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German Pages 212 [218] Year 1976
A. A. Nalöadzjan Intuition im wissenschaftlichen Schöpfertum
A. A. Nalcadzjan
Intuition im wissenschaftlichen Schöpfertum Psychologische und philosophische Probleme der intuitiven Erkenntnis
AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1975
Titel der russischen Ausgabe A. A. HajiqaHHtHH, HeKOTopwe ncHXOJiorHqecKHe H IJIHJIOCO$cKne npotaeMH HHTyHTHBHoro nosHaHHH (HHTyHijHH B npoi;ecce HayjHoro TBopiecTBa),
Verlag Mysl, Moskau 1972. Ins Deutsche übertragen von Klaus-Dieter Göll, Eberswalde. Wissenschaftliche Bearbeitung durch Dozent Dr. Günter Fischer, Halle/Saale.
Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © der deutschsprachigen Ausgabe Akademie-Verlag, Berlin 1975 Lizenznummer: 202 • 100/54/75 Gesamtherstellung: IV/2/14 V E B Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen • 4525 Einbandgestaltung: Nina Striewski Bestellnummer: 752 582 4 (6211) L S V 0195 Printed in GDR EVP 14,-
Inhaltsverzeichnis
Einführung
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Kapitel I
Einige Aspekte des Denkens und die Arten der Intuition 1. Einige Aspekte des Denkens 2. Arten der Intuition
Kapitel I I
Die intuitive „Erleuchtung"
13 13 40
im wissenschaftlichen
Schöpfertum
63
Kapitel I I I
Einige hypothetische Annahmen
89
Kapitel IV
Wege zur Begründung der Hypothese 1. Das psychophysische Problem und das Unterbewußte 2. Die Unvollständigkeit der bisherigen Analyse . . . 3. Der Tiefe der vorhergehenden Aufgabenanalyse . . 4. Die retrospektive Analyse des Denkprozesses mit Hilfe der gewonnenen Lösung 5. Begründung durch die Methode der freien Assoziationen 6. Physiologische Mechanismen des schöpferischen Denkens Historischer Abriß 1. Das Unbewußte und die Intuition in den Werken Piatos 2. Das schöpferische Denken in der Assoziationspsychologie 3. Die Würzburger Schule 4. Die Gestaltpsychologie
Kapitel V
Schlußbemerkungen Personenregister Sachregister
115 115 117 121 126 137 143 159 160 165 175 184 200 207 210
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Einführung
In der gegenwärtigen Entwicklungsetappe des wissenschaftlichen Denkens bedarf es zur Lösung vieler theoretischer und praktischer Probleme in der Philosophie, Psychologie und einer Reihe anderer Wissenschaften (insbesondere den Humanwissenschaften) eines genauen Verständnisses der Gesetzmäßigkeiten des Denkens. Besonders wichtig sind jene philosophischen und psychologischen Probleme, die sich bei der Erforschung der Erkenntnisprozesse des Menschen sowie aus den Prozessen ergeben, die zur Entstehung neuer Ideen führen. Das menschliche Wesen kann nicht ausreichend begriffen werden, solange neben anderen psychischen Erscheinungen das Wesen des schöpferischen Prozesses nicht geklärt ist. Die grundlegenden und allgemeinsten Gesetzmäßigkeiten des Erkenntnisprozesses sind von der marxistischen Gnoseologie bereits seit langem exakt festgestellt worden. Lenin, der sich auf die grundlegenden Ideen von Marx und Engels stützte und sie in einer Reihe seiner Werke weiterentwickelte, hat auf der Grundlage einer Analyse der neuesten Ergebnisse der Naturwissenschaften die Widerspiegelungstheorie geschaffen. Die Leninsche, Widerspiegelungstheorie und der dialektische Materialismus bilden die philosophische Basis einer wissenschaftlichen Psychologie. Jedes psychologische Problem besitzt auch philosophische Aspekte. Das Studium psychologischer Aspekte der Erkenntnisprozesse ist zugleich auch philosophische Betrachtung, wenngleich je nach den gestellten Aufgaben in konkreten Untersuchungen diese oder jene Seite mehr oder weniger umfassend behandelt sein kann. Die philosophischen Fragen sind besonders offenkundig und verlangen nach einer Lösung beim Studium der Erkenntnisprozesse. Die Psychologie der Erkenntnisprozesse stellt jenes Grenzgebiet des Wissens zwischen Philosophie und Psychologie dar, in dem die philosophischen und die psychologischen Probleme in komplizierter, dialektischer Einheit auftreten. 7
Die vorliegende Arbeit ist dem Studium eines der wichtigsten Probleme in der Psychologie und Philosophie des schöpferischen Prozesses gewidmet — dem Problem der plötzlichen, unerwarteten Lösung von Aufgaben. In der psychologischen Literatur wird diese Erscheinung häufig mit dem Terminus „Einsicht" (insight) oder als Begreifen durch intuitive „Erleuchtung" bezeichnet. Das Problem der Intuition beschäftigt die Philosophen seit langem. Zu seiner positiven wissenschaftlichen Lösung ist jedoch bisher sehr wenig getan worden. Die idealistischen Philosophen der Antike und der Neuzeit, die sich bevorzugt Spekulationen um diese tatsächlich wichtige und schwierige Frage hingaben, der Intuition eine übernatürliche, göttliche Herkunft zuschrieben und sie als indeterminiert betrachteten, konnten natürlich keine wissenschaftliche Theorie der intuitiven Erkenntnisse schaffen. Erst im Rahmen der Denkpsychologie wurde das Problem der Intuition zum Gegenstand konkreter wissenschaftlicher Forschung. Obwohl der dialektische Materialismus alle notwendigen methodologischen Voraussetzungen für die erfolgreiche Lösung dieses Problems bietet, hat es in der sowjetischen psychologischen und philosophischen Literatur bis in die Gegenwart wenig Untersuchungen gegeben, die sich speziell mit dem Problem der Intuition beschäftigten. Unsere Philosophen und Psychologen sind dem Studium der intuitiven Erkenntnis aus dem Wege gegangen. B. M. Teplov hat darauf hingewiesen. Er schrieb: „Der Begriff der Intuition wird oft mit der Aureole einer gewissen mystischen Geheimnisträchtigkeit umgeben. In der sowjetischen Psychologie ist deshalb die Neigung zu beobachten, ihn zu umgehen-oder sogar zu verschweigen. Das kann kaum als richtig angesehen werden. Folgte man diesem Beispiel, so müßte man die meisten psychologischen Termini vermeiden, denn sie alle haben Zielen gedient, die uns völlig fremd sind."1 Diese Bemerkung Teplovs trifft auch auf die Gegenwart zu. Das Problem der Intuition ist eng verknüpft mit den wichtigsten Problemen der modernen Psychologie und Philosophie. Man denke nur an das Problem der psychischen Struktur (Architektonik) des Menschen, an das Unterbewußte und Unbewußte, an Gedächtnisfunktionen, an Emotionen und anderes. Das bedeutet, daß das Aufdecken der Geheimnisse des schöpferischen Prozesses, insbesondere des so wichtigen Momentes der intuitiven „Einsicht", von sehr großer Bedeutung sowohl für die Schaffung einer allgemeinpsychologischen Theorie als auch für die Vertiefung der marxistischen Gnoseologie sein kann. 1 Teplov, B. M., Probletny individualnych rasliZii, Moskau 1961, S. 319.
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In den Arbeiten einiger sowjetischer Psychologen findet sich eine Vielzahl von Gedanken über Erscheinungen, die direkt oder indirekt in Beziehung zum Problem der intuitiven Erkenntnis stehen. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang einige Arbeiten von B. M. Teplov sowie M. A. Mazmanjans und seiner Mitarbeiter. Durch Beobachtungen, Gespräche und Studium von Archivmaterial, biographischen Dokumenten und Briefdokumenten (die das Leben und Schaffen von Künstlern betreffen) haben M. A. Mazmanjan und seine Mitarbeiter (L. Taljan und andere) folgende charakteristische Besonderheiten der Intuition festgestellt, von denen wir nur die wichtigsten anführen: 1. Im schöpferischen Akt werden die Prozesse, die zur intuitiven Erkenntnis führen, nicht bewußt. Die Intuition tritt resultativ in Erscheinung. 2. Die Intuition tritt gewöhnlich in enger Verbindung mit Begeisterung, Emotionen und einem effektiven Zustand auf, was durch einen ungewöhnlichen Aufschwung der geistigen und physischen Kräfte im Prozeß des Schöpfertums hervorgerufen wird. 3. Im Prozeß der Schöpfung, des intuitiven Begreifens, erfolgt eine Steigerung der funktionalen Aktivität aller Analysatoren, wodurch das Gedächtnis verbessert wird. 4. Sehr wichtig ist der Umstand, daß die Idee, der Gedanke, oft dann Gestalt annimmt, wenn das Subjekt seine Aufmerksamkeit auf eine völlig andere Arbeit konzentriert hat (dies steht im Einklang mit der Aufforderung ein Problem „mit Abstand" zu überdenken, die sich in den Arbeiten so großer Gelehrter wie Lagrange, Poincaré, Hadamard, Einstein, Wertheimer und anderer findet). 5. Äußerst interessant ist auch der Gedanke, daß sich ein intuitives Verständnis am häufigsten bei von Natur begabten Menschen findet, selbst wenn sie noch gar nicht das einschlägige Wissen haben (in dieser Behauptung ist in reduzierter Form der für die Psychologie des schöpferischen Denkens sehr wichtige Gedanke von der Unvollständigkeit der Analyse enthalten). 6. Der Prozeß der intuitiven Erkenntnis ist ein wichtiger Stimulus und Hebel für die Selbstvervollkommnung, er schafft häufig eine unbewußte Apperzeption, die sich in der weiteren schöpferischen Tätigkeit zeigt. 7. Die Intuition trägt zweckmäßigen Charakter und ist das Resultat zwar unbewußter, aber hochintellektueller Prozesse. 8. Der Prozeß des intuitiven Verstehens, der Herausbildung der Idee oder der Absicht verläuft in der Regel schnell, aber nicht immer blitz9
artig. Die Geschwindigkeit des intuitiven Prozesses hängt von vielen subjektiven und objektiven Faktoren ab. Es zeigt sich also, daß von der sowjetischen Psychologie beieits einige wichtige Thesen über Formen und Mechanismen intuitiver Erkenntnis in den verschiedenen Bereichen schöpferischer Arbeit erarbeitet worden sind. Bei der Aufstellung einer Theorie des Schöpfertums müssen diese Thesen berücksichtigt werden. Jene Erkenntnisse sowie einige damit übereinstimmende Gedanken von S. L. Rubinstejn, B. M. Teplov, V. F. Asmus und anderen über Vorahnung, Antizipation und die unbewußte psychische Aktivität wurden der vorliegenden Untersuchung zugrunde gelegt. Um den Gegenstand, den Platz und die Ergebnisse der Psychologie des schöpferischen Denkens umfassender verstehen zu können, beschränken wir uns nicht nur auf eine Untersuchung des Problems der intuitiven „Erleuchtung" in engem Kontext, sondern untersuchen dieses Problem in Verbindung mit anderen das Denken erforschenden Wissenschaften, insbesondere in Verbindung mit der Wissenschaftswissenschaft. Beim Studium der „Einsicht" im schöpferischen Prozeß gehen wir davon aus, daß sie eine besondere Art der intellektuellen, intuitiven Erkenntnis darstellt. Und obwohl sich unsere Untersuchung in der Hauptsache auf Daten über das Schöpfertum in der Mathematik und Physik stützt, können die gewonnenen Ergebnisse unserer Meinung nach mit geringen Modifikationen auch auf andere Gebiete, die schöpferisches Denken erfordern, übertragen werden. Bevor wir uns jedoch der konkreten Untersuchung zuwenden, erscheint es uns notwendig, kurz auf einige Fragen einzugehen, die die Wichtigkeit des Problems zeigen, dem die vorhegende Arbeit gewidmet ist. Eine kurze Betrachtung des gnoseologischen, des logischen, des physiologischen, des kybernetischen und des psychologischen Aspekts des Denkens (vgl. Kapitel I) zeigt, daß der Forschungsgegenstand dieser Wissenschaften im Grunde derselbe ist, nämlich das menschliche Denken. Das Denken wird hier unter verschiedenen Aspekten behandelt. In jeder dieser Wissenschaften ist es im Interesse der Erkenntnis notwendig, die in den Kompetenzbereich des jeweiligen Aspekts fallenden Denkgesetze von dessen übrigen Gesichtspunkten zu trennen. Die Einheit des untersuchten Gegenstandes determiniert jedoch objektiv die wechselseitige Verbindung und Bedingtheit aller Aspekte bei der Erforschung des Denkens. Das gestattet es, die auf einem Forschungsgebiet gewonnenen Ergebnisse und Methoden auch auf den anderen Gebieten der Erforschung des schöpferischen Denkens zu nutzen. Die 10
intensiv durchgeführten Forschungsarbeiten zeigen, daß erfolgreich an der weiteren Entwicklung und Konkretisierung der allgemeinen Denktheorie gearbeitet wird. Die Probleme des wissenschaftlichen Schöpfertums haben seit Jahrhunderten das Interesse hervorragender Naturforscher und Philosophen auf sich gezogen. „Nichts ist wichtiger, als die Quellen des Erfindens zu sehen, die nach meiner Meinung interessanter sind als die Erfindung selbst." 2 Diese Worte von Gottfried Wilhelm Leibniz gewinnen heute unvergleichlich mehr Kraft und Bedeutung als vor drei Jahrhunderten. Durch die Philosophie allein konnten jedoch die Probleme des schöpferischen Denkens, insbesondere das Problem der intuitiven „Erleuchtung", des plötzlichen Begreifens, aus verschiedenen Gründen nicht gelöst werden. Einer der Hauptgründe dafür ist, daß dies zugleich auch psychologische Probleme sind, deren tiefgründige philosophische Analyse auch eine annähernde Lösung durch die Methoden der Psychologie erfordert. In diesem Zusammenhang sei V. F. Asmus zitiert: „Für die eingehende und allseitige yntersuchung der Frage der Intuition ist in unserer Literatur bislang noch zu wenig getan worden. Das Problem der Intuition ist von den Historikern der Philosophie nicht beachtet worden ; vielleicht, weil sie die Wichtigkeit der Unterschiede zwischen den Typen der Lehren von der Intuition, die einander in der Entwicklung der Philosophie ablösten, unterschätzten, vielleicht aber auch deshalb, weil sie sich nicht voll Rechnung über die Bedeutung ablegten, die das Problem der Intuition für die Theorie der Wissenschaft besitzt. Wie dem auch sei, jedenfalls muß dennoch mit dieser Arbeit begonnen werden, die ohnehin nicht zu umgehen ist."3 In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, daß allen Spielarten der Intuition solche psychischen Erscheinungen wie die Wahrnehmung, die Apperzeption, die Einstellung, das schöpferische (und das „simultane") Denken und die Phantasie zugrunde liegen. In den philosophischen Theorien der Intuition, wie sie von V. F. Asmus und anderen behandelt werden, wird die Intuition als Form der Erkenntnis meistens ohne exakte Unterscheidung ihrer psychologischen und philosophischen Aspekte betrachtet. Für die Intuitionstheorien der Antike ist dies mehr oder weniger natürlich, da die Psychologie damals noch keine selbständige Wissenschaft war und psychische Prozesse und Zu2 Polya, G., Schule des Denkens, Berlin 1949, S. 155. 3 Asmus, V. F., Problemy intuicii v filosofii i matematike, Moskau 1963, S. 9f.
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stände nicht tief genug erkannt waren. In unserer Zeit ist es im Inter-, esse der Fruchtbarkeit einer philosophischen Analyse der Intuition jedoch unbedingt notwendig, sich auf die Ergebnisse zu stützen, die von der Psychologie der Erkenntnisprozesse, erbracht worden sind. Das Kapitel II der vorliegenden Arbeit ist der Problemstellung der intuitiven „Einsicht" im wissenschaftlichen Schöpfertum gewidmet, und zwar auf der Grundlage der Analyse von Äußerungen einiger hervorragender Gelehrter (Poincaré, Helmholtz, Hadamard, Polyaund andere). Im Kapitel III werden einige hypothetische Annahmen über die Mechanismen der intuitiven „Einsicht" sowie über die Gesetzmäßigkeiten des Übergangs unterbewußt entstandener psychischer Strukturen in die Bewußtseinssphäre dargelegt. Kurz gefaßt besagen sie: 1. Das Denken kann sowohl bewußt als auch unterbewußt sein (dabei wird eine genetische Definition des Unterbewußten gegeben). 2. Bei der Lösung jeder mehr oder minder ernsthaften Aufgabe ist die vorläufige, bewußte Analyse ihrer Elemente unvollständig. 3. In jenen Fällen, in denen ein Teil der Analyse in der unterbewußten Sphäre erfolgt, wild d e Lösung plötzlich (scheinbar indeterminiert) bewußt und als geistige „Erleuchtung" des Individuums beobachtet. 4. Der Übergang erfolgt als ein komplizierter, dreischichtig verlaufender Prozeß, der drei psychologische Schwellen überwindet: die emotionale Schwelle, die Bewußtseinsschwelle und die Schwelle des Selbstbewußtseins. Im Kapitel IV werden einige theoretische Überlegungen zur Begründung der im vorhergehenden Kapitel ausgeführten hypothetischen Annahmen dargelegt und Wege für die experimentelle Erforschung des Schöpfertums vorgeschlagen. Kapitel V gibt einen kurzen Abriß über einige Grundrichtungen der Denkpsychologie, in denen Probleme des wissenschaftlichen Schöpfertums berührt werden. Ohne Anspruch auf eine annähernd vollständige Lösung fundamentaler Probleme des schöpferischen Denkens zu erheben, hoffen wir immerhin, in der vorliegenden Arbeit eine Reihe von Gedanken zu äußern, die für das weitere vertiefte Studium dieser Probleme nützlich sein können. Einige von ihnen bedürfen noch weiterführender Diskussion. Zur Lösung der Probleme des wissenschaftlichen Schöpfertums wird es noch großer Anstrengungen von vielen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerkollektiven bedürfen. Betrachtet man die gewaltige wissenschaftlich-technische und die soziale Bedeutung genauer Erkenntnis der Denkgesetze, so erweisen sich ernsthafte Bemühungen auf diesem Gebiet als wissenschaftlich aussichtsreich und ökonomisch begründet. 12
KAPITEL I
Einige Aspekte des Denkens und die Arten der Intuition
1. Einige Aspekte des Denkens Das Problem des Denkens ist außerordentlich umfassend und vielseitig. Seine verschiedenen Aspekte werden teils seit langem behandelt, teils werden sie erst seit relativ kurzer Zeit erforscht. Zu den ersteren zählen wir den gnoseologischen und den logischen Aspekt. Eine relative Zwischenstellung nimmt der physiologische Aspekt ein, da die materielle Basis der Psyche im allgemeinen und des Denkens im besonderen von den Wissenschaftlern bereits seit langem gesucht wurde, während die intensive experimentelle Erforschung des Gehirns erst am Ende des 19. Jahrhunderts begann. Die Denkpsychologie im eigentlichen Sinne des Wortes, die das Denken unabhängig von der Logik, mit eigenen Mitteln und in eigenen Begriffen erforscht, bildet noch kein endgültig formiertes Wissensgebiet. Die eigentliche psychologische Erforschung des Denkens hat im 20. Jahrhundert begonnen. Seit Anfang der vierziger Jahre unseres Jahrhunderts betrachtet man das Denken auch unter kybernetischem Aspekt. Und obwohl „jene Leute, die die Pioniere auf diesem Gebiet (der Kybernetik — A. N.) waren, hinsichtlich der Psychologie erstaunlich unwissend waren und die Gebilde, deren Verhalten sie modellieren wollten, eher den Traumbildern eines Mathematikers glichen als lebenden Wesen"1, läßt sich ein gewisser, vielleicht spontaner Einfluß psychologischer Ideen auf die Entstehung dieser wissenschaftlichen Disziplin nicht verleugnen. Alle obengenannten Aspekte des Denkens sind eng verknüpft und ergänzen sich wechselseitig. Jeder nimmt all das Wertvolle auf, was durch die anderen Gebiete, die das Denken erforschen, erarbeitet wurde. Vor den Wissenschaftlern, die das Denken erforschen, steht die Aufgabe der weiteren Entwicklung der allgemeinen Denktheorie. Die allgemeine Denktheorie antwortet auf die Fragen nach der Quelle un1 Miller, G. A., Galanter, E., Pribram, K. H., Plans and the structure of behaviour, New York 1960. Hier und im folgenden zitiert nach der russ. Ausgabe: Miller, G. A., Galanter, E., Pribram, K. H., Plany i struktura povedinija, Moskau 1964, S. 15.
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serer Kenntnisse, nach ihrer Wahrheit, nach den stabilen Formen des Denkens und nach jenen Formen, die je nach der Mentalität der denkenden Subjekte variieren, sie antwortet auf die Fragen nach den Grenzen der Erkenntnisfähigkeit einzelner Personen, nach den Denkformen und ihren Wechselbeziehungen, nach den materiellen Prozessen, die dem Denkprozeß zugrunde liegen, nach der Möglichkeit einer technischen und mathematischen Modellierung der Denkprozesse und auf eine Vielzahl anderer Fragen. Zur Konkretisierung vieler dieser Probleme trägt die psychologische Denktheorie bei, die sich gegenwärtig schnell entwickelt. Wenn es das Ziel der Denkforschung in allen seinen Aspekten ist, die durch die marxistische, Gnoseologie gegebene allgemeine Theorie des Denkens zu vertiefen, so erscheint es gerechtfertigt, eine allgemeine Definition des Denkens zu fordern, eine Definition (im Sinne der Konstruktion von Arbeitshypothesen), die für alle das Denken erforschenden Wissenschaften akzeptabel ist und als adäquate Ausgangsbasis für die erfolgreiche Durchführung solcher Forschungen dienen kann. Gegenwärtig sind wir jedoch noch weit von einer solchen vollständigen Kenntnis der Denkgesetze entfernt. Und wenngleich es für jede Wissenschaft auch von großer Bedeutung ist, eine exakte Definition ihres Forschungsgegenstandes zu besitzen, so ist dieser Mangel jedoch ganz natürlich, weil eine vollständige Definition des Gegenstandes einer Wissenschaft erst dann möglich wird, wenn dieser Gegenstand allseitig erkannt worden ist. Jede Wissenschaft, die unter einem bestimmten Aspekt das Denken erforscht, liefert — da zum Beispiel für einen Physiologen das Denken als Forschungsgegenstand keineswegs dasselbe ist wie für einen Philosophen — nur eine Teildefinition, eine annähernde Definition des Denkens, die in dem Maße präzisiert wird, wie das Wissen um diese Erscheinung fortschreitet. Diese Teildefinitionen des Denkens sind dennoch aussagekräftig und werden den Bedürfnissen der wissenschaftlichen Forschung gerecht. Der dialektische Materialismus definiert das Denken als die höchste Form der Widerspiegelung von Gegenständen und Erscheinungen der Natur durch den Menschen, die es im Unterschied zu den einfacheren psychischen Erscheinungen (Empfindungen und Wahrnehmungen) gestattet, die Dinge in ihrer ganzen Tiefe, in ihrem Wesen und ihren Wechselbeziehungen zu erkennen. Die richtige Widerspiegelung der objektiven Naturgesetze bildet eine notwendige Bedingung für die Freiheit des Menschen. Das Wort „wahr" ist nur auf das menschliche Wissen anwendbar, denn von der „Wahrheit" der Materie außerhalb der Erkenntnistätigkeit des Menschen zu reden, käme der tautologischen 14
Behauptung der objektiven Existenz der Materie und der objektiven Gesetze von Natur und Gesellschaft gleich; das Primat der Materie und der objektiven Gesetze der Natur und der Gesellschaft wird aber von der marxistischen Gnoseologie ganz an den Anfang ihrer Betrachtung gestellt. Gerade durch die Erforschung der Problematik, die bei der Klärung des Charakters der subjektiven Dialektik und ihres Verhältnisses zur objektiven Dialektik entsteht, zeichnet sich der gnoseologische Aspekt des Denkproblems aus. Überaus wichtig ist der logische Aspekt des Denkens. Der Denkprozeß stellt bekanntlich eine Reihe von Operationen mit Begriffen und Urteilen dar. Beim Denken definiert der Mensch, verallgemeinert, grenzt Begriffe ein und teilt sie, wandelt Urteile um, folgert usw. Eben die Gesamtheit dieser ständigen Denkformen und Operationen sowie die ihnen zugrunde liegenden Gesetze und Regeln bilden den Gegenstand der formalen Logik. Man hat früher geglaubt, die formale Logik sei die einzige Disziplin, die berufen sei, das Denken zu erforschen. „Da das System der Denkoperationen, die geistige Handlungen vollziehen, durch seinen Umfang deren Inhalt völlig verdeckt, kann der Eindruck entstehen, es behandle das Denken erschöpfend, mit anderen Worten, als sei die formale Logik die einzige Wissenschaft vom Denken und als seien ihre Gesetze die einzigen Gesetze des Denkens." 2 Diese Illusion ist jedoch heute geschwunden und der logische Aspekt der Denkforschung schließt einige sehr wichtige und exakt definierte Fragen ein. Der kybernetische Aspekt der Denkforschung betrachtet das menschliche Gehirn (das Denkorgan) als ein kompliziertes System, dessen Arbeit in der Informationsaufnahme und -Verarbeitung mit abschlie-
ßender Herausarbeitung von Steuerungssignalen besteht, wobei auch hier Mechanismen der Rückkopplung (das Reafferenzprinzip) wirken. Aus dieser Sicht ordnet sich auch das Denken als eine Art der Erkenntnis den Grundgesetzen der Kybernetik unter. Diese Definition des kybernetischen Aspekts ermöglicht es, das menschliche Verhalten in quantitativer Hinsicht zu behandeln und so wichtige Erkenntnismittel wie die Wahrscheinlichkeitstheorie, die Informationstheorie, die mathematische Logik und anderes zu nutzen. Die Kybernetiker sind der Ansicht, daß es die mathematische Modellierung ermöglichen wird, Modelle von Organismen oder deren Teilsystemen zu schaffen und ihre Arbeit mit exakten Methoden zu erforschen. Es ist jedoch zu bemerken, 2 Leont'ev, A., MySlenie, in: Filosofskaja Enciklopedija, 1964, S. 518.
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daß gegenwärtig nur die formalisierten Komponenten der Denkprozesse modelliert werden können und daß die heuristische Modellierung sich gerade erst im Anfangsstadium befindet. „Es ist . . . kaum daran zu zweifeln, daß es eine Grenze zwischen dem im Denken Formalisierbaren und dem, was sich — in jeder gegebenen Etappe der Erkenntnis, der Praxis und der Entwicklung des Denkens — außerhalb der Formalisierungsmöglichkeiten befindet, offenbar immer geben wird." 3 Der physiologische Aspekt in der Denkforschung betrachtet die physikalisch-chemischen Prozesse, die in der materiellen Grundlage des Denkens, dem Nervengewebe, ablaufen. Im individuellen schöpferischen Prozeß werden das intuitive Denken und die logische Vollendung des gewonnenen Resultats durch eine ganze Reihe von psychologischen Komponenten begleitet, von denen die Emotionalität und die Einstellung besonders wichtig sind. Da die subkortalen Abschnitte des Großhirns aufs engste mit dem allgemeinen Tonus und dem Vorhandensein des Bewußtseins verknüpft sind (A. R. Lurija, G. Megun, W. Penfield und andere), so schließt der physiologische Aspekt des Denkens grundsätzlich die Erforschung der systemhaften Arbeit aller Abschnitte des Großhirns ein (ausführlicher wird diese Frage im Kapitel IV behandelt). Zentrale Bedeutung für die Vertiefung der allgemeinen Theorie des Denkens besitzt der psychologische Aspekt. Es ist allerdings heute ziemlich schwierig, eine genaue Definition dessen zu geben, was für die psychologische Richtung in der Erforschung des Denkens charakteristisch ist. Die Schwierigkeit liegt darin, daß der reale Denkprozeß als Gegenstand der psychologischen Forschung unter Berücksichtigung der Ziele und Bedingungen der Denktätigkeit nicht abstrahiert von seinem gegenständlichen Inhalt untersucht werden kann. Außerdem muß bei der psychologischen Erforschung des Denkens notwendigerweise mit denselben Komponenten des Denkprozesses operiert werden, die auch von der formalen Logik und zum Teil auch von der Neurophysiologie gebraucht werden. Nicht vernachlässigt werden darf auch der gnoseologische Inhalt des Denkprozesses, weil das Denken in seinem Wesen ein Prozeß der Wechselwirkung des denkenden Subjekts mit den Gegenständen und Erscheinungen der objektiven Welt ist, die im realen Denkprozeß mittelbar in Form von früheren Kenntnissen und Elementen der zu untersuchenden Problemsituation auftreten. Das ist deshalb wichtig, weil 3 B i r j u k o v , B . V . , T j u c h t i n , V . S., O filosofskoj problematike kibernetiki, i n : Kibernetika, mySlenie, iizn', M o s k a u 1 9 6 4 , S. 1 0 4 .
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ein zweckmäßig organisierter Denkprozeß jedesmal einer Bewertung unter dem Gesichtspunkt der Wahrheit oder Falschheit seiner Ergebnisse unterworfen werden muß. Die Einheit des Denkprozesses in allen seinen Aspekten wird bei der psychologischen Erforschung des Denkens deutlich. Die Schwierigkeit einer exakten Definition des Gegenstandes der Denkpsychologie, die beim gegenwärtigen Stand der Kenntnisse ganz natürlich ist, hat dazu geführt, daß viele Psychologen (K. Duncker und andere) dazu neigen, bei der psychologischen Erforschung des Denkens unwillkürlich resultativ an das Denken heranzugehen. Dadurch entfernen sie sich mehr oder minder vom gestellten Ziel, dem Studium des eigentlich psychologischen Aspektes des Denkens. Wenn aber jeder Denkprozeß sich mittels solcher logischer Opeiationen vollzieht, die durch ihren Umfang den gesamten Prozeß des Denkens (konkret — den Lösungsprozeß einer bestimmten Aufgabe) verdecken, so treten die psychologischen Komponenten des Denkens stets vermittels logischer Komponenten und gemeinsam mit diesen auf. Eine Ausnahme bildet die ursprüngliche emotionale Anspannung beim Übergang der fertigen Lösung aus dem unterbewußten Bereich in das Bewußtsein; jedoch ist sie (wie wir im weiteren genauer zeigen werden) kausal bedingt eben durch den logischen, gegenständlichen Inhalt der Aufgabe und bildet eine Komponente des einheitlichen psychologischen Prozesses. Es ist deshalb ein unmögliches Unterfangen, die psychologischen Komponenten des Denkprozesses außerhalb ihrer Verbindung mit dem gegenständlichen Inhalt dieses Prozesses erforschen zu wollen. Denn wenn das Denken seinen Gegenstand verliert, hört es auf zu existieren. Die Schwierigkeit, die psychologischen Komponenten des Denkprozesses in reiner Form zu erforschen, darf für den Psychologen nicht zum Anlaß werden, sich vorwiegend den gegenständlichen Komponenten des Denkens zuzuwenden. Bei der psychologischen Erforschung des Denkens ist es notwendig, sich auf den gegenständlichen Inhalt so zu stützen, daß die Ermittlung der psychologischen Besonderheiten des Denkprozesses nicht gehindert, sondern gefördert wird. Die Schwierigkeit, dieses Prinzip beim gegenwärtigen Stand unserer psychologischen Kenntnisse zu praktizieren, liegt auf der Hand. Aber der Psychologe muß sich darum bemühen. Eben deshalb bildet die Differenzierung, Bestimmung und das relativ selbständige Studium des psychologischen Aspekts im Denken ein Problem der modernen Psychologie. Von allen Psychologen, die sich mit dem Denkprozeß beschäftigen, wird dieses Problem in irgendeiner Form berücksichtigt. Die Besonderheit der Situation, daß psychologische Denkforschung betrieben wird, ohne 2 Naliadijan
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eine genaue Abgrenzung und adäquate Bestimmung des psychologischen Aspekts im Denken zu haben, ist nicht paradoxer, als es die ähnliche Lage in anderen sich entwickelnden Wissenschaften ist. Die Möglichkeit einer fruchtbringenden Erforschung der psychologischen Probleme des Denkens ist deswegen durchaus positiv einzuschätzen. Die psychologischen Komponenten treten zweifellos in jedem Denkprozeß (ob produktivem oder reproduktivem) in Erscheinung. Es ist jedoch völlig zulässig, die spezifischen psychologischen Gesetzmäßigkeiten des Denkens dort zu studieren, wo sie deutlich und sichtbar auftreten. Wenn daher die Psychologen erklären, Gegenstand der psychologischen Erforschung sei das schöpferische (produktive) Denken, ist dies offensichtlich nicht so zu verstehen, als würden damit die übrigen Arten des Denkens ganz aus dem Gesichtsfeld des Psychologen verbannt, sondern in dem Sinne, daß der schöpferische Akt die psychologische Seite des Denkprozesses „entblößt" und so dem Forscher ein geeignetes Studienmaterial bietet. Die Denkpsychologie darf zudem nicht danach streben, bei der Erforschung des Denkens zum Antipoden der Logik zu werden; das schöpferische Denken als spezifisch psychologisches Forschungsgebiet nur deswegen zu konstituieren, weil es bislang noch nicht von der Logik erforscht wird, wäre zumindest methodologisch falsch. Der Hauptgrund dafür, daß die meisten das Denken erforschenden Psychologen den schöpferischen Denkprozeß bevorzugen, ist die Tatsache, daß in ihm die psychologischen Komponenten deutlich und gegliedert auftreten und also der Erforschung zugänglicher sind. Was die Perspektiven einer logischen Erforschung des Denkens betrifft, so kann man hoffen, daß das schöpferische Denken im Prinzip in einem noch zu erarbeitenden logischen System (vielleicht auch einem von den modernen formalen Systemen sehr unähnlichen) widergespiegelt und adäquat modelliert werden kann. Ein anderes wichtiges Moment in der psychologischen Erforschung des Denkens bildet die Frage, ob eine Aufgabenstellung als adäquates Mittel bei dei Denkforschung dienen kann. Dewey, der Begründer des Instrumentalismus, hat als erster auf die Bedeutung der Problemsituation und der Aufgabe im Denkprozeß aufmerksam gemacht. 4 Mehr noch, Dewey identifiziert das Denken mit dem Prozeß der Problemlösung (problem-solving process). Die Ansichten Deweys haben zweifellos sowohl die Würzburger Schule als auch die Vertreter der Gestaltpsychologie beeinflußt. 4 Dewey, J., How We Think.A Restatement ofthe Relation of the Reflective Thinking to the Education Process, New York-London 1933. 18
Im Jahre 1910erschien die erste Auflage des Buches „How We Think", das später zahlreiche Neuauflagen erlebte und in viele Sprachen übersetzt wurde. Die in diesem Buch enthaltenen Gedanken Deweys erschienen einer ganzen Generation von Logikern, Philosophen und Psychologen als unerschütterlich. Wir können die Darlegungen Deweys hier nicht ausführlich erörtern. Der Hauptgedanke seines Buches ist, daß alle Arten des Denkens nur Varianten des reflektorischen Denkens sind. Der schöpferische Prozeß enthält nach Dewey ebenfalls nichts Neues. Wir befassen uns hier jedoch nur mit Deweys Aussagen über das schöpferische Denken. Sie führen in der Folge zur Negierung seiner eigenen Grundgedanken, obwohl Dewey selbst diesen Widerspruch in seinen Ansichten nicht bemerkt. Einer der grundlegenden Beiträge Deweys zur Psychologie des schöpferischen Denkens ist der klare Hinweis, daß „jedes Denken mit einer Problemsituation beginnt". Diese Feststellung trifft zwar hauptsächlich auf das naturwissenschaftliche Denken zu und kann keinen kategorischen Charakter besitzen, aber der Hinweis darauf, daß die Problemsituation im Denkprozeß primär ist, rückt die psychologische Problematik bei der Erforschung des Denkens in den Vordergrund. Dewey betrachtet die Stellung des Problems als den wichtigsten ersten Schritt. Den gesamten Lösungsprozeß verstand er als eine Folge von bestimmten und aufeinander folgenden logischen Schritten. Ganz modern ist auch Deweys Verständnis des überaus schwierigen und wichtigen Problems des Verhältnisses von Sprache und Denken. Er hält sowohl die absolute Trennung der Sprache vom Denken für falsch als auch die These von der absoluten Untrennbarkeit vop Sprache und Denken, von der Unmöglichkeit der unabhängigen Existenz, des unabhängigen Verlaufs von Sprache und Denken. Das Denken, so behauptet Dewey, erfolgt immer mit Hilfe von Zeichen, von Bildern, nicht aber von Worten. Die Sprache formiert das Wissen, bringt es aber nicht hervor. Dewey ist zwar von der Lösung des Problems weit entfernt, jedoch führen seine Überlegungen zu der Frage, ob unsere Alltagssprache nicht manchmal ein Prokrustesbett für unser Denken ist. Und schon darin Hegt ein nicht geringes Verdienst. Große Bedeutung besitzt die Tatsache, daß Dewey zur Erklärung des schöpferischen Aktes den Begriff des Unterbewußten benutzt und sich sogar bemüht, die Phänomenologie des unterbewußten Denkens zu beschreiben: „Es ist allgemein bekannt, daß nach langer Arbeit an einem intellektuellen Thema der Verstand aufhört, bereitwillig zu funktionieren. Er folgt sichtlich ausgetretenen Pfaden; ,die Räder drehen sich im Kopf', aber sie bringen nichts Neues hervor. Es kommen
keine neuen Gedanken mehr. Der Verstand ist, wie man sagt, .voll bis oben hin'. Dieser Zustand ist eine Mahnung, die bewußte Aufmerksamkeit und Reflexion auf etwas anderes zu richten. Wenn der Verstand nicht mehr mit dem Problem beschäftigt ist und die Spannung des Bewußtseins nachgelassen hat, beginnt die Periode der Inkubation. Das Material gruppiert sich von selbst um (rearrange); Fakten und Prinzipien verteilen sich auf ihre Plätze, die Unordnung verwandelt sich in Geordnetheit, und zwar oft in einem solchen Grade, daß das Problem im Grunde gelöst wird. Viele Menschen, die komplizierte praktische Fragen zu lösen haben, halten es für zweckmäßig, die Betrachtung der Fragen aufzuschieben (to sleep on the matter). Häufig erwachen sie morgens und stellen fest, daß, während sie geschlafen haben, die Dinge von allein in Ordnung gekommen sind. Der unmerkliche Inkubationsprozeß hat zur Geburt der Lösung des Plans geführt. Eine solche Geburt von Erfindungen, Lösungen und Entdeckungen ist jedoch selten, wenn der Verstand nicht vorher bewußt mit dem zur Frage gehörenden Material gesättigt wurde, wenn er nicht die Fakten hin und hergewendet und alles Für oder Wider abgewogen hat. (Hervorhebung — A. N.)5 Seine Überlegungen über den schöpferischen Prozeß beendet Dewey mit der charakteristischen Folgerung: "Die Inkubation ist kurz gesagt eine der Phasen des rhythmischen Prozesses."6 (Hervorhebung — A. N.). In den angeführten Zitaten ist fast alles enthalten, was man bei Dewey über die Mechanismen des schöpferischen Denkens und das unbewußte Denken finden kann. In stark reduzierter Form ist darin jedoch ein Teil der Probleme enthalten, die später von anderen Wissenschaftlern weiterentwickelt worden sind. Dewey verstand den periodischen Charakter des schöpferischen Prozesses in den Grundzügen ebenso wie die modernen Autoren. Offensichtlich ist jedoch ebenfalls, daß Dewey, befangen in seiner Hauptidee, die große Bedeutung und Eigenart des schöpferischen, intuitiven Denkens nicht versteht und es für eine Art des diskursiven Denkens hält. Das zeigt insbesondere der Schlußsatz des oben angeführten Zitats mit aller Deutlichkeit. Unter dem „rhythmischen Prozeß" versteht Dewey natürlich den Prozeß des diskursiven Denkens. Dewey, der die Realität des unterbewußten Denkens einräumte, hätte von diesem Standpunkt die Probleme des Schöpfertums gründlicher erforschen können. Er hat diese Möglichkeit jedoch nicht genutzt. 5 Ebenda, S. 284. 6 Ebenda.
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Bewußt und systematisch als ein wesentliches Mittel bei der psychologischen Erforschung des Denkens wurde die Aufgabe* jedoch erstmals durch die Vertreter der Gestaltpsychologie (W. Köhler, K. Koffka und andere) verwendet.7 Man darf nicht, wie das L. S. Vygotskij tat, auf der Grundlage des Vorhandenseins einiger gemeinsamer Züge im Denken der Anthropoiden und des Menschen schließen, daß die Aufgabe nicht als adäquates Mittel der Erforschung des menschlichen Denkens dienen könne. Die Spezifik des menschlichen Denkens kann bei der Lösung selbst solcher einfachster Aufgaben, wie sie von einigen Affenarten gelöst werden, sichtbar werden. A. M. Matjuikin stellt mit Recht fest, daß es deshalb unzulässig ist, die Frage nach der Spezifik des menschlichen Denkens mit der prinzipiellen Frage nach der Möglichkeit der Benutzung von Aufgaben zur psychologischen Erforschimg des Denkens zu vermischen.8 In seiner Arbeit stellt er fest, daß bei der Erforschimg der Besonderheiten des menschlichen Denkens die wichtige Rolle des zweiten Signalsystems zu berücksichtigen ist, das es ermöglicht, die Aufgabe durch verbale Formulierung zu objektivieren und anderen vorzulegen. Außerdem spielen die verbalen Formulierungen vom Beginn des Denkprozesses an der Aufgabenlösung bis zu seinem Abschluß in jeder Etappe eine wichtige Rolle. Sie konstituieren gewissermaßen die Ergebnisse jeder Etappe und zeigen dem Bewußtsein jenen Weg, den das Individuum gegangen ist, sowie jenen Weg, der zur endgültigen Lösung der vor ihm stehenden Aufgabe noch zu gehen ist. Die psychologische Erforschung des Denkens muß von dem prinzipiell wichtigen Umstand ausgehen, daß die Wechselwirkung des Menschen mit der objektiven Realität subjektiv in Form einer Art Störung des psychischen Gleichgewichts, der Anhäufung einer psychischen Spannung, die nach Reduktion sucht, in Erscheinung tritt. Das objektive Fehlen bestimmter Elemente in jener Situation, in die die Tätigkeit des Subjekts eingeschlossen ist, macht diese Situation unvollständig, kausal nicht voll determiniert, und subjektiv wird eine solche unvollständige, disharmonische Situation als Problemsituation widergespiegelt. Wenn man von der kausalen Unvollständigkeit der gegebenen Situation spricht, so ist dabei zu beachten, daß diese Un* Aufgabe (russ.: aaflaia) ist hier verstanden als Aufgabenstellung z. B. von mathematischen Aufgaben — d. Hrsg.
7 Vgl. Koffka, K., Die Grundlagen der psychischen Entwicklung, Oster-
wieck 1920.
8 Vgl. Matju&kin, A. M., Nekotorye problemy psichologii mySlenija, in:
Psichologija mySlenija, Moskau 1965.
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Vollständigkeit lediglich phänomenologisch ist. Sie ist unvollständig, solange nicht alle ihre Komponenten dem Intellekt des Subjekts zugänglich sind. Zur Auffindung der objektiv gegebenen, aber verborgenen Realitäten muß das Subjekt mittels bekannter Elemente und Relationen das fehlende Glied finden. Die Notwendigkeit, ein vollständiges Bild der Situation zu besitzen, um die Tätigkeit in dieser Lage erfolgreich organisieren zu können, führt zum Erkenntnisprozeß — dem Denken. Dabei umfaßt der Begriff der Tätigkeit, wie das in der marxistischen Philosophie und Psychologie üblich ist, auch die Erkenntnisaktivitäten des Menschen. Zweifelsohne sind die Aufgabe und die Problemsituation, wie das die Vertreter der Gestaltpsychologie betont haben, tatsächlich jene notwendigen Bedingungen, die eine Aufdeckung der psychologischen Gesetzmäßigkeiten im Ablauf des Denkprozesses ermöglichen. Wir werden deshalb in unseren Untersuchungen eben vom Vorhandensein einer Problemsituation, in der die Tätigkeit des Individuums erfolgt (zu der diese Tätigkeit selbst geführt hat), sowie einer Aufgabe, die das Individuum zu lösen hat, ausgehen. Zur deutlicheren Darstellung der Besonderheiten des psychologischen Aspekts bei der Erforschung des Denkens «scheint es uns zweckmäßig, kurz auf die Ansichten des englischen Philosophen K. Popper zu diesem Problem einzugehen. Popper beschäftigt sich in der Hauptsache mit logischen Problemen der Wissenschaftsentwicklung. Sein Buch Die Logik der Forschung9 ist der logischen Analyse wissenschaftlicher Kenntnisse gewidmet. Eine solche Analyse verfolgt nach Popper das Ziel, auf Fragen solcher Art zu antworten: Kann eine Behauptung bestätigt werden? Und wenn, wie? Läßt sie eine Überprüfung zu? Hängt sie logisch von einigen anderen Behauptungen ab? Oder widerspricht sie ihnen vielleicht? Interessant ist, daß Popper die Aufgaben der Logik und der Psychologie des Denkens so scharf voneinander scheidet, daß er ihre Ziele und Mittel fast einander gegenüberstellt. „Die erste Hälfte dieser Tätigkeit, das Aufstellen der Theorien, scheint uns einer logischen Analyse weder fähig noch bedürftig zu sein: An der Frage, wie es vor sich geht, daß jemandem etwas Neues einfällt — sei es nun ein musikalisches Thema, ein dramatischer Konflikt oder eine wissenschaftliche Theorie — hat wohl die empirische Psychologie Interesse, nicht aber die Erkenntnislogik. Diese interessiert sich nicht für Tatsachenfragen 9 Popper, K., Logik der Forschung. Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft (The Logic of Scientific Discovery [dt.]), Wien 1935. 22
(Kant: „quid facti"), sondern nur für Geltungsfragen („quid juris"), das heißt für Fragen von der Art: ob und wie ein Satz begründet werden kann; ob er nachprüfbar ist; ob er von gewissen anderen Sätzen logisch abhängt oder mit ihnen in Widerspruch steht usw." 10 „Wir wollen also scharf zwischen dem Zustandekommen des Einfalls und den Methoden und Ergebnissen seiner logischen Diskussion unterscheiden und daran festhalten, daß wir die Aufgabe der Erkenntnistheorie oder Erkenntnislogik (im Gegensatz zur Erkenntnispsychologie) derart bestimmen, daß sie lediglich die Methoden der systematischen Überprüfung zu lintersuchen hat, der jeder Einfall, soll er ernst genommen werden, zu unterwerfen ist." 11 Popper bestreitet nicht grundsätzlich die Möglichkeit und Notwendigkeit, das Schöpfertum psychologisch zu erforschen. Er zweifelt aber offensichtlich daran, daß die Ergebnisse einer derartigen Forschung logisch ausgedrückt werden können: „Hier könnte man einwenden, es wäre zweckmäßiger, die Aufgabe der Erkenntnistheorie dahin zu bestimmen, daß sie den Vorgang des Entdeckens, des Auffindens einer Erkenntnis .rational nachkonstruieren' soll. Es kommt aber darauf an, was man nachkonstruieren will: Will man die Vorgänge bei der Auslösung des Einfalls nachkonstruieren, dann würden wir den Vorschlag ablehnen, darin die Aufgabe der Erkenntnislogik zu sehen. Wir glauben, daß diese Vorgänge nur empirisch-psychologisch untersucht werden können und mit Logik wenig zu tun haben. Anders, wenn der Vorgang der nachträglichen Prüfung eines Einfalls erkannt wird, rational nachkonstruiert werden soll. Sofern der Forscher seinen Einfall kritisch beurteilt, abändert oder verwirft, könnte man unsere methodologische Analyse auch als eine Art rationaler Nachkonstruktion der betreffenden denkpsychologischen Vorgänge auffassen. Nicht, daß sie diese Vorgänge so beschreibt, wie sie sich tatsächlich abspielen: sie gibt nur ein logisches Gerippe des Prüfungsverfahrens. Gerade das aber dürfte man wohl unter der rationalen Nachkonstruktion eines Erkenntnisvorganges verstehen." 12 Daraus läßt sich schließen, daß Popper, indem er den psychologischen und den logischen Aspekt des Denkens deutlich unterscheidet, es als ein überaus wichtiges Problem eben der Psychologie ansieht, den wirklichen Verlauf des Denkens als psychischen Prozeß, der zu neuem Wissen führt, aufzudecken. Der psychologische Aspekt der Erforschung 10 Ebenda, S. 4. 11 Ebenda. 12 Ebenda, S. 5.
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des Denkens wird in keiner Weise im logischen Aspekt aufgelöst. Nachdem er erklärt, daß sein Ziel die logische Erforschung der wissenschaftlichen Kenntnis ist und er vom Problem der Entdeckung neuen Wissens abstrahiert, fährt Popper fort: „Unsere Auffassung daß es eine logische, rational nachkonstruierbare Methode, etwas Neues zu entdecken, nicht gibt, pflegt man oft dadurch auszudrücken, daß man sagt, jede Entdeckung enthalte ein .irrationales Moment'; sei eine .schöpferische Intuition' (im Sinne Bergsons), ähnlich spricht Einstein über . . . . das Aufsuchen jener allgemeinsten . . . Gesetze, aus denen durch reine Deduktion das Weltbild zu gewinnen ist'. Zu diesen . . . Gesetzen führt kein logischer Weg, sondern nur die auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intuition." 13 Man muß Popper zustimmen, wenn er von der Rolle der Intuition im Erkenntnisprozeß spricht. Faßt man jedoch die Intuition irrationalistisch auf, wie er sie ebenso wie mit Bergson versteht, der den Bereich der mit diesem Terminus bezeichneten Erscheinungen ungerechtfertigt erweitert hatte, so kann man dagegen mit Hadamard einwenden, daß die Anerkennung der prinzipiellen Unerkennbarkeit (der Irrationalität) des schöpferischen Aktes gleichbedeutend mit der Behauptung ist, ein auf die Tasten einer Schreibmaschine hämmernder Affe könne durch einen glücklichen Zufall die amerikanische Unabhängigkeitserklärung zu Papier bringen. Die Intuition muß als ebenso erkennbar angesehen werden wie jede andere Erscheinung der Natur und des geistigen Lebens. Einstein übrigens, auf den sich Popper zu stützen versucht, war zwar skeptisch gegenüber der Möglichkeit, den schöpferischen Prozeß zu verstehen, hat aber eine solche Möglichkeit niemals kategorisch bestritten. Er begrüßte die von Hadamard begonnene Forschung und bemühte sich, ihn mit den notwendigen faktischen Daten aus eigenen Beobachtungen zu versorgen. Der gnoseologische Aspekt des Denkens besitzt, wie bereits ausgeführt wurde, sehr große Bedeutung für die Schaffung einer allgemeinen Theorie des Schöpfeitums und der Denkpsychologie. Da wir in der vorhegenden Arbeit nicht alle, sondern nur bestimmte psychologische Aspekte des schöpferischen Denkens untei suchen, so muß zu Beginn auf die methodologischen Fragen des wissenschaftlichen Schöpfertums eingegangen werden, um dann, auf der festen Grundlage ihrer dialektisch-matierialistischen Analyse, von richtigen philosophischen Positionen her zu einer eigentlich psychologischen Analyse des Problems der intuitiven Erkenntnis zu kommen. 13 Ebenda. 24
Als aktiver Erforscher methodologischer Probleme des wissenschaftlichen Schöpfertums von den Positionen des dialektischen Materialismus her tritt gegenwärtig Akademiemitglied B. M. Kedrov hervor. Er hat in den zahlreichen Publikationen der letzten Jahre konsequent eine ganze Reihe von wichtigen Fragen der Dialektik des wissenschaftlichen Schöpfertums analysiert, und zwar größtenteils anhand konkreten Materials über das Schaffen D. I. Mendeleevs. Da in den Arbeiten B. M. Kedrovs fast alle methodologischen Grundfragen des wissenschaftlichen Schöpfertums berührt werden, erscheint es zweckmäßig, diese Fragen vorwiegend bei der Betrachtung seiner Hauptthesen zu behandeln. Wir greifen einige der philosophisch wichtigsten davon heraus, wobei wir jene grundlegenden Probleme im Auge haben, die in den folgenden Kapiteln der vorliegenden Arbeit untersucht werden. Die Rolle der bewußten Arbeit. Als hervorragender Kenner der Wissenschaftsgeschichte stellt Kedrov exakt den etappenweisen Charakter des schöpferischen Prozesses dar. Besonders vollständig wird in seinen Arbeiten die Rolle der bewußten Tätigkeit zur Schaffung der Voraussetzungen für das Entstehen einer neuen Idee, im Entstehungsprozeß der Idee selbst und bei ihrer anschließenden logischen Ausbildung herausgearbeitet. Dies wird besonders in der Analyse der Entdeckung des Periodensystems der Elemente durch D. I. Mendeleev deutlich. Hier demonstriert Kedrov jenes Herangehen an die Erforschung des schöpferischen Prozesses, das unserer Ansicht nach zum methodischen Hauptmittel bei jeder konkreten Analyse dieser Art werden muß, nämlich: zuerst sind alle Möglichkeiten zur Feststellung dessen auszuschöpfen, was bewußt geschehen ist, nichts Überflüssiges ist auf das Unbewußte und die Intuition abzuwälzen, und erst dann ist die Bedeutung der letzteren für die Entstehung neuer Ideen einzuschätzen. In seinem Buch Der Tag einer großen Entdeckung14 beweist Kedrov mit dieser Methode und gestützt auf Fakten (von deinen er einen erheblichen Teil erstmals aufgefunden und ausgewertet hat), daß alle Etappen des schöpferischen Prozesses D. I. Mendeleevs in höchstem Grade bewußt verliefen. Dieser Aspekt ist in den Arbeiten Kedrovs so erschöpfend, vollständig und klar dargestellt, daß es kaum sinnvoll wäre, ihn hier erneut darzustellen. Etwas ausführlicher gehen wir auf eine andere Seite der Frage ein. 1 4 Kedrov, B. M., Den' odnogo velikogo otkrytija, Moskau 1958.
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Das Unterbewußte und die Intuition. E s gibt unbestreitbare Fakten und gewichtige Argumente dafür, daß selbst der maximal bewußte schöpferische Prozeß ohne die Aktivität des Unterbewußten und ohne schöpferische intuitive Einsichten nicht hätte erfolgreich sein können. Nachdem Kedrov betont hat, daß D. I. Mendeleev auf Grund zutiefst bewußter analytisch-synthetischer Denkarbeit Mitte Februar 1869 „sich der Entdeckung des periodischen Gesetzes äußerst genähert hatte", schreibt Kedrov weiter, daß Mendeleev „folgende überaus wichtige Momente aufspürte und zum Teil feststellte . . , " 1 5 (im weiteren werden die „aufgespürten" Gedanken genannt). Diese Momente waren Verallgemeinerungen, für deren Gewinnung die bewußte Arbeit die Hauptbedeutung besaß, wenngleich auch das Unterbewußte und die Intuition eine bedeutende Rolle spielten. Das waren vorbereitende Teileinsichten und Teilvermutungen, die eine so/ide Grundlage für die vollständigere Synthese schufen. Bei der weiteren Beschreibung der Hauptetappen des schöpferischen Prozesses, den der große Chemiker im Verlauf der Entdeckung durchlebte, nennt Kedrov als erstes die „Aufspürung" 1 6 des neuen Verteilungsprinzips der Elemente. Das Wort „Abtasten" in bezug auf das Denken besitzt, so muß man annehmen, die Bedeutung der intuitiven Vermutung, des insight. Als entscheidende Phase der Entdeckung bezeichnet Kedrov die Aufstellung der vollen Entwurfsvariante des Gesamtsystems. Das trifft freilich unter dem Gesichtspunkt der quantitativen Bewertung des Denkresultats zu. Uns erscheint aber auch die erste Periode — das „Abtasten" — des neuen Prinzips entscheidend. Eben auf diese Periode bezieht sich das Zeugnis A. A. Inostrancevs, der Mendeleev die bekannten Worte zuschreibt: „Im Kopf ist alles fertig, aber ich kann es nicht durch eine Tabelle ausdrücken." 1 7 Diese Worte erinnern an die bekannte Klage von Gauß, daß er längst Resultate habe, aber nicht wisse, wie er zu ihnen gelangen solle. Die schöpferische Intuition hatte ihr Resultat geliefert, nun hatte das logische, bewußte Denken das Wort. Die Richtigkeit des Zeugnisses von Inostrancev bestätigt Kedrov auf Grund der aufgefundenen und von ihm erforschten neuen Dokumente. F ü r zutreffend hält er auch die Mitteilung Inostrancevs, daß Mendeleev gegen Ende des Entdeckungstages eingeschlummert sei und die Tabelle im Traum entdeckt habe. Kedrov hält die Legende, Mendeleev habe drei Tage lang hintereinander ohne zu schlafen ge15 Vgl. ebenda, S. 33. 16 Vgl. ebenda, S. 39. 17 Ebenda, S. 161.
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arbeitet, für eine Übertreibung und schreibt: „Läßt man diese offensichtlichen Verzerrungen und Übertreibungen weg, so verdient meiner Meinung nach folgendes am Zeugnis Inostrancevs Glauben. Nachdem er gegen Ende seiner Arbeit am System der Elemente müde geworden war, konnte sich Dmitrij Ivanovic tatsächlich niederlegen und im Traum seine Tabelle sehen, in der die Elemente so eingetragen waren, wie es erforderlich wai. Wieder erwacht, konnte er dies so notieren, daß später nur an einer Stelle eine Veränderung vorzunehmen war." 18 Kedrov hält folglich die unterbewußte Arbeit des Denkens während des Schlafes für möglich. Er stellte fest, daß Mendeleev vor dem Schlaf lange und bewußt am Tabellenentwurf (es finden sich hier viele Korrekturen) gearbeitet hatte, einem Entwurf, in dem die Elemente in den Spalten nicht entsprechend der Zunahme, sondern entsprechend der Abnahme der Atomgewichte angeordnet waren. In der nach dem Erwachen verfaßten Tabelle jedoch bedurfte es nur an einer Stelle der Korrektur, deshalb schließt Kedrov mit Recht: „Dmitrij Ivanovic konnte tatsächlich im Traum sein System vom Entwurf ins Reine geschrieben sehen, anders ausgedrückt, er konnte tatsächlich träumen, die von ihm bereits geschaffene Elemententabelle in umgekehrter Reihenfolge abzuschreiben: im Entwurf waren die Elemente so angeordnet, daß die leichteren unter den schwereren standen; im endgültigen Exemplar dagegen standen die leichteren über den schwereren Elementen." 19 Natürlich ist dies nicht die entscheidende Etappe der Entdeckung, sondern nur eine der speziellen Einsichten (insights) im Verlauf der logischen Formierung der Idee, die der Entdeckung folgt. Bei Kedrov ist zwar die Tendenz zu beobachten, die Rolle des unterbewußten Denkens im schöpferischen Prozeß zu unterschätzen, in diesem konkreten Falle hat er jedoch recht. Man muß nur berücksichtigen, daß neben der Feststellung „. . . dies alles wurde erst möglich, nachdem Dmitrij Ivanovic die Entdeckung im Wachzustand, nicht aber im Traum zu Ende geführt hatte" und „kein Traum hätte sofort, in fertiger Form das Resultat dieser langwierigen und mühseligen Arbeit darstellen können, wenn dieses Resultat nicht schon vorher erreicht worden wäre" 20 , die vorangegangenen insights (das „Spüren" der Idee, von dem Kedrov selbst spricht) und die Möglichkeit (oder gar Un18 Ebenda, S. 162 f. 19 Ebenda, S. 163. 20 Ebenda.
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abwendbarkeit) einer gemeinsamen Aktivität des Bewußtseins und des Unterbewußten im Gesamtprozeß der Entdeckung nicht vergessen werden dürfen. Eine solche gemeinsame Aktivität ist von der modernen Denkpsychologie und Psychophysiologie eindeutig festgestellt worden. Kedrov kritisiert den philosophischen Idealisten 1.1. Lapsin wegen dessen Behauptung, das Endergebnis des wissenschaftlichen Schöpfertums werde durch intuitive, unterbewußte Arbeit des Denkens bestimmt. Dazu muß folgendes gesagt werden: Die Anerkennung der Realität der Intuition macht einen Philosophen noch nicht zum Idealisten oder Materialisten. Unterbewußtsein und Intuition sind reale psychische Erscheinungen, und die Leugnung ihrer Existenz bedeutet einfach die Weigerung, diese komplizierten Erscheinungen zu analysieren und zu erforschen. Ein Philosoph wird zum Materialisten oder Idealisten, je nachdem wie er die Grundfrage der Philosophie beantwortet — und im vorliegenden Falle der Erforschung der intuitiven Erkenntnis dadurch, ob er diese Frage intuitivistisch, metaphysisch beantwortet, oder o,b er die Intuition als einen realen psychischen Prozeß ansieht, der genetisch und aktuell durch die bewußte Tätigkeit des Menschen determiniert ist. Die marxistische Antwort auf . diese Frage lautet, daß die intuitive Erkenntnis und ihre Hauptvoraussetzung, die unterbewußte psychische Sphäre als das dynamische Gedächtnis, an zweierlei materielle Bedingungen gebunden sind — an die Umwelt und an die im Nervensystem ablaufenden materiellen physiologischen Prozesse. Nur ein solches Verständnis dieser Frage wird der richtigen wissenschaftlichen Lösung des psychophysischen Problems gerecht — der Bestätigung der Einheit von Physischem und Psychischem. Es ist verdienstvoll, daß Kedrov die unterbewußte Fortsetzung der Lösung des Problems für möglich hält. Die unterbewußte Arbeit des Denkens muß psychologisch weitaus genauer und ausführlicher gedeutet werden. Eine solche Aufgabe hat sich Kedrov jedoch offensichtlich nicht gestellt. Er folgert lediglich: „. . . wenn man die Möglichkeit einräumt, daß das schöpferische Denken Dmitrij Ivanovics während des Schlafs gearbeitet hat, man den zutiefst begrenzten Charakter dessen unterstreichen muß, was Dmitrij Ivanovic im Zustand des Schlafs erreicht hat."21 Das trifft im gegebenen Falle vielleicht zu. Man darf aber nicht vergessen, daß wir, ungeachtet der mühseligen Kleinarbeit Kedrovs an der Rekonstruktion der Erlebnisse Mendeleevs am Entdeckungstag, 21 Ebenda, S. 165. 28
keine vollständige Vorstellung von seiner psychischen Aktivität besitzen. Mendeleev hat uns keine Beschreibung davon hinterlassen, vielleicht, weil er dem keine Bedeutung beimaß. Im Hinblick auf die Reihenfolge der Entdeckung des Gesetzes der Periodizität und der Abfassung der Tabelle durch Mendeleev verwirft Kedrov die Aussage von Mendeleevs Sohn, daß zuerst das Gesetz entdeckt worden sei. Natürlich hat Kedrov recht, wenn er sagt, daß die allgemeine Gesetzmäßigkeit endgültig erst im Verlauf (und im Ergebnis) der Auslegung der Kärtchen mit den Bezeichnungen der Elemente entdeckt worden ist. Genauer erscheint uns die Variante, daß das Gesetz der Periodizität in zwei Etappen entdeckt wurde, nämlich als Ergebnis zweier Hauptetappen der bewußten Analyse und zweier „Einsichten". Das ist um so wahrscheinlicher, als nach der Behauptung Kedrovs das Gesetz vor seiner endgültigen Formulierung als Ergebnis der Auslegung der K ä r t chen (und des anschließenden Traumes) bereits als „Vorahnung" vorhanden war und „fast spürbar war", obgleich es noch nicht bewiesen war. 2 2 Wenn man sich an die gegenwärtig bereits akzeptierte Periodizität des schöpferischen Prozesses in der Wissenschaft hält, so kaiin man sagen, daß als Ergebnis der ursprünglichen, bewußten Analyse des Problems (bei der Abfassung der Grundlagen der Chemie) bei Mendeleev intuitiv, wenn auch nur annähernd, die Idee des Gesetzes entstanden war. Gerade weil er von dieser noch undeutlichen, aber sehr wertvollen Idee beherrscht war, ging Mendeleev zur zweiten Etappe der bewußten (intensiveren und zielstrebigeren) Analyse über, und infolgedessen kam er zum zweiten insight (nach dem Erwachen), der das Resultat endgültig konstituierte. Nur so wird die Zielstrebigkeit der Bemühungen des Gelehrten verständlich und erklärbar: Dieses Ziel in Gestalt der ursprünglich intuitiy „erspürten" Idee des Gesetzes gab dem gesamten weiteren Verlauf des schöpferischen Prozesses Mendeleevs Richtung und Sinn. Bei einem solchen Verständnis der Frage klingt die Schlußfolgerung Kedrovs noch überzeugender: „ I n Wirklichkeit stellen die Entdeckung des Gesetzes der Periodizität und die Schaffung des Systems also zwei wechselseitig bedingte, untrennbar verbundene Seiten oder Momente des einheitlichen, unteilbaren schöpferischen Prozesses dar". Psychologisch bedeutet dies auch die Untrennbarkeit von Bewußtsein und Unterbewußtem, von Logischem und Intuitivem im Prozeß des schöpferischen Denkens. „Eben darum", schreibt Kedrov, „ist schon die 22 Vgl. ebenda, S. 168.
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Fragestellung falsch: Was wurde zuerst entdeckt - das System oder das Gesetz? Das eine wie das andere wurden gleichzeitig entdeckt, das eine durch das andere und das eine dank des anderen."23 Anders ausgedrückt — das Verhältnis zwischen Gesetz und Tabelle entspricht dem zwischen Wesen und Form, die sich in einem einheitlichen dialektischen, schöpferischen Prozeß offenbaren und kristallisieren. Die Zufälligkeit im schöpferischen Prozeß. B. M. Kedrov leugnet nicht die Rolle des Zufälligen und Unerwarteten im schöpferischen Prozeß. Er stellt fest, daß Mendeleev das Gesetz der Periodizität für sich selbst ganz überraschend entdeckte, als er sich am Vorabend des 17. Februar 1869 auf eine Reise vorbereitete und nicht daran dachte, irgendwelche Forschungen zu beginnen. Aber das Unerwartete war nur äußerlich. Innerlich dagegen bildet der ganze Prozeß des Schöpfertums, dessen Schlußetappe die Entdeckung des Gesetzes war, eine Einheit in Form einer kontinuierlichen Kette von logischen Schlüssen, intuitiven Vermutungen und der endgültigen Fixierung dieser Vermutungen. Es handelt sich um einen kontinuierlichen bewußten und unterbewußten Denkprozeß, der deterministisch als Resultat der Aktivität der gesamten Psyche des Gelehrten verlief. Die Entdeckung war durch die bewußte Analyse und dazwischen liegende „Einsichten" vorbereitet worden. „. . . Diese Untersuchungen", schreibt Kedrov, „führten Dmitrij Ivanovic direkt zur Entdeckung des Gesetzes der Periodizität, bereiteten die Entdeckung logisch vor und schlössen glanzvoll mit ihr ab." 24 Zur Bekräftigung seines Gedankens, daß nur die äußeren Ereignisse (die Reisevorbereitung und die Arbeit an den „Grundlagen der Chemie") diesen Anschein der Zufälligkeit geschaffen hätten, beruft sich Kedrov auf die Worte Plechanovs, daß der Zufall dort entsteht, wo sich Notwendigkeiten kreuzen. Leider lehnt es Kedrov bei der Kritik idealistischer Auffassungen von der Intuition und dem Unterbewußten zugleich auch ab, Intuition und Unterbewußtsein als reale Erkenntnisakte anzuerkennen, die der wissenschaftlichen Analyse vom Standpunkt des dialektischen Materialismus bedürfen. Dabei hat Kedrov selbst, wie wir bereits gezeigt haben, wiederholt festgestellt, daß es im Verlauf des schöpferischen Prozesses von Mendeleev Vermutungen gegeben hat. Psychologisch aber ist dies eine Art der intuitiven Weise des Erkennens. Die Kritik „apostolischer 23 Ebenda. 24 Ebenda, S. 302.
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Offenbarungen" (J. Bernal), die dem großen Gelehrten angeblich gekommen sind, das heißt des metaphysischen Verständnisses der Intuition als absolute und unfehlbare Form der Erkenntnis (des Intuitivismus), und die tatsächliche wissenschaftliche Analyse dieses Problems sind zwei verschiedene Dinge. Die Anerkennung der Realität von Unterbewußtsein und Intuition sowie die naturwissenschaftliche Bearbeitung der damit zusammenhängenden fundamentalen Probleme liegt im Interesse der marxistischen Erkenntnistheorie und ist zur Konkretisierung der marxistischen Auffassung vom psychophysiologischen Problem in der Psychologie und den anderen Humanwissenschaften erforderlich. Was die zielgerichtete, bewußte Analyse betrifft, so ist ihre Rolle in der modernen Psychologie des schöpferischen Denkens erfaßt und eingeschätzt worden. Man kann Kedrov darin zustimmen, daß im vorliegenden Falle (der Entdeckung des Gesetzes der Periodizität) die bewußte logische Arbeit des Denkens entscheidend war und das intuitive Denken nur eine bescheidene Rolle spielte. Das ändert jedoch nichts prinzipiell. Der als intuitive „Erleuchtung" des Bewußtsein verstandene Zufall hat, wie wir genauer zu zeigen hoffen, nichts gemein mit der „Theorie des Zufalls" wissenschaftlicher Entdeckungen, jener wirklich idealistischen Theorie, als deren Vertreter insbesondere P. Souriau, Ch. Nicolle, M. A. Bloch und andere zu nennen sind, die zu Recht von Kedrov kritisiert werden. Unserer Meinung nach kann man nicht so wie Kedrov an die Einschätzung der Auffassungen zum Beispiel M. A. Blochs zu dieser Frage herangehen. Kedrov führt folgende Worte dieses Wissenschaftlers an: „Der Künstler glaubt eher als ein Wissenschaftler und Techniker an seine Intuition. In der schöpferischen Tätigkeit des Wissenschaftlers wird das intuitive Element zu eng mit dem Element der Vernunft verflochten, das notwendig ist, um aus der intuitiv entstandenen Hypothese Schlußfolgerungen zu ziehen und diese Folgerungen experimentell zu überprüfen. Die Notwendigkeit dieser Überprüfung eben führt den Wissenschaftler zu einer falschen Auffassung des Schöpfertums als einer Tätigkeit, der Konstruktionen der Vernunft zugrunde lägen, während das wertvollste Moment auch in der wissenschaftlichen schöpferischen Tätigkeit die irrationale Einsicht, die die Hypothese hervorbringende Intuition ist." 2 5 Hier wird eine idealistische Auslegung der Intuition als einer irrationalen Erscheinung gegeben, wie auch Kedrov mit Recht feststellt. Die Existenz einer solchen Auffassung rechtfertigt jedoch keinesfalls die 25 Zitiert nach Kedrov, B. M., Den' . . ., a. a. O., S. 513f. 31
Weigerung, die Intuition wissenschaftlich zu erforschen. Was nun die Behauptung M. A. Blochs angeht, daß „der Mensch niemals weiß, wo und wann er die Körnchen jener Erfahrung gesammelt hat, die sich eines schönen Tages in der Seele zu einer neuen Idee, einem neuen Plan vereinigt zeigen 26 , so handelt es sich hier, wenn man von der Absolutheit dieser Feststellung absieht, um die Formulierung einer Gegebenheit der unterbewußten Wahrnehmung und der unterbewußten Erinnerung, die in der modernen Erkenntnispsychologie bekannt sind. Läßt man die idealistische Terminologie und Interpretation M. A. Blochs weg, so enthalten die wichtigsten in den zitierten Abschnitten geäußerten Gedanken viel Rationales. Es sei hier an die Worte von V. F. Asmus erinnert: „ . . . wenn der Wissenschaftler unter .intellektueller Intuition' nur das direkte Begreifen einer Wahrheit durch den Verstand versteht, einer Wahrheit, die nicht durch Beweis aus anderen Wahrheiten hergeleitet und nicht allein durch äußere Gefühle wahrgenommen wurde, so kann es auch gegen eine Verwendung dieses Terminus keinerlei prinzipielle Einwände geben. In diesem Falle würde der Terminus .intellektuelle Intuition' ebenso wie der Terminus .gefühlsmäßige Intuition' nur ein bestimmtes Faktum des Wissens oder eine Art des Wissens bezeichnen und keineswegs notwendig mit irgendeiner philosophischen Theorie verbunden sein, die diesen Fakt erklärt." 27 Das ist der Kern des Problems. Wichtig ist auch, daß die Etappen des schöpferischen Prozesses richtig beschrieben werden müssen; dabei steht außerhalb jeden Zweifels, daß der Beginn dieses Prozesses nicht die Intuition sein kann, denn ohne vorhergehende bewußte Arbeit und Wissensspeicherung ist eine intuitive „Erleuchtung" unmöglich. Es darf auch nicht vergessen werden, daß jede historische Untersuchung über das Schöpfertum von Wissenschaftlern der Vergangenheit einen retrospektiven Blick auf den schöpferischen Prozeß bildet. Das führt dazu, daß die Wege des schöpferischen Denkens des Wissenschaftlers maximal rationalisiert werden, weil wir dabei wissen, was wir wollen, und zu begreifen versuchen, was wir erforschen, wenngleich auch hier der Denkprozeß nicht völlig bewußt ablaufen kann. Jede wissenschaftliche Entdeckung wird von einer äußeren zufälligen Verknüpfung von Umständen begleitet. Weitaus wesentlicher ist jedoch die Erforschung des unterbewußten Denkens und der Intuition; sie 26 Ebenda, S. 514. 27 Asmus, V. F., Problema intuicii v filosofii i matematike, Moskau 1963, S. 6. 32
erklären die scheinbare Irrationalität und Plötzlichkeit beim Auftauchen von Ideen. Wir sehen in der Erforschung und richtigen Deutung dieser Erscheinungen einen Weg zur weiteren Vertiefung der marxistischen Gnoseologie und zu einer fundierten Kritik des Idealismus. Die Rolle der Phantasie im wissenschaftlichen Schöpfertum. Hinsichtlich der Bedeutung der Phantasie äußert Kedrov Ansichten, die zu einem richtigen Verständnis des Problems der intuitiven Erkenntnis beitragen. „Als psychologischer Faktor steht die Phantasie der Einbildung nahe. Von der logischen Seite her kommt sie dagegen (wir meinen die wissenschaftliche Phantasie) der Vermutung, der Hypothese nähe (Hervorhebung — A.N.). In dem einen wie in dem anderen Sinne spielt die Phantasie bei jeder wissenschaftlichen Entdeckung und im wissenschaftlichen Schöpfertum überhaupt eine wesentliche Rolle, besonders, wenn es um die Schaffung einer allgemeinen Theorie, die Aufstellung einer umfassenden Hypothese, die Ausarbeitung eines wissenschaftlichen Kenntnissystems und die Entdeckung eines neuen, fundamentalen Naturgesetzes geht."28 Die Vermutung als psychologischer Prozeß (Erscheinung) ist jedoch eine Art der intellektuellen Intuition, und obwohl Intuition und Vorstellung nicht immer ein und dasselbe sind, haben sie jedoch vieles gemeinsam (vergleiche den Abschnitt über die Arten der Intuition). Wenn die Rolle der Vorstellung im wissenschaftlichen Schöpfertum richtig, also positiv, eingeschätzt wird, so bedeutet das auch eine zutiefst wissenschaftliche Feststellung des Problems der Intuition als, einer realen Form der Naturerkenntnis. Eben deshalb ist der folgenden Äußerung Kedrovs, die, wies uns scheint, nicht nur auf die Vorstellung und die Phantasie, sondern auch auf die wissenschaftlich verstandene Intuition zutrifft, zuzustimmen: „Unter dem Einfluß eines vereinfachten Herangehens an diese Frage in der in unserem Land erscheinenden philosophischen Literatur wurde der Klärung der Rolle der Phantasie im wissenschaftlichen Schöpfertum keine merkliche Bedeutung beigemessen; infolgedessen blieb dieses Problem faktisch dem Idealismus überlassen. Man muß sich jedoch klar darüber sein, daß der Materialismus als philosophische Lehre Fragen, die das wissenschaftliche Schöpfertum betreffen, darunter auch die Rolle der Phantasie im menschlichen Denken, nicht umgehen kann und dazu auch kein Recht hat. Andernfalls wird der Materialismus als philosophische Lehre dem 28 Kedrov, B. M., Den' . . . , a. a. O., S. 308. 3 Nalüadijan
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philosophischen Gegner, der sich gerade auf solche Fragen spezialisiert hat, auf diesem Gebiet wehrlos gegenüber stehen."29 Dabei beruft sich Kedrov auf die bekannten Worte Lenins, daß nicht nur der Dichter, sondern auch der Wissenschaftler die Phantasie als geistige Fähigkeit und psychischen Prozeß braucht und daß Phantasie „eine höchst wertvolle Eigenschaft" 30 ist. In diesem Zusammenhang sei angemerkt, daß im Unterschied zu unserer philosophischen Literatur, in welcher Vorstellung und Phantasie (als Art der Vorstellung, in der neu geschaffene, schöpferische Elemente — Bilder und Begriffe — überwiegen) nicht zum Gegenstand ernsthafter Untersuchungen wurden, die sowjetische Psychologie im Verlaufe ihrer gesamten Entwicklung die Phantasie als einen wichtigen Erkenntnisprozeß betrachtet hat. Eine andere Sache ist, daß dieser Prozeß weder theoretisch noch experimentell genügend tief erforscht ist. Man kann hoffen, daß die Erforschung der Phantasie als einer besonderen Form schöpferischen Denkens und die Betonung der Identität von schöpferischer Vorstellung und einer der wichtigsten Arten der intellektuellen Intuition dazu beitragen werden, eine wirklich wissenschaftliche Theorie von der Phantasie zu schaffen. In unserer philosophischen und psychologischen Literatur wurde die Meinung geäußert, man solle auf den Terminus „Phantasie" verzichten, da diese nur eine Spielart des schöpferischen Denkens sei. Das Verhältnis zwischen dem schöpferischen Denken, der Phantasie und den verschiedenen Arten der intellektuellen Intuition ist in der Tat kompliziert, und vielleicht wird man in Zukunft auf einige Termini verzichten müssen. Wir meinen jedoch, daß die Bedingungen dafür noch nicht herangereift sind und es zur Statusbestimmung jedes dieser Erkenntnisprozesse noch umfangreicher und gründlicher Forschungen bedarf. Vorläufig kann nur gesagt werden, daß sie ganz gewiß lediglich Arten des Denkens sind. Die dialektische Natur der Wissenschaftsentwicklung. Mit den philosophischen Fragen des wissenschaftlichen Schöpfertums befaßt sich B. M. Kedrov ausführlicher in einigen seiner in den letzten Jahren erschienenen Aufsätze. In dem Artikel 0 dialektike naucnych otkrytij (Zur Dialektik wissenschaftlicher Entdeckungen — d. Ü.) versucht er, am Beispiel der Entdeckung des Gesetzes der Periodizität „die all29 Ebenda. 30 Lenin, V. I., Schlußwort zum politischen Bericht des ZK der KPR (B) auf dem XI. Parteitag der KPR (B), in: Werke, Bd. 33, Berlin 1963, S. 304. 34
gemeinen Züge der Dialektik wissenschaftlicher Entdeckungen überhaupt" aufzudecken.31 Eine wissenschaftliche Entdeckung, so schreibt Kedrov in diesem Artikel, bildet einen Sprung im Verlauf der Erkenntnis, einen Sprung „vom Nichtwissen zum Wissen oder vom unvollständigen zum vollständigeren Wissen . . . die plötzliche Feststellung von etwas Neuem, vorher Unbekanntem, Unerkanntem". Dieser Sprung setzt das Vorhandensein folgender Entwicklungsstadien voraus: 1. die Vorbereitungsphase (die Anhäufung der Voraussetzungen und Elemente der Entdeckung sowie von quantitativen Veränderungen innerhalb der bereits existierenden Qualität - der Problemsituation); 2. das Stadium des Sprunges selbst (Übergang der Quantität in die Qualität) ; 3. der Abschluß der Prozesse, die den Sprung hervorgerufen haben, und die Entstehung neuer, tiefer Veränderungen. Kedrov kritisiert dann die Behauptung der idealistischen Philosophie, daß „die Entdeckung .plötzlich' geschehen sei, geradezu, als ob dem Wissenschaftler eine Eingebung von oben wie eine Einsicht oder eine aus unerfindlichen Gründen entstandene Offenbarung gekommen sei". Dem setzt er seine Feststellung entgegen, daß eine strenge wissenschaftsgeschichtliche, psychologische und logische Analyse jeder beliebigen konkreten wissenschaftlichen Entdeckung deren inneren „Mechanismus" eben als typischen Übergang der Quantität zur neuen Qualität aufdeckt.32 Kedrov unterstreicht, daß die Antizipation im schöpferischen Prozeß „die Geburt jener allgemeinen Ideen und Vorstellungen" ist, welche in der Periode quantitativer Veränderungen entstehen und die Grundlage der Entdeckung bilden. Daß es in der Vorbereitungsperiode Teil-,.Einsichten" geben kann, haben wir bereits mehrfach betont. Wie sich der Sprung zur neuen Qualität aber psychologisch ausdrückt, das ist die Frage, die das Kernstück der gesamten Problematik des wissenschaftlichen Schöpfertums bildet. Interessant ist Kedrovs Gedanke, daß es qualitative Sprünge sowohl in der Entwicklung der Wissenschaft insgesamt (er nennt dies die phylogenetische Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens) als auch in der Entwicklung des Denkens des Wissenschaftlers bei der Lösung eines wissenschaftlichen Problems, in seiner schöpferischen Entwicklung gibt (Kedrov nennt dies die ontogenetische Entwicklung des individuellen Denkens). Wenn man eine wissenschaftliche Entdeckung insgesamt 31 Dialektika nauSnych otkrytij, in: Voprosy filosofii, 12/1966, S. 26.
32 Vgl. ebenda, S. 27. 3*
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als einen großen Sprung ansieht, so ist natürlich, daß sich dieser aus kleineren Sprüngen — Phasen und Schritten - zusammensetzt, dank derer die Entdeckung im ganzen zustande gekommen ist. Diese Betrachtungsweise der wissenschaftlichen Entdeckung hält Kedrov für überall anwendbar. „Solcherart ist die Dialektik aller wissenschaftlichen Entdeckungen, und je hervorragender sie sind, desto offensichtlicher wird dies bei ihrer Analyse. Demonstrieren läßt sich das an der Untersuchung solcher Entdeckungen wie der der Spektralanalyse, der Strukturlehre der organischen Chemie, des Darwinismus, der Quantenmechanik, der Relativitätstheorie, der Chromosomentheorie der Vererbung — mit einem Wort, aller hervorragenden Entdeckungen der Naturwissenschaft." 33 Zu Recht stellt Kedrov fest, daß ein Wissenschaftler, um mit einer hervorragenden wissenschaftlichen Entdeckung hervortreten zu können, über bestimmte persönliche Eigenschaften verfügen muß, zum Beispiel über Entschlossenheit, um nicht auf halbem Wege stehenzubleiben, Kühnheit des Denkens, um weiter und besser als seine Vorgänger und Zeitgenossen sehen zu können, und Mut, um gegen den Strom zu schwimmen und die Ansichten der Mehrheit zu brechen. Dann geht Kedrov auf jene objektiven Umstände ein, die solche persönlichen Qualitäten notwendig machen. „Diese Umstände sind bestimmte Erkenntnishindernisse (oder „Barrieren"), die der Wissenschaftler auf dem Weg zur Entdeckung der Wahrheit überwinden muß." 3 4 Kedrov behauptet, daß eine wissenschaftliche Entdeckung die revolutionäre Überwindung der Erkenntnisbarriere sei. Welcherart ist diese „Barriere"? Eine empirische Entdeckung (die Feststellung eines neuen Tatbestandes) erfordert Beobachtungsfähigkeit, hier spielt das Element des Zufalls eine große Rolle („die Dialektik von Zufälligem und Notwendigem ist eine wichtige Seite der Dialektik wissenschaftlicher Entdeckungen überhaupt", sagt Kedrov). Für eine theoretische Entdeckung wird die Fähigkeit, theoretisch zu denken, gefordert. Dabei ist wichtig, daß „jede theoretische Entdeckung unter Bedingungen entsteht, die durch die Existenz bestimmter Anschauungen, eines bestimmten Systems von Begriffen, Prinzipien und Gesetzen gekennzeichnet sind. Sie gerät in Widerspruch zu ihnen und fordert ihre Überprüfung". 35 Der Konflikt wird im Verlauf der Entdeckung selbst gelöst, worin Kedrov zufolge das Wesen der Entdeckung besteht. 33 Ebenda, S. 30f. 34 Ebenda, S. 31. 35 Ebenda, S. 33.
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Die Erkenntnisbarriere ist also das System der alten, traditionellen Ansichten über den Forschungsgegenstand. Als „Mechanismus" der Entdeckung sieht Kedrov die Überwindung dieser Barriere an. Eine richtige, aber zu allgemeine Feststellung. Ausführlicher wird diese Frage in den folgenden Kapiteln dargelegt werden. Die oben angeführte Behauptimg Kedrovs ist im Grunde identisch mit der Behauptimg Poppers und einiger anderer Logiker, daß es Paradigmen gebe, die im Verlauf der Wissenschaftsentwicklung überwunden werden müßten. Eine inhaltsreiche Betrachtung dieser Frage muß auch solche „Kleinigkeiten" klären; Wer ist Träger der Barriere? Wie kann der Wissenschaftler, der die Entdeckung vorbereitet hat, sowohl Träger alter Ansichten (der Barriere) als auch Träger von Keimen neuer Ansichten sein? Welche Rolle spielen das Bewußtsein und das Unterbewußte im Veilauf des schöpferischen Prozesses? Warum erfolgen viele Entdeckungen gerade unterbewußt und infolge einer intuitiven „Erleuchtung"? Welcherart sind die Kriterien, nach denen die Auswahl von neuen Ideen, Fakten und ihrer Kombinationen vor sich geht? Auf welche Weise werden sie im schöpferischen Prozeß „uminterpretiert"? Wie wird die Wahrheit bewußt? Deshalb sagt die unter logisch-philosophischem Aspekt richtige Behauptung, daß eine Entdeckung die Überwindimg der Barriere alter Anschauungen ist, wenig über die psychologisch-gnoseologischen Mechanismen dieses dialektischen Sprunges aus. Eben das letztere interessiert uns aber im Grunde beim gegenwärtigen Stand der Erforschung des schöpferischen Denkens. Selbst die Konstatierung der Übergänge vom Einzelnen zum Besonderen und weiter zum Allgemeinen in jedem konkreten Falle bleibt zwar richtig, liefert jedoch kein gründliches Verständnis des Wesens des schöpferischen Prozesses. Kedrov sagt, daß die Uberwindimg der Barriere der Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen sei (die Entdeckung des Gesetzes), während die Fixierung des Denkens auf das Besondere die Schaffung der Erkenntnisbarriere bedeute. Diese These wird durch Beispiele illustriert, und zwar durch die Plancksche Entdeckung der Quanten und die Schaffimg der Quantenmechanik sowie Mendeleevs Entdeckung des Periodensystems. Kedrov, der versucht, die „Mechanismen" der wissenschaftlichen Entdeckung zu konkretisieren, schreibt: „Wenn das menschliche Denken einmal auf die Existenz einer bestimmten Barriere bei der Erkenntnis des Allgemeinen gestoßen ist, so stellt es sich nicht sofort die Frage nach dem Wesen dieser Barriere. Gewöhnlich wird dem Wissenschaftler das Vorhandensein einer Schwierigkeit bewußt, während 37
ihm der Charakter dieser Schwierigkeit, ihre Ursachen und Quellen vorläufig unklar bleiben. Ihre Klärung bedeutet bereits einen großen Schritt zu ihrer Überwindung. In der Regel bildet dies den eigentlichen Anfang der Entdeckung und fällt mit ihr zeitlich zusammen. Dabei ist der .Mechanismus' des Prozesses folgender: Das Denken des Wissenschaftlers arbeitet hartnäckig in einer bestimmten Richtung, sucht die Lösung der Aufgabe und versucht zu verstehen, worin die Schwierigkeit besteht, sucht also ein Verfahren zu ihrer Überwindung. In diesem Moment .kreuzt' plötzlich ein anderer Gedanke, der sich unabhängig davon entwickelt hat, den ersteren, führt zu einer bestimmten Assoziation, Analogie usw. und ,sagt' dem Wissenschaftler gewissermaßen die Lösung der Aufgabe ,vor*. Solches .Soufflieren' kann als .Sprungbrett' für das forschende Denken, das sich um die Uberwindung der Barriere auf dem Weg zur Erkenntnis der Wahrheit bemüht, bezeichnet werden. Die Geschichte der wissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Erfindungen kennt eine Vielzahl solcher Beispiele: das ,Sprungbrett' in Form einer Assoziation oder Analogie, das der unerwartet aufblitzenden Vermutung die Möglichkeit gibt, die Barriere zu überwinden, bleibt dann meist in der Erzählung über die jeweilige Entdeckung erhalten, nicht selten als Anekdote. Eine zweitrangige Rolle spielt indessen der glückliche Zufall, vermittels dessen die vorbereitete Entdeckung gesetzmäßig verwirklicht wurde. Der Kreuzungspunkt zweier unabhängiger Ereignisreihen war hier der Punkt, an dem die Entdeckung zufällig gelang. Deshalb spielt auch in theoretischen Entdeckungen das Moment des Zufalls eine unumstrittene Rolle." 36 In diesem großen Abschnitt ist all das zusammengefaßt, was die Arbeit Kedrovs Wesentliches zur Psychologie des wissenschaftlichen Schöpfertums beinhaltet. Die Intuition spielt seiner Ansicht nach in diesem Prozeß eine unbedeutende Rolle, obwohl er einräumt, daß „besonders viel Individuelles, Unwiederholbares in der Assoziation (dem .Sprungbrett') festzustellen ist, die den einzelnen Wissenschaftlern auf verschiedene Weise — eigenartig und nicht selten äußerst bizarr — den Weg zur Lösung ein und derselben gemeinsamen Aufgabe souffliert". 37 Aber auch hier wird im Grunde die Frage umgangen, was denn vom psychologischen, konkret erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt aus die Reife der jeweiligen Entdeckung bedeutet, die mit Hilfe der zufälligen Verknüpfung und Assoziation von Umständen zustande 36 Ebenda, S. 35. 37 Ebenda.
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kommt. Dies ist aber nichts anderes als ein von innen her ablaufender Prozeß, als die Äußerung der schöpferischen Aktivität der Persönlichkeit, der Übergang unterbewußt gebildeter Strukturen in die Bewußtseinssphäre, das Bewußtwerden dieser Strukturen, ihre Bewertung, die retrospektive Analyse der Wege des schöpferischen Denkens usf., wovon im weiteren die Rede sein wird. Der Moment der Entdeckung hingegen ist in jedem Falle ein Akt der intuitiven „Erleuchtung", der voller Emotionalität ist. Richtig ist der Gedanke B. M. Kedrovs, daß die theoretischen Entdeckungen die Haupttriebkraft der Wissenschaftsentwicklung bilden. „In der Geschichte der Naturwissenschaften hat es nicht wenige Revolutionen gegeben. Sie setzen sich in der Gegenwart permanent fort. Sie alle sind durch bestimmte wissenschaftliche Entdeckungen ausgelöst worden. Welchen Charakter besaßen diese Entdeckungen? Vor allem waren dies theoretische Entdeckungen. Empirische Entdeckungen allein, wie wichtig sie auch sein mögen, rufen keine Revolutionen in der Wissenschaft hervor. Freilich enthalten sie die verborgenen Keime der zukünftigen Revolution, aber solange diese Keime von den Wissenschaftlern selbst nicht bemerkt und verstanden werden, kann eine Revolution nicht ausbrechen. Davon zeugt die gesamte Geschichte der Wissenschaft."38 Der Grund dafür ist, daß nur eine neue Theorie das Gebäude der alten theoretischen Konzeptionen, die zur Bremse der Wissenschaftsentwicklung geworden sind, zum Einsturz bringen kann. Meistens wird versucht, neu Entdecktes in den Rahmen alter Theorien zu pressen und vor dem scheinbar Ungesetzmäßigem und den Widersprüchen „die Augen zu verschließen". Nur der Wissenschaftler, für den die alten Theorien kein Dogma sind, für den sie nicht den Sinn seiner Existenz bilden (wie für ihre Schöpfer), der in neuen geistigen Traditionen erzogen und für neue Erfahrungen offen, „durchlässig" ist, sagt sich von den alten Theorien los und schafft neue Konzeptionen, die den neuen Ergebnissen besser entsprechen. „. . . eine Revolution in der Wissenschaft wird nicht durch die empirische, sondern durch die theoretische Entdeckung hervoi gerufen, die den Erfahrungswerten eine richtige Deutung gibt."39 Kedrov hält dies für eine allgemeine Gesetzmäßigkeit der Wissenschaftsentwicklung. Diesen in vieler Hinsicht interessanten Artikel schließt Kedrov folgendermaßen: „Dies sind einige philosophische, wissenschafts38 Ebenda, S. 36. 39 Ebenda, S. 37.
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geschichtliche und psychologische Fragen, die die Dialektik wissenschaftlicher Entdeckungen berühren. Ihre Untersuchung sowie die anderer damit verbundener Fragen wird, so meinen wir, zur Ausarbeitung einer allgemeinen Theorie der wissenschaftlichen Entdeckung beitragen, die für das Studium der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der wissenschaftlichen Erkenntnis erstrangige Bedeutung besitzt. Wesentliche Momente dieser zukünftigen Theorie müssen, so scheint uns, die von uns geprägten neuen Begriffe ,B a r r fe r e ' und .Sprungbrett', die in der Wissenschaft akzeptierte Unterscheidung von theoretischen und empirischen Entdeckungen und ebenso die Unterscheidung des evolutionären (vorbereitenden) Stadiums und des revolutionären (entscheidenden) Stadiums einer wissenschaftlichen Entdeckung bilden. Selbstverständlich muß die Geschichte der Entdeckungen auch auf dem Gebiet der Humanwissenschaften und der technischen Erfindungen sorgfältig erforscht werden."40 Fragen der Dialektik wissenschaftlicher Entdeckungen (wiederum am Beispiel der Entdeckung des Periodensystems) untersucht Kedrov in dem Artikel Dialektiöeskij analiz velikogo otkrytija sowie in dem Buch Predmet i vzaimosvjaz' estestvennych nauk.u In einigen Artikeln Kedrovs ist eine interessante Analyse der Bedeutung verschiedener logischer Denkverfahren im Prozeß des wissenschaftlichen Schöpfertums enthalten. Insgesamt hat Akademiemitglied B. M. Kedrov eine interessante Analyse einer ganzen Reihe von Problemen des wissenschaftlichen Schöpfertums sowie der Dialektik der Wissenschaftsentwicklung gegeben. Sie dient der weiteren gründlichen Erforschung wissenschaftlichen Schöpfertums in der gegenwärtigen Entwicklungsetappe. Zur weiteren Vertiefung der philosophischen Analyse des Schöpfertums bedarf es jedoch einer psychologischen Theorie von den wissenschaftlichen Entdeckungen. 2. Arten der Intuition Unter der Bezeichnung „Intuition" wird in der philosophischen Literatur eine Reihe von realen und imaginären Erscheinungen verstanden. Bei streng wissenschaftlichem Herangehen erweist sich je40 Ebenda. 41 Dialektileckij analiz velikogo otkrytija, in: Voprosy filosofii, 3/1969; Kedrov, B. M., Predmet i vzaimosvjaz' estestvennych nauk, Moskau 1967.
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geschichtliche und psychologische Fragen, die die Dialektik wissenschaftlicher Entdeckungen berühren. Ihre Untersuchung sowie die anderer damit verbundener Fragen wird, so meinen wir, zur Ausarbeitung einer allgemeinen Theorie der wissenschaftlichen Entdeckung beitragen, die für das Studium der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der wissenschaftlichen Erkenntnis erstrangige Bedeutung besitzt. Wesentliche Momente dieser zukünftigen Theorie müssen, so scheint uns, die von uns geprägten neuen Begriffe ,B a r r fe r e ' und .Sprungbrett', die in der Wissenschaft akzeptierte Unterscheidung von theoretischen und empirischen Entdeckungen und ebenso die Unterscheidung des evolutionären (vorbereitenden) Stadiums und des revolutionären (entscheidenden) Stadiums einer wissenschaftlichen Entdeckung bilden. Selbstverständlich muß die Geschichte der Entdeckungen auch auf dem Gebiet der Humanwissenschaften und der technischen Erfindungen sorgfältig erforscht werden."40 Fragen der Dialektik wissenschaftlicher Entdeckungen (wiederum am Beispiel der Entdeckung des Periodensystems) untersucht Kedrov in dem Artikel Dialektiöeskij analiz velikogo otkrytija sowie in dem Buch Predmet i vzaimosvjaz' estestvennych nauk.u In einigen Artikeln Kedrovs ist eine interessante Analyse der Bedeutung verschiedener logischer Denkverfahren im Prozeß des wissenschaftlichen Schöpfertums enthalten. Insgesamt hat Akademiemitglied B. M. Kedrov eine interessante Analyse einer ganzen Reihe von Problemen des wissenschaftlichen Schöpfertums sowie der Dialektik der Wissenschaftsentwicklung gegeben. Sie dient der weiteren gründlichen Erforschung wissenschaftlichen Schöpfertums in der gegenwärtigen Entwicklungsetappe. Zur weiteren Vertiefung der philosophischen Analyse des Schöpfertums bedarf es jedoch einer psychologischen Theorie von den wissenschaftlichen Entdeckungen. 2. Arten der Intuition Unter der Bezeichnung „Intuition" wird in der philosophischen Literatur eine Reihe von realen und imaginären Erscheinungen verstanden. Bei streng wissenschaftlichem Herangehen erweist sich je40 Ebenda. 41 Dialektileckij analiz velikogo otkrytija, in: Voprosy filosofii, 3/1969; Kedrov, B. M., Predmet i vzaimosvjaz' estestvennych nauk, Moskau 1967.
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doch, daß die Zahl der intuitiven Erkenntnisformen keineswegs so groß ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. In diesem wenig erforschten Gebiet der Gnoseologie ist die Terminologie ohne die gebotene Strenge benutzt worden. Erst in der letzten Zeit, vor allem dank den wertvollen Forschungen von V. F. Asmus und M. Bunge, nimmt die Klassifizierung der intuitiven Erkenntnisformen wissenschaftliche Züge an. Wir werden in diesem Abschnitt kurz einige Fragen behandeln, die unserer Meinung nach der weiteren Präzisierung bedürfen. Dabei stützen wir uns auf Ergebnisse der obengenannten Autoren, die wissenschaftlich und materialistisch an die Probleme der Intuition herangehen. Wir werden nacheinander solche in der philosophischen Literatur bekannten Arten der Intuition wie die mystische (reine, metaphysische), die sinnliche und die intellektuelle Intuition betrachten und dialektisch-materialistisch einschätzen. In den Werken vieler Philosophen wird das Wort „Intuition" häufig dazu benutzt, um eine gewisse überrationale Gabe des Begreifens zu bezeichnen. Diese Art der Intuition wird von den verschiedenen Philosophen unterschiedlich benannt — als mystische Intuition, reine Intuition oder als Wesensschau. Diese drei Bezeichnungen haben den gleichen Inhalt. Die materialistischen Philosophen haben sich für das Problem der Intuition vorwiegend mit dem Ziel interessiert, den Idealismus zu kritisieren. Weder in den altindischen noch in den antiken materialistischen Strömungen noch in den materialistischen gnoseologischen Konzeptionen der Neuzeit begegnen wir einer Ausarbeitung dieses wichtigen Problems. Bis zum Erscheinen materialistischer Arbeiten über die Intuition besaßen deshalb die Idealisten verschiedener Couleur sowie die Mystiker das Monopol auf diesem schwierigen Gebiet der Gnoseologie. Das gab M. Bunge Grund zu der Feststellung, daß „für die Philosophen, wenn man von Ausnahmen absieht, die Intuition fast immer eine Fähigkeit des menschlichen Verstandes ist, die sich sowohl von der Sinnlichkeit als auch von der Vernunft unterscheidet und nichts anderes darstellt als eine gewisse autonome Weise der Erkenntnis, und zwar ein plötzliches, vollständiges und genaues Begreifen."42 Tatsächlich ist das Unerwartete, wie wii im weiteren sehen werden, häufig ein charakteristisches Merkmal realer Formen der intellektuellen Intuition; doch ist die Kritik Bunges an der Behauptung der Idealisten, es existiere eine Intuition, die uns ein vollständiges und genaues Wissen liefere, im wesentlichen richtig. Die Anerkennung der Existenz einer 42 Bunge, M., Intuicija i nauka, Moskau 1967, S. 5.
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reinen Intuition - also eines Intuitivismus — ist, wie Bunge zu Recht feststellt, „eine regressive Tendenz in der Philosophie. Diese Tendenz proklamiert dogmatisch die Existenz und sogar die Überlegenheit einer unbegreiflichen und unkontrollierbaien Art der Erkenntnis."43 Züge des Intuitivismus zeigen sich in recht deutlicher Form schon bei Plato.44 Dieselbe Tendenz wird in gemäßigter Weise (wie schon bei Aristoteles) auch beim Begründer der neuen Philosophie, René Descartes, sichtbar. Wie Descartes haben jedoch auch die übrigen Rationalisten (Spinoza, Leibniz) anerkannt, daß nur der Intellekt die Wahrheit erkennt ; daher besitzt die Intuition bei ihnen intellektuellen Charakter. Sie liefert jene fundamentalen und offensichtlichen Wahrheiten, die in den Naturwissenschaften und in der Mathematik als Axiome fungieren. Bei den Irrationalisten der neuen und neuesten Zeit (Schelling, Scheler, Bergson, Heidegger) ist der Intuitivismus offen antiintellektuell geworden. Aber auch der cartesianische Intuitivismus entbehrt der Grundlage — wie Bunge und V. F. Asmus gezeigt haben —, da die von Descaites zur Begründung der Existenz der Intuition angeführten Beispiele einer kritischen Analyse vom heutigen Stand der Wissenschaft aus nicht standhalten.45 Die Annahme eines intellektuellen Charakters der Intuition, die am deutlichsten bei Spinoza und Leibniz ausgedrückt wird, verdient jedoch Beachtung, denn diese Denker verstanden die intellektuelle Intuition als eine schnelle Folgerung. Da sich eine solche Intuition, wie wir heute wissen, jedoch häufig irrt, so kann sie nicht Methode für die Fixierung neuer Prinzipien der Mathematik und der Naturwissenschaften werden. Es bedarf auch der gründlichen logischen Analyse und Ordnung der intuitiv gewonnenen Ergebnisse, um am Ende zu Aussagen zu kommen, die der Formalisierung und logischen Interpretation durch die Mittel des jeweiligen formalisierten Systems nicht mehr unterliegen. Die Anerkennung der Intuition als einer realen Tatsache liefert, wie V. F. Asmus richtig bemerkt, noch keinen Grund, einen Philosophen zur Kategorie der Intuitionisten zu rechnen. „Nicht jede Theorie der Intuition ist Intuitivismus. Der Intuitivismus ist eine ganz besondere historische Form der philosophischen Lehre von der Intuition".46 Der Intuitivismus als irrationalistische Lehre leugnet die Bedeutung und Möglichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis. Er geht nicht von der 43 44 45 46 42
Ebenda, S. 6. "Vgl. Kap. V. 1. der vorliegenden Arbeit. Bunge, M., Intuicija i nauka, a. a. O., S. l l f . Asmus, V. F., Problema intuicii v filosofii i matemaiike, a. a. O., S. 7.
realen Form der Erkenntnis aus, die im Erkenntnisprozeß des Menschen auftritt. Diese Behauptung und die ausgeführten kritischen Gedanken werden noch überzeugender, wenn man sie konkretisiert, indem man die Ansichten eines der größten Intuitivisten, des französischen Philosophen Henri Bergson, analysiert. Bergson entwickelte seine Konzeption von der Erkenntnis der materiellen Welt und dem psychischen Leben schon Ende des vorigen Jahrhunderts. Sie ist in seinen Werken Essai sur les données immédiates de la conscience47, Matière et memoire®, L'évolution créatrice49 und anderen dargelegt. Die Konzeption Bergsons ist eine Apologie des Irrationalismus und stellt eine Reaktion auf die Schwierigkeit dar, exakte wissenschaftliche Methoden bei der Erforschung psychischer Erscheinungen anzuwenden, insbesondere eine Reaktion auf die Dürftigkeit und Unzulänglichkeit der Erkenntnisse in der Psychophysiologie seiner Zeit. Bergson ist der Meinung, das menschliche Denken, der menschliche Verstand sei im Ergebnis der langewährenden Evolution zur Erkenntnis der unbelebten Natur befähigt worden. Das Denken als Emanation, als eine Erscheinungsform des Lebens könne nicht das Leben selbst erfassen. Die Kategorien unseres Denkens (zum Beispiel Einheit, Vielheit, mechanische Kausalität, rationale Zweckmäßigkeit usw.) sind nach Bergsons Meinung auf lebende Objekte nicht anwendbar. Dies bedeutet jedoch nicht, daß es unmöglich sei, Lebenserscheinungen zu erkennen. Dafür habe der Mensch im Verlauf der Evolution eine besondere Erkenntnisfähigkeit erworben — die Intuition. Der Intellekt und die gesamte Wissenschaft spiegeln nach Bergson nicht das Wesen der erforschten Erscheinungen wider. Die Wissenschaft erkenne nicht das Wesen der Dinge, sondern nur die Beziehungen zwischen ihnen. Deshalb trage die gesamte moderne Wissenschaft kinematographischen Charakter. Wenn aber die Vernunft, das logische Denken das Wesen des Lebens nicht zu begreifen vermochte, so sei darauf zu hoffen, daß sich neben unserem logischen Denken eine „unbestimmte Nebelhaftigkeit" von gleichem Wesen befinde, aus dem sich unser Verstand gebildet hat, und daß sich in dieser „Nebelhaftigkeit" Kräfte befänden, die unseren Verstand ergänzten. Diese Kräfte sind nach Bergson der Instinkt und die Intuition (Bergson verwendet diese Begriffe oft synonym). Der Intellekt zer47 Dt. Ausgabe: Bergson, H., Zeit und Freiheit, Jena 1911. 48 Dt. Ausgabe: Bergson, H., Materie und Gedächtnis, Jena 1908. 4 9 Dt. Ausgabe: Bergson, H., Schöpferische Entwicklung, Jena 1912. 43
gliedert die Studienobjekte, betrachtet sie in unbeweglichen, toten Formen; er ist kennzeichnend durch ein natürliches Unverständnis für das Leben, wovon nach Bergsons Meinung zahlreiche grobe und sich wiederholende Fehler auf dem Gebiet der Hygiene, der Pädagogik und anderer Humanwissenschaften anschaulich Zeugnis ablegen. Nur der Instinkt wirke gleichsam belebt, und wenn das in ihm schlummernde Bewußtsein erwache und er sich nach der Erkenntnis richten würde, so würden uns durch ihn die „tiefsten Geheimnisse" verraten. Als Mechanismen des Instinkts sieht Bergson das Mitgefühl oder das Einfühlen an. Der Instinkt ist eine, wenn auch unbewußte psychische Erscheinung. Das, was in der Psyche des Menschen vorgeht, wenn er Sympathie und Antipathie empfindet, die in der Hauptsache unbewußte Wurzeln haben, erinnert verschwommen an das, was in der Psyche des Tieres abläuft. Die Intuition beim Menschen, diese „göttliche Sympathie", wie Bergson meint, unterscheidet sich vom Instinkt nur durch das Fehlen des praktischen Interesses und der pragmatischen Gerichtetheit, die dem Instinkt eigen sind. Als Form einer solchen Intuition sieht Bergson die ästhetische Intuition an, die Fähigkeit, Schönheit zu erleben. Die Vereinigung von Intellekt und Intuition, die in ihren Grundlagen noch entgegengesetzt seien, könne zu einer adäquaten Erkenntnis der Natur und des Lebens führen, allein aber sei jede dieser Erkenntnisfähigkeiten unzureichend. Blitze der Intuition, die in schwierigen Augenblicken des Lebens aufleuchten, müßten durch die Philosophie unterstützt und entwickelt werden. Nur dann, meint Bergson, könne man zur wahren Erkenntnis und zur Lösung der gnoseologischen Grundprobleme kommen. Aus dieser sehr kurzen Darstellung der Bergsonschen Intuitionskonzeption wird sichtbar, daß er' (ohne jegliche hinreichende Begründungen) gegen die wissenschaftlichen Methoden der Erkenntnis kämpft, daß er sie für inadäquat hält und die Existenz einer besonderen, metaphysischen Intuition proklamiert, die uns angeblich unmittelbar das Wesen der Dinge und Lebenserscheinungen sichtbar macht. Was aber ist denn nun diese Intuition? Auf diese Frage gibt Bergson keine klare Antwort, und deshalb sind seine Wissenschaftskritik und seine gesamte intuitivistische Konzeption unbewiesen und antiintellektuell. Einer gründlichen Kritik unterzogen wurde der Intuitivismus Bergsons durch die Arbeit Problema intuicii v filosofii i matematike. Berg1sons Vorläufer, stellt Asmus fest, haben zwar Intuition und Intellekt gegenübergestellt, haben aber diese Problematik nicht konsequent zu Ende gedacht. Der italienische Philosoph Benedetto Croce, der Schöpfer der „Philosophie des Geistes", hielt den Gegensatz von Intui44
tion und Intellekt nicht für absolut, das heißt, er ließ es nicht bis zum Antiintellektualismus kommen. Er betrachtete sie als wechselseitig verknüpfte Formen der Erkenntnis, wobei die Intuition bis zu einem gewissen Grade als Bedingung für die Realisierung intellektueller Akte angesehen wird. Bergson hingegen gelangt in seinen Schlußfolgerungen zu einem unverhüllten Antiintellektualismus. Bei der Darlegung der Bergsonschen Ansichten über den Intellekt stellt Asmus fest, daß dem Intellekt die „uneigennützige Erkenntnis", die Betrachtung und die Praxis gegenübergestellt werden. Eine reine Erkenntnisbedeutung der Wahrnehmung und anderer Erkenntnisprozesse wird von Bergson geleugnet. Zu Recht vermerkt Asmus die Fehlerhaftigkeit der Bergsonschen Behauptung, „daß Träger der Erkenntnis nicht das Gehirn — ein materielles Organ unserer Körpers — sondern das ,reine' Bewußtsein oder der spontane Geist sei" 50. Asmus kritisiert den Gedanken Bergsons, der Intellekt erkenne nur Beziehungen, und vertritt die Ansicht, daß bei Bergson „die Frage nach dei Herkunft des Intellekts deutlich vermengt ist mit der Frage nach seinem gegenwärtigen Funktionieren und seiner Erkenntniskompetenz" 51. Das moderne wissenschaftliche Denken ist unendlich weit von jener Stufe des Intellekts entfernt, auf der nur direkte, zutiefst praktische Aufgaben gelöst wurden. Indem wir die Beziehungen erkennen, erkennen wir zugleich auch die Dinge; das wird bewiesen durch die künstliche Hervorbringung und Reproduktion von Dingen und Naturerscheinungen. Selbst viele bürgerliche Denker (J. Maritain, B. Russell, M. Bunge und andere) äußern sich kritisch und zum Teil belustigt über die Ansichten Bergsons zum Intellekt und zur Wissenschaft. Bergson selbst hat oft geschwankt und Gedanken geäußert, die seiner Grundkonzeption von der Erkenntnisrolle des Intellekts widersprechen; so sagt er, daß die positive Wissenschaft, wenn sie es mit toter Materie zu tun hat, prinzipiell die Realität selbst berührt. Unter Berücksichtigung des Intuitivismus retten jedoch diese Zugeständnisse und die scheinbare Feindschaft gegenüber dem Agnostizismus die Sache nicht, wie V. F. Asmus mit Recht feststellt. Das völlige Fehlen eines dialektischen Verständnisses des Charakters der Wissenschaft führt Bergson zur Metaphysik und zu Absolutismus in seinen Forderungen an die Wissenschaft. Er berücksichtigt nicht, daß die Allmählichkeit der Wissenschaftsentwicklung das Unterpfand ihrer Erfolge und die Garantie für eine adäquate Naturerkenntnis bildet. „Der Intellekt ist in der Er50 Asmus, V. F., Problema intuicii . . ., a. a. O., S. 157. 51 Ebenda, S. 160.
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kenntnis weitaus umfassender und mächtiger, als das Bergson scheint. D e m Intellekt sind nicht nur die Analyse, sondern auch die Synthese, nicht nur das Abstrakte, sondern auch das Konkrete, nicht nur das Allgemeine, sondern auch das Einzelne, nicht nur die blutleeren Symbole der Realität, sondern auch die Realität selbst zugänglich. Dies alles ist ihm zugänglich, weil der Intellekt ebenso dialektisch ist, wie die Wissenschaft und alle Erkenntnis dialektisch sind. Er ist praktisch und theoretisch, konkret und abstrakt zu gleicher Zeit." 52 Nachdem er die Auffassungen Bergsons über Intellekt und Praxis einer eingehenden kritischen Analyse unterzogen hat, wendet sich Asmus der Kritik an der nicht intellektuellen, metaphysischen Intuition Bergsons zu, die das Hauptinstrument unpragmatischer Betrachtung oder Spekulation sein soll. Diese metaphysische, ontologisierte Intuition wird bei Bergson selten genau definiert. Im folgenden zitieren wir eine der klarsten seiner Definitionen: „Das Absolute kann nur in der Intuition gegeben werden, während alles übrige in der Analyse entdeckt wird. Intuition nennen wir hier das Einfühlen, wodurch man sich in die Tiefe des Gegenstandes versetzt, um die Übereinstimmung mit dem zu empfinden, was in ihm an Einzigartigem und folglich Unausdrückbarem ist." 53 Deshalb müsse die Philosophie, wenn sie wertvoll und selbständig werden wolle, das Operieren mit Begriffen der Wissenschaft lassen und intuitiv werden. Die Philosophie ganz von Begriffen zu befreien, entschließt sich Bergson allerdings nicht, da sich die Philosophie auf die konkreten Wissenschaften stützt, die hier als Begriffssysteme erscheinen. Im Widerspruch zu seinen grundlegenden Ideen (zum Beispiel dem Gegensatz zwischen Intellekt und Intuition) fordert er, die in der Philosophie benutzten Begriffe sollten elastisch, fließend sein, damit sie die „entgleitenden Formen der Intuition" fassen könnten. Die sich dann in den Formen des Intellekts kristallisierende intellektuelle Intuition ist nach Bergsons Ansicht reine Phantasie und hat mit der wahren philosophischen Intuition nichts gemein. Der Anwendungsbereich der letzteren sei jedoch begrenzt. Deshalb meint Bergson, das echte Gebiet der intuitiven Erkenntnis sei die Kunst. Die Kunst liefere uns eine wahre Sicht der Dinge. Der Künstler erschließe uns das, was wir wahrnähmen, aber nicht bemerkten. Folglich würden künstlerische Leistungen intuitiv erkannt und verstärkten diese Fähigkeit bei allen, die mit ihnen in Berührung kommen. Das Wichtigste an der 52 Ebenda, S. 174f. 53 Zitiert nach Asmus, Problema intuicii . . , a. a. O., S. 178. 46
Kunst sei, daß sie praktischen Interessen fern liege. Die Intuition des Künstlers erkenne die wahre Realität jedoch nicht vollständig, da kein Künstler ganz von praktischen Wirkungen absehen könne. Diese Intuition ist nach Bergson eine Form der Hypnose, das Kunstwerk hypnotisiere uns und suggeriere uns die Sicht des Künstlers. Dadurch werde die Psyche des Wahrnehmenden mit dem Gefühl des Künstlers angefüllt und gehe in einen passiven Zustand über. Die wichtigsten kritischen Feststellungen, die V. F. Asmus gegen die Intuitionstheorie Bergsons formuliert, sind folgende: 1. Der Begriff der philosophischen und künstlerischen Intuition ist bei Bergson „jeglichen positiven Erkenntnisgehaltes beraubt" 54 . Der Inhalt der Bergsonschen antiintellektuellen Intuition ist ganz und gar negativ, er verbietet, er ist „nicht intellektuell, nicht in logische Formen gekleidet, nicht diskursiv, nicht verständlich, nicht von praktischem Interesse geleitet usw. - alles ist nur Verneinung!" 55 2. Bergsons Veiständnis der Intuition ist widersprüchlich: einmal ist sie ein Mittel der Betrachtung, dann wieder eine Art Suggestion in der Hypnose, eine Art der Sympathie zwischen dem Künstler und dem das Kunstwerk wahrnehmenden Subjekt. 3. In jedem Falle ist die Bergsonsche Intutition irrational, sie ist wissenschaftsfeindlich und feindlich der gestaltenden Tätigkeit des Menschen, sie stellt eine Biologisierung und Voluntarisierung der wirklich realen intellektuellen Intuition dar. Das ist ein Merkmal der Dekadenz der zeitgenössischen bürgerlichen Kultur. 4. Bergson akzeptiert nicht, daß wissenschaftliche Begriffe elastisch sein und das Wesen der Dinge ausdrücken können, wenn sie dialektisch sind, was natürlich nicht Intuitionalität bedeutet. Selbst im Vergleich mit solchen idealistischen Philosophen wie Schelling und Schopenhauer, schreibt Asmus, erweist sich Bergson als ein reaktionärer Wissenschaftsstürmer, dessen Ideen für die Wissenschaft, die Philosophie und die Kunst fruchtlos sind. Dies stellt auch M. Bunge 56 fest, der die methodologischen Fragen der Intuition, ihre Arten, die wichtigsten intuitivistischen Richtungen und den Intuitionismus ausführlich untersucht hat. Die Kritik dieses Philosophen am Bergsonschen Intuitivismus stimmt im wesentlichen mit der oben dargelegten marxistischen Kritik überein. Bunge kritisiert Bergson wegen dessen metaphysischer Denkweise, wegen des Fehlens einer positiven 54 Ebenda, S. 191. 55 Ebenda.
56 Bunge, M., Intuicija
i nauka,
a. a. O., S. 21—27, 36. 47
Definition der Intuition und wegen der angeblichen Überlegenheit der Intuition „als Art der Erkenntnis gegenüber dem Verstand" 57. Bunge kritisiert überzeugend die Bergsonsche These, daß die Funktion der Vernunft keine theoretische, sondern nur eine praktische sei. Die Vernunft schafft Theorien, die sich im Unterschied zu intuitiven Vermutungen durch minimale Unbestimmtheit und minimale Zweideutigkeit auszeichnen. „Natürlich reicht die reine Vernunft für die Aufstellung einer wissenschaftlichen Theorie nicht aus. Die auf empirischem Wege erlangte Information und die verschiedenen Formen echter Intuition - ausgenommen die metaphysische Intuition, die „Wesensschau" und die mystische Intuition - sind die wesentlichen Bestandteile der Theorie, die im Prozeß ihrer Aufstellung verwendet werden." 58 Interessant und lehrreich ist Bunges Kritik an der Behauptung Bergsons, der Intellekt sei nicht einmal in der Lage, die einfachste mechanische Bewegung zu erfassen, da Begriffe statisch und voneinander isoliert seien. Dieser (schon von Hegel gegen die formale Logik eingenommene) Standpunkt „ignoriert die Tatsache, daß die Wissenschaften Begriffe nicht nur über unveränderliche, sondern auch über veränderliche Klassen schaffen (zum Beispiel .Reaktionsgeschwindigkeit', .Zuwachsgeschwindigkeit', .Beschleunigung'), die für die Beschreibung sich verändernder Aspekte der Erfahrung geeignet sind. Dieses Argument ignoriert auch den Umstand, daß jede Behauptung aus sich wechselseitig bedingenden Begriffen besteht, so daß sich die letzteren niemals wie Haufen von miteinander nicht verbundenen Ziegelsteinen auftürmen." 50 Dies ist ein wirklich frappanter Fehler, und Bunges Kritik ist genau und gewichtig. Denn die Differentialrechnung und die Integralrechnung sind, wie Bunge richtig feststellt, geschaffen worden, um die intuitiven Begriffe Geschwindigkeit und Beschleunigung exakt zu erklären. Der Begriff der variablen Größe widerspiegelt richtig den momentanen Zustand und die Veränderung jedes beliebigen materiellen Systems. „Entgegen der Meinung Bergsons, daß die Wissenschaften von der Materie die Kontinuität nicht fassen könnten, sind ein großer Teil der Variablen in der Physik, Chemie, Physiologie und Psychologie kontinuierlich."6« Die Quantenmechanik ist zu Beginn von manchen Wissenschaftlern wegen der Einführung diskreter Erscheinungen, die als nicht intuitiv angesehen wurden, kritisiert worden. Die Frage, was intuitiv, 57 58 59 60
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Ebenda, S. 23. Ebenda. Ebenda, S. 25. Ebenda S. 26.
kontinuierlich und diskret sei, ist nach Bunges Ansicht sinnlos, ihre Beantwortung hängt von den individuellen Besonderheiten jedes Wissenschaftlers, von seinen Fähigkeiten und Erfahrungen ab. Die wissenschaftliche Erkenntnis erfaßt auch Neues, das nicht auf Altes zurückführt, sondern nur mittels des Alten erklärt wird. Das ist die tatsächliche Situation in allen modernen Wissenschaften. Deshalb ist der Gedanke Bunges richtig, daß Bergsons Kritik der wissenschaftlichen Erkenntnis auf die mittelalterliche Wissenschaft zutrifft und für die Entwicklung unserer Erkenntnismöglichkeiten nichts Positives beiträgt. Bergsons Intuition fehlt die Fähigkeit zu logischer Systematisierung und begründeter Kritik. Sie ist ohne wissenschaftliche Relevanz. „Die Intuition Diltheys, Bergsons, Husserls, Schelers und anderer Neoromantiker, die der pythagoreischen .Teilnahme' und einer überspannten .Sympathie* eng verwandt ist, hat nicht einmal zu fruchtbringenden Fehlern geführt."61 Gegen diese Folgerung ist kaum etwas einzuwenden. Anzumerken ist, daß der Intuitivismus Bergsons als ein System raffinierter Introspektion angesehen werden kann. Bergsons Kritiker, darunter auch die sowjetischen Wissenschaftler V. F. Asmus und P. V. Kopnin, haben auf diese Seite seiner Theorie und ihre Quellen nicht mit genügender Deutlichkeit hingewiesen. In der „Schöpferischen Entwicklung" wie auch in anderen seiner Arbeiten, insbesondere in dem Buch Zeit und Freiheit, behauptet Bergson, daß die Suche nach dem Absoluten ins Innere unserer Psyche, unseres Bewußtseins, gerichtet werden müsse. Die absolute Wahrheit existiere nicht nur, sie sei auch erkennbar; um sie zu erkennen, müßten wir nur zu uns selbst zurückkehren. Das Absolute befinde sich nicht außerhalb, sondern in uns selbst. Zum Absoluten zu gelangen bedeute, zum eigenen reinen Ich zu gelangen, „zu den unmittelbaren Daten des Bewußtseins". Wenn das so ist, dann muß man auch anerkennen, daß die unmittelbare Erkenntnis unseres Bewußtseinsinhalts durch das Mittel der Introspektion gewonnen werden kann. Bergson sagt dazu nichts Bestimmtes. Er postuliert eine metaphysische, intuitive Erkenntnisfähigkeit. Berücksichtigt man jedoch seine Gedanken über die Formen dieser Intuition in Philosophie und Kunst, so ist zu sagen, daß diese Intuition Introspektion bedeutet, aus der alle verstandesmäßigen Elemente verbannt sind und der nur der emotionale Hintergrund zusammen mit der unmittelbaren Wahrnehmung belassen worden ist. Die Intuition 61 Ebenda, S. 36. 4
NalCadijan
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Bergsons ist keine eidetische Intuition, sie ist mehr innerer Art. Nachdem sie den wahrgenommenen Gegenstand in einen Faktor des inneren Lebens verwandelt hat, dringt diese Intuition durch Einfühlung in sein Wesen ein und erkennt damit gleichzeitig ein Stückchen, ein Gran des Absoluten. Man muß daher annehmen, daß eine der Quellen des Bergsonschen Intuitivismus der einseitig verstandene Introspektionismus ist, von dem Bergson nur die gefühlsmäßige, emphatische Seite übernommen hat, während die intellektuellen, denkerischen Elemente ignoriert wurden. Kritik an den Schwächen und Mängeln der modernen Wissenschaft ist notwendig. Völlig falsch sind aber die Folgerungen, zu denen Bergson gelangt. Die Vervollkommnung der wissenschaftlichen Methoden sowie die Anerkennung der wissenschaftlich verstandenen Intuition und ihrer Bedeutung für den Erkenntnisprozeß sind für die Wissenschaftsentwicklung lebensnotwendig. Die Anerkennung einer solchen auf dem logischen Denken begründeten und eng mit ihm verbundenen schöpferischen Intuition reicht jedoch durchaus aus und überschreitet nicht die Grenzen der Wissenschaft. Diese Intuition sichert durch die Entdeckung neuer Ideen das schnelle Wachstum und die Vertiefung unserer Kenntnisse. Der Intuitivismus Bergsons wird auch in einigen Arbeiten P. V. Kopnins kritisiert. Kopnin stellt fest, daß die von Bergson erwähnten Schwierigkeiten des Prozesses der wissenschaftlichen Erkenntnis tatsächlich existieren. Manche Folgerungen Bergsons gehen daher von den genannten realen Schwierigkeiten aus. „Es ist unzweifelhaft, daß sie (die Schlußfolgerungen — A. N.) sich auf einige wirkliche Momente des Prozesses der Wissenserlangung gründen. Der Irrationalismus fixiert überhaupt seine Aufmerksamkeit auf eben jene Seiten der Dialektik des Erkenntnisprozesses, die von den ihm vorausgegangenen rationalistischen Konzeptionen nicht beachtet worden sind . . . Und nicht allein Bergson spricht davon, daß das Denken und seine Kategorien, indem sie das Objekt fixieren, dieses zum Stillstand bringen, das Stetige unterbrechen." 62 Den Fehler Bergsons sieht Kopnin in der Ausgangsprämisse vom Gegensatz zwischen Mensch und Natur sowie in der Postulierung der Notwendigkeit einer besonderen intuitiven Weise der Erkenntnis, mittels derer „das Wissen, begleitet von schöpferischer Anstrengung, unmittelbar mit dem Leben zusammenfließt"63. Eine solche Auffas62 Kopnin, P. V., O rational'nom i irrational'nom, in: Voprosy filosofii,
5/1968, S. 115. 63 Ebenda.
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sung von der Intuition vertrat auch der russische Intuitivist N. Losskij, der aus dem unverhüllt mystischen Charakter seiner Philosophie kein Hehl machte. Nachdem er die Hauptthesen des Intuitivismus kurz betrachtet hat, kommt Kopnin zu folgendem Schluß: „Der Irrationalismus und seine negativen Erfahrungen besitzen für die Theorie des Wissens bestimmte Bedeutung, und zwar nicht nur in dem Sinne, daß uns heute die Unzulänglichkeit einer derartigen Lösung gnoseologischer Probleme klar ist. Die Überlegungen der Irrationalisten regen uns zu ihrer kritischen Überwindung und damit dazu an, tiefer in alle Seiten des Erkenntnisprozesses einzudringen und keinen weißen Fleck unerklärt zu lassen."64 Eine der wichtigsten Seiten des Erkenntnisprozesses ist die wissenschaftlich verstandene Intuition; gerade die Ausarbeitung der sie betreffenden Probleme nimmt den Irrationalisten den Boden für Spekulationen und wird die materialistische Gnoseologie zu einer noch tieferen, subtileren und elastischeren Lehre machen. Die Akzeptierung der Realität einer solchen Intuition bringt genau soviel „Irrationalität" in den Erkenntnisprozeß, wie darin tatsächlich enthalten ist. „Die Bewegung des Wissens jedoch", schrieb Kopnin, „ist unmöglich ohne das irrationale Moment, das intuitiv, konzentriert ist, und bis zu einem bestimmten Moment logisch ungerechtfertigt bleibt. In dem Maße aber, in dem das Irrationale zum Rationalen wird, wird das Intuitive diskursiv. Diese Umwandlung setzt nicht nur das verstandesmäßige, sondern auch das vernunftmäßige Denken voraus, das neue logische Formen schafft."65 Die Intuition ist eine besondere, aber vernunftmäßige Art der Welterkenntnis, und der Irrationalismus als philosophische Konzeption kann nur im Ergebnis einer gründlichen Erforschung ihres Wesens überwunden werden. Wenn der Intuitivismus auch fruchtlos ist, so kann deshalb jedoch seine kritische Analyse dazu beitragen, eine Reihe wichtiger gnoseologischer Probleme der marxistisch-leninistischen Philosophie zu erkennen und wissenschaftlich zu analysieren. Zugleich vermittelt die Kritik am Intuitivismus und Irrationalismus die Überzeugung, daß zwar die metaphysische Intuition eine Fiktion ist und darum nicht Gegenstand konkreter wissenschaftlicher Analyse werden kann, daß es aber erforderlich ist, die realen Formen der Intuition oder der mit diesem Terminus bezeichneten Erscheinungen eingehend zu erforschen. Besondere Beachtimg verdienen die sogenannte sinn64 Ebenda, S. 116. 65 Ebenda, S. 121. 4*
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liehe Intuition, die, wie wir uns zu zeigen bemühen, eine sinnliche begriffene Wahrnehmung der umgebenden Objekte ist, sowie die intellektuelle Intuition, deren psychologische Erforschung das Hauptziel der vorliegenden Arbeit darstellt. Die sinnliche Intuition. Der Begriff „Intuition" hat infolge seiner Verschwommenheit in der Geschichte der Philosophie häufig überhaupt die Fähigkeit des immittelbaren Begreifens bezeichnet, ohne daß diese Fähigkeit nach Arten differenziert worden wäre. Als ursprüngliche Form galt das unmittelbare Erfassen der Wahrheit mit Hilfe der Sinnesorgane. Der Terminus „Intuition" selbst leitet sich vom lateinischen Wort intuitus (Betrachtung mit Hilfe der Augen) ab. „Das in bezug auf einen Beweis unmittelbare Wissen ist in bezug auf die Erkenntnisquelle sinnliches Wissen."66 Eine derartige sinnliche Intuition erfolgt jedoch nicht nur durch das Sehen, sondern auch durch die anderen Sinnesorgane. Betrachtet man diese Art der unmittelbaren Erkenntnis der gegenständlichen Welt wissenschaftlich, so ist nicht zu übersehen, daß es sich hier um nichts anderes als die Wahrnehmung handelt. Die Wahrnehmung aber, so beweist die moderne Psychologie, ist eine der wichtigsten Formen sinnlicher Erkenntnis und schließt elementare Denkoperationen ein (Vergleich, Analyse und Synthese). Diese Denkoperationen erfolgen vermittels des Bildes des wahrgenommenen Gegenstandes und jener Gedächtnisvorstellungen, die assoziativ in der Bewußtseinssphäre auftauchen. Sehr häufig jedoch können solche Aktualisierungen vergangener Eindrücke, ihr Vergleich mit dem Wahrgenommenen, die Analyse und Synthese dieser Bilder als Gesamtheit von Empfindungen, aber auch der Gedanke an den Gegenstand, der den Kern der Rationalität der Wahrnehmung bildet, nicht deutlich in der Bewußtseinssphäre erscheinen. Sie entstehen und verlaufen unterbewußt und erscheinen in der Bewußtseinssphäre dann, wenn eine genauere Beschreibung und Erklärung des Gegenstandes notwendig wird. Wenn die obengenannten Elemente unterbewußt sind, so tritt die Wahrnehmung oder die sinnliche Betrachtung als unmittelbarer Akt des Verstehens des Gegenstandes in Erscheinung. Wenn man ein solches Verständnis der sinnlichen Intuition (als Wahrnehmung) zugrunde legt, dann ist auch an eine sehr wichtige Eigenart jeder Wahrnehmimg zu erinnern - an ihre Abhängigkeit von der Gesamtheit der Erfahrungen des wahrnehmenden Individuums, 66 Asmus, V. F., Problema intuicii . . ., a. a. O., S. 3. 52
die in der Philosophie und Psychologie als Apperzeption bezeichnet wird. Unter Erfahrung werden hier alle Kenntnisse, Ansichten, Interessen und emotionalen Beziehungen der jeweiligen Person verstanden. In einem solchen Falle bleibt aber vom unmittelbaren Charakter der sinnlichen Intuition wenig übrig. Die Wahrnehmung wird durch die gesamten vorherigen Erfahrungen des Individuums beeinflußt, wenn das auch meist nicht so deutlich wird, da die Einwirkung der vorherigen Erfahrung auf die Wahrnehmung reduziert, unmittelbar, oft unterbewußt erfolgt. Eine psychologische Analyse würde aber immer den vermittelten Charakter der Wahrnehmung feststellen, also der so verstandenen sinnlichen Intuition. Selbst wenn man die sinnliche Intuition auf eine einfache Empfindung reduzieren würde, so wäre auch hier keine völlige Unmittelbarkeit der Betrachtung zu finden. Jede Art menschlicher Empfindung besitzt ihre genetische Geschichte, die Geschichte ihrer Entstehung und Herausbildung im Verlauf der ontogenetischen Entwicklung der Persönlichkeit. Eine konkrete Empfindung in einem bestimmten Moment ist zweifellos Ergebnis unmittelbarer Betrachtung. Ihr jeweiliges Niveau jedoch ist das Ergebnis der Entwicklung und mit dem begrifflichen Denken verknüpft. Eine strenge Trennung der Empfindung von der Wahrnehmung ist nur in Ausnahmefällen möglich. Jede Empfindung ist mit einem bestimmten Gegenstand verbunden, das heißt sie geht sofort in die Wahrnehmung über oder schafft eine Wahrnehmung. Die Gegenständlichkeit ist eines der wichtigsten Kennzeichen der sinnlichen Formen menschlicher Erkenntnis. Wenn aber die obigen Ausführungen richtig sind, so muß man die Postulierung der sinnlichen Intuition als einer autonomen Form der Erkenntnis als Ergebnis einer Mystifizierung oder mangelhaften Denkens ansehen. Die sinnliche Intuition ist im Grunde Empfindung und Wahrnehmung, die, wie die moderne Erkenntnispsychologie bewiesen hat, untrennbar mit dem Denken und der Vorstellung verbunden sind, so, wie die letzteren ohne die ersteren nicht denkbar sind. Eben in diesem Sinne wird die sinnliche Intuition von allen heutigen Forschern verstanden, die die Psychologie kennen und von materialistischen Voraussetzungen ausgehen. V. F. Asmus hat die marxistische Auffassung von der Bedeutung der sinnlichen Erkenntnis wie folgt formuliert: „Der Begriff der sinnlichen Betrachtung ist ein wichtiger Begriff der materialistischen Lehre vom Wissen. Alle unsere Kenntnisse, auch die abstraktesten, beruhen letzten Endes auf sinnlichen Betrachtungen als der Quelle, aus der sie alle entstehen. Schon die auf 53
Aristoteles zurückgehende Schule hat diese Feststellung in der bekannten Formel ausgedrückt: .Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war'".67 Die sinnliche Intuition als Wahrnehmung, insbesondere als Wahrnehmung des Raumes und der Zeit, hat eine wichtige Rolle bei der Schaffung der Axiome und Postulate von Mathematik und Physik gespielt. Asmus schreibt weiter: „Wenn der Wissenschaftler unter .sinnlicher Intuition' nur das direkte Erfassen der Wahrheit mit Hilfe eines äußeren Sinnes (zum Beispiel des Gesichtssinnes) versteht, so kann es gegen ein solches Verständnis dieses Terminus keine Einwände geben: er ist noch nicht mit irgendeiner philosophischen Theorie verknüpft, die das Faktum des als Intuition bezeichneten Wissens erklärt. Dieser Terminus bedeutet nur die Anerkennung eines Faktums. In diesem Sinne (mit keiner philosophischen Theorie verbunden) wird der Terminus .Intuition' ständig von den Mathematikern verwendet."68 Eine Ausnahme bilden die Intuitivisten unter den Mathematikern, die dem Terminus .Intuition' auch eine idealistische Bedeutung beimessen. Die Philosophie wäre nicht Philosophie, wenn' sie sich allein mit dem Registrieren einer bestimmten Erkenntnisform und mit der Namensgebung dafür begnügen würde. In der Geschichte der Philosophie wird der Terminus „sinnliche Intuition" in verschiedener Weise philosophisch interpretiert. Asmus betrachtet also die sinnliche Intuition als Wahrnehmung und sieht in ihr eine „unbestreitbare Realität", die für alle die Wirklichkeit erkennenden Menschen existiert. Die einzig richtige philosophische Deutung findet diese Form der Erkenntnis in der Gnoseologie des dialektischen Materialismus, wo die gnostische Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung hinreichend tief erforscht worden ist. Auch Bunge versteht die sinnliche Intuition als Wahrnehmung. Er beschränkt sich aber nicht auf diese Feststellung, sondern betrachtet bezeichnenderweise die sinnliche Intuition als „schnelle Identifizierung des Gegenstandes, der Erscheinung oder des Zeichens", die abhängt „von der Wahrnehmungsschärfe des Subjekts, von seinem Gedächtnis, seiner Auffassungsgabe, Erfahrung . . . Informiertheit"69. Unter letzterem versteht Bunge vor allem die Einstellung. Bunge, der die Möglichkeiten und den Inhalt der sinnlichen Intuition als eines psychischen Prozesses der Erkenntnis gut versteht, vermerkt aber auch ihre Grenzen. Sie liefert lediglich Material und ist deshalb vorwissen67 Ebenda, S. 4. 68 Ebenda, S. 5. 69 Bunge, M., Intuicija i nauka, a. a. O., S. 94.
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schaftlich. Die Wissenschaft verarbeitet die Ergebnisse der Wahrnehmungen und schafft logisch begründete Wissenssysteme. Die sinnliche Intuition kann Bunge zufolge als Wahrnehmung einer Gesamtheit von Zeichen und ihrer Verbindungen auftreten (zum Beispiel beim deduktiven Schließen und in verschiedenen Beschreibungen). Die psychologische Beweisbarkeit ist aber die Möglichkeit, die gegebene Gesamtheit von Erscheinungen im ganzen wahrzunehmen. In jedem Falle ist die sinnliche Intuition eine Wahrnehmung mit allen ihren Besonderheiten. Sie besitzt in den verschiedenen Tätigkeitsbereichen (in der Mathematik, Physik, Biologie, im künstlerischen Schaffen) Besonderheiten, die aber nicht über die Grenzen der Besonderheiten hinausgehen, die für die Wahrnehmung festgestellt worden sind. Die Identität von sinnlicher Intuition und Wahrnehmung wird von uns nicht angezweifelt. Ausgehend von diesem Verständnis der sinnlichen Intuition als Wahrnehmung, möchten wir eine kritische Bemerkung an die Adresse Bunges richten. Unter Berufung auf Moritz Schlick behauptet er, die sinnliche Intuition liefere zwar das Objekt, fasse es jedoch nicht begrifflich, daher sei der Ausdruck „intuitive Erleuchtung" widersprüchlich.70 Wir stimmen mit Bunges Kritik am Intuitivismus überein, halten jedoch die Feststellung für notwendig, daß die Widersprüche im Ausdruck „intuitive Erleuchtung" nicht davon abhängig sind, welche der real existierenden Arten der Intuition man im Auge hat. Es kann nur um die verschiedenen Ebenen der Erkenntnis gehen, da selbst die intellektuelle Intuition auf den verschiedenen Ebenen der theoretischen Synthese in Erscheinung treten kann. Unter Berücksichtigung der unterbewußten psychischen Aktivität stellt selbst die einfachste sinnliche Intuition als Wahrnehmung einen komplizierten Erkenntnisprozeß dar. Die intellektuelle Intuition. Philosophen und Wissenschaftler, Vertreter der verschiedenen konkreten Wissenschaften huldigen meistens unterschiedlichen Auffassungen von der Natur der Intuition. Auf Grund seiner Erfahrungen kann der Wissenschaftler schwerlich an die Existenz einer so vollkommenen Art der Erkenntnis glauben, die plötzliche, genaue und fertige Ideen liefert. Die Wissenschaftler, so bemerken zu Recht viele Forscher, interessiert das abgeleitete, vermittelte Wissen, das niemals absolut genau und endgültig ist. Im Ergebnis langwieriger Kleinarbeit gewonnen, ist solches Wissen nur angenähert, 70 Ebenda, S. 36.
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stellt eine V e r m u t u n g oder eine nicht völlig begründete A n n a h m e d a r , die weiteren Ü b e r p r ü f u n g e n u n d Präzisierungen unterliegt. D a s Größte, worauf ein Wissenschaftler hoffen k a n n , ist „eine m e h r oder weniger schnelle Schöpfung u n d eine rasche fragmentarische Folger u n g " (M. Bunge) oder d a s plötzliche A u f t r e t e n einer I d e e in der Bewußtseinssphäre n a c h langer b e w u ß t e r Analyse u n d u n t e r b e w u ß t e r E r gänzung. Äußerlich erinnert die letztere F o r m intuitiver E r k e n n t n i s , die intellektuelle I n t u i t i o n g e n a n n t wird, a n die Beschreibung der m e t a physischen I n t u i t i o n (zum Beispiel bei P l a t o oder Bergson). E s ist ä u ß e r s t wahrscheinlich, d a ß gerade „Blitze" der intellektuellen I n t u i t i o n f ü r diese Philosophen der G r u n d waren, d e n Gedanken der m y stischen Intuition, der o f t göttliche H e r k u n f t zugeschrieben wurde, i n d e n Vordergrund zu stellen. E i n prinzipiell richtiges marxistisches Verständnis der intellektuellen I n t u i t i o n finden wir in der bereits e r w ä h n t e n Arbeit v o n V. F . Asmus. E r verweist d a r a u f , d a ß die Unterscheidung der intellektuellen I n t u i t i o n als A r t des u n m i t t e l b a r e n (intuitiven) Wissens (ihre u r sprüngliche F o r m ist die sinnliche Intuition, die W a h r n e h m u n g ) das Ergebnis der Unterscheidung zwischen u n m i t t e l b a r e m u n d vermittelt e m Wissen ist. Die intellektuelle I n t u i t i o n ist ein Ergebnis des Verstandes, sie ist nicht identisch m i t der sinnlichen B e t r a c h t u n g , ihre Bezeichnung ist d a r u m ein b i l d h a f t e r Ausdruck. „ I n diesem Ausdruck liegt jedoch ein tiefer Sinn: er e n t h ä l t erstens den Gedanken, d a ß die Abstraktionen u n d Ergebnisse des Verstandes aus den ihnen zugrunde liegenden sinnlichen B e t r a c h t u n g e n hervorgehen; zweitens den Ged a n k e n , d a ß es u n t e r d e n Ergebnissen des Verstandes W a h r h e i t e n gibt, die der Verstand nicht auf G r u n d eines Beweises akzeptiert, sond e r n einfach durch die W a h r n e h m u n g des in ihnen g e d a c h t e n Inhalts. E s genügt, in diesen I n h a l t einzudringen, u n d sofort e n t s t e h t das u n a n f e c h t b a r e Bewußtsein seiner W a h r h e i t . Solche W a h r h e i t e n werden zwar nicht d u r c h d a s sinnliche Sehen e r f a ß t , sie werden jedoch als W a h r h e i t e n b e w u ß t , die die Wirklichkeit u n m i t t e l b a r widerspiegeln. Sie werden durch den intellektuellen Charakter des Begreifens von den sinnlichen Intuitionen unterschieden. Ähnlich allerdings sind sie den sinnlichen Intuitionen d u r c h die Unmittelbarkeit, m i t der (im B e w u ß t sein des modernen Menschen) ihr I n h a l t gedacht wird. Diese U n m i t t e l b a r k e i t u n d Beweisunabhängigkeit verleiht d e m intellektuellen Begreifen den Charakter m a x i m a l e r O f f e n k u n d i g k e i t . " 7 1 Gegen die Anerkennung der R e a l i t ä t eines solchen u n m i t t e l b a r e n 71 Asmus, V. F., Problema intuicii v filosofii i matematike, a. a. O., S. 5.
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verstandesmäßigen Begreifens, fährt Asmus fort, können keine prinzipiellen Einwände erhoben werden. Die Tatsache des Begreifens von Wahrheit, die nicht aus anderen Wahrheiten logisch abgeleitet wurde und die sich von der sinnlich wahrgenommenen Wahrheit unterscheidet, unterliegt keinem Zweifel. Eine Anerkennung dieses Wissensfaktums bzw. dieser Erkenntnisform ist an sich noch nicht verbunden mit einer bestimmten „philosophischen Theorie, die diese Erscheinung erklärt".72 In der Geschichte der Philosophie ist aber jede Beschreibung von Formen der Intuition zusammen mit einer bestimmten philosophischen Konzeption aufgetreten. Dem wissenschaftlichen Verständnis der Intuition am nächsten waren die rationalistischen Theorien. „In diesen Lehren", schreibt Asmus, „gibt es keine Gegenüberstellung von intuitivem und logischem Denken. Es gibt in ihnen keinen Alogismus. Die Intuition wird in ihnen als höchste Art des Wissens betrachtet, aber eines dennoch intellektuellen Wissens."73 Asmus vertritt die Ansicht, daß in der modernen intuitionistischen Mathematik im Gegensatz zum Intuitivismus ein rationales Verständnis der Intuition vorliege, das zu wertvollen Ergebnissen geführt habe. Dennoch sei die intuitionistische Mathematik idealistisch beeinflußt; man müsse ihren wissenschaftlichen Inhalt nach Gebühr schätzen, diesen Idealismus aber kritisieren. Asmus, der die wissenschaftliche Lösung des Problems der Intuition für außerordentlich wichtig hält, stellt fest: „Für die ausführliche und allseitige Untersuchung der Intuition ist in unserer Literatur bisher zu wenig getan worden."74 Er betrachtet es als seine Aufgabe, dieses Problem auf der Grundlage der marxistischen Philosophie einer Lösung zuzuführen. Eine ausführliche Betrachtung der Arten der Intuition, insbesondere der Arten der intellektuellen Intuition und ihrer psychologischen Mechanismen, unternimmt Asmus nicht. Aber auch so sind seine Gedanken wertvoll für jeden, der die Verantwortung auf sich nimmt, sich mit der Ausarbeitung dieses Gebietes der marxistischen Gnoseologie und Erkenntnispsychologie zu befassen. Das Problem der intuitiven Erkenntnis „als Moment der theoretischen Aneignung der Wirklichkeit" hat auch das Interesse der sowjetischen Forscher I. V. Bycko und E. S. Zarikov gefunden. Sie behandelten diese Frage in einem Artikel über die wissenschaftliche Forschung.75 72 73 74 75
Ebenda, S. 6. Ebenda, S. 8. Ebenda, S. 9. Vgl. Byöko, I. V., Zarikov, E. S., Naucnyj poisk, in: Logiha naulnogo issledovanija, Moskau 1965.
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Ausgehend vom marxistischen Verständnis der Gesetzmäßigkeiten der Wissenschaftsentwicklung stellen diese Autoren zutreffend fest, daß das Wissen in keiner Epoche ganz dem Ideal absoluter Strenge entsprechen kann. Immer gibt es in der Wissenschaft ein schöpferisches Element, intuitiv gewonnene Resultate. Die Intuition kann und muß jedoch logisch analysiert werden, weil die bloße Betonung ihrer phänomenologischen Besonderheiten (Plötzlichkeit, „Erleuchtung") ohne deren Erklärung keinen Nutzen für die Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis und das wissenschaftliche Verständnis der Intuition besitzt. Hier ist zweifellos immer die intellektuelle Intuition gemeint, und die Autoren sind sich über deren Abhängigkeit von der vorhergehenden Informationsbearbeitung durchaus im klaren. Bycko und 2arikov lassen den psychologischen Aspekt der Intuitionen beiseite und unternehmen den Versuch, „die beim heutigen Stand der Wissenschaftsentwicklung möglichen Argumente zugunsten der Vorstellung von der Intuition als einem logischen Prozeß zu beschreiben"76. Zu diesem Zwecke nehmen sie eine vergleichende Analyse der Intuition und des Algorithmus vor. Die erstere definieren sie folgendermaßen: „Unter Intuition verstehen wir eine Art der Wissenszufuhr, bei der ein Mensch Schlüsse über das Wesen (eine Seite, Verbindung, Beziehung) des Gegenstandes oder Prozesses zieht, der das Objekt des Interesses ist. Die Merkmale dieses Vorganges und die spezifischen Wege des Denkens werden im jeweiligen Moment dabei nicht bewußt."77 Der Algorithmus als System von Regeln steht äußerlich in direktem Widerspruch zur Intuition, da für das intuitiv gewonnene Wissen ein algorithmischer Weg nicht angegeben werden kann. Der bewußte Alogorithmus ist jedoch ein Analogon jeglicher resultativen menschlichen Tätigkeit. Die Erkenntnis als Art der menschlichen Tätigkeit verbindet das Denken und den Versuch (das Experiment) und muß notwendig algorithmisch sein. Da die Intuition eine Form der geistigen Tätigkeit, des Denkens, ist, so bedeutet die Leugnung der Möglichkeit, sie algorithmisch darzustellen, eine Akzeptierung des Indeterminismus bei der Erklärung dieser Art der geistigen Aktivität. Die logische Bearbeitung vorhergehender Daten ist eine Voraussetzimg der Intuition. Die Intuition ist rational. Die Logik des Algorithmus und die Intuition sind zwar gegensätzlich, dieser Gegensatz ist jedoch dialektisch, und im Prozeß der Entwicklung kann sich die Logik des Algorithmus als mit der der Intuition identisch erweisen, und zwar nicht nur aus der Sicht 76 Ebenda, S. 224. 77 Ebenda, S. 224f.
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des Ergebnisses, sondern auch in logischer, struktureller Hinsicht. „Ausgehend von der Vorstellung der Identität der Gegensätze kann man den intuitiven schöpferischen Akt als eine zeitliche Komprimierung und Verkürzung gewisser Algorithmen und ihren Übergang ins Unterbewußtsein ansehen." 78 Bei einer solchen Einstellung kann man die Intuition und das Unterbewußte unter dem Aspekt, daß sie dem bewußten algorithmischen Denken strukturell ähnlich, aber zeitlich „verdichtet" sind, erforschen. Für das Verständnis des schöpferischen intuitiven Prozesses ist deshalb die Erforschung des bewußten Denkens sehr wichtig. Der Algorithmus gehört zum Inhalt des schöpferischen Aktes, jedoch in bereits bewußter und geordneter Form, die der allgemeinen Benutzung zugänglich ist. Man kann - in anderer Form - den individuellen intuitiven schöpferischen Prozeß mittels Alogorithmen wiederholen und das Ergebnis wird eben dasselbe sein. Zugunsten dieser Auffassung spricht auch die Existenz von Wahrscheinlichkeitsalgorithmen, die an das menschliche Denken erinnern. Bycko und 2arikov stellen zu Recht fest, daß die Erforschung der inneren Rede von großer Bedeutung für das Verständnis des intuitiven Denkens sein kann. Da das Bewußtwerden des Denkens notwendig mit der Sprache verknüpft ist, so kann bei maximaler Verkürzung der Rede nur das Ergebnis der Denktätigkeit bewußt werden, und zwar als blitzschneller intuitiver Akt des Begreifens des Forschungsobjekts. Ungeachtet der Tatsache, daß die Intuition so als ein unterbewußt realisierter Algorithmus verstanden wird, wird sie dennoch nicht auf eine Zusammenstellung von Algorithmen reduziert. „Das intuitiv erfaßte Ergebnis ist nicht vorherzusehen (nicht vorauszusagen). Es gibt eine Logik der Intuition, aber keine Logik, die inhaltliche Voraussagen gewährleisten könnte. Das Erscheinen einer solchen Logik würde die Vernichtung sowohl der Intuition als auch des Schöpfertums überhaupt bedeuten." 79 In dem genannten Artikel von I. V. Bycko und E. S. 2arikov findet sich auch eine ganze Anzahl interessanter Gedanken über das Wesen der intellektuellen Intuition, ihr Verhältnis zur Logik und ihren Wert im Prozeß der Wahrheitserkenntnis. Die verschiedenen Arten der Intuition werden aber von den genannten Autoren ungenau differenziert. Das besitzt für die adäquate philosophische Analyse der Intuition und ihrer Erkenntnismöglichkeiten jedoch, wie uns scheint, prinzipielle Bedeutung. 78 Ebenda, S. 228. 79 Ebenda, S. 229.
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Am sorgfältigsten ist die Frage nach den Arten der Intuition in der modernen philosophischen Literatur in dem von uns bereits mehrfach zitierten Buch von M. Bunge ausgearbeitet worden. Über seine Ansichten zur metaphysischen Intuition und zur sinnlichen Intuition haben wir bereits eingehend gesprochen. Im folgenden gehen wir kurz auf seine Auffassung von der intellektuellen Intuition ein. Bunge untergliedert die intellektuelle Intuition in Unterarten je nach ihrer Spezifik in den verschiedenen Problemsituationen. Die Fähigkeit einer schnellen („blitzschnellen") Interpretation finden wir zum Beispiel beim Verstehen der mathematischen Ausdrücke physikalischer Gesetzmäßigkeiten („physikalische Intuition"). Den Inhalt dieser Intuition charakterisiert Bunge mit folgenden Worten: „Eine bestimmte Fertigkeit in der Benutzung von Symbolen, eine bestimmte Erfahrung in der Interpretation und die Fähigkeit, schnell Beziehungen zwischen auf den ersten Blick beziehungslosen Elementen zu erkennen — das ist alles, was das Wort .Intuition' in diesem Falle ausdrückt."80 Eine solche Form der Intuition hegt vor, wenn auf Grund einer einmaligen Wahrnehmung des Äußeren eines Menschen, seiner Bewegungen (Gesten, Mimik) über dessen Charakter oder geistige Fähigkeiten geurteilt wird. Diese der sinnlichen Wahrnehmung sehr nahe Art der intellektuellen Intuition gehört, wie Bunge richtig feststellt, zu den vorwissen schaftlichen Formen der Tätigkeit, wenn auch ihre Bedeutung in den zwischenmenschlichen Beziehungen sehr groß ist. Als konkrete Erscheinungsform dieser Intuition sieht Bunge die Fähigkeit zur geometrischen Intuition an, zur Vorstellung von Abbildern und zur Schaffung von Darstellungen fehlender Objekte. Daraus entsteht das psychologische Verständnis für geometrische Systeme, weil die arithmetischen und algebraischen Operationen durch sinnliche Vorstellungen ersetzt werden. Diese Art der Intuition ist unmittelbar eine solche Vorstellung, die eine Vorstellung mit schöpferischen Elementen oder, wenn man so will, intuitives Denken, in dem sinnliche Abbilder vorherrschen (häufig auch neu geschaffene), reproduziert. Diese Intuition ist als heuristisches Hilfsmittel für das Denken nützlich, sie muß jedoch bei der Schaffung von formalen Theorien mit großer Vorsicht verwandt werden. Als eine Art der Intuition und nützliches heuristisches Mittel wird von Bunge die Fähigkeit zur Bildung von Methaphern erwähnt, und er führt dazu eine Reihe von Beispielen aus der Physik, der Mathematik und anderen Wissenschaften an. Dies ist im Grunde die Fähigkeit, 80 Bunge, M., Intuicija i nauka, a. a. O., S. 97.
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Analogien zwischen Objekten und Prozessen verschiedener Natur herzustellen (Gehirn - Computer, Atomkern - Flüssigkeitstropfen usw.). Eine der philosophisch und psychologisch interessantesten Arten der intellektuellen Intuition ist diejenige, die von Bunge mit der schöpferischen Phantasie identifiziert wird. „Man nennt sie schöpferisch, denn sie ist die Fähigkeit, Begriffe und Begriffssysteme zu schaffen, denen nichts in den Empfindungen zu entsprechen braucht, auch wenn sie selbst eine Entsprechung in der Realität haben sollten, und auch deshalb, weil sie Ideen hervorbringt, die nicht schablonenhaft sind." 81 Diese schöpferische Intuition schafft Hypothesen, neue technische Erfindungen und neue Wege der experimentellen Forschung. Bunge geht jedoch einer gründlichen psychologischen Analyse des Problems aus dem Wege, obwohl er die Hauptetappen bei der Schaffung wissenschaftlicher Theorien logisch richtig und ausführlich darlegt. Positiv an der Analyse der schöpferischen Einbildungskraft als Intuition ist bei Bunge auch, daß er den schöpferischen Prozeß für im wesentlichen rational hält, ohne die Realität und Wichtigkeit von „Einsichten" zu leugnen. Die Intuition spielt eine Rolle im schöpferischen Prozeß, sie darf aber weder in einen Gegensatz zur Logik und zum Denken gebracht noch über das Denken gestellt werden. Hinsichtlich der Rolle der unterbewußten psychischen Prozesse sind die Aussagen Bunges fragmentarisch und nicht tief genug. Im ganzen ist Bunge ein überzeugter Anhänger aktiver Forschungen zur Frage der wissenschaftlichen „Offenbarung" oder der „Vorahnung", die neue Ideen schafft. Er kritisiert Empiriker und Formalisten, weil sie es nicht vermochten, das schöpferische Denken und die Vorstellungskraft nach Gebühr zu bewerten, und den Gedanken der Existenz von Neuem in der Natur oder im menschlichen Verstand für eine Illusion hielten. In diesem Zusammenhang schreibt er: „Daß wir kaum eine Theorie des intellektuellen Schöpfertums besitzen, ist eines der Ergebnisse dieses philosophischen Vorurteils." 82 Vorahnung, intuitive „Erleuchtung" des Bewußtseins, schöpferische Phantasie, Insight oder Antizipation — dies alles ist im Kern derselbe Prozeß der Synthese neuen Wissens, einer neuen hypothetischen Idee aus dem Material der vorausgegangenen Erfahrung. Bunge zeigt überzeugend, daß der schöpferische Prozeß in der Lage ist, Neues zu schaffen — neue Begriffe und Ideen hervorzubringen oder neue Naturgesetze zu finden, die nicht völlig aus bekanntem Wissen hergeleitet 81 Ebenda, S. 108 f. 82 Ebenda, S. 127. 61
werden können. In manchen Fällen „ist der Mensch imstande, neue Begriffe, neue Hypothesen, neue Theorien und neue Weltanschauungen aus völlig unvorbereitetem Rohmaterial zu schaffen. Solche Momente nennen wir schöpferisch"83. Aber auch dabei „entsteht nichts aus dem Nichts. Das ist ein wichtiges ontologisches Prinzip, das in der Wissenschaft vielfältiger illustriert wird und dessen Leugnung zu Mystizismus und Indeterminismus führt."84 Ohne die schöpferische Phantasie kann es weder Wissenschaft noch Kunst geben. Diese Art der intellektuellen Intuition ist also der „Erleuchtung" sehr nahe verwandt. Die psychologische Analyse dieser Erscheinung ist jedoch bei Bunge nicht gründlich und ausführlich genug. Bunge unterscheidet noch mehrere Arten der intellektuellen Intuition: die Intuition als beschleunigte Folgerung (die Intuition Descartes' und anderer Rationalisten); die Intuition als Fähigkeit zur Synthese; die Intuition als gesundes Urteil usw. Uns scheint, daß man bei einer gründlichen Analyse solcher Erscheinungen zu dem Schluß kommen kann, daß sie entweder Erscheinungsformen einer emotional gesättigten Intuition als einer „Erleuchtung" des Bewußtseins durch neue Ideen sind oder aber deren Sonderfälle, in denen einzelne Seiten (zum Beispiel die Emotionalität) reduziert und andere (zum Beispiel der logische Inhalt oder der Grad der Bewußtheit) deutlicher auftreten. Zugleich sind diese Arten der Intuition, wie auch Bunge betont, „die gewöhnlichen Weisen der Wahrnehmung und des Denkens, selbst wenn einige von ihnen bei Wissenschaftlern in entwickelterer Form auftreten; folglich sind sie der psychologischen Erforschung zugänglich"85. Die vorliegende Übersicht über die wichtigsten zeitgenössischen Auffassungen von der intellektuellen Intuition zeigt, daß die Erkenntnisbedeutung dieser Erscheinung hinreichend verstanden ist, daß aber noch sehr wenig konkrete psychologische Ergebnisse darüber gewonnen wurden, wie das intuitive Begreifen unter den konkreten Bedingungen der Aufgabenlösung abläuft. Eben der psychologischen Erforschung der intuitiven Erkenntnis sind die folgenden Kapitel dieser Arbeit gewidmet. 83 Ebenda, S. 129. 84 Ebenda, S. 127. 85 Ebenda, S. 123.
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KAPITEL II
Die intuitive „Erleuchtung" im wissenschaftlichen Schöpfertum
Der Erfolg wissenschaftlicher Arbeit hängt weitgehend von der richtigen Problemwahl ab. Die Wissenschaftsgeschichte zeigt, daß nur jene Wissenschaftler bedeutende Erfolge erzielt haben, die es verstanden, aus der überwältigenden Vielzahl ungelöster Probleme der sich entwickelnden Wissenschaft diejenigen auszuwählen, die entscheidende Bedeutung für die Gesamtproblematik der jeweiligen Wissenschaft besaßen, ihren Kern berührten, und deren Lösung zur Lösung der meisten anderen Probleme führte. Wird hingegen ein zweitrangiges Problem gewählt, so wird seine mehr oder minder vollständige Lösung außerordentlich schwierig, weil die erfolgreiche Lösung vom Auffinden eines neuen Prinzips abhängt, das wiederum nur durch die Lösung des zentralen Problems der Wissenschaft gefunden werden kann. Die Bedeutung der Wahl des wissenschaftlichen Problems liegt also nicht nur darin, daß es der Mentalität des Wissenschaftlers entsprechen muß (dies ist eines der wichtigsten Probleme der Denkpsychologie; nicht umsonst sehen manche Wissenschaftler in der Fähigkeit, ein den eigenen Fähigkeiten adäquates Problem zu wählen, ein wichtiges Moment des schöpferischen Prozesses), sondern im stärkeren Maße hängt es davon ab, daß es als wissenschaftliches Problem eine Schlüsselfrage darstellen muß. Eine der wichtigsten Eigenschaften der großen Gelehrten war ihre Fähigkeit, das Vorliegen eines solchen Problems zu „fühlen", es richtig zu formulieren und häufig auch eine prinzipiell neue Lösung zu finden. Wichtigkeit und Schwierigkeit der Auswahl liegen darin begründet, daß im Anfangsstadium der Wissenschaftsentwicklung häufig alle Probleme gleichwertig erscheinen, so daß es selbst sehr erfahrenen Wissenschaftlern schwerfällt, die wichtigsten davon zu bestimmen. Die adäquate Auswahl eines wissenschaftlichen Problems bildet einen komplizierten und nicht immer völlig bewußten intellektuellen Prozeß (umso mehr, als die objektive und die subjektive Auswahl in einem einheitlichen wechselseitig verflochtenen Prozeß erfolgen). 63
Diese Überlegungen treffen in vollem Umfang auch auf die Problematik der Denkpsychologie zu. Unseres Erachtens ist gegenwärtig eines der wichtigsten Probleme der Denkpsychologie das Problem des plötzlichen Verstehens, des unerwarteten Eintritts der fertigen Lösung eines wissenschaftlichen Problems, was in der Literatur häufig als „Erleuchtung" des Bewußtseins durch ein resultatives Abbild bezeichnet wird. Der Moment des Eintritts der Lösung eines Problems, an dem der Wissenschaftler vorher bewußt gearbeitet hat, ist der wichtigste Moment im gesamten Prozeß der Problemlösung und am stärksten emotional geladen. Die plötzliche intuitive Sicht der gesuchten Korrelationen von Elementen und Beziehungen des Problems scheidet die ungelöste Problemsituation von der objektiv-wissenschaftlich und psychologisch-subjektiven Situation, in der das vorliegende Problem im Grunde gelöst ist. Hier verläuft die Grenzlinie zwischen der Problemsituation, dem Vorhandensein ungelöster Aufgaben, und der Aufhebung der Problemsituation, der Klarheit der Beziehungen zwischen ihren Elementen, ihrer eindeutigen Explikation (im Rahmen des betreffenden Problems). Diese bekannte und natürliche Erscheinung ist von vielen Philosophen in den Rang eines mystischen und unbegreiflichen psychischen Prozesses erhoben worden. Daher halten wir die — sei es auch nur annähernde - Lösung des Problems der „Einsicht" für einen notwendigen Beitrag der Denkpsychologie und der Wissenschaftswissenschaft. Andere Beweise für die Wichtigkeit des genannten Problems werden im weiteren Verlauf der Ausführungen angeführt werden. Das betrifft die Rolle, die die Lösung des Problems der „Einsicht" für die Rekonstruktion des Gesamtverlaufs des Denkprozesses besitzt, dessen Etappen zum Teil unterbewußt sind; das betrifft weiter die Bedeutung einer solchen Lösung für das Verständnis der Besonderheiten des unterbewußten Denkens, die Bedeutung der Lösung dieses Problems für die Begründung einer psychologischen Theorie der intellektuellen Intuition, deren spezieller und effektivster Fall die „Einsicht" ist, die Bedeutung der Lösung dieses Problems für das Verständnis der Struktur der Psyche und für den Aufbau der psychologischen Theorie. Welcherart muß die gnoseologische Position des Psychologen bei der Lösung des Problems des intuitiven, plötzlichen Begreifens sein? Der Naturwissenschaftler geht von der Annahme aus, daß die Naturerscheinungen grundsätzlich erkennbar und gesetzmäßig sind. Nur eine solche Einstellung zu den erforschten Erscheinungen macht die Bemühungen des Wissenschaftlers zweckmäßig und zielstrebig. Damit 64
die Psychologie zur Naturwissenschaft wird, muß der Psychologe ebenfalls von der Erkennbarkeit der Psyche ausgehen, er muß davon überzeugt sein, daß die psychischen Erscheinungen nicht chaotisch, sondern nach bestimmten spezifischen Gesetzen ablaufen, die, obgleich von besonderer Art, nicht minder streng sind als beispielsweise die Gesetze der Physik. Es ist deshalb zwischen wissenschaftlichem Skeptizismus und Agnostizismus zu unterscheiden. Schädlich sind die Äußerungen einiger Psychologen (zum Beispiel K. Jungs), daß,der schöpferische Prozeß nicht erkennbar sei. Was die Erkennbarkeit psychischer Erscheinungen überhaupt angeht, so kann unseres Erachtens die folgende These ein gewichtiges (aber nicht das einzige) Argument zugunsten der positiven Beantwortung dieser Frage bilden: Die Erkenntnis von Erscheinungen der Umwelt ist nur dann möglich, wenn diese Erscheinungen in der Psyche des Wissenschaftlers als entsprechende psychische Erscheinungen dargestellt sind, das heißt, der Erkenntnisprozeß ist nur dann möglich, wenn das erforderliche Niveau der Widerspiegelung der Naturerscheinungen erreicht worden ist, das ausreichendes Material für einen erfolgreichen Verlauf des Denkprozesses liefert. Ohne die ganze Kompliziertheit dieses Problems zu berühren, stellen wir fest, daß die Erkenntnis der Natur begrenzt ist durch die Begrenztheit unserer Möglichkeiten, sie sinnlich widerzuspiegeln. Der Denkprozeß des Naturwissenschaftlers an der Lösung eines Problems kann wegen des Fehlens der notwendigen Fakten zum Stillstand kommen, wenn der Wissenschaftler keine hinreichend zuverlässigen Instrumente zur Gewinnung dieser Fakten besitzt. Etwas anders stellt sich die Situation in der Psychologie dar. In jedem Individuum laufen während seines Lebens im Grunde alle den Menschen eigenen psychischen Prozesse ab, angefangen mit der Empfindung und Wahrnehmung und endend mit solchen Erscheinungsformen der psychischen Aktivität wie dem Denken und der Intuition — und zwar relativ unabhängig von der historischen Epoche, in der der Mensch lebt. Der Psychologe findet sein Material faktisch immer in der Psyche des Menschen, den er untersucht. Denn der Untersuchte ist psychologisch aktiv und besitzt die Möglichkeit, zu erkennen und die unmittelbar verlaufenden psychischen Prozesse zu reproduzieren oder sich an unlängst abgelaufene psychische Prozesse zu erinnern. Diejenigen psychischen Prozesse, die unterbewußt ablaufen, sind beim Individuum ebenfalls im vollen Umfange verfügbar. Die Probleme der Psychologie, die mit den neuen Bedingungen, die infolge der wissenschaftlich-technischen Entwicklung entstanden sind (zum Beispiel die Probleme der Ingenieurpsychologie), sind nur 5 NalSadijan
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als Teilaufgaben innerhalb der fundamentalen Probleme der allgemeinen Psychologie anzusehen. Man kann von ihnen zu den Grundproblemen der Psychologie übergehen, durch ihre Lösung aber nicht die psychologische Wissenschaft aufbauen. Eine prinzipiell richtige Lösung der ingenieurpsychologischen Probleme ist erst möglich, wenn die Grundprobleme der allgemeinen Psychologie gelöst sind. Man muß annehmen, daß die Schwierigkeiten psychologischer Erkenntnis bedingt sind durch den Mangel an psychologischen Methoden bzw. durch deren Unzulänglichkeit. Dies hängt zum Teil auch mit unserer schwach entwickelten Fähigkeit zur Selbstbeobachtung zusammen, geht auf unsere unzureichende Fähigkeit zurück, uns selbst in anderen zu beobachten, das heißt, die äußere, objektive Beobachtung zur Selbsterkenntnis zu nutzen. Als wichtig ist auch zu vermerken, daß die Methode der retrospektiven Introspektion, der Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis auf der Grundlage von Erinnerungen, ausgearbeitet werden muß, da es dem Menschen sehr schwerfällt, den eigenen aktuellen psychischen Prozeß zu verfolgen, was insbesondere Penfield feststellt: „Das .ständig fließende' Bewußtsein macht keine Notizen über sich selbst. .." 1 Die Umgebung, in der der Mensch lebt, verwandelt sich in ein besonderes psychologisches Feld, in dem jede Erscheinung und jeder Gegenstand so oder so die psychischen Eigenschaften des jeweiligen Individuums widerspiegeln. Sie widerspiegeln in sich gewissermaßen die geistigen Eigenschaften des Individuums insbesondere durch jene physischen Einwirkungen, denen sie durch das Individuum ausgesetzt sind. (Der physische Einfluß des Individuums auf andere Individuen und Dinge ist nicht der einzige: Von Menschen formulierte Aussagen, die die Meinungen dieser Menschen über die jeweiligen Dinge widerspiegeln überdauern diese Menschen oft lange, obwohl jene Meinungen durchaus falsch sein können oder unwesentliche Eigenschaften der Dinge ausdrücken. Es ist aber völlig akzeptabel, auf Grundlage dieser Aussagen Schlüsse über die psychischen Eigenschaften dieser Individuen zu ziehen.) Die Umwelt bildet also bis zu einem gewissen Grade einen Spiegel der individuellen Psyche, und je klarer sich die psychischen Eigenschaften des Individuums darin spiegeln, desto weniger vermittelt ist die Beziehung zwischen Individuum und Umwelt. Diese Feststellungen geben Grund zu der Annahme, daß das Problem 1 Penfield, W., Roberts, L., Speech and brain-mechanismus. Hier und im. folgenden zitiert nach der russischen Ausgabe: Penfil'd, V., Roberts, L., Re£' i mozgovye mechanizmy, Leningrad 1964, S. 57.
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der intuitiven „Erleuchtung" (insbesondere im wissenschaftlichen Schöpfertum) als völlig rational und lösbar angesehen werden kann. Dabei muß betont werden, daß das Problem der intuitiven Erkenntnis vor allem ein psychologisches Problem ist und daß seine philosophische Analyse erst dann fruchtbar sein kann, wenn mindestens einige der grundlegenden psychologischen Mechanismen dieser Erkenntnis geklärt sind. Die intuitive Erkenntnis ist eine besondere und sehr wichtige Form des Denkens, die den wissenschaftlichen Fortschritt fördert. Ihre Klärung ist im Interesse einer Beschleunigung der Wissenschaftsentwicklung unumgänglich. Eine so effektive und wichtige Erscheinung wie die intuitive „Erleuchtung" mußte natürlich das Interesse der Naturwissenschaftler, Philosophen und Psychologen finden. Auch Künstler und Schriftsteller haben manches darüber gesagt. Im Hinblick auf die Problemstellung beschränken wir uns im vorliegenden Kapitel darauf, die Ansichten einiger Naturwissenschaftler und Mathematiker darzulegen. Zu den bekanntesten Wissenschaftlern, die den eigenen schöpferischen Prozeß besonders verfolgt und beschrieben haben, gehören Helmholtz, Gauß, Poincaré, Einstein (vor allem in seinen Gesprächen mit Wertheimer, aber auch in seinem Brief an Hadamard), Louis de Broglie und andere. Hadamard widmete der Erforschung einiger Besonderheiten des schöpferischen Denkens eine umfangreiche spezielle Arbeit, in der er die Äußerungen seiner Vorgänger analysiert und Ergebnisse der eigenen Selbstbeobachtung mitgeteilt hat. Mit den obengenannten Gelehrten kommt er einhellig zu dem Schluß, daß das Phänomen des plötzlichen Eintritts von Lösungen wissenschaftlicher Probleme vermittels intuitiver „Erleuchtung" des Bewußtseins existiert und eine überaus wichtige Komponente des Denkprozesses bildet. Diese Autoren, denen eine spezielle psychologische Ausbildung fehlte, haben die Realität der Erscheinung „Einsicht" konstatiert, ihr aber keine erschöpfende psychologische Erklärung gegeben. Für die psychologische Erforschung des Problems sind die Beobachtungen dieser Wissenschaftler dennoch äußerst wertvoll, weil es ungemein schwierig ist, ein Laborexperiment zu organisieren, in dessen Verlauf man diese Erscheinung künstlich hervorrufen und untersuchen könnte. Sie ist schwer vorauszusehen und tritt unter den natürlichen Bedingungen der wissenschaftlichen Arbeit plötzlich auf. Der Psychologe, der sie künstlich hervorrufen will, ist in einer schwierigen Lage. Um eine Naturerscheinung künstlich hervorzurufen, muß man die Mechanismen ihrer Entstehung kennen. Zugleich hat aber dieses Experiment das Ziel, eben diese Mechanismen zu erkennen. Dem Psychologen blei5»
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ben deshalb zwei Auswege. Er kann sich mit einem gewaltigen Zeitverlust. abfinden und geduldig auf das Aufblitzen schöpferischer Kräfte bei der Versuchsperson warten, ohne des Erfolges sicher zu sein. Dabei wird die Versuchsperson kaum ein großer Wissenschaftler sein können. Und selbst wenn die Auslösung einer „Einsicht" gelingt, so kann der Psychologe zwar im allgemeinen ihre äußeren Erscheinungsformen registrieren, muß sich im übrigen aber an die Versuchsperson wenden. Oder aber der Psychologe versucht, die Gesetzmäßigkeiten des Schöpfertums auf der Grundlage von Memoiren großer Wissenschaftler sowie von Ergebnissen spezieller Befragungen zu erforschen, in denen sich die Erinnerungen von Wissenschaftlern an vergangene schöpferische „Einsichten" niederschlagen. Beim gegenwärtig noch sehr geringen Stand unserer Kenntnisse von den Mechanismen des Schöpfertums scheint uns der zweite Weg — dem wir hier auch folgen — erfolgversprechender zu sein. Erst wenn Arbeitshypothesen vorliegen, die zielgerichtete Experimente erlauben, kann das Stadium der experimentellen Erforschung des Schöpfertums beginnen. Die Beobachtungen der Wissenschaftler liefern dem Psychologen nicht nur Rohmaterial für die Forschung. Sie enthalten (so bei Poincaré) auch Versuche, dieses Material von bestimmten psychologischen Konzeptionen her zu deuten. Dabei ist festzustellen, daß die schon von Poincaré vorgenommene Einteilung des schöpferischen Prozesses in Etappen und seine Erklärung durch einen unterbewußten schöpferischen Prozeß in ihren Grundzügen von allen folgenden Interpreten dieser Fakten übernommen wurden. Psychologisch sind jedoch die Beobachtungen der Wissenschaftler bis heute nicht gebührend gedeutet worden. Im Zuge der Problemstellung ist es daher nützlich, ihren Hauptinhalt darzulegen. Allgemein bekannt sind die Worte des deutschen Mathematikers Gauß über die Antizipation: „Meine Resultate habe ich schon lange, ich weiß nur nicht, wie ich zu ihnen kommen werde." 2 Es ist offensichtlich, daß die glänzenden Ergebnisse von Gauß weitgehend seiner genialen Fähigkeit zu verdanken sind, die Resultate der eigenen Untersuchungen intuitiv vorwegzunehmen. Die Fragen des mathematischen Schöpfertums und das Verhältnis zwischen dem logischen und dem intuitiven Weg der Erkenntnis sind ausführlich von einem anderen großen Mathematiker, H. Poincaré, 2 Zitiert n a c h : H a d a m a r d , J., An Essay on the Psychology of Invention the Mathematical Field, New York 1954.
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in
untersucht worden. In der Logik sieht Poincaré nur ein Mittel, um das intuitiv antizipierte Resultat streng zu ordnen. Er schreibt: „Die reine Logik führt uns stets nur zu Wiederholungen, sie kann nichts Neues schaffen, aus ihr allein kann keine Wissenschaft hervorgehen . .., zur Arithmetik sowohl als zur Geometrie oder zu irgendeiner Wissenschaft braucht es noch etwas anderes als die reine Logik. Dies andere zu bezeichnen steht uns nur das Wort Intuition zur Verfügung." 3 Die intuitiv vorweggenommenen Resultate müßten danach auf rein logischem Wege gewonnen werden, sonst dürfe man mit den so gewonnenen Fakten nicht operieren. Für den logischen Beweis des intuitiv antizipierten Resultats könne es jedoch viele Wege geben. „Die reine Analysis stellt uns eine Menge von Verfahren zur Verfügung, für deren Unfehlbarkeit sie uns bürgt; sie öffnet uns tausend Wege, die wir mit vollem Vertrauen betreten können, und bei denen wir sicherlich auf kein Hindernis stoßen; aber welcher von all diesen Wegen wird uns am schnellsten zum Ziele führen? Wer sagt uns, welchen wir wählen sollen? Wir brauchen eine Gabe, die uns von weitem das Ziel sehen läßt, und diese Gabe ist die Intuition. Sie ist dem Forscher nötig, um seinen Weg zu wählen, sie ist dem nicht weniger nötig, der seine Straße zieht und wissen möchte, warum er sie gewählt hat." 4 Poincaré stellt den Forschern also offensichtlich mindestens zwei wichtige psychologische Probleme: das Problem der Antizipationsmechanismen (der menschlichen Fähigkeit, eine heuristische Auswahl der optimalen Wege zur Gewinnung neuen Wissens zu treffen) und das Problem der Existenz von schöpferischen Komponenten bei der Aneignung eines Systems wissenschaftlicher Kenntnisse, das Problem der Notwendigkeit, im Lernprozeß jene Resultate vorwegzunehmen, zu denen die harmonische logische Auslegung des Materials führt. Es ist darauf zu verweisen, daß alle Äußerungen der großen Gelehrten über das wissenschaftliche Schöpfertum Formulierungen der wichtigsten Probleme der Denkpsychologie enthalten (wenngleich diese Formulierungen nicht immer psychologisch präzis und exakt sind). Man kann sagen, daß Poincaré ein Wissenschaftler war, der die Heuristik als besonderes, wichtiges Forschungsgebiet ins Leben gerufen hat. Seine Forschungen sind Vorläufer jener Arbeiten, die heute auf diesem Gebiet geleistet werden und die besonders aktiviert worden sind, seitdem 3 Poincaré, H., Der Wert der Wissenschaft (La valeur de la science [dt.]), Leipzig-Berlin 1910, S. 15. 4 Ebenda, S. 19f.
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die bemerkenswerten Werke des amerikanischen Mathematikers Polya erschienen sind. Poincaré schreibt weiter: „Also hat die Logik sowohl als die Anschauung jede ihre eigene, unentbehrliche Aufgabe. Beide sind notwendig. Die Logik, die allein die Gewißheit geben kann, ist das Werkzeug des Beweises; die Intuition ist das Werkzeug der Erfindung." 5 Ausgehend von diesen Thesen und der Annahme, daß das Verständnis eines mathematischen Textes schöpferische Momente einschließt, stellt Poincaré die Frage : Warum gibt es nun Menschen, denen die Mathematik unzugänglich ist? Wenn die Mathematik ein rein logisches System darstellt, dessen Schlüsse jedem normalen menschlichen Verstand durchaus begreiflich sind, warum erweisen sich dann selbst Menschen, die auf anderen Gebieten Hervorragendes leisten, auf dem Gebiet der Mathematik häufig als völlig hilflos? Poincaré antwortet darauf, daß im Prozeß des mathematischen Schöpfertums eine wichtige Rolle nicht so sehr das Gedächtnis, das Faktenwissen, spiele, als vielmehr das Gefühl für jene Ordnung, in die sich die Elemente fügen müssen, um im Ergebnis zu einer gewissen Harmonie zu kommen. In seiner berühmten Pariser Vorlesung über das mathematische Schöpfertum vor den Mitgliedern der Französischen Psychologischen Gesellschaft sagte Poincaré: „Ein mathematischer Beweis ist nicht eine einfache Aufeinanderfolge von Syllogismen, sondern es handelt sich dabei um Syllogismen, die in eine gewisse Ordnung gebracht sind, und die Ordnung, in welcher die einzelnen Elemente hier erscheinen, ist viel wichtiger als diese Elemente selbst. Wenn ich die Intuition, das heißt das Gefühl für diese Ordnung besitze, so kann ich mit einem Blicke das Ganze der Beweisführung überschauen und brauche nicht zu fürchten, ein einzelnes Element zu vergessen; jedes Element wird sich von selbst an den Platz stellen, für den es bestimmt war, ohne daß ich irgendwie mein Gedächtnis anzustrengen brauche." 6 Poincaré meint hier offensichtlich die intellektuelle, insbesondere die eidetische, nicht aber die sinnliche Intuition, obwohl er in dieser Arbeit an keiner Stelle darauf hinweist, welche Art er meint. Schöpfertum ist nach Poincaré richtig vorgenommene Auswahl. Und da die bekannten Elemente der Problemsituation eine gewaltige Anzahl von Verbindungen ergeben können, von denen nur eine die gesuchte ist, so kann die mühselige Überprüfung aller möglichen Varian5 Ebenda, S. 21. 6 Poincaré, H., Wissenschaft und Methode, Stuttgart 1973, S. 38f.
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ten (die auch ein weniger begabter, aber fleißiger Wissenschaftler vornehmen kann) nur sehr selten zur Entdeckung der gesuchten einzigen Beziehung führen. Das Gefühl der Harmonie, das intuitive Erfassen der einzig richtigen Kombination der Elemente eines Problems, bildet nach Poincaré das Hauptmerkmal mathematischer Begabung. „Nicht jeder kann offenbar diese Intuition, dieses Gefühl für mathematische Ordnung besitzen, welches uns verborgene Relationen und Harmonien erraten läßt."7 Das Studium der Besonderheiten des wissenschaftlichen Schöpfertums zeigt, daß eine der wertvollsten und erstaunlichsten Fähigkeiten des menschlichen Denkens die Fähigkeit ist, eine heuristische Auswahl zu treffen. Poincaré weist mehrfach auf diesen Umstand hin. „Erfinden heißt ausscheiden, kurz gesagt: auswählen."8 Interessant ist dabei, daß der Mensch gewissermaßen automatisch, einem unterbewußten Gefühl folgend, unnötige und unrichtige Kombinationen verwirft. „Die unfruchtbaren Kombinationen", schreibt Poincaré, „werden von dem Geist des Erfinders gar nicht beobachtet. Ihm kommen nur die wirklich nutzbringenden Kombinationen zum Bewußtsein und einige andere, die er zwar verwirft, die aber etwas vom Charakter dieser nutzbringenden Kombinationen an sich haben."9 Dieser Gedanke Poincarés kann nur bedingt akzeptiert werden. Wie sollte man sonst erkären, daß selbst Wissenschaftler, die über eine feine Intuition verfügen, oft grob irren, oder warum häufig Tausende Versuche nötig sind, um ein einziges positives Ergebnis zu erzielen (man denke zum Beispiel an die Erfahrungen Edisons). Wie arbeitet nun aber die schöpferische Intuition konkret, und was muß hier den Psychologen am meisten interessieren? „ . . . für den Psychologen ist nicht das Theorem interessant, sondern die Umstände, 7 Ebenda, S. 39. Poincaré schreibt weiter, daß man mit einem ausgezeichneten Gedächtnis und schwacher Intuition sich zwar die Mathematik aneignen und sie sogar anwenden kann, aber sie sind außerstande, in der Mathematik selbst etwas zu schaffen. Wer weder über Intuition noch über ein gutes Gedächtnis verfüge, könne überhaupt kein Mathematiker werden. Manche „besitzen die von mir erwähnte Intuition in größerem oder geringerem Grade, und dann können sie die Mathematik nicht nur verstehen, selbst wenn ihr Gedächtnis nicht besonders stark ist, sondern sie können auch schöpferisch tätig sein und mit größerem oder geringerem Erfolge versuchen, Neues zu finden, je nachdem ihre Intuitionsgabe mehr oder weniger entwickelt ist" (ebenda, S. 39). 8 Ebenda, S. 40. 9 Ebenda, S. 41.
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unter denen es gefunden wurde."10 Dann geht er dazu über, Fälle aus der eigenen Praxis zu beschreiben, in denen er die Lösungen mathematischer Aufgaben im Ergebnis einer plötzlichen „Einsicht" gefunden hatte. Poincarés Beschreibung des schöpferischen Prozesses ist die vollständigste aller uns vorliegenden ; wir halten es deswegen für nützlich, sie hier in vollem Umfang anzuführen. „Seit vierzehn Tagen mühte ich mich ab, zu beweisen, daß es keine derartigen Funktionen gibt, wie doch diejenigen sind, die ich später Fuchssche Funktionen genannt habe; ich war damals sehr unwissend, täglich setzte ich mich an meinen Schreibtisch, verbrachte dort eine oder zwei Stunden und versuchte eine große Anzahl von Kombinationen, ohne zu einem Resultat zu kommen. Eines Abends trank ich entgegen meiner Gewohnheit schwarzen Kaffee, und ich konnte nicht einschlafen : die Gedanken überstürzten sich förmlich ; ich fühlte ordentlich, wie sie sich stießen und drängten, bis sich endlich zwei von ihnen aneinanderklammerten und eine feste Kombination bildeten. Bis zum Morgen hatte ich die Existenz einer Klasse von Fuchsschen Funktionen bewiesen, und zwar derjenigen, welche aus der hypeigeometrischen Reihe ableitbar sind ; ich brauchte nur noch die Resultate zu redigieren, was in einigen Stunden erledigt war." Eine gewisse Zeit arbeitete Poincaré bewußt und entdeckte die Möglichkeit, diese Funktionen durch Reihen darzustellen, die er tetafuchssche Reihen nannte. „In diesem Momente verließ ich Caen", schreibt Poincaré weiter, „wo ich damals wohnte, um mich an einer . . . geologischen Exkursion zu beteiligen. Die Wechselfälle der Reise ließen mich meine mathematischen Arbeiten vergessen; nach Ankunft in Coutances stiegen wir zu irgendeiner gemeinsamen Fahrt in einen Omnibus; als ich den Fuß auf das Trittbrett setzte, kam mir, ohne daß meine Gedanken irgendwie darauf vorbereitet waren, die Idee, daß die Transformationen, welche ich zur Definition der Fuchsschen Funktionen benutzte, mit gewissen Transformationen der nichteuklidischen Geometrie identisch seien." Hier sei angemerkt, daß Poincaré besser gesagt hätte: „Ich war durch keinen der unmittelbar vorausgehenden Gedanken darauf vorbereitet" ; denn Gedanken über die Transformationen dei nichteuklidischen Geometrie hatte er natürlich irgendwann gehabt. „Damals konnte ich das nicht verifizieren", fährt Poincaré fort, „dazu hatte ich keine Zeit, denn kaum hatten wir im Omnibus Platz genommen, so beteiligte ich mich an der allgemeinen Konversation, und doch hatte ich die volle 10 Ebenda, S. 41.
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Gewißheit von der Richtigkeit meiner Idee. Nach Caen zurückgekehrt, verifizierte ich das klare Resultat zur Beruhigung meines Gewissens. Damals beschäftigte ich mich sodann mit arithmetischen Fragen, ohne bemerkenswerte Resultate zu erlangen und ohne zu ahnen, daß diese Fragen mit meinen früheren Untersuchungen irgendwie im Zusammenhang stehen könnten. Durch meinen Mißerfolg entmutigt, ging ich für einige Tage an die Meeresküste und ich dachte an ganz andere Dinge. Mit derselben charakteristischen Kürze, Plötzlichkeit und unmittelbaren Gewißheit kam mir eines Tages beim Spaziergang über die Klippen der Gedanke, daß die arithmetischen Transformationen der ternären quadratischen Formen identisch seien mit den Bewegungen der nichteuklidischen Geometrie." (Hervorhebung — A. N.) Bedauerlicherweise präzisiert Poincaré nicht, was das für Gedanken waren. Dem Ton seiner Erzählung nach — er sagt, sein Kopf sei mit „ganz anderen Dingen" beschäftigt gewesen — kann man vermuten, daß diese Gedanken rein persönlichen Charakter trugen. „Nach Caen zurückgekehrt", erzählt Poincaré weiter, „dachte ich über dieses Resultat weiter nach und verfolgte die sich daraus ergebenden Konsequenzen ; das Beispiel der quadratischen Formen zeigte mir, daß es noch andere Fuchssche Gruppen gäbe als diejenigen, welche der hypergeometrischen Reihe entsprechen; ich sah, daß man auf sie die Theorie der Fuchsschen Theta-Reihen anwenden könne und daß folglich noch andere Fuchssche Funktionen existierten als diejenigen, welche aus der hypergeometrischen Reihe entstehen und welche mir bis dahin allein bekannt waren. Ich nahm mir natürlich vor, alle möglichen Funktionen dieser Art zu bilden ; ich begann eine systematische Belagerung und eroberte nacheinander alle Außenwerke; nur eines war scheinbar uneinnehmbar, und der Fall gerade dieses Werkes müßte den Fall der ganzen Festung nach sich ziehen. Alle meine Anstrengungen indessen dienten zunächst nur dazu, mich die zu überwindende Schwierigkeit besser erkennen zu lassen. Und das war immerhin etwas. Bei allen diesen Arbeiten ging ich systematisch vor und war mir der Bedeutung jedes einzelnen Schrittes bewußt. Darauf mußte ich mich auf dem Mont-Valérien zu einer militäiischen Dienstzeit stellen. Dort hatte ich natürlich eine ganz andere Beschäftigung. Bei einem Gang über den Boulevard erschien eines Tages plötzlich die Lösung der Schwierigkeit, an welcher ich haltgemacht hatte, vor meinem geistigen Auge. Damals konnte ich diese Lösung nicht sofort ganz durchdenken, und erst nach Beendigung meiner militärischen Übung nahm ich die Frage wieder auf. Alle Elemente waren bereit, und ich brauchte sie nur zusammenzufassen und zu ordnen. Die endgültige
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Redaktion konnte ich deshalb in einem Zuge und ohne weitere Anstrengung herstellen." 11 (Hervorherbung - A. N.) Diese Beobachtungen eines hervorragenden Mathematikers sind für die Psychologie von großem Wert und sind wiederholt von zahlreichen Psychologen zitiert worden. Es gibt aber bedauerliche Lücken in diesen Beschreibungen : Es fehlen Angaben darüber, welche Gedanken den Wissenschaftler in den Tagen, Stunden und Minuten beschäftigten, die dem Moment der „Einsicht" vorausgingen. Poincaré bemerkt nur, daß sie mit den plötzlich auftauchenden Ideen nichts gemein hatten. Bedauerlich ist auch, daß Poincaré nichts von seinem emotionalen Zustand in den Perioden berichtet, die der Entdeckung vorangingen. Poincaré begnügt sich nicht damit, die Umstände zu beschreiben, unter denen seine Entdeckungen erfolgten, und festzustellen, daß sie plötzlich, intuitiv geschahen und er im Moment der Entdeckung das Gefühl vollen Vertrauens in die Richtigkeit der gewonnenen Resultate hatte. Er versucht auch, die von ihm beschriebenen Vorgänge zu deuten. Poincaré unterscheidet vier Perioden des schöpferischen Denkprozesses, der zur Lösung eines bestimmten Problems führt. Die erste, die vorbereitende Periode bewußter Arbeit, ist absolut notwendig, um die Voraussetzungen für die Problemlösung zu schaffen. In dieser Periode formuliert der Wissenschaftler das Problem und versucht es auf verschiedenen Wegen zu lösen. Die zweite Periode beginnt, wenn die bewußte Arbeit an der Aufgabenlösung beendet worden ist, und dauert bis zum Moment der intuitiven „Erleuchtung" des Bewußtseins durch das fertige Resultat. Dies ist nach seiner Meinung die Periode, in der die unbewußten psychischen Kräfte aktiv sind. Das Ergebnis der Aktivität dieser unbewußten Kräfte ist die dritte Periode des schöpferischen Prozesses, die plötzliche „Erleuchtung" des Bewußtseins. „Das Auftreten dieser plötzlichen Erleuchtung ist sehr überraschend", schreibt Poincaré, „wir sehen darin ein sicheres Zeichen für eine vor auf gegangene, lange fortgesetzte unbewußte Arbeit; die Wichtigkeit solch unbewußter Arbeit für die mathematische Erfindung ist unbestreitbar, in anderen weniger klaren Fällen wird man Ähnliches nachweisen können." Ohne die unleugbare Tatsache zu bestreiten, daß für die Vorbereitung der „Erleuchtung" auch die Erholung des Nervensystems nach der angestrengten bewußten Arbeit eine wichtige Rolle spielt, stellt Poincaré fest: „Aber es ist wahrschein11 Ebenda, S. 43 f.
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lieher, daß die Zeit der Ruhe durch unbewußte Arbeit ausgefüllt wurde . . ." " Die vierte Periode der schöpferischen Arbeit ist nötig, um die intuitiv erhaltenen Resultate zu ordnen und ihnen eine logisch harmonische Form zu geben. Diese Periode ist, so nimmt Poincaré an, völlig bewußt. Wir finden bei Poincaré eine sehr wertvolle Bemerkung über die Umstände, unter denen der Prozeß der „Einsicht" abläuft. Erstaunlicherweise findet diese Bemerkung bei vielen Psychologen kaum die gebührende Beachtung: „. . . nur tritt eine solche Offenbarung nicht gerade während eines Spazierganges oder einer Reise ein, sondern sie macht sich auch während einer Periode bewußter Arbeit geltend, aber dann unabhängig von dieser Arbeit, und letztere wirkt höchstens wie eine Auslösung, sie ist gleichsam der Sporn, welcher die während der Ruhe erworbenen, aber unbewußt gebliebenen Resultate, die Resultate antreibt, die bewußte Form annehmen". Wichtig ist an dieser Bemerkung, daß die Möglichkeit der „Einsicht" auch während bewußter Arbeit behauptet wird. Freilich ist zu präzisieren, in welcher Beziehung diese bewußte Arbeit zur Lösung des vorliegenden Problems steht. Wenn es sich um Arbeit ganz anderer Art handelt, so kann Poincarés Schluß, sie diene nur als Anregung für die Bewußtwerdung der unbewußt gebildeten Resultate, als im Prinzip richtig angesehen werden. Wenn dagegen bewußt an der Lösung desselben Problems gearbeitet wird, so ist diese Arbeit schon mehr als bloße Anregung. Poincaré berücksichtigt nicht den prinzipiell wichtigen Umstand, daß während der bewußten Arbeit parallel und mit ihr verflochten auch die unterbewußte Arbeit geleistet wird. Deshalb schließen erstens Bewußtsein und Unterbewußtsein einander in keiner Weise aus. Und zweitens unterscheidet sich die im Ergebnis dieser komplizierten bewußt-unterbewußten Arbeit erlangte Lösung des Problems äußerlich wenig von einer Lösung, die nach Einstellung der bewußten Tätigkeit plötzlich eingetreten ist. Die Einheit der Psyche normaler Individuen ist die Grundlage für das gleichzeitige Funktionieren der verschiedenen Sphären der Psyche, und es kann nur darum gehen, welchen relativen Anteil jede dieser Sphären am jeweiligen konkreten Denkprozeß besitzt. Bei einer Anzahl von Psychologen und Biologen herrschte lange Zeit die Meinung, wissenschaftliche Entdeckungen trügen zufälligen Cha12 Ebenda, S. 44. 13 Ebenda, S. 44 f.
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rakter und hingen nur von den persönlichen Eigenschaften des Gelehrten ab. 14 So schrieb zum Beispiel Nicolle: „Der Erfinder kennt weder Umsicht noch Vorsicht, noch ihre kleine Schwester, die Zauderei. Er untersucht nicht und befaßt sich nicht mit Sophistik. Er stürzt sich sofort auf das unerforschte Gebiet und besiegt es durch eben diesen Akt. Das von Nebel verhüllte Problem, das im gewöhnlichen schwachen Licht nicht sichtbar war, wird plötzlich wie durch einen Blitz erleuchtet. Und dann wird eine neue Schöpfung geboren. Ein solcher Akt ist weder der Logik noch der Vernunft verpflichtet . . . Der Akt der Entdeckung ist reines Akzidens." 15 Diese Schlußfolgerungen Nicolies gründen sich augenscheinlich in erster Linie auf eine (leider inadäquate) Analyse des Schaffens von Pasteur. In dieser Hinsicht ist es richtig und wertvoll, daß Poincaré die Wichtigkeit der bewußten Arbeit besonders hervorhebt. Er schreibt: „Über die Bedingungen der unbewußten Arbeit muß ich noch folgendes bemerken : diese Arbeit ist nicht möglich und jedenfalls niemals fruchtbar, wenn ihr nicht eine Periode bewußter Arbeit vorangeht und eine andere solche Periode ihr folgt. . . . Derartig plötzliche Inspirationen (kommen) nur nach tagelangen bewußten Anstrengungen vor, die gänzlich unfruchtbar zu sein schienen und bei denen man die Hoffnung, etwas zu erreichen, schon vollständig aufgegeben hatte. Diese Anstrengungen waren also nicht so unfruchtbar, wie man zu glauben geneigt war, sie haben die Maschine der unbewußten Arbeit in Schwung gebracht, und ohne sie wäre diese Maschine nicht in Gang gekommen und hätte nichts leisten können." 16 Äußerst interessant sind die Ansichten Poincarés über den Charakter der unbewußten psychologischen Mechanismen, die nach seiner Ansicht die Hauptrolle bei der Erarbeitung von neuen, originellen Ideen spielen. Schöpfertum sei richtige Auswahl. „Die Regeln, nach denen eine solche Auswahl getroffen werden muß, sind ungemein fein und subtil, und es ist fast unmöglich, sie in genauer Fassung wiederzugeben : sie lassen sich mehr fühlen als formulieren . . ." 17 Wie stellt sich Poincaré nun das Unterbewußte vor? „Das sublime Ich steht keineswegs tiefer als das bewußte Ich, es arbeitet nicht rein automatisch, es hat die Fähigkeit zu unterscheiden, es hat Feingefühl; es kann auswählen, 14 Vgl. Souriau, P., Theorie de l'invention, Paris 1881; Nicolle, Ch., Biologie de l'invention, Paris 1932. 15 Zitiert nach: Bernätein, M. S., O prirode nauinogo tvoriestva, in: Voprosy filosofa, 6/1966, S. 135. 16 Poincaré, H., Wissenschaft und Methode, a. a. O., S. 45. 17 Ebenda, S. 46.
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es kann ahnen» Es kann sogar besser ahnen als das bewußte Ich, denn es hat dort Erfolg, wo jenes versagt. Steht nun deshalb das sublime Ich über dem bewußten Ich? Man begreift die ganze Wichtigkeit dieser Frage." 18 Die letzte Frage ist offenbar falsch gestellt. Sie kann nur richtig gestellt werden, wenn man von der Genesis des Unterbewußten ausgeht und präzisiert, in welcher Hinsicht eine dieser beiden untrennbaren Sphären der Psyche die andere zu übertreffen vermag. Welcherart ist aber nach Poincaré der Hauptmechanismus für die Auswahl der nötigen Kombination? „. . . alle Kombinationen (werden) durch die automatische Tätigkeit des sublimen Ich gebildet, aber nur diejenigen, welche für das gestellte Ziel von Interesse sind, dringen in das Gebiet des Bewußtseins ein." 19 Das ist eine sehr interessante Annahme, und die Ursache dieser Erscheinung (wenn es letztere tatsächlich gibt) muß in dem vom Wissenschaftler erreichten Grad der ursprünglichen bewußten Analyse des Problems gesucht werden. Das Kriterium der Nützlichkeit der ausgewählten Kombination muß jedoch, wenn es den Hauptmechanismus der unbewußten Auswahl bildet, eine besondere Form annehmen; es muß sozusagen über eine Sprache verfügen, die der Psyche verständlich ist, aus der zeitweilig das Bewußtsein ganz oder teilweise ausgeschlossen ist. Poincaré fühlt die Bedeutung dieser Frage und bemüht sich, das Hauptprinzip für die Auswahl und den Übergang einer bestimmten Kombination von Problemelementen ins Bewußtsein zu formulieren. „Wie kommt es", fragt er, „daß unter den tausend Produkten unserer unbewußten Tätigkeit einige dazu berufen sind, die Schwelle zu überschreiten, während andere draußen bleiben müssen? Wird ihnen dieses Privilegium einfach durch den Zufall übertragen? Offenbar nicht; von allen Sinnesreizen werden z. B. nur die stärksten unsere Aufmerksamkeit erregen und fesseln, es sei denn, daß diese Aufmerksamkeit durch andere Ursachen auch auf die schwachen gelenkt wird. So gilt allgemein das Folgende: Die bevorzugten unbewußten Erscheinungen, welche befähigt sind, ins Bewußtsein zu treten, sind diejenigen, welche unsere Sensibilität direkt oder indirekt am tiefsten beeinflussen." 20 Welche Kombinationen sind nun aber imstande, am nachhaltigsten auf unsere Gefühle zu wirken? Poincaré meint, daß dies harmonische, geordnete Kombinationen sind, die auf das Vorhandensein einer Regel hinweisen. Er ist überzeugt, daß dieses Prinzip allein genügt, um die Mechanismen 18 Ebenda. 19 Ebenda, S. 47. 20 Ebenda.
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des Schöpfertums zu verstehen, und meint daher, daß das Fehlen dieses speziellen ästhetischen Gefühls viele Menschen daran hindert, in der Mathematik zu echten Schöpfern zu werden. Poincaré berücksichtigt nicht den besonderen Charakter des menschlichen Bewußtseins, das sich unter den Bedingungen des sozialen Lebens herausgebildet hat. Deshalb analysiert er auch die Ursachen dafür, daß gerade der Einfluß des Unterbewußten (das er ständig mit dem Unbewußten verwechselt) eine so hervorragende Rolle bei wissenschaftlichen Entdeckungen spielt, nicht tiefer. Anstatt die Bedeutung der Wahrhaftigkeit unterbewußt gebildeter Kombinationen und ihr Verhältnis zum Bewußtsein, das der Hauptträger der festgestellten Paradigmen der jeweiligen Wissenschaft ist, speziell zu analysieren, hält Poincaré, der auf den Positionen des Konventionalismus steht, das subjektive ästhetische Kriterium für das einzige und bemüht sich, auf dieser Basis die grundlegenden Thesen einer Theorie des schöpferischen Denkens zu formulieren. Daher erfährt die folgende sehr scharfsinnige Bemerkung keine Entwicklung : „Im sublimen Ich. . . dagegen herrscht, was ich Freiheit bezeichnen möchte, wenn man dieses Wort für das einfache Fehlen der Disziplin und für die aus dem Zufall entstehende Unordnung anwenden daif. Gerade diese Unordnung gestattet andererseits neue unerwartete Verkettungen."21 Im weiteren Verlauf der Darlegung werden wir uns noch mehrfach auf Äußerungen Poincarés über den Charakter des schöpferischen Prozesses beziehen. An dieser Stelle möchten wir nun anmerken, daß jene Kritiker Poincarés (zum Beispiel der amerikanische Mathematiker Eric T. Bell22) unrecht haben, die meinen, daß Poincarés Exkurse in das Gebiet der Psychologie der Erfindung zum Verständnis der Mechanismen des Schöpfertums nichts beitragen. Die weitere Entwicklung der Psychologie des Schöpfertums hat gezeigt, daß für viele Psychologen, die den Prozeß des wissenschaftlichen Schöpfertums untersuchten, Poincarés Gedanken den Ausgangspunkt bildeten. Poincaré hat in der Tat als erster in der Geschichte der Wissenschaft die Bedingungen und Mechanismen des schöpferischen Prozesses gründlich erörtert. Überaus interessant sind die Beobachtungen, die Helmholtz in seiner Rede auf der Generalversammlung der Goethe-Gesellschaft 1892 mitgeteilt hat. 23 21 Ebenda, S. 52. 22 Bell, E., Die großen Mathematiker (Men of Mathematics [dt.]), Düsseldorf-Wien 1967. 23 Helmholtz, H. v., Philosophische Vorträge und Aufsätze, Berlin 1971, S. 14f.
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„Da ich aber ziemlich oft in die unbehagliche Lage kam, auf günstige Einfälle harren zu müssen, habe ich darüber, wann und wo sie mir kamen, einige Erfahrungen gewonnen, die vielleicht anderen noch nützlich werden können. Sie schleichen oft genug still in den Gedankenkreis ein, ohne daß man gleich von Anfang ihre Bedeutung erkennt; später hilft dann zuweilen nur noch ein zufälliger Umstand, um zu erkennen, wann und unter welchen Umständen sie gekommen sind; sonst sind sie da, ohne daß man weiß, woher. In anderen Fällen aber treten sie plötzlich ein, ohne Anstrengung, wie eine Inspiration. Soweit meine Erfahrung geht, kamen sie nie dem ermüdenden Gehirne und nicht am Schreibtisch. Ich mußte immer erst mein Problem nach allen Seiten so viel hin- und hergewendet haben, daß ich alle seine Wendungen und Verwicklungen im Kopfe überschaute und sie frei, ohne zu schreiben, durchlaufen konnte (Hervorhebung — A. N.). Es dahin zu bringen, ist ohne längere vorausgehende Arbeit meistens nicht möglich. Dann mußte, nachdem die davon herrührende Ermüdung vorübergegangen war, eine Stunde vollkommener körperlicher Frische und ruhigen Wohlgefühls eintreten, ehe die guten Einfälle kamen. Oft waren sie wirklich den zitierten Versen Goethes entsprechend, des Morgens beim Aufwachen da, wie auch Gauß einst angemerkt hat. Besonders gern aber kamen sie . . . bei gemächlichem Steigen über waldige Berge in sonnigem Wetter." 24 Was den von uns hervorgehobenen Teil des Zitats betrifft, so ist es sehr wichtig, auf Helmholtz' Irrtum hinzuweisen, man könne im Prozeß der ursprünglichen, bewußten Problemanalyse das Problem von allen Seiten betrachten und alle möglichen Varianten der Problemelemente bilden. Wäre dies möglich, dann würde das Problem bereits in dieser Etappe gelöst und es bedürfte keiner „Erleuchtung" des Bewußtseins. Vergleicht man diese kurzen Bemerkungen von Helmholtz mit Poincarés Beobachtungen, so stellt sich heraus, daß sie in den Hauptpunkten (Notwendigkeit vorheriger bewußter Arbeit, Erholungsperiode, „Erleuchtung" des Bewußtseins usw.) identisch sind. So wurden sie auch von den damaligen Psychologen verstanden, und ebenso versteht man sie auch heute. Nach diesen klassisch gewordenen Beobachtungen von Helmholtz und Poincaré erschienen zahlreiche Äußerungen anderer bekannter Wissenschaftler. Auf der Grundlage der von ihm 1943 in den USA ge24 Diese Gedanken kommen den Ansichten Poincarés außerordentlich. nahe. 79-
haltenen Vorlesungen über das mathematische Schöpfertum schrieb der französische Mathematiker J. Hadamard eine Arbeit, in der er die bekannten Fakten zu systematisieren versuchte und sie mit eigenen Beobachtungen ergänzte.25 Hadamard bestätigt im wesentlichen die Gedanken Poincarés, versucht sie weiterzuentwickeln und untermauert sie durch neue Fakten. Er gelangt zu der Schlußfolgerung, daß eine Entdeckung richtige Auswahl sei; diese Auswahl geschehe unter der entscheidenden Einwirkung des Gefühls der Schönheit (das ästhetische Gefühl in der Wissenschaft). Hinsichtlich der Auswahl von wissenschaftlichen Problemen durch den Wissenschaftler behauptet Hadamard, der Wissenschaftler treffe diese Auswahl in den theoretischen Wissenschaften - und insbesondere in der Mathematik — mit Hilfe der subjektiven Empfindung für die Schönheit des Problems, und diese Empfindung sei bei jedem Wissenschaftler verschieden. Hadamard illustriert diese These mit einer Reihe von Beispielen aus •der eigenen Praxis sowie aus der Praxis anderer Wissenschaftler. Mehr noch, er behauptet: 1. Wenn ein Wissenschaftler über dieses Gefühl nicht verfügt, so ist er nicht imstande, sich mit den Kernproblemen der Wissenschaft zu befassen; 2. die Unterschätzung dieses Gefühls ist manchmal die Ursache dafür, daß sich ein Wissenschaftler mit unbedeutenden Fragen beschäftigt und die wichtigsten Probleme nicht beachtet. Sehr wichtig ist Hadamards Schlußfolgerung, daß dieser Prozeß im allgemeinen unbewußt ablaufe. Es ist festzustellen, daß bei der Beurteilung des ästhetischen Gefühls im wissenschaftlichen Schöpfertum Hadamard mit seiner Behauptung, die Lösung wissenschaftlicher Probleme erfolge mit Hilfe dieses Gefühls, weniger subjektiv und kategorisch ist als zum Beispiel Poincaré. Auch Hadamard unterscheidet vier Hauptstufen im schöpferischen Prozeß des Wissenschaftlers: den Prozeß der Vorbereitung (der bewußten Problemstellung und der Analyse), die Inkubationsperiode (unbewußte Analyse und Auswahl), die Periode der „Einsicht" und die Periode der anschließenden bewußten Arbeit an der Ordnung der gewonnenen Resultate sowie der Herstellung einer logischen Kette, die zur Entdeckung führt. Hinsichtlich der Vorbereitungsperiode stimmt er mit Poincaré über«in, daß sie notwendig ist, wendet sich aber mit noch größerer Schärfe 25 Hadamard, J A n Essay on the Psychology matical Field, New York 1954.
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of Invention
in the Mathe-
gegen die Anhänger der Theorie von der Zufälligkeit wissenschaftlicher Entdeckungen. Allerdings berücksichtigt Hadamard die bekannten Fakten und bestreitet nicht, daß der Zufall (die Entdeckung der Radioaktivität usw.) bei wissenschaftlichen Entdeckungen eine gewisse Rolle spielt. Die zweite Periode ist nach Hadamard die wichtigste. Im Verlauf einer gewissen Zeit nach Beendigung des bewußten vorbereitenden Prozesses (Problemstellung und Analyse) „inkubierten" die unbewußten psychischen Mechanismen die Lösung des Problems. Dabei teilt Hadamard mit 26 , er habe häufig die Problemlösung auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, und rät dasselbe den jungen Wissenschaftlern. Die Psyche darf während dieser Zeit jedoch nicht von jeglichen Problemen befreit sein. Für eine erfolgreiche wissenschaftliche Arbeit ist es nützlicher, ein Problem zurückzustellen, um die Arbeit an einem anderenProblem wiederaufzunehmen. Hadamard bemerkt zu Recht, daß die Frage nach dem Wechsel der Forschungsprobleme für die Psychologie nicht minder interessant als die Frage nach der „Erleuchtung" (illuminaiion) ist. Hadamard ist sich klar über die außerordentliche Kompliziertheit von Struktur und Aktivität der unbewußten Psyche, die er, Dewey folgend, „fringe-consciousness" (Grenzbewußtsein) nennt. Er hält das Unbewußte für vielschichtig, während das Bewußtsein seiner Meinung nach einschichtig ist. Dabei stimmt er der folgenden Bemerkung Einsteins zu, die in einem Brief an Hadamard enthalten ist: „Mir scheint, daß das, was sie volles Bewußtsein nennen, ein Extremfall ist, der niemals ganz erreicht werden kann. Das scheint mir mit der Tatsache zusammenzuhängen, die Enge des Bewußtseins genannt wird." 27 Indem er die Bedeutung und Fruchtbarkeit einer zeitweiligen Zurückstellung der Probleme betont, damit sie „reifen" könnten, kommt Hadamard unmittelbar einem außerordentlich bedeutsamen theoretischen und praktischen Problem nahe: der Frage nämlich, wie die Intuition, die schöpferischen Fähigkeiten des Wissenschaftlers entwickelt werden können, wie die Prinzipien für die beste Ausbildung von Wissenschaftskadern aussehen sollten. Weder bei Poincaré noch bei Helmholtz oder anderen Wissenschaftlern und Psychologen ist ein deutliches Verständnis für dieses Problem zu finden. Der erste positive Schritt in dieser Richtung muß die Einsicht sein, daß unvollständige, problematische Situationen, indem sie einen angespannten Zustand der Psyche schaffen, zugleich das Bestreben der Psyche auslösen, diese 26 Ebenda, S. 9. 27 Ebenda, Anhang. 6 NalSadijan
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Spannung zu beseitigen, und damit die psychischen Kräfte aktivieren. Unvollständige Strukturen prägen sich unter gleichen Bedingungen leichter ein und lassen sich leichter reproduzieren, als wenn jedesmal aus dem Strom neuer Informationen die fehlenden Elemente neu ausgewählt werden müssen. Je stärker ein Wissenschaftler sich mit Problemen befaßt, desto mehr Chancen hat er, einen Moment der intuitiven „Erleuchtung" zu erleben. Im Zusammenhang mit der Kompliziertheit und Vielschichtigkeit des Unbewußten führt Hadamard Beispiele von unbewußten Aufgabenlösungen an, die gewissermaßen auf verschiedenen Ebenen erfolgten. Manchmal läuft nach Hadamards Ansicht das unbewußte Denken in solchen Tiefen der Psyche ab, daß sich das Individuum dessen überhaupt nicht bewußt ist und keinerlei Erinnerungen daran bewahrt. „Eine bemerkenswerte Beobachtung ist durch den bekannten amerikanischen Mathematiker Leonard Eugene Dickson mitgeteilt worden, der für ihre Genauigkeit bürgt. Seine Mutter und deren Schwester, die in der Schule im Fach Geometrie Rivalinnen waren, verbrachten einen langen und fruchtlosen Abend über der Lösung einer Aufgabe. Nachts träumte seine Mutter von dieser Aufgabe und begann mit lauter und deutlicher Stimme ihre Lösung fortzusetzen; die Schwester, die das hörte, stand auf und machte sich Notizen. Am nächsten Morgen hatte sie in der Klasse die richtige Lösung, die der Mutter Dicksons unbekannt war." 28 Dieses Beispiel gehört zu den sogenannten mathematischen Träumen. Ein anderes derartiges Beispiel, in dem die Lösung der Aufgabe absolut außerhalb der Bewußtseinssphäre erfolgte, führt Hadamard aus der eigenen Erfahrung an. Als er einmal plötzlich erwachte, fand er in seinem Bewußtsein die lange gesuchte Lösung eines Problems. Die Idee sei ohne jegliche Überlegungen erschienen und keineswegs aus der Richtung, aus welcher er sie erwartet habe. Zur gleichen Kategorie gehören zahlreiche andere Beispiele, auf die sich Hadamard beruft. Eine andere Beobachtungsreihe macht deutlich, daß die „Inkubation" dem Bewußtsein näher liegen kann als dem Unbewußten. Inteiessant ist der von Hadamard angeführte Fall des Chemikers Tupéle. Eine halbe Stunde lang beschäftigte ihn, während er ein Bad nahm, unbewußt ein Problem. Als er zum Resultat kam, erkannte er, daß er sich die ganze Zeit mit der Lösung des Problems beschäftigt hatte. Die dritte und die vierte Periode des schöpferischen Prozesses werden von Hadamard im wesentlichen ebenso beschrieben wie von anderen Wissenschaftlern, zum Beispiel von Poincaré. 28 Ebenda, S. 7. 82
Viele Autoren registrieren zwar einige sehr wichtige Faktoren, die zu einer plötzlichen wissenschaftlichen Entdeckung beitragen, insbesondere das ästhetische Gefühl der Schönheit, bemühen sich jedoch nicht um eine Antwort auf die Frage, wie es in bestimmten Momenten des Lebens, die tatsächlich oft mit Momenten der Entdeckung von neuen wissenschaftlichen Ideen übereinstimmen, zur Schärfung dieses Gefühls kommt. Unserer Ansicht nach sind ästhetische Erlebnisse die Ursache. Das Individuum richtet mittels Willensanstrengungen oder auch völlig unbewußt die Aktivität seiner psychischen Kräfte darauf, im eigenen „Ich", das heißt innerhalb der eigenen Psyche nach Harmonie zu suchen. Das dort vorhandene Chaos weckt den Wunsch, Harmonie zu schaffen, wofür oft neue Erkenntnisse erforderlich sind. Im Zentrum der Aufmerksamkeit des amerikanischen Mathematikers und Pädagogen G. Polya standen die Probleme des mathematischen Schöpfertums. Seine Arbeiten bilden einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung der Probleme des Schöpfertums und haben das ' Interesse an der Heuristik bedeutend vergrößert. Polya vertritt Meinungen, die uns fruchtbar erscheinen und heute auch von einigen Psychologen geteilt werden. Am Beginn dieses Kapitels haben wir festgestellt, daß es außerordentlich schwierig ist, die tiefsten und effektivsten Formen des schöpferischen Denkens experimentell zu erforschen, und daß der Psychologe deshalb das Schwergewicht darauf legen muß, die Berichte über die Selbstbeobachtungen großer Wissenschaftler und ihre Biographien zu studieren. G. Polya benutzt sehr wenig Material aus der Wissenschaftsgeschichte. Er ist der Ansicht, daß die Praxis der Mathematiker eine Art natürliches Experiment ist, in dem alle grundlegenden, charakteristischen Besonderheiten des schöpferischen Denkens zum Ausdruck kommen. Polya glaubt, daß man die Gesetzmäßigkeiten des schöpferischen Prozesses auch an einfachen Aufgaben erfolgreich erforschen kann. „Die Lösung eines großen Problems", führt er aus, „stellt eine große Entdeckung dar, doch in der Lösung eines jeden Problems steckt etwas von einer Entdeckung."29 Wir können ihm aber nicht ganz zustimmen, wenn er behauptet, daß derjenige, der eine Aufgabe richtig löst, sich nicht um eine genaue Beschreibung seines Vorgehens bemühe und dies auch gar nicht tun könne. Die Möglichkeiten zur Selbstbeobachtung sind erheblich größer, als dies scheinen mag. Für eine erfolgreiche Selbstbeobachtung bedarf es einer Meisterschaft, die durch lange Praxis erreicht wird. Die Fähigkeit vieler großer Gelehrter zu genauer Selbstbeobachtung ist erstaunlich. 29 Polya, G., Schule des Denkens, Berlin 1949, S. 7. 6*
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Eben deshalb stellen ihre Mitteilungen wertvolles Material für den Psychologen dar. Den Moment der „Einsicht", den Moment des Auftauchens einer glänzenden. Idee beschreibt Polya im ganzen richtig. Er unterscheidet außerdem die gleichen vier Perioden des schöpferischen Prozesses, die wir schon darlegten. Polya meint (wie auch G. Miller, E. Galanter und K.-H. Pribram30), das Wichtigste bei der Lösung schöpferischer Aufgaben sei die Idee des Planes. Die Idee des Planes kann nach Polyas Ansicht sowohl im Prozeß der bewußten logischen Analyse der Aufgabe allmählich entstehen als auch plötzlich, nach erfolglosen Versuchen und langwährenden Zweifeln. Es muß aber gesagt werden, daß der erstgenannte Weg zur Ausarbeitung des Lösungsplans nur in den einfachsten Fällen möglich ist, von denen die Praxis des Pädagogen natürlich voll ist. Der Unterschied im Schwierigkeitsgrad der Aufgaben, die in Klassen und Hörsälen gelöst werden, und der großen wissenschaftlichen Probleme ist es auch, der es unmöglich macht, alle Schlußfolgerungen Polyas zur Erklärung des wissenschaftlichen Schöpfertums zu akzeptieren. Die Kritik A. V. Bruslinskijs an Polya kann deshalb als gerechtfertigt angesehen werden.31 Polya vermerkt die Tatsache des plötzlichen Auftauchens einer „glänzenden Idee" und weist auf solche Voraussetzungen für die Entstehung der „Einsicht" hin, wie es der notwendige Kenntnisvorrat und schöpferische Fähigkeiten sind. Er ist überzeugt, daß zur „Einsicht" einige bewußte Denkoperationen beitragen, und versucht, diese in seiner heuristischen Tabelle zu systematisieren. Polya hält die „Einsicht" für einen intuitiven Akt und setzt sie mit dem Akt der induktiven Erkenntnis einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit durch Beobachtung und Vergleich von Einfällen gleich. Das Schöpfertum in der Mathematik sei im allgemeinen induktiv. In Übereinstimmung mit Poincaré stellt Polya fest, daß viele mathematische Erkenntnisse zuerst induktiv gewonnen und erst danach bewiesen worden sind. Die auf strikte Beweise ihrer Aussagen gegründete Mathematik ist zwar eine deduktive und systematische Wissenschaft, im Prozeß ihrer Entstehung bildete sich die Mathematik jedoch als experimentell-induktive Wissenschaft heraus. Daraus schließt Polya, daß man den schöpferischen Prozeß besser an Aufgaben studieren könne, deren Ergebnis unbekannt ist, als an Beweisführungen. 30 Vgl. Miller, G. A., Galanter, E., Pribram, K . H., Plans and structure of behàviour, New Y o r k 1960. 31 Vgl. Bruslinskij, A. V., Tvorceskij process kak predmet issledovanija, in: Voprosy filosofa, 7/1965.
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G. Polya ist sich bewußt, daß ohne Erforschung des unterbewußten Denkens das Wesen der „Einsicht" nicht verstanden werden kann. Er hält außerdem vorherige bewußte Arbeit für unumgänglich. „. . . bewußte Anstrengung und Anspannung scheinen notwendig zu sein, um die unterbewußte Arbeit in Gang zu bringen. Auf jeden Fall würde es zu leicht sein, wenn das anders wäre; wir könnten sonst schwierige Aufgaben dadurch lösen, daß wir schliefen und auf eine gute Idee warteten." 32 Eine umfassendere und auf reiches mathematisches Material gestützte Untersuchung über die heuristischen Probleme des mathematischen Schöpfertums findet sich in Polyas Buch Mathematics and plausible reasoning33. Dieses Werk ist für die Psychologie des Schöpfertums von großem Interesse; da in ihm jedoch die gleichen Gedanken entwickelt werden, über die wir schon gesproche n haben, gehe n wir darauf nicht speziell ein. Von Nutzen ist es auch, kurz die Ansichten eines der bedeutendsten Physiker unserer Zeit, Louis de Broglies, über die Natur des wissenschaftlichen Schöpfertums zu betrachten. Besonders interessant ist der Vergleich seiner Überlegungen mit den Meinungen der Mathematiker. Dieser Vergleich läßt die tiefe Gemeinsamkeit im Verständnis dieser Prozesse durch die Wissenschaftler unterschiedlicher Fachgebiete erkennen. Ähnlich wie andere Naturforscher, die sich ausführlich zu philosophischen und psychologischen Fragen geäußert haben, ist de Broglie der Meinung, daß wissenschaftliche Entdeckungen ihre Entstehung solchen „irrationalen Elementen" der menschlichen Psyche wie der Emotion, dem Scharfsinn, der Phantasie und der Intuition verdanken. „Die Phantasie, die es uns ermöglicht, uns sofort einen Teil der physischen Welt in Form eines anschaulichen Bildes vorzustellen, das uns einige Details erkennen läßt, und die Intuition, die uns plötzlich in einer inneren Einsicht, die nichts mit dem schwergewichtigen Syllogismus gemein hat, die Tiefen der Realität enthüllt, sind Möglichkeiten, die dem menschlichen Geist organisch eigen sind; sie spielten und spielen tagtäglich eine wesentliche Rolle bei der Schaffung der Wissenschaft." 3 " 32 Polya, G., Schule des Denkens, a. a. O., S. 217f, 33 Vgl. Polya, G., Mathematik und plausibles Schließen (Mathematics and plausible reasoning [dt.]), 2 Bde., Basel-Stuttgart 1962,1963. 34 Broglie, L. de, Sur les sentiers de la science, Paris 1960. Hier und weiter zitiert nach der russ. Ausgabe: Brojl', L. de, Po tropam nauhi, Moskau 1962, S. 293f.
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Wenn man von der verworrenen psychologischen Terminologie absieht, so kennzeichnet de Broglie sehr treffend Intuition und Phantasie in ihrer Eigenschaft als „echte Schöpfer" neuer wissenschaftlicher Ideen. Sehr wichtig ist de Broglies Ansicht zu den Bedingungen, Unter welchen die Intuition in den Erkenntnisprozeß eingeschlossen wird. „Natürlich würde das Postulat von der Rationalität des Alls, wenn man es unbeschränkt akzeptierte, zu der Behauptung führen, daß die Anwendung eines strikten Systems von Überlegungen auf die beobachteten Fakten eine exakte und vollständige Beschreibung der physischen Welt zur Folge haben müsse. Das ist jedoch nur im Idealfall richtig; das System von Überlegungen, von dem gerade die Rede war, kann faktisch nicht aufgebaut werden, weil die physische Welt durch äußerste Kompliziertheit gekennzeichnet ist, die unserem Verständnis den Fehdehandschuh hinwirft . . . Sehr oft müssen wir von einer Überlegung zur anderen durch einen Akt der Phantasie oder der Intuition übergehen, der an sich kein völlig rationaler Akt ist." 35 DieIntuitionistfürdeBroglie wie für Poincaré das Hauptinstrument der Erkenntnis in jenen äußerst komplizierten Situationen, in denen „schwerwiegende Syllogismen" nutzlos sind. Die Induktion als wissenschaftliche Methode basiere auf der menschlichen Fähigkeit, intuitiv zu erkennen. „Indem sie mit Hilfe irrationaler Sprünge . . . den festen Kreis, in den uns der deduktive Schluß einschließt, sprengt, ermöglicht uns die auf Phantasie und Intuition fußende Induktion die großen Eroberungen des Denkens; sie liegt allen echten wissenschaftlichen Errungenschaften zugrunde." 36 Um sich nicht in das Dickicht außerordentlich komplizierter und wichtiger psychologischer Probleme zu verstricken, beschränkt sich de Broglie darauf, Intuition und Phantasie irrationale Prozesse zu nennen, und sucht nicht nach den psychologischen Mechanismen dieser Erscheinungen, die durchaus rational sein können, womit ihre besondere Eigenart nicht ausgeschlossen sein soll. Gerade weil er die Schwierigkeiten einer psychologischen Betrachtung des schöpferischen Prozesses vermeidet, kommt de Broglie unseres Erachtens am Ende seiner Überlegungen zu einer Schlußfolgerung, die seiner Meinung nach paradox ist : „Also kann (ein verblüffender Widerspruch!) die menschliche Wissenschaft, die in ihien Grundlagen und ihren Methoden zutiefst rational ist, ihre bemerkenswertesten Errungenschaften nur durch gefährliche, unvermittelte Geistessprünge erzielen, wenn von den schwe35 Ebenda, S. 294. 36 Ebenda, S. 294f.
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ren Ketten der strengen Erwägung befreite Fälligkeiten freigelegt werden, die man Phantasie, Intuition, Scharfsinn nennt. Besser gesagt, der Wissenschaftler nimmt eine rationale Analyse vor und überprüft Glied für Glied die Kette seiner Deduktionen; diese Kette fesselt ihn bis zu einem bestimmten Moment; dann macht er sich augenblicklich davon frei, und die neugewonnene Freiheit seiner Phantasie ermöglicht es ihm, neue Horizonte zu sehen."37 Ein Psychologe kann und darf de Broglies Auffassung, daß die wichtigsten psychischen Prozesse irrational seien, nicht unwidersprochen lassen. Sonst könnte unter anderem behauptet werden, daß die meisten psychischen Prozesse irrational seien. Recht interessant ist de Broglies Gedanke, daß die Intuition nicht unfehlbar sei. „Aber jeder Durchbruch von Phantasie und Intuition", führt er aus, „ist, gerade weil er der einzige wahre Schöpfer ist, voll von Gefahren; befreit von den Banden der strengen Deduktion, weiß er nie genau, wohin er führt, er kann uns irreführen oder gar in eine Sackgasse. Deshalb ist die wissenschaftliche Forschung, obwohl sie fast immer durch die Vernunft geleitet wird, dennoch ein hinreißendes Abenteuer."38 Auf Grund der Feststellung, daß die Intuition nicht selten irrt, könnte man schließen, daß sie eine ganz natürliche Erscheinung ist, die der rationalen Erklärung unterliegt. De Broglie aber zieht diesen Schluß nicht. Die Analyse der Äußerungen Louis de Broglies zeigt, daß er ähnlich wie Poincaré und andere Gelehrte das plötzliche Auftreten von Ideen im wissenschaftlichen Schöpfertum konstatiert und auf die Notwendigkeit hinweist, das wissenschaftliche Problem bewußt zu stellen und logisch zu analysieren. Er verweist darauf, daß die menschliche Vernunft einem Irrtum unterliegen kann und daß deshalb eine anschließende logische Analyse der intuitiv gewonnenen Resultate absolut notwendig ist, um sie zu prüfen und eine adäquate wissenschaftliche Theorie aufzustellen. Interessant für unsere Zwecke ist ebenfalls, daß de Broglie die tiefe Emotionalität des schöpferischen Prozesses besonders hervorhebt. Die Anzahl der zitierten derartigen Äußerungen großer Wissenschaftler mag genügen. Die Tatsache, daß Lösungen wissenschaftlicher Probleme plötzlich eintreten, dürfte heute von kaum jemand bezweifelt werden. Das ganze Problem besteht darin, diese Erscheinung psychologisch zu erklären und Methoden für die experimentelle Erforschung je37 Ebenda, S. 295. 38 Ebenda.
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ner verborgenen, nicht bewußten Prozesse zu finden, deren resultativer Ausdruck die „Einsicht" ist. Die angeführten Äußerungen von Wissenschaftlern lassen erkennen, daß die Wissenschaftler die Besonderheiten des äußeren, phänomenologischen Verlaufs des schöpferischen Prozesses recht ausführlich (wenn auch psychologisch nicht ganz exakt) beschreiben. Die Suche nach den Ursachen dieser Erscheinungen dringt jedoch meist sehr tief vor. Sie wird beschränkt durch die Feststellung, daß Voraussetzung eine vorausgehende, mühselige bewußte Arbeit ist, und durch die Annahme (ohne Angabe von Wegen zu ihrer Überprüfung), daß es unbewußt verlaufende psychische (unbewußte Ideation) oder materielle, physiologische (unbewußte Zerebration) Prozesse sind, die die Ursachen (oder Mechanismen) der „Einsicht" (insight) bilden. Einige dieser Wissenschaftler sind offenbar überzeugt, daß der schöpferische Prozeß im Grunde nicht erkennbar ist. Würde man dieser Behauptung zustimmen, so bedeutete dies das Eingeständnis, daß die Psychologie keine positive Wissenschaft sein kann. Für einen solchen Schluß gibt es jedoch keinerlei Grundlagen.
KAPITEL III
Einige hypothetische Annahmen
Nachdem wir kurz die Beobachtungen einiger großer Gelehrter über den Verlauf des schöpferischen Prozesses sowie ihre Versuche, die Erscheinung der intuitiven „Erleuchtung" zu deuten, betrachtet haben, läßt sich der Schluß ziehen, daß diese Erscheinung eine adäquate psychologische Erklärung in den genannten Arbeiten nicht gefunden hat. Die Untersuchungen dereinzelnen psychologischenRichtungen über diese Erscheinung werden wir in einem besonderen Kapitel kritisch beleuchten. Im Vorgriff auf die in diesem Kapitel enthaltenen Folgerungen sei jedoch schon hier festgestellt, daß diese Schulen das Problem der intuitiven Erkenntnis nicht gelöst haben. Was die sowjetische Psychologie angeht, so ist dieses Problem bis in die letzte Zeit selten aufgeworfen worden. Bei unserer Behandlung des Problems der intuitiven „Erleuchtung" gehen wir davon aus, daß man sich in der Betrachtung dieses so komplizierten Problems auf die positiven Ergebnisse aller wesentlichen Richtungen der psychologischen Wissenschaft stützen muß. Die Hauptmängel in den Ansichten der Erforscher des menschlichen Denkens (insbesondere des schöpferischen Denkens) waren unseres Erachtens einerseits der bewußte oder unbewußte Intellektualismus im Geiste der traditionellen intellektualistischen Schulen der empirischen Psychologie und andererseits die maßlose Überschätzung der Rolle des Unbewußten im psychischen Leben, die mit einem falschen, eingeengten Verständnis des Unbewußten einherging. Es wäre unvernünftig zu bestreiten, daß der unterbewußte Bereich der Psyche weitaus umfassender ist als der bewußte Bereich und daß er im psychischen Leben der Menschen eine zumindest ebenso wichtige Rolle spielt wie das Bewußtsein. Zur Bekräftigung der Bedeutung des Unterbewußten können wir uns auf I. P. Pavlov berufen: „Wir wissen aber sehr gut", schreibt Pavlov, „bis zu welchem Grade sich seelisches, psychisches Leben bunt aus Bewußtem und Unbewußtem zusammenfügt."1 Pavlov meinte, daß es 1 Pawlov, I. P., Sämtliche Werke, Bd. III/l, Berlin 1953, S. 72.
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zum Verständnis der Psyche nicht genüge, ausschließlich das Bewußte zu erforschen. Besonders aussagekräftige Beweise für die Bedeutung des Unterbewußten haben Untersuchungen des Gedächtnisses sowohl in seinem normalen als auch in seinem pathologischen Zustand erbracht. Die neurophysiologischen Forschungen der letzten Jahrzehnte geben Grund anzunehmen, daß der Hauptteil des Übergangs von Eindrücken aus dem Kurzzeitgedächtnis (dem operativen Gedächtnis) in das Langzeitgedächtnis (Konsolidierung) während des Schlafes erfolgt, also zu einer 2eit, in der das Bewußtsein nicht aktiv ist. Die Untersuchung der Natur des Schlafes, in dem in Gestalt von Träumen häufig plötzliche Problemlösungen beobachtet werden (zum Beispiel die sogenannten mathematischen Träume), die sich nicht selten gut einprägen, beweist, daß im „schlafenden" Gehirn komplizierte intellektuelle Prozesse ablaufen. Wir ^werden hier nicht näher auf die Untersuchungen der Pavlovschen Schule oder der Psychoanalyse oder der Hirnphysiologie (W. Penfield, P. K. Anochin und andere) eingehen. Eine Vielzahl von Beobachtungen findet sich auch in der Belletristik und in der Memoirenliteratur. Alle diese Daten können von der wissenschaftlichen Psychologie nicht ignoriert werden. Da in der psychologischen Literatur, die sich mit nichtbewußten psychischen Erscheinungen befaßt, ein terminologisches Durcheinander herrscht, muß darauf hingewiesen werden, in welchem Sinne im weiteren die Termini „Unbewußtes" und „Unterbewußtes" gebraucht werden. Unter dem „Unbewußten" verstehen wir ausschließlich die instinktive Tätigkeit der Menschen (und der Tiere), die ihnen nur bei besonderer Einstellung auf ihre Erkenntnis bewußt wird, in allen anderen Fällen aber nicht bewußt bleibt. Die unbewußte psychische Tätigkeit umfaßt im allgemeinen den Bereich der elementaren Gefühle und Affekte. RubinStejn schrieb: „Unbewußt ist oft das .junge', erst entstehende Gefühl besonders beim jugendlichen, unerfahrenen Menschen. Die Unbewußtheit des Gefühls erklärt sich daraus, daß das Bewußtwerden des eigenen Gefühls nicht einfach bedeutet, daß es als Erlebnis erfahren, sondern daß es auch mit dem Gegenstand oder der Person verbunden wird, durch die es hervorgerufen wurde und auf die es sich richtet." 2 Der Terminus „Unterbewußtes" wird von uns zur Bezeichnung 2 Rubinstein, S. L., Grundlagen der allgemeinen Psychologie obUey psichologii [dt.]), Berlin 1958, S. 22.
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(Osnovy
jenes äußerst umfassenden Bereichs der Psyche verwendet, dessen Inhalt genetisch mit dem bewußten psychischen Leben verbunden ist und die potentielle Möglichkeit besitzt, bei günstigen Bedingungen in die Bewußtseinssphäre überzugehen. Das Unterbewußte bildet sich in der Hauptsache im Ergebnis der bewußten Tätigkeit sowie der in den ersten Jahren der ontogenetischen Entwicklung vorherrschenden unbewußten Tätigkeit, deren Resultate zu einem bestimmten Teil dem selbsterkennenden Subjekt bewußt werden und in die Sphäre des Unterbewußten übergehen. Bei einem normalen Erwachsenen erweitert sich wegen des gemeinsamen und äußerst komplizierten Funktionierens der unbewußten, der unterbewußten und der bewußten Sphäre der unterbewußte Bereich ständig. Man kann deshalb sagen, daß sich beim Menschen das Unterbewußte von den frühesten Jahren in gewissem Sinne selbst formiert, da es die Prozesse der bewußten Wahrnehmung und des Denkens lenkt. Es liegt auf der Hand, daß sich eine solche Auffassung von Unterbewußtem und Unbewußtem prinzipiell von der Darstellung der orthodoxen Psychoanalyse unterscheidet, für die der Hauptmechanismus zur Bildung des Unterbewußten die „Verdrängung" ist. Wenn man das menschliche Gedächtnis als eine weite und dynamische Sphäre der Psyche auffaßt, so stellt das unterbewußte Feld der Psyche folglich nichts anderes dar als den gesamten Reichtum des menschlichen Gedächtnisses. Dabei muß unterstrichen werden, daß das menschliche Gedächtnis kein Speicher für statische, tote Inhalte ist, sondern ein umfangreiches psychisches Feld, in dem ständig verschiedene dynamische Prozesse ablaufen, die einen großen Einfluß auf das bewußte Leben haben, beziehungsweise es sogar determinieren. Eine solche Auffassung vom Gedächtnis muß der Erklärung für jene allgemein bekannte Erscheinung (daß das Gedächtnis nicht nur speichert und ausgibt, sondern auch sein Material rekonstruiert) zugrunde gelegt werden. Ein erster positiver Schritt zur Lösung des Problems der intuitiven „Erleuchtung" im wissenschaftlichen Schöpfertum muß die aus dem dargelegten Verständnis des Unterbewußten abgeleitete Annahme sein, daß komplizierte unterbewußte intellektuelle Prozesse möglich sind. Für unsere Zwecke konkretisiert heißt das, man muß zwei Ebenen des Denkens unterscheiden: das unterbewußte Denken und das bewußte Denken. Eine solche Differenzierung ist zulässig, obgleich wir auch anerkennen, daß psychische Erscheinungen nur infolge der Aktivität der gesamten Psyche in der Einheit aller ihrer Bereiche entstehen können. Die Realität des unterbewußten Denkens wird heute in der sowjeti91
sehen Psychologie allgemein anerkannt, und keiner der sich mit der Erforschung des Denkens befassenden sowjetischen Psychologen behauptet, daß der Prozeß der Problemlösung völlig bewußt sein könne. Dennoch bedürfen diese Fragen noch der Analyse und der weiteren Erforschung, und zwar im Interesse der Vollständigkeit, Klarheit, Folgerichtigkeit und Fundiertheit der vorgeschlagenen Konzeption. Da wir uns in der vorliegenden Untersuchung um die Verallgemeinerung vorhandener Konzeptionen und Fakten bemühen, ist es notwendig und gerechtfertigt, in unsere Hypothese auch die längst bekannte (wenn auch durch faktische Angaben noch nicht vollständig untermauerte) These von der Realität des unterbewußten Denkens aufzunehmen. Die genannte Einteilung des Denkens in unterbewußtes und bewußtes Denken kann ungeachtet der großen Menge von Fakten, die ihre Richtigkeit bestätigen (darunter die latente Aneignung von mit Sinnverbindungen gesättigtem Material, die Reminiszenz bei der Wiedergabe usw.) einstweilen nur als eine wahrscheinliche Annahme betrachtet werden, die eines solideren Beweises bedarf. Die weitere Darlegung wird eine solche erweiterte Auffassung vom Denken verständlicher machen. Bei der Lösung wissenschaftlicher Probleme ist von der allgemeinen These auszugehen, daß es zwei Arten ihrer Analyse gibt: a) die unvollständige Analyse des Problems; b) die vollständige Analyse des Problems. Diese Begriffe bezeichnen genau das, was sie unmittelbar ausdrücken. Sie sind faktisch nicht neu, erhalten aber im Rahmen unserer Hypothese eine zentrale und etwas unerwartete Bedeutung für das Verständnis der psychologischen Mechanismen der intellektuellen Intuition. Vollständige Aufgabenanalyse heißt, daß die Bedingungen, die Daten und die Forderung der Aufgabe systematisch und erschöpfend studiert worden sind, daß alle ihre rationalen Korrelationen (meistens mit zunehmender Übereinstimmung zur realen Wirklichkeit) untersucht und daß aus ihnen mit Hilfe aller möglichen Verbindungen jene gesuchten Größen und Ideen extrahiert worden sind, die für die Lösung der Aufgabe notwendig sind. Mit dem Terminus „Aufgabenanalyse" bezeichnen wir hier der Kürze halber jene Denkprozesse der Analyse und Synthese, Abstraktion und Verallgemeinerung, die zum Lösungsprozeß jeder Aufgabe gehören. Die Fragen der Zusammensetzung des Denkprozesses sind von S. L. Rubinstejn und seinen Mit92
arbeitern detailliert erforscht worden, auf deren Arbeiten wir uns hier stützen.3 In der vollständigen und vorwiegend bewußten Analyse der Aufgabe ist unter der Bedingung kein Platz für Vermutungen, daß alle ihre möglichen verbalen Formulierungen und alle notwendigen begrifflichen Charakteristika der Aufgabenelemente gegeben sind (darunter verstehen wir alle in die Problemsituation und die Aufgabe eingehenden selbständigen Einheiten), die der realen objektiven Lage der Dinge entsprechen (im Sinne der physischen Realität oder auch der mathematischen Korrelationen, je nachdem, zu welchem Gebiet das zu lösende Problem gehört). Vermutungen treten gewöhnlich in früheren Stadien der Problemanalyse auf. Bei der vollständigen Aufgabenanalyse wird keinerlei intuitive „Erleuchtung" des Bewußtseins beobachtet. Deshalb hat S. L. Rubinstejn kaum recht, wenn er in der oben erwähnten Arbeit behauptet, es gebe im Prozeß der Aufgabenlösung notwendig immer einen Sprung, da sich in einem bestimmten Augenblick die ungelöste Aufgabe von der gelösten abtrennen würde. Da Rubinstejn, ausgehend von dieser Behauptung, aller Wahrscheinlichkeit nach den plötzlichen Sprung, die „Einsicht", nicht als eine qualitativ besondere Erscheinung beim Übergang von einer Stufe der logischen Analyse zur anderen betrachtet, so gibt es bei ihm im Grunde diese zentrale Tatsache des schöpferischen Prozesses nicht. Wenn das Individuum begreift, daß es einen Übergang von einer Stufe der logischen Analyse zur nächsten vollzieht (sei dies auch der Übergang von der vorletzten Stufe zur letzten, wo die Problemlösung realisiert wird), so ist dieser Vorgang keineswegs dem Prozeß der Inspiration, der plötzlichen „Einsicht" adäquat, der in ganz anderen psychologischen Situationen auftritt. Bei der „Erleuchtung" des Bewußtseins erhält das Individuum unmittelbar einen Hinweis auf die zumeist fertige Lösung des Problems, nicht aber auf jene Schritte, die zur Lösung führen. Diese Schritte werden später bei dei anschließenden logischen Formierung und Systematisierung der gewonnenen Ergebnisse festgestellt. Bei der vollständigen und in der Hauptsache bewußten Analyse wird also die Lösung des Problems durch genau bestimmte Operationen gewonnen; ein Sprung ist bei der Lösung der Aufgabe nicht zu beobachten. Eine solche vollständige Analyse ist jedoch vielleicht nur bei der Lösung einfachster Aufgaben möglich, die eine sehr geringe An3 Rubinstein, S. L., Das Denken und die Wege seiner Erforschung (O mySlenii i putjach ego issledovanija [dt.]), Berlin 1961; Process mySlenija i zakonomernosti analiza, sinteza i obobS&enija, Red. S. L. Rubinstejn, Moskau 1960.
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zahl von Elementen enthalten. (Zum Teil kann dadurch Rubinstejns Leugnung der Spezifik des Sprungs im Prozeß der Aufgabenlösung erklärt werden. Er erforschte experimentell den Lösungsweg bei einfachen, im allgemeinen nicht schöpferischen Aufgaben.) Wenn Helmholtz behauptet, daß ihm günstige Einfälle durch „Inspiration" des Bewußtseins erst dann gekommen seien, wenn er das Problem ausführlich analysiert hatte, wenn er es „nach allen Seiten so viel hin- und hergewendet" hatte, daß er „alle seine Wendungen und Verwicklungen im Kopf überschaute und sie fiei, ohne zu schreiben, durchlaufen konnte"4, dann vergißt er dabei, daß er, hätte er das Problem „nach allen Seiten" untersuchen können, unter den betrachteten Varianten auch diejenige hätte finden müssen, bei der sich natürlich auch die Lösung des Problems als Ergebnis dieser Verbindung der Elemente ergeben hätte. Diese Tatsache allein zeigt, daß das sehr simple Problem der Vollständigkeit der Analyse sehr oft auch von großen Gelehrten ignoriert wird, und das führt dann dazu, daß die Antriebsmechanismen des schöpferischen Prozesses nicht verstanden werden. Eine zweite Hypothese unsererseits ist, daß es bei der Lösung selbst einfacher Aufgaben — und umsomehr ernsthafter wissenschaftlicher Probleme — immer eine unvollständige, nicht abgeschlossene, vorherige und vorwiegend bewußte Analyse gibt. Die Anzahl der Elemente selbst einfachster Aufgaben ist so groß, daß ihre Kombinationen eine recht zahlreiche Gruppe bilden, auch wenn man offensichtlich unhaltbare Fälle ausschließt. Außer dieser quantitativen Seite der Frage ist auch der prinzipiell wichtige Umstand sehr bedeutsam, daß viele Kombinationen der Aufgabenelemente bei der vorausgehenden Analyse nicht gebildet werden, daß sie wegen ihrer Ungewöhnlichkeit gewissermaßen von Anfang an verworfen werden, weil sie das lösende Individuum an nichts erinnern, was es in den geistigen Strukturen seiner früheren Erfahrungen finden könnte. Zweifelsohne können in den meisten Fällen gerade solche ungewöhnlichen Kombinationen echte wissenschaftliche Entdeckungen sein. Im Verlauf der vorausgehenden bewußten Aufgabenanalyse können diese Verbindungen im Prinzip gebildet werden, aber ihre Bildung ist durch die Vielzahl der möglichen Varianten und durch die überwiegende Bewußtheit der Analyse erschwert, weil das Bewußtsein in allen Situationen nach Analogien zu den bereits vorhandenen Kenntnissen aus früheren Erfahrungen sucht. Erschwerend wirkt sich ebenfalls aus, daß bei der bewußten Aufgabenanalyse die logischen Glieder des Denkprozesses gegenüber der Kraft der schöp4 Helmholtz, H. v., Philosophische S. 14.
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Vorträge und Aufsätze,
Berlin 1971,
ferischen Phantasie dominieren, die selbst bei bewußter Aktivität imstande ist, die zur Lösung der Aufgaben führenden ungewöhnlichen Elementen Verbindung zu enthüllen. Gerade der oben erwähnte Konservativismus des menschlichen Bewußtseins macht die Fähigkeit schöpferischer Geister so außerordentlich wertvoll. Das bedeutet zum Beispiel, Probleme dort zu finden, wo anderen Individuen alles klar scheint, die Unwandelbarkeit früherer Erfahrungen zu durchbrechen, den Konservativismus des eigenen Bewußtseins zu überwinden und prinzipiell neue Problemstellungen und Lösungen vorzuschlagen. Eine Reihe objektiver und subjektiver Momente behindert also die Vollendung der Analyse und die endgültige Problemlösung in der anfänglichen Analyse. Die Analyse der Aufgabe bleibt ungeachtet aller Bemühungen des Bewußtseins gewöhnlich unvollständig, und der Prozeß der bewußten Aufgabenlösung wird zeitweilig unterbrochen. Subjektiv wird diese Unterbrechung als Folge von Ermüdung oder anderer äußerer oder innerer Ursachen verstanden. Die bewußten psychischen Prozesse erfordern einen hohen Aufwand nervlicher Energie, so daß häufig gerade Ermüdimg der Grund für die Unterbrechung der Analyse ist. Sehr wahrscheinlich schafft gerade die Unvollständigkeit der vorausgehenden Aufgabenanalyse, besonders, wenn die Analyse bereits so weit wie möglich vorangetrieben worden ist, die Voraussetzungen und manchmal die Notwendigkeit für den (plötzlichen) Eintritt der Lösungen durch intuitive „Erleuchtung" des Bewußtseins. Die Unvollständigkeit der Analyse ist zugleich Voraussetzung und einer der Mechanismen der intuitiven Erkenntnis. Die Intuition hat gleichsam das Ziel, die unvollständige Analyse zu vollenden. Die vorherige Analyse ist absolut notwendig, wenn sie auch selten sofort zur Lösung führt. Für die Lösung eines Problems braucht das Individuum: 1. alle Problemelemente, das heißt die Problemsituation als Ganzes in wenigstens einigen ihrer mittelbaren Beziehungen zu jenen Inhalten, die an die Problemsituation angrenzen; 2. wenigstens einige der gesuchten Größen, deren Feststellung nur bei einer solchen Analyse möglich ist und die den Übergang von einer Etappe der Lösung zur nächsten ermöglichen; 3. einige der Wege, die nicht zur Lösung führen, und eine Reihe von Wegen, auf denen man mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die gesuchte Lösung erhalten kann. Der Erfolg des gesamten weiteren Denkens zur Problemlösung hängt vom Erfolg und der Vollständigkeit der vorherigen Analyse ab, wobei das Schwergewicht auf den genannten Umständen liegt. Gerade die 95
mangelnde Tiefgründigkeit der vorausgegangenen Analyse erklärt, weshalb nicht alle Aufgaben durch eine anschließende „Erleuchtung" des Bewußtseins gelöst werden. Sehr oft dauert die Lösung komplizierter Aufgaben Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte. Natürlich ist dies nur eine (und vermutlich nicht die wichtigste) Ursache dafür, daß viele wissenschaf tliche Probleme (zum Beispiel manche mathematischen Aufgaben) jahrhundertelang ungelöst blieben. Die wichtigste Rolle spielen die Fähigkeiten der Wissenschaftler, die sich um die Lösung bemühten, der allgemeine Entwicklungsstand der jeweiligen Wissenschaft sowie die Aktualität und Dringlichkeit der Lösung dieser Probleme für Wissenschaft und Technik. Im Lösungsprozeß selbst aber gewinnt die Art und Weise, in der die Aufgabe gestellt und bewußt analysiert wird, entscheidende Bedeutung. Dies ergibt sich auch aus der Marxschen Behauptung, daß die Menschheit gewöhnlich nur solche Probleme aufwirft, für deren Lösung alle grundlegenden objektiven Voraussetzungen geschaffen sind.* Was nun die Fähigkeiten der Wissenschaftler angeht, so sei hier vermerkt, daß schwierige Probleme einen induktiv denkenden, intuitiven Verstand erfordern. Es ist offensichtlich, daß die Lösung ,auf die sich die Bemühungen des Wissenschaftlers richten, größtenteils nur eine einzige ist und daß folglich die dementsprechende Kombination der Aufgabenelemente auch nur eine einzige sein kann, die auch allein zur Lösung führt. Wenn man unter dem Terminus „vollständige Analyse" eine Analyse versteht, bei der zwar nicht alle Kombinationen überprüft, die notwendige Kombination abei gewonnen wurde, dann kann man sagen, daß die Lösung immer nach einer vollständigen Analyse erreicht wird. Eine solche Analyse wird jedoch nicht im eigentlichen Sinne des Wortes vollständig sein. Die Durchsicht aller Varianten ist unmöglich. Das menschliche Gehirn arbeitet nicht wie eine Rechenmaschine, die imstande ist, leidenschaftslos alle möglichen Varianten bis zur Auffindung der gesuchten durchzugehen. Der menschliche Verstand verwirft bei der Aufgabenlösung, ausgehend von seiner Struktur und seiner Erfahrung, von vornherein viele sinnlose Kombinationen der Elemente der Problemsituation (und leider zugleich damit häufig auch richtige, aber ungewöhnliche, wie bereits gesagt wurde); von den Wegen, die zum Ziel führen können, wählt er diejenigen aus, die mit der größten Wahrscheinlichkeit dorthin führen. Hier ist anzumerken, daß die subjektive Überzeugung, den richtigen Weg gewählt zuhaben, nicht immer * Vgl. Marx, K., Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 13, Berlin 1961, S. 9 - d. Hrsg.
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der adäquaten Auswahl entspricht. Topologisch denkend, kann man aber sagen, daß sich das Feld der subjektiven Wahrscheinlichkeit und das Feld der vom Charakter der studierten Erscheinungen abhängenden objektiven Wahrscheinlichkeit weitgehend überlagern. Das menschliche Denken arbeitet heuristisch, was offenbar ein Ergebnis der spontan entstandenen Harmonie zwischen der zu erkennenden Natur und dem erkennenden Menschen ist. Nach diesen Ausführungen können wir nun die dritte grundlegende Behauptung unserer Hypothese formulieren. Gestüzt auf die Ausführungen des vorausgegangenen Kapitels, auf zahlreiche Angaben in der Literatur, über die wir hier keine ausführliche Übersicht geben können, und auf eigene Erfahrungen bei der Lösung mathematischer Aufgaben, behaupten wir, daß in allen Fällen, in denen die vorherige, überwiegend bewußte Analyse abgebrochen wird, diese Analyse unterbewußt fortgesetzt wird, eine unterbewußte Ergänzung der unvollständigen Analyse stattfindet, der Denkprozeß also auf der unterbewußten Ebene fortgesetzt wird. Die Nerventätigkeit, die der Lösung der Aufgabe dient, wird im Moment der Einstellung der bewußten Analyse derart reduziert, daß sie nicht mehr als Fakt des psychischen Lebens wahrgenommen wird. Um Mißverständnisse zu vermeiden, muß zunächst etwas über das Verhältnis der unterbewußten und der bewußten Komponenten im Prozeß der Aufgabenlösung gesagt werden. Die moderne Psychologie vertritt die Ansicht, daß jeder Denkprozeß seinen Anfang mit einer Problemsituation nimmt. Darunter wird ein bestimmter psychischer Zustand des Individuums verstanden. Er bildet sich unter dem Einfluß der objektiven Bedingungen, wobei die innere Aktivität der Persönlichkeit von besonderer Wichtigkeit ist (die Ausbildung neuer Ziele, das Auftreten von neuen Neigungen und Wünschen sowie überhaupt die Dynamik der Motivationssphäre). Eine psychische Problemsituation zeichnet sich dadurch aus, daß ihr Inhalt zunächst nicht bewußt ist. Sie tritt nur resultativ ins Bewußtsein als ein bestimmter emotionaler Zustand fehlenden Gleichgewichts und Wohlbefindens. Darum ist strenggenommen der Denkprozeß am Anfang vorwiegend unterbewußt. Später, wenn zur Beseitigung der Problemsituation eine bestimmte Aufgabe deutlich wird (oder mehrere Aufgaben), ihre Formulierung und Lösung beginnt, nimmt der Denkprozeß vornehmlich bewußten Charakter an, wenngleich er immer eine komplexe bewußt-unterbewußte Erscheinung ist. Wenn wir davon sprechen, daß nach Einstellung der vorhergehenden bewußt-unterbewußten Analyse die Lösung unterbewußt fortgesetzt (ergänzt) wird, so meinen wir, daß das mit einer anderen Tätigkeit beschäftigte Be7 NalSadZjan
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wußtsein infolge seiner bekannten „Enge" dann nicht mehr imstande ist, weiter am früheren Denkprozeß teilzunehmen. Wenn dies für das Bewußtsein im Wachzustand richtig ist, so trifft es umso mehr für den Zustand des Schlafs zu. Hier ist es angebracht, daran zu erinnern, daß in der sowjetischen psychologischen Literatur in den letzten Jahren interessante Gedanken über die Möglichkeit einer hochkomplizierten unterbewußten psychischen Tätigkeit geäußert worden sind. So sind die Materialien der grusinischen Schule des Akademiemitgliedes D. N. Uznadze zweifellos von großer Bedeutung für das Verständnis unterbewußter psychischer Prozesse. Gestützt auf die Arbeiten grusinischer Psychologen, schreibt F. V. Bassin: „Die Spezifik der unbewußten Formen höherei Nerventätigkeit, und insbesondere der unbewußten Einstellungen, besteht darin, daß sie gewöhnlich zu einem Verhalten führen, das Anpassungscharakter trägt, die Berücksichtigung und logische Verarbeitung einer Vielzahl komplizierter Merkmale voraussetzt und daher den Stempel der .Vernünftigkeit' trägt. Gerade dieser Umstand war es, der Freud dazu anregte, das .Unbewußte' als etwas zu umreißen, das zu angespannten Bestrebungen, zur symbolischen Verarbeitung psychologischer Inhalte, zur aktiven Suche nach Befriedigung . . . imstande ist und sich in den Besonderheiten der psychologischen Organisation kaum vom Bewußtsein unterscheidet." 5 F. V. Bassin räumt also ein, daß „unbewußte Formen höherer Nerventätigkeit" (so nennt er, was wir in unserer Terminologie unterbewußte Tätigkeit nennen6) zu komplizierter psychischer Tätigkeit führen können. Diesen seinen Gedanken untermauert Bassin, indem er sich auf die Arbeiten der Uznadze-Schule und auf gewisse Erfolge der kybernetischen Technik bei der Realisierung „vernünftiger" Tätigkeit in Maschinen beruft. Uns scheint, daß die unterbewußte psychische Aktivität nicht bloß zu komplizierten
Verhaltensformen führen kann, sondern auch selbst in
höchstem Grade komplizierten Charakter trägt. Schon die Tatsache, daß viele wichtige Ideen (insbesondere wissenschaftliche) plötzlich und unbewußt entstehen, das heißt nicht in ihrem Entstehungsprozeß, sondern in fertiger Form bewußt werden, gibt uns allen Grund zu der Feststellung, daß das Unterbewußte sogar zu einer so komplizierten Tätigkeit imstande ist, zu der das Bewußtsein nicht immer fähig ist. Dabei muß gesagt werden, daß zum Beispiel das Archimedische Gesetz, die Entdeckung 5 Bassin, F . V., Soznanie i bessoznatel'noe, in: Filosofskie voprosy fiziologii vysSej nervnoj dejatel'nosti i psichologii, Moskau 1963, S. 471.
6 Diese Terminologie benutzt auch Akademiemitglied A. V. Sneznevskij. 98
der Fuchsschen Funktionen durch Poincaré und vieles andere nicht allein als Ergebnis eines hochentwickelten Denkens angesehen werden können. Macht man sich die etwas simplifizierte Deutung des schöpferischen Denkens als einer Fähigkeit, (im einfachsten Falle) zwei vereinzelte Erfahrungselemente zu verbinden (die von Duncker gegeben wurde), zu eigen, so kann man sagen, daß die unterbewußte Sphäre zu einem solchen Akt ebenfalls durchaus imstande ist. Im Prozeß der unterbewußten Vervollständigung der Analyse werden aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls nicht alle möglichen Kombinationen der Problemsituation gewonnen. In dieser Frage dürfte Poincaré kaum recht haben. Wir werden im Kapitel IV einige Argumente zugunsten unserer Behauptung anführen. Aber auf welche Weise gelangt ausgerechnet die benötigte Kombination in die Bewußtseinssphäre? Es sei gleich bemerkt, daß das von Poincaré genannte und in der Folge auch von anderen Wissenschaftlern (Hadamard, Dirac und anderen) übernommene ästhetische Kriterium tatsächlich eine wichtige Rolle bei der Regulierung des Inhalts psychischer Erscheinungen, die ins Bewußtsein übergehen, spielt. Dieses Kriterium ist jedoch weder das einzige noch das wichtigste. Ausgehend von unserem Verständnis des Unterbewußten nehmen wir an, daß die wichtigsten Kriterien für die Auswahl der benötigten Kombinationen folgende sind : 1. Das Kriterium der Wahrheit. Wenn das Unterbewußte hochintellektuell ist, dann muß es ebenso wie das Bewußtsein (wenn auch in anderer Form) über die Fähigkeit verfügen, Wahrheit und Unwahrheit zu unterscheiden. Als Beispiel dafür mag das intuitive Mißtrauen dienen, das mit logischen Argumenten meistens nicht begründet werden kann. 2 Das unterbewußte Denken ist heuristisch, wahrscheinlichkeitsbestimmt, es wählt hauptsächlich solche Kombinationen aus und überführt sie ins Gedächtnis, die eine große Wahrscheinlichkeit besitzen, wahr zu sein. 3. Eine große Rolle spielt der Vergleich mit den Daten der früheren bewußten und unterbewußten Erfahiung. Gerade dadurch, daß gleichzeitig mit dem Bewußtsein eine unterbewußte Wahrnehmung und ein unterbewußtes Denken existieren, ist die Erfahrung des Menschen um ein Vielfaches reicher und mannigfaltiger als das, was er sich bewußt angeeignet hat; daher rührt das Überraschende vieler eigener Gedanken für den Menschen. 4. Das Kriterium der Nützlichkeit. Poincaré setzt dieses Kriterium mit dem ästhetischen Kriterium gleich, aber das ist ein großer Fehler; das Harmonische und das Nützliche sind nicht immei identisch, und 7*
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wenn sie in der Mathematik sehr nahe beieinander liegen, so darf das kein Grund zu ihrer Identifizierung sein; das Kriterium der Nützlichkeit, wie wir es verstehen, betont die biologische und die soziale Bedeutimg der erhaltenen Resultate. Die obengenannten Faktoren bedingen die Fähigkeit unterbewußt gebildeter Strukturen, Assoziationen zu verstärken und neue Assoziationen zu bilden, insbesondere mit den im jeweiligen Moment im Bewußtsein vorhandenen psychischen Gebilden; das führt dazu, daß diese Assoziationen im Bewußtsein erscheinen. Das Individuum erlebt diesen Übergang als „Erleuchtung" des Bewußtseins. Hinsichtlich der physiologischen Mechanismen, die bei der unterbewußten Fortsetzung des bewußt begonnenen Denkprozesses wirken, kann gesagt werden, daß die physiologischen Prozesse allem Anschein nach fortdauern, sie bewahren eine gewisse Gerichtetheit, sind aber erheblich schwächer und vielerlei Nebeneinflüssen unterworfen. Uber die Bedeutung der Erforschung der physiologischen Seite des Denkens und des Gedächtnisses sind viele Hinweise in der Literatur zu finden. Der sowjetische Physiologe P. K. Anochin begründet die Bedeutung, die der Erforschung unterbewußt verlaufender Mechanismen zukommt, folgendermaßen: „Bis heute widmen wir den Prozessen der Herausbildung dessen, was der Freudismus das .Unterbewußte' nennt, zweifellos zu geringe Aufmerksamkeit. Wir erforschen sorgfältig die Reaktionen des Gehirns und vergessen darüber, daß hinter dem Brennpunkt des Bewußtseins ein gewaltiges zurückbleibt, das man als das Gedächtnis des Gehirns bezeichnen kann; dieses Gut wird im Verlauf des gesamten Lebens angesammelt und erweist sich, wie einige hypnotische Versuche zeigen, als erstaunlich stabil. Erforschen die Physiologen nun hinreichend gründlich, wie diese Spuren leben und in welchem Verhältnis sie sich zum Bewußtsein befinden? Es muß zugegeben werden, daß diese Fragen bei uns wenig erforscht sind. Die Folge ist, daß darunter der Kampf gegen den Freudismus ernsthaft leidet."7 (Hervorhebimg - A. N.) Von einigen konkreten physiologischen Ergebnissen, die dazu beitragen können, die Existenz der unterbewußten Analysefortsetzung physiologisch zu begründen, wird im folgenden Kapitel die Rede sein. An dieser Stelle muß kurz auf einen wichtigen Umstand eingegangen werden. Wir sagten, daß nach Abschluß der bewußten Analyse der Aufgabe die Analyse unterbewußt fortdauert. Kann man sagen, daß die unterbewußte Aktivität vollständig physiologisch ist und daß dann, wenn die bewußte Analyse aufhört, damit zugleich auch der psychische 7 Zitiert nach: Bassin, F. V., Soznanie i bessoznatel'noe, a. a. Q., S. 50. 100
Prozeß aufhört? Unsere Antwort auf diese Frage kann nur negativ ausfallen. Seltsamerweise findet diese im Grunde intellektualistische Position auch heute noch Anhänger, deren Hauptargument der Hinweis ist, daß das Unterbewußte (wenn seine Existenz überhaupt akzeptiert wird) der direkten Selbstbeobachtung unzugänglich ist. Dieses Argument ist zum Teil richtig; doch selbst wenn man ihm voll zustimmen würde, so wäre zu fragen: Warum ist es unmöglich, gewisse psychische Erscheinungen nicht direkt, sondern auf Grund indirekter Anzeichen, also mittelbar zu erkennen? Der Aufbau der Physik der Elementarteilchen war nur dadurch möglich, daß die indirekten Erscheinungsformen der Existenz dieser Teilchen erforscht wurden, denn der direkten sinnlichen Wahrnehmung des Menschen sind die Elementarteilchen unzugänglich. Die Methode der mittelbaren Erkenntnis der Psyche wird schon seit langem fruchtbringend angewendet. Was nun die unterbewußten psychischen Prozesse angeht, so kommen sie bei ausreichender Intensität (die vorliegt, wenn sie für das Individuum große Bedeutung gewinnen, zum Beispiel wenn es sich um Denkprozesse zur Lösung eines wissenschaftlichen Problems handelt) in spezifischer Weise im bewußten Leben des Individuums zum Ausdruck: 1. indem sie das bewußte Leben emotional färben; 2. in Form von unwillkürlich in die Bewußtseinssphäre aufsteigenden „Gedankensplittern"; 3. durch kleine Fehlhandlungen, die die bewußte Tätigkeit spezifisch umwandeln. Die letztere Erscheinung ist von Freud untersucht worden.8 Als Ursache dieser Fehler (Schreibfehler usw.), die keinen chronisch-pathologischen Charakter besitzen, sieht er in der Hauptsache ins Unbewußte verdrängte sexuelle Eindrücke an. Eine gewisse Bedeutung sexueller Impulse, die aus der unbewußten Sphäre heraus sowohl die Formulierung der unterbewußten Sphäre als auch das bewußte Leben beeinflussen, kann nicht bestritten werden. Außer Zweifel steht jedoch auch, daß der unterbewußt ablaufende Denkprozeß zur Lösung einer wichtigen und interessanten schöpferischen Aufgabe einen nicht minder starken Einfluß auf das bewußte psychische Leben ausübt. Ausgehend von unserem Verständnis des Unterbewußten und des Unbewußten, gelangen wir zu der Schlußfolgerung, daß die Psychoanalyse ihre Aufmerksamkeit nur auf begrenzte Bereiche der unbewußten und linterbewußten Prozesse konzentriert hat, was ein einseitiges Verständnis der Struktur der Psyche zur Folge hatte. 8 Vgl. Freud, S., Zur Psychopathologie des Alltagslebens, Berlin 1904. 101
Ganz natürlich erscheint uns der Schluß, der sich aus den obigen Darlegungen ergibt: Beim plötzlichen Erscheinen der gesuchten Problemlösung, das heißt derjenigen Kombination von Problemelementen, die das Individuum braucht, erfolgt der Sprung nicht im gesamten Denken (besser gesagt, durch den Intellekt), sondern nur im Bewußtsein (durch den bewußten Teil des Denkens). Diese Folgerung kann präzisiert werden. Wenn man davon ausgeht, daß jeder Denkprozeß in der Einheit mit einem ganzen Komplex von psychischen Erscheinungen abläuft, die seinen Verlauf stimulieren oder hemmen, so wird offensichtlich, daß bei der Gewinnung der Problemlösung durch eine „Einsicht" der Sprung nicht von der ganzen Psyche insgesamt, sondern nur vom Bewußtsein ausgeführt wird. Die Kontinuität der bewußten psychischen Prozesse wird gestört, das Prinzip des Determinismus behält jedoch seine Gültigkeit. Da das Bewußtsein nicht ohne seinen Inhalt existiert, so ist es offenbar gleich, ob man vom Sprung des psychischen Prozesses (des Inhalts) oder vom Sprung des Bewußtseins spricht, wenn man das Bewußtsein engei, nämlich als das Bewußtwerden des jeweiligen Inhalts, auffaßt. Der „Flug" in die Situation, welcher dem Problem immanent ist, erscheint dem Bewußtsein zunächst ganz unbedingt. Das hat seine Ursache darin, daß sich jener „Flug" durch das Bewußtsein vollzieht und im Ergebnis der momentanen „Einsicht" nur das Resultat eines komplizierten und immer noch unverständlichen Weges des ablaufenden unterbewußten Prozesses ins Bewußtsein dringt. Dieser Eindruck, eine „glückliche" Idee zu haben, entsteht aus mehreren Gründen, von denen die wichtigsten offenbar folgende sind: 1. die emotionale Sättigung des Augenblicks (oft sogar eines bestimmten Zeitraumes vor und nach dem Moment der „Einsicht"); 2. die Schnelligkeit, mit der die „glückliche" Idee auftaucht; 3. die Unfähigkeit des menschlichen Bewußtseins, zugleich das gesamte für eine richtige Folgerung notwendige Material zu erhalten, und die Schwierigkeiten der Selbstbeobachtung. Nicht minder wichtig ist dabei, daß die Psychologie in Unkenntnis der Gesetzmäßigkeiten des Schöpfertums keine adäquaten Methoden für die Erkenntnis des Unterbewußten liefern konnte. Die Folge ist, daß in der Periode nach der Lösung einer Aufgabe, manchmal über längere Zeit hinweg (Monate und Jahre), die Wege, die zum jeweiligen Ergebnis geführt haben, unerkannt bleiben (es sei nur an den von uns früher erwähnten Fall von Gauß erinnert). Nicht bewußt wird auch die ganze Kompliziertheit des Aktes der plötzlichen „Einsicht" selbst. Die grundlegende psychologische Methode für die Erkenntnis, dieser 102
Prozesse kann, so meinen wir, die Selbstbeobachtung der schöpferischen Wissenschaftler sein; der Psychologe muß dann die so gewonnenen Daten, die im Prozeß der Suche nach Gesetzmäßigkeiten auftreten, nutzen. Die dargelegten Thesen über einige Mechanismen der intuitiven „Erleuchtung" wurden unter dem Aspekt formuliert, daß das Unterbewußte eine vorwiegend intellektuelle und genetische durch die bewußte Aktivität bedingte Erscheinung ist. Man kann konstatieren, daß uns eine solche Auffassung vom Verhältnis zwischen Bewußtsein und Unterbewußtem das Recht zu der Folgerung gibt, daß die unterbewußte Sphäre prinzipiell der Lenkung von Seiten des Bewußtseins zugänglich ist. Weite und Möglichkeiten des Unterbewußten, in dem sich die Psychologen bereits besser zurechtzufinden beginnen, sind praktisch unbegrenzt. Als aktuell (selbst angesichts unserer begrenzten Kenntnisse über die physiologischen Mechanismen der psychischen Tätigkeit) können daher die folgenden wichtigen psychologischen Probleme angesehen werden: die Suche nach Möglichkeiten, die Arbeit aller Bereiche der Psyche auf die Lösung von wichtigen wissenschaftlichen Problemen zu konzentrieren, das Problem der Erhöhung des Nutzeffekts der wissenschaftlichen Arbeit, das Problem der Entwicklung von schöpferischen Fähigkeiten, das Problem der Fähigkeit, Momente intuitiver „Erleuchtung" zu erleben, und andere mehr. Uns scheint, daß bei der Suche nach Möglichkeiten zur Weiterentwicklung der geistigen Fähigkeiten die natürlichen psychischen Kräfte des Menschen entwickelt werden müssen, um die verborgenen Möglichkeiten unseres Gehirns möglichst vollständig zu nutzen. Heute ist das Verlangen nach Methoden, die der Steigerung wissenschaftlicher Produktivität dienen, keine reine Phantasie mehr. Diese Behauptung kann durch die von uns im vorigen Kapitel zitierte These Hadamards bekräftigt werden. Hadamard hält es für nützlich, nach einer ersten, ernsthaften Arbeit an einem Problem die Lösung zunächst aufzuschieben und sich mit anderen Problemen zu befassen. Auf diese Weise kann der Wissenschaftler parallel an mehreren Problemen arbeiten und von Zeit zu Zeit zur Aktivierung der unterbewußten Denkmechanismen von einem Problem zum anderen wechseln. Es ist interessant, daß schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts der große französische Mathematiker Lagrange jungen Wissenschaftlern genau dasselbe riet und dies mit Angaben aus der eigenen Erfahrung belegte.9 9 Bell, E., Die großen Mathematiker (Men ofmathematics [dt.]), DüsseldorfWien 1967.
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Die unterbewußte Ergänzung, ob sie nun parallel mit der bewußten Analyse oder eist nach deren Abbruch erfolgt, wenn das Bewußtsein mit anderen Problemen beschäftigt ist, verläuft vorwiegend auf der Grundlage von mehr oder weniger komplizierten logischen Strukturen, die vorher (überwiegend bewußt) ausgebildet und automatisiert worden sind. Nicht ausgeschlossen ist die Möglichkeit, daß ein bestimmter Teil dieser Strukturen des allgemeinen logischen Aufbaus des Intellekts infolge der unterbewußten Wahrnehmung und Verarbeitung einer erheblichen Menge der äußeren Information entsteht. Sokrates vermutete, daß von seinen Gesprächspartnern geäußerte Gedanken über Dinge, in denen sie sich für Laien hielten, angeboren wären. Er war von der Existenz des Unterbewußten überzeugt, irrte allerdings in seinen Ansichten über die Genesis des Unterbewußten. Einige Psychologen, die sich mit dem schöpferischen Denken beschäftigt haben (besonders die Anhänger der „Zufallstheorie"), behaupten, daß es im wissenschaftlichen Schöpfertum, das im Grunde heterogen sei, Fälle gebe, in denen vollkommen neues Wissen gewonnen werde und in denen es unmöglich sei, eine kausale Beziehung zu früheren Erfahrungen herzustellen. Solche indeterministischen Auffassungen beruhen, so muß man annehmen, darauf, daß die beiden Hauptarten des Determinismus — der mechanische Determinismus von Laplace und der Wahrscheinlichkeitsdeterminismus — vermengt werden. Bekanntlich kann man, wenn sich eine vorliegende Kette von Erscheinungen Gesetzmäßigkeiten vom Typ des Laplaceschen Determinismus fügt, im Prinzip auf der Grundlage von Angaben über die gegenwärtigen Zustände dieser Erscheinungen mit Hilfe von exakten logischen Mitteln (Formeln und Schlußregeln) alle Daten über die zukünftigen Zustände dieser Erscheinungen erhalten. Da dem Wissenschaftler für eine Entdeckung nicht alle Voraussetzungen und Mittel zur Verfügung stehen, so muß er eine wahrscheinlichkeitsbestimmtö Auswahl vornehmen; der schöpferische Prozeß ist also ein Prozeß, in dem eine Entscheidung mit einem bestimmten Wahrscheinlichkeitsgrad getroffen wird. Die Verlaufsgesetze einer großen Anzahl von Naturerscheinungen besitzen Wahrscheinlichkeitscharakter. Mehr noch, man kann behaupten, daß die Wahrscheinlichkeitsgesetzmäßigkeiten universell sind und der Laplacesche Determinismus nur ein besonderer Grenzfall ist, bei dem mit voller Gewißheit geschlossen werden kann (Wahrscheinlichkeit P = 1). Von diesen methodologischen Feststellungen her kann der Prozeß des intuitiven Begreifens als ein wahrscheinlichkeitsbedingt verlaufender Prozeß betrachtet werden. Und je geringer die Wahrscheinlichkeit 104
für den Eintritt des Ergebnisses ist, desto überraschender und indeterminierter erscheint dieses Ergebnis. Bedeutsam ist jedoch, daß es im schöpferischen Prozeß eine Kollision zweier Reihen von Wahrscheinlichkeitsgesetzmäßigkeiten gibt: derjenigen der Naturerscheinungen, die erkannt werden sollen, und derjenigen der psychologischen Prozesse zur Erkenntnis dieser Erscheinungen (weil das Individuum in der Regel eine unvollständige Analyse der Problemsituation vornimmt). Deshalb hängt das Endergebnis immer von den objektiven natürlichen und von den psychologischen Wahrscheinlichkeitsgesetzmäßigkeiten ab. In solchen Fällen gilt das Gesetz der Multiplikation von Wahrscheinlichkeiten, wodurch sich die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt des Resultats meistens als gering erweist. Die Lage wird noch prekärer, wenn die komplizierte psychische Tätigkeit des Menschen zum Forschungsobjekt wird. Die große Kompliziertheit der Verhältnisse der beiden Wahrscheinlichkeitsfaktoren im schöpferischen Prozeß und die Schwierigkeit, sie zu verstehen, lassen den Eindruck entstehen, daß es möglich sei, absolut neue Gesetze zu entdecken, die genetisch durch die bereits vorhandenen wissenschaftlichen Ergebnisse nicht bedingt sind. Die Genialität eines Wissenschaftlers beruht auf der Fähigkeit, das Bekannte gründlich zu analysieren, auf dem Verständnis für das Wesen der ungelösten Probleme, auf ihrer exakten Formulierung und möglichst detaillierten Analyse sowie auf der Fähigkeit, die leeren Stellen der eigenen psychischen Strukturen mit der Kraft der Phantasie zu füllen. Das Intuitive geht von der wahrscheinlichkeitstheoretischen Unbestimmtheit der Situation aus und überwindet diese Unbestimmtheit. Der heuristische Charakter unseres Denkens kollidiert mit der Wahrscheinlichkeit der Situation und bemüht sich, sie zu überwinden. Es wäre ein großer Erfolg, könnte man das Obengesagte in exakten mathematischen Begriffen völlig beschreiben.10 Es bleibt zu klären, was der Akt der „Erleuchtung" des Bewußtseins selbst darstellt, das heißt, ob er ein einfacher, einschichtiger, aber effektiver Akt, oder aber ein komplizierter, vielschichtiger Prozeß ist. Der Schwellencharakter des Bewußtwerdens psychischer Prozesse ist in der psychologischen Literatur wenig erforscht, obwohl seine Realität von den meisten Psychologen nicht bestritten wird. 10 V. N. Puskin gelangte bei der Analyse der Versuche O. K. Tichomirovs zu der Schlußfolgerung, daß die Schaffung einer Wahrscheinlichkeitstheorie des Denkens unmöglich ist (vgl. den Sammelband Kibernetika ozidaemaja i kibernetika neoiidannaja, Moskau 1968, S. 196). Dabei ergibt sich jedoch eine Vielzahl von strittigen Fragen, deren Analyse den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde.
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Hat man die These von der Bedeutung der unterbewußten Sphäre für das psychische Leben im Prinzip akzeptiert, dann ist die Frage nicht mehr zu umgehen, wie denn die unterbewußt ablaufenden psychischen Prozesse bewußt werden. Äußerlich ist uns der Endzustand der Erscheinung durch die Introspektion dann zugänglich, wenn er bereits bewußt geworden ist. Die Annahme ihrer Existenz im Unterbewußten ergibt sich daraus, daß wir dem Unterbewußten die Fähigkeit zuerkennen, höhere psychische Prozesse zu realisieren. Aufgabe unserer Untersuchung muß es sein, unsere Aufmerksamkeit auf jene dynamischen und vielfältigen Metamorphosen zu konzentrieren^ denen die Erscheinung zwischen diesen beiden Zuständen unterworfen ist. Auf der Grundlage des Studiums von Faktenmaterial sind wir zu dem Schluß gelangt, daß das Bewußtwerden psychischer Prozesse außerordentlich kompliziert ist. Der Übergang ins Bewußtsein vollzieht sich stufenweise, entsprechend den verschiedenen Ebenen, auf denen die betreffende Erscheinung vom Individuum erlebt wird. Es muß festgestellt werden, daß alle menschlichen Erlebnisse bewußt werden können, wenn sie über genügend Stärke (Intensität) verfügen. Gemeint ist dabei die absolute Stärke der Erscheinung; sie kann sich ebenso aus kleinen Intensitäten einer großen Anzahl assoziierter Glieder wie aus großen Intensitäten einer kleinen Anzahl von Gliedern zusammensetzen, die Bestandteile der Erscheinung sind. Wir unterscheiden folgende drei Ebenen (Schwellen), durch deren Überschreitung eine psychische Erscheinung dem Bewußtsein des selbsterkennenden Subjekts zugänglich wird: 1. die logische (oder analytische) Ebene; 2. die emotionale Ebene; 3. die Ebene des Selbstbewußtseins (oder die bewußt motivierende Ebene). Bevor wir diese Ebenen im einzelnen ausführlich behandeln, sei festgestellt, daß sie als unterschiedliche Stufen des einheitlichen psychischen Prozesses nicht nur nacheinander, sondern meistens parallel durchlaufen werden. Wenn der psychische Prozeß ohne Verzögerungen verläuft (wenn originelle Ideen ohne sichtbare Anstrengungen erscheinen), dann werden diese Schwellen im Grunde gleichzeitig überwunden. Eine vollständige Gleichzeitigkeit ist jedoch nicht möglich, und der Eindruck der Gleichzeitigkeit entsteht häufig durch die verblüffende Geschwindigkeit des Prozesses. Eine umgekehrte Reihenfolge des Übergangs kann es schon deshalb nicht geben, weil von Seiten der Persönlichkeit nur das bewertet werden kann, was. schon im Bewußtsein fixiert ist. 106
Betrachten wir nun kurz die charakteristischen Merkmale jeder der obengenannten Ebenen. , Beim rein emotionalen Erleben einer psychischen Erscheinung wird dem Individuum bewußt, daß in seiner Psyche Prozesse vorgehen, von denen es vorläufig nur im Sinne von angenehm oder unangenehm, nur von ihrem anspornenden oder deprimierenden, beruhigenden oder beunruhigenden Einfluß usw. zu sprechen vermag. Das Wesen und der Inhalt der Prozesse hingegen sind dem Individuum verborgen. Das hängt sicherlich damit zusammen, daß Emotionen genetisch frühentstandene psychische Erscheinungen sind, die direkter als andere psychische Funktionen mit der Notwendigkeit verknüpft sind, die Ganzheitlichkeit des lebenden Organismus zu gewährleisten. Jeder Prozeß, der in der Psyche des Individuums abläuft, tritt in erster Linie emotional in Erscheinung. Das bestätigt den Grundsatz von der Einheit der Psyche, da die Emotionen, die das Bewußtwerden bis dahin unterbewußt verlaufender psychischer Prozesse vorbereiten, die enge Wechselbeziehung von Unbewußtem und Unterbewußtem beweisen. Das Unterbewußte signalisiert sozusagen sein Erscheinen mit Hilfe von organischen, oft primitiv-emotionalen Erlebnissen ohne gegenständliche Bestimmtheit. Die Evolution hat dazu geführt, daß die emotionale Bewertung von Erscheinungen ganz in die Tiefe der Psyche verlegt wurde, daß sie faktisch neben den Instinkten zu einem der Fundamente wurde, auf denen sich die komplizierteren Formen des psychischen Lebens entwickeln konnten. Die ursprünglichen psychischen Funktionen verlaufen entsprechend ihrer fundamentalen Bedeutung unter bestimmten Bedingungen unbewußt und darum fehlerlos. Bei inadäquaten Bedingungen führt diese Unbewußtheit häufig zur Trägheit, aber dies ist eine Seite jener höheren Fähigkeit, die man, Cannon folgend, die „Weisheit des Körpers" nennen könnte. Diese „Weisheit" wird oft durch die Einmischung des Bewußtseins beeinträchtigt; besonders, wenn das Individuum die tiefen Erkenntnisse über das Wesen der organischen und psychischen Prozesse nicht bewußt beherrscht. Oft stellt das Bewußtsein Forderungen, die der Natur dieser Prozesse zutiefst widersprechen. Wir werden uns weder in die detaillierte Untersuchung jener physiologischen Mechanismen vertiefen, die der emotionalen Erlebnisebene des Übergangsprozesses entsprechen, noch ihre Lokalisierung im Gehirn behandeln. 11 Die Ermittlung der physiologischen Schwelle 11 Neuere Auffassungen v o m Wesen der Emotionen finden sich in folgenden Arbeiten: Gellhorn, E., Loofbourrow, G., Emotions & emotional discorders, New York 1963; Simonov, P. V., Cto takoe émocija? Moskau 1966.
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und ihrer Charakteiistika ist eines der Ziele der Erforschung der im Gehirn ablaufenden Prozesse, besonders wenn die Physiologen mit ihren Forschungen zugleich die Absicht verfolgen, psychische Gesetzmäßigkeiten zu beleuchten. Die physiologische Schwelle darf jedoch nicht mit der psychologischeil verwechselt werden. Gegenwärtig erscheint es uns schwierig, die psychologische Schwelle für den Beginn eines rein emotionalen Erlebnisses konkreter und umfassender zu charakteiisieren. Wir wollen hier und im folgenden die emotionale Schwelle mit dem Buchstaben E bezeichnen. Der Beginn des emotionalen Erlebnisses hängt vom aktuellen psychischen Gesamtzustand des Individuums ab. Subjektiv drückt sich dieser Beginn durch ein unbestimmtes und „dunkles" Erleben aus, das verbal vom Individuum als Aussage über sein Selbstgefühl, als Wunsch, „irgend etwas" zu tun, formuliert werden kann. Objektiv dagegen kann sich dieser Beginn verschieben. Wenn das Individuum zum Beispiel mit einer seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchenden Tätigkeit beschäftigt ist, dann kann das ins Bewußtsein übergehende neue psychische Erlebnis lange Zeit im Dunkel bleiben. Mehr noch, häufig bemüht sich das Individuum im Interesse seiner bewußten aktuellen Tätigkeit, diese Prozesse, die nach Bewußtwerdung streben, zu verdrängen. Es liegt auf der Hand, daß infolge dieser Umstände die Schwelle E nach oben oder nach unten veischoben wird. Als sehr aussichtsreich erscheint uns die Möglichkeit, einen bestimmten psychischen Zustand des Individuums als Berechnungsgrundlage (Etalon) zu wählen und das ganze für den Menschen mögliche Spektrum der ESchwelle zu skalieren. Das ist eine komplizierte, aber sehr wichtige und interessante Frage, die der weiteren Erforschung bedarf. Wenn ein emotionaler Zustand von dem ihn erlebenden Individuum in irgendeiner Weise verbal gekennzeichnet wird, dann spielt das Bewußtsein natürlich bereits eine gewisse Rolle. Die Rolle des Bewußtseins beschränkt sich auf der vorliegenden Ebene jedoch lediglich darauf zu konstatieren, daß das betreffende emotionale Erlebnis vorliegt; der gegenständliche Inhalt dieses Erlebnisses ist dabei noch nicht bewußt. Obwohl beim Überschreiten der E- Schwelle das Bewußtsein bereits eingeschaltet wird, ist es jedoch noch nicht genügend aktiv, um das Wesen der erlebten Erscheinung klären zu können. Dazu muß diese sich in einem Prozeß bewegende psychische Erscheinung erst eine andere Schwelle überwinden, die wir die Bewußtseinsschwelle (im engeren Sinne) nennen und mit dem Buchstaben B bezeichnen. Der Übergang über die Ii-Schwelle und die weitere Intensivierung des Prozesses 108
(infolge der Wirkung der Mechanismen, von denen wir in diesem Kapitel gesprochen haben) bilden die Voraussetzung für die Überschreitung der Schwelle B. Die Schwelle B trennt klar die emotionale Ebene des psychischen Erlebnisses von jener Ebene, die dadurch gekennzeichnet ist, daß die Elemente des gegenständlichen Inhalts des Erlebnisses, das heißt die Elemente des früher bewußt analysierten Problems, sichtbar werden und kausale Zusammenhänge zwischen ihnen hergestellt werden. Dabei sind einige dieser Elemente und Zusammenhänge tatsächlich neu oder sie werden als neu begriffen. Dies ist das Ergebnis der unterbewußten Tätigkeit. Wenn ein emotionales Erlebnis als psychologische Tatsache bewußt wird, dann unternimmt gewöhnlich das Bewußtsein eine zielgerichtete Suche nach Sinn und Inhalt dieses Erlebnisses, oder aber der psychische Prozeß dringt infolge der eigenen Intensität und ungeachtet der Passivität (manchmal auch des Widerstands) des Bewußtseins in die Bewußtseinssphäre ein. In welchem dieser beiden Fälle die Erscheinung erfolgreicher und vollständiger bewußt wird, ist schwer zu sagen. Ein umfassendes Bewußtwerden liegt vermutlich dann vor, wenn beide Tendenzen (die bewußte Suche und das Impulsive der psychischen Erscheinung selbst) gleich gerichtet sind, nämlich auf die Bewußtwerdung des Prozesses. Im Ergebnis eines solchen gemeinsamen Wirkens zeigt sich die objektive Herkunft eines Erlebnisses. Dafür ist jedoch eine Reihe von begünstigenden Umständen erforderlich, wozu auch gehört, daß die Psyche nicht mit einer anderen aktiven Tätigkeit beschäftigt ist, die mit starken Emotionen verknüpft ist und die Bewußtseinssphäre besetzt hält. Die letztgenannte Tatsache kann entscheidend sein. Deshalb wird der emotionale Zustand häufig kausal (von Seiten seines Inhalts) nicht erkannt, und der Prozeß des Übergangs der psychischen Erscheinung erlischt gewissermaßen (präziser ausgedrückt — die psychische Erscheinung zieht sich ins Unterbewußte zurück), weshalb das Individuum in diesem Fall vergeblich nach Erklärungen sucht. In solchen Fällen ist anzunehmen, daß die Ursachen des entsprechenden emotionalen Zustands in ihrer Gesamtheit nie Objekte der bewußten Analyse gewesen sind. Das Fehlen von Elementen früherer bewußter psychischer Tätigkeiten kann die Erpiittlung des gesamten Inhalts stören. In diesem Falle entsteht faktisch die Notwendigkeit, eine komplizierte Denkaufgabe zu lösen. Wie der Lösungsversuch jeder beliebigen Aufgabe mit mehreren Unbekannten, kann der vorliegende Prozeß einen günstigen oder einen ungünstigen Ausgang nehmen. Wenn aber das unterbewußte Denken die Analyse vervollständigt hat, so erscheint die fertige 109
Lösung im Bewußtsein als plötzliche, glänzende Idee, das heißt intuitiv. Manche solcher Ideen, die wegen der Vielzahl ihrer assoziativen Verbindungen mit anderen psychischen Faktoren über große Intensität verfügen, können mehrfach im Bewußtsein des Individuums auftauchen, es geradezu verfolgen. Andere, nicht minder wertvolle Ideen dagegen können emotional nur schwach gefärbt sein, überhaupt keine große Intensität besitzen und nach einmaligem Auftauchen für immer verlorengehen, wenn das Individuum seine Aufmerksamkeit nicht darauf fixiert. Ein Wissenschaftlei muß darum unbedingt die Fähigkeit zu genauester Selbstbeobachtung besitzen. Die Fähigkeit, eigene Gedanken richtig einzuschätzen, ist nicht weniger wichtig als die Fähigkeit, fremde Gedanken leidenschaftslos und richtig zu bewerten. Die auf der Grundlage eigener, unerwarteter Gedanken vorgenommene Selbsterkenntnis vermag nicht nur der Vertiefung des eigenen Wissens von sich selber zu dienen, sondern auch der Entdeckung von neuen wissenschaftlichen Ideen. Sie ist folglich nicht nur für den Psychologen wichtig. Intuition und Logik sind darum die wichtigsten Werkzeuge der Selbsterkenntnis; aber sie bedingen sich nicht nur gegenseitig, sondern stehen auch im Widerstreit. Das bewußte Suchen kann manchmal fruchtlos sein und sogar die intuitive „Erleuchtung" des Bewußtseins unterdrücken, aber das intuitive Begreifen ist nur auf der Grundlage der logischen Analyse möglich. Gerade die dialektische Einheit von Logik und Intuition als den beiden Grundarten des Denkens bildet daher die Voraussetzung von wissenschaftlichen Entdeckungen und für das Entstehen neuer Ideen schlechthin. Unter der Bedingung, daß die ins Bewußtsein übergehende psychische Erscheinung den Inhalt der Aufgabe, die das Individuum irgend einmal bewußt gestellt und bis zu einem bestimmten Grade analysiert hat, darstellt, besitzt sie dann auch die potentielle Möglichkeit, auf der zweiten Ebene bewußt zu werden, das heißt, die Schwelle B ganz zu überschreiten. Es ist anzunehmen, daß ein solcher Übergang auf die zweite Ebene der Bewußtheit ebenfalls durch assoziative Verbindungen zwischen dem aktuellen emotionalen Erlebnis, das mit dem Übergang über die Schwelle E verbunden ist, und den Spuren der emotionalen Erlebnisse, von denen die ursprüngliche bewußte Analyse begleitet war, bedingt ist. Solche Ähnlichkeitsassoziationen (darum handelt es sich überwiegend) können außerordentlich bedeutungsvoll sein. Wenngleich es gegenwärtig schwer ist, diese Frage ganz zu klären, so ist doch eins unbestreitbar: diese emotionalen Zustände müssen nicht notwendig äußerlich übereinstimmen; sie sind zwar Folgen derselben Ursache, aber auch durch unterschiedliche äußere und innere Begleitum110
stände bestimmt. Außerdem fügt die unterbewußte Analyse den Elementen des Bewußtseinsinhalts, die bei der ursprünglichen Analyse ge Wonnen wurden, neue Komponenten hinzu. Es ist deshalb nur natürlich, wenn man annimmt, daß der neue emotionale Zustand des Individuums „voluminöser", tiefer, umfassender und, in der Regel, angenehmer ist, da die Analyse durch das unterbewußte Denken weit über die Grenzen der ursprünglichen bewußten Analyse hinausgelangt und die Lösung bereits erreicht ist. Mit dem Bewußtwerden des Inhalts der psychischen Erscheinung sowie der kausalen Zusammenhänge ihrer Elemente ist der Übergangsprozeß jedoch noch nicht abgeschlossen. Jeder psychische Prozeß ruft beim Individuum eine bestimmte Einstellung dazu hervor, wird vom Individuum in einer bestimmten Weise bewertet. Die mit Selbstbewußtsein ausgestattete Persönlichkeit kann den Prozeß der Selbsterkenntnis, in diesem Falle der Erkenntnis des psychischen Inhalts, der in die Bewußtseinssphäre übergeht, nicht auf halbem Wege, auf der zweiten Ebene, anhalten. Sowohl die Naturerkenntnis als auch die Selbsterkenntnis, wobei letztere eine mittelbare Erkenntnis des Problems darstellt (jedenfalls im Rahmen der Erscheinungen, die Gegenstand unserer Untersuchung sind), erfolgt ausschließlich im Bereich von Bewertungs- und Motivationscharakteristika der erkannten Erscheinungen. Der Erfolg dieser höchsten bewußten Analyse, die im Falle der Lösung wissenschaftlicher Probleme nichts anderes als die Ebene der Verifizierung und Aufdeckung der Wege ist, auf denen das eigene Denken zum Ergebnis gelangte, hängt weitgehend von den Charakteristika der Persönlichkeit ab, von ihren Tendenzen und vom Entwicklungsstand ihres Selbstbewußtseins, zu dem sie durch das gesamte vorhergehende Leben gelangt ist. Beobachtungen zeigen, daß sehr oft der Übergang von der Bewußtseinsebene auf die Ebene des Selbstbewußtseins (die dabei zu überwindende Schwelle bezeichnen wir mit dem Buchstaben D) sehr langwierig sein kann. Das ist besonders bei jenen Denkern der Fall, bei denen einer Äußerung Einsteins zufolge das konstruktive Denken gegenüber dem kritischen Denken dominiert. 12 Überwiegt dagegen bei einem Wissenschaftler das kritisch e Denken, dann erfolgen Bewertung und Kritik der eigenen Resultate unmittelbar nach deren Gewinnung. Für die schöpferische Arbeit ist das nicht immer günstig; einige Autoren schlagen darum vor, 12 Vgl. Einstein, A., Motiv des Forschens, in: Zu Max Plancks 60. Geburtstag (Ansprachen in der Deutschen Physikalischen Gesellschaft), Karlsruhe 1.918; Einstein, A., Mein Weltbild, Zürich-Wien-Stuttgart 1953; Einstein, A., Die Evolution in der Physik, Hamburg 1956.
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in der ersten Zeit von der Kritik der eigenen Resultate abzusehen, auf Kritik von anderer Seite nicht zu achten und sich ausschließlich darauf zu konzentrieren, alles Positive zu erhalten, was zur Weiterentwicklung und Vertiefung dieser Ergebnisse führen kann. Der Prozeß des Übergangs in die Sphäre des Selbstbewußtseins ist also nicht so ungreifbar, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Wissenschaftliche Kenntnisse sind immer dem kritischen Filter des seiner selbst bewußt werdenden Subjekts unterworfen. Die Bewertung des objektiven Inhalts des psychischen Prozesses, die Klärung seines Sinns und seiner Bedeutung für die Wissenschaft sowie der tatsächlichen Einstellung des Individuums zu diesem Inhalt sind Ergebnisse, die erreicht werden, wenn sich der Prozeß nach Überschreitung der DSchwelle in der Psyche des Individuums entfaltet. Wenn der psychische Prozeß eine solche Höhe erreicht hat, dann werden häufig auch alle seine vorhergehenden Zustände verständlicher, und der Prozeß wird objektiviert. Die auf diesem Wege gewonnenen Kenntnisse gehen, bis zu einem gewissen Grade von den subjektiven Eigenarten im Denken ihres Schöpfers befreit, nun in das Gebiet des objektiven wissenschaftlichen Wissens über. Im Ergebnis erscheint der gesamte vorausgegangene Denkprozeß zielgerichtet. Auf dieser Stufe bleibt vom Eindruck der „Irrationalität" und des „Mystischen", dem sich selbst die schöpferischsten Individuen oft kaum entziehen können, meistens keine Spur mehr übrig. Dieser Eindruck entsteht unseres Erachtens dadurch, daß der allmähliche Charakter des Bewußtwerdens sowie jener Umstand ignoriert werden, daß der psychische Prozeß beim Fehlen bestimmter Bedingungen auf halbem Wege, auf einer der ersten beiden Ebenen (meist auf dei ersten) zum Stillstand kommen kann. Da bewußte Aktivitäten des Individuums immer von bestimmten Motiven ausgehen, so wird nach Bewußtwerden der Emotionen (als einer psychologischen Erscheinung) und nach Beginn der Suche nach dem Gegenstand, der sich hinter dem emotionalen Erlebnis verbirgt, bereits die Motivation — nämlich das Streben der Persönlichkeit, Unbekanntes zu erkennen — in die Handlung einbezogen. Grundlage dieses Strebens können verschiedene, nicht zuletzt ästhetische Motive sein. Der Charakter der Motive ist jedoch für unsere Konzeption nicht von Belang. Daß es die genannte Reihenfolge der Ebenen (Emotionalität — Bewußtsein — Selbstbewußtsein) tatsächlich gibt, wird schon dadurch bewiesen, daß ohne die emotionale Ebene die Emotionen dem Individuum nicht bewußt werden könnten und ohne dieses Bewußtwerden ein bewußtes, motiviertes Streben nach Klärung der Situation unmöglich wäre. Das mit Selbstbewußtsein ausgestattete Individuum 112
strebt erst dann nach Selbsterkenntnis, wenn es in sich eine psychisch erlebte Problemsituation in Form von emotionalen Spannungen, vorfindet, die ganz unmittelbar mit seinem Leben verbunden sind und eine Klärung und Deutung erfordern. Das dargestellte Schema der Bewegimg von psychischen Prozessen bildet deshalb zugleich das psychologische Mittelglied im Prozeß der Genesis der Fähigkeit zur Selbsterkenntnis und folglich der Genesis des Selbstbewußtseins. Am Ende des vorliegenden Kapitels scheint es uns notwendig zu sein, kurz auf eine wichtige Frage einzugehen, deren weitere Ausarbeitung von prinzipieller Bedeutung für die Verallgemeinerung und Vertiefung der in dieser Arbeit dargelegten Thesen sein kann. Wenn wir das Gedächtnis in umfassenderem Sinne verstehen, das heißt im Sinne des dynamischen Unterbewußten, im Sinne der These von den unterbewußten Mechanismen zur Bildung psychischer Strukturen und dem Übergang dieser Strukturen ins Bewußtsein, so ist augenscheinlich folgende Frage vollauf berechtigt: Was gibt es an Gemeinsamen zwischen dem Prozeß der einfachen Aktualisierung früherer Kenntnisse nicht nur während des schöpferischen Aktes, sondern zum Beispiel auch in einem gewöhnlichen Gespräch — und dem Prozeß des Übergangs einer unterbewußt gebildeten Problemlösung ins Bewußtsein? Diese Frage muß unserer Meinung nach so beantwortet werden: Einen prinzipiellen Unterschied zwischen diesen beiden Prozessen gibt es nicht, und die phänomenologischen Verschiedenheiten zwischen ihnen sind in der Hauptsache lediglich eine Folge des Umstandes, daß sie für das Individuum von unterschiedlicher Wichtigkeit sind. Bei der einfachen Aktualisierung (Reproduktion) früherer Kenntnisse sind alle Etappen des Übergangsprozesses (insbesondere die emotionale Ebene) reduziert. Interessant ist, daß man bei einigen Psychologen ähnliche Bemerkungen hinsichtlich der Charakteristika des Gedächtnisprozesses finden kann. Bartlett behauptete zum Beispiel13, daß jeder Reproduktion und Erinnerung eine affektive Einstellung zugrunde liegt, die gewöhnlich in erster Linie reproduziert wird; danach wird, gewissermaßen zur Rechtfertigung dieser Einstellung, der ganze Inhalt reproduziert. S. L. Rubinstejn kritisiert zwar diese These Bartletts 14 , an der Existenz der genannten Erscheinung kann jedoch kaum gezweifelt werden. Von daher lassen sich folgende prinzipiell wichtige Thesen aufstellen: 1. Der schöpferische Prozeß und der Prozeß der einfachen Reproduktion unterscheiden sich hinsichtlich der Arbeit der psychologischen 13 Bartlett, F., Remembering, Cambridge 1932. 14 Vgl. Rubinstein, S. L., Grundlagen der allgemeinen
Psychologie,
a. a. O.,
S. 382. 8
NalCadäjan
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Mechanismen nur wenig voneinander (anders ausgedrückt: sie sind in den Hauptzügen ähnlich). 2. Auf der Grundlage der Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten des schöpferischen Prozesses beim Wissenschaftler eröffenen sich aussichtsreiche Möglichkeiten, den Prozeß der Genesis von Denken, Intuition und Sprache zu erforschen. Unseres Erachtens zeigen diese Thesen, daß die Lösung des Problems des Schöpfertums eine bedeutende Rolle bei der Klärung der fundamentalen und philosophisch äußerst wichtigen psychologischen Fragen nach der Entstehung von Denken, Intuition und Sprache spielen kann. Damit erweist sich noch einmal, daß das Problem der intuitiven „Erleuchtung" in der Tat ein Schlüsselproblem für die Entwicklung der Psychologie und der mit ihr eng verbundenen wissenschaftlichen Disziplinen darstellt.
KAPITEL IV
Wege zur Begründung der Hypothese
Bei der Ausarbeitung der grundlegenden Thesen einer wissenschaftlichen Hypothese sind auch jene Wege für die weiteren Überlegungen und Experimente zu klären, durch die die aufgestellten Thesen begründet werden können. Diese Wege bilden einen unabdingbaren Teil der Hypothese. Erst wenn wenigstens einige davon mehr oder minder deutlich gezeigt worden sind, wird die Hypothese zu einem System zulässiger wissenschaftlicher Vorstellungen von einem bestimmten Teil der materiellen oder geistigen Welt. Im vorliegenden Kapitel sollen einige Wege zur Begründung jener in den vorherigen Kapiteln beschriebenen hypothetischen Feststellungen über die Mechanismen der „Erleuchtung" des Bewußtseins im wissenschaftlichen Schöpfertum vorgeschlagen werden. 1. Das psychophysische Problem und das Unterbewußte Zur Bestätigung der Realität psychischer Prozesse, die nicht von der Aktivität des Bewußtseins begleitet werden, lassen sich in der psychologischen Literatur viele Argumente finden. Einige davon haben wir in den vorangegangenen Kapiteln dargestellt. Deshalb verzichten wir hier auf eine ausführliche Erörterung dieses Aspekts und gehen nur kurz auf eine Frage ein, die unseres Erachtens von grundsätzlicher Bedeutung ist. Die einzig richtige, dialektisch-materialistische Lösung des psychophysischen Problems ist die Akzeptierung und konkrete Durchführung des Prinzips der psychophysischen Einheit. Dieses Problem ist bereits in den dreißiger Jahren genau definiert worden und wurde in der Folgezeit in einigen Punkten durch S. L. Rubinstejn weiterentwickelt. In seinen Arbeiten der fünfziger Jahre, Bytie i soznanie, Moskau 1957 (Dt. Ausgabe: Sein und Bewußtsein, Berlin 1962) und Principy i puti razvitija psichologii, Moskau 1959 (Dt. Ausgabe: Prinzipien und 8*
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Wege der Entwicklung der Psychologie, Berlin 1969), hat Rubinstejn das psychophysische Problem konkretisiert und vor allem als psychophysiologisches Problem erforscht. Das ermöglicht es den Psychologen, moderne physiologische Untersuchungen für die Deutung einer Anzahl von konkreten psychischen Erscheinungen heranzuziehen. In der vorliegenden Arbeit haben wir einen solchen Versuch unternommen, um den vorgelegten psychologischen Thesen eine gewisse physiologische Basis zu geben. Die Konkretisierung und gründliche Aufdeckung des psychophysischen Problems im Zusammenhang mit dem psychophysiologischen Problem haben nach Meinung einiger Psychologen (insbesondere A. V. Bruslinskij) den reichlich verschwommenen Begriff der „Einheit" überflüssig werden lassen. Das psychophysische und besonders das psychophysiologische Problem bedürfen der weiteren vertieften Erforschung; da dieses Problem von seiner vollständigen Lösung noch weit entfernt ist. Eine besonders wichtige Voraussetzung für die Lösung dieses Problems besteht unserer Ansicht nach darin, daß die Realität des unterbewußten psychischen Lebens anerkannt wird. Zweifelsohne ist die Existenz physiologischer Prozesse im menschlichen Gehirn, die nicht von Bewußtsein begleitet werden, bewiesen. Diese Prozesse verlaufen nicht nur in den für den automatischen Ablauf der somatischen Prozesse verantwortlichen Bereichen des Gehirns, sondern auch in jenen, die nach heutigen Vorstellungen für die höheren psychischen Funktionen verantwortlich sind. Wenn die Existenz des Unterbewußten bestritten wird, dann wird damit zugleich behauptet, daß es, sobald die Aktivität des Bewußtseins aufhört (infolge der Schwächung oder Verringerung der Aktivität der entsprechenden physiologischen Prozesse usw.), zu einem Bruch zwischen dem Psychischen und dem Physiologischen kommt. Das Psychische verschwände dann auf eine rätselhafte Weise. Der dialektische Materialismus sieht Psychisches und Physiologisches als eine Einheit; folglich muß der marxistische Psychologe, wenn er konsequent sein will, auch die Existenz der Bereiche des Unterbewußten und des Unbewußten akzeptieren. Dies ist der einzig richtige Weg, um den psychophysischen Parallelismus — und also den Idealismus — zu vermeiden. Eine adäquate Theorie des Unterbewußten und des Unbewußten, die noch zu schaffen ist, muß zum Bestandteil der materialistischen Psychologie werden.
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2. Die Unvollständigkeit der bisherigen Analyse In der psychologischen Literatur zu den Problemen des Denkens wird die prinzipielle Unmöglichkeit, komplizierte Aufgaben bewußt vollständig zu analysieren, entweder überhaupt nicht oder nicht genügend berücksichtigt, was offenbar daran liegt, daß die Bedeutung dieses Problems unterschätzt wird. Diejenigen Autoren, die Fragen des heuristischen Denkens erforschten (K. Duncker, G. Polya, 0 . Tichomirov, V. Puskin und andere), meinen (und zwar aus guten Gründen), daß die Unvollständigkeit der Analyse eine Folge der Fähigkeit des menschlichen Denkens ist, bei der heuristischen Auswahl viele ungeeignete Varianten zu verwerfen. Dieses Problem besitzt jedoch noch eine andere Seite. Auf welche Weise wird die Untauglichkeit jener Varianten, die nicht untersucht werden, festgestellt? Diese Frage kann offensichtlich ohne Betrachtung der unterbewußten Denkmechanismen nicht beantwortet werden. Diese These, daß die Unvollständigkeit der Analyse eine Folge der heuristischen Natui des Denkens sei, ist bei der Lösung konkreter Aufgaben richtig, wenn das Individuum über ausgebildete schöpferische Fähigkeiten verfügt. Geht man dagegen genetisch (historisch) an dieses Problem heran und berücksichtigt man die Erblichkeit der schöpferischen Anlagen, so ergibt sich daraus, daß den schöpferischen Fähigkeiten nicht die größte Bedeutung eingeräumt werden kann, da die vom Individuum zu lösenden Probleme kompliziert sind und nicht vollständig analysiert werden können. (Das bedeutet keineswegs, daß an den Erkenntnisfähigkeiten des Menschen gezweifelt werden kann. Hier wird nur konstatiert, daß die Erscheinungen in der Realität wechselseitig derart verbunden sind, daß die Lösung eines Problems zu damit verbundenen neuen Problemen führt und das erste Problem außerhalb der Beziehung zu diesen neuen Problemen nicht voll erfaßt werden kann. Wenn aber die letzteren nicht gelöst, sondern nur gestellt sind, so wird offensichtlich, daß die erste Aufgabe nicht vollständig verstanden werden kann. Gerade darauf ist die Unendlichkeit des Erkenntnisprozesses zurückzuführen.) Im Prozeß der Beherrschung der Natur und der Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse hat der Mensch ständig komplizierter werdende Aufgaben zu lösen gehabt. Allmählich bildete sich im Verlaufe der Jahrtausende beim Menschen die Fähigkeit heraus, Lösungen zu antizipieren, die richtigen Wege zum Erreichen positiver Ergebnisse bei der Lösung lebenswichtiger Aufgaben zu finden, ohne sämtliche möglichen Varianten nach der Trial-and-Error-Methode zu 117
überprüfen (obwohl diese Methode die Grundlage für die Entwicklung schöpferischer Fähigkeiten ist und bei Kindern überwiegt). Einmal entstanden, hat sich die Fähigkeit zum intuitiven Begreifen nicht auf Grund irgendwelcher geheimnisvoller, immanenter eigener Möglichkeiten weiterentwickelt, sondern weil das Leben, das diese Fähigkeit hervorgebracht hatte, ihre tägliche Anwendung und folglich ihre Weiterentwicklung und Vervollkommnung erforderte. Das Schöpfertum ist eine universelle menschliche Fähigkeit, über die alle Menschen mehr oder weniger verfügen. In der heutigen Zeit, da überall erhöhte Anforderungen an das menschliche Denken gestellt werden, bieten sich den schöpferischen Fähigkeiten der Menschen neue Entwicklungsmöglichkeiten. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, daß es zu erblichen Veränderungen in der biologischen Grundlage des menschlichen Schöpfertums kommt, und zwar in Richtung auf die Verstärkung dieser Fähigkeiten. Ausgehend vom Prinzip der unvollständigen Analyse, die der Mensch in Problemsituationen vornimmt, kann man also das Problem der Genesis des intuitiven Denkens stellen und die Mechanismen verstehen, die das unterbewußte Denken und den Prozeß der „Einsicht" bei der Lösung von wissenschaftlichen Problemen notwendig machten. Die These von der Unvollständigkeit der Analyse bezieht sich nicht nur auf die vorherige bewußte Analyse, sondern auch auf den gesamten Erkenntnisprozeß. Diese These kann man auf folgende Weise konkretisieren: 1. Die Vielzahl der möglichen Varianten von Kombinationen aus Elementen der Problemsituation macht es praktisch unmöglich, alle zu betrachten. (Diese von uns mehrfach dargelegte These bedarf keiner weiteren Erläuterung.) 2. Der bewußte Verzicht auf viele mögliche, aber „unvernünftige" Varianten, die an nichts erinnern, was sich bereits im Geiste des Individuums befindet, ist ein starker positiver Faktor bei der Aufgabenlösung. Denn das Individuum ist dabei bemüht, alle seine früheren Kenntnisse, die in Beziehung zur jeweiligen Aufgabe stehen, zu aktualisieren. Doch ist dieser Verzicht zugleich auch ein Ausdruck der Schwäche des Denkens, seiner Trägheit, seiner Anhänglichkeit an bereits ausgebildete Denkschablonen.1 Bei der Lösung wissenschaftlicher 1 Daß Menschen mit schwachentwickeltem Intellekt die Gedanken und Handlungen (das heißt letzten Endes die wahren Motive, die diesen Handlungen zugrunde liegen) von Menschen mit weitaus stärker entwikkeltem Intellekt nicht verstehen, gehört zur gleichen Kategorie von Erscheinungen. Was für die ersten ungewöhnlich und unannehmbar ist.
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Probleme lehnt diese Trägheit des Geistes neben wirklich unsinnigen Varianten auch die ungewöhnlichen Varianten ab, die oft wissenschaftliche Entdeckungen sind. Es ist klar, daß infolge einer solchen Haltung („das kann nicht sein") auch nützliche Kombinationen abgelehnt werden; die Fähigkeit mancher hervorragender Wissenschaftler zur intuitiven Erkenntnis, zur wissenschaftlichen Voraussicht, ist zum Teil dadurch zu erklären, daß sie eben diese Haltung nicht haben, wodurch sich insbesondere das Phänomen des „bewußten Genies" erklärt. 3. Die Praxis der Aufgabenlösung hat eine wichtige Tatsache gezeigt, die sehr verbreitet ist und die Vollständigkeit der Analyse deutlich einschränkt. Wenn dem Subjekt eine Problem gestellt und daraus eine (verbal formulierte) Aufgabe hervorgehoben wird, so nimmt das Subjekt zunächst eine diffuse, irradiierende (I. P. Pavlov) Analyse der Aufgabe vor. Danach aber, weil die Forderung der Aufgabe implizit gegeben ist, wird die Analyse durch die Beziehungen der Forderung bestimmt, immer mehr verengt und in einer bestimmten Richtung vertieft. Sie wird, wie es S. L. Rubinstejn ausdrückt, von einer extensiven zur intensiven Analyse. Im Prozeß einer solchen Analyse konzentriert sich die Aufmerksamkeit des Individuums zunehmend auf das, was seiner Ansicht nach für die Auffindung der erforderlichen Lösung wichtig ist. Die implizit gegebene Forderung der Aufgabe richtet automatisch die Analyse auf die Klärung der Forderung, was zwar die Lösung einfacher Aufgaben beschleunigt, aber bei der Lösung von wissenschaftlichen Problemen dazu führt, daß viele mögliche Varianten ignoriert werden. Dazu trägt allerdings auch der Umstand bei, daß objektive und subjektive Momente bei der Aufgabenlösung oft im Widerstreit stehen und die Handlungen des Subjekts in verschiedene Richtungen lenken. Wenn im Prozeß der Aufgabenlösung das Übergewicht in der Richtungsbestimmung des Denkprozesses immer bei den objektiven Momenten läge (zu dieser Ansicht neigen zum Beispiel M. Wertheimer und S. L. Rubinstejn), so könnten Probleme ohne besondere Anstrengungen von jedem Subjekt gelöst werden, das über die nötige Wissensmenge verfügt. In diesem Falle entfiele überhaupt die Notwendigkeit, das Denken psychologisch zu erforschen. Ein solches maximal zielgerichtetes und effektives - allerdings von psychologischen Komponenten freies — Denken gibt es jedoch real nicht, sondern es ist so, daß die ist für die zweiten völlig gesetzmäßig und annehmbar. Der gesunde Menschenverstand bleibt stets hinter dem wissenschaftlichen Weltverständnis zurück.
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psychischen Eigenschaften des problemlösenden Individuums oft die wahre Bedeutung der Elemente und ihrer Wechselbeziehungen verzerren. Die Tatsache, daß es durch den Einfluß der implizit gegebenen Forderung zur Verengung der Analyse kommt, erhärtet die These von der Unvollständigkeit der Analyse, da eine eng gerichtete Analyse zur Aufgabenlösung führen kann, ohne daß viele wichtige Eigenschaften und Beziehungen der Aufgabenelemente berührt werden. Wenn hingegen die verengte, intensive Analyse nicht zur Lösimg führt, dann ist das Subjekt gezwungen, die diffuse Analyse (offenbar in reduzierter Form) von neuem zu beginnen und sie auf einen neuen Weg zu lenken. Solche wiederholten Analyseprozesse können allem Anschein nach nicht die ganze Vielfalt von Kombinationen der Aufgabenelemente erfassen. Immer bleibt etwas übrig, was von dem problemlösenden Individuum nicht berücksichtigt worden ist. Auf dieses wichtige Moment im Analyseprozeß hat Ruger schon 1910 besonders hingewiesen2, in der sowjetischen Psychologie taten dies S. L. Rubinstejn und seine Mitarbeiter3. 4. Nicht alle Aufgabenelemente treten in allen ihren begrifflichen Charakteristika auf, das heißt, daß während des Denkprozesses nicht alle ihre Eigenschaften bei der Aufgabenlösung erscheinen - was auch nur selten nötig ist. Beim Lösen geometrischer Aufgaben zum Beispiel kann derselbe Abschnitt einer Geraden in Verbindung mit den anderen Aufgabenelementen als Kathete, Hypotenuse, Halbierende, Höhe, Seite eines Vielecks usw. auftreten.4 Bei der Lösung einer Aufgabe werden jedoch meistens nur einige dieser Möglichkeiten unterschieden und begrifflich gekennzeichnet. Selbst nach der Lösung einer Aufgabe können viele Eigenschaften ihrer Elemente dem Individuum unbewußt bleiben. Offenbar ist dieser Umstand eine Erscheinungsform der Unvollständigkeit der bewußten (sowohl der bewußten als auch der unterbewußten) Analyse. Die bisherigen Ausführungen lassen die endgültige Folgerung zu, daß die Unvollständigkeit der Analyse keine besondere, sondern eine im Grunde unvermeidliche Erscheinung darstellt. 2 Ruger, H . A . , The Psychology of Efficiency, in: Arch.of Psychology, Nr. 15/1910. 3 Rubinstein, S. L., Das Denken und die Wege seiner Erforschung, Berlin 1961 (O myilenii i putjach ego issledovanija [dt.]); Process mySlenija i zakonomernosti analiza, sinteza i obobScenija, Red. S. L. RubinStejn. 4 Ausführlicher dazu in den Erläuterungen zu Polya in diesem Kapitel.
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3. Die Tiefe der vorhergehenden Aufgabenanalyse Bisher haben wir davon gesprochen, daß zur „Erleuchtung" eine vorherige bewußte Analyse der Aufgabe erforderlich ist. Das ist eine zwar richtige, aber sehr allgemeine Feststellung. Als ein Beweis für unsere Hypothese soll die Angabe von mehr oder weniger wertvollen Kriterien zur Bestimmung jenes notwendigen und hinreichenden Grades der vorherigen bewußten Analyse dienen, die den Eintritt der plötzlichen Einsicht gewährleistet. Natürlich ist es unmöglich, diese Frage so zu klären, daß die Antwort für jeden konkreten Fall unmittelbar anwendbar ist. Die Vielfalt der von den Menschen gelösten Denkaufgaben führt zur Vielfalt der Kriterien, die in jedem konkreten Fall angewendet werden müssen. Dennoch lassen sich unseres Erachtens einige allgemeine Kriterien finden. Folgendes muß bei der Bestimmung des Grades der Aufgabenanalyse, die zur Vorbereitung der (bewußten oder unterbewußten) Erleuchtung erforderlich ist, berücksichtigt werden: Die Praxis der Aufgabenlösung und der Lösung wissenschaftlicher Probleme hat gezeigt, daß viele Ideen, die das Wesen der jeweiligen Entdeckung ausmachen, bzw. die Ideen des Lösungsplans (oft entstehen gerade sie infolge einer „Einsicht"), nicht überhaupt neu, sondern neu nur unter den gegebenen Bedingungen, für die gegebene konkrete Problemsituation sind. So wurde festgestellt, daß viele (zweifellos die meisten) wissenschaftlichen Entdeckungen dadurch ermöglicht werden, daß schon vorher bekannte Ideen, Konzeptionen und Pläne auf neue Problemsituationen übertragen werden. Diese Ideen gewinnen, indem sie sich entsprechend den neuen Bedingungen umbilden und einen neuen Sachinhalt ausdrücken, eine eigenständige Existenz. Das ist die den Psychologen bekannte Übertragung des Lösungsweges einer bereits früher gelösten Aufgabe auf eine neue Aufgabe, die auf einem gänzlich anderen Wissensgebiet liegen kann, was gleichzeitig heißt, daß das, was beiden Aufgaben gemeinsam ist, verallgemeinert wird. Daraus kann mit Recht die Annahme hergeleitet werden, daß es zur Sicherung einer erfolgreichen Lösung der meisten (aber nicht aller) Probleme genügt, einen solchen Grad der Analyse zu gewährleisten, wie er zur Sicherung der Übertragung nötig ist. Die Forschungen S. L. Rubinstejns und seiner Mitarbeiter zeigen einen Ansatz zur Lösung dieser Frage. Rubinstejn und seine Mitarbeiter haben festgestellt, daß eine notwendige Voraussetzung zur Übertragung die ist, die Analyse der eigentlichen Aufgabe über die Analyse der unmittelbar gegebenen Bedingungen der Aufgabe hinausgehen zu lassen. Wenn zum Beispiel die 121
gleiche Größe von Dreiecken zu beweisen ist, so sind die unmittelbar gegebenen Bedingungen der Aufgabe diese Dreiecke. Solange die Seiten dieser Dreiecke nicht unter neuen Aspekten betrachtet werden und solange nicht neue Elemente der Aufgabe fixiert werden, ist sie nicht lösbar. Nur das Hinausgehen über die unmittelbar gegebenen Bedingungen der Aufgabe schafft die Voraussetzungen dafür, daß gemeinsame Züge zwischen dem Lösungsplan der vorliegenden Aufgabe und den Lösungsplänen bereits früher gelöster Aufgaben gefunden werden. 5 Auf der Basis der Grundthese, daß neue Ideen meistens nur relativ neu sind (nicht überhaupt, sondern nur unter den gegebenen konkreten Sachbedingungen), kann man schließen, daß der Lösungsprozeß sowohl wissenschaftlicher Probleme als auch einfacher Aufgaben (zum Beispiel von Aufgaben aus der elementaren und höheren Mathematik) erheblich erleichtert wird, wenn diese Aufgaben bis zu einem Grade analysiert werden, der eine Übertragung von Lösungen antizipiert. Das ganze Problem konzentriert sich also in der theoretisch und praktisch außerordentlich wichtigen Forderung, jenen Grad der Analyse (und die Kriterien zu seiner Bewertung) zu finden, der den plötzlichen Eintritt der Lösung (insight) gewährleistet. Leider können nur einige hypothetische Wege für die Auffindung solcher Kriterien gewiesen werden. Aus der früher zitierten Äußerung von Helmholtz könnte man schließen, daß es zur Gewährleistung des plötzlichen Erscheinens der Lösungsidee nötig sei, die zu lösende Aufgabe in allen ihren möglichen Varianten zu analysieren, das heißt faktisch, eine vollständige Aufgabenanalyse vorzunehmen. Im zweiten Abschnitt des vorliegenden Kapitels wurde gezeigt, daß das unmöglich ist. Außerdem werden wissenschaftliche Entdeckungen oft von jungen Wissenschaftlern gemacht, die auf ihrem Gebiet noch nicht über gleichsam enzyklopädische Kenntnisse verfügen und so nicht in der Lage sind, das Problem in allen Details zu betrachten. Oft reicht ein tiefes Verständnis der allgemeinen Idee des Problems aus, um eine Entdeckung zu machen (und zweitrangige Details verdecken oft die Idee, die den Kern des Problems ausmacht). Der Standpunkt von Helmholtz und anderen ebenso denkenden Wissenschaftlern kann unserer Meinung nach nicht akzeptiert werden. Er stellt übertriebene Bedingungen 5 Dabei gehen wir davon aus, daß die von S. L. Rubinstejn und seinen Mitarbeitern begründete These von der Notwendigkeit, zur Gewährleistung der Übertragung die jeweilige Aufgabe vorher zu analysieren, nicht erörtert zu werden braucht. Sie ist jeden Zweifel ausschließend begründet worden.
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(außer den subjektiven Umständen) zur Sicherung der Lösung. Weitaus wichtiger ist es jedoch, die minimal erforderlichen Bedingungen, die minimal nötige Tiefe und Breite der Analyse festzustellen. (Eine spezifische mathematische minimax-Aufgabe. Vielleicht ist eine solche Analogie bei der Aufstellung einer mathematischen Theorie des Denkens brauchbar.) Strenger (und also unseren Forderungen mehr entsprechend) kann folgende These sein: zum Insight kommt es dann, wenn infolge der bewußten Arbeit alle möglichen (nicht sinnlosen) Wechselbeziehungen der Aufgabenelemente gewonnen worden sind, außer der gesuchten (die im weiteren entweder parallel mit der bewußten Analyse unterbewußt gewonnen wird, aber eine gewisse Zeit unterhalb der Bewußtseinsschwelle bleiben kann.) Ist diese Bedingung erfüllt, so kann in den meisten Fällen erwartet werden, daß die Lösung nicht durch Transfer eintreten wird. Sie wird neu und unerwartet sein. Damit die eigentliche Aufgabe durch Übertragung gelöst werden kann, ist erforderlich, daß sich im Verlauf ihrer Analyse zwischen der implizit gegebenen Forderung und den übrigen Elementen der Aufgabe ebensolche Beziehungen ergeben, wie es diejenigen sind, die früher zur Lösungsidee geführt haben. Bestimmte Ideen entstehen unter mehr oder minder gleichen Bedingungen, wobei die Identität der Bedingungen nicht unbedingt eine äußerliche zu sein braucht. Das wichtigste ist die tiefe innere, logische Identität der Beziehungen. Wenn man sich auf die Analyse der eigentlichen Aufgaben konzentriert, dann muß man sich parallel dazu in jedem Stadium dieser Analyse bemühen, in früheren Erfahrungen etwas Ähnliches zu finden. (Dabei orientiert man sich auf Gemeinsamkeiten und äußere gegenständliche Merkmale, aber auch auf die Gemeinsamkeit der entstandenen Beziehungen.) Im Verlauf eines solchen ständigen Prozesses der Sondierung früherer Erfahrungen stoßen die Wissenschaftler häufig auf die gesuchte Idee. In diesem Prozeß werden jedoch nicht nur alte Ideen reproduziert, sehr oft bilden sich auch neue. Besonders bei der Lösung komplizierter wissenschaftlicher Probleme kann diese Methode deshalb äußerst fruchtbringend sein. Aufmerksamkeit muß auch der „Vernünftigkeit" der im Verlauf der Analyse gewonnenen Beziehungen zwischen den Aufgabenelementen gewidmet werden. Bei der Lösung relativ einfacher Aufgaben müssen die Wechselbeziehungen tatsächlich den elementaren Forderungen formallogischer und unmittelbarer (anschaulich-intuitiver) Vernünftigkeit genügen. Diese Momente können als Kriterien für die Bewertung der Richtigkeit des Verlaufs der Aufgabenanalyse dienen. Die 123
Lösung komplizierter wissenschaftlicher Probleme kann jedoch ein prinzipiell neues Vorgehen erfordern, bei dem die Beziehungen der Elemente ungewöhnlich sein können und sich den üblichen logischen Kriterien sowie der auf dem gesunden Menschenverstand beruhenden Offensichtlichkeit nicht fügen müssen. Auf eben diesen Umstand machte Niels Bohr aufmerksam, als er sagte, daß die moderne physikalische Theorie nur dann wahr sein könne, wenn sie so verrückt sei, daß sie auf den ersten Blick sinnlos erscheine. Deshalb kann das Kriterium der „Vernünftigkeit" nur in einem begrenzten, wenn auch ziemlich weiten Bereich der wissenschaftlichen Forschung angewendet werden. Auf den ersten Blick „sinnlose" Kombinationen dürfen bei der Arbeit an einem Problem nicht einfach verwoifen werden. Sie müssen untersucht werden. Neue Ideen erscheinen immer sinnlos und „verrückt", bis sie mit Hilfe von umfangreichem Faktenmaterial begründet worden und zu gewohnten Ideen geworden sind. Während der bewußten Aufgabenanalyse werden mehr und mehr jene Beziehungen gesichert, zu denen die ursprünglich implizit gegebene Forderung der Aufgabe gehöit. Der Verlauf der Analyse bildet faktisch einen Teil der gesuchten Wechselbeziehung heraus, und die verbliebenen leeren Stellen werden auf der Basis von Vermutungen ergänzt. Hier ergibt sich die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Voraussicht. Im Ergebnis dieser Voraussicht, dieser Vermutung, die oft plötzlich, als Folge einer „Erleuchtung" eintritt, wird eine Hypothese aufgestellt (oder eine Anzahl alternativer Hypothesen), die dann verifiziert wird. Da dies der allgemein bekannte Verlauf wissenschaftlicher schöpferischer Arbeit ist, bleibt lediglich anzumerken, daß ihre Fruchtbarkeit davon abhängt, wie der Wissenschaftler es versteht, innerhalb der bewußten Arbeit am Problem den Boden für einen erfolgreichen Vollzug der unterbewußten Tätigkeit und für den folgenden Eintritt der intuitiven „Erleuchtung" zubereiten. Dieses Können gründet sich unserer Ansicht nach auf die Fähigkeit, bei der bewußten Analyse möglichst viele Verbindungen der Aufgabenelemente mit der implizit gegebenen-Forderung zu bilden. Es ist anzunehmen, daß die folgende unterbewußte Denkarbeit um so erfolgreicher verläuft und der Lösungsprozeß um so schneller abgeschlossen wird, je weniger leere Stellen in jener Beziehung der Aufgabenelemente, die unmittelbar zur Lösung führt, bleiben. Wir glauben, daß die Schaffung einer psychologischen Theorie der wissenschaftlichen Voraussicht insbesondere von den obengenannten Überlegungen ausgehen muß. Um das plötzliche Erscheinen der Lösung zu sichern, muß eine umfangreiche Vorarbeit beim Studium des 124
entsprechenden Wissensgebietes und bei der Analyse der zu lösenden Aufgabe geleistet werden. Diese allgemeine Feststellung leuchtet jedem ein, der schon einmal wissenschaftliche Probleme oder Aufgaben gelöst hat. Wenn der Wissenschaftler im Prozeß der Aufgabenlösung viel Zeit und Arbeit aufgewendet hat, so bedeutet das noch nicht, daß die Aufgabe vollständig analysiert worden ist. Der psychische Zustand des Wissenschaftlers spielt bei der Aufgabenlösung insofern eine Rolle, als er die Fortsetzung oder die Einstellung der Aufgabenanalyse beeinflußt und damit zugleich den unterbewußten Prozeß der Ergänzung und das Erscheinen oder Nichterscheinen der Lösung (im letzteren Falle beeinflußt er den Zeitpunkt der Lösung). Bei der psychologischen Erforschung der „Einsicht" können uns die subjektiven Erlebnisse des aufgabenlösenden Individuums in gewisser Weise Aufschluß über den Lösungsverlauf geben; erstrangige Bedeutung gewinnt jedoch das Wissen um den realen Durchdringungsgrad des Analyseprozesses. Zum Schluß ist noch auf einen Faktor hinzuweisen, der die Beantwortung der Frage nach dem nötigen Durchdringungsgrad der Aufgabenanalyse erschwert. Gemeint ist die Tatsache, daß bei der unterbewußten Fortsetzung der Analyse ebenso wie bei der bewußten Analyse die Aktualisierung früherer Kenntnisse nötig ist, insbesondere wenn die bewußte Analyse in einem frühen Stadium eingestellt wurde. In diesem Falle ergibt sich die Frage nach den Wegen, auf denen die Wechselwirkung zwischen den Elementen der jeweiligen Aufgabe und den früheren Kenntnissen erfolgt: Auf welche Weise werden die früheren Kenntnisse in der unterbewußten Sphäre aktualisiert, und wie kann man das Vorhandensein einer solchen Aktualisierung feststellen? Die Erscheinung des plötzlichen Eintritts von Aufgabenlösungen zeigt, daß es einen solchen Prozeß geben muß. Unklar ist jedoch, wie er konkret verläuft. Auf mögliche Mechanismen der unterbewußten Aktualisierung kann das Vorhandensein einer assoziativen Verbindung zwischen dem Inhalt der betreffenden Aufgabe und einer bestimmten Gruppe vorher empfangener Eindrücke hinweisen. Die zukünftige experimentelle und theoretische Erforschung dieses Problems muß unserer Meinung nach besonders auf die Entdeckung dieser Mechanismen gerichtet sein. Von besonderem Interesse sind dabei die relativen Funktionen von assoziativen Verbindungen und Bedeutungsinhalten im Prozeß der unterbewußten Aktualisierung.
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4. Die retrospektive Analyse des Denkprozesses mit Hilfe der gewonnenen Lösung Die retrospektive Analyse des Denkprozesses bestätigt unseres Erachtens, daß es sowohl die Unvollständigkeit der Analyse als auch eine unterbewußte Denktätigkeit bei der Aufgabenlösung gibt. Das unterbewußte Denken, das wir zunächst postuliert hatten, erfährt seine Bestätigung. Mathematiker, Physiker und Wissenschaftler anderer Fachgebiete, die eine Viehlzahl unterschiedlicher Aufgaben lösen, wissen sehr gut, daß die Arbeit an der Lösung einer Aufgabe nicht mit der Erfüllung der Forderung der Aufgabe beendet ist. Eine der Hauptetappen des Prozesses der Aufgabenlösung ist die abschließende Etappe der Verifizierung und Bewertung. Sie ist nicht nur notwendig zur Überprüfung der Richtigkeit der gewonnenen Lösung (was allein praktisch sehr wichtig ist), sondern auch zum tieferen Verständnis des ganzen Problems und des Weges, den die Aufgabenlösung genommen hat. Bedeutende Mathematiker sind sich durchaus der enormen Bedeutung bewußt, die der (bewußten) verifizierenden und bewertenden Abschlußarbeit mit Hilfe des gewonnenen Ergebnisses zukommt, und vertreten die Ansicht, daß für ein tiefes Verständnis des gesamten Prozesses der Aufgabenlösung eine solche Arbeit absolut notwendig ist. Diese Tatsache vermerkt besonders G. Polya. Von der Praxis der Mathematiker her kann festgestellt werden, daß die obengenannte abschließende Arbeit bei der Aufgabenlösung gewöhnlich absolut nötig ist (besonders bei der Lösung von mehr oder weniger komplizierten Aufgaben), damit die jungen Wissenschaftler jenes wertvolle Gefühl für den rationellsten Weg der Aufgabenlösung erwerben, wodurch sich berühmte Mathematiker oft gegenüber ihren jungen Kollegen auszeichnen. Die anschließende Überprüfung zeigt auch jene falschen Schritte, die bei der Lösung der Aufgabe getan wurden, und hilft, ihre spätere Wiederholung zu vermeiden. Im Zusammenhang mit dem Problem des plötzlichen Eintritts der Lösung stellt sich dieses Problem folgendermaßen dar. Die plötzlich gefundene Lösung, die blitzartig den Verstand des Individuums „erhellt", beleuchtet auch das ganze Problem auf neue Art. Wenn sie plötzlich auftritt, dann beleuchtet sie mehr oder minder vollständig auch den Weg, den der Prozeß der Aufgabenanalyse genommen hat. Bemerkenswert ist dabei der Umstand, daß eine solche Lösimg fast immer deutlich macht, daß sich unser Verstehen der Aufgabe, der gesamten Problemsituation überhaupt und insbesondere unser Begreifen 126
jenes Verhältnisses, in dem die Bedingungen und die Forderung der Aufgabe stehen, bis dahin (oder bis zur Einstellung der bewußten Aufgabenanalyse) von jenem Stadium des Verstehens unterscheidet, das sich bei uns im Augenblick des Eintritts die Lösung herausgebildet hat. Selbst dann, wenn die Lösung der Aufgabe bereits vorliegt, begreift das lösende Individuum die Aufgabe also nur zum Teil. Das ist unter anderem deshalb der Fall, weil das Individuum, das die Aufgabe löst, Lösungsmethoden überträgt, ohne die betreffende Aufgabe genügend analysiert zu haben; dadurch kommt es zu der bei Schülern und Studenten oft zu beobachtenden Erscheinung, daß Aufgaben gelöst werden, die gar nicht verstanden worden sind. Nicht minder wichtig ist ein anderer Faktor. Wenn die Lösung plötzlich eintritt, dann sind die Wechselbeziehungen der zur Problemsituation gehörenden Elemente und die begrifflichen Charakteristika dieser Elemente, die der Forderung der Aufgabe entsprechen, zum Teil außerhalb der zielgerichteten Arbeit des Bewußtseins gebildet worden. Wenn nun die Lösung der Aufgabe bewußt geworden ist, dann ist es ganz natürlich, daß automatisch auch jene Wechselbeziehung der Aufgabenelemente, die die direkte Ursache der Lösung bildet, zum Objekt des Bewußtseins wird. Jedenfalls kann diese Beziehung oft willkürlich und mit geringen Anstrengungen ganz detailliert ins Bewußtsein gerufen werden. Die Dynamik der gefundenen Lösung besitzt also selbst die Tendenz, den Weg zu beleuchten, der zur Lösung geführt hat. Da die Lösung einer beliebigen Aufgabe nur dann plötzlich eintreten kann, wenn eine bestimmte Vorarbeit an der bewußten Analyse geleistet worden ist, so liegt auf der Hand, daß jenes zur Lösung führende endgültige Verhältnis der Elemente stets nicht nur die Grundelemente der Aufgabe enthält, sondern auch bestimmte Elementenkomplexe und Teilbeziehungen, die im Verlauf der vorhergehenden bewußten Analyse gebildet worden waren. Darum ist es in allen Fällen, in denen die Lösung des Problems durch intuitive „Erleuchtung" gewonnen wurde, prinzipiell möglich, die Logik des Weges zu konstruieren, den die bewußte Aufgabenanalyse hätte beschreiten müssen, um zum gleichen Ergebnis zu gelangen. Das ist indes nicht immer einfach. Als Beweis mag Gauß dienen, der zwar die gesuchten Ergebnisse kannte, aber nicht wußte, wie er zu ihnen gelangen sollte. Diese Schwierigkeit, den Weg, den das Denken hätte nehmen müssen, um nach einer bestimmten Anzahl bewußter logischer Operationen zum gleichen Ergebnis zu kommen, detailliert zu ververfolgen, ist natürlich größer, wenn die Aufgabenlösung plötzlich eingetreten ist. In diesen Fällen erweist sich, daß ein bestimmter Teil 127
der zur Lösung führenden Beziehungen außerhalb der Arbeit des Bewußtseins gebildet worden ist. Ganz natürlich ist die Annahme - und ein anderer Weg kann kaum gezeigt werden —, daß ein bestimmter Teil des Prozesses der Aufgabenlösung unterbewußt erfolgt (konkret — des Entstehungsprozesses jener Wechselbeziehung der Elemente, die unmittelbare Ursache und Voraussetzung der gesuchten Lösung ist). Interessant ist die folgende Feststellung: Die gewonnene endgültige Lösung der Aufgabe beleuchtet auf neue Weise nicht nur die Bedingungen, Forderungen und den Lösungsverlauf einer Aufgabe, die zum Teil unterbewußt gelöst worden ist, sondern auch die Bedingungen einer Aufgabe, deren Lösung völlig bewußt gewonnen wurde, bei deren Lösung der bewußte Prozeß nicht unterbrochen wurde, sondern vom Augenblick der Formulierung bis zur Gewinnung der endgültigen Lösung kontinuierlich verlaufen ist. Die Ursachen sind vermutlich folgende: 1. Bei der bewußten Aufgabenanalyse verläuft gleichzeitg und parallel eine unterbewußte Analyse, die mit der bewußten Analyse unmittelbar verbunden und durch sie bedingt ist. 2. Die Analyse ist auch dann noch unvollständig, wenn die Lösung bereits gefunden ist. Die retrospektive Analyse beweist also ein weiteres Mal, daß die Behauptung, die Unvollständigkeit der Analyse sei gesetzmäßig, richtig ist. Die These, daß bei der bewußten und kontinuierlichen Aufgabenlösung das Bewußtsein und das Unterbewußte parallel in derselben Richtung wirken, muß genauer betrachtet werden, da es sich hier um eines der wichtigsten Probleme der Denkpsychologie handelt. Der Einfluß der Lösung einer Aufgabe auf unser Verständnis aller ihrer Komponenten, der Weselbeziehungen zwischen den letzteren und des Lösungsverlaufs ist nur graduell verschieden, ob die Lösung nun plötzlich eingetreten ist oder ob sie das Ergebnis einer bewußten und kontinuierlichen Analyse ist. Im ersten Falle ist nicht immer klar, worauf eine solche Lösung zurückzuführen ist, da es im Verlauf der Analyse sehr viele unbewußt gebliebene Elemente gibt. Deshalb ruft eine solche Lösung Erstaunen hervor und wird einer „mystischen" Eingebung zugeschrieben. Im zweiten Falle ist der Umfang des nicht Bewußten relativ gering, und die Hauptrolle bei der Herausbildung einer neuen Sicht auf die Aufgabe und ihren Lösungsverlauf spielt die natürliche und unvermeidliche Unvollständigkeit der bewußten Analyse. Faktisch wirken in jedem der Fälle beide Faktoren: die natürliche und unvermeidliche Unvollständigkeit der Analyse und das Vorhandensein eines unterbewußten Prozesses der Aufgabenanalyse. 128
Im Falle der plötzlichen Aufgabenlösung spielt der zweite Faktor eine so bedeutende Rolle, daß manche Autoren meinen, die gewonnene Lösung sei ganz und gar das Ergebnis unterbewußter Denktätigkeit. Die Bedeutung dieses Faktors wächst merklich bei der Lösung von komplizierten wissenschaftlichen Problemen, wenn der Wissenschaftler wegen der Kompliziertheit und des Umfanges des Problems gezwungen ist, die bewußte Arbeit an der Lösung periodisch zu unterbrechen und später wieder neu aufzunehmen. In solchen Fällen vollzieht sich die Fortsetzung der Analyse völlig im unterbewußten Bereich. Da die ursprüngliche Analyse bereits die Ausgangsmöglichkeiten für einen erfolgreichen Verlauf des Lösungsprozesses geschaffen hat, so sind die Ergebnisse der unterbewußten Arbeit oft bedeutend, was die Überschätzung der Rolle der unterbewußten Sphäre bei der Aufgabenlösung begünstigt. Die Prozesse,, die in der unterbewußten Sphäre der Psyche ablaufen und die dadurch hervorgerufen werden, daß die betreffende Aufgabe zum psychischen Besitz des Individuums geworden ist, sind also ebenso rational wie die bewußten Denkprozesse. Sie zeichnen sich jedoch dadurch aus, daß sie in erheblichem Maße ungeordnet und chaotisch verlaufen, leicht ihr Ziel verlieren und sich in eine amorphe Aktivität verwandeln können. Wichtig ist ferner, daß aller Wahrscheinlichkeit nach im Funktionieren der unterbewußten Prozesse assoziative Gesetzmäßigkeiten vorherrschen und diese Prozesse faktisch steuern. 6 Das bedeutet keineswegs, daß die unterbewußten intellektuellen Prozesse unkompliziert sind. Ob wir sie für einfach oder kompliziert halten, hängt weitgehend davon ab, wie wir das Wesen der assoziativen Verbindungen, ihrer Arten und jener psychischen Kräfte, die zu ihrer Bildung führen, auffassen. Nach heutigen Vorstellungen gibt es Assoziationen auf Grund räumlicher und zeitlicher Verbindimg, Assoziationen auf Grund von Ähnlichkeit oder Kontrasten sowie kausal verbundene, verallgemeinerte und emotionale Assoziationskomplexe. Sie werden nicht nur zufällig gebildet, sondern auch unter der lenkenden Einwirkung von Einstellungen, Strebungen und Apperzeptionen. Dabei kann die Wirkung dieser inneren psychologischen Kräfte ebenso wie die Bildung aller Alten von assoziativen Ketten und Ensembles der obengenannten Typen sowohl bewußt-unterbewußt als auch völlig unbewußt erfolgen. Die Bildung einiger Assoziationsarten (zum Bei6 Die Natur der unterbewußten Denkprozesse wird erst dann tiefer verstanden werden können, wenn eine Theorie der Kriterien und Einstellungen ausgearbeitet worden ist.
9 NaKadijan
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spiel kausaler, die zur Gewinnung neuer Kenntnisse führen) ist im Grunde ein Denkprozeß. Deshalb bedeutet die Behauptung, daß in den unterbewußten Prozessen assoziative Gesetzmäßigkeiten überwiegen, keineswegs, daß diese Prozesse elementar und leichter zu erforschen seien, als das für bewußte psychische Prozesse zutrifft. Ganz im Gegenteil. Es gibt Grund zu der Annahme, daß die unterbewußten Prozesse und insbesondere das Denken im Hinblick auf ihre Determiniertheit und ihre Struktur erheblieh komplizierter als das bewußte Denken sind. Die Rolle des unterbewußten Denkens und die Form, in der es sich vollzieht, wird selbst von den Psychologen, die deren Bedeutung nicht leugnen, nur ungenügend dargestellt. Einige (Ponomarev, Pribram und andere) behaupten sogar, das unterbewußte Denken (und folglich die mit seiner Hilfe gewonnenen, zur Herausbildung der Lösung beitragenden Ergebnisse) verlaufe nur parallel mit dem bewußten Denkprozeß als ein Nebenprozeß, der Schließlich auch Nebenprodukte liefere. Damit wird offenkundig ignoriert, daß das unterbewußte Denken auch dann möglich ist und eine Rolle spielt, wenn der Prozeß der bewußten Aufgabenanalyse ganz eingestellt worden ist. Eine solche Auffassung von der Bedeutung des unterbewußten Denkens hat zwei unerwünschte Folgen: Erstens wird ein umfassendes und wichtiges Gebiet der Psyche ignoriert und die Möglichkeit seines relativ selbständigen Funktionierens bestritten, was zur Verengung der psychologischen Forschung führt. Das ist eine Reverenz vor den längst überwundenen klassischen intellektualistischen Schulen der Psychologie, die die Psyche mit dem Bewußtsein gleichsetzten. Zweitens widerspricht eine solche Auffassung vom Unterbewußten den Tatsachen. Zur Illustration führen wir eine Äußerung D. I. Mendeleevs über die Entdeckung des Periodensystems der Elemente an. (Es geht um die abschließende Etappe der Entdeckung, die nach Angaben Kedrovs 15 Jahre lang vorbereitet worden war. Mendeleev arbeitete 3 Tage und 3 Nächte am Schreibpult und versuchte, die Ergebnisse der vorausgegangenen Arbeit zu einer Tabelle zusammenzustellen. Alle seine Versuche waren jedoch vergeblich. Ermüdet brach er die Arbeit ab, legte sich schlafen und schlief sofort ein.) „ I m Traum sah ich die Tabelle, in der alle Elemente wie erforderlich angeordnet waren", sagte Mendeleev. „Ich erwachte und notierte sie sofort auf einem Zettel - nur an einer Stelle war später eine Korrektur nötig." 7 7 Zitiert nach: Ponomarev, Ja. A., Psichologija tvorleskogo mySlenija, Moskau 1960, S. 135.
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An diesem und an analogen Beispielen wird sichtbar, daß die Lösung eines wissenschaftlichen Problems außerhalb der Bewußtseinssphäre gebildet werden kann, wenn das Bewußtsein absolut abgeschaltet ist. Einige Psychologen behaupten indessen entgegen der Logik der Tatsachen etwas ganz anderes. So ist J . A. Ponomarev der Meinung, der das obige Zitat einem Buch von Lapsin entnommen hat, daß sich das gesuchte Verhältnis der Elemente im Periodensystem bei Mendeleev im Verlauf der bewußten Denkarbeit.herausgebildet habe, jedoch nicht als Lösung des Problems bewußt geworden sei. Von daher folgert er weiter, daß eine plötzlich eintretende Lösung von Aufgaben immer im Verlauf der bewußten Arbeit gebildet werde, ihr Bewußtwerden als die gesuchte Lösung jedoch plötzlich erfolge. Folgt man der Logik der Ponomarevschen Überlegungen, dann ergibt sich, daß das Resultat der Lösung dann bewußt wird, wenn das Bewußtsein nicht funktioniert (im obengenannten Beispiel im Schlaf). Ponomarev schreibt dazu: „Es ist leicht zu erraten, daß der Wissenschaftler die betreffende Form der Tabelle während der Manipulationen mit den Kärtchen erhalten hat, auf denen die notwendigen Angaben über die Elemente verzeichnet waren (Mendeleev hatte versucht, diese Kärtchen auf reirt mechanischem Wege zu kombinieren). Die richtige Kombination war jedoch als unbewußtes Nebenprodukt entstanden. Im Zustand der Ermüdung hatte es der Wissenschaftler nicht erkennen können. Dafür bedurfte es einer kurzen Erholung." 8 Wenn aber die Lösung während des Schlafs eintrat, so liegt auf der Hand, daß Ponomarevs Behauptimg, sie sei während der bewußten Arbeit gebildet und erst nach der Erholung bewußt geworden, zumindest fragwürdig ist. Indem er stillschweigend bestreitet, daß geistige Operationen zur Umstellung von Denkelementen und die Gewinnung der Lösung auf der Unterbewußten Ebene möglich sind, schreibt Pono.marev die Lösung allein dem Bewußtsein zu. Ungeachtet dieses schwachen Punktes in den Überlegungen Ponomarevs sind seine Untersuchungen, deren Ziel es ist, Korrelationen zwischen den bewußten und den unbewußten Komponenten des Denkens und seinen Ergebnissen herzustellen, von großem Wert für die Lösung des Problems der Intuition. Wie wir zu zeigen versucht haben, ist nämlich eine der Grundfragen innerhalb des Problems der Intuition die Frage, wie der unbewußte psychische Inhalt gebildet und wie er schließlich bewußt wird, das heißt, wie er aus dem unterbewußten Bereich ins Bewußtsein übergeht. Deshalb muß die von Ponomarev verfolgte Forschungslinie als äußerst wichtig angesehen werden. 8 Ebenda, S. 136. 9*
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Noch ein anderes Moment ist zu beachten. Wenn man annimmt, daß die gesuchte Problemlösung unterbewußt parallel zur bewußten Analyse als ein „nicht bewußt werdendes Nebenprodukt" gebildet wird, so ergibt sich die Frage: Warum wird in den meisten Fällen der bewußten Aufgabenlösung gerade das Wichtigste, worauf alle Bemühungen des Wissenschaftlers gerichtet sind, zuerst als Nebenprodukt gewonnen und erst später bewußt? Ist dies nicht ein zusätzlicher Beweis dafür, daß die unterbewußte Sphäre der Psyche, wenn sie eine genügend starke Einstellung auf ein bestimmtes Ziel erhält, selbständig und zielstrebig mit Begriffen und anderen für die Gewährleistung der Denktätigkeit nötigen Gebilden arbeiten kann? Man muß annehmen, daß dies der Fall ist. Die bekannten Fakten sprechen jedenfalls dafür und nicht dagegen. Schon Ruger stellte beim Studium des Lösungsprozesses bei Denkaufgaben fest, daß einige Versuchspersonen, nachdem sie die Lösung dieser Aufgaben gefunden hatten, nicht anzugeben vermochten, auf welche Weise ihnen dies gelungen war. Ruger schenkte dem aber nicht genügend Beachtung und stellte keine speziellen Untersuchungen an, um die Ursachen dieser Erscheinung zu klären. Analoge Ergebnisse verzeichnen auch viele andere Psychologen. Geht man davon aus, daß die gewonnene Lösung selbst oder aber ihre bewußte Analyse den Lösungsweg der Aufgabe beleuchten, so kann man daraus folgern, daß die genannte Erscheinung auf zwei von uns schon früher vermerkte Ursachen zurückgeht: auf die natürliche Unvollständigkeit der Analyse und auf das Vorhandensein der unterbewußten Ergänzung. Dabei darf nicht vergessen werden, daß die unterbewußte Analyse sowohl ein ganz selbständig verlaufender Prozeß als auch ein Prozeß sein kann, der parallel zur bewußten Analyse erfolgt und unmittelbar von ihr abhängt. Den Begriff „Lösung der Aufgabe" haben wir bis jetzt in weitem Sinne benutzt. Bei differenzierterem Vorgehen muß er jedoch in zwei Bestandteile gegliedert werden: den Plan der Aufgabenlösung und das endgültig gewonnene Resultat. Zahlreiche Beobachtungen von Wissenschaftlern und Pädagogen zeigen, daß infolge einer plötzlichen „Erleuchtung" des Denkens in den meisten Fällen der Plan für die Lösung der Aufgabe, nicht aber die Lösung selbst ins Bewußtsein des Individuums tritt. Die Lösung der Aufgabe erfolgt auf der Grundlage des gefundenen Plans. Es ist natürlich, daß, wenn die plötzlich auftauchende Idee der Plan zur Aufgabenlösung ist, damit dem Bewußtsein des Individuums auch die gesamte Problemsituation und der Lösungsprozeß in einem neuen Licht erscheinen. Nach dem Auftauchen 132
der Idee des Plans muß jedoch sofort die detaillierte Ausführung der Lösung erfolgen, in deren Verlauf der Plan gewöhnlich wesentlich korrigiert wird. Erst wenn die endgültige Lösung der Aufgabe gefunden ist, ist es zweckmäßig, den gesamten durchmessenen Weg zu betrachten. In diesem Punkt stimmen wir teilweise mit der folgenden Auffassung G. Polyas überein: „Durch Rückschau auf die vollendete Lösung, durch nochmaliges Erwägen und Überprüfen des Resultats und des Weges, der dazu führte, könnten sie (die Lernenden — A. N.) ihr Wissen festigen und ihre Fähigkeit, Aufgaben zu lösen, entwickeln. Ein guter Lehrer sollte die Ansicht vertreten . . ., daß überhaupt niemals eine Aufgabe vollständig erschöpft ist. Es bleibt immer noch etwas zu tun; mit genügend Fleiß und Eindringen in die Aufgabe können wir jede Lösung verbessern, und auf jeden Fall können wir unsere Lösung besser verstehen." 9 Ein ausgezeichnetes Beispiel, das die These von der Funktion der anschließenden Überprüfung der Aufgabe auf Grund der gewonnenen Lösung illustrieren kann, ist die in Polyas Buch angeführte geometrische Aufgabe. Mit Hilfe von klug gewählten Fragen beweist Polya überzeugend, daß die Aufgabenlösung keineswegs das Ende des Lösungsprozesses bedeutet. Wenn man die erhaltene Lösung analysiert, so kann man die gesamte Problemsituation und den Lösungsweg sehr viel tiefer verstehen und bewußt werden lassen: „. . . dank den vorstehenden Fragen", führt Polya aus, „(gewinnen) die Einzelheiten der Formel (der Lösung überhaupt — A. N.) neue Bedeutung und werden mit verschiedenen Tatsachen verkettet." 10 Die Analyse des Beispiels von Polya zeigt noch einmal überzeugend, daß die These von der Unvollständigkeit der Analyse und der unterbewußten Ergänzung richtig ist. Der Terminus „Aufgabenlösung" ist also zweckmäßig in weitem Sinne zu benutzen, weil Lösung und Lösungsplan nicht identisch sind. Der Lösungsplan bestimmt den Prozeß des logischen Abschlusses der Lösung. Von der endgültigen Lösung her kann man den Verlauf, den Prozeß der Lösung rekonstruieien und von daher auch den endgültigen und präzisierten Lösungsplan. Es ist wichtig, daß diese These untersucht und experimentell untermauert wird. Dazu kann folgender Weg der experimentellen Überprüfung vorweg genannt werden. Der Versuchsperson wird zur Lösung eine 9 Polya, G., Schule des Denkens, Bern 1949, S. 28. 10 Ebenda, S. 31. 133
bestimmte Aufgabe vorgelegt. (Zweckmäßig ist eine mathematische oder physikalische Denkaufgabe, für deren Lösung von Anfang an ein schöpferisches Vorgehen erforderlich ist. Denksportaufgaben erfordern zu Beginn ihrer Analyse eine Neuformulierung, die sich radikal von jener Formulierung unterscheidet, in der sie der Versuchsperson vorgelegt werden.) Der Lösungsprozeß wird sorgfältig protokolliert. Nachdem die Lösung gefunden ist, wird die Versuchsperson aufgefordert, die Lösung zu analysieren und sich ein umfassenderes und tieferes Verständnis der Aufgabe, des Lösungsprozesses und des Ergebnisses zu erarbeiten, wobei der Versuchsperson wie im Polyaschen Beispiel gut durchdachte Fragen gestellt werden. Außerdem ist es nützlich, der Versuchsperson vorzuschlagen, die betreffende Aufgabe auf irgendeine andere Weise zu lösen, wozu entsprechende Aufgaben gewählt werden können, die mehrere Lösungen besitzen. In solchen Fällen kann die endgültige Wechselbeziehung der Aufgabenelemente, die zur Lösung führt, jedesmal eine andere sein. Ein tiefes Verständnis der Aufgabe liegt vor, wenn die Versuchsperson - ausgehend von der auf eine bestimmte Weise gefundenen Lösung — auch alle übrigen Wege angeben kann, die zur Lösung führen. Wird nur ein einziger Lösungsweg bewußt, so bedeutet das, daß die Analyse unvollständig und die Aufgabe nicht ganz verstanden worden ist. Wenn hingegen die erhaltene Lösung ohne Schwierigkeiten nicht nur den Weg, auf dem sie gefunden wurde, sondern auch die anderen Wege rekonstruiert, so kann dies ein Hinweis darauf sein, daß es eine unterbewußte Analyse nicht nur innerhalb des eigentlichen Weges, sondern auch bei den anderen Wegen gibt, die bis zur Gewinnung der Lösung überhaupt nicht bewußt geworden waren. Für unsere Zwecke ist es jedoch günstiger, der Versuchsperson der Einfachheit halber elementare Aufgaben vorzulegen, die nur eine einzige, auf einem einzigen Weg zu gewinnende Lösung besitzen. Eine solche Beschränkung mindert nicht den Wert der erhaltenen Resultate, weil man die Unvollständigkeit und die unterbewußte Ergänzung als qualitative Merkmale im Lösungsprozeß jeder mehr oder weniger ernsthaften Aufgabe nachweisen kann. Ein einfaches Beispiel aus dem Buch Schule des Denkens von Polya soll das illustrieren.11 Die Aufgabe lautet, die Diagonale eines Quaders zu finden, dessen Länge, Breite und Höhe bekannt sind. Die Analyse der Aufgabe verläuft folgendermaßen: Die Aufgabe wird 11 Ebenda, S. 25 f.
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dadurch konkretisiert, daß auf die Analogie zwischen dem Quader und einem Zimmer hingewiesen wird. Weiter werden die entsprechenden Benennungen eingeführt: die gesuchte Diagonale — x, Länge, Breite und Höhe — a,b und c. Nun wird die Versuchsperson durch gezielte Fragen zu den Kenntnissen, die sie für die Aufgabe nutzen kann, hingeführt. Es wird eine Zeichnung angefertigt, in der die notwendigen Hilfselemente eingeführt werden (in diesem Falle das rechtwinklige Dreieck, damit der Satz des Pythagoras benutzt werden kann). Die Aufgabenelemente erhalten neue begriffliche Charakteristika, wodurch sie in neue Wechselbeziehungen einbezogen werden (die Diagonale des Quaders wird zur Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks, die Länge des Quaders zur Kathete usw.). Im Ergebnis erhält die Versuchsperson eine klare Vorstellung davon, auf Grund welchen Plans sie das Unbekannte finden muß. Der Plan ist faktisch gefunden, wenn man die Diagonale als Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks betrachtet. Eine der Katheten des (gestrichelten) rechtwinkligen Dreiecks ist c, die andere wird mit y bezeichnet und aus dem anderen rechtwinkligen Dreieck bestimmt : x2 — y2 + c2. y2 = a2 + b2 Daraus folgt x2 — a2 + b2 + c2; x = j/a2
J2
ci.
Wenn x gewonnen worden ist, wendet sich die Versuchsperson gewöhnlich von der Aufgabe ab und sieht sie als völlig verstanden an. Das ist jedoch ein Irrtum. Durch geschickt gestellte Fragen kann man feststellen, daß die Aufgabe nicht vollständig analysiert worden ist und einige Zwischenergebnisse neben der bewußten Tätigkeit der Versuchsperson gewonnen worden sind. Für die „Lösungsanalyse" schlägt Polya folgende Fragen vor: 135
1. Hast Du alle Daten verwendet? Erscheinen alle gegebenen Größen a, b, c in Deiner Formel für die Diagonale? Die mögliche Antwort auf diese Frage sieht so aus: „Länge, Breite und Höhe spielen in unserer Aufgabe dieselbe Rolle; unsere Aufgabe ist symmetrisch bezüglich a, b, c. Bleibt sie unverändert, wenn a, b, c untereinander vertauscht werden? Unsere Aufgabe ist eine Aufgabe der Stereometrie: . . . Unsere Aufgabe ist analog einer Aufgabe der ebenen Geometrie." In dieser Antwort finden sich viele Verallgemeinerungen, die vor der bewußten Analyse intuitiv klar waren. Bei der Lösung der Aufgabe verallgemeinert die Versuchsperson ihre Kenntnis vom Satz des Pythagoras auf den dreidimensionalen Raum. Im Verlauf der Ausführung des Plans aber wird der Akt einer solchen Verallgemeinerung nicht immer als besondere Operation unterschieden. Dasselbe kann von den Seiten a, b und c gesagt werden. 2. Ist das Ergebnis der „Raumaufgabe" dem Ergebnis der „Flächenaufgabe" analog? Die mögliche Antwort: „Wenn die Höhe c abnimmt und schließlich verschwindet, wird das Parallelepiped ein Parallelogramm. Wenn Du in Deiner Formel c = 0 setzest, erhältst Du dann auch die exakte Formel für die Diagonale des rechtwinkligen Parallelogramms? Wenn die Höhe c wächst, wächst auch die Diagonale." 3. Wie vergrößert sich die Diagonale, wenn a, b und c des Quaders im selben Verhältnis wachsen? Die Länge der Diagonale wächst in demselben Verhältnis. Man könnte noch mehr solcher Fragen stellen. Sie zeigen, daß keine Aufgabe, selbst wenn sie endgültig gelöst wurde, völlig begriffen worden ist. Viele der Ergebnisse, die durch derartige Fragestellungen erzielt worden sind, wurden im Verlauf der Lösung offensichtlich nicht benutzt. Auf diesen Faktor verweist die Tatsache, daß diese Ergebnisse mit Leichtigkeit bewußt werden, sobald entsprechende Fragen gestellt werden. Im Verlauf der späteren Analyse wird jedoch klar, daß einige der Ergebnisse, die in enger Beziehung zu unserer Aufgabe stehen, überhaupt nicht im Verlauf der Aufgabenlösung gewonnen worden sind. Im angeführten Beispiel kann dies auf den Prozeß des Übergangs vom dreidimensionalen Raum zur Fläche (oder umgekehrt) zutreffen. Zum Beispiel kann bei bewußter Lösung der Aufgabe aus der Formel x = j/fl2 + ¿2 + C2 für die Diagonale des Quaders die Bedeutung der Hypotenuse des rechtwinkligen Dreiecks *i = f a 2 + b2 136
bei c = 0 überhaupt nicht gewonnen werden. Für das Erfassen der Aufgabe ist das aber nötig. Aus alledem ergibt sich ganz unverkennbar, daß es bei der Lösung selbst einer solchen relativ einfachen Aufgabe eine unvollständige Analyse gibt und daß ein Teil der Resultate unterbewußt gewonnen wird und unbemerkt am Prozeß der Aufgabenlösung teilnimmt. Dieses Beispiel kann auch als Bestätigung für die These angesehen werden, daß die erhaltene Lösung selbst die Aufgabe und den Lösungsverlauf beleuchtet. Im vorliegenden Falle bestätigt das Auffinden des Lösungsplans (die Diagonale ist die Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks und kann nach der Formel des Pythagoras bestimmt werden), daß die Aufgabenlösung möglich wurde durch das Aufdecken neuer Eigenschaften der gesuchten Diagonale, neuer Beziehungen der Diagonale usw. Ausgehend vom gefundenen Plan kann man die Bedeutung der im Prozeß der Aufgabenanalyse getanen Schritte erklären. Die weitere Erforschung der Prozesse der Aufgabenlösung wird die obigen Ausführungen noch mehr erhellen.
5. Begründung durch die Methode der freien Assoziationen Die in speziellen psychologischen Untersuchungen gesammelten Beobachtungen zur Erforschung des Lösungsprozesses wissenschaftlicher Probleme (insbesondere in Arbeiten, die den Problemen des Schöpfertums von Wissenschaftlern und Erfindern gewidmet sind) zeigen zwei Arten von Fakten, die zugunsten des Prinzips der unterbewußten Ergänzung sprechen. Dieses Material weist auch den Weg zur Erforschung des menschlichen Denkens, der in vieler Hinsicht äußerst fruchtbringend sein kann. Gemeint ist Folgendes: Viele Forscher, Schriftsteller und auch einfach nur beobachtende Menschen haben festgestellt, daß sich nach Beendung der bewußten Arbeit an der Lösung einer Aufgabe, die von erheblichem Interesse für das Individuum ist, die psychische Gesamtsituation, die den Prozeß der bewußten Aufgabenlösung begleitet, gewissermaßen aus Beharrungsvermögen fortsetzt. Die Psyche des Menschen insgesamt — und in einem gewissen Maße das Bewußtsein - beschäftigt sich weiter mit dem betreffenden Problem. Besonders interessant ist die Situation, wenn das Individuum aus irgendwelchen Gründen gezwungen ist, die Aufgabe zeitweilig ungelöst zu lassen. 137
bei c = 0 überhaupt nicht gewonnen werden. Für das Erfassen der Aufgabe ist das aber nötig. Aus alledem ergibt sich ganz unverkennbar, daß es bei der Lösung selbst einer solchen relativ einfachen Aufgabe eine unvollständige Analyse gibt und daß ein Teil der Resultate unterbewußt gewonnen wird und unbemerkt am Prozeß der Aufgabenlösung teilnimmt. Dieses Beispiel kann auch als Bestätigung für die These angesehen werden, daß die erhaltene Lösung selbst die Aufgabe und den Lösungsverlauf beleuchtet. Im vorliegenden Falle bestätigt das Auffinden des Lösungsplans (die Diagonale ist die Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks und kann nach der Formel des Pythagoras bestimmt werden), daß die Aufgabenlösung möglich wurde durch das Aufdecken neuer Eigenschaften der gesuchten Diagonale, neuer Beziehungen der Diagonale usw. Ausgehend vom gefundenen Plan kann man die Bedeutung der im Prozeß der Aufgabenanalyse getanen Schritte erklären. Die weitere Erforschung der Prozesse der Aufgabenlösung wird die obigen Ausführungen noch mehr erhellen.
5. Begründung durch die Methode der freien Assoziationen Die in speziellen psychologischen Untersuchungen gesammelten Beobachtungen zur Erforschung des Lösungsprozesses wissenschaftlicher Probleme (insbesondere in Arbeiten, die den Problemen des Schöpfertums von Wissenschaftlern und Erfindern gewidmet sind) zeigen zwei Arten von Fakten, die zugunsten des Prinzips der unterbewußten Ergänzung sprechen. Dieses Material weist auch den Weg zur Erforschung des menschlichen Denkens, der in vieler Hinsicht äußerst fruchtbringend sein kann. Gemeint ist Folgendes: Viele Forscher, Schriftsteller und auch einfach nur beobachtende Menschen haben festgestellt, daß sich nach Beendung der bewußten Arbeit an der Lösung einer Aufgabe, die von erheblichem Interesse für das Individuum ist, die psychische Gesamtsituation, die den Prozeß der bewußten Aufgabenlösung begleitet, gewissermaßen aus Beharrungsvermögen fortsetzt. Die Psyche des Menschen insgesamt — und in einem gewissen Maße das Bewußtsein - beschäftigt sich weiter mit dem betreffenden Problem. Besonders interessant ist die Situation, wenn das Individuum aus irgendwelchen Gründen gezwungen ist, die Aufgabe zeitweilig ungelöst zu lassen. 137
Die Tatsache, daß die Psyche mit der betreffenden Aufgabe beschäftigt ist, drückt sich auf zweierlei Weise aus: Erstens bleibt beim Individuum für eine bestimmte Zeit der emotionale Hintergrund erhalten, der den Prozeß der bewußten Aufgabenanalyse begleitet. Dieser emotionale Hintergrund drückt sich natürlich nicht so deutlich wie im Prozeß der bewußten Aufgabenanalyse aus, aber eine aufmerksame Beobachtung läßt keinen Zweifel an seinem Vorhandensein. Wenn nach Einstellung der bewußten Arbeit an der Aufgabenlösung das Bewußtsein auf eine andere Tätigkeit umgeschaltet wird, dann erfolgt auf den ersten Blick eine momentane Verdrängung des gesamten Probleminhalts und des den Lösungsprozeß begleitenden emotionalen Hintergrundes aus dem Bewußtsein. In Wirklichkeit wird der frühere Inhalt jedoch allmählich verdrängt (besonders dann, wenn die folgende Tätigkeit, auf deren Ausübung das Bewußtsein umgeschaltet wird, nicht mit tiefen Erlebnissen verbunden ist). Zweitens dringen in das Bewußtsein des Individuums außerdem nach Einstellung des Prozesses der bewußten, zielgerichteten Analyse von Zeit zu Zeit „Splitter" von Daten und Ideen aus dem Inhalt dieser Aufgabe. Wenn der Prozeß der bewußten Aufgabenlösung mit einer gehobenen Stimmung verbunden war, so färbt sie nicht nur jene der Problemlösung folgenden Tätigkeiten des Individuums, sondern sie verstärkt sich auch in den Augenblicken, in denen zur früheren Aufgabe gehörende „Splitter" von Fakten, Bildern und Gedanken ins Bewußtsein dringen. Es geht also nicht so sehr darum, daß in der Psyche des Individuums isoliert der emotionale Hintergrund einerseits und Elemente des Aufgabeninhalts andererseits erhalten bleiben, als vielmehr darum, daß lebendige psychische Prozesse bewahrt bleiben, die in der Einheit alle jene Komponenten besitzen, deren Verknüpfung sie erst zu vollwertigen psychischen Prozessen macht. Andererseits muß betont werden, daß der emotionale Hintergrund der früheren Aufgabenlösung eine bestimmte Zeit hindurch existieren kann, ohne daß Gedanken ins Bewußtsein dringen, die in offenkundiger Beziehung zum Inhalt der Aufgabe stehen. In solchen Fällen versteht das Individuum, das diesen Zustand erlebt, intuitiv, daß seine Psyche mit dem nicht abgeschlossenen Problem beschäftigt ist, auf das diese Emotion hinweist. Es wurde auch festgestellt, daß dieser emotionale Zustand, wenn er vom Individuum nicht unterdrückt wird, dazu führt, daß im Bewußtsein der konkrete Inhalt der Aufgabe erscheint, wonach der bewußte Lösungsprozeß fortgesetzt wird. Die häufigste Folge der Verstärkung des emotionalen Hintergrundes 138
ist das plötzliche Auftreten der fertigen Aufgabenlösüng. In solchen Fällen dient die emotionale Erregung gewissermaßen als Vorbote dafür, daß die Psyche die Aufgabe bewältigt hat und sich die Lösung im Prozeß der Ausformung und des Eintritts in das Bewußtsein befindet. In solchen Momenten ist der emotionale Hintergrund besonders ausgeprägt, die Erlebnisse des Individuums sind ungewöhnlich tief und fördern die geistige Aktivität. Wie kann man aber auf Grund der angeführten Beobachtungen beweisen, daß tatsächlich eine unterbewußte Ergänzung der ursprünglich unvollständigen Analyse-erfolgt und daß der emotionale Hintergrund und die „Gedankensplitter", die ins Bewußtsein treten, wirklich zu unserem Problem gehören? Wir meinen, daß es in der Psychologie eine seit langem bekannte und in vieler Hinsicht bewährte Methode gibt, die für unsere Zwecke durchaus geeignet ist. Gemeint ist das Assoziationsexperiment (oder die Methode der freien Assoziation). Die Grundidee der Methode der freien Assoziation geht auf die Schule von Wundt zurück12. Modifiziert und nicht ohne Erfolg benutzt wurde die Methode später durch Freud, Jung und andere. Bei Freud nahm die Methode der freien Assoziation die Form des psychoanalytischen Gesprächs an, dessen Ziel es ist, bei einem Neurotiker die früher verdrängten Gedanken und Affekte bewußt zu machen und zu überwinden. Damit versuchte der Psychoanalytiker, das Gleichgewicht der psychischen Kräfte beim Kranken wiederherzustellen. Jung begann Anfang des 20. Jahrhunderts damit, das Assoziationsexperiment systematisch zur psychologischen Diagnose von Emotionen zu benutzen. Ausgehend davon, daß Emotionen erheblichen Einfluß auf den Verlauf von Vorstellungen besitzen, wird dei Versuchsperson (oder dem Kranken) ein Reizwort gegeben und dazu aufgefordert, darauf mit dem ersten Wort zu antworten, das der Versuchsperson einfällt. Jungs Untersuchungen haben interessante Fakten erbracht. Es zeigte sich, daß ein affektives Erlebnis den Typ der Assoziationen beeinflußt, die nach Nennung des Reizwortes entstehen. Wenn die Ausgangsvorstellung (das Reizwort) die emotionale Sphäre des Individuums nicht berührte, das heißt mehr oder weniger neutral war, so entstanden Assoziationen von Vorstellungen, wie sie in gewöhnlichen Situationen gegeben sind (zum Beispiel Tisch — Stuhl, Haus — Zimmer, Himmel — Mond usw.). Jung bezeichnete sie als „objektive Assozia12 Vgl. Wundt, W., Grundzüge der physiologischen Psychologie, 3 Bde, Leipzig 1908—1911. Diese Methode wurde vor Wundt auch von Galton benutzt.
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tionen". Wenn die Ausgangsvorstellung dagegen emotionale Erlebnisse des Individuums betraf, dann wichen die entstehenden Assoziationen von diesem Typ der Verbindung ab. Sie vereinten Vorstellungen, die in der Lebenserfahrung der betreffenden Persönlichkeit infolge eines intensiven Erlebens bestimmter Situationen zu „Komplexen" verbunden worden waren, die das gesamte psychische Leben erheblich beeinflußten. Komplexe sind also Assoziationen von Vorstellungen, die infolge tiefer affektiv-emotionaler Momente gewissermaßen der objektiven Logik der Fakten zum Trotz verbunden worden sind. Solche Assoziationen hat Jung „subjektive Assoziationen" genannt. Sie können einfach oder komplizieit sein. Einfache Komplexe erscheinen als Antworten, als Reaktionen auf das Reizwort. Häufig aber weigert sich das Individuum überhaupt, auf das Reizwort zu antworten, wiederholt hartnäckig verschiedene Reizworte oder antwortet auf verschiedene Ausgangsvorstellungen mit ein und demselben Wort. In den letzteren Fällen muß der Psychologe wissen, daß beim Individuum eine verborgene, komplizierte Konstellation von Vorstellungen vorhanden ist, die mit besonders tiefen affektiv-emotionalen Erlebnissen verknüpft ist, die das Individuum unbewußt — nicht selten aber auch zum Teil bewußt - nicht zu reproduzieren wünscht. Jungs Experimente haben auch gezeigt, daß emotionale Erlebnisse die Geschwindigkeit beeinflussen, mit der unter dem Einfluß eines Reizwortes Assoziationen gebildet werden. Sie verlangsamen gewöhnlich die Bildung der Assoziationen. Jung zufolge kann man vom Vorliegen eines Komplexes, zu dem das Individuum ein affektiv-emotionales Verhältnis besitzt, sprechen, wenn die Bildung der Assoziation mehr als zweieinhalbmal langsamer als unter normalen Bedingungen (beim Fehlen einer emotionalen Beziehung) erfolgt. Freud seinerseits bewies, daß vorhandene Komplexe in erheblichem Maße das gesamte Verhalten beeinflussen und sich insbesondere in gewöhnlichen Sprech- oder Bewegungsfehlern ausdrücken.13 Mit Gewißheit kann gesagt werden, daß infolge der Nichtalltäglichkeit und der relativen Neutralität des Inhalts wissenschaftlicher Probleme bezüglich affektiv-emotionaler Beteiligung des Individuums, das heißt im Hinblick auf viele bio-soziale Verhaltensmotive der Persönlichkeit, die Methode der freien Assoziation nutzbringend bei der Erforschung des schöpferischen Denkens angewendet werden kann. Im vorliegenden Falle kann unserer Ansicht nach nur von einfachen 13 Vgl. Freud, S., Zur Psychopathologie
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des Alltagslebens, Berlin 1904.
Komplexen die Rede sein, die als Antwort auf das Reizwort ohne besondere Verzögerungen im Bewußtsein der Persönlichkeit auftauchen. Aus den genannten Gründen kann die Methode der freien Assoziationen auch für die Selbstanalyse, für die Durchführung introspektiver Experimente genutzt werden. Was die Anwendung dieser Methode für die Erforschung des schöpferischen Denkens (und besonders seiner unterbewußten Mechanismen) angeht, so stellen wir sie uns in den Grundzügen folgendermaßen vor. Der Experimentator sei überzeugt (oder vermute), daß ein bestimmtes Wort, das bei der Versuchsperson willkürlich aufgetaucht ist oder vom Forscher vorgeschlagen wurde und keine Beziehung zu seiner aktuellen Tätigkeit besitzt, in irgendeiner Weise mit dem Problem verknüpft ist, dessen Lösung nicht abgeschlossen wurde. Die Versuchsperson wird aufgefordert, frei alles zu erzählen, was ihr in Verbindung mit diesem Wort in den Sinn kommt. Eine Verzögerung bei der Bildung der Assoziationen kann es hier deshalb geben, weil der Versuchsperson die eigenen Gedanken „dumm" erscheinen können und die Versuchsperson den Wunsch haben kann, diese Gedanken vor dem Experimentator zu verbergen. Zur Überwindung dieses ernsthaften Hindernisses muß die Versuchsperson darauf hingewiesen werden, daß es für den Erfolg der Sache nötig ist, die Kritik auszuschließen, und daß es bei der Erforschung psychischer Erscheinungen für den Wissenschaftler keine „dummen" Gedanken gibt. Wenn der Psychologe hingegen ein introspektives Experiment durchführt, so wird die Sache dadurch erleichtert, daß man sich selbst all das eingestehen kann, worin man eine andere Person nicht einweihen möchte. Bei der Erforschung des schöpferischen Denkens gibt es also keine besonderen Ursachen für eine emotionale Verzögerung der Entstehung von Assoziationen. Darum ist die Bildung von langen Assoziationsketten möglich, die sowohl den Hauptinhalt wissenschaftlicher Probleme als auch das Verhältnis der Versuchsperson zu ihnen widerspiegeln. Der Effekt der unterbewußten Arbeit tritt hierbei so zutage, daß der reproduzierte Inhalt des Problems gewöhnlich tiefer analysiert ist, neue Wege zur Problemlösung bemerkt werden oder daß sogar im Prozeß der Bildung von freien Assoziationen schon die fertige Lösung ins Bewußtsein tritt. Es erfolgt eine „Erleuchtung" des Bewußtseins. In Fällen solchen Übergangs treten mehr oder weniger tiefe emotionale Erlebnisse auf. Diese Emotionalität wirkt gewöhnlich nicht verzögernd, sondern fördert im Gegenteil die Ausbildung und das Bewußtwerden von Assoziationen. 141
Jedoch muß hier ein wichtiger Faktor berücksichtigt werden: Im Grunde ist die Bildung freier Assoziationen auf ein gegebenes Reizwort hin ein Denkprozeß. Im Verlauf dieses Prozesses ist durchaus eine Neuverarbeitung, eine bewußte oder unterbewußte Analyse des bewußtwerdenden Aufgabeninhalts möglich, so daß die gewonnene Lösung das Ergebnis eben dieser Bildung freier Assoziationen, nicht aber der davor verlaufenden unterbewußten Analyse sein kann. Dasselbe kann man auch von jenen Fortschritten bei der Analyse der Problemsituation sagen, die bei der Bildung freier Assoziationen sichtbar werden, wenn die notwendige Kombination der Elemente der Problemsituation noch nicht entstanden ist. Wenn Versuchsleiter und Versuchsperson diese Tatsache nicht genügend beachten, dann können die Ergebnisse ihrer Untersuchungen zweifelhaft sein. Die Messung der unterbewußten Tätigkeit muß von allen Störfaktoren freigehalten werden. Wenn das Reizwort keinerlei Beziehung zur Aufgabe besitzt, dann führt es entweder überhaupt nicht zur Reproduktion des Aufgabeninhalts, oder es führt über einige Zwischenvorstelhingen mittelbar zu ihm. Deshalb kann erst nach der Durchführung des Assoziationsexperiments mit Gewißheit gesagt werden, ob das betreffende Wort in irgendeiner Beziehung zum Problem steht, erst dann kann der Grad der Beteiligung des unterbewußten Denkprozesses an der Problemlösung beurteilt werden. Je mehr fremde Wörter während der aktuellen bewußten Tätigkeit in das Bewußtsein des Individuums treten und je schneller sie als Reizwörter zur Bildung von Assoziationen führen, die Inhalt, Teil oder Lösung des Problems sind, desto intensiver ist das unterbewußte Denken. Daraus ergibt sich auch, daß die Existenz einer möglichst großen Anzahl von Elementen — auch derer, die zu einem bereits zurückgestellten Problem gehören — in der aktuellen Denktätigkeit den Prozeß der unterbewußten Ergänzung erheblich aktivieren und zur Bildung dei nötigen Assoziationen, die unter günstigen Voraussetzungen ins Bewußtsein übergehen, beitragen kann. Diese Bemerkungen können von Belang sein für die Organisation systematischer Experimente zur Erforschung aller Aspekte des schöpfeiischen Prozesses und insbesondere der Rolle, die dei unterbewußte Bereich der Psyche beim schöpferischen Denken spielt. Was nun den Aufbau einer genaueren Methodik für die Durchführung solcher Experimente betrifft, so kann sie nur das Ergebnis der Verallgemeinerung der Erfahrungen bei einer hinreichend großen Anzahl von Experimenten sein. Über diese erforderliche Erfahrung verfügt unsere Psychologie heute leider noch nicht. 142
6. Physiologische Mechanismen des schöpferischen Denkens Die funktionalen Mechanismen des menschlichen Großhirns sind so wenig erforscht, daß wir riskieren, nur mit hypothetischen Sätzen zu operieren, wenn wir versuchen, unsere Hypothesen von den Mechanismen des schöpferischen Denkens mit physiologischen Fakten zu begründen. Für die materialistische Psychologie ist es jedoch absolut notwendig, die physiologischen Mechanismen der psychischen Prozesse zu betrachten. Außerdem ist das Ziel der Physiologie kein anderes, als das Wesen des Menschen, das heißt die Grundlagen seines Verhaltens und seiner Erlebnisse, zu erkennen. Der bekannte kanadische Neurophysiologe W. Penfield, der das Phänomen der Reproduktion früherer Eindrücke bei der Reizung der Rinde des Schläfenlappens des menschlichen Gehirns untersucht hat, schrieb: „. . . diese verblüffende Entdeckung verlagert psychische Erscheinungen in das Gebiet der Physiologie und muß auch für die Psychologie tiefgreifende Bedeutung besitzen. Wir müssen erklären, auf welche Weise die an die Rinde angelegte Elektrode (durch die zum Beispiel 60 imp/s geschickt werden) in einer Gruppe primärer Zellen einen Prozeß auslösen kann, der eine aufeinander folgende Kette von psychischen Erscheinungen reproduziert". 14 Bereits I. P. Pavlov hatte die Notwendigkeit erkannt, die physiologischen Mechanismen der psychischen Erscheinungen zu erforschen. Seine Lehre von der höheren (reflektorischen) Nerventätigkeit ist eines der hervorragendsten und zuverlässigsten Ergebnisse auf diesem Gebiet. Betrachten wir nun diejenigen physiologischen Fakten, die einiges Licht auf unsere hypothetischen Annahmen von der Natur der intuitiven Erkenntnis werfen können. Zuerst ist es erforderlich, die Hypothese von der unvollständigen Analyse, der unterbewußten Ergänzung und den Besonderheiten des Bewußtwerdens unterbewußt gebildeter psychologischer Strukturen in physiologischer Terminologie darzustellen. Der Denkprozeß ist ein aus vielen Komponenten zusammengesetzter psychischer Prozeß, der sich durch außergewöhnliche Kompliziertheit auszeichnet. Im Denkprozeß müssen deshalb viele relativ selbständige kortikale und subkortikale Zentren und ihre Komplexe in Funktion 14 Penfield, W., human brain. D£asper, G., Moskau 1958,
Jasper, H., Epilepsy and the functional anatomy of the Hier zitiert nach der russischen Ausgabe: Penfil'd, V., Epilepsija i functional'naja gdovnogo mozga ieloveka, S. 107. 143
treten. Das folgt zum Beispiel daraus, daß die Komponenten des Denkproblems durch verschiedene Empfindungsmodalitäten gegeben werden und im Denkprozeß die entsprechenden sensorischen Zentren offenbar aktiviert werden müssen. Jeder psychische Prozeß enthält emotionale Komponenten. Folglich müssen Zentren bestehen, die in Wechselwirkung mit den übrigen Teilen des Gehirns die Emotionalität regulieren. Die Stellung eines des Problems und seine erste Analyse erfordern eijie überwiegende Bewußtheit des Zieles, und das bedeutet, daß in diesem Prozeß das retikuläre, aktivierende System des Hirnstamms eine überaus wichtige Rolle spielt. Die vegetativen Prozesse im Organismus weiden keine Minute unterbrochen, und für ihre Regulierung ist die Aktivität der entsprechenden subkortikalen Bildungen, des autonomen Nervensystems und anderer erforderlich. Aus alledem wird sichtbar, daß der Denkprozeß die Aktivität des gesamten menschlichen Gehirns voraussetzt. Offensichtlich ist auch, daß bestimmte Systeme des Gehirns je nach Art der Tätigkeit eine unterschiedliche Rolle spielen. Wenn wir deshalb wenigstens annähernd die Lokalisierung der verschiedenen psychischen Funktionen kennen, so können wir gewisse Vermutungen über die physiologischen Mechanismen des schöpferischen Denkens anstellen. Gegenwärtig nimmt man als sicher an, daß höhere psychische Funktionen im vorderen und mittleren Stirnlappen (Denken und Voraussicht) sowie in den Schläfenganglien (Gedächtnis) lokalisiert sind. An ihrer Entstehungist auch das mesencephalische System beteiligt, das die genannten und alle übrigen kortikalen Zonen aktiviert. Genauer wild die Lokalisierung der höheren psychischen Prozesse im weiteren behandelt. Gehen wir nun von folgender grundlegender hypothetischer Annahme aus: Einem bestimmten Denkprozeß entspricht ein summarischer physiologischer Prozeß, der sich resultativ in Form einer summarischen bioelektrischen Aktivität der an diesem Prozeß unmittelbar beteiligten Gehirnsysteme ausdrückt. Nehmen wir an, daß es mit Hilfe von Elektroenzephalographen gelungen ist, die Bioströme dieser Systeme zu registrieren und zu summieien. Das summarische E E G wird den Denkprozeß zur Lösung einer bestimmten Aufgabe charakterisieren. (Leider besitzen solche Merkmale des EEG wie die Amplitude, die Frequenz, die Regelmäßigkeit usw. noch keine Denotate in den psychischen Erscheinungen, sondern kennzeichnen allgemein die Intensität oder Trägheit der psychophysiologischen Prozesse. Es ist zu hoffen, daß diese Kurven psychologisch größere Aussagekraft gewinnen werden.) Für die Begründung des Kernsatzes unserer Hypothese, daß die unabgeschlossene bewußte Analyse unterbewußt ergänzt wird, wäre es 144
entscheidend, folgende (vielleicht phantastische, aber verlockende und nicht unsinnige) Annahme zu beweisen: Wenn nach Einstellung der bewußten Problemanalyse der Lösungsprozeß in der unterbewußten Sphäre fortgesetzt wird, dann muß daraus geschlossen werden, daß auch die entsprechenden elektrophysiologischen Prozesse nicht aufhören, sondern sich ändern, das heißt mit veränderten Charakteristika weiterlaufen. Konkreter ausgedrückt heißt das, daß, wenn man ein EEG dieser unterbewußten Arbeit erhalten könnte, das unabhängig von dem EEG der neuen Tätigkeit (oder des Schlafs) ist, zu der das Individuum übergegangen ist, es möglich wäre, einen Operator zu finden. Durch dessen Anwendung auf das erste Gesetz, das heißt auf die Formel der bewußten Analyse (in Form einer mathematischen Formel oder eines EEG), könnte man das Gesetz des unterbewußten Denkens in Gestalt einer neuen mathematischen Formel oder eines veränderten EEG erhalten. Sehr vereinfacht (und nur ein kleines Zeitintervall betreffend) kann angenommen werden, daß das summarische EEG eine Sinusoide darstellt, die durch die Formel y = an sin co nt ausgedrückt wird. Diese Formel ist das Ergebnis der Überlagerung der EEG der verschiedenen kortikalen und subkortikalen Zonen (deren Anzahl n ist), die am Prozeß des bewußten Denkens beteiligt sind. Eine ähnliche Formel, nur mit anderen Parametern, könnte man auch für das unterbewußte Denken erhalten. Es ist offensichtlich, daß diese Formeln (und die entsprechenden Parameter) mit Hilfe eines bestimmten nichtlinearen Gesetzes (Operators) umgebildet werden müssen. Exakt mathematische Ausdrücke für summarische EEG sowie von Operatoren für den direkten und umgekehrten Übergang würden es gestatten, den schöpferischen Prozeß gründlicher und exakter zu verstehen. Das würde — gestützt auf die Tatsache, daß einige Gehirnsysteme im Moment der intuitiven „Erleuchtung" besonders aktiv funktionieren — die Möglichkeit schaffen, einen mathematischen Ausdruck für die intuitive „Erleuchtung" abzuleiten und auf Grund der vorhandenen Daten über die bewußte und die unterbewußte Analyse die Tiefe und die Besonderheiten des Moments des intuitiven Begreifens vorauszusehen. Ein mathematischer Ausdruck der intuitiven „Erleuchtung" würde es erlauben, den Prozeß des Übergangs bis zu einem gewissen Grade darzustellen und mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit die Besonderheiten jeder Etappe des schöpferischen Prozesses vorauszusehen. Um ein solches Forschungsprogramm zu realisieren, sind gewaltige Schwie-
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rigkeiten zu überwinden. Es braucht nur darauf verwiesen zu werden, daß dazu eine gründliche Kenntnis der Physiologie des Nervensystems sowie der psychologischen Besonderheiten des schöpferischen Denkens erforderlich ist sowie — was weitaus schwieriger und bis jetzt noch völlig offen ist — die Schaffung einer neuen mathematischen Disziplin, die es ermöglicht, die subjektiven Begriffe und Erlebnisse der Persönlichkeit in exakten und eindeutigen Formeln auszudrücken. Im folgenden wollen wir nun Fakten anführen, die zeigen, daß an dem genannten Forschungsprogramm, jedenfalls in physiologischer Hinsicht, bereits mit einigem Erfolg gearbeitet wird. Die Realität des unterbewußten Denkens. Die Realität des unterbewußten Denkens wird heute unter Psychologen und Physiologen allgemein akzeptiert. Es gibt unserer Ansicht nach zumindestens drei grundlegende physiologische Fakten, die diese Aussage erhärten. Vor allem ist auf die Theorie I. P. Pavlovs vom dynamischen Stereotyp hinzuweisen. Die Genesis stereotypen Verhaltens erfolgt auf der Grundlage des angeborenen, instinktiven Verhaltens und solcher seiner einfachsten Bestandteile wie der unbedingten Reflexe. Deshalb kann die Theorie Pavlovs vom dynamischen Stereotyp dem wissenschaftlichen Verständnis des Unbewußten, des Unterbewußten und ihres gegenseitigen Verhältnisses zugrundegelegt werden. Stereotypes Verhalten ist unterbewußtes Verhalten, das sich auf dem unbewußten, angeborenen Verhalten aufbaut. Der Terminus „Unterbewußtes" kann auf den dynamischen Stereotyp angewendet werden, weil bei Individuen, die über Bewußtsein verfügen, dieses Verhalten bewußt werden kann. Der dynamische Stereotyp kann ein durchaus vernunftmäßiges Gebilde sein, das zum Komplex der intellektuellen Tätigkeit gehört. Folglich kann man auch in voller Übereinstimmung mit der Lehre Pavlovs von einem stereotypen unterbewußten Denken sprechen. Das unterbewußte Denken ist unserer Ansicht nach keineswegs ausgeschlossen, wenn der dynamische Stereotyp kein Bestandteil der insgesamt bewußt verlaufenden intellektuellen Tätigkeit werden kann. Folglich ist Denken dort durchaus möglich, wo mehr oder weniger komplizierte Probleme gelöst werden, obwohl der verbale Ausdruck der Gedanken fehlt. Sprechen, Sprache und Bewußtsein einerseits und Denken andererseits sind nicht identisch. Das bewußte Denken ist keinesfalls das ganze Denken. (Davon zeugen auch die Ergebnisse Köhlers, Koffkas, Dembowskis sowie die Aussagen der Kinderpsychologie.) Die Möglichkeit, die wissenschaftliche Psychologie des Unterbewußten auf der Grundlage der Theorie 146
vom dynamischen Stereotyp aufzubauen, ist noch nicht vollständig genutzt worden; auch in dieser Richtung bedarf es ernsthaftester Anstrengungen der sowjetischen Psychologen und Physiologen. Die Hypothese des Physiologen Rüssel (Oxford University) besitzt für die Begründung der Realität des unterbewußten Denkens und solcher Phänomene wie der intuitiven „Erleuchtung" des Bewußtseins, des latenten Lernens, der Reminiszenz und dergleichen große Bedeutung. W. R. Rüssel formuliert folgende Grundthesen hinsichtlich der Neuronenmechanismen des Gedächtnisses: 1. Die außergewöhnliche Stabilität und Festigkeit des Langzeitgedächtnisses ist anscheinend damit verbunden, daß die Synapsen beim Durchgang der Impulse nichtumkehrbare physikalisch-chemische Veränderungen erfahren, die das spätere Passieren von Impulsen in diesen Bahnen, die bereits vorher ein Impuls durchlaufen hat, erleichtern. Jeder neue Durchgang von Impulsen durch die jeweilige Neuronenkette vergrößert die Effektivität dieser Kette. Ein Beispiel dafür ist die Herausbildung von Gewohnheiten. 2. Ausgehend von der Tatsache, daß die meisten Neuronen zuweilen spontane Entladungen abgeben, nimmt Rüssel an, daß die bei der Stimulierung entstandenen Bioströme kontinuierlich weiter die Neuronenketten mit verringertem Widerstand durchlaufen und automatisch die entstandenen Gedächtnisspuren verstärken. Eben deshalb, so glaubt Rüssel, werden alte Gedächtnisspuren unter sonst gleichen Bedingungen im Verlaufe der Zeit ständig klarer.15 Wenn sich die Hypothese Russeis voll bestätigt, dann wird ganz offenkundig, daß ein äußerst kompliziertes unterbewußtes Denken, die (spontane) Verstärkung der nervlichen Aktivität und der Übergang in die Bewußtseinssphäre durchaus möglich sind. Ausgehend von dieser Hypothese kann man auch die physiologischen Mechanismen der zielgerichteten Erziehung und Bildung sowie jene Tatsache erklären, daß unsere Vergangenheit stets gegenwärtig ist und in hohem Grade unser zukünftiges Verhalten bestimmt. Sehr wichtig für das Verstehen der physiologischen Mechanismen des Schöpfertums sind die Untersuchungen W. Penfields und anderer kanadischer Physiologen. Die langjährigen Forschungen Penfields und seiner Mitarbeiter klärten viele wichtige Tatsachen, die dem Gedächtnis, dem Bewußtsein, dem Denken und anderen psychischen Erscheinungen zugrunde liegen. Außerordentlich wertvoll erscheinen uns 15 Rüssel, W. R., Brain. Memory. Learning, York 1959. 10»
Oxford University Press, New
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die Untersuchungen Penfields und seiner Mitarbeiter über die Mechanismen zur Lokalisierung des Gedächtnisses und der Sprache sowie über die Rolles des mesencephalischen Systems. Besonders wertvoll ist die von Penfield vorgenommene Analyse von „Interpretationsantworten", die Patienten bei Reizung der Hirnrinde gegeben haben. Wenn Antworten, die frühere Erfahrungen reproduzieren, als Hinweise für das Verständnis der Gedächtnismechanismen dienen können, so stehen Interpretationsantworten in Beziehung zu den Mechanismen des schöpferischen Denkens. Bei Interpretationsantworten vergleicht der Patient das laufende Ereignis mit der früheren Erfahrung, um festzustellen, „ob das Ablaufende bekannt, akzeptabel oder bedrohlich ist"16. Bei Reizung der Schläfenrinde geschieht dies bei den Patienten bewußt („Verdoppelung des Bewußtseins"). „Unter normalen Verhältnissen jedoch", schreibt Penfield, „entstehen solche Interpretationserscheinungen im Bewußtsein überraschend, als Ergebnis einer unterbewußten vergleichenden Deutung. Um für einen Vergleich frühere Erfahrungen zu aktualisieren, braucht es nur wenig Willensanstrengung, oder diese Anstrengung ist überhaupt nicht nötig."17 Wenn das stimmt, so kann man daraus schließen, daß die Lokalisierung der Interpretationszonen der Hirnrinde bis zu einem gewissen Grade mit der Lokalisierung der Denkmechanismen identisch sein muß. „Diese psychischen Erscheinungen . . .", fährt Penfield fort, „wurden durch eine Reizung des Schläfenlappens, hauptsächlich der oberen und lateralen Obei flächen beider Lappen und vielleicht im Scheitelgebiet hervorgerufen. Sie wurden auch durch eine Reizung des verbliebenen Teils der hippocampischen Windung nach Entfernung eines großen Teils des Schläfenlappens ausgelöst. Die Reizung anderer Teile löste keine psychischen Reaktionen aus. Man kann darum offenbar mit Gewißheit folgern, daß die hier angegebenen Gebiete des Kortex eine besondere Beziehung zur Bewahrung und Reproduktion der Erfahrung besitzen."18 Wenn man die Hirnmechanismen des Denkens betrachtet, so muß man also berücksichtigen, daß es sich bei der von Penfield und anderen Forschern festgestellten Lokalisation des Gedächtnisses im allgemeinen (die Rolle der Stirnlappen einmal ausgenommen) auch um die Lokalisation des Denkens handelt, sofern man das letztere als die Gesamtheit 16 Penfield, W., Roberts, L., Speech and brain-mechanismus. Hier und im folgenden zitiert nach der russischen Ausgabe: Penfil'd, V., Roberts, L., Re£' i mozgovye meckanizmy, Leningrad 1964, S. 51. 17 Ebenda. 18 Ebenda, S. 52.
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der dynamischen Beziehungen zwischen verschiedenen Begriffen definiert. Penfield zufolge werden die drei Komponenten der Sprache — die Ideationskomponente (begriffliche), die Verbalisationskomponente und die motorische Komponente — relativ selbständig lokalisiert. Akzeptiert man dieses Schema, so kann gefolgert werden, daß ein wortloses Denken mit fehlender oder schwacher motorischer Begleitung durchaus möglich ist. Und das ist nichts anderes als das unterbewußte oder auch bewußte, aber bildhafte Denken (das schon von Einstein und Wertheimer konstatiert worden ist). Daraus kann auch gefolgert werden, daß das schöpferische Denken, die unterbewußte „Inkubation", aller Wahrscheinlichkeit nach mit einer relativ selbständigen Aktivität des ideativen Teils der lokalisierten Gedächtnisspuren verknüpft ist. Auf welche Weise die Bildung der Gedächtnisspuren konkret erfolgt und wie diese relative Selbständigkeit beim Registrieren der verschiedenen Komponenten, die sprachlichen Ausdruck besaßen, sowie der mit dem Gehör aufgenommenen Inhalte physiologisch erreicht wird, wissen wir noch nicht. Es ist durchaus möglich, daß dies durch die Einbeziehung ein und derselben Nervenzellen in verschiedene mehrzellige Muster geschieht. Zu klären sind auch noch die Verbindungen zwischen der emotionalen Sphäre und dem Denken; hier müssen die zerebralen Mechanismen der Emotionen sowie des Denkens und die Beziehungen zwischen ihnen gefunden werden. Erst dann wird es möglich sein, von den Mechanismen der Inspiration, der intuitiven „Erleuchtung", zu sprechen, die sich durch gleichzeitige erstaunliche Intellektualität und tiefe Emotionalität auszeichnet. Penfield unterscheidet drei zerebrale Mechanismen des Gedächtnisses: 1. Das Erlebnisgedächtnis. Es gibt eine neuronische Registrierung des Bewußtseinsstromes, die offensichtlich alle jene Dinge, von denen der Mensch gewußt hat, selbst unbedeutende Erlebnisse, in kontinuierlicher Reihenfolge aufbewahrt. Dieser fixierte Bewußtseinstrom der Vergangenheit kann aktiviert werden — manchmal bei elektrischer Reizung der Interpretationsrinde. Normalerweise kann der „Aufzeichnungsmechanismus" unterbewußt in Tätigkeit gesetzt werden, wenn der Mensch feststellt, daß das betreffende Erlebnis gut bekannt oder absolut unbekannt ist, oder wenn er ein gegenwärtiges Erlebnis mit einem ähnlichen Erlebnis der Vergangenheit vergleicht."19 Auf der Grundlage von zahlreichen Beobachtungen kommt Penfield zu dem Schluß: „Die Fixierung der Erlebnisse dient beim Menschen also der 19 Ebenda, S. 209f.
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unterbewußten Interpretation und der Erinnerung an vergangene einprägsame Erlebnisse,"20 2. Das Begriffsgeiächtnis. Aus der Vielzahl der Einzelfälle werden allgemeine Begriffe geschaffen, die registriert werden und relativ unabhängig von den Einzelfällen, die gewöhnlich vergessen werden, aufbewahrt werden. Bei Reizung der Nervenzellen durch elektrische Impulse entstehen keine Begriffe und Verallgemeinerungen, sondern konr krete Erlebnisse. „Es muß offenbar ein anderer zerebraler Mechanismus existieren, der die Begriffe speichert, die sich aus einer Anzahl von Einzelfällen gebildet haben"21, schreibt Penfield. 3. Das verbale Gedächtnis. Es gibt einen besonderen Mechanismus des verbalen Gedächtnisses, und zwischen den Ganglienspuren der Begriffe und der Wörter werden zuverlässige zweiseitige Neuronenverbindungen gebildet. Das führt dazu, daß, „sobald der Mensch einen Begriff auewählt, normalerweise das dazugehörige Wort erscheint, und das Subjekt kann das Woit aussprechen oder aufschreiben oder es für sich formulieren, ohne es hörbar auszusprechen"22. Daraus ergibt sich, daß Penfield ein begriffliches Denken vor dem verbalen Denken und relativ unabhängig vom letzteren für möglich hält. Interessant ist auch die von Penfield festgestellte Tatsache, daß die elektrische Reizung der zum verbalen Ausdruck der Begriffe gehörenden Rindenfelder nicht nur keine Worte hervorruft, sondern im Gegenteil „die Tätigkeit der Mechanismen ausschaltet" 23. Große Bedeutung für das Verständnis der physiologischen Mechanismen des schöpferischen Denkens besitzen die Ergebnisse, die von Penfield und seinen Mitarbeitern bei der Erforschung und Heilung der Epilepsie erzielt wurden. „Die epileptische Erleichterung wirkt sich anscheinend auf die erworbenen synaptischen Verbindungen im Schläfenlappen ebenso aus wie auf die angeborenen Verbindungen zwischen den sensorischen und motorischen Mechanismen in den anderen Gebieten des Kortex. Diese Erleichterung betrifft die Erinnerungs- und Traumbilder, die einen Teil der psychischen Anfälle bilden."24 Es gibt offenbar etwas Gemeinsames in den Mechanismen der schöpferischen Aktivität und der epileptischen Entladung. Dies trifft in erster Linie auf die erhöhte Reizbarkeit jener Neuronenstrukturen zu, in denen Erfahrungen aufgezeichnet und interpretiert werden („schöp20 21 22 23 24
Ebenda. Ebenda, S. 211. Ebenda, S. 212. Ebenda. Penfil'd, V., Dzasper, G., Epilepsija
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. . ., a. a. O., S. 106.
ferisches Gedächtnis" in der Terminologie einiger amerikanischer Psychologen). Ein anderer Aspekt der hohen Reizbarkeit der Neuronenstrukturen der Schläfenlappen ist die Senkung der Reizschwelle. Sehr wichtig ist auch, daß sowohl während des schöpferischen Aufschwungs als auch während der epileptischen Entladung die Erregung gleichzeitig recht weite kortikale und subkortikale Bildungen erfaßt. Das ist unserer Ansicht nach die Grundlage der schöpferischen Synthese. In der letzten Zeit richtete sich die Aufmerksamkeit der Forschung auf das sogenannte simultane (gleichzeitige) Denken, auf die Fähigkeit, eine Erscheinung gleichzeitig von verschiedenen Seiten her zu betrachten. A. Zvorykin zum Beispiel behauptet, die Erforschung dieser Art des Denkens werde helfen, das Wesen der Intuition zu verstehen.25 Das bisher Gesagte macht deutlich, daß die Erforschung der Epilepsie bestimmte Bedeutung für das Verständnis des schöpferischen Prozesses besitzt. Beide Erscheinungen sind unserer Ansicht nach das Ergebnis außerordentlich starker Neuronenentladungen, obwohl im Falle des Schöpfertums diese Stärke etwas gemäßigt ist. Innerhalb der .physiologischen Mechanismen kommt dem Schöpfertum wahrscheinlich eine solche Art des epileptischen Anfalls wie der Dämmerzustand (der Zustand der Illusion) am nächsten, bei dem das Bewußtsein „wie beim Träumen während des normalen Schlafs"26 verdunkelt ist. Das bedeutet natürlich keineswegs, daß hier das Problem „Genialität und Wahnsinn" wiederbelebt werden soll. Sehr wichtig für die Begründung unserer These vom emotionalen Moment bei der intuitiven „Erleuchtung" und von den Gesetzmäßigkeiten des Bewußtwerdens unbewußt gebildeter psychologischer Strukturen ist, was Penfield über die Reproduktion von Spuren früherer Erfahrungen bei Reizung der Schläfenlappen der menschlichen Großhirnrindesagt. „Offenbarbefinden sich unter der Elektrode Mechanismen, in denen die Erinnerung an Ereignisse gespeichert wird. Der Mechanismus hält jedoch anscheinend weitaus mehr als nur das Ereignis im Gedächtnis fest. In Tätigkeit gesetzt, kann dieser Mechanismus die Emotionen reproduzieren, die das Ereignis begleitet haben. Mehr noch, dieselbe Zellengruppe ruft Emotionen hervor, die mit der Erinnerung und dem von der Bedeutung des Ereignisses abhängenden Zustand des Menschen verbunden sind."27 Die Feststellung der Tatsache, daß Emotionen im Gedächtnis gespeichert werden, ist unserer Meinung nach äußerst wichtig. 25 Vgl. Zvorykin, A., O razraboike problemy nauÖnogo tvorleskogo mySlenija, in: Nauka i zizn', Nr. 1/1967, S. 100-102. 26 Penfil'd, V., Dzasper, G., Epilepsija • • ., a. a. O., S. 36. 27 Ebenda, S. 107. 151
Emotionen werden jedoch von subkortikalen Bildungen hervorgebracht. Wenn dem so ist, so gehen sie, dort gebildet, zur Speicherung in die Schläfenganglien über. Möglich ist auch eine andere Annahme. Bei der Reizung durch die Elektrode geht der Strom in die subkortikalen Gebiete über, das heißt, wenn die Ereignisse reproduzieit werden, dann werden automatisch auch die im Subkortex registrierten Spuren der emotionalen Erlebnisse reproduziert. In jedem Falle besitzt die Tatsache, daß die emotionale Substanz eines Ereignisses gespeichert wird, enorme prinzipielle Bedeutung für unsere Hypothese. Penfield stellt mit Recht fest, daß die bewußte Erinnerung und die Reproduktion des Erlebten durch Reizung im Grunde gleich sind. Verallgemeinernd schreibt er: „Der Neuronenmechanismus, auf den wir im Verlauf von neurochirurgischen Operationen gestoßen sind und der wahrscheinlich in beiden Hemisphären verankert ist, besitzt drei Funktionen: 1. Erinnerung an ein Ereignis oder Erlebnis, 2. Gedanken zu diesem Ereignis, 3. Emotionen, die durch das Ereignis hervorgerufen werden."28 Mehr noch, manchmal wird nur der emotionale Zustand (zum Beispiel Angst) erlebt, ohne daß das Ereignis reproduziert wird, wodurch der emotionale Zustand gewissermaßen als grundlos erscheint. Das ist ein Fall teilweisen Übergangs ins Bewußtsein. Penfield folgert weiter: Da es bei der Speicherung zu einer Verallgemeinerung und Integration aller sensorischen Wahrnehmungen komme, so müsse es im Gehim einen Integrationsmechanismus geben. „Die echte Koordinierung der Nervenimpulse erfolgt im Neuronenkomplex der sogenannten .höchsten Ebene' oder des mesencephalischen Systems." 29 Dieses System lokalisiert Penfield im vorderen Bereich des Hirnstammes. „Es ist anzunehmen", schreibt er weiter, „daß der Prozeß des Einprägens von Einflüssen abhängt, die vom mesencephalischen System zur Rinde der Schläfenlappen beider Hemisphären gehen, denn vor der Schaffung der Gedächtnisfiguren muß eine Integration aller sensorischen Wahrnehmungen erfolgen."30 Nach Penfield werden aus den kortikalen Zentren afferente Impulse in das mesencephalische System übermittelt, wo sie integriert und zur Speicherung in die Schläfenlappen weitergegeben werden. Ergänzen wir, daß auf diese Weise anscheinend auch die Emotionen weitergegeben werden. 28 Ebenda, S. 108. 29 Ebenda, S. 109. 30 Ebenda. 152
Es ist zu unterscheiden zwischen der bewußten Erinnerung und der Reproduktion von Erlebtem durch Reizung. Im ersten Falle stieben wir gewöhnlich nach Verallgemeinerung (wir erinnern uns an ein Gedicht, das wir einmal gelernt haben). Im zweiten Falle wird gerade der konkrete Fall des Lernens reproduziert. Das Gedächtnis ist also weitaus reicher, als man annehmen könnte, wenn man nur von den Besonderheiten der bewußten Reproduktion des Erlebten ausgeht. Als allgemein anerkannt kann die Auffassung gelten, daß die Stirnlappen eine wichtige Rolle in den Denkprozessen spielen. Welche neueren Ergebnisse sprechen für diese Auffassung? „Wir werden dem vorderen Stirnbereich keine besondere Aufmerksamkeit widmen. Seine elektrische Reizung ruft keinerlei sichtbare Effekte hervor, es sei denn einen Anfall."31 Eine epileptische Entladung in den vorderen Stirnlappen führt jedoch zum Verlust des Bewußtseins und zu allgemeinen Krämpfen. Was sind die Gründe dafür? Die Untersuchungen Penfields und anderer haben gezeigt, daß sich die in den Stirnlappen entstehenden Entladungen schnell auf die damit eng verbundenen subkortikalen Bildungen ausdehnen (insbesondere auf die Sehhügel). „Da die Zerstörung allein des vordeien Stirnbereichs bei einem Menschen, der sich bei Bewußtsein befindet, nicht zur Bewußtlosigkeit führt, kann die lokale Störung der Kortexfunktionen, die durch einen Anfall hervorgerufen wird, nicht die Ursache der Bewußtlosigkeit sein. Es kann durchaus angenommen werden, daß sich die Entladung auf die kortikal-subkortikalen Verbindungen ausdehnt und eine Funktionsstörung jener Teile des mesencephalischen Systems bewirkt, die am engsten mit diesem Gebiet der Großhirnrinde verbunden sind."32 Penfield zeigt am konkreten Beispie], daß die Krämpfe, die der Bewußtlosigkeit folgen, deswegen entstehen, weil sich die Entladung über das mesencephalische System auf die sensomotorische Rinde ausdehnt. Nach dem Studium der Folgen, die eine Entfernung großer Bereiche der Stirnrinde hat, kamen Penfield und Evans33 zu dem Schluß, daß „eine der wichtigsten Folgen der maximal zulässigen Entfernung des rechten oder linken Stirnlappens die Störung jener geistigen Prozesse ist, die notwendig sind, um den Plan einer Handlung auszuarbeiten und Initiative zu zeigen" 34. Dabei stellte sich heraus, daß die psychischen 31 Ebenda, S. 114. 32 Ebenda, S. 115. 33 Penfield, W., Evans, J., The Frontal Lobe in Man. A Clinical Study of Maximum Removals, in: Brain, Nr. 58/1935. 34 Zitiert nach: Penfil'd, V., Dzasper, G., Epilepsija . . ., a. a. O., S. 117.
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Störungen tiefgreifender waren, wenn Teile der Stirnrinde entfernt wurden, die im oberen Teil des Zwischenbereiches lagen. Zur Heilung einiger Psychosen und Neurosen (die oft auf Grund der Kompliziertheit von Lebenssituationen und der Schwierigkeit, eine Entscheidung zu treffen, entstehen) haben Freeman und Watts 3 5 die Projektionsfasern vom oberen mittleren Kern des Sehhügels zur Rinde des vorderen Stirngebietes durchtrennt. „Man muß annehmen", schreibt Penfield, „daß diese Operation das entsprechende Rindenfeld fast völlig seiner Funktionen beraubt . . . Dennis-Biown (1951) hat die entstehenden Funktionsstörungen erforscht. Er ist der Meinung, daß der Verlust der Fähigkeit, die Folgen vorauszusehen, das einzige Ergebnis der Leukotomie ist, und weist auch darauf hin, daß eine Schädigung der Stirnlappen zur Persönlichkeitsveränderung führt, indem sie eine Euphorie mit einer schrecklichen Gleichgültigkeit gegenüber wichtigen Dingen oder gegenüber den schwerwiegenden Folgen einer Situation" hervorruft."36 Aus diesen Fakten wird offensichtlich, daß die Fähigkeit zu planen und vorauszusehen im erheblichem Maße vom Entwicklungsgrad und der Aktivität der Stirnlappen abhängt. Dies ist ein gewisser Hinweis auf die Lokalisation der physiologischen Mechanismen der intellektuellen Intuition. Was nun die Tatsache angeht, daß wissenschaftliche Entdeckungen zuweilen im Schlaf gemacht werden, so kann darauf verwiesen werden, daß beim Übergang vom Wachzustand zum Schlaf die Aktivität der Stirnrinde später als die anderer Bereiche des Gehirns nachläßt. Offensichtlich ist auch, daß zur Verwirklichung komplizierter integrativer Denkprozesse eine hohe Aktivität der Schläfenlappen (dei Gedächtniszentren), des Gyrus hippocampi und der Sprachzentren (der Zentren zur Speicherung von Begriffen) erforderlich ist. Es wäre von Nutzen, diese Gedanken mit Penfields Theorie von der Lokalisation der Sprache an drei Stellen zu verbinden. Dies ist umso wichtiger, wenn man den folgenden Schluß Penfields berücksichtigt: „Man kann folgern, daß die Rinde des vorderen Stirngebietes weder motorische noch sensorische Funktionen besitzt; sie ist auch am Gedächtnismechanismus nicht beteiligt. Sie wird in bewußten geistigen Prozessen genutzt, die für die richtige Planung und Initiative sowie auch füi die Voi aussieht der Folgen einer ausgeführten Handlung notwendig sind." 37 35 Freeman, W., Watts, J., Psychochirurgie (Psychosurgery [dt.]), Stuttgart 1949. 36 Penfil'd, V., Dzasper, G., Epilepsija . . ., a. a. O., S. 117. 37 Ebenda, S. 118.
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Schon mehrfach ist auf die wichtige Rolle der Emotionen im schöpferischen Prozeß hingewiesen worden. Die überaus enge Verflechtung von Intellektuellem und Emotionalem im Schöpfertum, besonders in der Etappe der intuitiven „Erleuchtung" des Bewußtseins, legt den Gedanken nahe, daß die physiologischen Mechanismen der Emotionen und des intuitiven Denkens in vielem identisch oder aufs engste miteinander verknüpft sind. Die Fähigkeit des intuitiven Denkens hat sich augenscheinlich im Verlaufe der Evolution infolge der Notwendigkeit herausgebildet, Entscheidungen zu fällen, ohne über die Ereignisse voll informiert zu sein. Unter diesem Gesichtspunkt kann die Fähigkeit, intuitiv zu erkennen, als eine Wahrscheinlichkeitsantwort auf die wahrscheinlichen Umweltbedingungen verstanden werden. Eine ähnliche Theorie hinsichtlich der Emotionen wird gegenwärtig von P. V. Simonov entwickelt. Simonovs Gedanken verdienen die ungeteilte Beachtimg der Physiologen und Psychologen, denn sie stehen, wie uns scheint, in unmittelbarem Zusammenhang sowohl mit den Mechanismen der Emotionen als auch mit denen des intuitiven, schöpferischen Denkens. Die spezialisierten Zentren der organischen Bedürfnisse aktivieren nach Simonovs Ansicht „mit hinreichender Selektivität die höchsten subkortikalen Abschnitte des Gehirns und die Rinde der Großhirnhemisphäre — die Speicher der genetischen und der erworbenen Erfahrung."38 Das führt dazu, daß ein organisches Bedürfnis zur Motivation des Handelns — beim Menschen auch des Denkens - wird. Simonov bemüht sich weiter, die Genesis der Emotionen zu erklären: „Lebende Systeme sind nicht immer vollkommen informierte Systeme. Sie sind gezwungen, ihie Bedürfnisse unter den Bedingungen eines chronischen Informationsdefizits zu befriedigen und mit dem Informationsvorrat zu handeln, der im betreffenden Moment vorhanden ist. Dieser Umstand machte besondere Formen der Anpassung erforderlich, einen besonderen physiologischen Apparat, der in entwickelter Form der physiologische Mechanismus der Emotionen bei höher entwickelten Tieren und beim Menschen ist." 39 Die Hauptsache ist unserer Meinung nach die Bildung nicht des physiologischen Apparats der Emotionen, sondern des vollkommeneren und feineren zerebralen Apparats des intuitiven Verstehens, der Antizipation. Dieser komplizierte zerebrale Mechanismus des intuitiven Begreifens wird häufig gerade durch den Apparat des emotionalen Verhaltens akti38 Simonov, P. V., Cto takoe emocija, Moskau 1966, S. 16.
39 Ebenda, S. 20. 155
viert. Wie Simonov richtig feststellt, erhöhen die Emotionen die Aktivität des Organismus und mobilisieren seine Kräfte für eine aktivere Informationssuche sowie zur Überwindung von Hindernissen, wenn es keine Möglichkeiten mehr gibt, zusätzliche Informationen zu erhalten. Aber Simonov übersieht die außerordentlich wichtige Tatsache, daß die Emotionsmechanismen für sich allein nicht imstande sind, die Erkenntnisfunktionen eines lebenden Systems zu gewährleisten, sondern manchmal (bei großer Intensität) die Rezeptivität hemmen und vermindern und so zur Ursache für den Untergang des Organismus werden. In gewissem Sinne bilden die Mechanismen der Emotionen und die Mechanismen des Denkens deshalb einen Gegensatz. Unserer Meinung nach stellt der Prozeß der intuitiven Erkenntnis die Einheit von intellektuellem und emotionalem Verhalten in solchem Grade dar, daß man mit vollem Recht die Intuition als intellektuelle Emotionalität oder emotionale Intellektualität bezeichnen kann, als eine der höchsten Erkenntnisfähigkeiten des Menschen. Der Prozeß der intuitiven Erkenntnis ist tief intellektuell und tief emotional zu gleicher Zeit; deshalb wird die Informationstheorie der Emotionen zu einem besseren Verständnis der Intuition beitragen. Für die Intuition bedarf es jedoch auch des Wissens um die Mechanismen des logischen Denkens, da die intuitive Erkenntnis durch die bewußte, logische Situationsanalyse vorbereitet wird und selbst in der Etappe der „Einsicht" auf dem Hintergrund des allgemeinen Sprunges, der die Folge der Arbeit unterbewußter Mechanismen des intuitiven Verstehens ist, deutlich Elemente des logischen, bewußten Denkens hervortreten. Die Erscheinung der Intuition kann deshalb nur dann ganz verstanden werden, wenn die Mechanismen sowohl des logischen Denkens als auch der Emotionen bekannt sind. Darin liegt nach unserer Überzeugung der aussichtsreichste Weg zur Erforschung der höchsten psychischen Funktionen des Menschen. Die Emotionalität vom ganzheitlichen psychischen Geschehen zu lösen ist in der ersten Zeit augenscheinlich nur dann gerechtfertigt und möglich, wenn man sich der Tatsache bewußt bleibt, daß sie ein Bestandteil einer komplizierteren psychischen Erscheinung ist. Andernfalls wäre ein solches Vorgehen eine unzulässige Vereinfachung. Diejenigen, die die physiologischen Mechanismen der Emotionen erforscht haben, benutzen ihre Ergebnisse gewöhnlich nur ungern dazu, den Prozeß des intellektuellen Verhaltens zu erklären. E. Gellhorn und G. Loofbourrow zum Beispiel erklären sich außerstande, Fragen der Wechselbeziehung zwischen physiologischen und höheren intellek156
tuellen Prozessen zu erörtern.40 Der Grund dafür ist weniger ihre Inkompetenz als vielmehr, wie sie feststellen, der Mangel an zuverlässigen Fakten, auf deren Grundlage man entsprechende Überlegungen anstellen könnte. Gellhorn und Loofbourrow behandeln recht ausführlich die Fragen der kortikalen Lokalisation psychischer Funktionen bei Tieren und Menschen. Besonders bedeutsam sind die Angaben über die Rolle der retikulären Formation bei der Aufrechterhaltung des aktiven (wachen) Zustandes der Großhirnrinde des Menschen. Wenn die retikuläre Formation entfernt wird oder wenn die von ihr zur Rinde führenden Nervenbahnen unterbrochen werden, so fällt der Mensch in einem komatösen Zustand, in dem Funken der Bewußtheit nur nach starken äußeren Reizen zu beobachten sind. Sehr wichtig ist auch die Tatsache, daß der Hypothalamus den funktionalen Zustand der Rinde beeinflußt. Diese Faktoren schaffen augenscheinlich eine feste physiologische Grundlage für die bekannte psychologische Tatsache, daß die Emotionen das Denken unmittelbar beeinflussen. In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, daß es, wenn man von den unterbewußten Denkmechanismen spricht, offenbar keinen Grund zu der Annahme gibt, die entsprechenden physiologischen Prozesse würden nach dem Übergang des Denkprozesses zur unterbewußten Phase zwangsläufig in die subkortikalen Tiefen des Gehirns verlagert werden. Gegen eine solche Annahme sprechen im wesentlichen zwei Fakten: 1. beim Übergang vom Wachzustand zum Schlaf bleibt die Aktivität der Rinde am längsten erhalten; 2. die Mechanismen des Langzeitgedächtnisses sind offenbar hauptsächlich in den kortikalen Ganglien der Schläfenrinde lokalisiert. Im Lichte der bisherigen Ausführungen wird bis zu einem gewissen Grade deutlich, daß sich die bewußten und die unterbewußten psychischen Prozesse vermutlich nicht so sehr durch die topologischen Besonderheiten ihrer zerebralen Lokalisation unterscheiden, als vielmehr durch eine unterschiedliche Intensität der elektrochemischen Prozesse und die Besonderheiten der entsprechenden Neuronenstrukturen. Es ist denkbar, daß ein bestimmtes Verbindungssystem der betreffenden Ganglienkonstellation und eine bestimmte Ebene seiner Aktivität bei einer solchen Verbindung zur Entstehung einer bewußten psychischen Erscheinung führen, ein anderes Verbindungsschema aber und eine 40 Vgl. Gellhorn, E., Loofbourrow, G., Emotions & emotional New York 1963.
disorders,
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andere (wahrscheinlich niedere) Ebene der Aktivität des betreifenden Neuronensystems einen unterbewußten psychischen Prozeß auslösen. Falls sich diese Annahme bestätigt, dann wird das Problem der physiologischen Grundlagen der höchsten intellektuellen Prozesse noch schwieriger. Diese Schwierigkeit ist jedoch zweifellos überwindbar. Eine Gewähr dafür bieten die intensiven Forschungen über Lokalisationsgesetzmäßigkeiten, die sowohl in der Sowjetunion wie in anderen Ländern unternommen worden sind. Insbesondere die Forschungen zur Lokalisation der höchsten psychischen Funktionen, die A. R. Lurija und seine Mitarbeiter auf der Grundlage von klinischem Material angestellt haben, erscheinen außerordentlich vielversprechend.41 Da eine ausführlichere Erörterung der physiologischen Mechanismen höchster intellektueller Prozesse nicht zur Aufgabe der vorliegenden Untersuchung gehört, können wir hier auch nicht näher darauf eingehen. 41 Vgl. Lurija, A. R., Cvetkova, L. S., Nejropsichologileskij if eni ja zadal, Moskau 1966.
analiz re-
KAPITEL V
Historischer Abriß
Nachdem wir versucht haben, eine mehr oder minder umfassende Konzeption von den Besonderheiten der intuitiven „Erleuchtung" bei der Lösung wissenschaftlicher Probleme darzulegen, scheint es angebracht, sich der Geschichte der Erforschung des Denkens in den wichtigsten psychologischen Schulen zuzuwenden. Wir wollen versuchen, jene Ergebnisse der Möglichkeiten festzustellen, die dazu beigetragen haben, das Problem des Denkens richtig in Angriff zu nehmen und es seiner Lösung näherzubringen. Es versteht sich von selbst, daß in einer Arbeit, die der Erforschung hauptsächlich einer einzigen Erscheinung (der intuitiven Erkenntnis) gewidmet ist, die Aufmerksamkeit bei der historischen Darstellung darauf gerichtet wird, wie eben dieses Problem gelöst wurde oder welche Voraussetzungen für seine Lösung gegeben waren. Das ist auch die Ursache dafür, daß wir nur solche grundlegenden psychologischen Richtungen wie die Assoziationspsychologie, die Würzburger Schule und die Gestaltpsychologie behandeln werden, in denen das Problem des Denkens entweder berührt wurde oder Gegenstand spezieller umfangreicher Forschungen war. Da eine ausführliche Betrachtung der philosophischen Konzeptionen der Vertreter der Assoziationstheorie, der Würzburger Schule und der Gestaltpsychologie nicht unser Ziel ist und uns nur vom Problem der intuitiven Erkenntnis im wissenschaftlichen Schöpfertum ablenken würde, so verweisen wir den Leser auf eine Anzahl von Publikationen, in denen die philosophischen Auffassungen der bürgerlichen Psychologen sehr viel gründlicher untersucht und kritisch eingeschätzt werden.1 1 Vgl. Issledovanija mySlenija v sovetskoj psichologii, Moskau 1966; Osnovnye napravlenija issledovanij psichologii mySlenija v kapitalistiieskich stranach, Moskau 1966; Psichologija mySlenija, Sammelband von Übersetzungen, Moskau 1965; Sovremnennaja psichologija v kapita~ listiieskich stranach, Moskau 1963; Jarosevskij, M. G., Psichologija v XX stoletii, Moskau 1970, u. a.
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Es muß auch gesagt werden, daß die hier vorgelegten historischen Abrisse die Geschichte der psychologischen Lehren vom Schöpfertum und der Intuition in keiner Weise erschöpfend behandeln. 1. Das Unbewußte und die Intuition in den Werken Piatos Zu Beginn scheint es uns jedoch zweckmäßig, auf einige Gedanken Piatos über die Besonderheiten des schöpferischen Prozesses einzugehen, da in seinen Werken nämlich nicht wenige interessante Ideen über die Tinbewußten psychischen Erscheinungen und die Intuition zu finden sind. Das philosophische System Piatos hat die Weltkultur wesentlich beeinflußt. Seine Bedeutung für die Psychologie aber ist bis heute kaum erschlossen, obwohl Piatos großes Interesse an gnoseologischen Problemen ihn veranlaßt hat, in seinen Werken eine Reihe von diesbezüglichen Fragen zu behandeln, die für die moderne Psychologie des schöpferischen Denkens von Bedeutimg sind und berücksichtigt zu werden verdienen. Uns interessieren hier in erster Linie die Fragen des unbewußten psychischen Lebens, der intuitiven Erkenntnis und des schöpferischen Prozesses, zu welchen Problemen sich in vielen Dialogen Piatos Ausführungen finden. Als objektiver Idealist sieht Plato die Welt der Ideen als die wahrhaft reale an. Grundlegende Erkenntnisfähigkeit — um es in der heutigen Terminologie auszudrücken — besteht füi ihn in einer metaphysisch verstandenen Intuition. Hier liegt eine der ersten Konzeptionen des Intuitivismus in der Wissenschaftsgeschichte vor. Aber Plato ist ein antiker Denker, und die sinnliche Welt ist für ihn von gewaltigem Interesse und im Grunde die Quelle seiner tiefen Verallgemeinerungen. Das Interesse für die reale Welt der Dinge und die Gebundenheit an diese sind charakteristische Züge der antiken Denkweise, was von Kennern der griechischen Philosophie wiederholt hervorgehoben wurde und was in vollem Umfange auch auf Plato zutrifft. Eben deshalb finden sich in seinen Dialogen neben metaphysischen Erörterungen über die Existenz einer geheimnisvollen Fähigkeit zu intuitivem Erkennen der jenseitigen Welt der Ideen auch sehr ernsthafte Beobachtungen und Gedanken über das plötzliche Verstehen, die der Deutung der Intuition in der modernen Psychologie sehr nahekommen. Als allgemein anerkannt kann gelten, daß das Problem der Intuition nur in Verbindung mit der Behandlung des unterbewußten psychischen Lebens gelöst werden kann. Die Intuition ist im Grunde nur 160
ein Aspekt des umfassenderen Problems des Unterbewußten und Unbewußten, von dessen Lösung in höchstem Grade abhängt, wie das Wesen des Psychischen verstanden wird. Wenn man über Piatos Auffassungen vom Wesen der Intuition spricht, so muß man deshalb zunächst darauf eingehen, was Plato über die nicht bewußtwerdenden psychologischen Erscheinungen wußte. Bei der Untersuchung von Fragen nach den Quellen des poetischen und wissenschaftlichen Schöpfertums kommt Plato in einigen seiner Dialoge {Jon, Das Gastmahl und andere) zu dem Schluß, daß das Schöpfertum unbewußten Charakter besitzt, das Ergebnis von Inspiration ist und mit dem kalten verstandesmäßigen Denken nichts gemein hat. Ihre besten Werke schaffen viele Dichter, so behauptet er, in ge-*trübtem Zustand ihres Bewußtseins, im Zustand der Prostration. Deshalb seien viele von ihnen in der Regel nicht imstande, die eigenen Schöpfungen zu deuten. Im- Geiste der idealistischen Philosophie versucht Plato seine Hörer davon zu überzeugen, daß so die Gottheit durch die Menschen spreche. So sehr die wissenschaftliche und logische Unhaltbarkeit einer derartigen Erklärung offensichtlich ist, dürfen wir jedoch nicht die wichtige Tatsache außer acht lassen, daß die Überlegungen Piatos über den schöpferischen Prozeß die sichtliche Anerkennung der Realität und Bedeutung einer unbewußten psychischen Tätigkeit enthalten. Dieser Schluß bestätigt sich auch, wenn man die Sokratische Methode, den Gesprächspartner durch Fragen zur Erkenntnis zu führen (die „Mäeutik des Sokrates"), studiert, die wir heute als heuristische Methode bezeichnen würden. Das Studium dieser für das Verständnis des Piatonismus wichtigen Frage führt zu der Folgerung, daß es für Plato eindeutig feststand, daß der Mensch über Wissen, dessen Existenz er nicht einmal vermute, verfüge. Plato erörtert diese Frage ausführlich in dem Dialog Menon und in einer Anzahl anderer Dialoge. Sieht man von der mythologischen Auslegung dieser Erscheinung ab, dann kann man folgern, daß Plato nicht nur von der Existenz des Unterbewußten wußte, sondern auch eine eigene (wenn auch mit Mythologie vermischte) Konzeption besaß, und zwar die, daß das Unterbewußte die Gesamtheit früher erworbenen Wissens sei. Hier ist anzumerken, daß im Orient eine derartige Auffassung des psychischen Lebens sehr verbreitet war und daß wir eine solche Anschauungsweise auch in der antiken Philosophie finden. Es handelt sich hierbei um nichts anderes als um eine der Konzeptionen der Seelenwanderung (Metempsychose), die wir von den Pythagoreern, Plato und einer Anzahl von altindischen philosophischen Richtungen kennen (in 11 Naliadijan
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der indischen Philosophie zum Beispiel im System des Yoga, dem philosophischen System des Sankara usw.). Ramacaraka schreibt über diese Erscheinung in seinem Buch 2nanl-joga: „Manche Menschen hatten außergewöhnliche Erlebnisse, die man nur mit der Hypothese der Metempsychose erklären kann. Wer hat noch nicht das Bewußtsein gespürt, daß er dasselbe schon früher gefühlt hat, daß er dasselbe schon irgendeinmal in nebelhafter Vergangenheit gedacht hat? Wer ist nicht schon einmal Zeuge neuer Szenen gewesen, die ihm sehr alt erschienen? Wer hat nicht zum erstenmal Menschen getroffen, deren Anwesenheit in ihm die Erinnerung an eine fern-ferne Vergangenheit weckte? Wen hat nicht von Zeit zu Zeit das Bewußtsein ergriffen, daß seine Seele uralt ist? Wer hat noch nicht ein altes Bild oder eine Statue mit dem Gefühl angeschaut, daß er dies schon einmal gesehen habe? Wer hat nicht Ereignisse erlebt, die in ihm die Überzeugung hervorriefen, daß sie einfach eine Wiederholung irgendwelcher nebulösen Zufälligkeiten waren, die es schon einmal in einer unbekannten Vergangenheit gegeben hat?" 2 Es unterliegt keinem Zweifel, daß es hier und in den Werken anderer Autoren dieser philosophischen Richtungen um die intuitive Antizipation, um die Reproduktion früherer Eindrücke unter dem Einfluß des aktuellen Wahrnehmungsprozesses, aber auch um einige Erscheinungen geht, die in der Psychopathologie bekannt sind. Daß hier die Intuition auf der Grundlage früherer Erfahrungen gemeint ist, geht aus der von Ramacaraka getroffenen Feststellung hervor, daß der Gedanke eines früheren Lebens selbst bei vielen geistig entwickelten Menschen erst in reiferen Jahren auftaucht, „wenn ihr Gehirn weit genug entwickelt ist, um das in der Tiefe ihrer Seele liegende Wissen zu erfassen. Bei gewöhnlichen Menschen liegt die Erinnerung an frühere Leben tief in den Winkeln der Seele verborgen, ebenso wie dort die Erinnerungen an viele Fakten und Ereignisse dieses Lebens eingeschlossen sind, die gleichsam dem Bewußtsein völlig verborgen sind und ihm nur dann zugänglich werden können, wenn irgendwelche neuen Fakten, die das Verbindungsglied waren, sie an die Oberfläche führen." 3 Dieser interessante Gedanke zeigt, wie psychologisch fruchtbar die im Grunde phantastische Idee von der Seelenwanderung sein kann. Die Äußerungen indischer Philosophen enthalten in reduzierter Form einige Ideen über das unterbewußte Leben, über die Mechanismen der intuitiven Erkenntnis und des schöpferischen Prozesses, die heute in der 2 Ramaöaraka, ¿nani-joga, 3 Ebenda, S. 188.
162
Sankt Petersburg 1914, S. 182.
modernen Psychologie behandelt werden. Doch wird diesen Erscheinungen, wie wir schon betonten, eine mythologische Deutung gegeben. Es sei festgestellt, daß die Hypothese von der Seelenwanderung, so schädlich sie auch unter anderen Gesichtspunkten sein mag, sich auf Vorstellungen vom Gedächtnis und vom Unterbewußten stützt und somit wenn auch nur in engen Grenzen — gewisse Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Behandlung und Auffassung der Fähigkeit zu unmittelbarer Einsicht (der Intuition) schafft, indem sie die letztere mit der Erinnerung, der Aktualisierung von Kenntnissen und der Apperzeption verbindet. Wie sich aus den bisherigen Darlegungen ergibt, widmet die moderne Denkpsychologie der Analyse des schöpferischen Prozesses große Aufmerksamkeit und bemüht sich, seine Hauptetappen festzustellen, deren Ergebnis nicht selten die plötzliche „Erleuchtung" des Bewußtseins durch die gesuchte Lösung ist, also das intuitive Eindringen ins Wesen der erforschten Erscheinung. Zu diesem Aspekt des Erkenntnisprozesses finden wir in den Werken Piatos ebenfalls wertvolle Gedanken. Nimmt man alle Äußerungen Piatos über den schöpferischen Prozeß insgesamt, wie wir sie in seinen Dialogen finden, so kann man zu dem Schluß kommen, daß er bestimmte Vorstellungen von der langwährenden und zielstrebigen Vorbereitung und der Sättigung der Psyche mit den notwendigen Kenntnissen besaß, die für das Auffinden von Gesetzmäßigkeiten in den Erscheinungen erforderlich sind. Da Plato stark zur ästhetischen Wahrnehmung der Welt neigte, ist bei ihm zumeist die Rede von der Notwendigkeit einer langen Erziehung und Vorbereitung, um die Schönheit und Harmonie der Natur und der Kunstwerke begreifen zu können. Plato war eine der schöpferisch aktiven Persönlichkeiten der Wissenschaftsgeschichte. Gerade seine eigene Erfahrung im Erleben schöpferischer Inspiration hat unseres Erachtens wesentlich dazu beigetragen, daß Plato in vielen seiner Werke Emotionen und Gefühle im schöpferischen Prozeß betont. Das „Sehen" der Wahrheit, die Entdeckung neuen Wissens sind dermaßen von intellektualisierten Emotionen durchdrungen, daß Plato den Eros für eine Haupttriebkraft menschlicher Aktivität hielt. Diese These wird mit großer Meisterschaft in dem berühmten Dialog Das Gastmahl entwickelt. Eros, Sympathie und andere positive Gefühle sind nicht nur eine Bedingung dafür, das Leben der zielstrebigen Suche nach Wahrheit zu widmen. Sie sind bei Plato gleichsam ein Teil dieser Wahrheit, weil die uns zugängliche Wahrheit, selbst jene, die sich uns durch das intuitive Begreifen erschließt, in Form menschlichen Wissens auftritt. Um so mehr ist der Prozeß der Erkenntii»
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nis dieser Wahrheit als realer psychischer Prozeß selbst emotional gesättigt. Es muß allerdings gesagt werden, daß diese hohe Bewertung, die Plato den emotionalen Komponenten des schöpferischen Prozesses beimißt, manchmal die Grenzen des Realen überschreitet. So meint Plato zum Beispiel, daß die Staatsmänner „ . . . in bezug auf Wissen nicht besser daran sind als die Orakelsänger und die Seher, denn auch diese verkünden ja manches Wahre, wissen aber nichts von dem, was sie sagen". Und er fährt fort: „Mit Recht werden wir wohl die göttlich nennen, die wir eben erwähnten, die Orakelsänger und Seher und auch alle Dichter; und nicht weniger als von diesen dürften wir auch von den Staatsmännern sagen, sie seien göttlich und gottbegeistert, da sie vom Gott berührt und ergriffen sind, wenn sie durch ihr Reden viele große Dinge richtig vollbringen, ohne von dem, was sie sagen, etwas zu wissen."4 Das bedeutet nach Plato, daß der schöpferische Ausbruch, die Inspiration und die Entscheidungsfindung vorwiegend unbewußt, intuitiv sind. Es ist aber ein grober Fehler zu sagen, daß Bewußtsein und Wissen dabei eine zweitrangige Rolle spielen. Es ist doch bekannt, daß zum Beispiel sehr oft tiefe emotionale Erlebnisse die Erweiterung der Bewußtseinssphäre, die gleichzeitige Erfassung einer großen Menge von Kenntnissen fördern, wenn sie auch manchmal in Abhängigkeit von einer ganzen Reihe von Umständen einen umgekehrten Einfluß auf den Zustand des Bewußtseins ausüben. Wir sehen bei einer synthetischen Betrachtung aller Gedanken Piatos über die Natur des Schönen und die Wege zu seiner Erkenntnis, daß Plato die höchste menschliche Erkenntnisfähigkeit in einer metaphysisch verstandenen Intuition sieht (natürlich hat er diesen Terminus nicht benutzt). Diese ontologisierte Intuition läßt sich zur Welt der Dinge herab und findet ihren klarsten Ausdruck in der Erkenntnis der Welt der Ideen. Das Erbe Piatos verdient eine gründliche Erforschung in psychologische Hinsicht. Schon jetzt aber können wir feststellen, daß es reich an Ideen ist, die für die moderne psychologische Wissenschaft von Nutzen sind. Darum ist es angebracht, an Lenins Worte aus dem Philosophischen Nachlaß zu erinnern: „Ein kluger Idealismus steht dem klugen Materialismus näher als ein dummer Materialismus."5 Eine gründliche 4 Piaton, Menon, in: Die Bibliothek der Alten Welt, Griechische Reihe,
Bd. 11, Zürich o. J. (1948), S. 268.
5 Lenin, V. I., Konspekt zu Hegels „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie", in: Werke, Bd. 38, Berlin 1964, S. 263.
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Erforschung der Werke Piatos von den Positionen des Marxismus her liegt zweifellos im Interesse der Entwicklung der Theorie des Unterbewußten, der Intuition und der Psychologie des schöpferischen Denkens. 2. Das schöpferische Denken in der Assoziationspsychologie Die Assoziationspsychologie wäre im Grunde fähig gewesen, die Frage nach der Natur der Intuition zu stellen, wenn es ihre Vertreter verstanden hätten, sich vom Intellektualismus freizumachen und den positiven Inhalt der Theorie des Unbewußten kritisch aufzunehmen. Diese Theorie begann sich um die Jahrhundertwende herauszubilden. Es sei nur auf einige Ideen P. Janets und anderer verwiesen, die bei der Lösung des Rätsels der Intuition durchaus hätten.zum Ausgangspunkt werden können. Das um so mehr, als die Beobachtungen von Leibniz, Helmholtz und Poincaré bereits bekannt waren und bei den Psychologen auf nicht geringes Interesse stießen. Außerdem hätte die Einsicht, daß sich Assoziationskomplexe nach den Merkmalen der räumlichen und zeitlichen Nachbarschaft hauptsächlich in der unterbewußten Sphäre bilden (ausgenommen das bewußte Streben nach der Schaffung solcher Assoziationen, um das Einprägen einer bestimmten Art von Materialien zu erleichtern), die Forscher dazu führen können, die Mechanismen der intellektuellen Intuition in einigen Bereichen der theoretischen Tätigkeit aufzudecken. Es war indes für die Assoziationspsychologie schwer, ja fast unmöglich, die Gesetzmäßigkeiten des bewußten Denkens zu erklären, weil sie den wichtigen Umstand nicht berücksichtigte, daß dieser Prozeß bei jedem Schritt durch den mehr oder minder adäquat widergespiegelten Inhalt jener Aufgabe reguliert wird, für deren Lösung er abläuft. Die Wechselwirkung zwischen der im Bewußtsein widergespiegelten Aufgabe und dem Denkprozeß wird bis zum Eintritt der Lösung immer komplizierter. Eine solche Komplizierung liegt gewöhnlich dann vor, wenn es auf Grund der Schwierigkeit der Aufgabe notwendig wird, die Lösung durch eine plötzliche intuitive „Erleuchtung" finden zu müssen. In einfacheren Fällen steigt der Schwierigkeitsgrad der Lösung bis zur Hälfte der Aufgabe an, beginnt sich dann aber zu verringern, bis der Forscher jene einzige Möglichkeit gefunden hat, die zur Lösung führt. Es wird daher verständlich, warum die Assoziationspsychologen so weit davon entfernt waren, das Wesen des Denkprozesses auch nur 165
Erforschung der Werke Piatos von den Positionen des Marxismus her liegt zweifellos im Interesse der Entwicklung der Theorie des Unterbewußten, der Intuition und der Psychologie des schöpferischen Denkens. 2. Das schöpferische Denken in der Assoziationspsychologie Die Assoziationspsychologie wäre im Grunde fähig gewesen, die Frage nach der Natur der Intuition zu stellen, wenn es ihre Vertreter verstanden hätten, sich vom Intellektualismus freizumachen und den positiven Inhalt der Theorie des Unbewußten kritisch aufzunehmen. Diese Theorie begann sich um die Jahrhundertwende herauszubilden. Es sei nur auf einige Ideen P. Janets und anderer verwiesen, die bei der Lösung des Rätsels der Intuition durchaus hätten.zum Ausgangspunkt werden können. Das um so mehr, als die Beobachtungen von Leibniz, Helmholtz und Poincaré bereits bekannt waren und bei den Psychologen auf nicht geringes Interesse stießen. Außerdem hätte die Einsicht, daß sich Assoziationskomplexe nach den Merkmalen der räumlichen und zeitlichen Nachbarschaft hauptsächlich in der unterbewußten Sphäre bilden (ausgenommen das bewußte Streben nach der Schaffung solcher Assoziationen, um das Einprägen einer bestimmten Art von Materialien zu erleichtern), die Forscher dazu führen können, die Mechanismen der intellektuellen Intuition in einigen Bereichen der theoretischen Tätigkeit aufzudecken. Es war indes für die Assoziationspsychologie schwer, ja fast unmöglich, die Gesetzmäßigkeiten des bewußten Denkens zu erklären, weil sie den wichtigen Umstand nicht berücksichtigte, daß dieser Prozeß bei jedem Schritt durch den mehr oder minder adäquat widergespiegelten Inhalt jener Aufgabe reguliert wird, für deren Lösung er abläuft. Die Wechselwirkung zwischen der im Bewußtsein widergespiegelten Aufgabe und dem Denkprozeß wird bis zum Eintritt der Lösung immer komplizierter. Eine solche Komplizierung liegt gewöhnlich dann vor, wenn es auf Grund der Schwierigkeit der Aufgabe notwendig wird, die Lösung durch eine plötzliche intuitive „Erleuchtung" finden zu müssen. In einfacheren Fällen steigt der Schwierigkeitsgrad der Lösung bis zur Hälfte der Aufgabe an, beginnt sich dann aber zu verringern, bis der Forscher jene einzige Möglichkeit gefunden hat, die zur Lösung führt. Es wird daher verständlich, warum die Assoziationspsychologen so weit davon entfernt waren, das Wesen des Denkprozesses auch nur 165
einigermaßen richtig zu begreifen. Die Vertreter der Assoziationspsychologie vermochten die dialektische Wechselbeziehung zwischen dem widergespiegelten Inhalt und dem Denkpiozeß nicht zu erfassen. Jene Wechselwirkung stellt im Grunde eine Rückkopplung mit allen sich daraus ergebenden Informationscharakteristika dar. Wenn man die Assoziationspsychologen kritisiert, so muß jedoch gesagt werden, daß die von ihnen festgestellten Assoziationsgesetze als ein hervorragendes Ergebnis der Psychologie anzusehen sind. Das Problem besteht darin, wie diese Gesetze interpretiert werden. Die Ergebnisse I. P. Pavlovs und seiner Schule haben die Basis für ein tiefer res. Verständnis der psychischen Erscheinungen geschaffen. Es besteht ein Unterschied in den Auffassungen von assoziativen Erscheinungen zwischen Pavlov und den Vertretern der traditionellen Assoziationspsychologie. I. P. Pavlov schreibt: „Die bedingte Verbindung ist . . . offensichtlich das, was wir Assoziationen der Gleichzeitigkeit nach nennen. Die Generalisation der bedingten Verbindung entspricht dem, was Assoziation der Ähnlichkeit nach genannt wird. Synthese und Analyse der bedingten Reflexe (der Assoziationen) sind im wesentlichen dieselben Grundprozesse unserer geistigen Arbeit." 6 Gerade die Deutung der wichtigsten Ergebnisse der Assoziationspsychologie in den Begriffen der reflektorischen Theorie schafft eine der Grundvoraussetzungen für die Lösung des Problems des schöpferischen Denkens in der sowjetischen Psychologie. Gehen wir kurz auf die Hauptthesen der traditionellen Assoziationspsychologie ein. Es ist schon gesagt worden, daß eine der Ursachen für die Hilflosigkeit der Assoziationspsychologen bei der Lösung der Denkprobleme ihr Intellektualismus war. Der deutsche Psychologe Theodor Ziehen schrieb in diesem Zusammenhang: „Ich wiederhole es: psychisch und bewußt sind für uns zunächst identisch. Das letztere ist, wenn Sie es so ausdrücken wollen, das Schibolet für das erstere. Unbewußte psychische Vorgänge sind für uns ein zunächst ganz leerer Begriff, dem wir später als Hypothese noch begegnen werden, aber von vornherein ein großes Mißtrauen entgegenbringen. Vor allem warne ich Sie schon jetzt vor den unklaren Wörtern: unterbewußt, halbbewußt, Unterbewußtsein, Bewußtseinsgrad usw. . . . Die oft eingeschlichene Annahme, daß es verschiedene Grade des Bewußtseins gebe, daß also der Bewußtseinsinhalt unverändert bleiben, aber der Grad der Bewußtheit wechselen könne, stützt sich lediglich auf solche Täuschungen. Alle diese Annahmen haben sich eingestellt, 6 Pawlow, I. P., Sämtliche Werke, Band III/2, Berlin 1953, S. 543.
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wo eine gründliche Untersuchung des Bewußtseinsinhalts fehlte." Hervorhebung — A. N.) Diese Erklärung eines der bekanntesten Vertreter der Assoziationspsychologie über die Architektonik der Psyche und das Wesen des Psychischen zeigt, wie hilflos diese Schule bei der Erforschung von mehr oder weniger komplizierten psychischen Erscheinungen war. Es ist bekannt, daß die letzten Ausgaben des Buches von Ziehen erschienen, als die hervorragendsten Vertreter der Psychologie begannen, sich der wichtigen Rolle der unbewußten psychischen Erscheinungen bewußt zu werden. Das zentrale Erklärungsprinzip war bei den Vertretern der Assoziationspsychologie der Begriff „Ideenassoziation". Darum ist es nützlich, kurz ihre Auffassungen von der Natur der Assoziation darzustellen. Über das Wesen der Assoziation schrieb Th. Ziehen: „Dies Hauptgesetz der Ideenassoziation können wir in psychologischer Fassung zunächst folgendermaßen aussprechen: Jede Vorstellung ruft als ihre Nachfolgerin entweder eine Vorstellung hervor, welche ihr inhaltlich ähnlich ist, oder eine Vorstellung, mit welcher sie selbst oder mit deren Grundempfindung ihre eigene Grundempfindung oft gleichzeitig aufgetreten ist. Die Assoziation der ersten Art bezeichnet man als innere, die der zweiten auch als äußere Assoziation. Das Prinzip der äußeren Assoziation ist die Gleichzeitigkeit, das der inneren die Ähnlichkeit."8 Anzumerken ist, daß Ziehen nicht alle Arten von Assoziationen kennt und sogar diejenigen, die er kennt, nicht ganz richtig einschätzt. Davon zeugt seine folgende Bemerkung: „. . . die innere oder Ähnlichkeitsassoziation ist, wo sie rein auftritt, sehr äußerlich und beschränkt sich wahrscheinlich fast ganz auf die Hörvoi Stellungen gleichklingender Worte . . ."9 Es liegt auf der Hand, daß sich die heutigen Auffassungen von den Assoziationen wesentlich von den Vorstellungen der Assoziationspsychologen unterscheiden.10 Und obwohl Ziehen den Begriff „Nachbarschaft" nicht nur auf die Gleichzeitigkeit, sondern auch auf das unmittelbare Auftreten von Vorstellungen nacheinander ausdehnt und das 7 Ziehen, Th., Leitfaden der Physiologischen Psychologie, Jena 101914, S. 4f. 8 Ebenda, S. 309. 9 Ziehen, Th., Leitfaden der Physiologischen Psychologie in 15 Vorlesungen, Jena 1902, S. 176. 10 Vgl. Sevarev, P. A., ObobSiennye associacii v ucebnoj rabote skol'nika, Moskau 1959; derselbe, O roli associacij v processach myslenija, in: Issledovanija mySlenija v sovetskoj psichologii, Moskau 1966.
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Nachbarschaftsprinzip hoch einschätzt, beseitigt das nicht die Lücken in seiner Assoziationstheorie. Bei der Erklärung von komplizierten psychischen Prozessen konstatiert Ziehen vier Faktoren, die den Verlauf der Vorstellungen beim Menschen bestimmen: 1. die assoziative Verwandtschaft — alle Arten von Assoziationen und ihre Funktionsgesetze; 2. die Deutlichkeit der verschiedenen widerstreitenden Erinnerungsbilder. Diese Deutlichkeit spielt eine wesentliche Rolle bei der Bildung von Ähnlichkeitsassoziationen, nicht aber von Gleichzeitigkeitsassoziationen; 3. der Gefühlston der Vorstellungen. Ziehen konstatiert die allgemein bekannte Tatsache, daß solche Vorstellungen tief und hartnäckig sind, die von tiefen emotionalen Erlebnissen begleitet werden; 4. die „Konstellation" der Vorstellungen, die außerordentlich wandelbar ist, das heißt, daß sich eine Anzahl der sie bildenden Vorstellungen allmählich verändert.11 Davon ausgehend schreibt Ziehen, daß sich unser Denken dem Gesetz strenger Notwendigkeit fügt, weil der vorausgehende Zustand der Hirnrinde ihren folgenden Zustand determiniert. Auf der Grundlage dieser Mechanismen erklärt er auch die Entstehung von Phantasiebildern. Dabei räumt Ziehen ein, daß neue Assoziationen auch als unbewußte gebildet werden können, das heißt als materielle Erregungen, die nicht von psychischen Prozessen begleitet werden; nur ihr Endprodukt, die neue Phantasievorstellung, wird unter dem Einfluß einer günstigen Konstellation als plötzlicher Einfall geweckt.12 Daraus folgt nach Ziehen, daß außerhalb der Bewußtseinsschwelle nur psychologische Prozesse ablaufen, keine psychischen. Natürlich ist jeder psychische Prozeß die Folge physiologischer Prozesse; der entscheidende Fehler der Assoziationspsychologen besteht jedoch darin, daß sie die unterbewußten psychischen Prozesse überhaupt negierten. Darin zeigt sich mit aller Deutlichkeit, zu welchen Beschränkungen und Irrtümern es führen kann, wenn das Physiologische und das Psychologische vermengt werden, wenn die psychophysische Einheit nicht begriffen und die Struktur der menschlichen Psyche falsch verstanden wird. Kann man dem Zustand eines Menschen, der tief in Gedanken versunken war und dessen Gesten, Mimik und Worte Bestürzung aus11 Vgl. Ziehen, Th., Leitfaden der Physiologischen Psychologie, a. a. O., 5. 322 f. 12 Vgl. Ziehen, Th., Leitfaden der Physiologischen Psychologie in 15 Vorlesungen, a. a. O., S. 183f.
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drücken (ohne daß er diese Bestürzung begreift), die Qualität des Psychischen absprechen, nur weil der Betreffende sein Erlebnis nicht versteht? Ohne Zweifel wäre das eine ungeiechtfertigte Vereinfachung. Des weiteren nimmt Ziehen eine detailliertere Systematisierung der beiden Hauptarten der Assoziation nach den Merkmalen der Verbalität und Objektivität (Gegenständlichkeit) vor. „Alles Schließen ist also ebenso wie alles Urteilen lediglich Assoziation und das formale Schließen noch dazu eine Form der Assoziation, die psychologisch fast bedeutungslos ist." 13 Zur Erklärung des Denkprozesses durch Assoziation führt Ziehen den Begriff „intellektuelle Aufmerksamkeit" ein. Darunter versteht er (im Unterschied zur sinnlichen Aufmerksamkeit) eine Konzentration der Aufmerksamkeit, in der sich der Komplex der direkten Empfindungen mit weiteren Vorstellungsströmen vereint. Während des Auftretens dieser Vorstellungen hört der Zufluß neuer Empfindungen praktisch nicht auf, obwohl es nach Ziehen zum Verständnis des Wesens der „intellektuellen Aufmerksamkeit" nötig wäre, sie nicht in Betracht zu ziehen. Um den Denkprozeß zu erklären, muß Ziehen zufolge von der ursprünglichen Empfindung, die zur Entstehung der gesamten Aufmerksamkeit führt, abgesehen und nur die Beziehung zur vorausgehenden Vorstellung in Betracht gezogen werden. „Wir haben dann die intellektuelle Aufmerksamkeit in ihrer reinsten Form: das aufmerksame, .konzentrierte' Denken, losgelöst, wenigstens scheinbar losgelöst, von Empfindungen."14 Weiter behauptet er, man könne das Denken erklären, ohne den Begriff „Aufmerksamkeit" zu benutzen, da es sich dabei um einen Spezialfall der Ideenassoziation handele. Das bedeutet, daß man nach Ziehens Ansicht das Denken mit den dargelegten Assoziationsgesetzen erklären kann. Ziehen ist jedoch weit davon entfernt, eine adäquate Erklärung des Denkprozesses zu liefern. Faktisch sind fast alle seine Bemerkungen für das Verständnis des Denkens ohne wesentliche Bedeutung; berücksichtigt zu werden verdient allein folgendes: 1. Es gibt keinen prinzipiellen Unterschied zwischen dem unwillkürlichen und dem willkürlichen Denken („Das Rätsel, an dem das Kind, das Problem, an dem der Denker sich abmüht, beide sind nur Variationen dieses Sichbesinnens"), ihr Unterschied reduziert sich auf eine besondere Muskelspannung, die das äußere Merkmal „konzentrierten Nachdenkens" schafft. 2. „. . . das sogenannte willkürliche Denken ist dadurch ausgezeichnet, 13 Ebenda, S. 198.
14 Ebenda, S. 380. 169
daß die gesuchte Vorstellung x, die Zielvorstellung, schon implizite zum Teil durch sehr komplizierte Assoziationen in den ersten Vorstellungen der Reihe und auch in den weiteren Vorstellungen irgendwie enthalten ist."15 Die festgestellten beiden Momente hätten große Bedeutung haben können, wenn Ziehen auf ihrer Grundlage das Studium des Denkprozesses weitergeführt hätte.16 Das Fehlen einer insgesamt richtigen Einstellung zur Determinierung des Denkprozesses, zur Funktion der Aufgabe und der Problemsituation, zur Rolle von Analyse und Synthese usw. hat jedoch dazu geführt, daß wir bei Ziehen kaum weiterführende Erkenntnisse über das Denken zu finden vermögen. Was die intuitive Erkenntnis angeht, so wird sie bei Ziehen überhaupt nicht erwähnt. Dieser wichtige Erkenntnisprozeß wird völlig ignoriert. Dennoch kann das Prinzip, psychische Erscheinungen (und insbesondere das Denken) durch Assoziationen zu erklären, wenn es sich nicht selbst genügt, eine große Rolle für das Erkennen der Denkgesetzmäßigkeiten spielen (besonders für das Verständnis der Gesetzmäßigkeiten des unterbewußten Denkens, in dem der Assoziationsprozeß infolge der Einstellung der bewußten dialektischen Wechselwirkung zwischen dem denkenden Subjekt und dem Aufgabeninhalt anscheinend vorherrschend wird.) Die Vertreter der Assoziationspsychologie, Ziehen insbesondere, haben es also nicht vermocht, die Möglichkeiten ihres grundlegenden Erklärungsprinzips zu nutzen. Deshalb bleiben solche Feststellungen, wie „. . . das willkürliche Denken nimmt überhaupt keine besondere Position ein, sondern hält sich . . . im Rahmen der Ideenassoziation", ungenutzt. Möglicherweise glaubten die Assoziationspsychologen auch, daß derartige Feststellungen das Studium des Denkens bereits ausmachten. S. L. Rubinstejn hat darum recht, wenn er schreibt: „So kennzeichnete beispielsweise Th. Ziehen den Begriff als Assoziation von Vorstellungen, das Urteil als Assoziation von Begriffen (des Subjekts und des Prädikats) und den Schluß als Assoziation von Urteilen (der Prämissen und der Schlußfolgerung). In der Assoziationstheorie ist also nicht einmal die Schlußfolgeruug gesucht, sondern gegeben."17 Rubinstejn konstatiert folgenden Hauptmangel der assoziativen Methode: „Das für die Psychologie des Denkens charakteristische 15 Ebenda, S. 383. 16 Diese beiden Momente wurden bekanntlich in der sowjetischen Psychologie von S. L. Rubinstejn als für das Verständnis des Denkens besonders wichtig hervorgehoben (insbesondere das zweite). 17 Rubinstein, S. L., Das Denken und die Wege seiner Erforschung (O mySlenii i putjach ego issledovanija [dt.]), Berlin 1961, S. 19.
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Problem der Determinierung . . . wird durch ein anderes Problem ersetzt: wie die Verknüpfungen gegebener Elemente die Reproduktion dieser Elemente determinieren."18 Die Psychologie befaßt sich, wie bereits gesagt wurde, in erster Linie mit der Erforschung des konkreten Denkprozesses, in dessen Verlauf und Ergebnis das Individuum neues Wissen gewinnt, kürzer ausgedrückt — mit dem produktiven, schöpferischen Denken. Deshalb war es durchaus sinnvoll, wenn die Vertreter der Würzburger Schule erklärten, sie studierten im Gegensatz zur assoziationstheoretischen Schiile das produktive Denken. Wie dem auch sei, klar ist eines: die Ausgangsprinzipien der traditionellen, empirischen Assoziationspsychologie machten es ihren Vertretern unmöglich, komplizierte und subtile psychische Erscheinungen zu erforschen. Darum zählten sie solche Erscheinungen wie die Intuition zu den metaphysischen Kategorien, für die in der Psychologie kein Platz sei. Das erwähnt auch Ziehen.19 Ausführlicher wird diese Frage von einem anderen bedeutenden Vertreter dieser Schule, A. Bain, behandelt.20 Das Wesentliche von Bains Ansichten über das Denken läßt sich wie folgt zusammenfassen. Vom Wesen der Überlegungen und Schlußfolgerungen behauptet er mit unbedeutenden Abweichungen dasselbe wie Th. Ziehen. Kennzeichnend ist, daß Bain Induktion und Deduktion für die hauptsächlichen Denkoperationen hält, die im wissenschaftlichen Denken angewendet werden: „Die Gesamtheit der wissenschaftlichen Prozesse, die .Induktion' und .Deduktion' genannt werden, entspricht dem, was man gewöhnlich Vernunft oder .Fähigkeit zur Überlegung, zur Schlußfolgerung'nennt."21 Und weiter schreibt er: „Zu den wissenschaftlichen Prozessen gehört neben Induktion und Deduktion noch die .Abstraktion'. Das, was Hamilton die .herausarbeitende' (elaborative) oder .diskursive' Fähigkeit genannt hat, die Fähigkeit des .Vergleichs', der .Relation', das Denken (im engeren Sinne des Wortes) — das alles besteht aus den gerade beschriebenen Prozessen des .wissenschaftlichen Denkens'." 22 Bain, der den assoziativen Prozeß der Identifizierung für die Grundlage aller dieser Prozesse hält, versucht, den Prozeß des wissenschaftlichen Denkens mit den von ihm recht ausführlich ausgearbeiteten Assoziationsgesetzmäßigkeiten zu erklären. Wie aber aus seinen oben zitierten Worten heivorgeht, bezeichnet er mit der Gesamtheit der aufgezählten Prozesse das Denken „im engeren 18 19 20 21 22
Ebenda, S. 19. Vgl. Ziehen, Th., Leitfaden der Physiologischen Psychologie, a. a. O. Vgl. Bain, A., Psichologija v 2-ch tomach, Moskau 1902. Ebenda, Bd. 1, S. 324. Ebenda.
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Sinne des Wortes". Dazu rechnet Bain nicht das schöpferische Denken. Wir wollen im folgenden seine Auffassung zu diesem Problem betrachten. Interessant ist, wie Bain die Lösung von Denksportaufgaben erklärt. Einen analogen Standpunkt vertreten auch sowjetische Psychologen wie Rubinstejn und Ponomarev, die sich für diese Erscheinung interessierten, weshalb es von Nutzen ist, Bains Auffassung ausführlicher darzulegen, zumal diese Fragen große Bedeutung für das Verständnis des schöpferischen Prozesses bei Wissenschaftlern besitzen. „Ein gutes Beispiel für den Kampf miteinander unvereinbarer Ideen", so schreibt Bain, „sind jene Anstrengungen, die wir unternehmen, wenn wir Rätsel oder Wortspiele lösen. Die letzteren beruhen gewöhnlich auf der Zweideutigkeit von Wörtern, und wer gewöhnt ist, die Wörter in ihrer eigentlichen und exakten Bedeutung zu benutzen, erweist sich häufig als unfähig zum Spiel mit der Doppeldeutigkeit; nicht, weil er nicht über die dafür nötigen Assoziationen verfügt, sondern deswegen, weil sie gegenüber den anderen, für diese Beschäftigung ungünstigeren, zurücktreten." 2 3 Das ist eine sehr wertvolle Feststellung. Sie zeigt, daß Bain folgende Auffassungen vertritt: 1. Für das schöpferische Denken ist eine radikale Veränderung der Betrachtung des zu untersuchenden Gegenstandes erforderlich (der Kampf gegen die funktionale Fixiertheit, deren Wirkung in der modernen Denkpsychologie anerkannt ist). 2. Die allgemeine bekannte Tatsache, daß junge, noch nicht über enzyklopädische Kenntnisse auf ihrem Gebiet verfügende Wissenschaftler mit Erfolg schöpferisch arbeiten, kann rational erklärt werden. Deshalb muß die oben zitierte Bemerkung Bains als wertvoll und beachtenswert angesehen werden. Bain ist sich der Bedeutung bewußt, die dem Studium der schöpferischen Tätigkeit (er nennt sie „aufbauende") zukommt, und unterscheidet sie vom konsequenten logischen Prozeß der Überlegung, jedoch ist bei ihm zu dieser Frage wenig Interessantes zu finden. Bain charakterisiert die schöpferische Phantasie psychologisch richtig, aber er liefert keine folgerichtige Erklärung für diese Erscheinung: „ . . . Phantasie meint eine gewisse Originalität, Neuheit, Erfindertum und Schöpfertum; sie ist keine einfache Reproduktion von Gewesenem. Sie gehört zu den aufbauenden Tätigkeiten, die über das Gedächtnis und die einfache Reproduktion hinausragen." 24 23 Ebenda, S. 344. 172
24 Ebenda, S. 364.
Was nun die intellektuelle Intuition angeht, so wird sie von Bain ebenso wie von Ziehen ignoriert. Bains Ausgangsvorstellung von der Gegensätzlichkeit des Erfahrungswissens und des intuitiven Wissens, die eine logische Folge des gnoseologischen Dualismus zwischen Seele und Körper ist, hindert ihn zu verstehen, daß die Intuition faktisch eine Folge und Ergänzung der Erfahrung ist. Zu Recht kritisiert Bain jedoch jene Philosophen (insbesondere Kant), die die intuitiven Wahrheiten als angeboren betrachten und sie als notwendig und allgemein den Daten der Erfahrung gegenüberstellen. Bain stellt fest, daß diese Philosophen deshalb zu solchen Schlüssen kommen, weil sie die „Analyse des Geistes" für abgeschlossen halten. Das ist eine zutreffende Bemerkung. Die Psychologie erweitert die Sphäre ihrer Kompetenz immer mehr und erobert neue Forschungsgebiete. Die Intuition ist ein psychisches Phänomen, und sie muß eine wissenschaftliche, rationale Erklärung finden. Eben dies ist die Einstellung der modernen materialistischen Psychologie dazu. Die angeführten Gedanken sind im Grunde alles, was Bain und Ziehen unternehmen, um komplizierte Denkprozesse mindestens annähernd zu erklären. Ihre philosophischen Ansichten25 und die Frage, wie sie andere psychologische Probleme zu lösen versuchen, wollen wir hier nicht behandeln. Ungeachtet einiger Unterschiede im Herangehen an verschiedene Probleme werden die Hauptfragen, ausgehend von ihrem einheitlichen Erklärungsprinzip, den Gesetzen der Ideenassoziation, bei beiden in gleicher Weise gelöst. Wenn man die Interpretation des Denkens (konkreter des Prozesses der Aufgabenlösung) durch die Vertreter der Assoziationspsychologie einschätzt, so kommt man nicht umhin, den kritischen Bemerkungen zuzustimmen, die einer der bedeutendsten Vertreter der Gestaltpsychologie, K. Duncker, zu diesen Fragen formuliert hat. Bei der Erörterung der Ergebnisse, die seine Experimente erbracht haben, kommt Duncker zu folgendem Schluß: „. . . die Lösung eines neuen Problems entsteht typisch in sukzessiven Phasen mit Lösungscharakter nach rückwärts (abgesehen von der ersten) und Problemcharakter nach vorwärts (abgesehen von der letzteren). Die Frage unserer Untersuchung nimmt folgende Form an: wie entsteht aus irgendeiner Problemphase die unmittelbar nächste Lösungsphase?"26 25 Momente der Assoziationspsychologie finden wir bereits in den Werken der Philosophen Hume, Hartley u. a. Das ausführliche und gründliche Studium ihrer philosophischen Konzeptionen würde aber den Rahmen dieser Arbeit sprengen. 26 Duncker, K., Zur Psychologie des produktiven Denkens, Berlin 1935, S. 21.
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Gestützt auf dieses im ganzen richtige Verständnis der Struktur des Denkprozesses kritisiert Duncker die Assoziationspsychologen, weil sie den Denkprozeß „auf Grund bloßer .Assoziation' der in den Phasen auftretenden Inhalte" 27 darstellen. Dabei merkt Duncker zu Recht an: „Die Erklärung durch Assoziation wird auch nicht wahrscheinlicher, wenn hinzugefügt wird, nicht genau dieselben, nur ähnliche Inhalte seien einmal früher miteinander assoziiert worden, und das genüge."28 Duncker versteht sehr gut den Hauptmangel der Assoziationstheorie bei ihrem Versuch, den Vorgang der Aufgabenlösung zu erklären, wenn er feststellt, daß es für die Assoziationspsychologen zwischen den psychischen (und also objektiven) Inhalten keine Beziehungen wie „Ursache von etwas" odei „Lösung von etwas" gibt, sondern nur Beziehungen der räumlichen Nachbarschaft oder Ähnlichkeit. Jede Naturerscheinung und jedes Problem ist aber einer zahllosen Menge von anderen Inhalten benachbart oder ähnlich. Duncker hat recht, wenn er feststellt: „Es müßten also beim Lösem von Denkaufgaben häufig gänzlich sinnlose Fehler entstehen wie zum Beispiel, daß die Vp als Lösung — in gutem Glauben — irgendein bei Gelegenheit einer früheren Problemlösung stattgefundenes Ereignis nennt oder irgendein ähnliches Problem (wohl gemerkt: als Lösung)."29 Aus der Tatsache, daß solche Fehler bei der Aufgabenlösung nicht auftreten, schließt Duncker mit Recht, daß die Assoziationstheorie mindestens in dem Teil, der das produktive Denken betrifft, fehlerhaft ist. Wir werden unsere Untersuchung nicht auf die anderen Vertreter der Assoziationspsychologie ausdehnen. Ihre bedeutendsten Vertreter wie Ebbinghaus, Müller, Tain, Wundt, Spencer, Troizkij und andere haben zur Psychologie des Denkens nichts Bedeutendes beigetragen. Zu den Ansichten von Müller und Ebbinghaus merken wir nur an, daß sie gut begriffen hatten, daß die Assoziationsprinzipien nicht ausreichen, um die Zielgerichtetheit von Denkprozessen zu erklären. Für deren Erklärung versuchten sie, neue Begriffe einzuführen. Bei Müller war das der Begriff der „Perseveration", der die Tendenz der Vorstellungen, im Bewußtsein zu haften, ausdrückte. Die fixen Ideen der Hypochonder sind der extreme, pathologische Ausdruck dieser Erscheinung. Ebbinghaus schrieb dazu: „Geordnetes Denken, kann man sagen, ist ein Mittleres zwischen Ideenflucht und Zwangsvorstellungen."30 27 28 29 30
Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebbinghaus, H., Abriß der Psychologie, Leipzig 1908, S. 121.
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Der Beitrag, den die Assoziationspsychologie zur Erforschung des schöpferischen Denkens geliefert hat, ist also unbedeutend, wobei jedoch zu sagen ist, daß die Auffassungen ihrer Vertreter jenes Fundament waren, auf dem die Psychologen der folgenden Schule die gründliche Erforschung des Denkens begannen. 3. Die Würzburger Schule Die Vertreter des Würzbuiger Psychologischen Instituts begannen zum erstenmal in der Geschichte der Psychologie mit der systematischen Erforschung des eigentlichen menschlichen Denkens. Ein Vertreter dieser Schule ist K. Marbe, der durch seine Arbeit über die Psychologie des Urteils bekannt wurde. 31 Watt — ebenfalls ein Vertreter der Würzburger Schule - versuchte zum erstenmal in der Geschichte der Psychologie die Frage zu klären, welche Bedeutung die der Versuchsperson vorgelegte Aufgabe für den Verlauf der Vorstellungen besitzt. N. Ach, ein anderer Vertreter dieser Richtung, hat ausführlicher die Frage nach den determinierenden Tendenzen behandelt, die von der vorgelegten Aufgabe ausgehen, und sich mit anderen wichtigen Fragen der Denkpsychologie beschäftigt (zum Beispiel dem unanschaulichen Charakter des Denkens). Weiter sind zu nennen: Taylor, der den Prozeß des Verstehens von Wörtern und Sätzen speziell untersuchte, O. Schulze, der die Unbildhaftigkeit des Denkens untersuchte, sowie A. Messer, der umfangreiche experimentelle Untersuchungen vornahm, um die Gesetzmäßigkeiten des Verstehens von Wörtern und Sätzen zu klären (in der Nachfolge Taylors), und den Begriff der Intention einführte. Ein bekannter Vertreter dieser Schule ist auch K. Bühler. Als einer der ersten in dei Geschichte der Psychologie erforschte er den eigentlichen Denkprozeß im Gegensatz zu den Begriffen und Urteilen, die von manchen Psychologen nur als logische Bildungen angesehen wurden, die keinen psychologischen Inhalt besäßen. A. A. Krogius schreibt dazu: „Bühler hat bewußt die spezielle Erforschung der Begriffe einerseits und der Urteile andererseits vermieden, weil der Unterschied zwischen Begriffen und Urteilen nicht von der Psychologie, sondern von der Logik eingefühlt worden war. Er erforschte solche Prozesse, deren Anerkennung als Denken unumstritten ist. Er wählte solche Fälle, in denen sich das Denken auf keinerlei mechanisierte Assoziationen stützt, 31 Marbe, K., Experimentell-psychologische Würzburg 1901.
Untersuchungen über das Urteil,
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Der Beitrag, den die Assoziationspsychologie zur Erforschung des schöpferischen Denkens geliefert hat, ist also unbedeutend, wobei jedoch zu sagen ist, daß die Auffassungen ihrer Vertreter jenes Fundament waren, auf dem die Psychologen der folgenden Schule die gründliche Erforschung des Denkens begannen. 3. Die Würzburger Schule Die Vertreter des Würzbuiger Psychologischen Instituts begannen zum erstenmal in der Geschichte der Psychologie mit der systematischen Erforschung des eigentlichen menschlichen Denkens. Ein Vertreter dieser Schule ist K. Marbe, der durch seine Arbeit über die Psychologie des Urteils bekannt wurde. 31 Watt — ebenfalls ein Vertreter der Würzburger Schule - versuchte zum erstenmal in der Geschichte der Psychologie die Frage zu klären, welche Bedeutung die der Versuchsperson vorgelegte Aufgabe für den Verlauf der Vorstellungen besitzt. N. Ach, ein anderer Vertreter dieser Richtung, hat ausführlicher die Frage nach den determinierenden Tendenzen behandelt, die von der vorgelegten Aufgabe ausgehen, und sich mit anderen wichtigen Fragen der Denkpsychologie beschäftigt (zum Beispiel dem unanschaulichen Charakter des Denkens). Weiter sind zu nennen: Taylor, der den Prozeß des Verstehens von Wörtern und Sätzen speziell untersuchte, O. Schulze, der die Unbildhaftigkeit des Denkens untersuchte, sowie A. Messer, der umfangreiche experimentelle Untersuchungen vornahm, um die Gesetzmäßigkeiten des Verstehens von Wörtern und Sätzen zu klären (in der Nachfolge Taylors), und den Begriff der Intention einführte. Ein bekannter Vertreter dieser Schule ist auch K. Bühler. Als einer der ersten in dei Geschichte der Psychologie erforschte er den eigentlichen Denkprozeß im Gegensatz zu den Begriffen und Urteilen, die von manchen Psychologen nur als logische Bildungen angesehen wurden, die keinen psychologischen Inhalt besäßen. A. A. Krogius schreibt dazu: „Bühler hat bewußt die spezielle Erforschung der Begriffe einerseits und der Urteile andererseits vermieden, weil der Unterschied zwischen Begriffen und Urteilen nicht von der Psychologie, sondern von der Logik eingefühlt worden war. Er erforschte solche Prozesse, deren Anerkennung als Denken unumstritten ist. Er wählte solche Fälle, in denen sich das Denken auf keinerlei mechanisierte Assoziationen stützt, 31 Marbe, K., Experimentell-psychologische Würzburg 1901.
Untersuchungen über das Urteil,
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sondern eindeutig in seiner Eigenart auftritt." 32 Auf diese Weise erforschte Bühler die Unbildhaftigkeit (Unanschaulichkeit) des Denkens. A. Grünbaum untersuchte die Beziehungen im Denkprozeß, und A. Brunswik, der zur Würzburger Schule gestoßen war, erforschte das Problem des Vergleichs in allgemeiner Sicht. Die Würzburger Psychologen warfen viele wichtige Probleme auf, die von der Assoziationspsychologie nicht hatten gestellt werden können. Die Vertreter der Assoziationspsychologie (besonders Wundt) polemisierten scharf gegen die Würzburger. Gehen wir kurz auf die hauptsächlichen Aussagen dieser Richtung ein und klären wir, wie in dieser Schule das Problem der intellektuellen Intuition oder das, was dieser Erscheinung annähernd entspricht, interpretiert wird. Eine der Hauptthesen, die von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung der Denkpsychologie waren, war die von der Würzburger psychologischen Schule eingeführte These über die Rolle der Aufgabe im Denken und die determinierenden Tendenzen, die von der zu lösenden Aufgabe ausgehen. Watt, ein bekannter Psychologe der Würzburger Schule, zeigte experimentell, daß die Aufgabe den Verlauf der Vorstellungen selbst dann beeinflußt, wenn sie von der Versuchsperson nicht begriffen worden ist. Das ist eine sehr wichtige These. Jedoch wurde die Frage nach •dem unterbewußten Einfluß der Aufgabe auf den Verlauf des Denkprozesses von der Würzburger Schule keiner detaillierten Erforschung unterzogen. Auch ihnen fiel es schwer, sich vom traditionellen Intellektualismus zu befreien. N. Ach entwickelte die Gedanken Watts weiter.33 Es wies darauf hin, daß für den Vorstellungsverlauf manchmal die determinierende Tendenz, die von der Aufgabe, den Absichten usw. ausgeht, wichtiger ist als die äußeren Reize und die assoziativen Verbindungen. Die von der Aufgabe ausgehenden determinierenden Tendenzen schaffen zwischen den Vorstellungen neue Assoziationen, die in ihrer Festigkeit die mechanischen Nachbarschaftsassoziationen bei weitem übertreffen. Ausgehend von den determinierenden Tendenzen der Aufgabe wollte Ach auch die Unanschaulichkeit des Denkens als das Streben oder die Möglichkeit der unbewußten Vorstellungen, bewußt zu werden und voll entfaltet zu verlaufen, erklären. Diese Auffassung Achs wird zum Beispiel von A. A. Krogius kritisiert, der, auf Schopenhauer gestützt, be3 2 Krogius, A. A., Vjurcburgskaja Skola eksperimental'nogo issledovanija mySlenija i ee znaienie, i n : Novye idei v filosofii, B d . 1 6 {Psichologija
myUenija), Sankt Petersburg 1914, S. 96.
3 3 Ach, N., Über die Willenstätigkeit und das Denken, Göttingen 1 9 0 5 .
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hauptet, daß bei einer solchen Deutung unser Denken stets unbefriedigt sei, da „einzelne Vorstellungen niemals das Volumen eines Gesamtbegriffs ausschöpfen können, der zu einem Gedanken gehört. Und je allgemeiner der Begriff ist, desto angestrengter wäre dieses Bestreben, weil es weniger befriedigt wäre."34 Gegen diesen Standpunkt von Krogius kann eingewendet werden, daß es zur Befriedigung des Denkens nicht notwendig ist, daß alle Glieder des Prozesses bewußt sind. Mit welcher Begründung kann behauptet werden, daß nur bewußte psychische Prozesse Befriedigung geben? Das ist ein subjektiver Standpunkt, und er entspricht nicht der Wirklichkeit. Interessant ist, daß man die Mechanismen, die Freud mit Hilfe des Assoziationsexperiments beweisen wollte, ebenfalls im Sinne des Vorhandenseins bestimmter Aufgaben deuten kann, und zwar gerade jener unbewußten Einstellungen und Triebforderungen, die in irgendeiner Form befriedigt werden. Grundlage für die Feststellung, daß es eine gewisse Gemeinsamkeit zwischen den Standpunkten der Würzburger Schule und denen Freuds gibt, ist die Überzeugung, daß es für die Psyche des Menschen im Grunde bedeutungslos ist, in welcher Sphäre die „seelischen Anstöße" erfolgen, die zur Wiederherstellung des psychischen Gleichgewichts dienen, das durch einen unbebewußten Trieb oder eine bewußt gestellte Aufgabe gestört ist. Diese Feststellungen besitzen unserer Meinung nach große Bedeutung für das Verständnis sowohl der Psychoanalyse als auch der Denkpsychologie. O. Külpe geht recht ausführlich auf die Determination des Denkprozesses durch die Aufgabe ein und folgt darin N. Ach. „Das Denken des Theoretikers ist ebensowenig ziellos wie das des Praktikers."35 Er stellt fest, daß auf die Versuchsperson eine Vielzahl von Reizen wirkt, beim Vorliegen einer Aufgabe aber die Versuchsperson eine bestimmte Auswahl daraus trifft. Eine solche Bevorzugung der einen und die Ignorierung der anderen Reize weisen darauf hin, daß von der Aufgabe determinierende Tendenzen ausgehen. Külpe kritisiert die Assoziationspsychologie, die diesen wichtigen Umstand völlig außer acht gelassen hatte, und schreibt: „Aufgaben werden nicht den Empfindungen, Gefühlen und Vorstellungen gestellt, sondern einem Subjekt, dessen geistiges Wesen in diesen Inhalten nicht aufgeht, dessen Spontaneität allein Instruktionen sich anzueignen und durchzuführen vermag."36 34 Krogius, A. A., Vjurcburgskaja Skola . . ., a. a. O., S. 88. 35 Külpe, O., Über die moderne Psychologie des Denkens, in: Vorlesungen über Psychologie (Anhang), Leipzig 1922, S. 314f. 36 Ebenda, S. 315. 12 Nalöadfjan
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Es wird also richtig festgestellt, daß nicht die Aufgabe automatisch den Fluß der Vorstellungen auslöst, sondern (durch das Subjekt teils bewußt, teils, unterbewußt) eine bestimmte Auswahl getroffen wird. In der modernen Psychologie verbreitet sich mehr und mehr die Auffassung, daß der Denkprozeß in den meisten Fällen auf die Lösung einer Aufgabe gerichtet ist. Daraus folgt, daß die Rolle der von der Aufgabe ausgehenden determinierenden Tendenzen fundamentale Bedeutung für die gesamte Psychologie gewinnt. Bei der Entwicklung dieses Problems hat sich die Würzburger Schule sehr verdient gemacht. Die Würzburger Schule stellt zu Recht fest, daß die Kraft der determinierenden Tendenzen der Aufgabe im allgemeinen größer als die Kraft der natürlichen assoziativen Verbindungen zwischen den Vorstellungen ist. An dieser Stelle ist jedoch auf eine falsche Behauptung der Würzburger Schule hinzuweisen. O. Külpe behauptete zum Beispiel, daß die Aufgabe „der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht" sei.37 Diese Behauptung ist unserer Ansicht nach die Folge zweier fehlerhafter Annahmen: erstens, daß es keinen Unterschied zwischen der Problemsituation und der Aufgabe gebe (dieses Problem ist in der Würzburger Schule überhaupt nicht gestellt worden), und zweitens, daß die Aufgabe, die einmal den Anstoß zum Beginn des Denkprozesses gegeben hat, dann nicht mehr am Prozeß der etappenweisen Determinierung des Lösungsverlaufs teilnimmt. Die dialektisch-materialistische Auffassung von der Rolle der Aufgabe bei der Determination des Denkens ist in den Forschungen von S. L. Rubinstejn, K.A. Slavskaja, A. V. Bru§linskij und A. M. Matjuskin herausgearbeitet worden. Der Unterschied zwischen Problemsituation und Aufgabe hingegen muß noch endgültig geklärt werden. Die Würzburger Schule hat richtig festgestellt, daß ein objektives Merkmal für die Realität der determinierenden Tendenzen die Tatsache ist, daß Denkprozesse beim Vorliegen von Aufgaben schneller ablaufen, als wenn keine Aufgabe vorliegt. Zwar wird die endgültige Beantwortung dieser Frage durch zahlreiche Faktoren individuellen und anderen Charakters erschwert, aber einige Messungen der Würzburger Schule weisen sehr bestimmt auf die Richtigkeit dieser Vermutung. Diese Frage erfordert weitere, vertiefte Untersuchungen. Wie schon festgestellt worden ist, lag ein Grund dafür, daß die Vertreter der Würzburger Schule das Problem der Determination des Denkprozesses nicht lösen konnten, darin, daß sie die Aufgabe als ungegliedert einheitlich betrachteten. Die Determination muß bestimmt 37 Ebenda, S. 316. 178
werden, indem man ausgeht von der Wechselbeziehung „zwischen Gegebenem und Gesuchtem, zwischen Bedingungen und Forderangen . . ., d. h. im Hinblick auf die verschiedenen Komponenten der Aufgabe selbst" 38 . Rubinstejns frühere Behauptung: „Der mechanistischen Auffassung des Denkens setzte die Würzburger Schule jedoch die offen teleologische Konzeption der determinierenden Tendenzen (Ach) entgegen" 39, kann jedoch bei einem positiven Herangehen kaum als richtig gelten. Es war ein Verdienst der Würzburger Psychologen, daß sie den Unterschied zwischen dem begrifflichen Denken und dem einfachen Verlauf assoziierter Vorstellungen betonten. Der sensualistische Standpunkt, von dem die Vertreter der Assoziationspsychologie ausgingen, hatte bekanntlich dazu geführt, daß die prinzipiellen Unterschiede zwischen den Prozessen der sinnlichen Erkenntnis und dem theoretischen Denken verwischt wurden. Nachdem sie die These vom unbildhaften Denken aufgestellt hatten, gaben ihr die Würzburger Psychologen größere Bedeutung, als sie in Wirklichkeit besitzt. Sie trennten damit das Denken von der sinnlichen Erfahrung. Diese Trennung führte notwendig zu einer idealistischen Auffassung des gesamten Erkenntnisprozesses. Jedoch ist die These vom nicht sinnlichen Charakter des Denkens, wenn sie nicht verabsolutiert wiid, bedeutungsvoll für die Psychologie des Denkens. Es lohnt sich darum, kurz zu betrachten, wie sie von den Psychologen der Würzburger Schule verstanden wurde. Bekanntlich hatte schon Plato eine vollständige Trennung zwischen den Empfindungen und dem Denken vorgenommen. In der wissenschaftlichen Psychologie wurden die Gedanken Piatos jedoch nicht berücksichtigt. Die Assoziationspsychologie hielt es zum Beispiel für unmöglich, daß das Denken ohne anschauliche Bilder existieren könne, daß „ein Wort verstanden werden konnte, ohne Vorstellungen auszulösen . . ," 4 0 In dieser Hinsicht folgte die Assoziationspsychologie der aristotelischen Tradition. Bereits die ersten Versuche der Würzburger Schule zeigten, daß das Denken keineswegs auf einen simplen Fluß von Vorstellungen reduziert werden kann. Den letzteren wurde eine untergeordnete Rolle zugemessen. Die Versuchspersonen in den Experimenten der Würzburger Schule waren selbst erfahrene Psychologen und bemühten sich, die 38 Rubinstein, S. L., Das Denken und die Wege seiner S. 20. 39 Rubinstein, S. L., Grundlagen der allgemeinen ob5tej psichologii [dt.]), Berlin 1958, S. 435. 40 Külpe, O., a. a. O., S. 302. 12*
Erforschung,
a. a. O.,
Psychologie
(Osnovy
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Ergebnisse ihrer Selbstbeobachtungen unverzerrt wiederzugeben. Es zeigte sich, daß es für das Verständnis eines Satzes (der häufig konzentriertes'Denken erforderte, um verstanden zu werden) nur einer bruchstückhaften inneren Rede und einer unbedeutenden Anzahl anschaulicher Bilder bedarf. Interessant dabei ist, daß einige dieser Bilder in keinerlei Beziehung zum Inhalt des betreffenden Satzes standen und das Verstehen mehr störten als förderten. Außerdem wurde festgestellt, daß das Streben der Versuchsperson, im Denkprozeß anschauliche Bilder zu schaffen, den Denkprozeß mühselig und langsam werden läßt und keineswegs dabei hilft, den Sinn eines Satzes wirklich zu verstehen. Die Würzburger Schule hat also experimentell die erstaunliche und für das Verständnis der menschlichen Psyche ungemein wichtige Tatsache bewiesen, daß Gedanken an sich verstanden werden können. Und obgleich dieser Umstand von jedem denkenden Individuum überprüft werden kann, hat die wissenschaftliche Psychologie erst vor kurzer Zeit mit der Erforschung dieses Problems begonnen. Beim Lesen von Büchern versucht niemand (von pathologischen Fällen einer extremen Eidetik abgesehen), alles Gelesene in Vorstellungen umzusetzen, da das ein unökonomisches Verfahren wäre. Die Natur hat dafür gesorgt, daß wir Gedanken relativ unabhängig von sinnlichen Bildern verstehen können. Die Würzburger Schule trennt jedoch im Geiste Piatos und Husserls das anschauliche Denken völlig vom abstrakten, theoretischen Denken, indem sie die These vom reinen Denken aufstellte. Der Kern des Problems hegt darin, daß es keinen Denkprozeß gibt, der völlig ohne sinnliche Elemente jener Gegenstände und Erscheinungen verlaufen würde, die seinen Inhalt bilden. Was die Genesis der Begriffe angeht, mit denen das theoretische Denken operiert, so sind sie undenkbar ohne die Verbindung mit den Empfindungen und Vorstellungen, auf deren Grundlage sie gebildet worden sind. Dasselbe trifft auch auf die Struktur der Gedanken zu. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die logische Struktur der Gedanken in idealer Weise wiederholt, was in der Realität vorgekommen ist. Die Würzburger Psychologen, die Idealisten waren, berücksichtigten nicht, daß die subjektive Dialektik eine (mehr oder weniger adäquate) Widerspiegelung der objektiven Dialektik ist. Lenin sagt in diesem Zusammenhang: „Die Praxis des Menschen, milliardenmal wiederholt, prägt sich dem Bewußtsein des Menschen als Figuren der Logik ein. Diese Figuren haben die Festigkeit eines Vorurteils, ihren axiomatischen Charakter gerade (und nur) kraft dieser 180
milliardenfachen Wiederholung."41 Diesen wichtigen Umstand haben die Würzburger Psychologen nicht berücksichtigt. Anschauliches Denken und unanschauliches Denken sind nur relative Begriffe. Die Grenzen ihrer relativen Unabhängigkeit und ihre Rolle bei der Erkenntnis gründlich zu erforschen, das ist eine der wichtigsten Aufgaben der modernen Denkpsychologie. Das Obengesagte trifft auf die frühen Arbeiten der Würzburger Schule zu. Im weiteren zeigte sich bei einigen von ihnen Verständnis für die Rolle, die anschauliche Elemente im abstrakten Denken spielen. „Während der Zeit ihres Bestehens machte die Würzburger Schule eine bedeutsame Entwicklung durch. Man begann mit der These vom unanschaulichen Charakter des Denkens (Külpe, Watt, Bühler in seinen frühen Arbeiten). Die Vertreter dieser Schule (Bühler in seinen späteren Arbeiten, Selz) stellten dann die Rolle der anschaulichen Komponenten im Denkprozeß dar und betonten sie besonders. Aber die Anschaulichkeit wurde dabei völlig intellektualisiert. Die anschaulichen Vorstellungen wurden zu bloßen plastischen Denkmitteln, ohne selbständige sinnliche Grundlage; so wurde das Prinzip'der Intellektualisierung in einer neuen Form durchgeführt."42 Die Würzburger Schule führte keine speziellen Forschungen zur Intuition durch. Allerdings finden sich gewisse Keime einer eigenständigen Auffassung dieser Erscheinung unseres Erachtens schon in dem von Messer und Bühler eingeführten Begriff der „Intention" (der auf Husserl und Brentano zurückgeht). Dieser Begriff wurde eingeführt, um die Unterschiede beim Verstehen von Begriffen gegenüber dem Verstehen von sinnlichen Bildern, von Vorstellungen, zu erklären. „Das Erlebnis eines Begriffes ist eine Intention, die auf einen idealen Gegenstand gerichtet ist." 43 Damit wollte die Würzburger Schule den spezifischen Charakter des Verstehens von unanschaulichen Gedankenkonstruktionen erklären. Der Begriff der Intention wird aber selbst bei Bühler nicht einheitlich verstanden. A. A. Krogius schreibt dazu: „Einerseits sind die Intentionen bei ihm (bei Bühler - A. N.) nur ein Typ des Denkens, und zwar ein solcher, bei dem die Hauptaufmerksamkeit nicht auf den Gegenstand, sondern auf den Inhalt des Denkens gerichtet ist. Im weiteren wird eine noch spezifischere Definition formuliert - Intentionen sind komplizierte Erinnerungen. Und danach ergibt sich, daß die Intention 41 Lenin, V. I., Konspekt zur „Wissenschaft der Logik". Die Lehre vom Begriff, in: Werke, Bd. 38, Berlin 1964, S. 208. 42 Rubinstein, S. L., Grundlagen der allgemeinen Psychologie, a. a. O., S. 436. 43 Krogius, A. A., Vjurcburgskaja Skola . . . , a. a. O., S. 94.
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die Gerichtetheit auf einen beliebigen Gegenstand ist (und nicht nur auf Gegenstände, die Inhalt unserer früheren Erlebnisse gewesen sind), und es wird behauptet, daß man in jedem Gedanken sowohl Inhalt als auch Intention nachweisen könne."44 Meistens wurde die Intention von den Vertretern der Würzburger Schule im ersteren Sinne verstanden (als auf den Bewußtseinsinhalt gerichtetes Denken). Gerade in diesem Sinne kommt sie dem am nächsten, was wir unter Intuition verstehen. Daß dem so ist, zeigt der folgende Ausschnitt aus einem Artikel von Krogius. Dazu sei im voraus gesagt, daß nach Meinung der Würzburger Schule der Inhalt des Gedankens als Determinante des Inhalts in Erscheinung tritt. Krogius schreibt: „Diese Determinanten des Inhalts stellen sich gewissermaßen als absolut ausgebildet und gleichzeitig .kein Substrat besitzend' dar, als in ihrer ganzen Tiefe und Kompliziertheit frei vor dem geistigen Blick schwebend. Es können sich vor uns unendlich weite Gebiete des Wissens entfalten, auf die, eben wegen dieser grenzenlosen Weite des geistigen Erfassens, keinerlei Definitionen des „Bewußtseinsumfangs" angewendet werden können. Wir können gedanklich mit einem Blick die kompliziertesten wissenschaftlichen und philosophischen Systeme überschauen, können gedanklich in den tiefsten Kern der künstlerischen, ethischen oder religiösen Weltauffassung eindringen. Das ist nicht die einfache Fähigkeit, diese oder jene Inhalte zu reproduzieren. Wir durchleben völlig verschiedene Zustände, wenn wir einerseits erkennen, daß wir zum Beispiel in der Lage sind, die Philosophie Piatos zu reproduzieren, und wenn wir andererseits sie tatsächlich vor unserem geistigen Auge reproduzieren, wenn wir sie in einem bestimmten Augenblick begreifen, uns in sie versenken und, ,die Bergluft freudig atmend', uns von Höhenluft umweht fühlen."45 (Hervorhebung — A. N.) In diesem charakteristischen Ausschnitt wird nichts anderes beschrieben als der Prozeß des intuitiven Erfassens des Inhalts. Natürlich darf uns das Wort „Intention" nicht den wichtigen Umstand vergessen lassen, daß die Spezifik des abstrakten Denkens einen speziellen Mechanismus für die Erfassung seines Inhalts geschaffen hat — die intellektuelle Intuition (die sich nicht nur von der Logik, sondern auch von der sinnlichen Intuition unterscheidet). Darin liegt unserer Ansicht nach das Wesen des Begriffes „Intention". Die übrige Metaphysik, die in den Werken der Würzburger Psychologen mit diesem Begriff verbunden ist, ist für die Denkpsychologie wertlos. Es wird also deutlich, daß die Würzburger Schule den Prozeß der „Erleuchtung" des 44 Ebenda, S. 98.
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45 Ebenda, S. 99.
Verstandes als einen intuitiven Prozeß des Begreifens verstanden hat, ohne diese ihre Auffassung jedoch klar zu formulieren. Von einem Erfassen der psychologischen Mechanismen dieser Erscheinung durch die Würzburger Schule kann jedoch nicht die Rede sein. Der Beweis dafür ist das Bestreben, den Begriff „Intention" metaphysisch zu deuten. Ein gewisser Fortschritt der Würzburger Schule in bezug auf die intuitive Erkenntnis war lediglich die Tatsache, daß die Bedeutung der unterbewußten Elemente des Denkens nicht geleugnet wurde. „Wenn die aktuelle Bedeutung etwas kompliziert zusammengesetzt ist", schrieb Krogius, „dann ist darin außer der sichtbaren immer auch noch eine verborgene Bedeutung enthalten." 46 Daraus zieht Krogius folgenden falschen Schluß: „Je höher die Gedanken sind, desto stärker erscheinen sie von der Materie, von der Erde losgelöst." 47 Die Tatsache aber, daß die Rolle der unterbewußten Elemente des Denkens anerkannt wurde, war von großer Bedeutung für die weitere Vertiefung der Erkenntnisse über die der intellektuelle Intuition. Im Lichte der obigen Ausführungen erscheint uns der Standpunkt, den Rubinstejn zur Bedeutung des Begriffes „Intention" einnimmt, etwas einseitig. Die Kritik an den philosophischen Auffassungen der Würzburger Schule, die absolut richtig und notwendig ist, hat ihm den Blick verstellt für die positive Bedeutung dieses Versuchs, komplizierte Denkprozesse zu verstehen. Ein aufmerksames Studium der Werke der Würzburger Psychologen zeigt, daß jener psychische Prozeß, den sie mit dem Terminus „Intention" bezeichnen, keineswegs „unbewußte Aktivität" ist. Das ist schon deshalb nicht der Fall, weil die Existenz der allgemeinen logischen Struktur der Kenntnisse in relativer Unabhängigkeit vom konkreten, gegenständlichen Inhalt in der Psyche völlig real ist. Hier gibt es natürlich noch viel Unklares; es lohnt aber, den Versuch zur Klärung zu unternehmen, anstatt a priori den Nutzen und die Notwendigkeit einer solchen Arbeit zu bestreiten. Die introspektive Psychologie der Würzburger Schule hat also einige unzulängliche, unvollständige, aber nichtsdestoweniger sehr nützliche Beiträge zur Denkpsychologie geliefert. Auf die philosophische Problematik, die in diesem Falle für ein richtiges Verständnis der Auffassungen der Würzburger Schule sehr wichtig ist, können wir hier nicht näher eingehen. Die Kritik am Introspektionismus, die sich in den Arbeiten der sowjetischen Psychologen findet, trifft in vollem Umfang auch auf diese psychologische Schule zu. Recht ausführlich wird diese 46 Ebenda, S. 107. 47 Ebenda. 183
Kritik in dem Sammelband Osnovnye napravlenija issledovanij psichologii mySlenija v kapitalisticeskich stranach48 und in einigen anderen Büchern dargestellt, in denen auch die philosophischen Ansichten von Vertretern weiterer psychologischer Richtungen behandelt werden. 4. Die Gestaltpsychologie Die Entstehung der Gestaltpsychologie kann gewissermaßen als eine Reaktion auf die übertriebene Forderung der Assoziationspsychologie, allein mit Hilfe der Assoziationsgesetze ausnahmslos alle psychischen Erscheinungen und Prozesse zu erklären, angesehen werden. Andererseits waren die Gestaltpsychologen von der Unzulänglichkeit der Methoden überzeugt, deren sich die Würzburger Schule bediente. Sie hielten es für wichtig, zum Erfassen der Wissenschaftsentwicklung und des wissenschaftlichen Denkens die Daten der Wissenschaftsgeschichte zu studieren. Bei der Kritik an der Assoziationspsychologie verfielen die Vertreter der Gestaltpsychologie jedoch einem analogen Fehler: nachdem sie das außerordentlich fruchtbare Prinzip der Ganzheit aufgestellt hatten, versuchten sie, mit seiner Hilfe die ganze Vielfalt der psychischen Erscheinungen zu erklären, und verwandelten dieses Prinzip später, so seltsam dies auch erscheinen mag, in eine Methode zur Erklärung jeder beliebigen Naturerscheinung. Aus diesen und anderen Gründen begannen die Psychologen bereits in den 30er Jahren unseres Jahrhunderts unter dem Einfluß der physiologischen Theorie J. P. Pavlovs zur Assoziationstheorie zurückzukehren. Die Lehre I. P. Pavlovs bildete nach der Auffassung einiger Psychologen eine überaus ernsthafte Unterstützung der Prinzipien der Assoziationspsychologie, und Pavlov selbst hat die Assoziationspsychologie wiederholt konsequent verteidigt. Die weitere Entwicklung der Psychologie zeigte, daß die konkreten Ergebnisse dieser Richtungen, also der Assoziationspsychologie und der Gestaltpsychologie, ungeachtet ihrer Mängel, die auf dem Versuch der Vertreter beider Richtungen beruhen, alles jeweils mit einem einzigen Prinzip zu erklären, miteinander vereinbar sind. Die Gestalttheorie und die Assoziationstheorie widersprechen einander im Grunde nicht, denn das Prinzip der Systemhaftigkeit und das 48 Vgl. Osnovnye napravlenija issledovanij psichologii mySlenija. v kapitalistileskich stranach, Moskau 1966.
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Kritik in dem Sammelband Osnovnye napravlenija issledovanij psichologii mySlenija v kapitalisticeskich stranach48 und in einigen anderen Büchern dargestellt, in denen auch die philosophischen Ansichten von Vertretern weiterer psychologischer Richtungen behandelt werden. 4. Die Gestaltpsychologie Die Entstehung der Gestaltpsychologie kann gewissermaßen als eine Reaktion auf die übertriebene Forderung der Assoziationspsychologie, allein mit Hilfe der Assoziationsgesetze ausnahmslos alle psychischen Erscheinungen und Prozesse zu erklären, angesehen werden. Andererseits waren die Gestaltpsychologen von der Unzulänglichkeit der Methoden überzeugt, deren sich die Würzburger Schule bediente. Sie hielten es für wichtig, zum Erfassen der Wissenschaftsentwicklung und des wissenschaftlichen Denkens die Daten der Wissenschaftsgeschichte zu studieren. Bei der Kritik an der Assoziationspsychologie verfielen die Vertreter der Gestaltpsychologie jedoch einem analogen Fehler: nachdem sie das außerordentlich fruchtbare Prinzip der Ganzheit aufgestellt hatten, versuchten sie, mit seiner Hilfe die ganze Vielfalt der psychischen Erscheinungen zu erklären, und verwandelten dieses Prinzip später, so seltsam dies auch erscheinen mag, in eine Methode zur Erklärung jeder beliebigen Naturerscheinung. Aus diesen und anderen Gründen begannen die Psychologen bereits in den 30er Jahren unseres Jahrhunderts unter dem Einfluß der physiologischen Theorie J. P. Pavlovs zur Assoziationstheorie zurückzukehren. Die Lehre I. P. Pavlovs bildete nach der Auffassung einiger Psychologen eine überaus ernsthafte Unterstützung der Prinzipien der Assoziationspsychologie, und Pavlov selbst hat die Assoziationspsychologie wiederholt konsequent verteidigt. Die weitere Entwicklung der Psychologie zeigte, daß die konkreten Ergebnisse dieser Richtungen, also der Assoziationspsychologie und der Gestaltpsychologie, ungeachtet ihrer Mängel, die auf dem Versuch der Vertreter beider Richtungen beruhen, alles jeweils mit einem einzigen Prinzip zu erklären, miteinander vereinbar sind. Die Gestalttheorie und die Assoziationstheorie widersprechen einander im Grunde nicht, denn das Prinzip der Systemhaftigkeit und das 48 Vgl. Osnovnye napravlenija issledovanij psichologii mySlenija. v kapitalistileskich stranach, Moskau 1966.
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Assoziationsprinzip schließen einander keineswegs aus. Im Gegenteil, sie bedingen sich gegenseitig, das eine ist ohne das andere nicht möglich, weshalb heute namhafte Psychologen für eine schöpferische Synthese der Hauptthesen beider Richtungen zu einem einheitlichen System eintreten; ein solches System könnte der Ausgangspunkt dafür sein, sehr schnell eine einheitliche psychologische Theorie aufzubauen. Besondere Erwähnung verdienen in diesem Zusammenhang die Ansichten des bekannten polnischen Gelehrten Dembovskij49, dessen Behauptung, daß die prinzipielle Möglichkeit bestünde, auf der Grundlage der Ergebnisse sowohl der Gestalttheorie als auch der Assoziationstheorie, die sich auf die Pavlovsche Reflex-Theorie stützt, eine psychologische Theorie zu schaffen, als vielversprechend angesehen werden kann. Besondere Bedeutung besitzt dabei der Begriff des „dynamischen Stereotyps" aus der Lehre Pavlovs50. Vorläufig bedeutet dies jedoch nur die Konstatierung bestimmter Möglichkeiten zur Entwicklung der psychologischen Theorie, aber noch nicht ihre Realisierung selbst. Bei der Erörterung der Psychologie des schöpferischen Denkens lassen wir diese Fragen deshalb außer acht und gehen nur kurz auf das Neue ein, das die Vertreter der Gestaltpsychologie zu diesem Problemkreis beigetragen haben. Die Erfolge der Gestaltpsychologie auf diesem Gebiet bestehen darin, daß das Ganzheitsprinzip im Denkprozeß am ausgeprägtesten hervortritt und große Bedeutung besitzt. Der schöpferische Prozeß ist, wie bereits früher festgestellt wurde, die Synthese eines ganzheitlichen Bildes von einem bestimmten Teil der materiellen oder geistigen Welt. Um den Beitrag, den die Gestaltpsychologie zur Psychologie des schöpferischen Denkens geleistet hat, zu erläutern, soll es hier genügen, die Auffassungen M. Wertheimers, eines der hervorragendsten Vertreter dieser Richtung, ausführlich zu behandeln. In seinen Arbeiten hat die Denktheorie der Gestaltpsychologen ihren klarsten Ausdruck gefunden. Wir werden dabei im wesentlichen auf die Gedanken eingehen, die für das Verstehen der „Einsicht" die größte Bedeutung besitzen. Die Gestaltpsychologen bezeichnen diese Erscheinung durchgehend mit dem Terminus „insight". Wertheimer51 beginnt die Erforschung des schöpferischen Denkens damit, daß er den Prozeß der Flächenbestimmung eines Parallelo49 Vgl. Dembowski, J., Psichologija zivotnych, Moskau 1959. 50 Vgl. Ananjew, B. G., Psychologie der sinnlichen Erkenntnis (Psichologija iuvstvennogo poznanija [dt.]), Berlin 1963, S. 71. 51 Wertheimer, M., Produktives Denken (Productive Thinking [dt.]), Frankfurt am Main 1957.
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gramms (in verschiedenen Varianten) untersucht. Er gelangt zu der Folgerung, daß die Ursache für die Unfähigkeit vieler Menschen, diese Aufgabe unter veränderten Bedingungen zu lösen, zum Beispiel wenn die Zeichnung um 90° gedreht worden war nicht die Unfähigkeit zur Generalisierung ist, sondern etwas anderes, was sprachlich nur schwer ausgedrückt werden könne. Die Behauptung, daß bei der Lösung solcher Aufgaben das Individuum das Wesen der Frage erfasse, während in den erfolglosen Fällen dieses Wesen nicht erfaßt werde, vertusche nur das eigentliche Problem. Das Problem liege darin, was und wie es erfaßt werde, das heißt, was das Wesen der Frage sei. Übrigens merkt Wertheimer richtig an, daß es im Unterricht weitaus wichtiger ist, bei den Schülern die Fähigkeit zu entwickeln, die Bedeutung und das Wesen der Erscheinungen zu erfassen und zu verstehen, als richtige Regeln und überprüfte Kenntnisse im Gedächtnis zu speichern. Zu diesem Zweck könne man sogar die Aneignung überprüfter Kenntnisse zugunsten der Entwicklung von schöpferischen Fähigkeiten zurückstellen. Gewöhnlich, so fährt Wertheimer fort, begnügen sich diejenigen, die den Prozeß der Aufgabenlösung studieren, mit der Erfüllung folgender Bedingungen: 1. eine richtige Lösung des Problems ist erreicht worden; 2. das Ergebnis ist durch logisch korrekte Operationen gewonnen worden; 3. das Ergebnis hat sich als allgemein korrekt erwiesen. Es läßt sich jedoch leicht zeigen, daß — selbst wenn diese drei Bedingungen erfüllt sind - der so dargestellte Prozeß mit dem realen, sinnlichen Prozeß der Aufgabenlösung wenig gemein hat. Was bedeutet das? Das heißt, führt Wertheimer aus, daß in solchen Fällen die Realität des Denkprozesses nicht empfunden wird. Konkret gesprochen: 1. jeder logische Schritt wird blind, ohne Gefühl für die Gerichtetheit des Gesamtprozesses getan; 2. bei der Gewinnung der Lösung gibt es nicht die Erscheinung des Insight, das bedeutet fehlendes Verständnis. Diese Thesen werden durch das Beispiel der Berechnung der Summe einer geometrischen Reihe illustriert. Die Berechnung besteht aus folgenden Schritten: 1. S = 1 + a + «2 + «3
a4
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4
...
2. aS = a + a2 + a + a + a5 • • • 3
3. S - aS = 1; 1 4. S = 1 - a Hier ist alles korrekt, es fehlt jedoch die Antwort auf die für den Psychologen wichtigste Frage: Warum werden diese logisch richtigen Schritte getan? Im Ergebnis ist nach einer solchen „Lösung" unser Wissen von den Eigenschaften der Reihen um kein Deut größer geworden. Für einen echten Mathematiker bleibt eine solche Aufgabenlösung unbefriedigend. Der berühmte Mathematiker Brouwer nannte deshalb solche Lösungen „Rückenmarksdenken". 52 Auf eine wichtige Besonderheit des gestaltpsychologischen Herangehens an den Denkprozeß ist noch zu verweisen. Wertheimer (wie auch Duncker) bemüht sich, die Eigenschaften des Denkens dadurch zu erkennen, daß er die Aufmerksamkeit auf das Wesen der vom Individuum studierten Erscheinungen konzentriert, wodurch die Erforschung des Denkens einen objektiveren Charakter als in der Würzburger Schule annimmt. Fruchtbare Untersuchungen des schöpferischen Prozesses auf den von der Gestaltpsychologie gewiesenen Wegen sind daher nur bei hoher Kompetenz der Psychologen in den entsprechenden Wissenschaftsbereichen, in denen der Prozeß des Schöpfertums untersucht wird, möglich. Wertheimer untersucht Fälle der bewußten Lösung von Aufgaben und behauptet, daß das Verständnis für die Funktion jedes Schrittes und das Gefühl für die Gerichtetheit des Gesamtprozesses ihren Grund darin haben, daß alle (strukturellen) Umwandlungen ausgehend von der allgemeinen Problemstruktur erfolgen. Die ganzheitliche Problemstruktur lenkt gewissermaßen spontan den Denkprozeß in eine bestimmte Bahn. Diese Behauptung trifft auch deshalb zu, weil die Fakten und ihre Beziehungen, die zusammen die Problemstruktur bilden, den Intellekt des Individuums in einen bestimmten Rahmen stellen; und dies führt dazu, daß das Individuum im Lösungsprozeß nur mit solchen Fakten operiert, die in der einen oder anderen Weise zum Problem gehören. Hier ist jedoch die Frage zu stellen, welche Rolle dabei die Aktualisierung früherer Kenntnisse spielt. Wertheimer, der die strukturellen Veränderungen der Situation für das Wichtigste hält, unterschätzt nicht die Bedeutung der früheren Erfahrung. „Es gibt immer noch Psychologen", schreibt er, „die in einem grundlegenden Mißverständnis glauben, die Gestalttheorie sei geneigt, die Rolle der früheren Erfah52 Ebenda, S. 45. 187
rang zu unterschätzen."53 Er weist diese Beschuldigung zurück und erklärt, die Gestaltpsychologie mühe sich, zwischen ungeordneten Anhäufungen von Elementen einerseits und die Gestalten und Strukturen andererseits zu unterscheiden. Man könne den Prozeß der Nutzung früherer Kenntnisse jedoch nur vom Standpunkt der strukturellen Ganzheit verstehen. „Frühere Erfahrung", schreibt Wertheimer, „muß aufs gründlichste in Betracht gezogen werden, aber sie ist in sich selbst zweideutig; solange sie in stückhafter, blinder Weise aufgefaßt wird, ist sie nicljt der Zauberschlüssel, der alle Probleme löst." 54 Hier stellt Wertheimer ganz richtig fest, daß nur der aktuelle Denkprozeß die Voraussetzungen für die nicht zufällige, geordnete Reproduktion der Erfahrungen schafft. Das entspricht im Prinzip dem Standpunkt sowjetischer Psychologen (S. L. Rubinstejn, K. A. Slavskaja, A. V. Bruslifskij und andere), der besagt, daß die Aufgabenanalyse entscheidende Bedeutung für die bewußte Reproduktion und Anwendung früherei Kenntnisse besitzt. Im weiteren führt Wertheimer eines der Grundprinzipien seiner Theorie des schöpferischen Denkens ein, das Prinzip der Umzentrierung der Problemsituation. Dabei weist Wertheimer darauf hin, daß die Reproduktion und Anwendung früherer Erfahrungen zweierlei Charakter besitzen kann. Sie kann den strukturellen Erfordernissen des zu lösenden Problems entsprechen oder eine künstliche Reproduktion mit dem Ziel sein, die vorausgehende Analyse der Problemstruktur zu umgehen. Wenn man daher das, was Wertheimer „Umzentrierung" nennt, von den Positionen der marxistischen Psychologie als bewußte vorausgehende Problemanalyse interpretiert, so kann man die Betonung ihrei Rolle zweifellos als gerechtfertigt ansehen. Die zentrierenden (oder umzentrierenden) Kräfte befinden sich nach Wertheimer in der Problemsituation selbst und wirken als diesei Situation immanente Kräfte. „Die Zentrierung — die Art und Weise, wie man die Teile, die Einzelheiten in einer Situation, ihre Bedeutung und Rolle als bestimmt im Hinblick auf einen Schwerpunkt, einen Kern oder eine Wurzel erfaßt - ist ein höchst mächtiger Faktor beim Denken. Die Probleme der Zentrierung sind in dei traditionellen Logik und in der Psychologie vernachlässigt worden. Starke Kräfte sind am Weik bei der Zentrierung, wenn man den wahren Mittelpunkt, wie er der Natur der Situationen gemäß ist, ins Auge faßt — oder ins Auge zu fassen versucht."55 53 Ebenda, S. 76. 54 Ebenda. 55 Ebenda, S. 159.
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In dieser Feststellung Wertheimers ist viel Wahres. Tatsächlich begrenzen die eng miteinander verbundenen Naturelemente, die eine natürliche Erscheinung bilden, die Möglichkeiten des denkenden Subjekts, sie willkürlich zu deuten, und stellen infolge ihrer objektiven, vom Subjekt unabhängigen Existenz bis zu einem gewissen Grade immanente natüiliehe Kräfte dar. Wertheimer berücksichtigt jedoch nicht, daß die als innere Notwendigkeiten wirkende objektiven Eigenschaften der Problemsituation nur dann in der Wechselwirkung zwischen Subjekt und Problemsituation sichtbar werden, wenn das Subjekt nicht passiver Betrachter, sondern aktiver Umgestalter ist. Das Subjekt analysiert diese Situation, und infolge der Veränderung derjenigen Gruppe von Elementen, auf die seine Aufmerksamkeit vorwiegend gerichtet ist, werden neue Eigenschaften der Struktur (der Situation) sichtbar. Dabei kann diese Tätigkeit auch unterbewußt sein. In diesem Falle kommt es zur Erscheinung der „Einsicht" (insight). Als ein ernster Mangel der Theorie Wertheimers muß unserer Ansicht nach gelten, daß er die natürliche Hierarchie der in der Problemsituation bestehenden Beziehungen ignoriert. Er schreibt: „. . . aber sie (die bei der Zentrierung wirkenden Kräfte — A. N.) sind ebenso stark in Fällen blinder, erzwungener oder willkürlicher Fehlzentrierung, wie sie in manchen Arten politischer Propaganda so wirksam benutzt wird." 56 Das bedeutet, daß für Wertheimer keine Unterschiede zwischen wesentlichen und unwesentlichen Beziehungen bestehen. Ein solcher Standpunkt führt zum subjektiven Idealismus. Das ist eine auf den ersten Blick paradoxe Tatsache, denn Wertheimer betont hartnäckig die entscheidende Bedeutung, die der Dynamik der Problemsituation selbst innewohnt. Dies ist einer jener in wissenschaftlichen Überlegungen ziemlich häufigen Fälle, in denen Gegensätze anscheinend miteinander harmonieren. Zu Recht schrieb S. L. Rubinstejn: „Die Gestalttheorie ist eine Theorie der äußerlich nicht bedingten Eigenbewegung des phänomenalen psychischen Feldes; es ist subjektive Eigenbewegung oder besser Dynamik, die mit dem Determinismus, mit der äußeren Bedingtheit, gebrochen hat." 57 Es ist wichtig anzumerken, daß Wertheimer im Unterschied zu J. Dewey und anderen das Denken jedoch nicht überhaupt auf die Aufgabenlösung reduziert. Diese seine Auffassung illustriert er damit, daß im Prozeß des schöpferischen Denkens Entdeckungen oft dann ge56 Ebenda. 57 Rubinstein, S. L., Das Denken und die Wege seiner Erforschung, a. a. O., S. 22. 189
macht werden, wenn das Individuum plötzlich die Unmöglichkeit erkennt, das gesteckte Ziel zu erreichen, und das Ziel, den Forderungen der Umstände entsprechend, wechselt. Der Übergang von einem Ziel zum anderen ist jedenfalls nicht ein Prozeß der Aufgabenlösung im strengen Sinne. „Einem Menschen", schreibt Wertheimer, „zum Beispiel einem Politiker, der sich mit allen Kräften bemüht hat, ein Ziel zu erreichen, und lange Zeit daran gearbeitet hat, geht es manchmal plötzlich auf, daß das Ziel selbst, wie es gesetzt war, fehl am Platze war, daß es zu dem wirklich Nötigen, zu wesentlicheren Zielen, keinen Bezug hat. Dieses Erlebnis kann die Entdeckung von etwas enthalten, was bisher völlig verborgen geblieben war — nämlich, daß die Mittel für die Ereichung des erstrebten Ziels ein viel gewichtigeres Ziel vielleicht gefährdet, vielleicht zunichte gemacht hätten. Denken befaßt sich nicht nur mit Mitteln, es hat sich auch mit den Zwecken selbst zu befassen in ihrer strukturellen Bedeutsamkeit."58 Ein Grundprinzip der Gestaltpsychologie ist das von Wertheimer eingeführte Prinzip der sogenannten Prägnanz. Dieses Prinzip besagt, daß die Organisation des phänomenalen psychischen Feldes nach der unter den gegebenen Umständen möglichsten Einfachheit und Klarheit strebt. Dieses Prinzip wurde von Wertheimer zunächst in bezug auf die Wahrnehmung formuliert (ebenso wie alle anderen wesentlichen Aussagen der Gestaltpsychologie). In unserem Zusammenhang ist die Feststellung wichtig, daß Wertheimer eine spontane und unter den gegebenen Umständen inadäquate Tendenz zur Bildung von verfrühten Strukturen für möglich hält. „Verschiedenartige Bedingungen, Kräfte und Faktoren mögen für den denkenden Menschen eine Struktur bestimmen — Faktoren, die oft die Beharrung der Gewohnheiten einschließen, oder auch stückhafte Einstellungen, endlich sogar die Wirksamkeit der Prägnanz-Tendenz selbst in Richtung auf voreilige Schließung. Man wird dann zum Opfer einer verführerischen Vereinfachung".59 Das heißt, daß die Eigenschaften des Individuums außerordentlich bedeutsam für den schöpferischen Prozeß sind. Wertheimer untersuchte die sogenannten Gaußschen Zufälle — der sechsjährige Gauß hatte augenblicklich die Summe der Reihe S = 1 + 2 + 3 + • • • 10 gefunden, das heißt das Gesetz S = - ( » + 1) n
— und fixierte als Resultat einige Bedingungen, die für ein erfolgreiches 58 Wertheimer, M., Produktives Denken, a. a. O., S. 91. 59 Ebenda, S. 231.
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Schöpfertum in der Wissenschaft erfüllt werden müssen. Diese Bedingungen betreffen die geistige Beschaffenheit und die Handlungsweise des denkenden Individuums und lauten wie folgt: 1. Das Individuum darf nicht durch Gewohnheiten festgelegt und geblendet sein; 2. es darf nicht einfach sklavisch wiederholen, was man es gelehrt hat; 3. es darf nicht mechanisch vorgehen; 4. es darf sich nicht nur auf einzelne Teile eines Problems konzentrieren ; 5. es darf bei seinem Wirken die Aufmerksamkeit nicht auf einen begrenzten Teil der Problemstruktur konzentrieren; 6. es darf nicht mit stückhaften Operationen vorgehen, sondern muß frei und aufgeschlossen für neue Ideen mit der Situation operieren und versuchen, die inneren Wechselbeziehungen der Situation zu erkennen. Beim Studium des schöpferischen Prozesses schenken die Vertreter der Gestaltpsychologie dem Moment besondere Beachtung, in dem sich eine Idee, ein neues Verständnis, eine „Erleuchtung" des Verstandes, der Insight, zeigt. Die wissenschaftliche Entdeckung, speziell den Insight, im schöpferischen Prozeß des Wissenschaftlers stellt sich Wertheimer so vor: „. . . ein Gesichtspunkt spielt eine besonders bedeutende Rolle: Der Faktor der sinnvollen Umstrukturierung, Neuorientierung, der den Betrachter befähigt, die gegebene Situation in einer neuen und tiefer eindringenden Perspektive zu sehen. Es ist vor allem dieser Faktor, der zu einer Entdeckung in einem tieferen Sinn führt, oder richtiger, sie recht eigentlich ausmacht. In solchen Fällen bedeutet eine Entdekkung nicht bloß, daß ein Ergebnis erreicht wird, das vorher nicht bekannt war, daß eine Frage irgendwie beantwortet wird, sondern vor allem, daß eine Situation auf eine neue tiefere Weise erfaßt wird — worauf das Feld sich erweitert und ausgebreitetere Möglichkeiten sich dem Blick eröffnen. Diese Änderungen der Lage als Ganzes umgreifen Änderungen in der strukturellen Bedeutung und Teil-Gegebenheiten, Änderungen in ihrer Stelle, Rolle und Funktion, die oft zu bedeutsamen Folgerungen führen."60 Wertheimer stellt fest, daß der Insight, die eigentlich schöpferische „Erleuchtung", eine sehr verbreitete Erscheinung ist. „Die Änderung in der strukturellen Erfassung gemäß den Forderungen des Problems ist oft von tiefgreifender Bedeutung in der Entwicklung der Wissenschaft. Das gilt gleichermaßen für das menschliche Leben 60 Ebenda, S. 144f. 191
im allgemeinen, besonders aber für Erscheinungen des Zusammenlebens." 61 Nachdem wir die Hauptgedanken der Theorie des schöpferischen Denkens von Wertheimer dargelegt haben, erscheint es uns zweckmäßig, zu verfolgen, wie Wertheimer Galileis Entdeckung des Trägheitsgesetzes analysiert hat. Im Verlauf dieser überaus interessanten Analyse gelangt Wertheimer zu dem Schluß, daß die Hauptmotive für das Denken Galileis folgende waren: 1. der Wunsch, die Erscheinung des freien Falls, der Ruhe und andere Phänomene der mechanischen Bewegung zu verstehen, die bis dahin willkürlich und unwissenschaftlich gedeutet wurden; 2. das Bestreben, Schritt für Schritt, durch eine Reihe von Momenten des Verstehens (des Insights) die Struktur der Phänomene zu füllen und ein ganzheitliches Bild der Erscheinungen zu erhalten. Wertheimer spürt den Gedanken Galileis nach und gelangt zu folgenden Verallgemeinerungen. „Produktive Prozesse sind oft von dieser Art: aus dem Verlangen nach wirklichem Verständnis beginnt man alles neu in Frage zu stellen und zu untersuchen. Ein bestimmter Bereich in dem Feld der Untersuchung wird entscheidend, wird zum Brennpunkt; aber er wird nicht herausgelöst. Eine neue, eine tiefere strukturelle Erfassung der Problemlage entwickelt sich, die Änderungen in der funktionalen Bedeutung, der Zusammengefaßtheit, der Teilgegebenheiten usw. in sich einschließt. Gelenkt von dem, was von der Struktur der Problemlage für einen kritischen Bereich gefordert ist, kommt man zu sinngemäßen Voraussagen, die . . . nach mittelbarer oder unmittelbarer Verifikation verlangen. Zwei Richtungen des Vorgehens sind im Spiel: ein vollständiges, in sich geschlossenes Bild zu gewinnen und sich zu überzeugen, was von der Struktur des Ganzen her für die Teile gefordert ist." 62 Von besonderem Interesse im Hinblick auf die in Kapitel III aufgestellten Thesen ist die folgende (von Wertheimer allerdings nur ungenügend berücksichtigte) Tatsache: die verschiedenen Etappen der Arbeit Galileis liefen nacheinander so ab, daß in jeder vorhergehenden Etappe die gegebenen Fakten im Vergleich zur folgenden Etappe nur unvollständig analysiert worden waren. Die Lösung jedes anschließenden Problems erfolgte als Insight und erbrachte einen höheren Grad der Analysiertheit der Problemsituation. Wenn Wertheimer behauptet, daß die ganzheitliche Struktur das Denken des Wissenschaftlers 61 Ebenda, S. 145. 62 Ebenda, S. 193.
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lenkt, und wenn dies auch bis zu einem gewissen Grade richtig ist, so dürfen doch zwei wichtige Umstände nicht außer acht gelassen werden: 1. Antrieb für das Denken des Wissenschaftlers ist in jeder Etappe der Problemlösung auch der Wunsch, jene psychische Spannung zu beseitigen, die in Verbindung mit dem Auftauchen neuer Aufgaben innerhalb der jeweiligen Problemsituation entsteht. Sie ist der subjektive Ausdruck der objektiven Unvollständigkeit der Analyse, der Unvollständigkeit des erreichten Problemverständnisses. Dieser Umstand hängt aufs engste mit der emotionalen Sphäre zusammen und ist einer der Hauptproduzenten schöpferischer Energie für den Wissenschaftler, folglich also ein überaus wichtiger Faktor im wissenschaftlichen Schöpfertum. 2. Noch wichtiger ist unseres Erachtens eine Frage, die Wertheimer fast gar nicht beachtet: die Ergänzung der Analyse (in der Terminologie der Gestaltpsychologen — die Bildung der ganzheitlichen Struktur) erfolgt in ihrem entscheidenden Teil in der unterbewußten Sphäre. Wertheimer deutet dies nur verschwommen an. Dieses außerordentlich wichtige Moment des schöpferischen Denkens muß mit aller Entschiedenheit hervorgehoben werden. Statt in intellektualistischer Weise Psyche und Bewußtsein zu identifizieren, müssen die Erscheinungen naturwissenschaftlich erklärt werden. Zum Beweis des oben Ausgeführten wollen wir kurz den Weg verfolgen, auf dem Galilei das Trägheitsgesetz entdeckt hat. 6 3 Galilei hat allgemein zugängliche Fakten erforscht: 1. Jeder schwere Körper fällt zur Erde. Die alten Naturphilosophen sagten: Schwere Körper streben der Erde zu. 2. Wenn ein schwerer Körper durch eine bestimmte Kraft in Bewegung versetzt wird, so hört seine Bewegung nach einer gewissen Zeit auf. Die Philosophen des Altertums erklärten diese Erscheinung wie folgt: Die Kraft, die den Körper in Bewegung setzt, hört auf zu wirken, deshalb kommt er zur Ruhe. Da die aufeinander einwirkenden Körper durch einen bestimmten Abstand von einander getrennt waren, wurde der Begriff „Medium" eingeführt, was zum Spiritualismus führte. 3. Die Nebenumstände wurden berücksichtigt: die Größe, die Form, die Schwere des Körpers usw. Mit dem Hinweis auf diese Fakten und ihre mystische Deutung gaben die antiken Philosophen den Erscheinungen eine bestimmte quali63 Unter den verschiedensten Aspekten ist der schöpferische Prozeß Galileis außer von Wertheimer auch von Einstein und Infeld in Die Evolution in der Physik, von A. Koestler in Le Cri d' Archimide und anderer! erforscht worden. 13
Nalöadijan
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tative Erklärung, mit der man sich bis in Galileis Zeit begnügte. Bei oberflächlicher Betrachtung kann der Eindruck entstehen, daß man von einer solchen „Erklärung" ausgehend alle möglichen Sonderfälle der mechanischen Bewegung verstehen könne. Galilei war davon jedoch nicht befriedigt. Er sah ein ungelöstes Problem von großer Bedeutung dort, wo den anderen alles klar schien. Galilei stellte sich eine Anzahl konkreter Fragen: j Verstehen wir, wie derartige Bewegungen in Wirklichkeit vorgehen?" Beim freien Fall nimmt die Geschwindigkeit des Körpers ständig zu. Wie verändert sich die Geschwindigkeit während der Bewegung? Dies ist der erste Insight, das Begreifen nämlich, welche Fragen man der Natur stellen muß, um genaue und richtige Antworten zu erhalten, Galilei setzte seine Beobachtungen und einfachen Experimente fort, führte den physikalischen Begriff der Beschleunigung ein und fand die mathematische Formel dafür. Das war die logische Vollendung des ersten Insights, denn der Insight führt zur Aufstellung hypothetischer Annahmen, die logische Vollendung aber stellt die Annahmen in eine Ordnung und verwandelt sie in eine Theorie. Galilei „ahnte" (Vermutung, intuitives Verstehen), daß der freie Fall nur eine spezielle Art des Fallens von Körpern ist, jener Fall nämlich, bei dem der Fallwinkel 90° beträgt (zweiter Insight). Zu dieser Annahme gelangte er durch die Beobachtung anderer Arten des Fallens. Voraussetzung für den zweiten Insight war also die unvollständige primäre Analyse der Erscheinung des Fallens von Körpern. Indem er die Beschleunigung der Körper in unterschiedlichen Arten des Falls studiert, folgerte Galilei, daß sich die Beschleunigung mit abnehmendem Fallwinkel allmählich verringert. Er untersuchte diesen Fall Schritt für Schritt und vollendete danach logisch den zweiten Insight. Die tägliche Erfahrung zeigt aber, daß Körper nicht nur zur Erde fallen, sondern daß man ihnen auch eine Bewegung in umgekehrter Richtung, von der Erde weg, geben kann. Dabei geht ihre Geschwindigkeit gegen Null. (Zu Galileis Zeit waren in der Mathematik die negativen Zahlen bereits eingeführt.) Galilei, der danach strebte, die Erscheinungen vollständiger zu erfassen, vermutete deshalb" plötzlich, daß er nur die Hälfte der betreffenden physikalischen Erscheinung erfaßt hätte, daß er das Hochwerfen von Körpern (unter verschiedenen Winkeln) nicht berücksichtigt hätte. Folglich, so schloß er, kann die Beschleunigung auch negativ sein (dritter Insight). Und diese Beschleunigung, das zeigten die Versuche, nimmt mit der Verringerung des Neigungswinkels von 0° bis 90° zur Erdoberfläche in ihrer absoluten Größe ab (logische Vollendung des dritten Insights.) 194
Aber auch das so gewonnene Bild von den Erscheinungen war noch nicht vollständig. Es wurde notwendig, die horizontale Bewegung der Körper, die von einer bestimmten Kraft in Bewegung gesetzt worden waren, zu interpretieren. Bei der Abnahme des Neigungswinkels von zwei symmetrischen Seiten her nimmt die Beschleunigung des Körpers ständig ab und wird schließlich gleich Null, das heißt, der Körper beginnt, sich mit konstanter Geschwindigkeit zu bewegen. Daraus ergab sich die seinerzeit „verrückte" Folgerung, daß der Körper deshalb nicht zur Ruhe komme, weil die Einwirkung des „Mediums" aufhört, sondern daß dies nur dem Einfluß solcher Faktoren wie des Luftwiderstandes und der Oberflächenreibung geschuldet sei. Wenn man diese äußeren Ursachen beseitigt, so wird sich der einmal in Bewegung gesetzte Körper demnach ewig bewegen. Das „Medium" und andere derartige Erfindungen der Spiritualisten mußten als Ursachen entfallen. Im Ergebnis aufeinanderfolgender „Einsichten" und ihrer logischen Vollendung war beim Wissenschaftler also ein symmetrisches und ganzheitliches Bild von einem bestimmten Teil des Universums entstanden. Diese objektive Symmetrie, die eine natürliche Harmonie und Schönheit besitzt, spielt zweifellos eine wesentliche Rolle für die Gedankenrichtung des Wissenschaftlers (man denke an das ästhetische Kriterium Poincar6s). Wenn Wertheimer sie jedoch zu der Kraft machen will, die den Denkprozeß determiniert, so kann man dem unmöglich zustimmen. Denn warum richten die strukturellen Kräfte nicht jeden Verstand, der mit den betreffenden Erscheinungen zu tun hat, auf die Entdeckung des Gesetzes? Das heißt, wie will man bei einer solchen Auffassung die individuellen geistigen Eigenschaften des Wissenschaftlers und das unterschiedliche Maß seiner Aktivität berücksichtigen? Eine Interpretation der Insighterscheinungen, die nicht von nur einem Faktor, sondern von mehreren Faktoren ausgeht, erfaßt unserer Ansicht nach das Problem vollständiger. Eine Entdeckung, einen Insight oder eine „Einsicht" kann es nur geben, wenn der Wissenschaftler über bestimmte Fähigkeiten zur Wahrnehmung von Fakten, zur bewußten Auffindung und Stellung von Problemen sowie über ein hinreichend starkes unterbewußtes Denken verfügt, das die Analyse ergänzt und die Lösung „inkubiert". Eine solche Interpretation berücksichtigt auch die sehr wichtige Tatsache, daß jede Epoche nur die ihr angemessenen Probleme aufwirft. Wenn es die Wissenschaftsentwicklung dem Wissenschaftler nicht erlaubt, bewußt eine bestimmte Gesamtheit von Fakten zu studieren, die ausreicht, um wenigstens eine Teilgesetzmäßigkeit in den studierten Erscheinungen zu finden. 13*
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dann ist auch keine objektive strukturelle Ganzheit in der Lage, zu ihrer Entdeckung zu führen. In solchen Fällen ist der Wissenschaftler gezwungen, von neuem zu beobachten. Das macht auch psychologisch verständlich, weshalb mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit wissenschaftliche Entdeckungen zu bestimmten Zeiten und im Resultat schöpferischer Anstrengungen gemacht werden. Wertheimers Standpunkt kann in gewissem Grade (in seinem wissenschaftlichen, nicht aber seinem metaphysischen Teil) auch dadurch unterstützt werden, daß man die Rolle des Unterbewußten berücksichtigt. Der anschließende Teil des symmetrischen Bildes bleibt in Verbindung mit dem Studium neuer Fakten, die in ihren Wechselbeziehungen noch nicht verstanden worden sind, in der ersten Zeit unbewußt und taucht erst später plötzlich in der Bewußtseinssphäre auf. Von dem Augenblick an, in dem sich das unterbewußte Bild abgezeichnet hat, lenkt dieses den Denkprozeß notwendigerweise schon deshalb, weil es als aktive psychische Errungenschaft des Individuums existiert. Wenn dagegen die Fakten, die das allgemeine Bild der Erscheinung erstellen, sowohl der bewußten als auch der unterbewußten Wahrnehmung und Verarbeitung prinzipiell unzugänglich sind, dann kann keine Rede davon sein, daß diese noch nicht zu einem psychischen Faktor gewordene strukturelle Ganzheit bestimmenden Einfluß auf den Denkprozeß ausübt. Wertheimer hat auch eine außerordentlich interessante Untersuchung über psychologische Momente bei der Entstehung von Einsteins Relativitätstheorie durchgeführt. Es ist nicht notwendig, hier allen Einzelheiten dieser Untersuchung nachzugehen; wir gehen darum nur auf einige Fragen ein, die im Hinblick auf das Problem der „Einsicht" am interessantesten sind. Im Verlauf seiner zahlreichen Gespräche mit Einstein fand Wertheimer einen Sachverhalt, der für die Denkpsychologie überaus interessant ist. Es stellte sich heraus, daß Einstein das Axiom von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, das der Relativitätstheorie zugrunde liegt, im Ergebnis langwieriger Forschungen gefunden hatte. Das bedeutet, daß er seine Theorie nicht von Anfang an wie ein logisches System aufgebaut hatte, sondern daß er im Prozeß der schöpferischen Arbeit andere Methoden benutzte. Die Axiome standen, sagt Wertheimer, nicht am Anfang, sondern waren das Resultat des Forschungsprozesses.64 Zuerst erfolgte die Entdeckung, und erst danach wurden die Prinzipien formuliert. Wie Wertheimer bezeugt, begriff Einstein 64 Vgl. Wertheimer, M., Produktives
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Denken, a. a. O., S. 212.
selbst die Fruchtlosigkeit eines rein logischen Herangehens an die Lösung wissenschaftlicher Probleme. „Kein wirklich produktiver Mensch", sagte Einstein, „denkt so papiern".65 Wertheimer hat natürlich die Äußerungen Einsteins dazu zu nutzen versucht, die Konzeptionen der Gestaltpsychologie zu begründen. Diese Äußerungen Einsteins lassen jedoch auch eine andere Interpretation zu. Wertheimer schreibt: „Ich erzählte Einstein einmal von meinem Eindruck, daß .Gerichtetheit' in Denkvorgängen ein wichtig Faktor sei. Dazu sagte er: .Solche Dinge waren sehr lebhaft gegenwärtig. Während all dieser Jahre hatte ich ein Richtungsgefühl, das Gefühl, gerade auf etwas Bestimmtes zuzugehen. Es ist natürlich sehr schwer, dieses Gefühl in Worten auszudrücken, aber es war ganz entschieden der Fall und klar unterscheidbar von der Art der späteren Überlegungen über die rationale Form der Lösung. Natürlich ist hinter solch einer Gerichtetheit immer etwas Logisches, aber ich habe es in einer Art von Uberblick, gewissermaßen sichtbar vor Augen'." 66 Daraus kann man schließen, daß Wertheimer die Möglichkeit nicht ausschließt, das Gefühl der Richtung könne bei Einstein entstanden sein, weil das ganzheitliche Bild eines gewissen Teils des physikalischen Universums, zu dem Einstein letzten Endes gelangte, von Anfang an die Richtung seines Suchens bestimmt habe. Auf welche Weise allerdings etwas, was der Mensch nicht wahrgenommen hat, was nicht zum Faktor seines (bewußten oder unterbewußten) psychischen Lebens geworden ist, die Richtung seiner psychischen Tätigkeit bestimmen kann, bleibt das Geheimnis Wertheimers. Er begründet diesen Gedanken nicht mit wissenschaftlichen Argumenten. Wir hingegen meinen, daß das Prinzip der strukturellen Ganzheit, das bei der Erforschung des Denkprozesses äußerst fruchtbar ist, negativ wirkt, wenn man es verabsolutiert. Dadurch wird der Anschein von Klarheit dort geschaffen, wo sich ungelöste Probleme verbergen. Durch den Glauben an das Absolute werden die wirklichen Probleme verdeckt, was ihr tatsächliches Verstehen behindert. Was nun die zitierten Äußerungen Einsteins über das „Richtungsgefühl" im Schöpfertum angeht, so müssen sie natürlich von der wissenschaftlichen Psychologie gedeutet werden. Wir merken nur an, daß das besondere Gefühl, der Glaube daran, daß hinter den gewonnenen Kenntnissen noch mehr steht, zu dem der Wissenschaftler bewußt 65 Ebenda. 66 Ebenda.
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oder unbewußt hinstrebt, eine Art der intellektuellen Intuition ist und das Ergebnis der Tätigkeit des Unterbewußten sein kann. Der konkrete Inhalt aber, der zur Entstehung dieses Gefühls führt, ist unseres Erachtens nicht die ganzheitüche Struktur des künftigen Abbildes der Realität; sondern es sind vielmehr die früher wahrgenommenen und nicht vollständig analysierten Fakten und die neu wahrgenommenen und vollständig oder teilweise analysierten Fakten, die zu einer folgenden Teil„einsicht" und schließlich zur Erkenntnis des Ganzen führen können. Damit der Wissenschaftler das Gefühl des Gerichtetseins der Denktätigkeit bewahren kann, muß er kontinuierlich an wissenschaftlichen Problemen arbeiten (dabei anscheinend vorzugsweise an verwandten Problemen), um sich jene logischen und gegenständlichen Elemente anzueignen, die für die Vorbereitung der Entdeckung erforderlich sind. Es liegt auf der Hand, daß Einstein früher oder später das Gefühl der Gerichtetheit des Denkens verloren hätte, wenn ihn die Umstände gezwungen hätten, die physikalischen Forschungen aufzugeben. Die Gerichtetheit des Denkens „auf irgend etwas Konkretes hin", von der Einstein gesprochen hat, kann auch die Folge des ästhetischen Gefühls, des Strebens nach Schönheit sein. Eine solche Harmonie fehlt natürlich einer unvollendeten Theorie, aber ihre Strukturen sind, wenn der Aufbau der Theorie richtig begonnen wurde, deutlich sichtbar. Nach unserer Überzeugung kann jedoch dieses Streben nach ästhetischer Vollkommenheit kein primärer psychologischer Faktor sein. Die Bildung und Entwicklung der Psyche erfolgten auf Grund der Evolutionsgesetzmäßigkeiten. Primär ist das Bestreben, mehr oder minder vollständige psychische Strukturen zu besitzen, die sich durch minimale Unbestimmtheit und minimale Gespanntheit auszeichnen. Eben das Fehlen derselben und das Vorhandensein der Spannung des Unvollständigen führt zur Herausbildung des spezifischen Strebens nach psychischem Gleichgewicht. Schöpferische Persönlichkeiten sehnen sich stets nach der Harmonie ihrer psychischen Kräfte, da sie (und eben aus diesem Grunde) keine Grenzen des Erkenntnisprozesses anerkennen. Jedes gelöste Problem führt zu neuen Problemen und zeigt so den relativen Charakter der erreichten Harmonie, die nicht dem Ideal vollkommenen Gleichgewichts entspricht. Alle hervorragenden Denker besaßen diese geistige Eigenschaft. Das fand seinen konkreten Ausdruck in ihrem unermüdlichem Streben nach Erkenntnis der Natur und des eigenen Wesens. Das gestaltpsychologische Herangehen an die Erforschung des schöpferischen Prozesses in der Wissenschaft berührt jedoch ungeachtet 198
ernster methodologischer Mängel in gewissem Sinne das Wesen des Problems und besitzt somit große Bedeutung für die Entwicklung dieses Gebietes der Psychologie. Die Arbeiten Wertheimers, aber auch K. Dunckers, W. Köhlers, K. Koffkas, N. Maiers, A. Seques und anderer Forscher dieser Schule, ohne deren Ergebnisse die Theorie der Denkpsychologie nicht zu denken wäre, sind ein überzeugender Beweis dafür.
Schlußbemerkungen
Die Erforschung der intuitiven Erkenntnis im wissenschaftlichen Schöpfertum wirft neben den Problemen, die in der vorhegenden Arbeit gestellt wurden, noch eine ganze Reihe von wichtigen philosophischen und psychologischen Fragen auf, deren Beantwortung für die Schaffung einer Theorie des schöpferischen Denkens notwendig ist. Eines der wichtigsten philosophischen Probleme der intuitiven Erkenntnis ist, soweit uns bekannt ist, bis heute noch nicht einmal formuliert worden. Wir meinen die Frage, welche Beziehung zwischen der objektiv real existierenden Welt und der Intuition in den verschiedenen philosophischen Theorien besteht. Die Intuition ist eine der Erkenntnisformen, durch die der Mensch die ihn umgebende Realität erfaßt. Dabei ist die Lösung des Problems der objektiven Realität Voraussetzung für die Erfassung des Wesens der Intuition. Wie die Wechselbeziehungen zwischen der objektiven Realität und der Auffassung von der Intuition zu interpretieren sind, darüber wollen wir hier nur einige vorläufige Aussagen treffen. Die Schwierigkeit besteht darin, daß es keine direkte Beziehung zwischen der Auffassung über die objektive Realität und der über die Natur der Intuition zu geben scheint. Die erste determiniert die zweite nicht unmittelbar, sondern bestimmt sie in Verbindung mit der unterschiedlichen Beantwortung der Grundfrage der Philosophie, der Frage nach der Erkennbarkeit der Welt, nach den Funktionen der verschiedenen Erkenntnisformen, nach der Rolle und den Grenzen der Möglichkeiten der Wissenschaft usw. Es zeigt sich zunächst nur eine bestimmte Tendenz: Jede idealistische Beantwortung der Grundfrage der Philosophie schafft die Voraussetzung dafür, daß in die Erkenntnistheorie der Begriff der metaphysischen (oder „reinen", „mystischen") Intuition eingeführt wird, womit jedoch noch nicht prinzipiell die Möglichkeit ausgeschlossen ist, die Bedeutung der verschiedenen Formen der intellektuellen oder der sinnlichen Intuition zu begreifen. Wir sehen aber (vgl. besonders Kapitel V), 200
daß die verschiedensten der idealistischen Philosophie verpflichteten psychologischen Schulen diese Möglichkeit nur in unzureichender Weise verwirklichen. Hinwiederum garantiert die materialistische Beantwortung der Grundfrage der Philosophie noch nicht, daß der materialistische Philosoph die Bedeutung versteht, die dem Problem der intuitiven Erkenntnisformen zukommt, und daß er sich mit der wissenschaftlichen Ausarbeitung dieses Problems befaßt. Dem dialektischen Materialismus jedoch ist es auf Grund der materialistischen Beantwortung der Grundfrage der Philosophie und seiner positiven Stellung zur Frage der Erkennbarkeit der Welt grundsätzlich möglich, die Fragen der Intuition und des wissenschaftlichen Schöpfertums umfassend zu behandeln und zu klären. Alle diese Fragen erfordern eine gründliche Ausarbeitung, wobei umfangreiches philosophiegeschichtliches und konkretes wissenschaftf) liches Material hinzugezogen werden muß. ; Sowohl für die Philosophie als auch für die Psychologie ist die Frage wichtig, auf welche Weise wissenschaftliche Hypothesen aufgestellt werden, welcher Art ihre Prämissen sind, wie sie vom Wissenschaftler formuliert werden und wie sie heranreifen. Alle diese Fragen hängen offensichtlich mit der Gewinnung neuen Wissens und neuer Ideen durch logische Überlegung und intuitives Eindringen zusammen. Darum ist es wichtig, daß sich die Wissenschaftstheorie (Wissenschaftswissenschaft) und die Erkenntnistheorie speziell mit der Erforschung der Wechselbeziehungen beschäftigen, die zwischen der intuitiven Erkenntnis und der Aufstellung wissenschaftlicher Hypothesen bestehen. Unmittelbar damit verbunden — aber von relativer Selbständigkeit — ist die Beziehung zwischen logischem Denken und Intuition. Zu diesen Problemen sind in der vorliegenden Untersuchung eine Anzahl von Gedanken geäußert worden, und wir meinen, daß das Vorhandensein einer klar formulierten Konzeption zu dieser Frage von großer Bedeutung für die gesamte Erkenntnistheorie und Denkpsychologie sein kann. Da die Intuition (dies kann offenbar bereits mit Bestimmtheit gesagt werden) in bedeutendem Maße eine Erscheinung der unterbewußten psychischen Aktivität ist, so muß besonders die logische Struktur des unterbewußten Denkens erforscht werden und möglicherweise ein formales logisches System der unterbewußten intellektuellen Prozesse geschaffen werden. Spezielle Untersuchungen müßten die Frage nach den Bedingungen für die Wahrheit der durch intuitives Denken gewonnenen Ideen und Hypothesen zum Gegenstand haben. Das Problem der Wahrheit entsteht natürlich beim Studium aller Formen der menschlichen Er201
kenntnistätigkeit. Da die Vermutung, die Antizipation, die intuitive „Erleuchtung", jedoch ein wesentliches Erkenntnisinstrument im wissenschaftlichen Schöpfertum, bei der Entdeckung von neuen Naturgesetzen und der Entwicklung neuer Gedanken ist, stellt sich in Verbindung mit der intuitiven Erkenntnis das Problem der Wahrheit mit noch größerer Schärfe, und es muß in dieser Frage den Auffassungen der idealistischen Schulen in der Psychologie auf das schärfste widersprochen werden. Deshalb muß dieses Problem von den Philosophen und Psychologen, die auf den Positionen des dialektischen Materialismus stehen, intensiv erforscht werden. Besondere Beachtung verdient die Modellierung des schöpferischen Prozesses. Hier ergeben sich eine ganze Anzahl schwieriger philosophischer und psychologischer Probleme. Die Modellierung des schöpferischen Denkens, insbesondere der Intuition, das Ausnutzen der Mathematik als Möglichkeit eines mathematischen Apparats der Widerspiegelung der in der Psychologie bereits fixierten Aussagen und als heuristisches Mittel sind natürlich erst dann möglich, wenn eine psychologische Theorie des zu modellierenden psychischen Prozesses vorliegt. Die philosophische Analyse dieses Problems wird helfen, richtiger und vorsichtiger bei der Modellierung der Erkenntnisprozesse vorzugehen. Diese Prozesse sind derart kompliziert und komplex, daß sich die heute verfügbaren Modellierungsmethoden als wenig geeignet erweisen, solche Prozesse im Modell adäquat darzustellen. Eine ganze Reihe außerordentlich komplizierter psychologischer Probleme des Schöpfertums erfordert von den Wissenschaftlern höchste Aufmerksamkeit. Die Formulierung einiger dieser Probleme zeigt, wie kompliziert die Fragen der Intuition sind, wie eng sie mit anderen Gebieten der Psychologie verknüpft sind (besonders mit der Persönlichkeitspsychologie und der Sozialpsychologie) und wie wichtig für die Schaffung einer Theorie des schöpferischen Denkens komplexe Forschungen sind. Das Studium der Wahrnehmung und das Aufdecken der verborgenen inneren Verbindungen zwischen Wahrnehmung (anders ausgedrückt — zwischen sinnlicher Intuition) und intellektueller Intuition ist eines der wichtigsten psychologischen Probleme des schöpferischen Denkens. Der für die schöpferische Lösung notwendige Informationsstrom kommt im Falle der sinnlichen Intuition vorwiegend von außen, und die schöpferische Lösung wird hauptsächlich durch die Einflüsse der Umwelt stimuliert, wenngleich die Motivation für das Verstehen der Aufgabe einen komplizierteren, zugleich endogenen und exogenen Charakter besitzt. Im Falle der intellektuellen Intuition tragen sowohl die Stimulie202
rang der schöpferischen Lösung als auch ihre Motivation vorwiegend endogenen Charakter. Das ist natürlich ein sehr schematisches und vergröbertes Bild von den wirklichen Beziehungen zwischen der Wahrnehmung und dem intellektuellen intuitiven Verstehen. Es kann aber unseres Erachtens die Wissenschaftler anregen, sich mit einigen sehr wichtigen psychologischen Problemen des Schöpfertums zu befassen. Mit diesem Problem eng verknüpft ist ein anderes, die Frage nämlich, wie der Persönlichkeitstyp mit der Intuitivität, das heißt mit der schöpferischen Aktivität der Persönlichkeit korreliert. Wenn man von der Klassifikation der Persönlichkeitstypen in introvertierte, extravertierte und ambivertierte Persönlichkeiten ausgeht1, dann ist anzunehmen, daß sich „Erleuchtungen" des Bewußtseins durch intellektuelle Intuition (das Bewußtwerden unterbewußt gebildeter Kombinationen psychischer Inhalte) vorwiegend bei introvertierten Persönlichkeiten finden, während extravertierte überwiegend zu „Erleuchtungen" im Verlauf der aktiven Wahrnehmung äußerer Einwirkungen neigen. Ambivertierte Persönlichkeiten nehmen entsprechend eine Mittelstellung ein. Es muß unterstrichen werden, daß die angeführte Klassifikation der Persönlichkeitstypen zwar die Quelle der Aktivität dieser oder jener Persönlichkeit und die überwiegende Richtung dieser Aktivität angibt, die Zugehörigkeit eines Menschen zu diesem oder jenem Typ aber keineswegs mechanisch vorherbestimmt, ob dieser Mensch schöpferisch aktiv und produktiv ist oder nicht. Uns erscheint es deshalb als notwendig, die Theorie der Persönlichkeitstypen zu erweitern und darin die Begriffe des Konformisten und Kollektivisten aufzunehmen. Diese Begriffe sind stärker mit der schöpferischen Aktivität der Persönlichkeit verknüpft. Für die Theorie des schöpferischen Denkens besitzt dieser ganze Fragenkomplex große Bedeutung. Als wir die unterbewußten Mechanismen des schöpferischen Prozesses untersuchten, haben wir hervorgehoben, daß bei der Auswahl der erforderlichen Kombination aus Elementen der zu lösenden Aufgabe einige Kriterien eine wichtige Rolle spielen: das ästhetische Kriterium, das Kriterium der Nützlichkeit, das Kriterium der Wahrheit und andere. Uns scheint, daß diese Seite der Theorie vertieft werden muß, um diese und andere Kriterien und Mechanismen der unterbewußten Tätigkeit mit der Einstellungstheorie zu verbinden. Große Bedeutung haben in 1 In der sowjetischen psychologischen Literatur wird diese Typologie in einigen Arbeiten der letzten Jahre behandelt. Vgl. z. B.: Anan'ev, B. G., Celovek kak predmet poznanija, Leningrad 1969; Merlin, V. S., Lekcii po psichologii motivov leloveka, Perm' 1971; u. a.
203
diesem Zusammenhang die Untersuchungen von D. Uznadze und seinen Schülern, die von materialistischen Positionen her eine Theorie der Einstellung ausgearbeitet haben. Denn die Kriterien für die unterbewußte Auswahl sind im Grunde verallgemeinerte Einstellungen, die das Verhalten, die Orientierung und die Entscheidungsfindung bestimmen. Der schöpferische Prozeß schließt organisch sowohl die ständige Wirkung dieser Einstellungen als auch ihre Wechselwirkung ein. Mehr noch, mit hinreichender Gewißheit kann gesagt werden, daß eine wissenschaftliche Entdeckung, eine Erfindung und überhaupt eine originelle Lösung psychologisch nichts anderes ist als ein Wechsel der Einstellungskriterien, also nichts anderes als ihre gleichzeitige Wirkung oder Zerstörung alter Einstellungen und die Bildung neuer. Wenn diese Probleme mit der gebotenen Wissenschaftlichkeit ausgearbeitet werden, so kann dies sowohl zur Schaffung theoretischer Vorstellungen vom unterbewußten psychischen Leben als auch zur Schaffung einer adäquaten Theorie des schöpferischen Denkens und der Intuition führen. Im Zusammenhang mit der Entwicklung einer Theorie des schöpferischen Denkens gewinnt die gründlichere Erforschung der psychologischen Besonderheiten der Reproduktion von Erfahrungen erhebliche Bedeutung. Die Reproduktion früherer Erfahrungen ist beim Menschen mehr oder weniger immer vorherbestimmt durch eine gewisse emotional gefärbte Einstellung zu dem Bewußtwerden bestimmter psychischer Inhalte. Das ist selbst dann der Fall, wenn wir unser Wissen „spontan", ohne bewußtes Ziel reproduzieren. Es gibt deshalb Grund zu der Annahme, daß ein vergleichendes Studium des psychischen Reproduktionsprozesses und der intuitiven „Erleuchtung" des Bewußtseins sowohl die Theorie des Gedächtnisses als auch die Theorie des schöpferischen Denkens wesentlich bereichern kann. Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang ein so interessantes und bis heute im Grunde wenig erforschtes Phänomen wie die Reminiszenz bei der Reproduktion. Daß die Reminiszenz meistens bei Kindern beobachtet wird, weist unter anderem darauf hin, daß sie mit dem Vorhandensein oder Fehlen gewisser verallgemeinerter oder fixierter Einstellungskriterien verknüpft ist. Mit Hilfe der Theorie des Unterbewußten und der Theorie des Schöpfertums kann also auch eine Theorie der Reminiszenz geschaffen werden. Wir glauben sogar, daß die Reproduktionstheorie mit der Zeit zu einem organischen Bestandteil der Theorie des Schöpfertums werden wird. Die Verbindung zwischen der Theorie der intuitiven „Erleuchtung", der Theorie des schöpferischen Denkens und der Sozialpsychologie wird 204
nicht weniger offensichtlich, wenn man die Erscheinung der Empathie studiert, der in der modernen Sozialpsychologie verdientermaßen große Bedeutung beigemessen wird. Die Empathie (die innere Mitbeteiligung, das Mitfühlen) stellt nicht nur einfach eine emotionale Beziehung dar. Sie entsteht auf der Grundlage eines bestimmten Maßes an Verständnis für die psychischen Eigenarten des Menschen, der Objekt der Wahrnehmung ist. Eine der Ebenen des Verstehens ist natürlich das intuitive Verstehen. Für die psychologische Theorie der menschlichen Kommunikation ist die Frage sehr bedeutsam, auf welcher Ebene des Verstehens Sympathie, Antipathie oder ambivalente Beziehungen zwischen den Menschen entstehen. Die Empathie, wenn sie einmal entstanden ist, kann je nach dem Charakter ihrer emotionalen Färbung zur Vertiefung des ihr zugrunde hegenden Verstehens beitragen. Intellektuelle und emotionale Komponenten der Empathie stehen in enger dialektischer Wechselwirkung. Dieser gesamte Fragenkomplex verdient das konzentrierte Interesse der Fachleute. Die Vertreter der psychoanalytischen Schulen messen bekanntlich der Sublimierung im schöpferischen Prozeß große Bedeutung bei. Heute wird die Sublimierung als ein reales psychologisches Phänomen, und zwar als einer der psychologischen Schutzmechanismen der Persönlichkeit berachtet (eben unter diesem Aspekt wird diese Frage in der Sowjetunion von F.Bassin studiert). Das Problem des Schöpfertums wird daher an dieser Stelle mit der Frustrationstheorie verknüpft, da alle psychologischen Schutzmechanismen in der Richtung wirken, die Persönlichkeitsstruktur gegen ungünstige, frustrierende Einwirkungen abzugrenzen. Beim Studium des Problems der Sublimierung müssen die psychoanalytischen Konzeptionen des Schöpfertums und des Unterbewußten kritisch untersucht werden, und ihre Begrenztheit und ihre biologisierenden Tendenzen müssen überwunden werden. Die Erforschung der Psychologie des Schöpfertums wird ohne Zweifel zur Weiterentwicklung der Psychologie und zur Entwicklung der Persönlichkeitstheorie beitragen.
Personenregister
Ach, N. 175, 176, 177 Anan'ev, B. G. 185, 203 Anochin, P. K. 90, 100 Archimedes 98 Aristoteles 42, 54 Asmus, V. F. 10, 11, 32, 41, 42, 44, 45, 46, 47, 49, 52, 53, 54, 56, 57 Bain, A. 171, 172 Bartlett, F. 113 Bassin, F. V. 100, 205 Bell, E. T. 78, 103 Bergson, H. 24, 42, 43, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 56 Bemal, J . D. 31 BernStein, M. S. 76 Birjukov, B. V. 16 Bloch, M. A. 31, 32 Bohr, N. 124 Brentano, F. 181 Broglie, L. de 67, 85, 86, 87 Brouwer, L. E. J . 187 Brunswik, A. 176 Bruälinskij, A. V. 84, 116, 178, 188 Bühler, K. 175, 176, 181 Bunge, M. 41, 42, 45, 47, 48, 49, 54, 55, 56/60, 61, 62 Byöko, I. V." 57, 58, 59 Cannon, W. B. 107 Croce, B. 44 Cvetkova, L. S. 158
Dembowski, J . 146, 185 Dennis-Brown, W. 54 Descartes, R. 42, 62 Dewey, J . 18, 19, 81, 189 Dickson, L. E. 82 Dilthey, W. 49 Dirac, P. A. 99 Duncker, K. 17, 99, 117, 173, 187, 199 Ebbinghaus, H. 174 Edison, Th. A. 71 Einstein, A. 9, 24, 67, 81,111,149, 193, 196, 197, 198 Engels, F. 7 Evans, J . 153 Freemann, W. 154 Freud, S. 98, 10Î, 139, 140, 177 Galanter, E. 13, 84 Galilei, G. 192, 193, 194 Galton, F. 139 Gauß, K. F. 26, 67, 68, 79, 102, 127, 190 Gellhorn, E. 107, 156, 157 Goethe, J . W. v. 79 Grünbaum, A. 176 Hadamard, J . S. 9, 12, 24, 67, 68, 80, 81, 82, 99, 103 Hamilton, W. 171 Hartley, H. O. 173 Hegel, G. W. F. 48, 164
207
Heidegger, M. 42 Helmholtz, H. v. 12, 67, 78, 79, 81, 94, 122, 165 Hume, D. 173 Husserl, E. 49, 180 Infeld, L. 193 Inostrancev, A. A.
26, 27
Janet, P. 165 Jaroäevskij, M. G. 159 Jasper, H. 143, 150, 151, 154 Jung, K. 65, 139, 140 Kant, I. 23, 173 Kedrov, B. M. 25, 27, 29, 30, 31, 33, 34, 36, 37, 38, 39, 40, 130 Koestler, A. 193 Koffka, K . 21, 146, 199 Köhler, W. 21, 146, 199 Kopnin, P. V. 49, 50, 51 Krogius, A. A. 175, 176, 177, 181, 182, 183 Kugelmann, L. 96 Külpe, O. 177, 179, 181 Lagrange, J.-L. 9, 103 Laplace, P. S. 104 Lapäin, I. I. 28, 131 Leibniz, G. W. 11, 42,165 Lenin, V. I. 7, 34, 164, 180, 181 Leont'ev, A. N. 15 Loffbourrow, G. 107, 156, 157 Losskij, N. 51 Lurija, A. R. 16, 158 Maier, N. 199 Marbe, K. 175 Maritain, J . 45 Marx, K. 17, 96 Matjuäkin, A. M. 20, 21, 178 Mazmanjan, M. A. 9 Mègun, G. 16 Mendeleev, D. I. 25, 27, 28, 29, 30, 37, 130, 131 208
Merlin, V. S. 203 Messer, A. 175, 181 Miller, G. A. 13, 84 Müller, G. E. 174 Nicolle, Ch.
31, 76
Pasteur, L. 76 Pavlov, I. P. 89, 90, 119, 143, 146, 166, 184, 185 Penfield, W. 16, 66, 90, 143, 147, 148,149,150,151,152,153,154 Planck, M. 37, 111 Plato 42, 56, 160, 161, 163, 164, 165, 179, 180, 182 Plechanov, G. W. 30 Poincaré, H. 9, 12, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 84, 86, 87, 99,165,195 Polya, G. 11, 12, 70, 83, 117, 120, 126, 133, 134, 135 Ponomarev, J a . A. 130, 131, 172 Popper, K. 22, 23, 24, 37 Pribram, K. H. 13, 84, 130 Pu§kin, V. N. 105, 117 Pythagoras 135, 137 Ramaöaraka 162 Roberts, I. 66, 148 Rubinätejn, S. L. 10, 90, 92, 93, 94, 113, 115, 119, 120, 121, 122, 170, 172, 178, 179, 181, 183, 188, 189 Ruger, H. A. 120, 132 Rüssel, W. R. 147 Russell, B. 45 Scheler, M. 42, 49 Schelling, F. W. J . 42, 47 Schlick, M. 55 Schopenhauer, A. 47, 176 Schulze, O. 175 Selz, O. 181 Seque, A. 199 Sevarev, P. A. 167
Simonov, P. V. 107, 155, 156 Slavskaja, K. A. 178, 188 Sneznevskij, A. V. 98 Sokrates 104, 161 Sourian, P. 31, 76 Spencer, H. 174 Spinoza, B. 42 Taljan, L. 9 Taylor, J . A. 175 Teplov, B. M. 8, 9, 10 Tichomirov, O. K. 105, 117 Tjuchtin, V. S. 16 Tupele 82
14 NalCad2jan
Uznadze, D. N.
98, 204
Vygotskij, L. S.
20, 21
Watt, H. J . 175, 176, 181 Watts, J . 154 Wertheimer, M. 9, 67, 119, 149, 185, 186, 187, 188, 189, 190, 191, 192, 193, 195, 196, 197, 199 Wundt, W. 139, 174, 176 Zarikov, E. S. 57, 58, 59 Ziehen, Th. 166, 167, 168, 169, 170, 171, 173 Zvorykin, A. 151
Sachregist er
Affekte 90 Agnostizismus 65 Aktualisierung 125, 187 Algorithmus 58 f. Analyse 29ff., 80, 92ff., 97 —.retrospektive 126 ff. Antizipation 35, 61, 68 f., 155, 162 Apperzeption 9, 53 Arbeit, bewußte 25, 76 —, unbewußte 76 —, unterbewußte 85 Assoziation 100,108f., 110,129ff., 139 ff., 166 ff. —, objektive 139 —, subjektive 140 Assoziationsexperiment 139 ff. Assoziationspsychologie 159, 165 ff., 175,179,184 Aufgabenanalyse 92, 127 f., 188 Aufgabenlösung 97 Begabung, mathematische Bewußtes 12 Bewußtsein 29, 75, 128 Bewußtseinsschwelle 123
71
Denkaspekte 13 ff. Denkaspekt, gnoseologischer 16, 24 logischer 13, 15, 23 f. —, kybernetischer 13, 15 f. —, physiologischer 13, 16 —.psychologischer 16 ff., 23 f. Denken 10, 13ff., 19, 51, 91 210
13,
Denken, bewußtes 91 f. —, diskursives 20, 51 - , intuitives 16, 57, 59, 155 —, produktives (schöpferisches) 18f., 83, 143ff., 154ff. —, reflektorisches 19 - , unterbewußtes 91 f., 99, 145ff., 194 Denkdefinition 14 Denkoperationen 15, 52 Denkprozesse 18, 30, 67, 97 f., 143 f. - , unterbewußte 128ff., 141 f. Denkpsychologie 17, 24, 28, 63f., 69, 128, 177, 201 Denkschablone 118 Denktheorie 13 f. Einheit, psychophysische 115 Einsicht (insight) 27 ff., 30, 61, 68, 74, 84f., 93. 102, 122f., 125, 185 f., 189, 191 f., 194 Einstellung 54, 204 Emotionen 151 f., 155ff. Emotionalität, intellektuelle 156, 163 Empfindung 53 Empathie 205 Entdeckung 36, 83, 85, 94, 110, 122 Epilepsie 150 f. Erfahrung 24. 53, 99, 188 Ergänzung, unterbewußte 104 Erinnerung 32, 153
Erkenntnis 53 intuitive 67, 95, 156f. Erkenntnisbarrieren 36 f. Erkenntnisprozeß 7, 23f., 117 Erkenntnistheorie 23, 31, 201 Erlebnisse, ästhetische 83 Erlebnisgedächtnis 149 „Erleuchtung", intuitive 55, 63 ff., 74, 91, 95, 100, 114, 124, 126ff., 145 ff., 165 Eros 163 Erscheinungen, psychische 65 Ermüdung 95 Experiment, introspektives 141 Feld, psychologisches 66, 190 Freudismus 100 Fuchssche Funktionen 72 f., 99 Ganzheit 184 Gedächtnis 28, 90, 100, 113 —, verbales 150 Gedächtnisspuren 149 Gefühl, ästhetisches 80, 83, 198 Gehirn 15, 45, 90, 116, 143 f. Geltungsfragen 23 Gestaltpsychologie 18, 22, 159, 184 ff. Gewohnheit 147 Gleichgewicht, psychisches 21,198 Gnoseologie 15, 41, 51, 54, 57 Grenzbewußtsein 81 Harmonie 71 f., 83, 97 Heuristik 69 Hypochonder 174 Hypothese 33 Idealismus, subjektiver 189 Idee 25, 29, 121, 123 f. Ideenassoziation 167 Induktion 86 Inkubation 20, 80, 82 Integrationsmechanismus 152 Intellekt 43 ff. 14*
Intellektualismus 89, 166, 176 Intention 181 ff. Interpretationsantworten 148 ff. Intuition, geometrische 60 - , intellektuelle 52, 55ff., 70, 92, 165, 182, 202 f. —, irrationalistische 24, 32 —, metaphysische 51, 56 —, physikalische 60 - , sinnliche 51 ff., 202 Intuitivismus 31, 42 ff., 50f., 55, 57, 160 Inspiration 76, 79 Instinkt 43 f. Instrumentalismus 18 Introspektion 49f., 66, 106, 183 Irrationalismus 50 f. Irrationalität 51 Kenntnisvorrat 84 Kollektivist 203 Kombinationen 71, 76, 118, 123 f. Konformist 203 Komplexe 140 Kritik U l f . Kunst 46 Kurzzeitgedächtnis 90
94,
99,
Langzeitgedächtnis 90, 147, 157 Logik 70 —, formale 15 f. Lösungsplan 132 ff. Lösungsprozeß 19, 129 ff. Mechanismen, physiologische 143 ff. Motiv 112 Motivationssphäre 97 Nachkonstruktion, rationale Nervensystem 28 Nerventätigkeit 97 Neuronen 147 Neurophysiologie 16 Notwendigkeit 30
23
211
Ordnung
70f.
Perseveration 174 Phantasie 33 ff. —, schöpferische 61 f., 85 ff. Praxis 46 Prägnanz 190 Problem 63 —, psychophysisches 115 ff. Problemanalyse 188 Problemlösung 18, 64, 74, 90, 92, 95, 102, 113 Problemsituation 19, 21 f., 35, 60, 64, 70, 97, 99, 113, 121, 188f„ 193 Problemwahl 63 Psychoanalyse 91, 101, 177 Psychologie, empirische 22 Psychophysiologie 28, 43 Rationales 51 Rede, innere 59 Reduktion 21 Reflex, unbedingter 146 Relativitätstheorie 196 Reminiszenz 147, 204 Reproduktion 153, 204 Rezeptivität 156 Richtungsgefühl 197 f. Schlaf 27f., 90, 98, 154f„ 157 Schöpfertum 9, 23 f., 30, 33 ff., 63f., 68ff., 76, 83, 118 —, mathematisches 70ff., 85 Schwelle, emotionale 108 f. —, psychologische 12, 106ff. Selbstbeobachtung 66, 83, 100, 103, 110 Selbstbewußtsein 111 ff. Selbsterkenntnis 110 ff. Signalsystem, zweites 21 Skeptizismus, wissenschaftlicher 65 Spannung, emotionale 113 psychische 21, 193
212
Sprache 19, 59 Spiritualismus 193 Stereotyp, dynamischer 146 f. Strukturen, unvollständige 82 Sublimierung 205 Tatsachenfragen 22 f. Tätigkeit 22 —, bewußte 25 Träume, mathematische 82, 90 Transfer 123 Trial-and- Error-Methode 117 Umzentrierung 188 Umwelt 28, 66 Unbewußtes 25, 82, 89ff., 115f., 146 Unterbewußtes 12, 19, 26ff., 29, 30f., 78, 90ff., 115ff., 128ff., 146, 196 Unterbewußtsein 75, 90 Vermutung, 33, 56 Verstand 56 Vorahnung 29, 61 Vorstellung 33 ff., 180 Wahrheit 202 Wahrnehmung 32, 52ff., 60, '91, 99 Wahrscheinlichkeiten 104 f. Wahrscheinlichkeitsalgorithmus 59 Widerspiegelungstheorie 7, 14 Wissen 55 Wissenschaftsentwicklung 22, 34, 39f„ 45, 50, 58, 63 Wissenschaftsgeschichte 25, 63, 184 Wissenschaftswissenschaft 6 4 , 2 0 1 Würzburger Schule 18, 159, 175 ff. Zentrierung 188 Zufall 30ff., 36, 81