von vier Schimmeln gezogen, über den Himmel jagt. Dieser Sonnenwagen ist ein deutliches Zitat aus Raimondis Stich, denn sowohl auf dem Stich als auch auf dem Gemälde ist der Wagen von einem Ring mit Tierkreiszeichen umgeben.46 Auf dem Stich befinden sich zudem zwei Nymphen, die je eine Amphore zwischen ihren Beinen halten – einmal am linken Bildrand im Kreise zweier weiterer Quellnymphen und einmal rechts in Begleitung zweier Flussgötter. Diesen Einfall entlehnt Poussin ebenfalls und platziert an zentraler Stelle im Bildvordergrund die Nymphe Echo, die ein großes gläsernes Gefäß zwischen ihren Knien hält. Das Gefäß enthält Wasser, auf dessen Oberfläche sich Narziss spiegelt.47 Neben Narziss sind weitere Figuren um Flora gruppiert, die sämtlich in einem engen thematischen Zusammenhang mit der Blumengöttin stehen. Im Uhrzeigersinn sind dies: Ajax, der sich im Gegensatz zu dem sonstigen fröhlichen, frühlingshaften Treiben seiner Kleider entledigt hat und sich auf sein Schwert stürzt, um sich selbst zu töten. Aus seinem Blut entspringt der Legende nach Jahr für Jahr die Hyazinthe.48 Zu seiner Rechten befindet sich Klytia, welche ihr Haupt zu Apoll gewendet hat, um diesen anzubeten.49 Es folgt Hyazinth selbst, der ebenfalls Namensgeber des Frühblühers ist.50 Adonis, Krokus und Smilax schließen den Kreis ab.51 Wie Henry Keazor bemerkt hat, sind sämtliche Blumen, auf deren mythologische Entstehung hier verwiesen wird,
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des Ovid als Haupttextquelle. Siehe auch: Thomas Worthen, Poussin’s paintings of Flora, in: The Art Bulletin, Bd. LXI, Nr. 4, 1975, S. 575–588. Eine Zusammenfassung der Diskussion liefert: Keazor 1998, S. 157–158. Aufgrund der außerordentlichen Qualität des Stichs und der Komplexität der Bilderfindung geht man davon aus, dass Raffael prägend an seiner Entstehung beteiligt war, auch wenn sich keine Vorzeichnung von ihm erhalten hat. Neben dem Stich Raimondis diente ein weiterer Kupferstich von Léon Davent – Der Garten des Vertumnus nach Primaticcio – als Vorbild (Bartsch XVI.322.43). Dies gilt vor allem in Bezug auf die Komposition und den landschaftlichen Rahmen der Szene mit der über Kreuz angeordneten Pergola im Hintergrund. In der Grafischen Sammlung der ETH in Zürich befindet sich eine Zeichnung, die vermutlich von einem Poussin-Nachfolger geschaffen wurde. Sie zeigt ebenfalls den nach Raimondi geschaffenen Sonnenwagen, dazu vier weibliche Personifikationen der Jahreszeiten, eine doppelköpfige Herme sowie einen liegenden, geflügelten Gott, der als Chronos gedeutet werden kann, da er von einem Putto mit Sanduhr begleitet wird: Feder in Tinte über Vorzeichnung in Rötel, mit Weißhöhung, oval beschnittenes Papier, 272 × 359 mm, Zürich, ETH; Inv. Nr. Z 185, 1925.36. Ein solcher Sonnenwagen, jedoch ohne Tierkreiszeichen, wird ebenfalls in der Vorzeichnung Poussins sowie im Gemälde Allegorie vom Tanz des Lebens integriert. Für die Zeichnung siehe: Rosenberg / Prat 1994a, S. 278–279, Kat. Nr. 144, Edinburgh, National Gallery of Scotland, Inv. Nr. D. 5127. Für das Gemälde siehe: Thuillier 1974, S. 101, Kat. Nr. 123, Wild 1980, S. 90, Kat. Nr. 95; London, Slg. Wallace. Ovid 1994, 3. Buch, Verse 344–510. Winner identifiziert dieses Gefäß als Echeion, ein von Vitruv beschriebenes metallenes Gefäß, wie sie an den Wänden von Theaterauditorien angebracht wurden, um den Schall zu reflektieren. Ovid 1994, 13. Buch, Verse 386–398. Ebenda, 4. Buch, Verse 206–270. Ebenda, 10. Buch, Verse 210–219. Ovid 1994, 10. Buch, Verse 724–739 und ebenda, S. 110, 4. Buch, Vers 283.
Nicolas Poussi n u nd Ra i mond i : Das augenfä l l ige Zitat 191
78 Nicolas Poussin, Das Königreich der Flora, Feder in Braun, braun laviert über Vorzeichnung in Rötel, 213 × 293 mm, um 1627
noch einmal in einem Füllhorn im Bildvordergrund zusammengefasst.52 Doch nicht nur hinsichtlich der Entlehnung einiger Bildelemente war der Stich Raimondis vorbildlich, auch hinsichtlich der Anordnung einzelner Figurengruppen lassen sich Ähnlichkeiten erkennen. Denkt man sich auf dem Kupferstich eine zentrale vertikale Achse, lassen sich drei Bildfiguren entlang dieser Achse anordnen: Apoll im Sonnenwagen; die Siegesgöttin, welche die von Paris erwählte Venus mit einem Lorbeerkranz bekrönt und schließlich Minerva als Rückenakt, die sich gerade entkleidet hat. Auch auf Poussins Gemälde sind in ähnlicher Weise drei zentrale Bildfiguren entlang einer solchen vertikalen Achse angeordnet: Unter Apoll befindet sich die tanzende Flora und darunter, im Vordergrund sitzend, die Nymphe Echo. Zieht man die einzige bekannte eigenhändige Vorzeichnung Poussins in Betracht, die aufgrund ihrer noch nicht ausgereiften Qualität von Blunt als eine sehr frühe Skizze betrachtet wird, dann lässt sich erkennen, dass bereits in der Skizze die Bezüge zum Stich Raimondis angedeutet werden (Abb. 78).53 Beide Elemente – Apoll in sei-
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Keazor 1998, S. 59–63. Nicolas Poussin, Das Königreich der Flora, Feder in Braun, braun laviert über Vorzeichnung in Rötel, 213 × 293 mm, um 1627, Windsor Castle, The Royal Collection, Inv. Nr. 11983,
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nem Wagen und Echo mit der Amphore – kommen bereits in dieser Skizze vor. Sie sind hier jedoch dem Stich deutlich weniger ähnlich als später im Gemälde. Während Apoll auf der Zeichnung von einem einfachen Sonnenkranz hinterfangen wird, verdeutlicht Poussin im Gemälde den Bezug zum gestochenen Vorbild und integriert erst hier den Kranz der Sternzeichen. Sowohl im Stich als auch im Gemälde werden die Sternzeichen vorn auf dem Kreis angebracht, welche den von Flora beherrschten Frühlings- und Sommermonaten zugeordnet werden, nämlich Stier und Zwilling.54 Während auf der Zeichnung die Pferde des Sonnenwagens zu zwei Paaren hintereinander gespannt sind, sind sie im Gemälde – wie auf dem Stich – zu einer Viererreihe angeordnet. Wie im Fall des bereits erörterten Stichs Die Pest in Phrygien hat auch die in diesem Stich vermittelte Bilderfindung Raffaels einen engen Zusammenhang mit einem antiken bildlichen Vorbild. Im Fall des Urteils des Paris entlehnte Raffael die zugrunde liegende Bildidee aus einem Sarkophagrelief, das heute in der Villa Doria Pamphilj aufbewahrt wird.55 Die Komposition der Szene mit dem sitzenden Hirten Paris, dem ebenfalls von einem Kranz mit Tierkreiszeichen überfangenen Sonnenwagen Apolls, dem im Himmel thronenden Jupiter sowie der Gruppe der Flussgötter folgt sehr eng der Anlage des Reliefs. Allein die Position der um den goldenen Apfel ringenden Göttinnen wurde verändert. Es ist sehr gut möglich, dass Poussin auch diesen Sarkophag in Rom gesehen hat, denn das Relief wurde für Cassiano dal Pozzo, einen Mäzen Poussins, nachgezeichnet.56 Poussin hat daher das antike Vorbild des Stichs sicherlich erkannt. Dennoch lässt das Gemälde Das Königreich der Flora nicht den Schluss zu, Poussin habe direkt nach dem Sarkophag gearbeitet, da es hier keine formalen Übereinstimmungen gibt. War im Fall der Pest von Aschdod eine große inhaltliche Nähe zum Stichvorbild der Pest in Phrygien gegeben, lässt sich ein solcher Zusammenhang zwischen dem Königreich der Flora und dem Urteil des Paris nicht rekonstruieren. Die Entlehnungen sind in diesem Fall deshalb nicht durch inhaltliche Parallelen begründet. Es ist allein
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Rosenberg / Prat 1994a, S. 56–57, Kat. Nr. 30, Blunt 1967, S. 106: „It is such a clumsy affair that a lot of work must have gone into the development of the design, and some time must have passed between this stage and the final painting.“ In Windsor befindet sich eine zweite Zeichnung, die der Schule Poussins zugeschrieben wird und die ein späteres Entwicklungsstadium der Komposition zeigt (Inv. Nr. 11878, Rosenberg / Prat 1994a, Bd. II, S. 1124–1125, Kat. Nr. R 1298). Apoll kniet auf dem Stich Raimondis anscheinend direkt auf dem Rücken zweier Pferde. Auf der Zeichnung Poussins lehnt er entspannt in einem nach antikem Vorbild skizzierten Wagen. Auf dem Gemälde schließlich steht er in einem goldenden Wagen und schwingt beherzt die Peitsche. Bober / Rubinstein 1986, S.148–150, Kat. Nr. 119; P.P. Bober, Drawings after the Antique by Amico Aspertini, London, 1957, S. 68–69, Abb. 83; Siehe: http://census.bbaw.de/easydb/ censusID=151558. Nachzeichnung eines Reliefs mit dem Urteil des Paris, aus Cassiano dal Pozzos „Museo Cartaceo“, Windsor, Royal Library, Inv. Nr. 8723.
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79 Nicolas Poussin, Der Bethlehemitische Kindermord (erste Fassung), Öl auf Leinwand, 97 × 132 cm, um 1625–1626
die Schönheit der Bilderfindungen Raffaels, welche die Entlehnungen durch Poussin auslöst.
Die Kombination der Entlehnungen aus Raimondis Stichen mit anderen bildlichen und textlichen Quellen: Der Bethlehemitische Kindermord Ein weiterer Meisterstich Raimondis – Der Bethlehemitische Kindermord – hat Anlass gegeben zur wiederholten Beschäftigung Poussins mit diesem Thema (Abb. 13). Besonders die frühere, heute stark beschädigte Fassung des von Poussin malerisch umgesetzten Bibeltextes macht die Bezüge zu Raimondis Stich auf den ersten Blick deutlich (Abb. 79).57 Zu den formalen Analogien gehören zunächst die nackten Säug57
Nicolas Poussin, Der Bethlehemitische Kindermord (erste Fassung), Öl auf Leinwand, 97 × 132 cm, um 1625–1626, Paris, Musée du Petit Palais, Inv. Nr. 879, siehe: Blunt 1967, Kat. Nr. 66, Thuillier 1974, Kat. Nr. B7, Wild 1980, Kat. Nr. 45. Dieses Gemälde wird in seiner Zuschreibung an Poussin von Thuillier angezweifelt, aber nicht zurückgewiesen: „Né la composizione né lo stile si accordano totalmente a quelli delle opere sicure, e ci sembra che l’attribuzione debba ormai venire rimessa in discussione.“ Vgl. Oberhuber 1996, S. 70: „Ainsi les gravures
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linge, die tot auf dem Boden liegen. Besonders das Kind am linken Rand des Gemäldes zeigt eine enge Verwandtschaft zum toten Säugling, der auf dem Kupferstich unten links dargestellt wird. Beide Säuglinge haben jeweils den linken Arm über den Brustkorb gelegt. Auch das Schachbrettmuster des steinernen Bodens, das grob zur Gliederung der Komposition dient, entspricht der gestochenen Fassung. In der Bildmitte sind drei Henker dargestellt, die ihre Schwerter jeweils erhoben haben, um zum Schlag auszuholen. Einer von ihnen tritt auf eine Frau, die er gleichzeitig an den Haaren zieht. Die Mutter im Zentrum der Komposition versucht, mit ihrem Kind zu fliehen. Eine weitere Mutter kniet auf dem Boden. Aus Trauer und Verzweiflung zerrt sie an ihren Haaren und ihrem Gewand. Ein dritter Henker holt zum tödlichen Schlag auf einen zu Boden gestürzten Säugling aus. Dessen Mutter schlingt ihre Arme um den Körper des Henkers, um ihn zurückzuhalten. Im Hintergrund links sieht man eine weitere Frau, die mit ihrer bloßen Hand den Säbel eines Henkers abzuwehren versucht. Die Szene spielt vor zwei mit Säulenhallen geschmückten, antiken Palästen. Möglicherweise wird damit auf den Palast des Herodes verwiesen, der den Massenmord angeordnet hatte. Ähnlich dem Kupferstich sind der architektonische Rahmen und die Bildhandlung nicht miteinander verschränkt. Der Platz, auf dem sich das Geschehen abspielt, hat den Charakter eines Bühnenbildes. Wie bereits im vorangegangenen Bildvergleich angedeutet, kann man auch hier Analogien in der Komposition erkennen, denn sämtliche Protagonisten sind, wie ihre Vorbilder auf dem Kupferstich, kreisförmig angeordnet. Ihre rhythmisch abwechselnden Gesten scheinen, strudelartig um ein Zentrum zu kreisen. Jedoch ist im Gegensatz zum Kupferstich die Bildmitte leer.58 Wenn man der Annahme folgt, Poussin habe einzelne Figuren aus dem Kupferstich entlehnt und sie mithilfe seines üblichen Verfahrens des Wachsfigurentheaters in ihren Positionen zueinander und in ihren Körperhaltungen nachgeahmt und dabei leicht abgewandelt, dann wird offensichtlich, dass der Henker links auf Poussins Gemälde auf den rechten Henker des Stichs zurückzuführen ist. Beide Henker sind nackt, tragen aber einen in gleicher Form nach hinten gebauschten Umhang. Zudem gleichen sie sich im Schrittmotiv, nur die Haltung der Arme ist verschieden. Der Einfall, eine Mutter an den Haaren zu ziehen, entspricht dem mittleren Henker auf dem Kupferstich. Dessen Körperhaltung wiederum bildete die Grundlage für den mittleren Henker auf Poussins Bildschöpfung.59 Beide Schergen sind jeweils in Rückenan-
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de Marcantonio Raimondi, comme le Massacre des Innocents qu’il utilisa pour le tableau au sujet identique, conservé au Petit Palais, revêtaient-elles à ses yeux la même valeur que l’œuvre peint de Raphaël.“ Cropper / Dempsey 1996, S. 259–260. Im Stich wird dieser Platz von einer auf den Betrachter zufliehenden Frau eingenommen. Wie Elizabeh Cropper und Charles Dempsey bemerkt haben, hält diese Frau nicht den toten Leib ihres Kindes in den Armen, sondern lediglich einzelne körperliche Überreste, die sie zusammengeklaubt hat. Gerade diese Figur betreffend muss der schlechte Erhaltungszustand des Gemäldes beachtet werden, weshalb nur vorsichtige Schlüsse gezogen werden können. Siehe: Blunt 1967, S. 47:
Nicolas Poussi n u nd Ra i mond i : Das augenfä l l ige Zitat 195
sicht gegeben und halten ein Schwert, respektive einen Dolch, in der erhobenen Hand. Mit der rechten Hand packt der Henker auf Poussins Schöpfung das Ärmchen eines Säuglings, den seine fliehende Mutter schützend an sich gepresst hat, um ihn dem Griff des mordenden Mannes zu entreißen. Auch dieser Einfall lässt sich auf dem Kupferstich wiederfinden, allerdings wird hier ein Füßchen ergriffen. Der dritte Mörder auf Poussins Gemälde geht wiederum in seiner Körperhaltung auf den Henker links auf dem Stich zurück. Zusammenfassend heißt das: Die Körperhaltungen der Schergen und ihre grausamen Handlungen finden jeweils ihr Pendant im Stich. Jedoch wurden ihre jeweilige Position im Bild sowie ihre einzelnen Schandtaten zwischen den Henkern vertauscht. Einzig die Geste der verzweifelt am Boden knienden Mutter auf Poussins Gemälde ist nicht im Stich vorgebildet. Poussin schöpft in dieser frühen Fassung reichlich aus dem Formenvorrat des Stichs. Seine Strategien der Abwandlung der Entlehnungen bestehen aus dem Drehen von Figuren, dem freien Kombinieren verschiedener entlehnter Motive in einer Figur, dem Hinzufügen von Stoffen bei den beiden im Stich unbekleideten Henkern und der Verdopplung der am Boden liegenden Säuglinge von zwei auf vier Kinder. Damit setzt er die bereits genannten Empfehlungen Armeninis um, ohne dass er notwendigerweise dessen Traktat gelesen haben muss.60 Bei dieser ersten Fassung tendiere ich dazu, der von Bätschmann formulierten Regel, dass Poussins produktive Arbeit nicht im Fundus vorbildlicher Werke ihren Ursprung habe, zu widersprechen.61 Die inhaltlichen und formalen Analogien zwischen Raimondis Stich und Poussins Gemälde sind so eng, dass davon ausgegangen werden kann, der Stich habe den Anlass für Poussins Beschäftigung mit dem Thema des Bethlehemitischen Kindermords gegeben. In der weiteren Auseinandersetzung mit dieser biblischen Historie, die in eine zweite Gemäldefassung mündet, entfernt sich Poussin wieder von den formalen Anregungen des Kupferstichs (Abb. 80).62 Er zieht weitere schriftliche und bildliche Quellen zu Rate und gelangt damit zu einer neu artigen Formulierung des Sujets.63 Denn in der in Chantilly aufbewahrten Fassung
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„A considerable part of the executioner who occupies the middle of the composition is painted on a piece of later canvas inserted in the original, and the rest of this figure, together with much of the left-hand executioner, is largely restored, as is also the baby lying at the feet of the middle soldier.“ Vgl. Anm. Nr. 43, S. 80, Armenini, Buch 1, Kapitel 9, S. 78, Vgl. Armenini 1988, S. 95: „Conciosia cosa che qualunque figura; per poca mutazione d’alcuni membri; si leva assai della sua prima forma, perciò che col rivoltarle, ò con mutarli un poco la testa, o alzarli un braccio, torli via un panno, o giungerne in altra parte, o in altro modo.“ Bätschmann 1982, S. 35. Nicolas Poussin, Der Bethlehemitische Kindermord (zweite Fassung), Öl auf Leinwand, um 1627–1628, 147 × 171 cm, Chantilly, Musée Condé, Inv. Nr. 395, Thuillier 1974, Kat. Nr. 25, Blunt 1967, Kat. Nr. 67, Wild 1980, Kat. Nr. 59. Cropper / Dempsey 1996, S. 253–278. Mögliche schriftliche Quellen für Poussins Gemälde werden von Cropper und Dempsey ausführlich analysiert und hier deshalb nicht erneut detailliert wiedergegeben. Die beiden Hauptquellen innerhalb einer langen Tradition der literarischen Interpretation des Kindermordes des Herodes bilden der Text „Umanità di Christo“ von Pietro Aretino (zuerst publiziert 1535 in Venedig) und das Gedicht „La strage
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konzentriert Poussin die gesamte Dramatik in einer einzelnen Figurengruppe eines Henkers, einer klagenden Mutter und ihres Säuglings. Der zum tödlichen Schlag ausholende Henker, der seinen rechten Fuß auf die Brust eines nackten, schreienden Säuglings gestellt hat, sowie die Mutter, welche den Tod ihres Kindes um jeden Preis zu verhindern versucht, sind in einem Dreieck verschränkt. Der Henker reißt die Frau an den Haaren, um sie zurückzuhalten. Im Hintergrund sieht man weitere Mütter, deren Kinder entweder bereits tot geborgen werden oder durch eine Flucht gerettet werden sollen. Der Bildinhalt wird hier nicht mehr in erster Linie anhand von bildlicher Handlung dargestellt, sondern durch expressive Gesten und ein ausgeprägtes Mienenspiel. Wie in einem bereinigenden Akt hat Poussin die Anzahl der Bildakteure deutlich reduziert. Durch die Konzentration auf das persönliche Schicksal einer einzelnen Mutter im Bildvordergrund wird die Identifikation des Betrachters mit dem Bildgeschehen erheblich erleichtert. In ihrem Gesicht sammelt sich der emotionale Gehalt des Bildes durch den ängstlich flehenden Blick und den panisch schreienden Mund. Das Vorbild für diese Konzentration verschiedener extremer Gefühle bildeten antike tragische Masken, wie bereits oft bemerkt worden ist.64 Zu den weiteren bildlichen Quellen Poussins gehört, neben Raimondis Stich, der erneut die Vorlage für den Henker mit dem nach hinten gebauschten Umhang lieferte, die Referenz auf die Skulpturengruppe der Niobe mit ihren Kindern, die 1583 auf dem Esquilin gefunden und von Kardinal Ferdinando I. de’ Medici im Garten der Villa Medici neu arrangiert worden war.65 Die im Hintergrund rechts aus dem Bild tretende Mutter, die den leblosen
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degli innocenti“ von Giovanni Battista Marino, dem Freund und Förderer Poussins (1632 in Neapel und 1633 in Venedig publiziert, Vgl. Panofsky 1960, S. 55). Poussin kann aufgrund seiner engen Bindung zu Marino bereits vor der Veröffentlichung des Gedichtes den Text gekannt haben. Beide Texte enthalten die Beschreibung eines Soldaten, der auf ein Kind tritt. Aretinos Text ist jedoch näher an Poussins bildlicher Fassung, weil dort der Soldat auf die Brust des Säuglings tritt und ihn mit zwei Schwertschlägen tötet, wie er es auch auf dem Gemälde tut. In Marinos Beschreibung geht dem Akt des auf das Kind Tretens eine weitere grausame Handlung voran. Der Henker wirbelt den Säugling herum und schlägt ihn gegen eine Mauer. Seine Mutter hatte versucht, den Mörder durch ihre Schönheit vom Kind abzulenken, wird aber ebenfalls an den Haaren gezogen und dadurch gezwungen, den Säugling freizugeben. Wahrscheinlich trug Marino nicht unerheblich zu Poussins Interesse an dem Thema bei, weil es in einzigartiger Weise einen Kontrast zwischen der Schönheit der bedrohten Frauen und Kinder und dem Grauen der entsetzlichen Handlungen der Henker erlaubt. Marino schildert sehr drastische Handlungen, verwendet aber im Kontrast dazu vollendete Versformen. Wittkower 1975, S. 106, siehe ebenda, S. 109–110: „for Poussin, antiquity was a vehicle of catharsis, coming progressively into play the more the preparatory work approached the final version. […] The cathartic influence of antiquity consisted in helping to objectify and intensify subjective concepts.“ Bober / Rubinstein 1986, S. 138–139. Es handelt sich um römische Repliken von griechischen Bildwerken. 1770 wurde die Gruppe nach Florenz verbracht und befindet sich heute in den Uffizien. Niobe, die Tochter des Tantalus, wurde für ihren Stolz bestraft. Als Mutter von 12 Kindern (die Zahl variiert je nach antikem Autor), sah sie auf Leto herab, die nur zwei Kinder bekommen hatte. Leto tötete daraufhin alle Kinder der Niobe, welche sich aus Trauer in einen Berg verwandelte, ihre Tränen bildeten eine Quelle. http://census.bbaw.de/easydb/
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80 Nicolas Poussin, Der Bethlehemitische Kindermord (zweite Fassung), Öl auf Leinwand, 147 × 171 cm, um 1627–1628
Körper ihres Kindes im Arm hält, als ob sie keinen Bezug zu dem schrecklichen Geschehen herstellen könne, geht auf eine der Töchter der Niobe zurück, welche mit angewinkeltem Arm die Hand hinter den Kopf legt und den Blick nach oben richtet. Ihr Mund ist klagend geöffnet. Sie scheint in ihrer Haltung erstarrt zu sein. Gerade die antike Marmorskulptur ist hier ein wertvolles Vorbild, weil der vor Schreck versteinerte Ausdruck – ins Gemälde transferiert – sehr gut zum emotionalen Gehalt der Szene passt. Zwar handelt es sich bei der Erzählung um Niobe um einen mythologischen Kontext, der in eine biblische Historie übertragen wurde, doch ergibt sich eine große thematische Nähe, denn hier wie dort werden auf grausame Weise Kinder getötet. Wie Bätschmann gezeigt hat, lässt sich die formale Analogie zur Tochter der Niobe censusID 158365; 158364; 160875; 160877; 160878; 160868; 160880; 160874; 160873; 160871; 160872; 160879; 159372; Vgl. Bätschmann 1982, S. 29–34. Laut Bätschmann verwendete Poussin einzelne Figuren aus der Niobidengruppe auch in anderen Werken, wie u.a. bei der Zeichnung Moses verteidigt die Töchter des Jethro, Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nr. 32432, Rosenberg / Prat 1994a, Bd. I, S. 588–589, Nr. 303.
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bei der außergewöhnlichen Vorzeichnung zu diesem Gemälde noch nicht erkennen (Abb. 81).66 Bei dieser Zeichnung, welche in Lille aufbewahrt wird, handelt es sich um eine sehr rasche Skizze, die durch eine äußerst dynamische Strichführung und kontrastreiche Lavierung besticht. Erneut tritt hier eine Adaption des Stichs zutage, die später im Gemälde wieder zurückgenommen wird. In Analogie zu Parmigianino entlehnt auch Poussin die Figur des Säuglings im Vordergrund des Stichs, der alle vier Gliedmaßen von sich streckt und aus dem Arm der Mutter zu fallen droht. Diese Figur dreht Poussin um 90° und lässt in grausamer Geste den Henker auf den Säugling treten. In der Weiterentwicklung des Bildgedankens im Rahmen einer weiteren Zeichnung in Florenz (Abb. 82) liegt der Säugling – wie später im Gemälde – beinahe parallel zum Bildgrund.67 Wie auch bei den vorangegangenen Beispielen wird anhand der genannten Werke deutlich, wie wertvoll die nach Entwürfen Raffaels geschaffenen Stiche Raimondis für Poussin waren. Er studierte sie hinsichtlich ihrer Motiverfindungen, ihrer Komposition und der zitierten antiken Vorlagen. Es ist sehr gut möglich, dass Poussin die von Sandrart und Bellori beschriebene Methode, ein Gemälde in seiner Komposition anhand kleiner Wachsfiguren zu entwickeln, auch im Fall der erstgenannten Fassung des Bethlehemitischen Kindermords anwendete.68 Dies half ihm, die Entlehnungen zu durchdenken und zu verfremden, weil aus dem zweidimensionalen Vorbild des Kupferstichs eine dreidimensionale Bühne wurde, mithilfe derer die Haltung der einzelnen Bildfiguren und ihre Anordnung zueinander verändert werden konnten. Trotz der
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Nicolas Poussin, Der Bethlehemitische Kindermord, Feder in Braun, braun laviert, 147 × 169 mm, Lille, Musée des Beaux-Arts, Inv. Nr. 1613. Rosenberg / Prat 1994a, S. 72–73, Kat. Nr. 38, Rosenberg / Prat 1994b, S. 168–169, Kat. Nr. 24. Vgl. Blunt 1974, S. 240, Abb. Nr. 4, Blunt erkennt in einer Rötelskizze (London, Priv. Slg., Inv. Nr. PD 1-1985) eine Studie für den Säugling im Kindermord. Diese Studie ist ein Fragment, das ursprünglich Teil der Rückseite der Zeichnung Bacchus und Erigone in Cambridge war, Fitzwilliam Museum, Inv. Nr. 3097, siehe Rosenberg / Prat 1994a, S. 62–65, Kat. Nr. 34. Die Zeichnung Poussins weist mehrere Unterschiede zum Gemälde auf: Der vom Henker bedrohte Säugling ist hier mit dem Kopf bildeinwärts gedreht. Im Gemälde wird die Position dieses Kindes um 90° gedreht, es liegt nun parallel zur Bildebene. Außerdem enthält die Zeichnung unten rechts noch einen zweiten toten Säugling. Weiterhin lässt sich auf der Zeichnung ein Pentimento erkennen: Ursprünglich plante Poussin, dass der Henker seine Schwertspitze direkt auf den Säugling richtet, statt ihn über sein Haupt zu erheben. Die Zeichnung wird von Annamaria Petrioli Tofani als ein Original Poussins angesehen, Pierre Rosenberg und Louis-Antoine Prat lehnen jedoch eine Zuschreibung an Poussin ab und halten die Federskizze für eine Studie nach dem entsprechenden Gemälde Poussins. Vgl. Rosenberg / Prat 1994a, Bd. II, S. 874–875, Kat. Nr. R 381: Nicolas Poussin (zugeschrieben), Der Bethlehemitische Kindermord, Feder in Braun, braun laviert, Spuren von schwarzem Bleistift und Rötel, 139 × 154 mm, Florenz, Uffizien, Gabinetto Disegni e Stampe, Tofani 1987, Kat. Nr. 884 E. Im Gegensatz zur genannten Zeichnung aus Lille ist hier allein die Dreiergruppe von Henker, Mutter und Kind festgehalten. Weitere Bildfiguren und ein architektonischer Rahmen fehlen. Das Blatt wurde ehemals Guido Reni zugeschrieben. Diese Zeichnung wurde 1774 im Stich reproduziert von S. Mulinari. Auf diesem Stich wird Guido Reni als Erfinder der Szene genannt. Wohl / Wohl / Montanari 2005, S. 323.
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81 Nicolas Poussin, Der Bethlehemitische Kindermord, Feder in Braun, braun laviert, 147 × 169 mm
82 Nicolas Poussin (zugeschrieben), Der Bethlehemitische Kindermord, Feder in Braun, braun laviert, Spuren von schwarzem Bleistift und Rötel, 139 × 154 mm
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genannten Umwandlungen der Entlehnungen kann man davon ausgehen, dass sich Poussin an einen gebildeten Betrachter wendete, der so bekannte Vorlagen, wie Raimondis Meisterstiche, in seinem Bildgedächtnis hatte und daher Poussins gelehrtes Spiel mit den Zitaten erkannte und zu schätzen wusste.
Parallele Referenz auf originale Werke Raffaels und ihre druckgrafischen Übersetzungen: Der Parnass Nachdem bisher Werke besprochen worden sind, bei denen Poussin ausschließlich Kupferstiche Raimondis vorlagen, weil es im Falle der Pest in Phrygien, des Parisurteils und des Bethlehemitischen Kindermords kein entsprechendes farbiges Werk von Raffael gibt, soll nun eine künstlerische Aneignung näher untersucht werden, bei der Poussin Zugang sowohl zum Original Raffaels als auch zum entsprechenden Stich Raimondis hatte. Der Fokus der folgenden Betrachtung liegt auf der Frage, ob und wie es die Rezeption der Stiche prägte, wenn Poussin gleichzeitig originale Werke Raffaels kannte. Machte Poussin einen Unterschied in der Wertschätzung druckgrafischer und gemalter Vorlagen? Im J. Paul Getty Museum in Los Angeles wird eine lavierte Federzeichnung Poussins mit dem Thema Apoll und die Musen des Parnass aufbewahrt (Abb. 83).69 Mit dieser Zeichnung bereitete Poussin das gleichnamige Gemälde vor, welches sich im
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Nicolas Poussin, Apoll und die Musen auf dem Berg Parnass, Feder in Braun, braun laviert, mit Spuren schwarzer Kreide, 176 × 246 mm, 1626–1628, Los Angeles, J. Paul Getty Museum, Inv. Nr. 83.GG.345, Rosenberg / Prat 1994a, S. 70–71, Kat. Nr. 37; Rosenberg / Christiansen 2008, S. 164–165, Kat. Nr. 17. Vgl. das von Rosenberg und Prat abgelehnte Blatt, das von unbekannter Hand nach dem Fresko gezeichnet worden ist: Figuren aus dem Parnass, Pinsel in Braun, über Vorzeichnung in Feder, 162 × 333 mm, New York, The Ian Woodner Collection, Inv. Nr. WCII-88. Haverkamp-Begemann / Logan 1988, S. 106–107, Kat. Nr. 28, Rosenberg / Prat 1994a, R 669. Vgl. Blunt 1974, S. 239–240, Abb. Nr. 2 und 3. Blunt erkennt die Zeichnung aus der Woodner Sammlung als eigenhändig an und geht davon aus, Poussin habe sie angesichts des Freskos realisiert: „The Woodner drawing is of interest because it is an exact copy of a section of Raphael’s fresco whereas in his painting Poussin seems to have been more directly inspired by the engraving by Marcantonio Raimondi based on it. The drawing shows the whole central group exactly as it appears in the fresco, except that Poussin miscalculated and did not leave enough room for the last Muse on the right and so inserted her on the extreme left in a gap above the poet seated next to Dante.“ Diese Beobachtung enthält drei Fehler: a) Der Stich Raimondis basiert nicht auf dem Fresko. b) Im Gemälde entfernt sich Poussin weiter von der gestochenen Vorlage als in der oben genannten Vorzeichnung. c) Es sind sämtliche neun Musen an der richtigen Stelle entsprechend dem Fresko skizziert. Die am linken Bildrand integrierte Figur ist keine Muse, da sie einen Lorbeerkranz trägt. Reale identifiziert diese Figur als Personifikation der Poesie, vgl. Reale 1999, S. 88–89. Zudem nennt Blunt eine weitere Zeichnung Poussins, die sich in Madrid, in der Biblioteca Nacional (Inv. Nr. 239) befindet und zwei Musen nur in ihren Umrissen erfasst. Dieses Blatt wird von Rosenberg und Prat nicht erwähnt.
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83 Nicolas Poussin, Apoll und die Musen auf dem Berg Parnass, Feder in Braun, braun laviert, mit Spuren schwarzer Kreide, 176 × 246 mm, 1626–1628 (Farbtafel XIV)
84 Nicolas Poussin, Der Parnass, Öl auf Leinwand, 145 × 197 cm, 1630–1631
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Prado befindet (Abb. 84).70 Selten orientierte sich Poussin in einer Zeichnung so nah am Vorbild Raffaels wie hier. Mit Sicherheit hat Poussin Raffaels Fresko des Parnass im Original gesehen, dennoch muss ihm bei der Anfertigung dieser Federzeichnung vor allem Raimondis Stich nach Raffael vorgelegen haben (Abb. 2).71 Denn allein auf dem Stich befinden sich fünf im Himmel schwebende Putten, welche Lorbeerkränze halten. Diese fünf Putten greift Poussin in der Zeichnung und auch im gleichnamigen Gemälde auf. Dass vor allem der Stich und nicht das Fresko der Ausgangspunkt für Poussins Weiterentwicklung des Bildthemas war, ist zunächst der Ateliersituation geschuldet. Während sich Poussin angesichts des Freskos höchstens zeichnend ein paar schnelle Notizen machen konnte, erlaubte der Stich eine wiederholte Betrachtung und tiefergehende Reflexion, weil er Poussin sehr wahrscheinlich in der eigenen druckgrafischen Sammlung zugänglich war. Auch ist es möglich, dass Poussin eine gezeichnete Kopie nach einem Entwurf Raffaels für die Muse Melpomene besessen hat. Im Gabinetto Disegni e Stampe der Uffizien wird eine entsprechende Zeichnung aufbewahrt, auf welcher sich recto unten folgende Bezeichnung in alter Schrift befindet: „Nel Parnaso in Vaticano / era questo foglio carissimo a Monsù Nicolò Possino. L‘hebbi dal Sig. [no]r Pietro Santi / scol[ar]o di Monsu Camer suo discepolo 1699“ (Abb. 85).72 Allerdings hatte diese Zeichnung nach Raffael keine Auswirkung auf die oben genannte Zeichnung und das Gemälde Poussins. In beiden Werken integriert Poussin zwar auch die Muse Melpomene, welche eine Maske in ihren Händen trägt. Sie hat aber in ihrer Haltung jeweils keine Ähnlichkeit zum Entwurf Raffaels. Poussins Zeichnung des Parnass ist eine Synthese aus Elementen, die jeweils aus dem Fresko und dem Stich entlehnt worden sind. Während die Viola oder lira da braccio in den Händen Apolls auf der Zeichnung Poussins klar auf das Fresko verweist, sind die Putten eindeutige Hinweise auf die Verwendung des Stichs als Vorlage. Die in beiden Vorbildern architektonisch bedingte Leerstelle des Fensterrahmens füllt Poussin, indem er in seiner Skizze die allein im Fresko angedeutete Quelle festhält. Zudem verkürzt er die Komposition am unteren Bildrand und hebt sämtliche Bildfiguren auf eine Ebene. Der Parnass ist nun nicht mehr als Berg gekennzeichnet. Eher handelt es sich um eine Waldlichtung, die durch einzelne senkrecht aufragende 70
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Nicolas Poussin, Der Parnass, Öl auf Leinwand, 145 × 197 cm, um 1630–1631, Madrid, Museo del Prado, Inv. Nr. P02313, Wild 1980, Kat. Nr. 26, Thuillier 1974, Kat. Nr. 69, Blunt 1967, Kat. Nr. 129. Rosenberg / Prat 1994b, S. 206–207, Kat. Nr. 45. Tofani 1987, Bd. II, S. 506–507, Kopie nach Raffael, Die Muse Melpomene, Feder in Braun, 370 × 211 mm, Florenz, Uffizien, Gabinetto Disegni e Stampe, Inv. Nr. 1220 E recto; verso: Studien von vier Händen und drei Füßen, Notiz auf dem Passe-partout: „Si tratta di copie non dall’affresco, quanto piuttosto dai disegni preparatori PII 541 dell’Ashmolean (il recto), 445 di Lille e Pp 1-74 del British Museum (il verso) / A. Petrioli Tofani”. Eine der möglichen Vorlagen zu dieser Zeichnung bildet das Blatt: Studie für die Figur der Melpomene (recto), Studie für die Figur des Vergil (verso), Feder in Braun, 330 × 219 mm, Oxford, Ashmolean Museum, Parker II (1956) 541, Inv. Nr. WA1846.182, Knab / Mitsch / Oberhuber 1983, Kat. Nr. 374. Siehe auch: Rosenberg / Prat 1994b, S. 206–207, Kat. Nr. 45.
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85 Anonym (nach Raffael), Die Muse Melpomene, Feder in Braun, 370 × 211 mm
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Baumstämme rhythmisch gegliedert wird. Außerdem begrenzt Poussin deutlich die Anzahl der dargestellten Personen.73 Auf Raffaels Fresko und im Stich Raimondis wird eine hierarchische Gliederung deutlich, da allein die Musen einen engeren Kreis um Apoll bilden und die Dichter weiter entfernt stehen. Poussin hingegen mischt Musen und Dichter. Zudem ändert er die Position von Apoll, der nun deutlich aus dem Bildzentrum gerückt ist. Trotz der deutlichen Änderungen gegenüber der Bilderfindung Raffaels übernimmt Poussin einzelne Figuren fast vollständig, so zum Beispiel die im Bildzentrum lagernde Muse Terpsichore rechts des Baumstammes. Auch der Dichter im Profil am linken unteren Bildrand wird von Poussin übernommen, allerdings ändert sich dessen Standmotiv. Wie Erwin Panofsky gezeigt hat, dienen sämtliche Veränderungen in der Komposition vor allem dazu, die sowohl im Stich als auch im Fresko eher lose neben einander aufgereihten Bildfiguren in einer gemeinsamen Bildhandlung zu vereinen.74 Diese inhaltliche Klammer wird im Gemälde noch verstärkt. Hier ergibt sich eine leichte Themenverschiebung. Apoll ist nicht länger der in sich gekehrte Musizierende, wie noch auf Poussins Zeichnung, sondern er interagiert mit den weiteren Personen auf dem Bild. Denn er empfängt ein Buch und überreicht im Gegenzug dem Dichter, welcher ihm sein Werk widmet, einen goldenen Pokal.75 Kalliope bekrönt den Dichter mit einem Lorbeerkranz und hält einen zweiten Kranz wie ein Siegeszeichen in die Höhe. Panofsky schlägt vor, dieser zu Füßen Apolls kniende Poet sei Giambattista Marino, der nur wenige Jahre vor Vollendung des Gemäldes verstorben war.76 Es erscheint durchaus plausibel, dass Poussin hier seinem Freund und ersten Förderer Ehre erweisen wollte. Die übrigen acht Musen bilden nun im Vergleich zur Zeichnung Poussins wieder einen engeren Kreis um Apoll und sind in zwei Gruppen gegliedert. Gemäß Panofsky handelt es sich hierbei um Thalia, Urania, Klio und Melpomene in der linken Gruppe und um Terpsichore, Erato, Polyhymnia und Euterpe in der zentralen Gruppe.77 Den neun Musen sind nun genau neun Dichter gegenübergestellt, die sämtlich einen Lorbeerkranz tragen. Einige von ihnen halten Bücher in ihren Händen und verweisen damit auf ihre Werke. Ihre Gesichtszüge sind, im Vergleich zu Raffaels Fresko, deutlich weniger individualisiert, so dass die Identifizierung der einzelnen Dichter umstritten bleibt. In ihren Körperhaltungen verweisen sie deutlich auf ihre Vorbilder. Die linke Gruppe der Dichter, die von Panofsky hier als Homer, Vergil und Tasso identifiziert wurde, ist der Darstellung auf Fresko und Stich sehr verwandt. Der von rechts in das Bild schreitende Dichter mit der leicht geöffneten Hand ist allein in Anlehnung an den Stich Raimondis ent-
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Neben Apoll sind insgesamt 17 Musen, Dichter und ein am Boden sitzender Putto dargestellt, während es im Fresko 27 Figuren sind. Panofsky 1960, S. 51. Wild 1980, S. 32. Laut Wild enthält dieser Pokal den Nektar der Unsterblichkeit. Panofsky 1960, S. 54. Panofsky 1960, S. 52. Panofsky identifiziert auch einige der Dichter, die vordere Grupppe links benennt er als Homer, Vergil und Tasso in ihrer Mitte.
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wickelt worden. Er kommt in dieser Haltung nicht im Fresko vor. Die wesentliche Änderung gegenüber der eigenen Zeichnung und den Vorlagen Raffaels ist die Hinzufügung einer Quellnymphe im Bildvordergrund, die in einer treppenartig gegliederten Quelle lagert.78 Sie stützt sich auf eine Amphore und hält eine andere Amphore in der linken Hand. Damit lässt sie erneut an die Quellnymphen auf Raimondis Stich Das Urteil des Paris denken. Zwei Putten schöpfen aus der Quelle das inspirierende Wasser und reichen es den Dichtern in goldenen Schalen. Erst Raffaels Bilderfindung hat Poussins Beschäftigung mit dem Thema des Musenhügels ausgelöst. Die Idee, Apoll, die Musen und Dichter auf dem Parnass zu vereinen, ist eine frühneuzeitliche Erfindung.79 Poussin greift das Bildthema auf und macht den Bezug zum Vorbild durch eine Vielzahl formaler Analogien deutlich, denn der Bezug auf Raffael soll vom Betrachter leicht erkannt werden. Poussin hatte bereits zuvor zwei Darstellungen von Dichtern geschaffen, die von Apoll, in Begleitung einer Muse, inspiriert wurden, doch gelingt ihm erst in der Auseinandersetzung mit Raffael die Komposition einer solchen vielfigurigen Szene.80 Die eingangs gestellte Frage, ob Poussin in der Referenz auf gemalte Werke Raffaels oder auf Stiche Raimondis nach Zeichnungen Raffaels Unterschiede machte, kann verneint werden. Es spielt für Poussins Vorgehensweise in der Entlehnung einzelner Motive keine Rolle, ob es sich bei der Vorlage um ein eigenhändiges, einmaliges Werk von Raffael selbst handelt oder um einen durch den Stich Raimondis vermittel78
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Vasari bezeichnet die entsprechende Quelle auf dem Fresko Raffaels als die Quelle des Helikon, also des eigentlich benachbarten Musenbergs. Vasari 1973, Bd. IV, S. 334 und Vasari 2004a, S. 36. Siehe auch Blunt 1967, Textteil, S. 72–73: „The Parnassus is a free variant of Raphael’s fresco in the Vatican, with a not very skilful attempt to fill the gap – due in Raphael’s composition to the window – by the insertion of the nymph of the Castalian spring, an awkward figure reminiscent of the School of Fontainebleau in its proportions.“ Vgl. Kauffmann 1961, S. 126, Anm. 66: Kauffmann weist darauf hin, dass eine solche personalisierte Quelle auf dem Stich Apoll und die Musen auf dem Parnass von Giorgio Ghisi (B. XV, 228, 58) dargestellt ist. Sie weist allerdings keine formalen Übereinstimmungen zur Personifikation auf Poussins Gemälde auf. Auf dem Stich Ghisis spielt Apoll ebenfalls die Violine. Oberhuber 1999b, S. 103: „Das Fresko ist eine der ersten malerischen Umsetzungen der neuzeitlichen Vorstellung des Parnass als jenes Ortes, an dem sich Dichter und berühmte Menschen um Apollo und die Musen versammeln, eine Idee, die die Antike in dieser Form nicht kannte. […] Erst kurz vor Raffaels Zeit [wurden] die antiken Berge Helikon, der Berg der Musen, und Parnass, der dem Apollo und Dionysus heilige Zwillingsberg, in der Vorstellung vieler Schriftsteller miteinander verschmolzen.“ a) Der Dichtertrank oder Die Inspiration des lyrischen Dichters, um 1627, 94 × 69,5 cm, Hannover, Niedersächsische Landesgalerie, Wild 1980, Kat. Nr. 14, Blunt 1967, Kat. Nr. 125, Thuillier 1974, Kat. Nr. 56; b) Die Inspiration des epischen Dichters, um 1627, 183 × 213 cm, Paris, Musée du Louvre, Wild 1980, Kat. Nr. 18, Blunt 1967, Kat. Nr. 124, Thuillier 1974, Kat. Nr. 61. Nicht zufällig verwendete Poussin Putten mit je zwei Lorbeerkränzen in den Händen auch in diesen beiden Fassungen der Inspiration des Dichters, wie es auch Raimondi dargestellt hatte. Das heißt, Poussin kannte bereits seit längerem Raimondis Stich und nahm ihn zum Ausgangspunkt mehrerer neuer Kompositionen. Die Pariser Variante weist zudem einen Bezug zu Raffaels Fresko in den Loggien Apoll und Marsyas auf, denn die Haltung des Apoll ist jeweils ähnlich aufgefasst. Vgl. Blunt 1967, S. 73–74 und S. 83–84.
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ten Entwurf. Poussin bindet zwar offensichtliche Verweise auf Raffael in sein Werk ein, doch ist er so eigenständig in der Bildfindung, dass er in der Synthese von Entlehnungen aus dem Stich und dem Fresko ein neues Werk schaffen kann, das zudem durch die Auszeichnung eines Dichters durch Apoll eine neue inhaltliche Bedeutung gewinnt. Auch Vasari hatte sich in der Beschreibung von Raffaels Fresko in der Stanza della Segnatura auf den Stich Raimondis verlassen und erwähnt ebenfalls die Putten: Auf der dem Belvedere zugewandten Seite mit dem Berg Parnass und der Quelle des Helikon schuf [Raffael] um diesen Berg herum einen dunkelschattigen Wald von Lorbeerbäumen. In ihrem Grün nimmt man beinahe das von leichtestem Lufthauch herrührende Zittern der Blätter wahr, und in der Luft sieht man eine Vielzahl nackter Amoretten mit wunderschönen Gesichts zügen, die Lorbeerzweige pflücken und zu Girlanden flechten, die sie dann ausbreiten und auf den Berg fallen lassen.81 Obwohl Vasari das Original kannte, ist seine schriftliche Wiedergabe der Kunst Raffaels durch die Kenntnis des Kupferstichs Raimondis verändert worden.82 Auch seine Beschreibung ist also ein Konglomerat aus Beobachtungen des Stichs und des Freskos. Es ist die Inschrift auf dem Stich „Raphael pinxit in Vaticano“, die Vasari dazu verleitet hat zu glauben, er habe ein getreues Abbild des Freskos vor Augen. Vasari lässt sich angesichts der fünf Putten dazu hinreißen, von einer „infinità di amori ignudi“ zu sprechen, doch kann hier von einer unendlichen Zahl keine Rede sein. Der Stich führt in diesem Fall durch seine Unterschiede zum Fresko zu einer fehlerhaften Bildbeschreibung Vasaris. Sowohl Vasari als auch Poussin beziehen sich auf Raffael. Für sie ist der Kupferstich Raimondis allein ein nützliches Hilfsmittel im Moment des Schreibens oder Zeichnens, wenn die Betrachtung des Originals nicht möglich ist. Die verändernden Implikationen des Stichs werden von ihnen nicht reflektiert.83
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Vasari 2004a, S. 36, Vgl. Vasari 1973, Bd. IV, Raffaello da Urbino, S. 334: „Nella facciata, dunque, di verso Belvedere, dove è il monte Parnaso ed il fonte di Elicona, fece intorno a quel monte una selva ombrosissima di lauri, ne’quali si conosce per la loro verdezza quasi il tremolare delle foglie per l’aure dolcissime, e nell’aria una infinità di amori ignudi, con bellissime arie di viso, che colgono rami di lauro e ne fanno ghirlande, e quelle spargano e gettano per il monte.“ Den Hinweis auf Vasari verdanke ich Höper 2001, S. 54–55. Vasari erwähnt auch die Muse Sappho, die allein auf dem Fresko vorkommt. Vasari 1973, Bd. IV, S. 335: „Evvi la dotta Safo et il divinissimo Dante.“, Siehe: Vasari 2004a, S. 37: „Auch die gelehrte Sappho und der höchst göttliche Dante sind dort ganz lebendig gezeigt.“ Broun / Shoemaker 1981, S. 33: „Poussin’s reliance on reproductive prints may seem at odds with his well-known contempt for copies of artworks. […] Reproductive engravings were never expected, however, to duplicate originals, but only to provide information about iconography, composition, contours, and lighting. They have been trusted in the past just as photographs are trusted today, and their inability to convey scale, texture, and color has been accepted and ignored, just as it is in the case of photography.“
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Ergebnisse Die genannten gestochenen Vorbilder führen Georg Kauffmann in Bezug auf das Werk Poussins zu dem Schluss: Die Bildtradition, die unsere Untersuchung hat fassen können, fließt aus einer Quelle und der Nachweis von Stichvorlagen wäre nicht in dem Maße interessant, wie er es ist, kämen nicht alle Vorbilder aus einem einzigen, römischen Schulzusammenhang, demjenigen des Marc-Anton.84 Wie in diesem Kapitel gezeigt werden konnte, gibt es allen Grund, die Aussage Kauffmanns deutlich zu unterstützen. Zwar können nicht sämtliche Referenzen Poussins auf die Druckgrafik aus dem Umkreis Marcantonios Erwähnung finden, doch geht aus dem bisher Geschilderten deutlich hervor, welchen wesentlichen Anteil die Stiche an der Bildgenese Poussins einnahmen. Sie waren leicht zugänglich, da sie spätestens ab Mitte des 16. Jahrhunderts durch geschäftstüchtige römische Verleger, wie Antoine Lafréry und Antonio Salamanca, verbreitet wurden. Sie gaben nicht nur Auskunft über originäre Bilderfindungen Raffaels, sondern vermittelten auch Raffaels Interpretation der antiken Bildwelt. Diese gemeinsame Liebe zur Antike ist der wesentliche Anknüpfungspunkt, der dazu führte, dass Poussin so häufig auf die Kupferstiche aus dem Umkreis Raffaels zurückgriff. Mit den Stichen der Pest in Phrygien, des Urteils des Paris, des Bethlehemitischen Kindermords, des Parnass und Quos Ego hat Poussin sämtliche Meisterstiche Marcantonio Raimondis intensiv studiert, welche jeweils in enger Zusammenarbeit mit Raffael entstanden waren. Sämtlichen Stichen ist gemeinsam, dass sie antike Vorbilder rezipieren, seien sie textlicher oder bildlicher Natur. Heute führen die Stiche der römischen Schule nur noch bedingt zum Verständnis des Altertums. Dem 16. Jahrhundert waren sie Schatzhaus einer von Künstlerhand wiederbelebten Gestaltenwelt. Es ging nicht um archäologische Treue. Schon Meister der Raffaelschule haben Antikenphantasien zum Ausgangspunkt ihrer Kunst genommen. Die untergegangene Welt aufs Neue zum Bilde zu erheben, war mit das Verdienst der Stecher und ihrer Verleger. Man sah in ihnen die Dolmetscher der Klassik.85 So bezog Poussin seine Kenntnis der Antike nicht nur durch das Studium originaler Bildwerke, sondern im Wesentlichen durch die aktive Rezeption der Stiche Marcantonio Raimondis und seiner Schüler. Der Hauptgrund, nicht direkt auf antike Originale oder auf getreue Nachzeichnungen zurückzugreifen, sondern auf die Stiche, liegt 84 85
Kauffmann 1961, S. 111. Kauffmann 1961, S. 115.
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darin, dass Raffael bereits Interpretationen der Antike geliefert hat, die Strategien der Verlebendigung und Emotionalisierung enthalten, die Poussins Bildzwecken entgegenkamen. Über das vielfältige Formenrepertoire hinaus lieferten die Stiche ein bestimmtes Antikenverständnis, das für Poussin sehr nützlich war, denn im freien Kombinieren verschiedener, aus der Antike entlehnter Formen, wird die nur in Bruchstücken überlieferte Welt zu neuem Leben erweckt. Poussin umschreibt selbst seine Zielsetzungen im Umgang mit der bildlichen Tradition: La novità nella pittura non consiste principalmente nel soggetto non più veduto, ma nella buona e nuova disposizione ed espressione, e così il soggetto dall’essere comune e vecchio diviene singolare e nuovo.86 Das Neue in der Malerei besteht also nicht darin, sich ein bisher noch nicht gesehenes Motiv auszudenken, sondern in der geschickten Anordnung und im gelungenen Ausdruck der Entlehnungen aus verschiedenen Quellen. So kann eine althergebrachte Ikonografie durch die gelungene Neuinterpretation zu einem einzigartigen Werk umgeformt werden. Dieses Verständnis des geschickten Kombinierens und Interpretierens von Zitaten aus berühmten Quellen hat eine lange Tradition, die bereits ihren Ursprung in der antiken Rhetorik hat. Deutlich wurde, dass Poussin ausschließlich solche Stiche Raimondis zitierte, die auf Erfindungen Raffaels basieren. Der eigentliche Partner für Poussins schöpferischen Dialog war Raffael und nicht Raimondi, denn Poussin wählte in erster Linie solche Stiche als Vorlagen, die in besonders enger Zusammenarbeit zwischen Raffael und Raimondi entstanden waren und daher ein geringes Maß an Interpretationsleistung seitens des Stechers aufweisen. Dass er recht häufig auf die Stiche zurückgriff – auch in solchen Fälllen, da ihm originale Werke Raffaels zugänglich waren – liegt darin begründet, dass die Stiche in seinem Atelier unmittelbar im Zuge der Bildgenese zur Hand waren. Schließlich fällt auf, dass Poussin besonders die von einem breiten Publikum geschätzten Stiche Raimondis zitierte, damit den Betrachtern seiner Werke leicht klar wurde, auf wen er sich im künstlerischen Wettstreit bezog.
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Bellori 1976, S. 481: Della novità. Vgl. Wohl / Wohl / Montanari 2005, S. 339: „Of Novelty: Novelty in painting does not consist primarily in the subject that has never been seen, but in good and novel arrangement and expression, and in this way the subject that was commonplace and stale becomes singular and new.“
Rembrandt und Raimondi: Die Referenz wird verborgen
Rembrandts Kenntnisse italienischer Kunst Wir wissen noch immer sehr wenig über Rembrandts Verhältnis zur italienischen Kunst. Sein Zeitgenosse Joachim von Sandrart (1606–1688) hatte bedauert, Rembrandt habe es versäumt, nach Italien zu reisen und demzufolge keine Kenntnis der italienischen Kunst besessen. Statt sich an die Regeln der Kunst zu halten, wie sie das Vorbild der Antike und die Akademie lehrten, ersinne er sich eigene Regeln und scheue sich nicht, „wider Raphaels Zeichenkunst und vernünftige Ausbildungen auch wider die unserer Profession höchst-nöhtigen Academien zu streiten.“1 Auch Rembrandts Förderer Constantin Huygens klagte: An beiden Jünglingen [Rembrandt und Jan Lievens] ist zu rügen, dass sie es nicht der Mühe werth halten, Italien zu besuchen. Wenn sie die Bekanntschaft mit den Werken Raffaels und Michelangelos machen wollten, würden sie den Gipfel ihrer Kunst erreichen.2
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Joachim von Sandrart, Teutsche Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste. 1675, siehe: www.sandrart.net, Bd. II, Buch 3 (niederl. u. dt. Künstler), S. 326: „Er [Rembrandt] machte seinen Anfang zu Amsterdam bey dem berühmten Laßmann/ und gieng ihme/ wegen Gütigkeit der Natur/ ungesparten Fleißes und allstätiger Ubung nichts ab/ als daß er Italien und andere Oerter/ wo die Antichen und der Kunst Theorie zu erlernen nicht besucht/ zumal da er auch nicht als nur schlecht Niderländisch lesen/ und also sich durch die Bücher wenig helfen können: Demnach bliebe er beständig bey seinem angenommenen Brauch/ und scheuete sich nicht/ wider unsere Kunst-Reglen/ als die Anatomia und Maas der menschlichen Gliedmaßen/ wider die Perspectiva und den Nutzen der antichen Statuen/ wider Raphaels Zeichenkunst und vernünftige Ausbildungen auch wider die unserer Profession höchst-nöhtigen Academien zu streiten/ und denenselben zu widersprechen/ vorgebend/ daß man sich einig und allein an die Natur und keine andere Reglen binden solle.“ Hofstede de Groot 1906, S. 14–15, Quelle Nr. 18, § 17–18, Vgl. Strauss / Meulen 1979, Quelle Nr. 1630 / 5, S. 68–72.
210 Rembra ndt u nd Ra i mond i : Die Referen z w ird verborgen
Doch die Italienverweigerung besteht im Falle Rembrandts nur scheinbar.3 Die Begründung dafür gibt er selbst, wie ebenfalls Huygens schildert: Sie behaupten, dass sie in der Blüthe ihrer Jahre dazu keine Zeit hätten, und dass man die beste italienische Kunst außerhalb Italiens sehen, während man dieselbe in Italien selbst nur mit Mühe und an vielen zerstreuten Orten auffinden könne.4 Auch wenn Rembrandt es nicht für Wert erachtete, selbst nach Italien zu reisen, war er sehr umfassend über die italienische Kunst informiert.5 Einige Werke italienischer Meister konnte er im Amsterdamer Kunsthandel und in privaten Sammlungen im Original betrachten. Doch seine Kenntnis italienischer Kunst basierte im Wesentlichen auf seiner umfangreichen druckgrafischen Sammlung, von der ein Inventar Zeugnis ablegt.6 Da Rembrandt zahlungsunfähig geworden war, musste er sich von seiner Kunst- und Kuriositätensammlung trennen. Das von einem Notar erstellte Inventar vom 25. und 26. Juli 1656, welches eine spätere Auktion vorbereitet, listet Rembrandts Besitz in der Reihenfolge seiner Wohnräume auf. Neben einer Vielzahl eigener Gemälde und Werke seiner Malerkollegen werden auch Gemälde italienischer Meister genannt, darunter Palma il Vecchio (Jacopo Palma, um 1480–1528), Annibale Caracci und Giorgione (1478–1510). Auch ein Raffael zugeschriebenes Porträt (een tronie van Raefel urbijn) sowie eine Mariendarstellung Raffaels (een Maria beeltie van Raefel Urbijn) hat Rembrandt, laut Inventar, besessen.7 Die Druckgrafik wurde überwiegend in Alben aufbewahrt. Hier bilden, neben Stichen von Lukas van Leyden und Albrecht Dürer sowie Druckgrafik nach Rubens, italienische Stiche den Sammlungsschwerpunkt.8 Ein kostbares Album aus Rembrandts Sammlung ist Andrea Mantegna gewidmet (’t kostelijcke boeck van Andre de
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Busch 2004. Hofstede de Groot 1906, S. 14–15, Quelle Nr. 18, § 17–18, Vgl. Strauss / Meulen 1979, Quelle Nr. 1630 / 5, S. 68–72. Alpers 2003, S. 131: „Charakteristisch für Rembrandt war, dass er Italien zwar als prägendes Element seiner Kunst, nicht aber als Reiseziel ansah.“ Hofstede de Groot 1906, S. 189–211, Quelle Nr. 169; Vgl. Strauss / Meulen 1979, Quelle Nr. 1656 / 12, S. 348–388. Die entsprechende Auktion, auf der Rembrandts Besitz versteigert wurde, fand erst am 20. Dezember 1658 statt. Im Rahmen dieser Arbeit werden ausschließlich druckgrafische Werke als Vermittler italienischer Kunst in den Niederlanden untersucht. Bert W. Meijer zeigt, dass es darüber hinaus einige Personen gab, die eine wichtige Vermittlerrolle einnahmen, dazu zählen: Bartholomäus Spranger, Hendrick Goltzius und vor allem Karel van Mander. Dennoch griffen laut Meijer viele niederländische Künstler auf Stiche zurück, da ihnen die Originale nicht zugänglich waren, siehe: Meijer 1987. Strauss / Meulen 1979, S. 355–359, Nrn. 67 und 114. Um den thematischen Rahmen der Arbeit nicht zu verlassen, muß hier leider auf eine nähere Untersuchung der Bezugnahme Rembrandts auf nordische Vorbilder, wie Dürer oder Rubens, verzichtet werden.
Rembra ndt u nd Ra i mond i : Die Referen z w ird verborgen 211
Mantaingie).9 Es lässt sich nicht rekonstruieren, was sich in diesem Album befunden hat. Der Hinweis auf die Kostbarkeit des Albums lässt vermuten, dass Rembrandt auch Zeichnungen Mantegnas besessen hat. Von einem anderen Album heißt es, es umfasse fast alle Werke von Tizian.10 Auch Druckgrafik nach Michelangelo sowie vier Alben mit Radierungen von Antonio Tempesta hat Rembrandt gesammelt.11 Vor allem Letztere galten ihm als reicher Vorlagenschatz. Vier weitere Alben sind ausschließlich Druckgrafik nach Raffael gewidmet. Eines davon wird als sehr kostbar beschrieben. Bei einem anderen ist von sehr schönen Drucken die Rede.12 Diese Quelle lässt also keinen Zweifel an Rembrandts Bewunderung für Raffael. Vermutlich besaß Rembrandt außerdem die heute nicht mehr erhaltene Serie von Kupferstichen Raimondis mit Darstellungen von Liebesakten, denn ein Album umfasst erotische Sujets verschiedener Stecher, wobei erneut Raffael als ein Autor erwähnt wird.13 Es wird hier explizit von Drucken von Raffael und nicht nach Raffael gesprochen. Auch wenn das Inventar vom bestellten Notar verfasst wurde, der sehr wahrscheinlich auf Rembrandts Kenntnisse angewiesen war, ist zu vermuten, dass auch Rembrandt bei der Betrachtung der im Umkreis Raffaels entstandenen Stiche nicht darüber nachdachte, ob diese tatsächlich die Kunst Raffaels getreu wiedergaben. Er rezipierte sie nicht in erster Linie als Kupferstiche von Marcantonio Raimondi, sondern als verlässliche Abbildungen von Raffaels Werk. Wenn Rembrandt sich demzufolge an diesen Stichen schulte, so tat er dies vor allem, um sich mit Raffaels Kunst auseinander zu setzen. Ferner weist Cornelis Hofstede de Groot auf die Käuferliste einer Auktion vom 9. bis 30. März 1637 hin, auf der Kunstwerke aus der Sammlung von Jan Bassé (um 1571–1637)
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Strauss / Meulen 1979, S. 368–369, Nr. 200. Strauss / Meulen 1979, S. 370–371, Nr. 216: Een dito seer groot met meest alle de wercken van Titian und ebenda, S. 374–375, Nr. 246: Een dito vol contrefijtsels van Mierevelt, Titiaen en andere meer. Eine Reproduktion nach Tizians Altargemälde der Assunta (Auferstehung Mariens), Venedig, Santa Maria die Frari, bildete die Grundlage für die Komposition des Rembrandt-Gemäldes der Himmelfahrt Christi, 1636, München, Alte Pinakothek, als drittem der insgesamt fünf Gemälde mit Passionsszenen, die er im Auftrag des Prinzen Frederik Henrik malte. Vgl. Gantner 1964, S. 54–60. Strauss / Meulen 1979, S. 370–371, Nr. 230. Een dito, vol vande wercken van Michiel Angelo Bonarotti. Vgl. ebenda, 384–285, Nr. 345. Een kindeken van Michael Angelo Bonalotti. [Sic!] Zu Tempesta siehe ebenda, S. 368–369, Nr. 207: Een dito vol printen van Antonj Tempest, Nr. 210: Een dito met gesneeden en geeste figuren van Antonij Tempeest, Nr. 211: Een dito groot boeck vanden selven, Nr. 212: Een dito boeck uts. Strauss / Meulen 1979, S. 369, Nr. 196: Een dito [boeck] met kopere printen van Raefel Urbijn; Nr. 205: Een dito met printen van Raefel Urbijn; Nr. 206: Een dito seer kostelijcke printen vanden zelven. Strauss / Meulen 1979, S. 371, Nr. 214: Een dito van Raefel Urbijn seer schoonen druck. Außerdem gibt es Alben mit Druckgrafik nach Francesco Vanni, von Federico Barocci, ein Album mit Druckgrafik von und nach Annibale, Agostino und Ludovico Caracci sowie Stiche nach Guido Reni. Strauss / Meulen 1979, S. 372–373, Nr. 232. Een dito met de bouleringe van Raefel, Roest (Giovanni Battista de’ Rossi) Hanibal Crats (Caracci) en Julio Bonasoni (Giulio Bonasone).
212 Rembra ndt u nd Ra i mond i : Die Referen z w ird verborgen
veräußert wurden.14 Rembrandt hat hier fleißig eingekauft und insgesamt 133 Gulden und 2 Stüber ausgegeben.15 Neben verschiedenen, nicht namentlich zugewiesenen Zeichnungen und Drucken wird auch „1 printje van Rafel“ zum beachtlichen Preis von 12 Gulden aufgeführt. Es muss sich hier ebenfalls um einen kleinen Stich nach Raffael gehandelt haben, der als Werk von Raffael aufgelistet wird. Auch am 9. Februar 1638 kaufte Rembrandt auf einer Auktion der von Gommer Spranger hinterlassenen Sammlung „2 printen van Rafel“ zum Preis von 7 Gulden und 10 Stüber.16 Weit über das erwähnte Inventar hinaus hat Rembrandt in seiner Tätigkeit als Kunsthändler und durch seinen sicherlich engen Austausch mit Verlegern und anderen Kunstsammlern eine wechselvolle Sammlungstätigkeit verfolgt. Die erwähnten Dokumente lassen keinen Zweifel daran, dass Rembrandt sich in der über die Druckgrafik vermittelten Kunst Italiens bestens auskannte. Zudem waren beide Lehrer Rembrandts, Jacob van Swanenburgh (1571–1638) und Pieter Lastman (um 1583–1633), nach Italien gereist und lassen in ihrem Werk vielfältige Bezüge zur Malerei der italienischen Renaissance erkennen. Daher ist anzunehmen, dass auch sie Rembrandt auf diesen reichen Formenschatz aufmerksam machten.17 Obwohl Rembrandt Holland nie verlassen hat, war er umfassend darüber in Kenntnis gesetzt, was andernorts an herausragender Kunst geschaffen wurde. Statt auf mühseligen Reisen weit verstreute Werke im Original zu betrachten, schuf er sich sein eigenes Museum auf Papier, das den Vorteil hatte, eine Vielzahl von unterschiedlichen Motiven und Stilen vergleichbar zu machen. In der eigenen Sammlung standen ihm diese Alben stets zur Verfügung und konnten unmittelbar im Entstehungsprozess eigener Werke zu Rate gezogen werden. So sind gerade seine umfassenden Bestände an Druckgrafik eine mögliche Ursache für Rembrandts Entschluss, gerade nicht nach Italien zu reisen.18 Denn er hatte erkannt, wie nützlich ihm Druckgrafik als Vermittler der italienischen Kunst sein konnte. Rembrandts Sammlung kann man sozusagen als „künstlerische Vorratskam-
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Hofstede de Groot 1906, S. 51, Quelle Nr. 51 und Strauss / Meulen 1979, Quelle Nr. 1637 / 2, S. 140–141. Am Ende der Auktion schickte er seinen Schüler Leendert Cornelisz., der sehr wahrscheinlich im Auftrag von Rembrandt Kunstwerke im Wert von 655 Gulden und 10 Stüber erwarb, darunter ein Kunstbuch von Lukas van Leyden zum Preis von allein 637 Gulden und 10 Stüber. Hofstede de Groot 1906, S. 56–57, Quelle Nr. 56 und Strauss / Meulen 1979, Quelle Nr. 1638 / 2, S. 150. Auf dieser Auktion kaufte Rembrandt vor allem Druckgrafik von Albrecht Dürer. Campbell 1975, S. 20: „Lastmans werk, waarin veel ontleningen van italiaanse schilderijen en beeldhouwwerken zijn te vinden, laat zien dat hij eigenlijk altijd onder de invloed van Raphael en Michelangelo is gebleven. Het is ondenkbaar, dat Lastman niet de jonge Rembrandt zou hebben gewezen op de bruikbaarheid van de vormenschat, die deze twee kunstenaars hadden de bieden.“ Scallen 2009, S. 265–266: „We might even say that Rembrandt was a more cosmopolitan figure than those artists who travelled extensively in Europe. Rembrandt encompassed the world instead – from the confines of his studio and in the streets of Amsterdam.“
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mer“ betrachten – als nützliche Quelle für Bildthemen und Darstellungsformen.19 Rembrandts Interesse an der Druckgrafik war nicht nur auf die Kenntnis der Motive und Stile vorbildlicher Künstler beschränkt. Vielmehr sammelte er Druckgrafik, weil er sich für die Geschichte und Entwicklung dieses Mediums interessierte und von den technischen Errungenschaften seiner Vorgänger auch für sein eigenes druckgrafisches Werk profitierte.20
Rembrandts Umgang mit Entlehnungen Zweifellos blieb eine so umfassende Sammlung von Kunst auf Papier nicht ohne Folgen für Rembrandts eigenes Werk. Nicht nur in der Zeit seiner Ausbildung zum Maler, sondern bis zum Ende seines Lebens beschäftigte sich Rembrandt mit herausragenden Bildschöpfungen anderer Meister.21 Seine Eigenständigkeit im Umgang mit den Vorbildern und seine in den meisten Fällen umfassende Transformation von Entlehnungen machen es dem Betrachter jedoch nicht leicht, Vorbilder überhaupt schlüssig zu identifizieren.22 Gerade weil Rembrandt die Entlehnungen seinem eigenen Stil anpasste, werden sie oft als eine gezielte Abwendung vom klassischen Ideal gewertet. Mögliche Bezüge zu gestochenen Vorlagen können daher weniger in Rembrandts Gemälden und Radierungen erkannt werden, als vielmehr in seinen Zeichnungen. Denn in diesen ersten skizzierten Entwürfen, bei denen ein neuer Bildgedanke erst
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Clark 1966, S. 43: „In the past, artists treated their collections as a poet like Petrarch treated his library, as a source of ideas, technique, and style.“ Hinterding / Luijten / Royalton-Kisch 2000, S. 11: „[Prints] were often purchased not only for their subjectmatter, or for purpose of study, but also because of the fame of the printmaker or designer. […] Artists themselves were always among the most enthusiastic collectors: from prints they could learn at a distance about the creations of renowned masters and acquire a wealth of motifs and figures to use in their own works. Some were content so see a few examples of others’ skills, but there were also insatiable enthusiasts who sought to build up a comprehensive fund of prints going back to the invention of the medium. Rembrandts Harmenszoon van Rijn belonged to this latter category.“ Ger Luijten weist im zitierten Aufsatz ebenfalls darauf hin, dass Rembrandt im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen seine Sammlung nicht nach Themen, sondern nach den Namen der entwerfenden Künstler ordnete. Kurita 1999, S. 23: „In contrast to Poussin, Rembrandt (1606–1669), who was active in Holland in the seventeenth century, has heretofore been considered as having little to do with the idea of classical tradition. Recently, however, scholars have begun rejecting this myth and elucidating the manner of his dependence on tradition and his creative process. Indeed, we can see just how many works of graphic art Rembrandt kept by his side from the inventory of his estate made when he declared bankruptcy in 1656. […] Rembrandt’s example proves just how important prints were in artist’s creative processes at that time.“ Campbell 1975, S. 23–24: „De invloeden die zijn waar te nehmen zijn steeds zo volledig geassimileerd aan Rembrandts eigen manier van doen, dat ‚le gout de Raphael‘, waar de Piles vergeefs naar zocht, voor ons evenmin uit zijn werk spreekt als voor zijn vroege biografen.“ Vgl. Clark 1966, S. 50–51: „We shall see again and again Rembrandt absorbing a motive so completely that we should be in doubt if there really were any direct connection with the earlier prototype, could we not, in several instances, follow the process step by step.“
214 Rembra ndt u nd Ra i mond i : Die Referen z w ird verborgen
Form gewinnt, ist klarer erkennbar, wie Rembrandt die aus verschiedenen Quellen entlehnten Ideen in neue Werke überführte. Dabei sind auch die Zeichnungen von deutlichen Veränderungen gegenüber der Vorlage geprägt. In dieser Vorgehensweise unterscheidet sich Rembrandt ausdrücklich von Poussin, der sich – wie gezeigt worden ist – erst im Zuge der detaillierten Formulierung des Bildgedankens auf der Leinwand auf einzelne Vorbilder bezog. Trotz dieser Tendenz, mögliche bildliche Quellen im Zuge der künstlerischen Adaption zu überwinden, haben eine Vielzahl kunsthistorischer Autoren stilistische und ikonografische Bezüge zu unterschiedlichsten Vorbildern in Rembrandts Werk erkannt. Zentrale Forschungsarbeit leisteten vor allem Johannes van Rijckevorsel, Joseph Gantner, Kenneth Clark, Christian Tümpel und Bernardus Broos.23 Auffällig ist, dass die Bestrebungen, Rembrandt nicht als isoliertes Genie zu betrachten, sondern ihn in seinen engen Verknüpfungen mit den Werken anderer Meister zu untersuchen, vor allem älteren Datums sind und in jüngeren Publikationen selten rezipiert werden. Die Skepsis gegenüber der Idee, Rembrandt habe sich an vorbildlichen Kunstwerken geschult, hat möglicherweise zwei Ursachen: Einmal scheinen Autoren, wie Rijckevorsel, beinahe willkürlich Verbindungen zu anderen Kunstwerken zu suchen, die sich lediglich anhand oberflächlicher formaler Ähnlichkeiten begründen lassen und in ihrer Vielzahl dazu verleiten, Rembrandt jegliche Fähigkeit zur eigenen Invention abzusprechen. Darüber hinaus haben Autoren, wie Kenneth Clark, die Tendenz, Rembrandt als einen Künstler zu charakterisieren, der von verschiedenen Kunstwerken beeinflusst worden sei. Clark erkennt hier zum Teil sogar unbewusst ablaufende Prozesse.24 Der Autor untersucht nicht nur Fälle im Werk Rembrandts, bei denen er gezielte Entlehnungen erkennt, die auf direkter Anschauung der Vorlage basieren, sondern auch solche Fälle, in denen er lediglich davon ausgeht, ein Motiv sei in das Bildgedächtnis des Künstlers übergegangen. Von dort sei es unbewusst in den Schaffensprozess wieder eingeflossen.25 Diese überholte Sichtweise, die dazu verleitet, dem entlehnenden Künstler Passivität zu unterstellen, wird vor allem von Harry Berger kritisiert, der Clarks Buch „Rembrandt and the Italian Renaissance“ seine Schrift
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Rijckevorsel 1932, Gantner 1964, Clark 1966, Tümpel 1969, Tümpel 1970 und Broos 1977. Clark 1966, S. 47: „This dialogue between art and life may be studied in two drawings of women and children, one in Dresden, the other in the Speelman Collection. The former is an obvious reminiscence of Raphael’s Madonna della Sedia. […] The other drawing, although in precisely the same style, has all the appearance of a direct notation, and probably was drawn from life, in so far as this is true of any fugitive pose. But Rembrandt’s mind was still occupied by the Madonna della Sedia, and so the child, omitted in his direct reminiscence, reappeared unconsciously in a sktech of a thing seen.“ Clark 1966, S. 46–47: „Just as he [Rembrandt] did not distinguish between episodes in biblical history and scenes from life around him, so he passes imperceptibly from a remembered motive to a direct notation.“ Vgl. Ebenda, S. 52: „We can even say that his memories of works of art were always present in his mind like tough moulds into which he could pour his immediate sensations.“
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„Rembrandt against the Italian Renaissance“ entgegensetzt.26 Dabei stellt Berger keineswegs die vielen Bezüge infrage, die Clark zwischen Rembrandts Œuvre und Werken italienischer Meister, wie Mantegna, Leonardo und Raffael, erkennt. Jedoch legt er den Schwerpunkt seiner Untersuchung auf die Beschreibung der aktiven Prozesse der Aneignung künstlerischer Vorbilder. Berger regt zudem dazu an, den Fokus jeweils auf das Kunstwerk selbst und nicht auf mögliche gedankliche Prozesse des Künstlers zu lenken, denn Letztere müssen Spekulationen bleiben. Svetlana Alpers hält hingegen viele von Clark angeführte Beispiele der motivischen Entlehnung schlichtweg für nicht überzeugend. Formale Ähnlichkeiten führt sie auf konventionelle Ausdrucksformen in der Kunst zurück und nicht auf spezifische Bildquellen.27 Meiner Auffassung nach sind viele von Rijckevorsel, Clark oder Gantner erkannte Bezüge in Rembrandts Werk auf italienische Vorbilder durchaus plausibel. Jedoch lässt sich daraus nicht der Schluss ziehen, Rembrandt sei durch die Beschäftigung mit der Kunst Italiens zum klassischen Künstler geworden.28 Sein Verhältnis zur Kunst Italiens war weder das eines bewundernden Schülers, noch das eines ablehnenden Rebells, sondern das eines freien Geistes, der ein Vorbild aus einer Vielzahl verschiedener Gründe zu Rate ziehen konnte, je nachdem, welche bildnerischen Probleme er gerade zu lösen beabsichtigte.29 Wann immer man Bezüge zu Kunstwerken anderer Meister im Œuvre Rembrandts erkennt, muss man seine Eigenständigkeit mitdenken, mit der er aus einer Vielzahl von Quellen Anregungen schöpfte und sie zu einem autonomen Werk weiterentwickelte.30 Sicherlich war die Beschäftigung mit druckgrafischen Vorlagen nur eine unter vielen Inspirationsquellen Rembrandts. Das Studium nach der Natur, die Aufmerksamkeit für menschliche Emotionen und Reaktionen war die wesentliche Triebfeder seiner Kunst. Dennoch gilt es hervorzuheben, das Rembrandt kein Künstler war, der ohne jegliche Vorbilder auskam.
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Berger 2000, vor allem S. 427–461. Alpers 1970, S. 327: „conventional gestures in art without any specifiable sources“ Vgl. Ebenda: „Naming sources has become an almost automatic procedure for most art historians, but we should try to make distinctions between the kind of relationships different artists have to their sources. It is misleading to treat Rembrandt in this respect as if he were Rubens, an artist who was programmatic in both the use and display of his sources.“ Broun / Shoemaker 1981, S. 31: „Artists such as Rembrandt turned to engravings as a dictionary, browsing for ideas, rather than as a textbook for the study of classical style. The poses and gestures transmitted by Marcantonio’s prints helped create a lingua franca spoken even by artists who, like Rembrandt, were fundamentally oriented toward a non-classical mode of expression.“ Baldwin 1984, S. 28: „Instead of studying Rembrandt in relation to Italy, it is more appropriate to examine Rembrandt’s many quotations from Italy (and antiquity) within the framework of his own developing aesthetic and its relation to northern traditions. In this way, the Italian „influences“ help us avoid two stereotypes: Rembrandt the great assimilator of the classical tradition, and Rembrandt the premodern rebel against the „lie“ of that tradition.“ Tümpel 1986, S. 312: „Nie verliert Rembrandt das Ziel aus dem Auge, in der Auseinandersetzung mit den großen Künstlern neue, bewegende und zugleich psychologisch wahre Meisterwerke zu schaffen.“
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Durch die Beschreibung von Referenzen einzelner Werke Rembrandts auf druckgrafische Vorlagen soll im Folgenden überprüft werden, in welcher Form Rembrandt aus seiner Sammlung wertvolle Anregungen schöpfte. Roger de Piles, der von Rembrandts umfassender Kunstsammlung wusste, hatte beklagt, dass Rembrandt daraus keinen Vorteil für seine Kunst gezogen habe: „dont il n’a pas profité“.31 Diese Aussage gilt es zu widerlegen. Darüber hinaus soll gezeigt werden, welche Haltung Rembrandt gegenüber den italienischen Vorbildern einnahm. Es reicht nicht, mögliche bildliche Quellen für die Kunst Rembrandts nur zu identifizieren. Wesentlich ist es zu beschreiben, was Rembrandt aus diesen Vorbildern machte. Zudem ist es aufschlussreich zu untersuchen, welche Implikationen es hat, dass Rembrandt nur ein vermitteltes Abbild italienischer Kunst erhielt. Die Gründe für Rembrandts Rezeption italienischer Vorbilder in seinem gezeichneten, radierten und gemalten Werk sind vielfältig: Neben Entlehnungen einzelner Figuren aus rein formalen Gründen, der Adaption von Bildkompositionen sowie der technischen Schulung an druckgrafischen Vorbildern, steht die aemulatio – der künstlerische Wettstreit mit Raffael und anderen Vorbildern – sicherlich im Vordergrund. Dies wird offensichtlich anhand des oft beschriebenen Vergleichs von Raffaels Porträt des Baldassare Castiglione mit Rembrandts radierten und gemalten Selbstbildnissen aus den Jahren 1639 und 1640, die er auf dem Höhepunkt seines künstlerischen und gesellschaftlichen Erfolgs angefertigt hatte.32 Ohne Zweifel überblendet Rembrandt hier die Referenzen auf mehrere Vorbilder.33 Neben Raffaels Bildnis fließen
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Piles 1969, S. 433: „Il ne laissoit pas, malgré sa manière, d’être curieux de beaux desseins d’Italie, dont il avoit un grand nombre aussi bien que de belles estampes, dont il n’a pas profité : tant il est vray que l’éducation & l’habitude ont beaucoup de pouvoir sur nos esprits.“ 32 Raffael, Porträt des Baldassare Castiglione, Öl auf Leinwand, 82 × 67 cm, vor 1516, Paris, Musée du Louvre, Inv. Nr. 611. Raffaels Porträt des Baldassare Castiglione hatte Rembrandt auf der Auktion der Sammlung von Lukas van Uffelen am 9. April 1639 gesehen. Vermutlich aus dem Gedächtnis fertigte er anschließend eine flüchtige Skizze, die vor allem deutliche Abweichungen hinsichtlich der Kopfbedeckung aufweist: Feder in Braun, mit dem Pinsel laviert, Deckweiß, 163 × 207 mm, 1639, Benesch 1973, Bd. II, Kat. Nr. 451, Abb. Nr. 538, Wien, Graphische Sammlung Albertina, Inv. Nr. 8859, oben links beschriftet: „de Conte/ batasar de / Kastijlyone / van raefael”, oben rechts beschriftet: „verkoft / voor 3500 gulden”, unten beschriftet: „het geheel caergeson tot Luke van Nuffeelen / heeft gegolden f 59456 :–: An[n]o 1639“ (Vom Conte Baldassare Castiglione von Raffael, verkauft für 3500 Gulden, die gesamte Sammlung von Lukas van Uffelen brachte 59 456 Gulden ein.) Vgl. Rembrandt, Selbstbildnis, auf eine steinerne Mauer lehnend, Radierung und Kaltnadel, 205 × 164 mm, 1639, White / Boon 1969, S. 9–10, Bartsch 21. Zwei Zustände. U.a. London, British Museum, Inv. Nr. 1868,0822.656 sowie Rembrandt, Selbstbildnis im Alter von 34 Jahren, Öl auf Leinwand, 93 × 80 cm (oben abgerundet), 1640, London, National Gallery, Inv. Nr. 672. Auch Rubens hat das Bildnis des Baldassare Castiglione in einem Gemälde kopiert und ihm dabei ein deutlich weniger idealisiertes Antlitz gegeben: Öl auf Holz, 90,2 × 67,5 cm, 1630, London, Courtauld Institute, Inv. Nr. P.1978.PG.373, ehemals Sammlung Antoine von Seilern. Rubens hat im Gegensatz zu Rembrandt jedoch nicht das originale Bildnis Raffaels gesehen, sondern seine Kopie nach einer anderen Kopie gefertigt. Vgl. Maison 1960, Abb. 71. 33 Hofstede de Groot 1894, S. 180–181, White / Buvelot 1999, S. 170–175, Kat. Nr. 53–54; Hinterding / Luijten / Royalton-Kisch 2000, S. 166–170, Kat. Nr. 34, Gantner 1964, S. 66–70 und
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auch wesentliche Elemente von Tizians Porträt des sogenannten Dichters Ariost in seine Selbstbildnisse ein.34 Indem Rembrandt sich in ebenso prächtiger Kleidung und einem ebensolchen Habitus wie die Porträtierten darstellt, beansprucht er für sich eine gleichwertige Legitimation als herausragender Künstler in privilegierter sozialer Stellung. Er vergleicht sich damit nicht nur mit den italienischen Meistern, welche diese Werke geschaffen haben, sondern stellt sich auch in die direkte Nachfolge der Porträtierten – des Hofmannes einerseits und des gefeierten Renaissancepoeten andererseits. Rembrandt war im sozialen Sinn ein Emporkömmling – ein Müllersohn, der es geschafft hatte, mit Saskia van Uylenburgh (1612–1642), einer Frau aus höherer sozialer Stellung, eine Ehe einzugehen. Diesen Anspruch untermauert er in der bildlichen Darstellung seiner selbst. Nicht zuletzt durch seine eindringliche Präsenz im Bild, die unter anderem durch den über die Balustrade in den Bildraum des Betrachters hineinragenden Unterarm ausgelöst wird, macht Rembrandt deutlich, dass von nun an mit ihm zu rechnen sei. Dennoch ist der künstlerische Wettstreit mit einzelnen herausragenden Vorbildern nicht die einzige Motivation Rembrandts für die künstlerische Nutzung bildlicher Vorlagen. Oftmals wählte Rembrandt einen Stich oder eine Zeichnung allein deshalb als Ausgangspunkt für sein eigenes Werk, weil sie ein für seine Bildzwecke nützliches Motiv lieferten. Es ist dabei nicht entscheidend, ob der Künstler, auf dessen Werk sich Rembrandt bezieht, einen großen Namen hat oder ob die jeweilige Bildschöpfung in besonderer Weise gelungen ist. Denn durch Rembrandts Arbeitsweise, ein Vorbild in der künstlerischen Aneignung unmittelbar kritisch zu durchdenken und umzuformen, können auch gewöhnliche Bildschöpfungen den Kern einer Bildidee enthalten, der für Rembrandts Werk nützlich ist.35
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Jongh 1969, S. 54: „In this period of social and artistic forwardness, Rembrandt not only let himself be inspired but even lured into rivalry – in two ways. On the one hand, he seems to have entered into competition with the highly esteemed Titian, thereby opposing himself as etcher and painter to a painter, and, on the other hand, with the person portrayed by Titian, thus opposing himself as a painter to a famous poet.“ Eddy de Jongh vertritt die Ansicht, dass ausschließlich Tizians Bildnis als Referenz für Rembrandts Selbstporträts angesehen werden darf, doch sind die formalen Anleihen bei Raffael offensichtlich. Tizian, Porträt eines Mannes, Öl auf Leinwand, 81,2 × 66,3 cm, um 1510, London, National Gallery. Man hat stets angenommen, dass auf dem Porträt Tizians der Renaissance-Dichter Lodovico Ariosto (1474–1533) dargestellt sei, doch ist die Identität des Porträtierten keineswegs gesichert. Auch Rembrandt hatte das Bild, das er in der Privatsammlung des Diplomaten Don Alfonso Lopez (1572–1649) gesehen hatte, unter dieser Zuschreibung kennen gelernt. Ebenso wird in der Literatur auf das Selbstbildnis Albrecht Dürers, Öl auf Holz, 52 × 41 cm, 1498, Madrid, Museo del Prado, verwiesen, bei dem ebenfalls des Künstlers Unterarm auf einer Balustrade ruht. Rijckevorsel 1932, S. 193 : „Rembrandt laat ons telkens gelooven, dat toch niet kunstwaarde zoozeer den doorslag gaf bij een overname als wel de bruikbaarheid voor een of andere conceptie. De meest gewone prent kon voor hem een waardevol gegeven bevatten en hem inspireeren tot een rake schets of een ander groot kunstwerk.“
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Exkurs: Über die Druckgrafik vermittelte italienische Vorbilder für das Werk Rembrandts Im Folgenden werden exemplarisch einzelne Entlehnungen Rembrandts von druckgrafisch vermittelten italienischen Vorbildern untersucht. Dabei liegt die Frage zugrunde, ob sich die an diesen Beispielen beobachtbaren Strategien der kreativen Aneignung auch auf die Vorgehensweise bei der Bezugnahme auf Kupferstiche Marcantonio Raimondis übertragen lassen. Vor allem im Bereich seiner Zeichnungen und auch einiger druckgrafischer Werke sind die Entlehnungen Rembrandts aus italienischen Kupferstichen und Radierungen offensichtlich. Selbst eine Medaille diente ihm als nützliche Motivvorlage, als er seine außergewöhnliche Kaltnadelarbeit Die Drei Kreuze im vierten Zustand komplett überarbeitete und unterhalb des linken Schächers einen Reiter nach dem spiegelverkehrten Vorbild Antonio Pisanos, genannt Pisanello (1395–1455) einfügte.36 Ebenfalls in eine Radierung mündete Rembrandts Interesse für Annibale Caraccis Radierung Jupiter und Antiope, welche Rembrandt 1659 spiegelverkehrt wiederholte.37 Auch Antonio Tempestas Radierungen waren für Rembrandt ein beliebtes Studienobjekt.38 Unter anderem vereinte er in seiner Dresdener Rohrfederzeichnung von Diana und Aktäon Motive aus zwei Radierungen Tempestas, nämlich Diana und
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Es handelt sich um den römischen Soldaten Longinus, den Rembrandt hier einfügte. Siehe: Rembrandt, Der gekreuzigte Christus zwischen den beiden Schächern, auch genannt Die drei Kreuze, Kaltnadel und Grabstichel, 385 × 450 mm, im 3. Zustand in der Platte signiert und datiert: Rembrandt f. 1653, White / Boon 1969, S. 43–44, Kat. Nr. B. 78. Ein Abzug des vierten Zustands befindet sich unter anderem in Amsterdam, Rijksprentenkabinet. Vgl. Hofstede de Groot 1894, S. 178, Rijckevorsel 1932, S. 193–195, Bevers / Schatborn / Welzel 1991, S. 264–269, Kat. Nr. 35 sowie Althaus 2005, S: 183–185, Kat. Nr. 77. Vgl. Antonio Pisano, Medaille mit dem Reiterbildnis des Gianfrancesco Gonzaga, um 1440, Bronze, Durchmesser: 85 mm, Berlin, Staatliche Museen, Münzkabinett. 37 Rembrandt, Jupiter und Antiope, große Platte, Radierung, Kaltnadel und Grabstichel, 138 × 206 mm, in der Platte signiert und datiert ‚Rembrandt 1659‘, White / Boon 1969, B 203, nach Annibale Caracci, Jupiter und Antiope (auch genannt: Venus und Satyr), Radierung und Grabstichel, 154 × 223 mm, unten links in der Platte datiert und monogrammiert: 1592, A.C., B. XVIII, 105, 17. Bereits 1631 hatte sich Rembrandt dem Thema von Jupiter und Antiope in einer Radierung gewidmet. Diese deutlich kleinere Radierung entstand vermutlich ohne den Rückgriff auf ein italienisches Vorbild, siehe White / Boon 1969, B. 204. 38 So zum Beispiel im Fall der Radierungen Die kleine Löwenjagd und Die große Löwenjagd (White / Boon 1969, Kat. Nrn. B 115 und B 114). Vgl. Althaus 2005, S. 72–73, Kat. Nr. 72. Einzelne Figuren (die Idee des vom Pferd gestürzten und von Löwen angefallenen Reiters) und vor allem die Tiere sind aus der radierten Serie von Jagdszenen Tempestas entlehnt (B. XVII, 94, 1148–57), Vgl. Broos 1985, S. 68–69, Kat. Nr. 56 und 57 und Hinterding / Luijten / Royalton-Kisch 2000, S. 189–191, Kat. Nr. 42. Doch kombinierte Rembrandt hier sicherlich Ideen aus mehreren Quellen, auch Rubens’ Ölskizzen von Löwenjagden oder Radierungen danach könnten eine Inspirationsquelle für ihn gewesen sein.
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Aktäon und Diana und Callisto.39 Auch seine radierte Fassung von Joseph und Potiphars Weib geht auf eine gleichnamige Vorlage Tempestas zurück.40 Das bekannteste Beispiel für Rembrandts Auseinandersetzung mit einem über die Druckgrafik vermittelten italienischen Vorbild sind seine gezeichneten Studien nach Leonardos Abendmahl.41 Nach dem 1497 vollendeten Fresko im Refektorium des Klosters Santa Maria delle Grazie in Mailand hat unter anderem Giovanni Pietro da Birago eine Reproduktionsgrafik angefertigt, die sich vom gemalten Vorbild durch einen Hund am rechten unteren Bildrand unterscheidet, welcher an einem Knochen nagt (Abb. 86).42 Da der Hund auch von Rembrandt in der ersten seiner drei Skizzen übernommen wurde, kann man eindeutig nachweisen, auf welchen Stich er sich bezieht (Abb. 87).43 Die New Yorker Rötelstudie mit dem genannten Hund besteht aus zwei übereinander liegenden Strichlagen. Während Rembrandt in einem ersten Schritt mit harter Rötelkreide die einzelnen Figuren getreu nach der gestochenen Vorlage nachgeahmt hat, verändert er in einem zweiten Schritt die Entlehnung deutlich. Mit kräftigen Strichen der weicheren Rötelkreide interpretiert er die Physiognomie jedes einzelnen Apostels neu, wobei er auch das jeweilige Gestenspiel und die Funktion der Akteure im Bild genau durchdenkt. Dabei gilt seine Aufmerksamkeit vor allem Christus und Judas, deren emotionaler Ausdruck gegenüber dem Vorbild gesteigert wird. Christus ist nun leicht nach links aus dem Bildzentrum gerückt und wird durch einen hellen Strahlenkranz hervorgehoben. Zudem zeichnet ihn ein großer Baldachin aus,
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Rembrandt, Diana und Aktäon, Rohrfeder und Pinsel in Bister, z.T. mit Weiß abgedeckt, 248 × 349 mm, um 1662–1665, von fremder Hand bezeichnet ‚Rembrant‘, Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. C 1384, Benesch 1973, Bd. V, Kat. Nr. 1210, Abb. Nr. 1510 – nach Antonio Tempesta, Diana und Aktäon, Radierung, 238 × 328 mm, B. XVII, 86, 823 und ders. Diana und Callisto, Radierung, 238 × 328 mm, B. XVII, 86, 822. Diese beiden Radierungen waren vermutlich bereits von Tempesta als Pendants gedacht. Rembrandt, Joseph und Potiphars Weib, Radierung, 110 × 83 mm, in der Platte signiert und datiert ‚Rembrandt f. 1634‘, White / Boon 1969, B. 39. Vgl. Antonio Tempesta, Joseph und Potiphars Weib, Radierung, um 1600, B. XVII, 72, 72. Von Bartsch nicht einzeln nummeriert, vgl. Leuschner 2004, S. 50, Nr. 72. Hinterding / Luijten / Royalton-Kisch 2000, S. 128, Kat. Nr. 20. Clark 1966, S. 54–56. Giovanni Pietro da Birago, Das Abendmahl mit dem Cockerspaniel, Kupferstich, um 1500, 223 × 447 mm, in der Platte bezeichnet ‚‚Amen dico vobis quia unus vestrum me traditurus es‘, (Passavant 1860–1864, Bd. V, S. 181, Nr. 4) Vgl. Alberici 1984, S. 59, Kat. Nr. 38. Im genannten Mailänder Katalog werden auf den Seiten 49–100 sämtliche Reproduktionsstiche nach Leonardos Fresko beschrieben. Auf einigen von ihnen wird aus dem Hund rechts unten eine Katze. Siehe auch: Haverkamp-Begemann / Logan 1988, S. 115–119, Kat. Nr. 31, Abb. 31-1, Vgl. Ebenda, S. 19: „When Rembrandt reworked a model, the result sometimes was as much an invention of his own as a copy of another artist’s work as in his redefinition of Leonardo’s Last Supper. His work in general, so thoroughly incorporated the art of Italy as well as of other cultures, whether German or Mughal, that their fundamental importance, as catalysts rather than examples, becomes apparent only with close study.“ Rembrandt, Abendmahl, Rötel, 362 × 475 mm, 1634–1635, unten rechts signiert ‚Rembrant f.‘, New York, The Metropolitan Museum, Robert Lehmann Collection, Inv. Nr. 1975.1.794, Benesch 1973, Bd. II, Kat. Nr. 443, Abb. Nr. 531.
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86 Giovanni Pietro da Birago, Das Abendmahl mit dem Spaniel, Kupferstich, 223 × 447 mm
87 Rembrandt, Abendmahl, Rötel, 362 × 475 mm, 1634–1635
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88 Rembrandt, Abendmahl, Rötel, weiß gehöht, 125 × 210 mm
der in der gestochenen Vorlage nicht vorkommt. Die zentralperspektivische Gliederung der Halle wandelt Rembrandt in einen bildparallel abschließenden Raum um, der sich nicht in die Tiefe erstreckt. Zudem gibt es im British Museum eine Rötelstudie Rembrandts, die allein die beiden linken Apostelgruppen zeigt, wobei vor allem die äußere Gruppe deutlich umgeformt wird (Abb. 88).44 Martin Royalton-Kisch weist für diese Rötelzeichnung eine weitere Vorlage nach, nämlich eine Zeichnung von Pieter Soutman nach Rubens, mit der Soutman seine Radierung nach Rubens vorbereitet hat.45 Die Radierung Soutmans wurde von zwei Platten gedruckt, die Zeichnung aus Chatsworth gibt nur den rechten Teil der Komposition wieder. Rembrandt wählt denselben Ausschnitt, was vermutlich darauf zurückzuführen ist, dass auch seine Vorlage eben nur einen Teil der Gesamtkomposition enthielt. RoyaltonKisch weist weitere Ähnlichkeiten in Details nach und unterstreicht damit die These, dass Rembrandt insgesamt auf verschiedene Vorlagen zurückgegriffen hat, um sich über Leonardos Vorbild zu informieren. Das Blatt aus dem British Museum markiert einen Übergang zur Berliner Federzeichnung, die von Rembrandt signiert und mit
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Rembrandt, Abendmahl, Rötel, weiß gehöht, 125 × 210 mm, beschnitten, am unteren Blattrand sind Teile der Signatur Rembrandts noch sichtbar, London, British Museum, Inv. Nr. 1900,0611.7, Benesch 1973, Bd. II, Kat. Nr. 444, Abb. Nr. 532. Vgl. Royalton-Kisch 1992, S. 59–61, Kat. Nr. 14. Royalton-Kisch, Martin, Catalogue of Drawings by Rembrandt and his School in the British Museum, 2010, online verfügbar: http://www.britishmuseum.org/research/publications/ online_research_catalogues/rembrandt_drawings/drawings_by_rembrandt.aspx, letzter Ab ruf am 24.07.2015, Kat. Nr. 11, die Zeichnung Soutmans nach Rubens befindet sich in Chatsworth, Jaffé 2002, Bd. II, Nr. 1275, Vgl. Anmerkung Nr. 16, S. 165.
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89 Rembrandt, Abendmahl, Feder und Pinsel in braun und hellbraun, weiß gehöht, 125/129 × 385 mm
1635 datiert worden ist (Abb. 89).46 Hier schreitet der äußerste linke Apostel energisch auf die Szene zu und unterscheidet sich damit deutlich vom Stich Biragos, wo er in einer gelasseneren Pose dargestellt wird, bei der er mit beiden Händen auf dem Tisch ruht. In dieser letzten gezeichneten Aneignung ändert Rembrandt die streng symmetrische Gliederung der Komposition der Vorlage vollkommen. Statt die Apostel weiterhin in vier Gruppen von je drei Personen anzuordnen, drängen sich nun zwei Vierergruppen um den aus dem Zentrum gerückten Christus, wobei die Szene links und rechts jeweils von einer Zweiergruppe abgeschlossen wird. Aus der ausgewogenen Komposition des Vorbildes wird ein barockes, dynamisches Auf und Ab der teils sitzenden, teils stehenden, heftig gestikulierenden Apostel. Mit einer Vielzahl von Korrekturen und übereinander gesetzten Strichlagen ringt Rembrandt um die neue Bildlösung. Festzuhalten bleibt, dass sich Rembrandt vor allem deshalb mit dem Stich Biragos und der Zeichnung Soutmans in drei Studien auseinandersetzte, weil er sich Leonardos Komposition aneignen wollte. Dabei wählte er nicht zufällig ein Vorbild, dass sich auch Rubens angeeignet hatte.47 Rembrandt suchte nach einer vorbildlichen Bildlösung für eine Abendmahlsszene, doch widersprachen die symmetrische Komposition und die idealisierten Posen des Vorbilds dem von ihm angestrebten Bildsinn. 46
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Rembrandt, Abendmahl, Feder und Pinsel in braun und hellbraun, weiß gehöht, 125/129 × 385 mm, signiert und datiert ‚Rembrandt f. 1635‘, am rechten Rand vom Künstler ein Stück Papier ergänzt, vermutlich am oberen Rand beschnitten, von anderer Hand quadriert und nummeriert, signiert und datiert ‚Rembrandt f. 1635‘, Berlin, SMPK, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. KdZ 3769, Benesch 1973, Bd. II, Kat. Nr. 445, Abb. Nr. 533, Bevers 2006, S. 42–46, Kat. Nr. 7. Rubens hatte zwar das Original Leonardos in Mailand gesehen, doch eignete er sich auch Marcantonio Raimondis oder Marco Dentes Stich nach Raffael mit dem Thema des Abendmahls an, denn die dort gezeigte Geste des Apostels zur Rechten Christi, der die Hände vor die Brust schlägt, greift Rubens in einer Skizze auf, die sich in Chatsworth befindet: Devonshire Collection, Trustees of the Chatsworth Settlement, Inv. Nr. 1007A, Feder in Braun, braun laviert, 283 × 444 mm, vgl. Jaffé 1993, S. 168–169, Kat. Nr. 184.
Rembra ndt u nd Ra i mond i : Die Referen z w ird verborgen 223
Rembrandts Ziel war es, vor allem die Dramatik des Moments bildlich zu erfassen, in welchem Jesus den Verrat und damit seinen baldigen Tod ankündigt. Dabei sollten die seelischen Zustände der einzelnen Apostel und ihre unterschiedlichen Reaktionen auf die Ankündigung Christi, wie Furcht und Bestürzung, genau charakterisiert werden.48 Auch Leonardo hatte durch ein abwechslungsreiches Spiel von Mimik und Gestik der einzelnen Apostel eine Vielfalt unterschiedlicher Gemütszustände charakterisiert. Allerdings war es Birago nicht gelungen, dies auch zu vermitteln. Rembrandt kann sich aus eigener Imagination heraus in die Brisanz der geschilderten Situation versetzen und die innere Bewegtheit der Apostel, die sich in äußerer Dynamik widerspiegelt, überzeugend erfassen. Auch wenn Rembrandt nie eine eigene Fassung des Abendmahls gemalt hat, prägt die Komposition von Leonardos Fresko sein weiteres Schaffen und wird in Werken, wie Christus in Emmaus oder Simson gibt den Hochzeitsgästen ein Rätsel auf, einen Nachhall finden. Vergleicht man Rembrandts Beschäftigung mit Leonardos Abendmahl mit van Dycks Zeichnung nach Raimondis Stich gleichen Themas (Abb. 69), so wird deutlich, dass beide Künstler sich ihre jeweilige Vorlagen auf unterschiedliche Weise aneignen. Für van Dyck geht es nur um eine hastig hingeworfene Notiz als Erinnerungsstütze, Rembrandt hingegen durchdenkt die Vorlage kritisch und ist bestrebt, die emotionale Brisanz der Szene in den drei aufeinander folgenden Skizzen mehr und mehr hervorzuheben.49 Neben Leonardo war vor allem Andrea Mantegna ein wichtiges Vorbild für Rembrandt. In einer detailgenauen Skizze wiederholte er die Zeichnung Mantegnas Die Verleumdung des Apelles (Abb. 90 und 91).50 Dies ist ein absoluter Ausnahmefall, in 48
Busch 2004, S. 206: „So wie die klassische Kunst die Form idealisiert, potenziert die unklassische den Ausdruck.“ 49 Stellt man sich die Relationen zwischen den genannten Kunstwerken in Form eines Stammbaumes vor, so ist der Ursprung ohne Zweifel das Fresko Leonardos. Diese Vorbild wird von verschiedenen Künstlern über verschiedene Filiationsketten weitergegeben. Da ist einmal der Weg über die Zeichnung Raffaels aus Windsor, die in einen Stich Raimondis übertragen (von Marco Dente kopiert) und dann von van Dyck zeichnend wiederholt wird. Die andere Filiationskette geht über eine heute verlorene Zeichnung von Rubens nach Leonardo, die in einer Zeichnung von Pieter Soutman wiederholt und von ihm dann in eine Radierung übertragen wird. Diese Radierung dient Rembrandt neben einem Stich Biragos nach Leonardo als Vorbild. Sicherlich ließen sich noch viele ähnliche Bezüge herausarbeiten, da Leonardos Fresko bekanntermaßen eines der meist zitierten Vorbilder der abendländischen Kunstgeschichte ist. 50 Andrea Mantegna, Die Verleumdung des Apelles, Feder in Braun, braun laviert, bezeichnet: ‚Sospicione‘, ‚Ignoratia‘, ‚ividia‘, ‚Calumnia/di Apelle‘, ‚Inocentia‘, ‚decptione‘, ‚Insidio‘ and ‚Verita‘, 206 × 379 mm, um 1504–1506, London, British Museum, Inv. Nr. 1860,0616.85. Vgl. Rembrandt, Die Verleumdung des Apelles, Feder in Braun, braun laviert, bezeichnet: ‚susp[ic]ione [?]‘; ‚inoracia‘; ‚ividia [unterhalb der Figur]‘; ‚CaLomnia/d’apella [unterhalb der Figur]‘; ‚acnoni [?]‘; ‚inocencia [unter dem Kind]‘; ‚insidia [?]‘; ‚penitencia‘ und ‚Veritas‘, verso: Plan einer Burganlage von früherer Hand, 263 × 593/432 mm, an beiden Seiten Papier angesetzt, um 1652–1654, London, British Museum, Inv. Nr. 1860,0616.86, Benesch 1973, Bd. V, Kat. Nr. 1207, Abb. Nr. 1507, Vgl. Royalton-Kisch 1992, S. 123–125, Kat. Nr. 53: „Yet despite the effort of replication the present drawing has many characteristics that are Rembrandt’s own. The freedom with which it is executed, without a preparatory underdrawing,
224 Rembra ndt u nd Ra i mond i : Die Referen z w ird verborgen
90 Andrea Mantegna, Die Verleumdung des Apelles, Feder in Braun, braun laviert, 206 × 379 mm, um 1504–1506
91 Rembrandt (nach Mantegna), Die Verleumdung des Apelles, Feder in Braun, braun laviert, 263 × 593/432 mm, um 1652–1654
Rembra ndt u nd Ra i mond i : Die Referen z w ird verborgen 225
welchem sich Rembrandt ein italienisches Vorbild in einer gezeichneten Studie genauestens aneignet.51 Mit großer Wahrscheinlichkeit war Rembrandt im Besitz der Zeichnung Mantegnas. Sie könnte Teil des im Inventar erwähnten kostbaren Buchs mit Werken Mantegnas gewesen sein. Rembrandt hat sicherlich nicht den Stich von Girolamo Mocetto (Bartsch XIII.113.10) nach Mantegnas Zeichnung als Vorlage benutzt, weil sich dieser von den genannten Zeichnungen deutlich unterscheidet, unter anderem durch die Ergänzung eines architektonischen Hintergrunds. Hatte Rembrandt die Vorlagen nach Leonardos Abendmahl unmittelbar kritisch durchdacht und in den Nachzeichnungen verändert, so folgt er hier dem Vorbild möglichst getreu, als wolle er es durch die Nachzeichnung besser verstehen lernen. Ein anderer Grund für die recht genaue Nachzeichnung könnte darin bestanden haben, dass er das Blatt Mantegnas in Erinnerung behalten wollte, bevor es gemeinsam mit seinem gesamten Kunstbesitz verkauft wurde. Rembrandt passt sich dem Vorbild sogar so genau an, dass er auch den Stil der Inschriften nachahmt, auch wenn ihm dabei geringfügige Rechtschreibfehler unterlaufen, weil er die italienischen Inschriften des Vorbilds nicht genau entziffern kann. Rembrandts Strichführung ist nicht so sicher wie bei seinen eigenständigen Erfindungen, was damit begründet werden kann, dass er hier einer fremden Handschrift zu folgen versucht. Für alle anderen Entlehnungen kann festgehalten werden, dass Rembrandt Werke anderer Meister lediglich hinsichtlich einzelner Aspekte als Anregung nutzt – seien sie motivischer oder stilistischer Art.52 Nicht nur hinsichtlich außergewöhnlicher Bilderfindungen war Mantegna ein wichtiges Vorbild für Rembrandt. Dessen Meisterstich Madonna mit dem Kind (Abb. 92, Bartsch XIII.232.8) war für Rembrandt auch deshalb ein geschätztes Studienobjekt, weil er hier nachahmenswerte Lösungen für die Beherrschung druckgrafischer Aus-
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has led to several minor differences and omissions of detail, but more than in these the contrast lies in the two artists’ fundamentally different approaches to form, Rembrandt’s the more ethereal and diaphanous, Mantegna’s the more definite and immutable.“ Die Zeichnung Die Grablegung Christi nach Andrea Mantegna (Feder in brauner Tinte, braun laviert, über Vorzeichnung in Rötel, weiß gehöht, 267 × 390 mm, New York, Metropolitan Museum, Inv. Nr. 1972.118.285, Slg. Walter C. Baker, 1971) ist in ihrer Zuschreibung an Rembrandt umstritten, wie Martin Royalton-Kisch und David Ekserdjian dargelegt haben: Royalton-Kisch / Ekserdjian 2000, S. 53: „The character of the penwork, especially in the figures, bears only a cursory resemblance to Rembrandt‘s style as it may be documented in the 1650s and 1660s, the period to which the Entombment probably belongs.“ Aufgrund der deutlichen Unterschiede dieser Zeichnung zum entsprechenden Kupferstich Mantegnas stellen Royalton-Kisch und Ekserdjian die These auf, die Rembrandt zugeschriebene Zeichnung sei nicht nach dem Stich, sondern nach einer heute verlorenen Mantegna-Zeichnung entstanden. Diese Zeichnung könnte sich im Besitz Rembrandts befunden haben und dort von einem Werkstattmitglied als Übungsvorlage benutzt worden sein. Auch Benesch hatte ihre Authentizität angezweifelt, unter anderem, weil die Kombination verschiedenster Zeicheninstrumente für Rembrandts Vorgehensweise ungewöhnlich sei, Vgl. Benesch 1973, Bd. VI, Kat. Nr. A105a, Abb. Nr. 1773, siehe auch: Clark 1966, S. 146–152. Ausgenommen von dieser Regel sind Rembrandts Zeichnungen nach Moghulminiaturen, vgl. Royalton-Kisch 1992, S. 141–152, Kat. Nrn. 62–67.
226 Rembra ndt u nd Ra i mond i : Die Referen z w ird verborgen
92 Andrea Mantegna, Madonna mit Kind, Kupferstich und Kaltnadel, 210 × 222 mm um 1480–1485
drucksmittel vorgebildet fand.53 Die motivischen Entlehnungen aus diesem Stich, die Eingang in seine Radierung Die heilige Familie mit Katze und Schlange fanden, sind längst bekannt (Abb. 93).54 Doch schulte sich Rembrandt nicht nur hinsichtlich des Motivs der innigen Zuwendung Mariens, mit der sie ihren Säugling fest umschlungen
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Andrea Mantegna, Madonna mit Kind, Kupferstich und Kaltnadel, um 1480–1485, 210 × 222 mm, Rijksmuseum, Amsterdam, Inv. Nr. RP-P-OB-1925. Mantegna verwendet ausschließlich Parallelschraffuren mit unterschiedlichem Abstand und Linientiefe, um Schattenzonen zu beschreiben. Vgl. Rijckevorsel 1932, S. 196–197. Rembrandt, Die heilige Familie mit Katze und Schlange, Radierung, 95 × 145 mm, in der Platte signiert und datiert ‚Rembrandt f. 1654‘, White / Boon 1969, Nr. B 63, Rijksmuseum, Amsterdam, Inv. Nr. RP-P-OB-124.
Rembra ndt u nd Ra i mond i : Die Referen z w ird verborgen 227
hält, an Mantegna, sondern auch an dessen Umgang mit Licht und Schatten sowie an der Schraffurtechnik.55 Die von Mantegna erzielten chromatischen Effekte sind für Rembrandt hier vorbildlich, weil gerade im genannten Stich Mantegnas „das Helldunkel in subtilster tonaler Abstufung erreicht ist“.56 Da Mantegna in diesem Stich intensiv die Kaltnadel einsetzte, kann man die samtige Wirkung der dunklen Flächen und die subtilen Kontraste zu den hell erleuchteten Partien nur auf sehr wenigen Exemplaren früher Abzüge bewundern. Wenn man aber einen solchen frühen Abzug
93 Rembrandt, Die heilige Familie mit Katze und Schlange, Radierung, 95 × 145 mm, 1654
betrachtet, dann wird deutlich, dass Mantegna das Gesicht Mariens, große Teile ihres Obergewands und auch Teile des Köpfchens von Jesus verschattet dargestellt hat. Auch bei Rembrandt sind das Gesicht Mariens, ihre Arme und Hände dunkel. Dieser Eindruck ist umso auffälliger, als sie vor einem Fenster sitzt. Rembrandt hat hier die typische Situation des Gegenlichtes dargestellt, bei dem Personen und Gegenstände 55
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Althaus 2005, S. 194–195, Kat. Nr. 82: „Rembrandt war fasziniert von Mantegnas Schraffur technik, die er immer wieder studierte und für seinen eigenen Radierstil modifizierte. Er setzte die regelmäßigen Parallelschraffuren des Vorbildes in ständig sich verändernden Richtungen nebeneinander und ersetzte so die skulpturale Qualität von Mantegnas Manier durch eine mehr malerische Wirkung.“ Busch 2009, S. 19.
228 Rembra ndt u nd Ra i mond i : Die Referen z w ird verborgen
vor hellerem Hintergrund dunkel wirken. Seine hier erreichte Naturtreue steht im Gegensatz zur Bildtradition, die vor allem in den Gesichtern Mariens und des Jesusknaben Lichtakzente setzt, um ihre zentrale Funktion im Bild hervorzuheben und auch auf eine innere Erleuchtung hinzudeuten. Bei Mantegna ist der Kontrast von Licht und Schatten vor allem ein virtuoses Spiel, um die mit den neuen Ausdrucksmitteln des Kupferstichs und der Kaltnadel erzielbaren Effekte bis zum Äußersten zu treiben. Dies wird vor allem am aufwendigen Helldunkelkontrast in den Falten am Rock Mariens deutlich, der sich mit steinernen Vorbildern misst. Ein solcher Paragone mit der Bildhauerkunst interessiert Rembrandt jedoch nicht. Bei ihm dient die Verschattung wesentlicher Teile des Bildes vor allem der Erreichung von überzeugender Darstellungskraft durch inszenierte Naturnähe.57 Zusammenfassend wird deutlich, dass Rembrandt durch die druckgrafischen Vorbilder mit neuen Bildthemen und Darstellungsformen vertraut wurde. Doch schulte er sich an den Stichen in seiner Sammlung auch hinsichtlich technischer Aspekte des druckgrafischen Mediums. In sämtlichen hier genannten Aneignungen in Form von Zeichnungen und Radierungen verband Rembrandt die Referenz auf das vorbildliche Kunstwerk mit dem Studium nach der Natur. Sein Lehrmeister war nicht allein die Kunst, sondern vor allem die Natur. In der Vielzahl der Vorbilder, auf die sich Rembrandt bezog, nahm Raimondi sicherlich nicht die zentrale Rolle ein. Auch sind die Entlehnungen, welche auf Erfindungen Raffaels verweisen, in den meisten Fällen nicht so offensichtlich wie die erwähnten Skizzen nach Leonardo oder Mantegna. Doch um Rembrandts Umgang mit vorbildlichen Kunstwerken mit der Vorgehensweise der bisher beschriebenen Künstler vergleichen zu können, sollen im Folgenden ausschließlich Bezüge zu Stichen Marcantonio Raimondis untersucht werden. Ziel ist es, unterschiedliche Strategien der produktiven Aneignung anschaulich werden zu lassen. Dabei wurde eine Auswahl von Beispielen getroffen, bei denen der Bezug zu den Stichen Raimondis besonders offensichtlich ist.
Die Predigt Pauli vor den Athenern Eine Zeichnung Rembrandts, die um 1637 datiert wird, zeigt einen stehenden und einen sitzenden Mann, welche große Ähnlichkeit aufweisen mit zwei Zuhörern, die sich ganz links auf Raimondis Stich Die Predigt Pauli vor den Athenern befinden (Abb. 44 und 94).58 Wenn man diese rasche Skizze betrachtet, sollte man auf den ersten Blick
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Schmidt 1970, S. 75, Kat. Nr. 92: „Die Reinheit und Klarheit des an der Antike geschulten Italieners Mantegna ist hier mit dem niederländischen Wirklichkeitssinn Rembrandts harmonisch verschmolzen.“ Vgl. Valentiner 1905, S. 68–69. Rembrandt, Stehender alter Mann und sitzender junger Mann, Rohrfederzeichnung in Bister, ohne Maßangaben, um 1637, von anderer Hand bezeichnet „Rembrandt“, Benesch 1973, Bd. II, Kat. Nr. 348, Abb. Nr. 421 (Diese Zeichnung befand sich 1920 in der Sammlung von Dr. von Lucius in Den Haag, der heutige Verbleib ist unbekannt.) Vgl. Campbell 1975,
Rembra ndt u nd Ra i mond i : Die Referen z w ird verborgen 229
94 Rembrandt, Stehender alter Mann und sitzender junger Mann, Rohrfederzeichnung in Bister, ohne Maßangaben, um 1637
nicht meinen, dass sie überhaupt von einem künstlerischen Vorbild abstammt. Eher scheint sie eine Notiz nach dem Leben zu sein. Trotz einiger offensichtlicher Ähnlichkeiten, wie Kostüm, Haltung und Gestik der Figuren, hat Rembrandt eine umfassende Verwandlung vorgenommen: Aus Raimondis eher allgemein formulierten, nicht näher spezifizierten Typen sind nun zwei Individuen geworden. Vor allem die Mimik der beiden Männer hat sich deutlich gewandelt. Die Augen des sitzenden Mannes sind weiter geöffnet und der Kopf ist ein wenig mehr gehoben, was den Eindruck aufgeschlossenen Zuhörens macht. Sein Haar ist dunkler und kräftiger, wodurch er jünger wirkt. Bereits im Stich ist die Hand, auf die er sein Gesicht stützt, nicht gelungen, da das Auseinanderspreizen von Daumen und Zeigefinger nicht anatomisch korrekt wiedergegeben ist. Auch bei Rembrandts schneller Skizze zeigen sich hier anatomische Fehler, was die These unterstützt, dass Rembrandt gerade nicht nach lebenden S. 24–26. Eine andere Skizze, die einen aufmerksam zuhörenden Mann charakterisiert, ist Benesch 1973, Bd. II, Kat. Nr. 347, Abb. Nr. 419, um 1637, Feder in Bister, 91 × 77 mm.
230 Rembra ndt u nd Ra i mond i : Die Referen z w ird verborgen
Modellen, sondern nach dem gestochenen Vorbild gearbeitet hat. Der stehende Mann hat in Rembrandts Transformation an Alter hinzugewonnen. Sein Gesicht ist deutlich schmaler, die Nase spitzer und der Bart lichter. Außerdem hat Rembrandt ihm eine Kopfbedeckung aufgesetzt, um vielleicht auf einen alten Rabbi hinzuweisen. Die vor der Brust verschränkten Hände hat er erneut mit einem nur kleinen, aber kreativen Eingriff umgewandelt, denn nun stützen sich diese Hände auf einen Stock, was den allein auf Rembrandts Skizze angedeuteten Unterschied im Lebensalter der beiden Männer verstärkt. So hat Rembrandt mit nur minimalen Abwandlungen durch die ihm eigene tiefe Kenntnis menschlichen Verhaltens und Ausdrucks hier zwei verschiedene Formen des Zuhörens charakterisiert. Während sich der jüngere Mann aufmerksam einem hier nicht gezeigten Redner zuwendet, drückt der Ältere abwartende Skepsis aus.59 Die Frage, wie man verschiedene Formen des Zuhörens darstellen könne, wird Rembrandt in seinem Gesamtwerk begleiten. Insbesondere das Problem der Darstellung einer Menschenmenge, die einem Prediger aufmerksam zuhört, beschäftigt Rembrandt in verschiedenen Zeichnungen, Radierungen und Gemälden.60 Vergleicht man die hier beschriebene Skizze mit der bereits erwähnten, Parmigianino zugeschriebenen Nachzeichnung nach der Gesamtkomposition desselben Stiches, so wird deutlich, wie gegensätzlich die Arten des Umgangs mit der gestochenen Vorlage sein konnten: Während der italienische Meister den Stich getreu in seiner Gesamtheit zeichnend wiederholte, wählte Rembrandt lediglich zwei Figuren aus, die für ihn von Interesse waren. Statt sie getreu nachzuzeichnen, durchdenkt er sie unmittelbar in
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Thomas Ketelsen, „Im Wechsel der Blicke. Beobachtungen zu Rembrandts Bilderwelten“, in: Dittrich / Ketelsen 2004, S. 12: „Rembrandts Bilderwelt entfaltet eine Art Typologie unterschiedlicher Handlungs- und Reaktionsweisen, die unmittelbar in der Haltung der gezeichneten Körper, in der Gestik und Mimik der Gesichter ihren Ausdruck finden.“ Dazu gehört die Grisaille Johannes, der Täufer, predigend, Bredius 1937, Nr. 555, Bruyn u. a. 1982–2009, Nr. A 106, S. 70–88, Berlin, SMPK, Gemäldegalerie, Inv. Nr. 828 K, Öl auf Leinwand, auf Holz aufgezogen, 62,7 × 81,1 cm sowie die Radierung Christus predigend, White / Boon 1969, B 67; ebenso die Zeichnung Die Predigt Petri, schwarze Kreide, 118 × 167 mm, um 1647, Benesch 1973, Bd. III, Kat. Nr. 595, Abb. Nr. 770, hier nimmt der Predigende eine ähnliche statische Körperhaltung ein wie auf Raimondis Stich. Im British Museum befindet sich eine Zeichnung der Predigt Pauli vor den Athenern, die lange Zeit Rembrandt zugeschrieben worden ist (um 1635–1640, Feder in Braun, laviert in braun und rotbraun, weiß gehöht, Rötel, 180 × 207 mm, unten rechts von anderer Hand bezeichnet ‚Remt?‘, Inv. Nr. T, 14.7), Vgl. Benesch 1973, Bd. I, Kat. Nr. 138, Abb. Nr. 165 sowie Royalton-Kisch 1992, S. 201–202, Kat. Nr. 97. Martin Royalton-Kisch lehnt eine Zuschreibung dieser Zeichnung an Rembrandt ab und weist sie stattdessen seinem Schüler, Gerbrand van den Eeckhout (1621– 1674), zu. Die Argumentation basiert im Wesentlichen auf Vergleichen mit anderen, sicher von Rembrandt stammenden Kompositionszeichnungen aus der Zeit sowie mit Zeichnungen, die van den Eeckhout zugeordnet werden. Vgl. Kommentar von Martin Royalton-Kisch auf der entsprechenden Seite des Onlineinventars des British Museum: „The few finished and undoubted composition drawings of the period, such as the study for ‚Judas repentant‘ formerly in the Albertina of c. 1629 (Benesch 8), the signed ‚Christ among the Apostles‘ at Haarlem of 1634 (Benesch 89), the ‚Ganymede‘ of 1635 in Dresden (Benesch 92) and the British Museum’s ‚Lamentation‘ […] are so far removed in style and technique from the present drawing that the attribution to Rembrandt appears unstainable.“
Rembra ndt u nd Ra i mond i : Die Referen z w ird verborgen 231
95 Rembrandt, Simeon und Hanna im Tempel (auch genannt: Die Lobpreisung Simeons), Öl auf Eichenholz, 55,5 × 44 cm, 1627 (Farbtafel XV)
ihrer Funktion im Bild, nämlich in ihrer Rolle als Zuhörer. Auf der Grundlage ausführlicher Naturbeobachtung kann er hier das gestochene Vorbild durch eine deutlich lebensnahere Interpretation übertreffen.
Aus Anna wird Hanna: Raimondis Maria an der Wiege und Rembrandts Darbringung im Tempel Bereits 1932 weist van Rijckevorsel auf die formale Ähnlichkeit der Prophetin Hanna auf dem Hamburger Gemälde Simeon und Hanna im Tempel (Abb. 95) mit der Mutter Anna auf Raimondis Stich Madonna mit der Wiege hin (Abb. 31).61 Es ist nicht nur die 61
Rijckevorsel 1932, S. 75–77. Rembrandt, Simeon und Hanna im Tempel (auch genannt: Die Lobpreisung Simeons), Öl auf Eichenholz, 1627, 55,5 × 44 cm, Hamburg, Kunsthalle, Inv.
232 Rembra ndt u nd Ra i mond i : Die Referen z w ird verborgen
Haltung mit den erhobenen Armen und weit gespreizten Fingern, die hier eine Entlehnung vermuten lässt, sondern beide weibliche Figuren schließen auf die gleiche Weise die Komposition ab und bilden damit einen Rahmen für das Geschehen im Bildvordergrund. Was jedoch ebenfalls sofort ins Auge fällt, ist die Art und Weise der schöpferischen Interpretation Rembrandts der gestochenen Vorlage: Die Prophetin Hanna blickt den Betrachter mit weit aufgerissenen Augen an und vermittelt durch ihre Mimik und Körperhaltung ehrfürchtiges Erstaunen und prophetische Ekstase. Von solchem emotionalen Gehalt kann auf Raimondis Stich keine Rede sein. Hier hat die Frau ein seltsam ausdrucksloses Gesicht mit gesenktem Blick. Ihre Haltung kann als segnende oder beschützende Geste verstanden werden. So wird bereits bei diesem Frühwerk Rembrandts deutlich, dass er sich zwar formaler Entlehnungen bedient, diese aber nicht einfach in sein Gemälde überträgt, sondern mit neuer Bedeutung anfüllt. Dennoch ist hier die Umformung der Entlehnung mittels möglicher zusätzlicher Studien nach dem lebenden Modell nicht gänzlich gelungen, denn die erstaunte Geste mit den erhobenen Armen wirkt gerade im neuen Bildkontext zu theatralisch und steht in deutlichem Gegensatz zur stillen Anbetung Mariens.
Galatea und die Pfannkuchenbäckerin – Das Zitat als geistreicher Scherz In der mit 1635 datierten Radierung Die Pfannkuchenbäckerin folgt Rembrandt einer etablierten lokalen Tradition der Genredarstellung (Abb. 96).62 Pieter Bruegel, der Ältere (um 1525/1530–1569), hatte bereits eine Pfannkuchenbäckerin im Rahmen von Szenen der Narrenküche oder des Streits zwischen Fasching und Fastnacht dar-
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Nr. HK-88, Bredius 1937, Kat. Nr. 535, Bruyn u. a. 1982–2009, Bd. I, Nr. A 12, Vgl. Clark 1966, S. 44–46, Clark schlägt sogar vor, Rembrandt habe seine Mutter gebeten, die Pose der Prophetin Hanna nach Raimondis Vorbild einzunehmen, jedoch handelt es sich hier eher um einen bestimmten Typus eines Frauenkopfes, der auf eine Vielzahl von Figurenstudien, den sogenannten Tronien, zurückzuführen ist, Vgl. Tümpel 1986, S. 394, Kat. Nr. 39 und Wetering / Schnackenburg 2001, S. 214–217, Kat. Nr. 30. Rembrandt, Die Pfannkuchenbäckerin, Radierung und Kaltnadel, 109 × 77 mm, in der Platte signiert und datiert ‚Rembrandt f. 1635‘. White / Boon 1969, B 124 / I, London, British Museum, Inv. Nr. 1848,0911.62. Die Radierung ist gekennzeichnet durch eine besonders lockere Linienführung, wie sie eigentlich für Rembrandts Zeichnungen typisch ist. Im ersten Zustand werden alle Bildfiguren gleich behandelt, im zweiten Zustand erhält allein die Pfannkuchenbäckerin eine genauere Ausarbeitung mit stärkeren Hell-Dunkelkontrasten in ihrer Kleidung und akzentuierteren Konturen im Gesicht. Hinterding / Luijten / RoyaltonKisch 2000, S. 152–154, Kat. Nr. 28. Ebenfalls in einer Zeichnung hatte sich Rembrandt bereits diesem Thema gewidmet. In der sicherlich nach dem Leben skizzierten Szene zeigt er einen jungen Mann, der in den Tiefen seiner Hosentasche nach Geld sucht, um sich einen Pfannkuchen kaufen zu können, während im Hintergrund zwei sich balgende Knaben angedeutet sind. Schatborn 1985, S. 16–17, Kat. Nr. 6, Amsterdam, Rijksprentenkabinet, Inv. Nr. A 2424, Die Pfannkuchenbäckerin, Feder in Braun, 108 × 144 mm. Die Zeichnung bereitet die Radierung nicht vor, sondern unterscheidet sich deutlich von ihr.
Rembra ndt u nd Ra i mond i : Die Referen z w ird verborgen 233
96 Rembrandt, Die Pfannkuchenbäckerin, Radierung und Kaltnadel, 109 × 77 mm, 1635
234 Rembra ndt u nd Ra i mond i : Die Referen z w ird verborgen
97 Raffael, Triumph der Galatea, Fresko, 295 cm × 225 cm, 1511–1514
gestellt.63 Adriaen Brouwer (um 1605/ 1606–1638) und Jan van de Velde (1593–1641) haben das Thema des Pfannkuchenbackens weiterentwickelt und Rembrandt möglicherweise zu der Radierung angeregt.64 Denn Rembrandt besaß ein Gemälde Brou63
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Pieter Bruegel d. Ä. Umkreis, Zeichnung einer Narrenküche, um 1560, Wien, Graphische Sammlung Albertina, Vgl. den Stich nach dieser Zeichnung, Pieter van der Heyden, Hollstein / Luijten 1993–, Bd. IX, Heer – Kuyl, S. 28, Nr. 48, Kupferstich, 224 × 290 mm, 1567. Pieter Bruegel d.Ä., Der Streit zwischen Fasching und Fastnacht, Öl auf Eichenholz, 118 × 164,5 cm, 1559, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, Inv.-Nr.: GG_1016. Strauss / Meulen 1979, Quelle Nr. 1656 / 12, S. 348–349, Nr. 1: „Een stuckie van Ad. Brouwer, sijnde een koekebacker“: Möglicherweise handelt es sich dabei um das Gemälde Brouwers, das sich heute in Philadelphia befindet, vgl. Sutton 1983, S. 122–123, Kat. Nr. 20: Adriaen Brouwer, Der Pfannkuchenbäcker, Öl auf Holz, 33,7 × 28,3 cm, um 1625, Philadelphia, Philadelphia Museum of Art, John G. Johnson Coll. Nr. 681. Im Falle Brouwers handelt es sich um einen Mann statt einer Frau, der die Kuchen backt. Dieser sieht sehr derb aus und trägt verschlissene Kleider. Zu Jan van de Velde, siehe Hollstein / Luijten 1993–, Bd. XXXIII, Jan van
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wers mit dem Titel Der Kuchenbäcker. Rembrandts Radierung schließt sich in der Komposition an den gleichnamigen Stich van de Veldes und an das entsprechende Gemälde Adriaen Brouwers an. Auch bei ihm ist die Pfannkuchenbäckerin mit verhärmten Gesichtszügen als zentrale Figur im Profil dargestellt. Rembrandt legt sein Augenmerk vor allem auf die verschiedenen Reaktionen der erwartungsfrohen und ungeduldigen Kinder. Einer blickt verträumt in die Pfanne, ein anderer hält der Bäckerin Münzen vor die Nase, um schneller an die Reihe zu kommen. Im Vordergrund zeigt Rembrandt einen kleinen Jungen, der seinen Oberkörper weggedreht hat, um unter den Augen einer schwarzen Katze seine leckere Speise vor einem zuschnappenden Hund zu retten. Sein greinendes Gesicht unterstreicht sein Unglück über die drohende Gefahr, seinen Pfannkuchen wieder zu verlieren. Holm Bevers hat zuerst erkannt, dass selbst ein so lebendiges Detail einer Genreszene seinen Ursprung in einem klassischen Zitat haben könnte.65 Er schlägt vor, der auf den Wellen dahingleitende Putto auf Raffaels Fresko Der Triumph der Galatea, welcher sich an einem Delphin festhält, könne hier aufgrund seiner ähnlichen Körperhaltung ein Vorbild gewesen sein. (Abb. 97).66 Hier wie dort ist der Leib des Kindes so gedreht, dass der Oberkörper in die eine, der Unterkörper in die andere Richtung weist. Allerdings ist das Kind auf Rembrandts Radierung spiegelverkehrt zur gestochenen Vorlage und eher in sitzender Haltung wiedergegeben, während der Putto eher liegend dargestellt ist. Das Fresko Raffaels wurde sowohl durch einen Stich Marcantonio Raimondis (Abb. 98, Bartsch XIV.262.350) als auch durch einen Stich von Hendrick Goltzius (Abb. 99, Bartsch III.82.270) verbreitet.67 Da sich beide Stiche sehr ähneln, können hier keine Rück-
de Velde II – Dirk Vellert, S. 52, Nr. 148, Die Pfannkuchenbäckerin, Kupferstich, 184 × 129 mm, um 1626. Der Stich Jan van de Veldes zeichnet sich besonders durch die effektvollen Helldunkelkontraste aus, denn er gibt das Thema als Nachtstück wieder. 65 Bevers / Schatborn / Welzel 1991, S. 192–193, Kat. Nr. 10: „Das Motiv des in gespreizter Pose sich streckenden Knaben scheint in der holländischen Kunst des 17. Jahrhunderts populär gewesen zu sein. Bisher unbemerkt blieb, dass Rembrandt hier ein berühmtes Vorbild zitiert: den über die Wellen dahingleitenden Putto im Vordergrund von Raffaels Triumph der Galatea, eine Komposition, die durch Stiche u.a. von Marcanton Raimondi und Hendrick Goltzius zugänglich war.“ Im Louvre befindet sich eine Rembrandt zugeschriebene Zeichnung, die ebenfalls einen Knaben zeigt, der sein Essen vor einem Hund zu retten versucht, Benesch 1973, Bd. I, Kat. Nr. 112, Abb. Nr. 132, Der Prophet Elijah und die Witwe von Zarephath, Feder in Bister, 117 × 159 mm, fol. 16 des Bonnat Albums. Diese Zeichnung ist aber, laut Schatborn, keine Vorstudie für die Radierung, sondern eine Zeichnung eines Rembrandtschülers, vielleicht nach einem Gemälde Adriaen Brouwers, vgl. Schatborn 1985, S. 16. 66 Raffael, Triumph der Galatea, Fresko, 295 cm × 225 cm, 1511–1514, Rom, Villa Farnesina. Galatea wird von Ovid als Nereide beschrieben, die von Acis geliebt wird. Der Zyklop Polyphem tötet Acis aus Eifersucht, Galatea verwandelt sein Blut in einen Fluß. Vgl. Ovid 1994, 13. Buch, Vers 750–898. Zu weiteren Motiventlehnungen, die sämtlich auf das Fresko oder druckgrafische Reproduktionen davon zurückzuführen sind, siehe: Chapeaurouge 1974, S. 25–27. 67 Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Triumph der Galatea, Kupferstich, 393 × 284 mm, Bartsch XIV.262.350, British Museum, London, Inv. Nr. 1980,U.1606 und Hendrick Goltzius (nach Raffael), Triumph der Galatea, Kupferstich, 560 × 410 mm, 1592, Bartsch III.82.270, British Museum, London, Inv. Nr. 1857,0613.466.
236 Rembra ndt u nd Ra i mond i : Die Referen z w ird verborgen
98 Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Triumph der Galatea, Kupferstich, 393 × 284 mm
schlüsse darauf gezogen werden, welcher der beiden Stiche Rembrandt als Vorlage gedient haben könnte. Nichts könnte in Stil und Thema weiter von einander entfernt sein, als Raffaels wohl komponierte mythologische Szene der in einer Muschel auf dem Meer gleitenden Göttin Galatea und Rembrandts vor ihrer Pfanne kauernden Greisin, die von gierigen Kindern umgeben ist. Die an der Antike orientierte Historienmalerei steht der radierten Genreszene gegenüber und nichts scheint darauf hinzudeuten, dass hier eine Motiventlehnung stattgefunden haben könnte. Doch ist es denkbar, dass es für Rembrandt gerade seinen Reiz hatte, eine Figur aus einem derart entgegengesetzten, zugleich aber vielen Grafikliebhabern wohl bekannten Kontext zu entlehnen. Nach Art einer Parodie, respektive einer ironischen Verfremdung, könnte Rembrandt hier das seinem eigenen bildnerischen Denken vollkommen fremde Motiv eines wellenrei-
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99 Hendrick Goltzius (nach Raffael), Triumph der Galatea, Kupferstich, 560 × 410 mm, 1592
tenden Puttos in eine lebensnahe Szene übertragen haben.68 Vorausgesetzt, Raimondis oder Goltzius’ Stich habe Rembrandt tatsächlich zu dieser Erfindung inspiriert, dann lässt sich hier leicht ein Kommentar des unklassischen Künstlers über das Vorbild Raffael erkennen: Demnach wäre es die erste Aufgabe der Kunst, den Betrachter durch eine genaue Beobachtung und lebensnahe Wiedergabe menschlicher Reaktionen
68
Zum Begriff der Parodie siehe: Ueding 1992–2009, Bd. VI, Must-Pop, Sp. 637–649. Die Parodie als eine Form der Nachahmung versteht sich als Kritik und Reflexion der imitatio. Bei der Parodie muss das Vorbild, auf das sie sich bezieht, deutlich erkennbar bleiben, damit der Effekt, die Vorlage ins Lächerliche umzukehren, auch seine Wirkung hat. Ein typisches Merkmal der Parodie ist, dass die entlehnten Elemente in einen nicht angemessenen neuen Kontext transferiert werden, das heißt, dass gegen das aptum verstoßen wird. Zur Bedeutung der Parodie in der bildenden Kunst siehe auch: Chapeaurouge 1974, S. 40–47.
238 Rembra ndt u nd Ra i mond i : Die Referen z w ird verborgen
100 Rembrandt, Der Raub des Ganymed, Feder und Pinsel in braun, 183 × 160 mm, um 1635, Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. C 1357
und Interaktionen in die Lage zu versetzen, sich mit den gezeigten Bildinhalten zu identifizieren. Nicht nur bei Genreszenen soll es dem Betrachter gelingen, Bezüge zur eigenen Lebensrealität herzustellen und auf diese Weise den Bildsinn zu entschlüsseln.
Ganymed Eine solche spielerische Bezugnahme auf klassische Bilderfindungen ist keineswegs einzigartig in Rembrandts Werk. In dasselbe Jahr 1635 wird die Dresdener Zeichnung Der Raub des Ganymed datiert (Abb. 100).69 Homer beschreibt Ganymed in der Ilias als den Sohn des trojanischen Königs Tros, der wegen seiner Schönheit von Zeus in 69
Rembrandt, Der Raub des Ganymed, Feder und Pinsel in braun, 183 × 160 mm, um 1635, Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. C 1357, Benesch 1973, Bd. I, S. 28, Kat. Nr. 92, Abb. Nr. 99, siehe auch: Dittrich / Ketelsen 2004, S. 182–184, Kat. Nr. 102. Vgl. Clark 1966, S. 12–18.
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102
101 Anonym (nach Michelangelo), Raub des Ganymed, schwarze Kreide, die Konturen mit dem Metallstift nachgezogen, 361 × 270 mm, um 1532
Nicolas Beatrizet, Der Raub des Ganymed, Kupferstich, 422 × 280 mm
Gestalt eines Adlers entführt wurde, um den Göttern als Mundschenk zu dienen.70 So hat ihn auch Michelangelo gezeichnet, als Inbegriff männlicher Schönheit, wie er – durchaus mit homoerotischen Konnotationen – von einem überlebensgroßen Adler von hinten umschlungen wird, der ihn mit seinen Krallen an den Waden fest ergriffen hat (Abb. 101).71 Die Zeichnung Michelangelos wurde durch einen Kupferstich von 70
71
Homer 2007, 5. Gesang, Vers 266 und 20. Gesang, Vers 231–235: „Wieder von Tros entstammen die drei untadligen Söhne Ilos, Assárakos und den Göttern gleich Ganymedes, der als der schönste geboren wurde der sterblichen Menschen; ihn entrafften denn auch dem Zeus als Mundschenk die Götter, seiner Schönheit zulieb, dass er bei den Unsterblichen bleibe.“ Zöllner / Thoenes / Pöpper 2007, S. 598–599, Nr. 200, Kopie nach Michelangelo Buonarotti, Raub des Ganymed, schwarze Kreide, die Konturen mit dem Metallstift nachgezogen, 361 × 270 mm, um 1532, Cambridge (Mass.), Harvard University, Fogg Art Museum, Inv. Nr. 1955.75. Vgl. Giulio Clovio (Kopie nach Michelangelo), Der Raub des Ganymed, Rötel, Paris, Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Inv. Nr. INV 734 recto. Eine weitere Kopie Giulio Clovios nach Michelangelos Ganymed befindet sich in der Royal Library, Windsor Castle, Inv. Nr. RL 13036, vgl. Joannides 1997, S. 72–74, Kat. Nr. 15. Eine dritte Clovio zugeschriebene Variante befindet sich in Chatsworth, Devonshire Collection,
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Nicolas Beatrizet verbreitet, der sicherlich auch in Rembrandts druckgrafischer Sammlung zu finden war und Anlass gab für Rembrandts Überarbeitung des Themas (Abb. 102).72 In Ovids Metamorphosen, vermittelt durch Karel van Manders „Schilderboeck“ von 1604, wird Ganymed hingegen als Kind beschrieben, das den Eltern früh entstarb.73 Hier ergibt sich eine durch die frühere christliche Auslegung der Metamorphosen bedingte Bedeutungsverschiebung. Nach dieser Auslegung wird Ganymed von den Göttern nicht vor allem wegen seiner physischen Schönheit verehrt, sondern wegen der Reinheit seiner kindlichen Seele. Diese Fassung greift auch Rembrandt auf. Statt eines schönen erwachsenen Mannes sehen wir nun ein Kleinkind, das von oben von einem Adler gepackt wird, der es mit seinem Schnabel am Hemdchen hält. Sein Gesicht ist angstvoll verzerrt. Die besorgten Eltern schauen von unten zu: Der Vater hält möglicherweise ein Fernrohr in den Händen. Die Mutter gestikuliert wild mit den Armen. Auf dieser Zeichnung fällt dem Betrachter zuerst das nackte, schutzlose Gesäß des Kleinen ins Auge – nicht nur, weil es in die Bildmitte platziert ist, sondern auch, weil Rembrandt diesen Teil mit breiten Federstrichen mehrfach hervorgehoben hat. Man kann leicht nachvollziehen, wie das Kind mit den Beinchen strampelt, um sich zu befreien, weil Rembrandt den Unterleib mit mehreren, von einander abweichenden Konturen festhält und zusätzlich durch Pinsellavierungen den dynamischen Moment unterstreicht. Der Adler sowie die Eltern des Knaben sind hingegen nur mit wenigen raschen Federstrichen festgehalten. „Das […] Blatt wirkt wie eine rasch sich formende, frische Ideenskizze, in der sich Alltagserlebnis und Bildtradition zu einem mythologischen Sujet verwandeln“.74 Die Aufmerksamkeit des Betrachters wird außerdem vor allem auf den Ausdruck der Angst in dem Gesicht des Kindes gelenkt. Auch wenn sein Mienenspiel durchaus überzeugt und sich seine panische Angst und Notwehr dem Betrachter unmittelbar mitteilen, schlägt Josua Bruyn vor, Rembrandt habe hier nicht eine Beobachtung nach dem Leben als Grundlage gedient, sondern er habe sich an künstlerischen Vorbildern orientiert.75 Trustees of the Chatsworth Settlement, Inv. Nr. 22, vgl. Jaffé 1994, Bd. II, S. 56, Nr. 170. Alle Clovio zugeschriebenen Varianten zeigen jeweils nur den oberen Teil der Zeichnung. Eine weitere Kopie mit Hund befindet sich ebenfalls in Chatsworth, Devonshire Collection, Trustees of the Chatsworth Settlement, Inv. Nr. 1057, vgl. Jaffé 1994, Bd. I, S. 80, Nr. 45. 72 Nicolas Beatrizet, Der Raub des Ganymed, Kupferstich, 422 × 280 mm, Passavant 1860–1864, Bd. VI, S. 119, Nr. 111, nicht bei Bartsch, London, British Museum, Inv. Nr. 1871,0812.743. Ovid 1994, 10. Buch, Verse 155–162. Die Auslegung der Metamorphosen des Ovid waren 73 dem „Schilderboeck“ van Manders in der Ausgabe von 1604 als Anhang beigefügt. Van Mander zufolge steht Ganymed für die reine menschliche Seele, die nach Gott verlangt und von diesem so sehr geliebt wird, das er sie bald wieder zu sich holt. 74 Dittrich / Ketelsen 2004, S. 182. 75 Bruyn 1983. Bruyn zählt zu den Gesichtern weinender Kinder, die seiner Auffassung nach stereotype Ähnlichkeit aufweisen und auf die Skulptur eines weinenden Putto als künstlerisches Vorbild verweisen, auch den genannten Knaben aus der Radierung der Pfannkuchenbäckerin. Vgl. ebenda, S. 57. Doch erstens kann man eine solche Skulptur nicht sicher zum Kunstbesitz Rembrandts zählen (Am 22.2.1635 erwarb er auf der Auktion des Besitzes des Malers Barent van Someren „l houtkintgen – ein hölzernes Kindchen“, dessen näheres Aus-
Rembra ndt u nd Ra i mond i : Die Referen z w ird verborgen 241
103 Rembrandt, Der Raub des Ganymed, Öl auf Leinwand, 177 × 129 cm, 1635 (Farbtafel XVI)
Möglicherweise nutzte er in den Jahren 1635–1636 eine hölzerne Skulptur eines weinenden Putto als Modell, das auch in Form einer gemalten goldenen Statue im 1636 vollendeten Gemälde der Danae integriert wird.76 Dies führe, laut Bruyn, zu einer
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sehen nicht belegt ist, vgl. Strauss / Meulen 1979, Quelle 1635 / 1, S. 116), zweitens hat bereits Schatborn die von Bruyn formulierte These widerlegt, die Gruppe des Knaben und Hundes auf der genannten Radierung gehe ebenfalls auf die Pariser Zeichnung Der Prophet Elijah und die Witwe des Zarephath zurück, die Schatborn einem Schüler Rembrandts zuweist. Damit wird die gesamte von Bruyn vorgestellte Rekonstruktion der Entstehung der Radierung hinfällig. Rembrandt, Danae, Öl auf Leinwand, 185 × 203 cm, signiert „Rembrandt f. 1636“, St. Petersburg, Eremitage, Bredius 1937, Nr. 474, Bruyn u. a. 1982–2009, Bd. III, Nr. A 119.
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stereotypen Charakterisierung weinender Kinder in Zeichnungen, Radierungen und Gemälden in dieser Zeit. Doch wenn man die Zeichnung des Ganymed mit dem gleichnamigen Dresdener Gemälde vergleicht (Abb. 103), wird deutlich, dass sich der Gesichtsausdruck des Knaben auf der Zeichnung deutlich von der gemalten Variante unterscheidet.77 Die Zeichnung ist viel lebensnaher als das Gemälde und lässt eher den Schluß zu, sie gehe auf Studien nach der Natur zurück. Dennoch schließe ich mich Bruyns Kernthese an: By far the greater part of Rembrandt’s drawings was the product of his observation of reality only in an indirect way. His impressions were filtered and shaped by an imagination that was nurtured constantly by older works of art.78 Auch auf dem Gemälde des Ganymed wird das Kind fest an Hemdchen und Ärmchen gepackt, so dass sein Hinterteil entblößt ist. Vor Angst verliert es einen Urinstrahl. Die ganz natürliche, elementare Reaktion des entführten Knaben wird das Thema, sein Erschrecken, seine hilflose Wehr, sein Widerwillen sind dargestellt. […] Diese Darstellung war nur möglich, weil man […] nach den natürlichen Reaktionen des Kindes zu fragen begann und auch solche Fragen an die Erzählung herantrug.79 Rembrandts Antwort auf ein klassisches Bildthema ist auch hier die geistreiche Umdeutung in eine lebensnahe Darstellung: Aus dem makellos schönen Jüngling Michelangelos formt er ein vor Angst Wasser lassendes Kleinkind. Clark wertet diese Form der Aneignung als Protesthaltung: „It is a protest not only against antique art, but against antique morality, and against the combination of the two in sixteenth-century Rome.“80 Er führt weiter aus, Rembrandt als protestantischer Christ sei geschockt gewesen angesichts der homosexuellen Andeutungen in Michelangelos Entwurf. Sicherlich war Rembrandt nicht so prüde. Es greift zu kurz, in Rembrandts Zeichnung und Gemälde mit dem Thema des Ganymed lediglich eine antiklassische Kritik zu sehen. Vielmehr ist es eine eigene Interpretation mit dem Ziel der persuasio – der Überzeugung des Betrachters durch eine emotional anschauliche Darstellung. Doch ist die überzeugende Darstellung menschlicher Affekte, wie Angst oder Trauer, keinwegs eine barocke Erfindung. Auch Meister der Renaissance, wie Dürer, Michelangelo 77
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Rembrandt, Der Raub des Ganymed, Öl auf Leinwand, 177 × 129 cm, signiert und datiert ‚Rembrandt. ft / 1635‘, Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Gemäldegalerie Alte Meister, Inv. Nr. 1558, Bruyn u. a. 1982–2009, Bd. III, S. 161–167, Kat. Nr. A 113, Bredius 1937, Nr. 471. Vgl. Brown / Kelch / Thiel 1991–1992, S. 192–195, Kat. Nr. 24. In der gemalten Variante fehlen die Eltern. Bruyn 1983, S. 59. Tümpel 1986, S. 181. Clark 1966, S. 12.
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und Leonardo, machten die überzeugende Wiedergabe von ausgeprägtem Mienenspiel als Spiegel seelischer Regung oft zum Bildthema.81 Christian Tümpel und mit ihm die Autoren des „Korpus der Gemälde Rembrandts“ lehnen daher eine Deutung von Rembrandts Gemälde als Parodie auf den klassischen Mythos ab.82 Sicherlich kann man nicht so weit gehen zu behaupten, Rembrandt habe klassische Darstellungsformen des Mythos karikieren wollen. Doch gerade im Vergleich mit der zuvor beschriebenen spielerischen Bezugnahme auf Raffaels Putto in der Radierung der Pfannkuchenbäckerin wird deutlich, dass Rembrandt der Humor nicht fremd war, wenn er im Sinne eines gelehrten Zitats klassische Bildformen neu interpretierte. In beiden genannten Fällen – sowohl bei dem Knaben, der seinen Pfannkuchen zu retten versucht, als auch bei der Darstellung des Ganymed – ist Rembrandts humorvolle Aneignung als kreative Umformung zu werten, die mit dem Ziel einer drastischen Realitätsnähe geschieht. Rembrandt fühlt sich in die typischen Verhaltensweisen von Kindern ein und „korrigiert“ damit die idealisierten Vorlagen. Der Gegenstand von Rembrandts bildlichen Kommentaren sind jeweils Szenen aus den Metamorphosen des Ovid. Die aus dem mythologischen Zusammenhang herausgelöste Entlehnung integriert er im Falle der Pfannkuchenbäckerin in eine Genreszene. Im Fall des Ganymed behält er das Thema bei, formt es aber seinen eigenen Bildzielen gemäß um. Wie bereits bei diesen Beispielen aus dem Frühwerk Rembrandts deutlich wird, hatte er von Anfang an die Neigung, die Entlehnungen zu durchdenken und umzuwandeln. Für ihn diente das Kopieren nach anderen Künstlern als Übung für den kreativen Geist und nicht als Ersatzmittel für die eigene Kreativität.
Homer im Kreise seiner Zuhörer: Rembrandts gezeichnete Transformation von Raffaels Parnass Aus dem mit Pandora 1651 betitelten Freundschaftsalbum des Jan Six stammt die Zeichnung Rembrandts Homer im Kreise seiner Zuhörer (fol. 40, Abb. 104).83 Das Blatt ist vom Künstler mit 1652 datiert und seinem Freund Jan Six gewidmet worden. Rembrandt zeigt den blinden Dichter Homer, welcher sich soeben aus einem im Freien stehenden Sessel erhoben hat und sich nun einer im Halbkreis angeordneten Gruppe 81
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Zum Beispiel: Albrecht Dürer, Brustbild eines weinenden Engelknaben, Bleizinngriffel auf blau grundiertem Papier, weiß gehöht, 214 × 199 mm, Berlin, SMPK, Kupferstichkabinett, KdZ 2879. Tümpel 1986, S. 180–181. Vgl. Bruyn u. a. 1982–2009, Bd. III, S. 166: „The rendering of the theme [Ganymed] seems to be determined mainly by an approach to the dramatic situation that has made him reject an idealized interpretation. His ‚realism‘ does not however stretch so far as has been assumed, especially not on the points that have given rise to the idea of a parody.“ Auch genannt: Homer, die Verse vortragend, Rohrfeder und Bister, 255 × 180 mm, bezeichnet und datiert vom Künstler: „Rembrandt aen Joanus Six. 1652“, Amsterdam, Jan Six Collectie, Benesch 1973, Bd. V, Kat. Nr. 913, Abb. Nr. 1190, Bevers / Schatborn / Welzel 1991, S. 109– 112, Kat. Nr. 31b.
24 4 Rembra ndt u nd Ra i mond i : Die Referen z w ird verborgen
104 Rembrandt, Homer, die Verse vortragend, Rohrfeder und Bister, 255 × 180 mm, 1652
von Männern und Frauen sprechend zuwendet. Die nur mit wenigen Federstrichen angedeuteten Zuhörer zeigen verschiedene Reaktionen des aufmerksamen Lauschens. Zu Füßen Homers sitzt ein junger Mann, der eifrig die Worte des Dichters notiert. Es ist längst erkannt worden, dass es sich bei dieser Zeichnung um eine freie Aneignung von Raffaels Erfindung des Parnass handelt.84 Rembrandt hat durch Raimondis Stich Kenntnis von der Komposition erhalten und diesen seiner freien Adaption zugrunde gelegt (Abb. 2).85 Sein Freund, Jan Six, dem diese Zeichnung gewidmet ist, kannte das
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Einem 1952, Clark 1966, S. 184, Campbell 1975, S. 22–23, Broos 1985, S. 72–73, Kat. Nr. 60–61. Auch Jacob Matham hat einen Stich nach Raffaels Fresko des Parnass ausgeführt. Es gibt aber keine Anhaltspunkte dafür, dass dieser Stich hier eine Vermittlerrolle eingenommen
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Fresko Raffaels aus eigener Anschauung. Vermutlich hat er Rembrandt über das Aussehen des Originals unterrichtet. Damit lässt sich erklären, dass Rembrandt seine Zeichnung am oberen Bildrand durch einen rahmenden Bogen abschließt. Auch Raffaels Fresko ist in ein halbrundes Bildfeld eingepasst. Raimondi hatte daraus aber mittels leichter Abwandlungen eine rechteckige Komposition gemacht. Rembrandt löst aus dem Bildzusammenhang der Vorlage einzelne Figuren heraus, die er in der Zeichnung neu gruppiert. Er lässt die auf dem Stich eng zu Homer geordneten Dichter Dante und Vergil weg. Im räumlichen und inhaltlichen Zentrum seiner Zeichnung steht ausschließlich Homer.86 Zu den Figuren, die ebenfalls auf Raffaels Bildschöpfung verweisen, zählt zudem der Zuhörer, welcher die Worte Homers in ein auf seinem Schoß ruhendes Notizbuch schreibt, ohne jedoch den Blick von Homer zu lösen. Eine solche Erfindung des besonders aufmerksamen Zuhörers findet sich auch auf Raffaels Bildschöpfung, allerdings auf der entgegengesetzten Seite. Ebenfalls das Detail der Lorbeerbäume mit kleinen Blättern und schmalen Stämmen findet auf Rembrandts Zeichnung ein Echo. Zwischen den Baumstämmen schaut auf dem italienischen Vorbild eine Muse hervor. Auch bei Rembrandt findet sich ein solcher Kopf im Profil, der von einem Baumstamm halb überschnitten wird. Rembrandt ändert deutlich die jeweilige Haltung, Kleidung und den Ausdruck der entlehnten Bildfiguren.87 Während Homer in der gestochenen Vorlage durch einen Lorbeerkranz als antiker Dichter charakterisiert ist, trägt er auf Rembrandts Skizze nur einen einfachen Hut, der von Herbert von Einem als Binde identifiziert wurde, welche auf die Blindheit Homers verweisen würde.88 Diese Stelle ist jedoch aufgrund des skizzenhaften Charakters der Zeichnung reichlich unklar geblieben. Homers Gesicht ist nicht mehr pathetisch entrückt nach oben gewendet, sondern leicht in die Richtung seiner Zuhörer gesenkt. Statt des an der Antike orientierten Kostüms des italienischen Entwurfs ist Homer auf Rembrandts Umarbeitung in einen einfachen langen Rock und schlichte Schuhe gekleidet. Damit gelingt es Rembrandt, Homer eine neue innere und äußere Haltung zu verleihen. Während Homer im Vorbild durch das Halten seines überlangen Gewands in einer etwas manirierten Pose zu sehen ist, kann er nun im ruhigen Stehen gezeigt werden. Seine rechte Hand bleibt dabei die sprechende Hand, ist aber im Vergleich zum Stich leicht erhoben. Der ebenfalls erhobene Zeigefinger der rechten
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habe. Denn die von den Bäumen überschnittene Figur, die Rembrandt aufgreift, kommt allein auf Raimondis Stich, nicht aber auf Mathams Version vor. Siehe: Strauss 1980, S. 184, Nr. 199. Aus dem erwähnten Besitzstandsinventar wissen wir, dass Rembrandt eine Homerbüste besaß, welche zwischen den Büsten des Sokrates und Aristoteles Aufstellung gefunden hatte: Hofstede de Groot 1906, S. 198, Nr. 163: „Een Homerus“. Campbell 1975, S. 24: „De moeilijkheid van het probleem om de mate van afhankelijkheid van Raphael te bepalen, ligt in het feit, dat de zogenaamde ‚copieën‘, zoals de tekeningen met Castiglione en Homerus, reeds een verandering van de oorspronkelijke voorstelling te zien geven: terwijl de gemiddelde kunstenaar de voorstelling getrouw zou nabootsen, worden Raphaels voorstellingen door Rembrandt herschapen.“ Einem 1952, S. 185.
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Hand verleiht seinen Worten Gewicht. Mit der Linken, die auf dem Stich seinen Umhang hält, stützt sich Homer nun auf einen Stock, womit sein fortgeschrittenes Alter bildlich erfasst wird. Wenn sich auch deutliche Unterschiede hinsichtlich der Motive der Zeichnung im Vergleich zum Stich erkennen lassen, so wird doch eine enge Verwandtschaft bezüglich der Komposition der Szene deutlich. Denn Rembrandt behält die von Raffael vorgegebene Halbkreiskomposition bei. Auch zeigt er Homer auf einem Hügel, dem sich weitere Zuhörer von unten nähern. War die leicht auf Untersicht gearbeitete Komposition bei Raffael vonnöten, weil sich das ausgeführte Fresko oberhalb eines Fensters befindet und vom Betrachter nur von unten gesehen werden kann, erschließt sich der Sinn einer auf Untersicht gearbeiteten Zeichnung im Fall Rembrandts nicht. Gerade die Rückenfigur unten rechts, die ihre Linke auf eine Erdkuppe legt, also von einem deutlich tiefer gelegenen Standpunkt aus der Szene folgt, passt nicht zur Auffassung des Raumes.89 Diese Unstimmigkeit hat ihre Ursache in der spontanen Umformung Rembrandts der Entlehnung aus der gestochenen Vorlage. In diesem Prozess wird noch nicht jedes Detail endgültig festgelegt. Wesentlicher ist es, eine bestimmte Stimmung der Szene mit wenigen Federstrichen zu charakterisieren. Das Thema der Skizze ist die Darstellung des Sprechens, welches als rege Interaktion zwischen dem Redner und den Zuhörern ins Bild gesetzt wird. Aus der zeitlosen, idealisierenden Allegorie von Raffaels Musenhügel wird ein lebendiges Ereignis, das Homer in einer aktiven Handlung zeigt. Durch diese Übertragung in ein alltägliches Geschehen wird die Identifizierung des Betrachters mit den Zuhörenden erleichtert.90 Man kann sogar sagen, dass auch der Betrachter selbst durch Rembrandts Darstellung zum Zuhörer wird, da sich Homer ihm frontal zuwendet.91 Die im vorangegangenen Kapitel beschriebene Aneignung Poussins derselben Vorlage ist deutlich anders vonstatten gegangen. Im Unterschied zu Rembrandt kannte Poussin das Fresko Raffaels. Doch verwendete er für seine Federzeichnung des Parnass, welche die Grundlage für das Madrider Gemälde bildete, auch den Stich Raimondis als Vorbild. Der offensichtlichste Unterschied zwischen Rembrandts und Poussins gezeichneter Aneignung liegt zunächst darin, dass Poussin das Thema der Vorlage beibehält. Bei ihm sind weiterhin Apoll, die Musen und Dichter dargestellt,
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Im Unterschied zu Rembrandt löst Poussin das Problem, dass das Bildfeld in der Vorlage am unteren Rand von einer Tür durchschnitten wird, indem er die räumliche Gliederung seiner Zeichnung komplett durchdenkt und verändert. Dabei hilft ihm die Kenntnis von Raffaels Original, denn er fügt, wie gezeigt worden ist, die allein auf dem Fresko dargestellte Quelle im Bildvordergrund ein, um die Leerstelle unterhalb der Apoll- und Musen- Gruppe zu füllen. Sämtliche Figuren hebt er auf eine Bildebene und ändert somit die auf Untersicht gearbeitete Perspektive der Vorlage. Einem 1952, S. 185–187. Möglicherweise führte die Beschäftigung mit dem Thema des Zuhörens zur im gleichen Jahr entstandenen Radierung Christus predigend (La petite Tombe), um 1652, White / Boon 1969, B 67.
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auch wenn sie weniger zahlreich sind. Rembrandt greift hingegen nur das Thema des Dichters Homer und seiner Zuhörer auf. Der inhaltliche Zusammenhang der gestochenen Vorlage interessiert ihn nicht.92 Es kommt ihm lediglich darauf an, sich eine Darstellung Homers anzueignen, da dieser Dichter für ihn auch in weiteren Werken ein wichtiges Bildthema bleiben wird. Vor allem im späten gemalten Porträt Homers, das sich in Den Haag befindet, erfasst Rembrandt ihn als den blinden Dichter, der trotz seines körperlichen Gebrechens von innerem Sehen erfüllt ist und durch sein Wissen Würde erhält.93 Dem Verfall des Körpers steht der lebendige Geist gegenüber. Die äußere Handlung tritt vollkommen gegenüber der inneren Handlung des Nachdenkens zurück. Ein weiterer Grund dafür, dass Rembrandt aus der gestochenen Vorlage allein die Darstellung Homers herauslöste, könnte in Six’ Interesse für Homer begründet liegen, der von dessen Schriften mehrere Ausgaben besaß. Auch Rembrandt hat möglicherweise die Epen Homers gelesen. Diese waren nicht nur auf Latein, sondern auch in holländischer Übersetzung erhältlich.94 Der zweite wesentliche Unterschied zwischen Poussins und Rembrandts Zeichnung liegt darin, dass Poussin den Bezug auf das Vorbild Raffael für den Betrachter leicht erkennbar werden lässt. Die Nähe zu Raffael besteht in erster Linie in der Darstellung eines klassischen Ideals. Sämtliche Bildfiguren sind idealisierte Gestalten in antiker Kleidung und Habitus. Nicht zuletzt die Darstellung der fliegenden Putten mit den Lorbeerkränzen in ihren Händen macht überdeutlich, dass es sich hier nicht um einen realen Ort handelt, sondern um einen mythischen, fernen Ort in der Götterwelt. In Rembrandts lebensnaher Darstellung wären mit Lorbeerkränzen ausgestattete Putten hingegen völlig fehl am Platz. Im Gegensatz zu Poussin lässt sein Zeitgenosse Rembrandt den Bezug auf die druckgrafische Vorlage nicht allzu offensichtlich werden. Rembrandt will sich nicht ausdrücklich in die italienische Tradition stellen, stattdessen entwickelt er eine eigenständige, den Werken der italienischen Renaissance entgegengesetzte Bildsprache. Nicola Courtright weist darauf hin, dass sich die Rohrfederzeichnung auch stilistisch deutlich vom gestochenen Vorbild unterscheidet.95 Charakteristisch für Rembrandts späte Rohrfederzeichnungen ist ein sehr vereinfachter Zeichenstil, der kaum fließende Linien erlaubt, sondern durch raue, oft unterbrochene, kurze und kantige Linien gekennzeichnet ist. Dies führt dazu, dass die Bildfiguren nicht bewegt erscheinen, sondern in ihrer unmittelbaren Aktion eingefroren wirken. Statt wie im Stich eine möglichst große Vielfalt an Posen und Darstellungsweisen zu erzeugen, die abwechslungsreich arrangiert werden, ist in Rem92
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Clark 1966, S. 101: „When borrowing a classic motive from a Marcantonio engraving he practically always changed the subject, and often modified the form in a way which revealed a long and enlighting process of thought.“ Rembrandt, Aristoteles mit der Büste Homers, Öl auf Leinwand, 143.5 × 136.5 cm, 1653, New York, Metropolitan Museum, Inv. Nr. 61.198 sowie Rembrandt, Homer unterrichtet seine Schüler, Öl auf Leinwand, 107 × 82 cm, 1663, Den Haag, Mauritshuis, Inv. Nr. 584. Golahny 2002, S. 86. Courtright 1996.
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brandts Zeichnung die Aufmerksamkeit aller Zuhörer auf Homer gerichtet und damit ein klarer Fokus gesetzt. Damit entspricht seine Zeichnung insgesamt der von Karel van Mander empfohlenen Vorgehensweise. Denn Mander rät dazu, Entlehnungen gut zu verbergen und sie der eigenen Darstellungsweise anzupassen.96 Doch verbirgt Rembrandt nicht den Bezug auf das Vorbild, weil er sich womöglich seiner Entlehnung schämte. Sondern er wählt ganz bewusst dieses, auch Jan Six vertraute Vorbild, um es in der Transformation zu überwinden. Hier liegt demzufolge die Motivation des künstlerischen Wettstreits mit dem klassischen Vorbild zugrunde. Gerade weil die Zeichnung für ein Freundschaftsalbum gedacht war und mit der Signatur und Dedikation als vollendetes Werk charakterisiert wurde, wird deutlich, dass es sich hier nicht um eine Zeichnung handelt, die lediglich als Vorstudie für ein anderes Werk angefertigt worden wäre, sondern das Blatt ist gemeint als Manifestation der eigenen Kunstauffassung in stilistischer wie ikonografischer Hinsicht. Dies schließt auch eine gewisse Unvollendetheit nicht aus, die gerade einzelne Etappen der Entwicklung des Bildgedankens offensichtlich werden lässt.97 Rembrandt geht es stets um eine möglichst realitätsnahe Darstellung christlicher und mythologischer Bildinhalte, bei welcher es dem Betrachter leicht gelingen soll, einen emotionalen Zugang zur Bildhandlung zu erhalten. Dieser wird durch eine gedankliche Identifikation des Betrachters mit den handelnden Bildfiguren ermöglicht. Auch wenn Rembrandts schnelle Federzeichnung einen äußerst skizzenhaften Charakter hat, so wird doch in einigen Gesichtern eine individuelle Mimik erkennbar. So gelingt es ihm, bereits in dieser ersten Disposition der Szene eine Interaktion zwischen den einzelnen Protagonisten anzudeuten. Dies lässt sich nicht im Fall der Zeichnung Poussins beobachten. Hier bleiben die meisten Gesichter leer, denn die Erfassung ihrer persönlichen Züge ist für den Bildsinn nicht entscheidend. Der wesentliche Zweck der Zeichnung Poussins liegt darin, die räumliche Gliederung der Szene und die Anordnung der einzelnen Bildfiguren zu klären. Man kann, von Raffaels Fresko ausgehend, eine stufenweise Entwicklung erkennen: Raffaels Fresko hatte mit seinem berühmten Platz in der Stanza della Segnatura vor allem den Zweck eines allegorischen Bildprogramms, das unter anderem auf die Gelehrtheit und Kunstverehrung des Papstes verweisen soll. Anstelle einer bestimm-
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Vgl. Anm. Nr. 51, S. 84. Courtright 1996, S. 493: „Embedding the traces of a creative act in a final work arguably was a more self-conscious or declamatory act than exhibiting the process in a preparatory study, in the Italian fashion, because […] the finality of the work focused attention on the graphic means employed.“ Vgl. ebenda, S. 491: „The union of radical sketchiness with pictorial completeness is a fundamental precept underlying some of Rembrandt’s paintings, not to mention a large number of his etchings, which also seem simultaneously complete and incomplete in their signed, final states.“ Auch viele Zeichnungen der italienischen Renaissance zeigen diesen Grad der Unvollendetheit, der die einzelnen Stufen des Arbeitsprozesses offensichtlich bleiben lässt. Vielleicht hatte Rembrandts diese Zeichenweise anhand seiner eigenen Sammlung von Arbeiten auf Papier schätzen gelernt.
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ten Bildhandlung wird hier ein idealtypisches Bildthema dargestellt, das auf literarische Bezüge verweist – nämlich die Apotheose der Dichter, die mit ihrer Anwesenheit auf dem Parnass in die unmittelbare Nähe des antiken Gottes Apoll und seiner Musen gelangen. Auch Poussin hat auf seiner Zeichnung zunächst das Ziel, die Ehrung der einzelnen Dichter durch die von den Putten herabgeworfenen Lorbeerkränze in einer vielfigurigen Komposition darzustellen. Erst auf dem Gemälde wird die Interaktion der einzelnen Personen hervorgehoben und eine spezifische Bildhandlung in der Auszeichnung eines Dichters durch Apoll verdeutlicht. Rembrandt hingegen hat von Anfang an die bildliche Erfassung innerer menschlicher Prozesse zum Ziel – in diesem Fall die individuellen Reaktionen der Zuhörenden auf das Gesagte. Das klassische Bildthema der Darstellung des antiken Dichters Homer wird hier umgeformt in eine unklassische Handlung.98 Rembrandt folgt damit einem Konzept der Verlebendigung und Emotionalisierung durch eine große Nähe zur Natur, die auch die Darstellung von Hässlichkeit nicht ausschließt. Dies steht in deutlichem Gegensatz zur klassischen Kunst, die eine Tendenz zur Idealisierung und Vervollkommnung aufweist, weil sie sich der Schönheit verpflichtet fühlt.99
Rembrandt tauscht sein Hundertguldenblatt gegen einen Abzug der Pest in Phrygien: Raimondi als technisches Vorbild Bereits 1654, fünf Jahre nach ihrer Entstehung, erzielte Rembrandts Radierung Christus heilt die Kranken den Preis von 100 Gulden, dem sie bis heute ihren Spitznamen verdankt (Abb. 105).100 Gezeigt werden einzelne Episoden aus dem 19. Kapitel des 98
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Zum Begriff der Klassik, siehe Busch 1998. Als klassisch gilt, was zum Kanon nachahmenswerter Vorbilder gehört. Vgl. Ueding 1992–2009, Bd. I, A-Bib, Sp. 141: „Das Verhältnis der jüngeren aemuli (Nacheiferer) zu den neuen Vorbildern, die einstmals selber aemuli noch älterer Muster waren, ist das von Klassizisten zu Klassikern.“ Courtright 1996, S. 487: „I argue that Rembrandt’s recasting of Raphael’s canonical work and his radical distillation of graphic means indicates that he wanted to avoid, and perhaps even to oppose, the conventional ways of rendering grace and beauty for which the Renaissance artist strove.“ Rembrandt, Das Hundertguldenblatt, auch genannt: Christus heilt die Kranken, Radierung, Kaltnadel, Grabstichel, 278 × 388 mm, 1649, White / Boon B. 74, Rijksmuseum Amsterdam Inv. Nr. RP-P-OB-601. Recto befindet sich folgende Notiz in Graphit: „deze is alder eerste en dus raarste druk van deze plaat, met het wijnigze [wijnigste?] wit om het hooft van Jezus.“ Vgl. Hinterding / Luijten / Royalton-Kisch 2000, S. 253–258, Kat. Nr. 61, Bevers / Schatborn / Welzel 1991, S. 242–245, Kat. Nr. 27. Ein weiterer Abzug auf Japan befindet sich in London, British Museum, Inv. Nr. 1973,U.1022. Emile Vanden Bussche, Un évèque bibliophile. Notes sur la bibliothèque et le cabinet de gravures de Charles Vanden Bosch, neuvième évèque de Bruges; ses relations avec Elzévirs, Meyssens, etc., in: La Flandre: revue des monuments d’histoire et d’antiquites, Bd. XIII, 1880, S. 358–359, zitiert einen Brief des Verlegers Joannes Meijssens aus Antwerpen an den Sammler Karel van den Bossche, Bischoff von Brügge, datiert am 9. Februar 1654. Hier schreibt er: „Vooder is alhier de raerste print van Rembrant dier wtgaet, daer Criistus de melatsche geneest, ende jck wete als datse jn Hollant diversche
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105 Rembrandt, Das Hundertguldenblatt, auch genannt: Christus heilt die Kranken, Radierung, Kaltnadel, 282 × 392 mm, 1649
Matthäusevangeliums, wie die Heilung der Kranken, die Segnung der Kinder, das Streitgespräch mit den Pharisäern sowie der Ausspruch Christi, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr ginge, als dass ein Reicher in den Himmel gelange (Matth. 19, Vers 23–24). Auf der Rückseite eines außergewöhnlich schönen Abzugs des ersten Zustands auf Japanpapier des sogenannten Hundertguldenblatts, der im Rijksprentenkabinet in Amsterdam aufbewahrt wird, befindet sich die folgende Notiz: Ici-dessous est écrit en Pierre-noire / Vereering van myn speciaele / vriend Rembrand, tegens de / Pest van M. Antony. / / Rembrand Amoureux d’une / Estampe de M.A. [Marcantonio] savoir la / Peste, que son ami J. Pz. Zoomer [Jan Pietersz. Zoomer], avoit de fort belle / keeren vercocht syn 100 gul. ende meer; ende is soo groot als dit blad pampier, seer fray ende ardich, maer sy souden moeten 30 guldens costen, is seer schoon ende suyver.“ Vgl. http:// www.britishmuseum.org/research/search_the_collection_database/search_object_details. aspx?objectid=757604&partid=1&IdNum=1973%2cU.1022&orig=%2fresearch%2fsea rch_the_collection_database%2fmuseum_no__provenance_search.aspx, letzter Abruf am 24.07.2015.
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Impression, & ne pouvant / l’Engager à la lui vendre, / Lui fit present, pour l’avoir / de Cette Estampe-ci, plus- / rare & plus Curieux Encore / que l’Estampe que l’on Nome [?] / de Hondert Guldens Print, par / les Additions dans le Clair obscur / qu’il y a dans Celle-ci, / dont il n’y a eu, suivant le raport / qui m’en a Ete fait, que tres peu d’Impressions, dont / Aucune n’a jamais été vendûe / dutemps de Rembrand, mais / distribuées entre les amis.101 Die hier beschriebene Annahme, Rembrandt habe mit dem Amsterdamer Kunsthändler Jan Pietersz. Zoomer (1641–1724) diesen besonders frühen und wertvollen Abzug des Hundertguldenblattes gegen einen Abzug von Raimondis Stich der Pest in Phrygien eingetauscht (Abb. 15), weil er ihn sonst nicht hätte dazu überreden können, den Stich zu verkaufen, lässt sich leider nicht mehr verifizieren.102 Denn es findet sich keine handschriftliche Notiz von Zoomer selbst auf dem Blatt, sondern nur der sicherlich deutlich später verfasste französische Vermerk. Von einem ähnlichen Tausch berichtet auch Edmé-François Gersaint im 1751 publizierten Verzeichnis der Werke Rembrandts: Rembrandt habe einem römischen Kunsthändler, der ihm Stiche von Marcantonio im Wert von 100 Gulden angeboten habe, sein Hundertguldenblatt dafür gegeben.103 Es erscheint keineswegs unwahrscheinlich, dass ein besonders guter Abzug von Raimondis Pest Rembrandt soviel wert gewesen sein könnte, dass er sein um 1647 – 1648 entstandenes Meisterwerk dagegen eintauschte.104 Wie im zweiten Kapitel dieser Arbeit gezeigt worden ist, gehört die Pest in Phrygien zu Raimondis absoluten Meisterstichen. Es ist eines der wenigen Motive, das von Raffael durch ein exaktes modello vorbereitet worden ist. Wie bereits erwähnt, ist dieser Stich eines der seltenen Nachtstücke Raimondis. Nicht nur ist der Stich in eine Tages- und eine Nachthälfte unter-
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Dass sich tatsächlich nur sehr wenige frühe Abzüge von dieser Platte erhalten haben, bestätigt die hier getroffene Aussage. Lugt 1921, Nr. 1511. Jan Pietersz. Zoomer, Glas-Gravierer und -Händler bis 1687, dann berühmter Kunsthändler und Sammler in Amsterdam. Von 1690 bis 1715 hat er fast alle größeren Sammlungen oder Inventare geschätzt und die wichtigsten Verkäufe und Auktionen in Amsterdam geleitet. Zoomer soll über 30‘000 Graphikblätter in seinem Lager gehalten haben und mit Rembrandts Sohn Titus befreundet gewesen sein, der im gleichen Alter war. Zoomers in Alben aufbewahrte Sammlung von Radierungen Rembrandts umfasste 428 Blätter. Auch besaß er sieben Alben mit je mehr als 60 Blatt Zeichnungen Rembrandts. Gersaint 1751, S: 60: „Notre-Seigneur, guérissant les malades, grand Morceau connu sous le nom de la Piece de Cent Florins. On a toujours cru que ce qui lui avoit fait donner ce nom, étoit qu’elle avoit été vendue ce prix là en Hollande, du vivant de Rembrandt. Voici ce que j’en ai appris dans ce pays. On sçait [sic!] que Rembrandt étoit fort curieux d’Estampes, & surtout de celles d’Italie. On prétend qu’un jour un Marchand de Rome proposa à Rembrandt quelques Estampes de Marc-Antoine, auxquelles il mit un prix de 100 florins, & que Rembrandt offrit pour ces Estampes ce Morceau que le Marchand accepta, soit qu’il voulût obliger par là Rembrandt, ou qu’effectivement il se contenta de cet échange.“ Vgl. Valentiner 1905, S. 71. Broun / Shoemaker 1981, S. 30.
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teilt, sondern es wird auch das Licht einer Fackel dargestellt, mithilfe derer ein Knabe die toten Tiere im Stall betrachtet. Rembrandt hat sich in seinem gesamten Werk der Darstellung dramatischer Lichtund Schattenwirkungen gewidmet. Seine in der Malerei verfolgten bildnerischen Ziele sind in diesem Punkt eng verwandt mit seinem druckgrafischen Schaffen.105 Auch die Effekte künstlicher Lichtquellen sind immer wieder Bildthema bei Rembrandt. Es liegt daher nahe anzunehmen, dass Rembrandt die Druckgrafik Raimondis nicht nur betrachtete, um sich über Raffaels Bildmotive zu informieren, sondern er profitierte auch vom Vorbild hinsichtlich technischer Aspekte für sein eigenes druckgrafisches Werk. Dass Rembrandt vor allem druckgrafische Vorbilder studierte, um auch Nachtstücke überzeugend darstellen zu können, hat bisher in der kunsthistorischen Forschung nicht genügend Beachtung gefunden. Zunächst einmal ist das Hundertguldenblatt selbst ein Lehrstück über vollendet inszenierte Lichtregie.106 Nicht nur hat Christus einen Strahlenkranz, die ganze Figur selbst scheint vor dem dunklen Hintergrund zu leuchten und damit die Worte Jesu zu illustrieren: „Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben“ (Johannes, Kap. 8, Vers 12). Ein starker Lichteinfall kommt von links, der besonders die unvollendet erscheinenden Partien auf der linken Bildhälfte erhellt und auch auf die Bildfiguren auf der rechten Bildhälfte einen warmen Lichtschimmer legt. Der gesamte Bildhintergrund versinkt hingegen in geheimnisvollem Dunkel, das Rembrandt mit unzähligen übereinandergelegten Schraffuren erzeugte. Auf die Spitze getrieben ist dieses theatralische Lichtspiel im „special effect“ des Schattens auf der Kleidung Christi, der von den betenden Händen der vor ihm knienden Kranken erzeugt wird. Die Radierung besteht zudem nicht nur aus zwei Tönen, sondern aus verschiedenen Abstufungen grauer Halbtöne, die sanfte Übergänge zwischen den Licht- und Schattenzonen generieren.107 Dass die tonalen Werte für Rembrandt besonders wichtig waren, kann man nicht zuletzt daran erkennen, dass er für einige Abzüge Japanpapier verwendete, das sanftere tonale Übergänge erlaubt als normales weißes Papier. Auch der gewählte Plattenton ist hier entscheidend. Gerade bei den radierten Nachtstücken Rembrandts sind deutliche Unterschiede bei
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Althaus 2005, S. 33 und Ackley 1980, S. XXIII. Matthias Winner untersucht Rembrandts Hundertguldenblatt nicht hinsichtlich von Aspekten der Lichtführung, wie es hier getan wird, sondern er erkennt vor allem motivische Anleihen aus Raffaels Fresko der Schule von Athen, das Rembrandt durch einen Stich Giorgio Ghisis kannte. Dieser hatte das Thema des Freskos, laut seiner Inschrift, fehlgedeutet in die Predigt Pauli in Athen. Dieses Bildthema greift auch Rembrandt auf, indem er auf seinem Hundertguldenblatt den Inhalt der Predigt Pauli zeigt, nämlich das Wirken des Erlösers Jesus Christus, siehe: Winner 2009. White 1999, S. 55.
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den einzelnen Abzügen zu beobachten, je nachdem, wie stark die Platte eingefärbt wurde oder wie abgenutzt sie bereits war.108 In folgenden Nachtstücken in seinem druckgrafischen Werk wendete Rembrandt den bei Raimondi gezeigten Effekt an, bei dem Fackeln, Kerzen oder Laternen das umfassende Dunkel der Szene nur spärlich erhellen: Die Anbetung der Hirten bei Laternenschein, Die Flucht nach Ägypten, Die Ruhe auf der Flucht, Die Kreuzabnahme bei Fackelschein, Der Dreikönigsabend, Der nach einem Gipsabguss zeichnende Mann sowie Der Student am Tisch bei Kerzenschein.109 Auch Der Heilige Hieronymus im dunklen Zimmer wird allein vom dürftigen Lichtschimmer erhellt, der durch ein Fenster fällt.110 Wie der Student hebt er in einer nachdenklichen Geste seine linke Hand an die Stirn, wodurch er gleichzeitig sein Gesicht von der Lichtquelle abschirmt.111 Vor allem bei den beiden letztgenannten Radierungen tritt die Bildhandlung beinahe hinter den effektvollen Hell-Dunkelkontrasten zurück, bei denen das Licht im wirkungsvollen Gegensatz zum tiefen Schwarz seine besondere Wirkung entwickelt. Rembrandt zwingt den Betrachter zum genauen Studium der Blätter, weil im allumfassenden Dunkel kaum etwas zu erkennen ist. In anderen Fällen wird die Lichtquelle selbst zum Bedeutungsträger. Wenn der Engel den Hirten erscheint, dann geschieht dies vor göttlichem Lichtschein, der gleißend auf die fliehenden Hirten und Tiere fällt.112 Auch der Engel, der die Familie des Tobias verlässt, entschwindet im himmlischen Lichtstrahl.113 Ebenso
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Man kann hier nicht die These aufstellen, Raimondis Stich der Pest in Phrygien habe Rembrandt zu dieser Szene im motivischen Sinn inspiriert, auch wenn diese Verbindung verführerisch klingen mag und Matthias Winner durchaus die Meinung vertritt, der Stich sei auch ein motivisches Vorbild für das Hundertguldenblatt gewesen. Raimondis Szene wird von der an der Pest verstorbenen Mutter beherrscht. Auch auf Rembrandts Radierung befindet sich zu Füßen Christi eine auf dem Boden lagernde Kranke. Doch machen die wenigen erhaltenen Vorzeichnungen Rembrandts für das Hundertguldenblatt deutlich, dass diese Darstellung der Kranken nicht auf Raimondi zurückzuführen ist. Winner schlägt vor, ein weiteres motivisches Vorbild für den Zug der Kranken, Bettler und Blinden könnte ein Holzschnitt nach Hans Holbein d.J. gewesen sein (Christus vera lux, 1527), der ebenfalls vor allem Christi Rolle als Lichtbringer zum Thema hat. Vgl. Winner 2009. Siehe auch folgende Vorzeichnungen: Rembrandt, Studien zum Hundertguldenblatt, Feder und Pinsel in braun, weiss gehöht, 101 × 122 mm, Amsterdam, Rijksprentenkabinet, Inv. Nr. 1964:127, Schatborn 1985, S. 48–49, Kat. Nr. 21. Vgl. White 1999, S. 58–59. White / Boon 1969, Nrn. B 46, B 53, B 57, B 83, B 113, B 130 und B 148. White / Boon 1969, Nr. B 105. Auch Die Frau an der Tür, die sich mit einem Mann und Kindern unterhält, wird nur schwach von einer hinter ihr liegenden Lichtquelle erhellt. Wahrscheinlich hat sie in ihrer Stube eine Kerze brennen und tritt nun hinaus ins Dunkel. White / Boon 1969, Nr. B 128. Der in dieser Radierung erprobte Effekt, die zentrale Bildfigur von einem durch ein Fenster fallenden Lichtschimmer zu erhellen, findet auch in Rembrandts radierten Porträts Verwendung, beispielsweise im Porträt des Jan Six, das fünf Jahre nach der Hieronymus-Radierung entstand, oder im Porträt des Apothekers Abraham Francen (1657). Beide Connaisseure benutzen dabei das von Außen hereindringende Licht, um zu lesen oder ein Kunstwerk zu studieren, White / Boon 1969, Nrn. B 285 und B 273. White / Boon 1969, B 44. White / Boon 1969, B 43.
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106 Rembrandt, Die Flucht nach Ägypten, Radierung, Kaltnadel, 128 × 110 mm
werden die Drei Kreuze von einer magischen Lichtquelle erhellt, die nicht im Bild selbst gezeigt wird.114 Bei der Grablegung scheint der tote Körper Christi im Dunkel der Grabeshöhle selbst zu leuchten und trotz seines Todes noch Trost zu spenden.115 Bei allen genannten Radierungen geht es Rembrandt um die Zurschaustellung seiner künstlerischen Virtuosität. Besonders vor der Erfindung der Aquatintatechnik erwies 114 115
Ebenda, B 78. Ebenda, B 86. Auch Faust erscheint ein magisches Lichtzeichen. White / Boon 1969, B 270.
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sich das technische Geschick eines „Malerradierers“ vor allem beim Herstellen von nächtlichen oder nur schwach beleuchteten Szenen. In sicherlich aufwendiger Bearbeitung der Platte durch unzählige Kreuz- und Parallelschraffuren mit der Radiernadel sowie zahlreiche Ätzvorgänge geht Rembrandt dabei an die Grenzen des Mediums. Wie einzelne Abzüge der Nachtstücke zeigen, intensivierte Rembrandt die dunklen Zonen mit jedem neuen Zustand. Beispielsweise sind insgesamt sechs Zustände der Radierung Die Flucht nach Ägypten bekannt (Abb. 106).116 Die Anbetung der Hirten bei Laternenschein liegt sogar in acht Zuständen vor, bei denen mit jedem Arbeitsgang das
107 Rembrandt, Anbetung der Hirten (Nachtstück), Radierung, Kaltnadel, 149 × 198 mm
Licht immer mehr reduziert wurde, was eine Konzentration auf das Wesentliche des Geschehens mit sich brachte (Abb. 107).117
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Rembrandt, Die Flucht nach Ägypten, Radierung, Kaltnadel, 128 × 110 mm, White / Boon 53.VI, New Hollstein Dutch 262.VI, British Museum, London, Inv. Nr. F,4.109. Rembrandt, Anbetung der Hirten (Nachtstück), Radierung, Kaltnadel, 149 × 198 mm, White / Boon 46.VII, New Hollstein Dutch 300.VIII, British Museum London, Inv. Nr. F,4.88, siehe auch: Althaus 2005, S. 164–169, Kat. Nr. 69.
256 Rembra ndt u nd Ra i mond i : Die Referen z w ird verborgen
108 Hendrick Goudt (nach Adam Elsheimer), Die Flucht nach Ägypten, Kupferstich, 355 × 405 mm, 1613
Mit den genannten Beispielen soll keineswegs belegt werden, dass allein Raimondis Darstellung des von einer Fackel erhellten Stalls auf dem Stich der Pest in Phrygien Rembrandts Interesse für Nachtstücke geweckt habe. Neben Raimondi ist hier Hendrick Goudt (1583–1648) als ein weiteres wesentliches Vorbild zu nennen, der mit Kupferstichen nach Gemälden Adam Elsheimers (1578–1610) in Holland schnell Erfolg hatte und damit sicherlich auch seitens der Druckgrafiksammler eine Nachfrage nach radierten Nachtstücken generierte.118 Besonders Goudts spiegelverkehrter Stich nach Elsheimers Flucht nach Ägypten wird einen tiefen Eindruck bei Rembrandt hinterlassen und ihn möglicherweise zu einigen der acht Radierungen und einem Gemälde gleichen Themas angeregt haben (Abb. 108).119 Nicht zuletzt besaß Rembrandt 118
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Diesen Hinweis verdanke ich Dr. Martin Sonnabend, Kurator der Graphischen Sammlung des Städelmuseums Frankfurt am Main. Vgl. Hinterding / Luijten / Royalton-Kisch 2000, S. 17. Ger Luijten weist darauf hin, dass Goudt geradezu eine Mode für radierte Nachtstücke in Holland im 17. Jh. auslöste. Hendrick Goudt (nach Adam Elsheimer), Die Flucht nach Ägypten, Kupferstich, 355 × 405 mm, 1613, Hollstein VIII. 153. 3, British Museum London, Inv. Nr. S.4960. Vgl. Adam Elsheimer, Flucht nach Ägypten, Öl auf Kupfer, 30,6 × 41,5 cm, 1609, München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen Alte Pinakothek, Inv. Nr. 216. Auch auf diesem Gemälde zeigt Elsheimer die Wirkung verschiedener Lichtquellen, wie Mondschein, Lagerfeuer und brennender Kien-
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eine Kupferplatte von Hercules Seghers (1589–1640), die einen Stich Hendrick Goudts nach Adam Elsheimers Komposition Tobias und der Engel variiert. Rembrandt entfernte die Bildfiguren aus der Platte und ersetzte sie durch die fliehende Heilige Familie, die er in die vorgegebene Landschaft einpasste.120 Dennoch wird insgesamt deutlich, dass es nicht ausreicht, im Werk Rembrandts lediglich nach fremden Motivquellen zu suchen. Vielmehr studierte er Kupferstiche und Radierungen anderer Meister vor allem auch dann, wenn er in seiner eigenen druckgrafischen Tätigkeit nach neuen technischen Herausforderungen suchte. Seine Passion als Kunstsammler ist dabei eng mit seinem künstlerischen Schaffen verknüpft. Die Leistungen seiner Vorgänger weckten in ihm den Wunsch, sich in seinem eigenen druckgrafischen Œuvre beständig weiter zu entwickeln. So wird auch der Kupferstich Raimondis der Pest in Phrygien für Rembrandt eine wichtige Anregung hinsichtlich der Darstellung eines Nachtstücks geliefert haben. Abschließend liegt auch hier ein Vergleich von Rembrandts und Poussins Umgang mit Raimondis Stich der Pest in Phrygien nahe. Wie gezeigt worden ist, hat Poussin den Stich ausschließlich als Motivvorlage für einzelne Figuren verwendet, die er in sein Gemälde der Pest von Aschdod integrierte. Es spielte für ihn keine Rolle, in welcher Technik die Vorlage angefertigt worden war, weil lediglich die Bilderfindung für ihn von Interesse war, die er zudem in ein neues Medium übertrug. Rembrandt hingegen studierte den Stich nicht aufgrund der Darstellung, sondern vor allem wegen der im Medium des Kupferstichs angewendeten Mittel zur Darstellung unterschiedlicher Lichtsituationen, was ihm besonders für seine Radierungen ein hilfreiches Vorbild war. Je nach der künstlerischen Intention des Nachfolgers konnten die Stiche Raimondis also für unterschiedliche Zwecke nützlich sein.
Ergebnisse Rembrandt beschäftigte sich Zeit seines Lebens mit seiner Sammlung von Drucken und Zeichnungen anderer Künstler. Gerade weil er auf den durch die Druckgrafik vermittelten, reichen italienischen Formenschatz zurückgreifen konnte, entschied er, dass er selbst nicht nach Italien zu reisen brauchte, auch wenn ihm dadurch der Eindruck der farbigen Originale entging. In der Auseinandersetzung mit den gestochenen Vorbildern lassen sich deutliche Unterschiede in der jeweiligen Aneignung erkennen: In sehr seltenen Einzelfällen studierte Rembrandt Stiche oder Zeichnungen in
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span. Vgl. Baumstark / Dekiert 2005, S. 132–137, Kat. Nr. 3; Vgl. Hollstein / Luijten 1993–, Bd. VIII, Goltzius – Heemskerk, S. 153, Nr. 3, Vgl. Rembrandt, Flucht nach Ägypten, Öl auf Eichenholz, 34 × 48 cm, 1647, Dublin, The National Gallery of Ireland, Inv. Nr. 215 sowie Rembrandt, Flucht nach Ägypten resp. Die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten, White / Boon 1969, B 52–B 59. Rembrandt, Die Flucht nach Ägypten, Radierung, Grabstichel und Kaltnadel, 215 × 283 mm, White / Boon 1969, B 56. Vgl. Hendrik Goudt, Tobias und der Engel, kleine und große Fassung, Hollstein / Luijten 1993–, Bd. VIII, Goltzius – Heemskerk, S. 151–152, Nr. 1–2.
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ihrer gesamten Komposition, um sich in das Vorbild hineinzudenken und es sich zeichnend anzueignen. Dazu gehören die drei Studien nach Leonardos Abendmahl sowie die Zeichnung Die Verleumdung des Apelles nach Andrea Mantegna. In der Mehrzahl der Fälle entlehnte Rembrandt nur einzelne Bildfiguren, die er in ihrer Körperhaltung, ihren Gesten und ihrer Funktion im Bild kritisch durchdachte und unmittelbar in raschen Skizzen umarbeitete. Dabei ist jeweils die Tendenz zu erkennen, das Vorbild mit dem Zweck größtmöglicher Lebensnähe umzuformen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass Rembrandt einen Unterschied in der künstlerischen Rezeption von originalen Werken und druckgrafischen Reproduktionen machte. In vielen Fällen nutzte er die Stiche so, als seien sie getreue Abbilder der ihm nicht im Original zugänglichen Vorlagen. Dennoch wählte er nicht zufällig die Stiche Raimondis als Sammlungs- und Studienobjekte, da sie ihn auch in technischer Hinsicht begeisterten. So fand der künstlerische Wettstreit Rembrandts mit den gestochenen Vorbildern parallel auf mehreren Ebenen statt, nämlich hinsichtlich der Ikonografie, der Darstellungsweise und des Umgangs mit dem Medium Druckgrafik. Vor dem Hintergrund sehr verschiedener kultureller Kontexte, in welchen die Kupferstiche Raimondis betrachtet wurden, lassen sich deutliche Unterschiede in der Übersetzung der druckgrafischen Quelle in neue Kunstwerke erkennen. Poussin verbrachte etwa 40 Jahre in Rom und hatte Zugang zu den Originalen Raffaels, während Rembrandt in Amsterdam blieb und keine nähere Kenntnis über das Umfeld der Entstehung der Stiche Raimondis erhielt. Auch sah er nie die Farben und erlebte nie die Dimensionen der Fresken Raffaels. Beide Künstler formten ihre Motivübernahmen aus den Kupferstichen gemäß ihren eigenen künstlerischen Intentionen um. So ist es möglich, dass derselbe Stich Raimondis Anlass geben konnte zu sehr unterschiedlichen Neuschöpfungen. Dabei ist es äußerst schwierig, das Ausmaß der Auswirkung des jeweiligen kulturellen Umfeldes des Aufnehmenden auf seinen Rezeptionsprozess zu bestimmen. Anhand welcher Parameter sollte man diesen Kontext definieren? Spielte die räumliche Herkunft der Künstler überhaupt eine Rolle hinsichtlich ihrer Entscheidung, welche Stiche Raimondis in welcher Form Eingang in ihr Werk nehmen sollten? Ich bin der Auffassung, dass die individuelle Persönlichkeit der Künstler, ihre jeweiligen Ziele und Wertmaßstäbe hinsichtlich der künstlerischen Produktion in diesem Zusammenhang von vorrangiger Bedeutung waren. Dennoch gilt, dass Künstler, die ausschließlich nördlich der Alpen tätig waren, von einer anderen visuellen Kultur geprägt waren. Sie hatten überwiegend nordische Stilformen und Vorbilder kennengelernt, was ihre Art und Weise, sich Modelle der italienischen Renaissance anzueignen, entscheidend prägte. Während sich beispielsweise in der zeitgenössischen Kunst Rembrandts eine Vorliebe für Genreszenen und möglichst unverfälschte Naturdarstellungen herausgebildet hatte, war die italienische Kunst, von der Poussin umgeben war, nach wie vor von einem Hang zur Idealisierung geprägt. Dies hatte ohne Zweifel einen großen Einfluss auf den jeweiligen schöpferi-
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schen Umgang mit den gestochenen Vorlagen. Darüber hinaus spielten auch mögliche Erwartungen der Betrachter eine Rolle. Weil Poussin im gleichen räumlichen Kontext wie seine Vorbilder tätig war, konnte er davon ausgehen, dass die Betrachter seiner Werke Raffael als Vorbild wiedererkennen würden. Dies hat sicherlich seine Entscheidung geprägt, die Referenzen auf das Vorbild als offensichtliche Zitate zu verwenden, die den Betracher zu einem bewussten Vergleich von Vor- und Nachbild anregten. Rembrandt hingegen konnte nicht davon ausgehen, dass seine Quellen vom zeitgenössischen Amsterdamer Publikum erkannt wurden. Auch wenn sicherlich vor Ort viele Grafiken gehandelt wurden, besaß kaum jemand eine so umfangreiche Sammlung wie Rembrandt. Originale Raffaels waren zudem kaum bekannt. Dies mag mit dazu geführt haben, dass Rembrandt die Vorlagen sehr frei umformte und äußerst selektiv auf verschiedene Vorbilder zurückgriff.
Arten der Aneignung von Kupferstichen
Wie durch die Materialerhebung deutlich wurde, lassen sich verschiedene Formen der künstlerischen Reaktion auf die Stiche Marcantonio Raimondis klar voneinander unterscheiden. Zu den Parametern, welche die Art der Aneignung bestimmen, zählen in erster Linie die Technik der Nachschöpfung sowie die Intentionen des nachahmenden Künstlers. Darüber hinaus ist auch der kulturelle Kontext der entlehnenden Künstler entscheidend für die Form der schöpferischen Übernahme. In dieser Untersuchung überwiegen die Übertragungen der Kupferstiche Raimondis in andere künstlerische Techniken.1 Dabei gilt die Zeichnung als bevorzugtes Medium – sei es zur Schulung der eigenen Hand oder im Rahmen der kritischen Aneignung, welche oftmals der Vorbereitung anderer Werke diente. Es lässt sich die Tendenz erkennen, dass Wiederholungen der Gesamtkomposition der Stiche den Vorlagen meist stärker angenähert sind, während Teilkopien in der Regel Stufen eines Transformationsprozesses markieren, der schließlich dazu führt, die Teilentlehnungen in neue Werke zu überführen. Dabei ist es sogar möglich, die Entlehnungen in völlig neue ikonografische Zusammenhänge einzugliedern, wie es beispielsweise die Neuinterpretation des toten Säuglings aus dem Bethlehemitischen Kindermord in einen Schlafenden Amor durch Parmigianino gezeigt hat (Abb. 59).2 Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass es in Parmigianinos Sinn war, dass das zitierte Motiv vom Betrachter als solches erkannt und auf Raffaels Erfindung bezogen wird. Denn Parmigianino war sich der Möglichkeiten des vervielfältigenden Mediums der Druckgrafik bewusst und setzte voraus, dass beide Blätter vom Grafikliebhaber grundsätzlich pa rallel rezipiert werden können. Erst die Grafik ermöglicht hier einen solchen Bilder1 2
Reine Kopien im Medium des Kupferstichs sind in dieser Arbeit nicht weiter berücksichtigt worden, da ja gerade Transformationsprozesse Gegenstand der Untersuchung sind. Gleiches gilt auch für die Transformation der trauernden Mutter in die Heilige Familie, wie es im Falle der Zeichnung auf der Rückseite des Stichs Der Bethlehemitische Kindermord aus dem Victoria & Albert Museum gezeigt worden ist.
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vergleich und das Spiel mit dem geistreichen Zitat.3 Ein derartiger Kommentar bedeutet im genannten Beispiel, dass das Motiv des Todes in den Schlaf transformiert und damit eine grausame in eine liebliche Bildhandlung umgedeutet wird. Bis auf wenige Ausnahmen orientierten sich die nachahmenden Künstler nicht an der Liniensprache der Kupferstiche, sondern passten die Entlehnungen ihrem eigenen Duktus an. Dies liegt nahe, ist es doch ein mühevolles Unterfangen, äußerst kleinteilige Schraffuren des Kupferstichs zu wiederholen, statt beispielsweise die Gegensätze von Licht- und Schatten mittels Tuschelavierungen zu skizzieren. Schließlich warnen – wie gezeigt worden ist – beinahe sämtliche Traktate davor, sich der Liniensprache gestochener Vorbilder anzupassen, weil es auf diese Weise nicht gelingen würde, einen eigenen Stil zu entwickeln. Kam es doch einmal vor, dass ein Kupferstich Linie für Linie in eine Zeichnung übertragen worden ist – dann ist dies eher in den Kontext von Laien zu setzen, die womöglich die eigene unvollständige Grafiksammlung zu ergänzen suchten oder sich gerade an diesem augentäuscherischen Spiel erfreuten.4 In einzelnen hier besprochenen Fällen der Übertragung der gestochenen Vorlage in Malerei musste zudem eine farbige Interpretation des monochromen Vorbildes ausgeführt werden. Dabei ist ebenfalls eine Änderung des Maßstabs zu beobachten. Dies ist eine Werkgenese, die in der Regel eine äußerst eigenständige Leistung darstellt und eine Vielzahl künstlerischer Entscheidungen voraussetzt. Der Kreis derjenigen, die sich der Stiche Raimondis als Vorlagen bedienten, ist äußerst vielgestaltig – er reicht von Amateuren und Grafikliebhabern, über Kunsthandwerker und Maler in der Ausbildung bis hin zu etablierten Künstlern, die den Wettstreit mit Raffael suchten. Damit hängt eng zusammen, dass der situative Entstehungskontext der Nachschöpfungen in entscheidender Weise ihre Gestalt prägt. Fand die Aneignung im Rahmen der Ausbildung statt oder im Zuge der Vorbereitung eines eigenständigen neuen Werks? Handelte es sich um eine Auftragsarbeit oder um ein
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Chapeaurouge 1974, S. 88: „Vor allem tritt aber mit dem 16. Jahrhundert an die Stelle der Werkstatttradition und damit an die Stelle des zufällig vorhandenen Inventars die beliebig tradierbare, weil zu vervielfältigende Grafik. Das neue Medium, im Laufe des 15. Jahrhunderts schon zu mannigfachen Kopien genutzt, wird als Stichreproduktion von Werken berühmter Künstler zum quantitativ einflussreichsten Vorbild. Dadurch erklärt sich auch, dass nun Raffaels ‚Galatea’ wie Michelangelos ‚Christus’ an den verschiedensten Orten und zu unterschiedlichen Zeiten wirksam werden können. Was bis ins 15. Jahrhundert nur in Originalen, Kopien und Nachzeichnungen tradierbar war, wird nun als Druck jedermann verfügbar. […] Für das Publikum haben diese Reproduktionen zur Folge, dass seit dem 16. Jahrhundert für den Betrachter die Möglichkeit besteht, Erfindungen bestimmter Meister ständig vor Augen zu haben und damit Vergleiche anstellen zu können. Ein Wiedererkennen von Motiven in neuen Figuren war damit ermöglicht.“ Die genannte Schlussfolgerung bezieht sich auf das von mir für die vorliegende Untersuchung ausgewählte Material. Michael Roth weist hingegen Beispiele nach, bei denen Künstler Kupferstiche – wie die von Martin Schongauer – liniengetreu in Federzeichnungen wiederholten, um an ihnen die vorbildhafte Schattierungs- und Modellierungstechnik zu studieren, weil die nachahmenden Künstler womöglich selbst als Kupferstecher tätig waren. Vgl. Roth 2010.
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Werk, das den Atelierkontext möglichst nicht verlassen sollte? War dem Zeichner oder Maler der Kupferstich in der eigenen Sammlung zugänglich oder musste er auf Reisen schnelle Skizzen nach der gedruckten Vorlage anfertigen? Je nach Zielsetzung des Nachahmenden ändert sich der Umgang mit der Vorlage und das Ausmaß der Umformung. In der Beurteilung von Werken, welche auf aus Kupferstichen entlehnte Motive zurückzuführen sind, muss daher jeweils berücksichtigt werden, zu welchem Zweck sie angefertigt worden sind. Bei den Nachzeichnungen im Rahmen der Künstlerausbildung lässt sich in der Regel feststellen, dass der Lernende eine möglichst große Ähnlichkeit mit der Vorlage anstrebte. Hier wurden meist vollständige Bildkompositionen zeichnend nachgeahmt. Diese Studien dienten vor allem dem Erlernen der korrekten Darstellung von Körperproportionen oder von räumlicher Perspektive, zur Aneignung ikonografischer Standards oder schlicht als Motivsammlung in der Tradition gezeichneter Musterbücher. Auch Amateure und Grafikliebhaber übten sich im Nachzeichnen von Stichen als Zeitvertreib und zur Bildung des eigenen Geschmacks. In Einzelfällen wurden die Stiche auch zur Dokumentation begrenzt zugänglicher Vorlagen zeichnend wiederholt, wie anhand der Reisenotizen Anthonis van Dycks gezeigt worden ist. Deutlich von dieser Praxis abzugrenzen sind Formen des „freien Kopierens“ seitens etablierter Künstler mit einer bereits entwickelten Bildsprache. Ihre schöpferische Rezeption und Verarbeitung gestochener Vorlagen bildet oft die Grundlage eines künstlerischen Schaffensprozesses, der in neue Kunstwerke mündet. Hierbei überwiegen die Entlehnungen lediglich einzelner Teile der Vorlage. Doch auch Kombinationen von Entlehnungen aus verschiedenen Vorlagen sind möglich. Die Gründe für solche Formen der Aneignung können vielfältiger Art sein: In manchen Fällen entlehnten die rezipierenden Künstler lediglich Figurenerfindungen oder Kompositionsschemata, um mit geringerem Aufwand ein neues Bild zu schaffen. Um sich dabei nicht auf die Schliche kommen zu lassen, konnten die Entlehnungen in Aussehen und Sinn verändert werden, indem das Geschlecht, das Kostüm oder die Sicht auf eine Bildfigur verändert wurde. Die entlehnten Figuren konnten zu kontextunabhängigen Entitäten werden und so in verschiedene neue Sinnzusammenhänge integriert werden. Sehr eng mit dem bisher Geschilderten verknüpft ist die Frage, ob sich die nachahmenden Künstler auf das Vorbild Raffael bezogen oder ob sie die eigenständige Interpretationsleistung Marcantonio Raimondis erkannten. Da kaum jemand der Rezipienten den hier eingangs vorgenommenen Vergleich der Stiche mit ihren gezeichneten Vorlagen vornehmen konnte – die Zeichnungen Raffaels waren ja nur in den seltensten Fällen öffentlich zugänglich – war es ihnen gar nicht möglich zu erkennen, dass die druckgrafische Interpretation Marcantonio Raimondis der Zeichnungen Raffaels eine Übersetzungsleistung darstellte, die unter Umständen deutliche Abweichungen vom Vorbild beinhaltete. Es lassen sich insgesamt vier verschiedene Arten der Betrachtung der Stiche Marcantonio Raimondis nach Raffael voneinander unterscheiden: Entweder galt das Interesse der nachahmenden Künstler ausschließlich der
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Erfindung Raffaels. Sie verwendeten die Stiche – aus Mangel an originalen Vorlagen – lediglich als nützliches Hilfsmittel, um sich über die Erfindungen Raffaels zu informieren. Wie unter anderem am Inventar Rembrandts deutlich wurde, war vielen Künstlern der Name Marcantonio Raimondi gar nicht geläufig. Sie betrachteten die Stiche nach Raffael als dessen eigenes Werk. Für andere Künstler, wie beispielsweise Parmigianino, hatten die Stiche Raimondis nach Raffael hingegen eine doppelte Funktion – als Vermittler der Bildschöpfungen Raffaels einerseits und als technische Vorbilder der gelungenen Übersetzung in den Kupferstich andererseits. Gerade solche Künstler, die selbst im Bereich der Druckgrafik schöpferisch tätig waren oder Drucke nach eigenen Entwürfen in Auftrag gaben, wählten die Stiche Raimondis nicht zufällig als Vorlagenmaterial. Auch für Rembrandt waren sie hinsichtlich technischer Merkmale interessant – wie am Beispiel seiner Wertschätzung des Stiches der Pest in Phrygien gezeigt worden ist. Nur in einzelnen Fällen – wie den beiden linientreuen Nachzeichnungen nach Raimondi aus Glasgow – kann man annehmen, dass den Stichen ein eigener nachahmenswerter ästhetischer Wert zugemessen wurde, der unabhängig von der Bilderfindung Raffaels Bestand hatte. Es fällt auf, dass selten solche Stiche Raimondis als künstlerisches Vorbild gewählt wurden, bei denen wir heute davon ausgehen, dass Raimondi selbst der Erfinder war. Lediglich in einem einzigen hier vorgestellten Fall – der Nachzeichnung Anthonis van Dycks nach dem Stich der Frau mit den zwei Schwämmen – kommt Raffael eher nicht als Erfinder des Motivs infrage. Auch in meiner weiteren Recherche, die nicht schriftlichen Eingang in diese Arbeit gefunden hat, ist mir kein weiterer Fall einer Nachzeichnung eines Stiches von Raimondi begegnet, bei dem es sich nicht um eine Erfindung Raffaels handelte! Schließlich gibt es auch Beispiele, wo dem Rezipienten weder bekannt war, dass es sich um Bildschöpfungen Raffaels handelte, noch dass die Stiche aus der Hand Raimondis stammten. Dies ist besonders dann der Fall, wenn die Stiche in großer Distanz zu ihrem Entstehungskontext betrachtet wurden. Die Stiche sind ja in den meisten Fällen nicht signiert worden und nennen auch nicht den Inventor der Szenen. In solchen Fällen ist anzunehmen, dass die Stiche aufgrund ihrer außergewöhnlichen Ikonografie als Vorbilder ausgewählt wurden, wie am Beispiel der künstlerischen Interpreta tionen des Stichs Die Kreuzabnahme gezeigt worden ist. In jedem Falle überwiegen solche Nachahmungen, die durch motivische Entlehnungen, nicht aber durch die stilistische Schulung am gestochenen Vorbild motiviert sind.5 5
Oberheide 1933, S. 172: „Seine [Marcantonios] Einwirkung ist also nur ein Teil des allgemeinen, großen Stromes, der italienische Formen nach dem Norden brachte. Allerdings kommt Marcanton als erstem italienischen Renaissance-Stecher bei diesem Vorgang eine führende Rolle zu. Rein zahlenmässig wird er weitaus am häufigsten von allen italienischen Stechern kopiert. Es gibt keinen deutschen Graphiker im 16. Jahrhundert, der ihn nicht irgendwo einmal benutzt hätte! Jedoch bleiben diese Übernahmen, mit wenigen Ausnahmen, nur auf das Motivische beschränkt. Und selbst hier werden fast nur Einzel- oder Gruppenmotive, selten ganze Kompositionen übernommen. […] Aber gerade diese sich überall zeigende Frei-
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Mehrheitlich geht es um einen künstlerischen Wettstreit mit dem Vorbild, der im Sinne antiker Rhetorik als aemulatio bezeichnet wird. Im Gegensatz zur imitatio, die von einer affirmativen Haltung gegenüber dem rezipierten Werk geprägt ist, liegt das Wesen der aemulatio in der Überbietung des Vorbildes. Im Fall der imitatio ist es im Sinne des Künstlers, sich durch ein leicht zu entschlüsselndes Zitat in eine bestimmte Tradition einzureihen und damit das eigene Werk zu nobilitieren. Im Fall der aemulatio ist es hingegen das Ziel, die Vorlage zu verbessern und ihr eine neue, eigenständige Variante entgegenzusetzen.6 Es gibt jedoch zahlreiche Fälle, die an der Grenze dieser beiden Ausprägungen anzusiedeln sind. Gleichfalls kann man diese beiden Komponenten als eine Abfolge betrachten, denn zuerst muss sich ein Künstler durch Nachahmung am Vorbild schulen, bis er dann in der Lage ist, es womöglich zu überwinden (superatio). Bezugspunkt dieses künstlerischen Wettstreits ist stets Raffael. Hier lohnt sich eine genauere Einschätzung, mit welcher Haltung die entlehnenden Künstler der Vorlage begegnet sind. Donat de Chapeaurouge schlägt in seinem Buch „Wandel und Konstanz in der Bedeutung entlehnter Motive“ verschiedene Kategorien des Umgangs mit Motiventlehnungen vor.7 Dazu zählen unter anderem: Die umdeutende Kopie, das Zitat, die Parodie, die Entlehnung eines bedeutungsneutralen, respektive bedeutungsfixierten Motivs sowie die Entlehnung aus einer vorbildlichen Epoche oder bei einem vorbildlichen Künstler. Die Motivation für die Entlehnung unterscheidet sich jeweils deutlich. Ich übernehme nicht die Kategorien de Chapeaurouges, weil ihre Definition meines Erachtens nach nicht eindeutig ausfällt und sich einzelne Charakteristika der von mir untersuchten Fälle mit verschiedenen seiner Kategorien überschneiden. Dennoch verdanke ich dem Autor wertvolle Denkanstöße, die im Folgenden rückblickend auf die beschriebenen Kunstwerke angewendet werden. Wenn einzelne aus den Stichen entlehnte Motive in neue Kunstwerke integriert wurden, stellt sich die Frage, ob die Entlehnung im Sinne eines offensichtlichen Zitats verwendet wurde, um den Betrachter explizit auf den Bezug zum Werk Raffaels oder Raimondis aufmerksam zu machen, oder ob die Entlehnung umfassend transformiert und der Rückgriff auf die fremde Erfindung damit verschleiert wurde (dissimulatio). Zudem muss jeweils entschieden werden, ob die Entlehnung unter Beibehaltung oder Veränderung des ursprünglichen Sinns der Darstellung stattfand. Bei den Bezugnahmen Poussins auf die Stiche Raimondis konnte beobachtet werden, dass es
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heit, mit der nur Einzelmotive übernommen, abgewandelt, und meistens mit anderen technischen Ausdrucksmitteln wiedergegeben werden, beweist, dass nicht Marcanton, nicht der italienische Kupferstich, sondern nur mittelbar das neue Formenideal gesucht wurde. Man entnahm es dort, wo es am leichtesten zugänglich war.“ Müller / Pfisterer 2011. Chapeaurouge 1974.
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überwiegend keine Sinnverschiebung der entlehnten Motive gegeben hat. Auch wenn sich – wie im Fall der Pest von Aschdod – das Bildthema leicht verändert, bleiben die entlehnten Figuren im Kontext einer Pesterkrankung. Auch hinsichtlich der Zitate in Poussins gemalten Fassungen des Bethlehemitischen Kindermords oder des Parnass wird die Bedeutung der Entlehnungen beibehalten. Eine Umwandlung findet hier lediglich auf formaler Ebene statt, indem Poussin die Figurenerfindungen in ein neues künstlerisches Medium transferiert und seinem eigenen Malstil anpasst. In jedem Fall soll der Betrachter leicht erkennen, welche Werke Poussin hier zitiert und mit welchem Künstler er sich mißt – nämlich mit Raffael, dem in Poussins Augen größten Malergenie aller Zeiten. Bei Rembrandt schließlich konnte gezeigt werden, dass er mitunter nicht nur eine Verschiebung des ursprünglichen Sinns des entlehnten Motivs beabsichtigt hat, sondern dessen Verkehrung ins Gegenteil. Nimmt man den Knaben auf der Radierung der Pfannkuchenbäckerin (Abb. 96) als Verweis auf den Putto in Raffaels Galatea ernst (Abb. 97), so muss hier von einem parodistischen Umgang mit dem Vorbild ausgegangen werden, weil die formale Ähnlichkeit in krassem Gegensatz zur Umkehrung des Bildsinns steht. Im Falle der schöpferischen Umformung des Parnass (Abb. 2) in der Zeichnung Homer im Kreise seiner Zuhörer (Abb. 104) soll hingegen das Vorbild Raffaels geehrt werden, auch wenn es umfassend transformiert worden ist. Die Verwandlung des Zitats findet hier weniger auf der Ebene der inhaltlichen Bedeutung statt – Homer bleibt Homer. Die Zeichnung ist vielmehr als stilistischer Kommentar zu verstehen, der aus einer statischen Darstellung eine dynamische Handlung macht. Als letzter entscheidender Parameter zur Beschreibung der Reaktion auf die Stiche Raimondis wurde das kulturelle Umfeld der entlehnenden Künstler genannt. Einzelne Künstler, wie Parmigianino, lebten im selben Zeitraum und am gleichen Ort wie ihre Vorbilder. Andere hingegen waren in Kontexte eingebunden, die sich in deutlicher historischer oder räumlicher Distanz zur Kultur der italienischen Renaissance befanden. Hier konnten jeweils unterschiedliche Arten des Umgangs mit den Vorbildern erkannt werden. Sei es, dass man sich deutlich an die Bildsprache der Ausgangskultur anlehnte oder dass man verschiedene Strategien der Anpassung der Entlehnungen an die eigene Kultur vornahm. Zu diesen Strategien der Annäherung an die lokale Bildkultur zählt die Verknüpfung der entlehnten Motive mit Zitaten aus lokalen bildlichen Quellen. Auch die Interpretation der Entlehnung unter Zuhilfenahme textlicher Quellen kann ein Mittel der Annäherung an die eigene visuelle Kultur sein, wie es das Beispiel der Radierung Daniel Hopfers nach Ugo da Carpis Holzschnitt David und Goliath gezeigt hat (Abb. 52 und 49). Die Übertragung von Raimondis Stich der Kreuzabnahme (Abb. 35) in eine am Hofe von Lahore entstandene Miniaturmalerei (Abb. 42) hat zudem veranschaulicht, dass Bildhintergründe mit lokalen Architekturformen ergänzt und die Kostüme und Frisuren der entlehnten Figuren an die eigene Mode angeglichen wurden. Für diese Formen der Anpassung der Entlehnungen an den eigenen Stil und die lokale Bildkultur halte ich den von Burke erwähnten
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Begriff der „kulturellen Übersetzung“ für äußerst hilfreich.8 Denn er deutet darauf hin, dass alles, was aus einem fremden kulturellen Kontext entlehnt wird, bewusst der eigenen Bildsprache angepasst werden muss, um vom Betrachter verstanden und wertgeschätzt zu werden. Die Künstler, welche fremde Formen entlehnten und umgestalteten, waren dabei jeweils in einem Konflikt zwischen der Treue zur Ausgangskultur und dem Wunsch, von der Zielkultur verstanden zu werden. Gerade solche kulturellen Importe konnten dabei kreative Schaffensprozesse auslösen und zu spannenden Mischformen aus eigenen und entlehnten Elementen führen. Derartige Übersetzungsvorgänge sind kulturelle Grundmechanismen, die weitreichende Auswirkungen auf die Zielkultur haben können. Denn auf Prozesse der selektiven Aneignung folgt in den meisten Fällen die Verankerung der entlehnten Elemente im eigenen kulturellen Gedächtnis.
Die Kupferstiche Marcantonio Raimondis aus der Perspektive der aktuellen Kulturtransferforschung Sämtlichen Formen der Übertragung von Entlehnungen aus Kupferstichen Marcantonio Raimondis in neue Kunstwerke kommt eine besondere Bedeutung zu, weil sie Aufschluss geben über „visuelle Filiationsketten als Teil des Kulturtransfers“.9 Als bildliche Zeugen teilen sie dem Betrachter mit, wann und über welche Kanäle ein internationaler kultureller Austausch stattgefunden hat. Die vorliegende Arbeit ist eingebunden in die Forschungstätigkeit des Graduiertenkollegs „Pro*Doc: Kunst als Kulturtransfer seit der Renaissance, 1400–1600“. Als solche setzt sie sich mit den aktuellen Perspektiven der Kulturtransferforschung auseinander und verdankt vor allem den Schriften Peter Burkes, Michel Espagnes, Hans-Jürgen Lüsebrinks und Bernd Kortländers wertvolle Anregungen.10 8
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Burke 2000, S. 24: „Wenn eine Übernahme erfolgt, muss man sie als Resultat einer beträchtlichen Anstrengung seitens der kulturellen Übersetzer verstehen, mag es sich nun um Übersetzer im wortwörtlichen Sinne oder etwa um Missionare handeln, die ihre Botschaft an die Kultur ihrer Zuhörerschaft anzugleichen versuchen.“ Kaenel / Reichardt 2007, S. 9: „Über diese primär kommerziellen Formen bildlicher Übertragung hinaus kommt schließlich den – oft anders motivierten – Bildzitaten […] besondere Bedeutung zu. Es geht dabei nicht um serienweise Kopien, sondern um Wiederverwendungen bestimmter, ausgewählter Vor-Bilder in neuen Zusammenhängen, um kreative Adaptionen und Transformationen sowohl ganzer Bilder als auch einzelner Bildmotive, um visuelle Filiationsketten als Teil des Kulturtransfers.“ Zur einschlägigen Literatur der Kulturtransferforschung siehe: Burke 2000, Espagne / Werner 1988, Espagne 2006, Fuchs / Trakulhun 2003, Kortländer 1995, Lüsebrink 2001, Middell 2001, Roeck 2000, Schmale 2003 und Simonis 2009. Die Kulturtransferforschung hat ihren Ursprung in den Untersuchungen französischer Germanisten und deutscher Romanisten, die im Bereich der Komparatistik und Geschichte die wechselseitigen Austauschbeziehungen zwischen Frankreich und Deutschland treffender zu beschreiben suchten. Bei der Kulturtransferforschung handelt es sich nicht „um eine deduktiv gewonnene Theorie […], die bereits in ihren definitorischen Elementen und in ihrer ideengeschichtlichen Herleitung vollständig ausgearbeitet wäre. Vielmehr sind die […] Gesichtspunkte von einer heterogenen,
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Der methodische Ansatz des Kulturtransfers untersucht Vermittlungsformen zwischen Kulturen: Das heisst, es wird nach Prozessen des Austauschs oder Transfers kultureller Güter und Praktiken zwischen Ausgangs- und Zielkulturen gefragt. Dabei wird vor allem aus der Perspektive des Aufnehmenden thematisiert, aus welcher Motivation heraus „fremdes“ Kulturgut erworben und nach welchen Kriterien es ausgewählt wird. Zunächst soll noch einmal der derzeit in verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen geführte Diskurs um Prozesse des grenzüberschreitenden Austauschs kultureller Güter und Informationen in groben Zügen umrissen werden: In seinem Aufsatz „Kultureller Austausch“ stellt Peter Burke eine enorme Begriffsvielfalt fest, die nicht zuletzt dadurch bedingt ist, dass man sich dem Thema in heterogenen Forschungskontexten und Sprachen nähert.11 Die zentralen Begriffe in diesem Zusammenhang lauten „Kulturtransfer“ und „Kultureller Austausch“. Ohne dass Burke diese beiden Begriffe scharf gegeneinander abgrenzt, möchte ich folgende Unterscheidung einführen: Während der Begriff des Kulturtransfers, meiner Auffassung nach, eher auf eine einseitige Ausrichtung der Vermittlung von einer Ausgangs- in eine Zielkultur hindeutet, umschreibt der Begriff des kulturellen Austauschs vor allem wechselseitige Beziehungen zwischen Kulturen. Im Rahmen dieser Untersuchung ist der Begriff des Kulturtransfers daher passender als der des kulturellen Austauschs, denn in den hier untersuchten Fällen kann nicht von reziproken Prozessen gesprochen werden. Statt eines Dialogs, also eines wechselseitigen Austauschs zwischen Gebenden und Nehmenden, liegt hier ein in historischer Perspektive eindimensional verlaufender Prozess vor. Die Abgrenzung beider Begriffe voneinander ist jedoch nicht eindeutig, wie auch das Zitat von Helga Mitterbauer zeigt, in welchem sie gerade die Wechselseitigkeit der Prozesse im Rahmen des Kulturtransfers unterstreicht: Der Begriff „Kulturtransfer“ umfasst sowohl inter- als auch intrakulturelle Wechselbeziehungen, er schließt Reziprozität ein und lenkt den Blick auf die Prozessualität des Phänomens. Kulturtransfer ist als dynamischer Prozess zu betrachten, der drei Komponenten miteinander verbindet, und zwar 1. die Ausgangskultur, 2. die Vermittlungsinstanz, und 3. die Zielkultur.12
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wenn auch vielfältig verflochtenen Forschergemeinschaft aufgrund empirischer Arbeiten gewonnen worden.“ Siehe: Middell 2001, S. 48. Burke 2000, darin besonders „Die Vielfalt der Terminologie“, S. 14-24. Helga Mitterbauer, Kulturtransfer – ein vielschichtiges Beziehungsgeflecht, in: Newsletter Moderne, SFB Graz, Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900, 2. Jg., Heft 1, März 1999, S. 23. Siehe: http://www-gewi.kfunigraz.ac.at/moderne/heft2m.pdf. Vgl. Schmale 2003, S. 43: „Zu hinterfragen sind die Objekte, Praktiken, Texte und Diskurse, die aus der jeweiligen Ausgangskultur übernommen werden. Den zweiten Bereich bildet die Untersuchung der Rolle und Funktion von Vermittlerfiguren und Vermittlungsinstanzen (Übersetzer, Verleger, Wissenschaftler, Universitäten, Medien, Verlage etc.), wobei eine Theorie interkultureller Vermittlungsinstanzen noch aussteht. Im Zusammenhang mit der Zielkultur stehen die Selektionsmodi ebenso wie die Formen der Aneignung und der produktiven Rezeption
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In der genaueren Beschreibung derartiger Prozesse kultureller Begegnung sollte im Kern danach gefragt werden, über welche Vermittlungsinstanzen und entlang welcher Wege die Formen des Austauschs stattfinden.13 Sind es Personen, die von einer Kultur in eine andere reisen – wie Auftraggeber oder Künstler – oder werden kulturelle Güter, wie Bücher, Briefe oder Bilder, transferiert?14 Wie lässt sich der Kontext derjenigen erfassen, die das zu vermittelnde kulturelle Gut produzieren – und derjenigen, die es rezipieren? Welche Konsequenzen hat der Kulturimport auf die Aufnahmekultur? Inwiefern ändert sich das entlehnte Kulturgut selbst, wenn es in einem fremden Kontext rezipiert wird? Solche weiterführenden Fragen konnten hier nur ansatzweise berücksichtigt werden. Hilfreich ist es, das Feld der Untersuchung möglichst einzugrenzen und die Agenten und Objekte kultureller Transfers genau zu beschreiben, denn eine Diskussion auf breiter Ebene birgt die Gefahr, an einer klaren Definition von Kultur und demzufolge kultureller Austauschprozesse zu scheitern.15 Die Tatsache, dass die Mittel und Methoden der Kulturtransferforschung zudem auf sehr vielfältige Kontexte anwendbar sind, verleitet dazu, sie beinahe beliebig auszudehnen.16 Doch mittels empirischer Untersu-
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(Übersetzung, kulturelle Adaptionsformen, Formen der kreativen Rezeption, Nachahmung) im Mittelpunkt des Interesses.“ Espagne 2006, S. 15: „Die Transferforschung hat sich bemüht, neue Möglichkeiten bei der Überwindung des nationalen Rahmens der Kulturgeschichte zu erproben und die Translation eines Kulturgegenstandes von einem Ausgangskontext in einen Aufnahmekontext in ihrem prozessualen Ablauf unter die Lupe zu nehmen. Dabei wird der Akzent auf die Rolle der verschiedenen Vermittlungsinstanzen (Reisende, Übersetzer, Buchhändler, Verleger, Sammler) sowie auf die unumgängliche semantische Umdeutung des Imports gelegt. Untersucht wird insbesondere die Änderung, welche ein Kulturimport am Aufnahmekontext bewirkt hat, und umgekehrt die positive Wirkung dieses Aufnahmekontextes auf den Sinn des Objekts.“ Vgl. Middell 2001, S. 17: „Transfer meint die Bewegung von Menschen, materiellen Gegenständen, Konzepten und kulturellen Zeichensystemen im Raum und dabei vorzugsweise zwischen verschiedenen, relativ klar identifizierbaren und gegeneinander ab grenzbaren Kulturen mit der Konsequenz ihrer Durchmischung und Interaktion.“ Zu den individuellen Vermittlern zählen zudem in erster Linie Übersetzer, Korrespondeten, Diplomaten, Handels- oder Bildungsreisende. Diese Liste ließe sich unendlich fortführen. Immaterielle Güter, wie Ideen, Stile und Konzepte, werden immer durch Personen oder mittels materieller Gegenstände transportiert. Die Erforschung ihrer interkulturellen Transfers sollte daher nicht losgelöst von der Betrachtung ihrer Vermittler geschehen. Espagne / Werner 1988, S. 15: „Der Begriff der Kultur ist bekanntlich vielschichtig, zudem einem ständigen historischen Wandel unterworfen und auch national verschieden akzentuiert.“ Um die Beschreibung kultureller Austauschprozesse in den Griff zu bekommen, muss man so tun, als handele es sich bei den Ausgangs- und Aufnahmekulturen um homogene Gebilde, was sie natürlich nicht sind. Vgl. Espagne 2006, S. 18: „Ausgangs- und Aufnahmekontext, ob sie national oder sonstwie definiert werden, sind Notlösungen der Argumentation und keine Substanzen.“ Thomas Fuchs, Sven Trakulhun, „Kulturtransfer in der Frühen Neuzeit. Europa und die Welt“, in: Fuchs / Trakulhun 2003, S. 12: „Hier stehen wir vor dem Problem der Ubiquität von Kulturtransferphänomenen in den entwickelten Gesellschaften. Diese Totalität kann narrativ wohl nicht bewältigt werden, weshalb die Kulturtransferforschung wohl doch keine totale Geschichte wird hervorbringen können, sondern nur Ausschnitte kultureller Praxis.“ Vgl. Middell 2001, S. 18: „Damit [mit der Kulturtransferforschung] ist ein weiter Schirm
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chungen spezifischer Beispiele können hier wertvolle neue Erkenntnisse gewonnen werden. Denn gerade in der kunsthistorischen Forschung haben bisher Untersuchungen überwogen, die von einer stark wertenden Perspektive geprägt waren, bei der davon ausgegangen wurde, dass eine vorbildliche Hochkultur – wie beispielsweise die der italienischen Renaissance – andere Kulturen lediglich „beeinflusst“ habe. Dies hat den Blick auf eine nicht zulässige Weise eingeschränkt, denn Prozesse kultureller Übernahmen sollten treffender als aktive Rezeptionsprozesse beschrieben werden und nicht als passive Mechanismen der Beeinflussung. Deshalb wird in dieser Arbeit die Untersuchungsperspektive von der kulturellen Produktion auf die kreative Rezeption gelenkt, denn „nicht der Wille zum Export, sondern die Bereitschaft zum Import steuert hauptsächlich die Kulturtransferprozesse“.17 Das heisst, es waren die Rezipienten, die entschieden, Kupferstiche Raimondis zu sammeln und im Zuge der künstlerischen Aneignung die Motiventlehnungen ihren eigenen Bedürfnissen gemäß umzuwandeln und in neue Werke zu integrieren.18 Es ist besonders den Schriften von Michel Espagne und Michael Werner zu verdanken, dass sich in der aktuellen Forschungslandschaft ein wertneutraler Blick durchgesetzt hat, der prinzipiell von einer Äquivalenz zwischen Ausgangs- und Zielkultur ausgeht, anstatt von einem hierarchischen Gefälle.19 Auf die kunsthistorische Forschung bezogen bedeutet das unter anderem, dass Vor- und Nachbilder als grundsätzlich gleichwertig betrachtet werden. Mit den Worten Espagnes ausgedrückt, sollte sich „die Beschreibung des Rezeptionsprozesses […] anstatt der Wertung eines Gefälles zwischen Original und Nachahmung behaupten.“20 Dieser Gedanke hat die vorliegende Arbeit erheblich geprägt. Damit werden weder die Unterschiede in der Qualität einzelner Kunstwerke missachtet, noch wird die Bedeutung künstlerischer Invention grundsätzlich infrage gestellt. Doch durch die genaue Beschreibung der jeweiligen Rezeptionsprozesse im Umgang mit den Stichen Raimondis wird von einer vorschnellen Bewertung Abstand genommen. Auf diese Weise können bisher vernachlässigte Beispiele der produktiven Rezeption in den Blick gelangen. Dieser Begriff wurde von Bernd Kortländer und Hans-Jürgen Lüsebrink geprägt.21 Sie unterscheiden in
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aufgespannt, unter dem sich zahlreiche Studien versammeln können, die von sehr unterschiedlichen disziplinären Ausgangspunkten und mit höchst verschiedenen methodischen Erfahrungshintergründen die Entdeckungsreise in ein empirisch stark vernachlässigtes Feld aufgenommen haben.“ Middell 2001, S. 18. Vries 2008, S. XIII: “In most cases the mediator cannot be qualified as a conscious actor, but rather as a mediator against all odds, whose mediating influence only becomes visible after the dust of history has settled. Moreover, the role of the recipient is far more vital in the process of mediation than the literal meaning of the word implies.” Espagne / Werner 1988. Espagne 2006, S. 15. Vgl. auch: Vries 2008, S. XIV: “However, cultural mediation cannot be captured fully when it is approached along the lines of this dichotomy between high and low culture invented by scholars.” Kortländer 1995, S. 8 und Lüsebrink 2001, S. 216-219.
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Bezug auf die Literatur verschiedene Formen der Rezeption, je nach Grad der Umformung und Aneignung fremdkultureller Muster. Besonders häufig konnten sie beobachten, dass entlehnte Texte, Praktiken, Diskurse oder eben Bilder umfassend transformiert und damit das Fremde in das Eigene eingearbeitet wird. „Auf solchen Anregungen, Anstößen, Initiativen beruht alle geistige Arbeit.“22 Was die hier untersuchten Beispiele betrifft, wurde deutlich, dass dasjenige, was von Raffael und Raimondi an die Nachwelt übermittelt worden ist, sich klar von dem unterscheidet, was aufgenommen und auf der Grundlage der Stiche neu geschaffen wurde. Statt mit einem stabilisierenden Prozess der Traditionsbildung, bei dem Immergleiches aufgenommen und fortgeführt wird, haben wir es eher mit einem Prozess der Rezeption zu tun, der gerade durch die aktive Beteiligung der ‚kulturellen Empfänger‘ zu Umdeutungen und Brüchen führt.
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Kortländer 1995, S. 8.
Schlussbemerkung: Die Bedeutung der Kupferstiche Marcantonio Raimondis als internationale Vermittler der Bildschöpfungen Raffaels
Der Stellenwert der Kupferstiche Marcantonio Raimondis und seines Umkreises als künstlerische Impulsgeber muss aufgrund der auffallend weiten Verbreitung der Bildschöpfungen Raffaels deutlich hervorgehoben werden. Raimondis Stiche bringen die originalen Bildideen Raffaels an neue Orte und in neue Rezeptionskontexte. Dabei formen sie wesentlich den Blick auf die ihnen zugrunde liegenden Werke und bilden sozusagen die erste Etappe in einer Reihe vielzähliger Transformationsprozesse. Die Auseinandersetzung der nachfolgenden Künstler mit den Stichen setzte schließlich Ideen frei, die zu neuen Bildlösungen führten – etwa so wie das Lesen bestimmter Texte zu neuen Gedanken anregt. Daher ist es sinnvoll, erneut auf den bereits in der Einleitung erwähnten Vergleich der Kultur des gedruckten Buches mit der des gedruckten Bildes zu verweisen. Ähnlich wie der Buchdruck erst die Rezipierbarkeit bestimmter Texte ermöglichte, konnten auch erst durch das neue Medium des Bilddrucks die Kunstwerke Raffaels einem breiten Rezipientenkreis zugänglich gemacht werden. Die enormen Konsequenzen dessen für die Kunst selbst aber auch für die Beschreibung von Kunst, die sich jahrhundertelang vornehmlich gedruckter Abbildungen bediente, können nicht genug betont werden. Raimondis Stiche avancierten zur ersten Quelle, wenn es darum ging, sich über die Kunst Raffaels zu informieren. Was die meisten Künstler und Kunstliebhaber in der Betrachtung der Stiche jedoch nicht wissen konnten, ist die Tatsache, dass die Stiche gerade nicht die Fresken oder Gemälde Raffaels wiedergeben, sondern sich ausschließlich auf Zeichnungen Raffaels beziehen lassen, die überwiegend frühe Entwurfsstadien markieren und sich von den vollendeten Werken deutlich unterscheiden. Zudem dürfen die Stiche nicht als linientreue Übertragungen angesehen werden, sondern sie sind von großer interpretatorischer Freiheit geprägt, die – auf der Basis eines ausgeprägten Zeichentalents – durchaus eigene Ergänzungen oder Versatzstücke aus anderen bildlichen Quellen miteinschließen. Deshalb kommt den Stichen in diesem Zusammenhang die Funktion eines medialen Filters zu. Sie veränderten und formten das Bild, das sich die
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Nachwelt von Raffaels Kunst machte, solange dessen Originale nur begrenzt zugänglich waren. Zwar wurden, wie gezeigt worden ist, beinahe ausschließlich die Stiche Raimondis als Vorlagen gewählt, die Erfindungen Raffaels vermittelten. Stiche Raimondis nach eigenen Entwürfen wurden so gut wie gar nicht rezipiert. Dennoch geht Raimondis Rolle als Vermittler in diesem Prozess weit über die eines Kupferstechers hinaus, der lediglich in Abhängigkeit eines herausragenden Künstlers tätig war.1 Parallel zu sprachlichen Übersetzungen in der Literatur, kann man auch seine Funktion in der Übertragung der Zeichnungen Raffaels in Stiche als die eines Übersetzers ansehen. Dabei waren seine Stiche keineswegs nur Transportvehikel für die Erfindungen anderer, sondern sie generierten eigene ästhetische Normen. Die Bedeutung der Kupferstiche Raimondis liegt also nicht nur im berühmten Vorbild, sondern auch in seiner Fähigkeit, die Intentionen Raffaels eigenständig umzusetzen und tatsächlich ein gültiges Äquivalent zu den gezeichneten Entwürfen zu schaffen. Dabei übertrug er die raschen Skizzen Raffaels in eine Liniensprache, die sich für nachfolgende Künstler besonders gut als Vorlage eignete. 2 Geschult durch die Darstellung antiker Skulpturen und durch die Anpassungsfähigkeit, die ihm die Arbeit nach den Stilen verschiedener Meister abverlangt hatte, gelang es Raimondi, die Komplexität einzelner Vorlagen zu reduzieren.3 Menschliche Anatomie stellte er naturgetreu und ausgesprochen plastisch dar. In der Kompilation verschiedener Versatzstücke aus Figurengruppen, Landschaftsdarstellungen oder Architektur aus diversen visuellen Quellen war er ungewöhnlich frei, wenn er nach Zeichnungen arbeitete, die die Stiche nur in Einzelaspekten vorbereitet hatten. Das, was er frei kombiniert hatte, liess sich von nachfolgenden Künstlern ebenso frei wieder auseinandernehmen. Besonders in der Zusammenarbeit mit Raffael waren die Stiche Raimondis auf diese Weise konstituierend für die Herausbildung eines neuen künstlerischen Kanons. Durch ihren Erfolg und ihre weltweite Verbreitung lösten sie eine Fülle schöpferischer 1
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Espagne 2006, S. 24: „Damit fremde Kulturimporte zustande kommen, sind Vermittler unentbehrlich. Es scheint mir eine Konstante der Kulturgeschichte zu sein, dass diese Vermittlung immer wieder unterbelichtet wurde, als könnte man mit der Vorstellung vorlieb nehmen, fremdes Gedankengut sei rezipiert worden.“ Vgl. Vries 2008, S. XI-XII: “Cultural mediation seems to be one of those concepts in the historical vocabulary which lacks a clear definition. […] We must be careful not to overemphasize or to underestimate the importance of cultural mediators as a formative cultural force in early modern society.” Gramaccini / Meier 2009, S. 79: „Durch ihn allein werden alle bisherigen Schritte italienischer Stecher, ein umfassend tragfähiges Liniensystem aufzubauen, erstmals zu gültigen Lösungen kristallisiert. Raimondi verdankt der italienische Kupferstich die Begründung eines wegweisenden grafischen Vokabulars, das bis weit in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts Grundlage nahezu aller Stecher blieb.“ Davidson 1954 , S. 30: “Marcantonio’s attitude is completely analytical. He separates, studies and clarifies the parts, regularizes the shapes and contours, then adds together these perfected forms to create a static whole.” Vgl. ebenda, S. 38: “His concern lay most exclusively in depicting the human form, in describing its plastic shape, in conveying an ideal (learned from classical sculpture) of its grace and nobility.”
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Rezeptionen aus. Künstlerische Innovationen geschahen damit auf der Grundlage kultureller Transferprozesse. Gerade bildliche Zeugnisse mit ihren unmittelbar sichtbaren Spuren der Aneignung, des Zitierens und Transformierens „fremder“ Quellen eignen sich in besonderer Weise, um zu belegen, auf welche Art und Weise kultureller Transfer stattgefunden hat. Das Ziel der vorliegenden Untersuchung war es deshalb, die mittels der Stiche Marcantonio Raimondis ausgelösten Transferprozesse in ihrer gesamten Kette von der Produktion bis zur Rezeption darzustellen und dabei auf die wichtige Rolle Raimondis als Vermittler aufmerksam zu machen, dessen Nachwirkung über drei Jahrhunderte andauerte. Insgesamt wurde deutlich, dass die Nachahmung vorbildlicher Werke ein überaus schöpferischer Prozess sein kann, der auch dem anerkannten Künstler zur Ehre gereicht, wenn es ihm gelingt, in der Appropriation eigene Ideen und Ziele deutlich werden zu lassen. Am offensichtlichsten gelingt dies Rembrandt, der seine Grafiksammlung als reichen Vorlagenschatz benutzt und sich dabei in keiner Weise dazu verpflichtet fühlt, sich dem klassischen Ideal anzunähern, sondern entlehnte Motive jeweils geschickt in neue Werke überführt. Daraus folgt, dass das überkommene Vorurteil, Nachschöpfungen nach Druckgrafik seien Kunstwerke zweiter Klasse, die jegliche inventio vermissen ließen, in den meisten Fällen nicht länger gültig ist. Vielmehr erscheint es als Desiderat, die Forschung auf die in vielen Kabinetten in den hintersten Schubladen verborgenen Nachzeichnungen nach druckgrafischen Werken auszuweiten, um zahlreiche weitere Kontexte der Aneignung und Übertragung zu beschreiben.
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Register
Akbar, Großmogul 116 Alberti, Leon Battista 73, 89 Aretusi, Pellegrino siehe Modena, Pellegrino da Aristides (von Theben) 187 Armenini, Giovanni Battista 74f., 88, 102, 104, 157, 186, 195 Bacon, Francis 7 Baldinucci, Filippo 88 Barbieri, Giovanni Francesco siehe Guercino Bassé, Jan 211 Beatrizet, Nicolas 50, 239, 240 Bellini, Giovanni 95–96 Bellori, Giovanni Pietro 175, 182–183, 198 Birago, Giovanni Pietro da 219–220, 222–223 Bonasone, Giulio 50 Brouwer, Adriaen 234–235 Bruegel, Pieter, der Ältere 232 Buonaccorsi, Pietro siehe Vaga, Perino del Caracci, Annibale 158, 178, 210, 218 Caraglio, Giovanni Giacomo 50, 155 Caravaggio, Polidoro da 79, 174 Carpi, Ugo da 50, 108f., 116, 124, 130 f., 141, 143–144, 153–154, 179, 266 Castiglione, Baldassare 216 Cavagna, Giovanni Paolo 99, 101, 103 Cennini, Cennino 38, 73 Chantelou, Paul Fréart de 176, 188 Clemens VII., Papst 150 Cock, Hieronymus 84 Cort, Cornelis 84 Cortona, Pietro da 178 Coxcie, Michiel 84
Dante, Alighieri 245 Degas, Edgar 72 Delacroix, Eugène 70, 72 Dente, Marco 19, 30, 34–35, 50, 66, 70, 90–91, 102, 158, 162 Dolce, Lodovico 27 Domenichino 178, 181 du Bois, Simon 161–162 Dughet, Jean 174–175 Dürer, Albrecht 11, 13, 20, 27–28, 49, 58f., 79, 81, 155, 158, 174, 210, 242 Dyck, Anthonis van 2, 87–88, 157f., 223, 263– 264 Elsheimer, Adam 256–257 Fialetti, Odoardo 71 Francia, Francesco 50 Garbo, Raffaellino del 70 Ghisi, Giorgio 50, 158, 165–166 Giorgione 210 Goeree, Willem 82–83 Goes, Hugo van der 95 Goethe, Johann Wolfgang von 66, 68 Goltzius, Hendrick 235, 237 Goudt, Hendrick 256–257 Guercino 158 Gutenberg, Johannes 7 Homer 204, 238, 243f., 266 Hopfer, Daniel 136–137, 139, 266 Huygens, Constantijn, der Jüngere Jahangir, Großmogul
116
209–210
296 Reg ister
Karl V., Kaiser 150 Ketel, Cornelis 84 Lafréry, Antoine 207 Lairesse, Gérard de 85 Lastman, Pieter 212 Leonardo (da Vinci) 3, 74, 82, 158, 162, 164–165, 215, 219, 221–223, 225, 228, 243, 258 Leyden, Lukas van 49, 59, 61, 108, 210 Lievens, Jan 209 Luciani, Sebastiano siehe Piombo, Sebastiano del Mander, Karel van 83–85, 240, 248 Manet, Edouard 72 Mantegna, Andrea 26, 50, 105, 107–108, 155, 210–211, 215, 223f., 258 Mazzola, Francesco siehe Parmigianino Medici, Ferdinando de’ 196 Meister B mit dem Würfel 50 Michelangelo (Buonarroti) 3, 80, 128, 209, 211, 239, 242 Mocetto, Girolamo 225 Modena, Pellegrino da 66 Musi, Agostino de’ siehe Veneziano, Agostino Oranje-Nassau, Frederik Hendrik van 120 Oserijn, Isaac 84 Ovid (Publius Ovidius Naso) 189, 240, 243 Palma, Jacopo, il Vecchio 210 Parmigianino 2, 68–69, 84, 87, 123f., 158, 169, 198, 230, 261, 264, 266 Penni, Giovanni Francesco 48, 104, 140 Pesne, Jean 175 Piles, Roger de 85, 216 Piombo, Sebastiano del 80 Pisanello 218 Pisano, Antonio siehe Pisanello Plinius Secundus, Gaius 75, 187–188 Pontormo, Jacopo 81 Poussin, Nicolas 2, 21, 88, 173f., 214, 246f., 257f., 265–266
Raibolini, Francesco siehe Francia, Francesco Ravenna, Marco da siehe Dente, Marco Rembrandt (Harmenszoon van Rijn) 2, 21, 88, 120–122, 209f., 264, 266, 275 Reni, Guido 178 Romano, Giulio 48, 140–141, 174–175 Rossi, Giovanni Battista de 112 Rubens, Peter Paul 120, 122, 164, 210, 221–222 Salamanca, Antonio 207 Sandrart, Joachim von 198 Seghers, Hercules 257 Serlio, Sebastiano 185 Six, Jan 243–244, 247–248 Soutman, Pieter Claesz. 221–222 Spranger, Gommer 212 Swanenburgh, Jacob van 212 Tempesta, Antonio 211, 218–219 Tizian 157–158, 174, 178, 211, 217 Trento, Antonio da 70, 155 Uylenburgh, Saskia van 217 Vaga, Perino del 80, 82, 128 Valguarnera, Fabrizio 182 Vasari, Giorgio 1, 16, 37, 48, 63, 81, 123, 140, 143, 206 Vecellio, Tiziano siehe Tizian Velde, Jan van de 234–235 Veneziano, Agostino 20, 30, 34–35, 50, 174–175 Vergil (Publius Vergilius Maro) 53, 186, 204, 245 Vico, Enea 50 Vorsterman, Lukas 120 Xavier, Jérôme 116 Zampieri, Domenico siehe Domenichino Zoomer, Jan Pietersz. 250–251
Abbildungsnachweise © Albertina, Wien: Abb. Nr. 1, 9, 36 und 47 © Artothek, Städel Museum, Frankfurt am Main: Abb. Nr. 45, 50 und 51 © Artothek, Staatliche Kunstsammlungen Dresden: Gemäldegalerie Alte Meister, Abb. Nr. 61 und 77 © Ashmolean Museum, Oxford: Abb. Nr. 17 und 41 © Biblioteca Apostolica Vaticana, Città del Vaticano: Abb. Nr. 24 und 25 © British Museum, London: Abb. Nr. 2, 4, 10, 16, 18, 31, 35, 37, 38, 44, 48, 49, 52, 57, 58, 59, 66, 67, 69, 70–74, 88, 90, 91, 96, 98, 99, 102, 105–108 © Devonshire Collection, Chatsworth, reproduced by permission of Chatsworth Settlement Trustees: Abb. Nr. 6, 7 und 8 © Fine Arts Museums, San Francisco: Abb. Nr. 56 © Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi, Florenz: Abb. Nr. 14, 46, 82 und 85 © Gallerie dell'Accademia, Venedig: Abb. Nr. 30 © Hamburger Kunsthalle / bpk: Abb. Nr. 5 © Hamburger Kunsthalle / bpk, Foto: Christoph Irrgang: Abb. Nr. 22 © Hamburger Kunsthalle / bpk, Foto: Elke Walford: Abb. Nr. 95 © Harvard Art Museums, President and Fellows of Harvard College: Abb. Nr. 101 © Hunterian Museum and Art Gallery, University of Glasgow: Abb. Nr. 32, 33 und 34 © Jan Six Collection, Amsterdam: Abb. Nr. 104 © Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, Foto: Volker H. Schneider: Abb. Nr. 20 und 21 © Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin: Abb. Nr. 89 © LWL-Museum für Kunst und Kultur (Westfälisches Landesmuseum), Münster, Dauerleihgabe des Westfälischen Kunstvereins: Abb. Nr. 39 © Metropolitan Museum of Art, New York: Abb. Nr. 64 und 87 © Musea Brugge, Lukas-Art in Flanders vzw, Foto: Dominique Provost: Abb. Nr. 40 © Musée du Louvre, Département des Arts graphiques, Paris: Abb. Nr. 23 und 55 © Prometheus Bildarchiv, Köln: Abb. Nr. 76, 79, 80, 81, 84 und 97 © Princeton University Art Museum, Princeton: Abb. Nr. 19 © Rijksmuseum, Amsterdam: 63, 65, 68, 75, 92 und 93 © Royal Collection Trust / © Her Majesty Queen Elizabeth II 2015: Abb. Nr. 11, 78 © Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstichkabinett: Abb. Nr. 100 © Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister: Abb. Nr. 103 © SLUB Dresden / Deutsche Fotothek: Abb. Nr. 13, 15, 26, 27 und 54 © Sotheby`s, London: Abb. Nr. 53 und 60 © Szépmüvészeti Múzeum, Budapest: Abb. Nr. 12 und 62 © The Pierpont Morgan Library, New York: Abb. Nr. 43 © The J. Paul Getty Museum, Los Angeles: Abb. Nr. 83 © Victoria and Albert Museum, London: Abb. Nr. 28, 29 und 42 © Wikicommons: Abb. Nr. 3 © zitiert nach Otto Benesch, The Drawings of Rembrandt, 6 Bde., London: Phaidon Press, 1973, Bd. II, Kat. Nr. 348. Abb. Nr. 94