Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur: Philosophische Beiträge 9783050065366, 9783050062778

The essays in this volume examine the connection between literature and different forms of insight. The backdrop for the

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German Pages 348 Year 2014

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Table of contents :
Philosophie der Literatur Fragen, Probleme und Perspektiven
I. Literatur, Philosophie und Wissenschaft
Das wissenschaftliche Weltbild und sein narratives Gegenstück
Literatur und Philosophie: Perspektiven einer Überschneidung
Sprache im literarischen Text
II. Der Erkenntniswert der Literatur
Können wir aus Fiktionen lernen?
Der zweifache kognitiveWert des imaginativen Aspekts von fiktionalen Texten
Das Wissen der Literatur und die epistemische Kraft der Imagination
Literatur als Experiment? Überlegungen zur kognitiven Dimension der Dichtung
III. Formen des Wissens in der Literatur
Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis in der Literatur
Literatur und Aussagen über Allgemeines
Fiktion, Behauptung, Zeugnis
Begriffliche Reflexion in der Literatur Eine Proxytypen-Theorie des kognitiven Gehalts der Literatur erläutert anMusils Vollendung der Liebe
IV. Literatur, Gefühl und Identität
Fiktion, Vorstellung und moralische Erkenntnis
Kunst als kognitive Expression
Literatur, Aufmerksamkeit und epistemische Emotionen
Die Kunst der Übertreibung Über den emotional überzeugenden Charakter
Narrative Identitäten Zur Konzeption einer textuellen Konstitution des Selbst
Personenregister
Sachregister
Hinweise zu den Autorinnen und Autoren
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Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur: Philosophische Beiträge
 9783050065366, 9783050062778

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Christoph Demmerling/Íngrid Vendrell Ferran (Hrsg.) Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur

Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderbände

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Christoph Demmerling/Íngrid Vendrell Ferran (Hrsg.)

Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur Philosophische Beiträge

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

ISBN 978-3-05-006277-8 eISBN 978-3-05-006536-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Akademie Verlag GmbH, Berlin Ein Unternehmen von De Gruyter Satz: Frank Hermenau, Kassel Druck & Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Christoph Demmerling/Íngrid Vendrell Ferran Philosophie der Literatur Fragen, Probleme und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

I. Literatur, Philosophie und Wissenschaft Alex Burri Das wissenschaftliche Weltbild und sein narratives Gegenstück . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Christiane Schildknecht Literatur und Philosophie: Perspektiven einer Überschneidung . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Wolfgang Huemer Sprache im literarischen Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

II. Der Erkenntniswert der Literatur Maria E. Reicher Können wir aus Fiktionen lernen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Lisa Jones Der zweifache kognitive Wert des imaginativen Aspekts von fiktionalen Texten . . . 97 Íngrid Vendrell Ferran Das Wissen der Literatur und die epistemische Kraft der Imagination . . . . . . . . . . 119 Christoph Demmerling Literatur als Experiment? Überlegungen zur kognitiven Dimension der Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

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Inhaltsverzeichnis

III. Formen des Wissens in der Literatur Gottfried Gabriel Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Achim Vesper Literatur und Aussagen über Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Tobias Klauk Fiktion, Behauptung, Zeugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Catrin Misselhorn Begriffiche Reflexion in der Literatur Eine Proxytypen-Theorie des kognitiven Gehalts der Literatur erläutert an Musils Vollendung der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

IV. Literatur, Gefühl und Identität Margit Sutrop Fiktion, Vorstellung und moralische Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Sabine A. Döring Kunst als kognitive Expression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Cain Todd Literatur, Aufmerksamkeit und epistemische Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Arto Haapala Die Kunst der Übertreibung Über den emotional überzeugenden Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Dieter Teichert Narrative Identitäten Zur Konzeption einer textuellen Konstitution des Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Personenregister . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Hinweise zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344

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Philosophie der Literatur Fragen, Probleme und Perspektiven1

Die philosophische Auseinandersetzung mit der Dichtung und die Diskussion der Frage nach dem Wert der fiktionalen Literatur für die Erziehung oder Bildung des Menschen reichen weit in die Geschichte der Philosophie zurück. Seit ihren Anfängen, spätestens seit Platon, gibt es eine Debatte darüber, ob die Lektüre von fiktionalen Texten oder der Besuch von Theatern eher nützt oder schadet. Erweitert die Lektüre von Romanen oder Gedichten den Horizont ihrer Leser, vermittelt sie Erkenntnisse, bildet sie in moralischer Hinsicht oder führt sie zu Weltflucht, zu einer Verstrickung in Trugbilder, die Leserinnen und Leser auf Abwege bringen oder sogar in den Wahnsinn treiben kann? Der Frage nach dem Wert der Literatur, und auch derjenigen nach dem Wert der Kunst im Allgemeinen, wird heute im Rahmen einer weitverzweigten und sehr ausdifferenzierten Diskussion nachgegangen, die vielfältige Ebenen in Betracht zieht. An den gegenwärtigen Entwicklungen innerhalb der Philosophie der Literatur sind eine Vielzahl von Disziplinen beteiligt: Ästhetik, Ethik, Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie, Philosophie des Geistes und Ontologie, um nur die wichtigsten zu nennen. Bereits seit längerem ist die Philosophie der Literatur mehr als nur ein isoliertes Spezialgebiet. Vielmehr kommen in ihr die Ergebnisse anderer Disziplinen zur Anwendung, umgekehrt strahlen ihre Fragestellungen auch auf die verschiedenen Kerndisziplinen der Philosophie zurück. Zwei Beispiele mögen an dieser Stelle genügen. (1) Die Diskussion um das so genannte Paradox der Fiktion,2 mit dem man sich auf den Umstand bezieht, dass 1

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Die Herausgeber freuen sich, dass der Band in der Reihe der Sonderbände der Deutschen Zeitschrift für Philosophie erscheinen kann und möchten insbesondere Mischka Dammaschke für seine Unterstützung und Hilfe bei der Realisierung des Projektes danken. Dank gebührt ferner Malte Dreyer für hilfreiche Kommentare zu dem Vorhaben, Hannah Söffing und Jakob Preisenberger für ihre Hilfen bei der Vereinheitlichung der Manuskripte und die Übernahme der Korrekturarbeit. Den Autoren sei nicht zuletzt nicht nur für ihre Beiträge gedankt, sondern auch dafür, dass sie sich diszipliniert unserer Zeitplanung unterworfen haben, so dass der Band fristgerecht erscheinen konnte. Die Debatte um das „Paradox der Fiktion“ begann 1975 im Anschluss an Colin Radfords Veröffentlichung How Can We Be Moved by the Fate of Anna Karenina und eine entsprechende Replik

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Menschen bei der Lektüre fiktionaler Werke emotional auf Sachverhalte oder Personen reagieren, die in der Wirklichkeit nicht existieren, verdankt sich einer eingehenden Verständigung über den Emotionsbegriff in der Philosophie des Geistes und phänomenologisch informierten Anthropologie, hat aber ihrerseits dazu geführt, die Rolle von Überzeugungen, die sich auf die Existenz von Sachverhalten und Personen beziehen, auch im allgemeineren Zusammenhang der philosophischen Emotionsforschung eingehend zu untersuchen. (2) Die Debatte über den kognitiven Wert der Literatur, die im Zentrum der Beiträge dieses Bandes steht, verdankt erkenntnistheoretischen Untersuchungen zum Wahrheits- und Wissensbegriff wie auch sprachphilosophischen Arbeiten zum Status fiktionaler Rede wichtige Impulse, beeinflusst aber nunmehr auch diese Diskussionen, indem sie deutlich macht, dass man mit allzu geradlinigen, um nicht zu sagen: allzu einfachen, Auffassungen von Wahrheit, Wissen und behauptender Rede auch in den Kerndisziplinen der Philosophie nicht besonders weit kommt. So betrachtet, lässt sich die Philosophie der Literatur als ein Prüfstein verwenden, der über die Tragfähigkeit der im Zusammenhang mit dem philosophischen Kerngeschäft entwickelten Begriffe und die Relevanz der dort geführten Debatten Auskunft gibt. Auch wenn sich die Beiträge dieses Bandes in erster Linie mit auf Literatur bezogenen erkenntnistheoretischen Fragen beschäftigen, sollte man sie nicht so verstehen, als werde Literatur lediglich zur Illustration bestimmter Thesen oder zur Diskussion von Grenzfällen innerhalb bestimmter Theorien herangezogen. Im Gegenteil: Das Ziel des Bandes besteht darin, das Phänomen der Literatur auch in seinem Eigensinn ernst zu nehmen und es aus einer philosophischen Perspektive zu analysieren. Die Fragen und Probleme innerhalb des Themenfeldes einer Philosophie der Literatur sind vielschichtig. Selbst wenn man den Blick lediglich auf den vergleichsweise kleinen Ausschnitt von im allerweitesten Sinne dem analytischen Stil des Philosophierens verpflichtete Arbeiten richtet, auf die sich die Autorinnen und Autoren dieses Bandes in erster Linie beziehen, lassen sich die verschiedenen Konzeptionen und Optionen in der Debatte kaum noch überschauen. Die Unübersichtlichkeit wird noch größer, wenn man poststrukturalistische und dekonstruktive Überlegungen zur Thematik mit in die Betrachtung einbezieht oder sich auf historisch auch für die Gegenwartsdiskussion maßgebliche Entwürfe besinnt. Auch wenn die Beiträge des vorliegenden Bandes nicht dieses weite Feld bestellen, von historischen Vergewisserungen absehen, dekonstruktive Konzeptionen ausklammern und nicht einmal die Diskussion innerhalb der im weitesten Sinne analytischen Philosophie umfassend berücksichtigen, sondern sich primär mit der Frage nach dem kognitiven Wert der Literatur in ihren unterschiedlichen Dimensionen beschäftigen, seien einleitend einige der aus unserer Sicht maßgeblichen Probleme des Themenfeldes vergegenwärtigt, um den größeren Kontext zu präsentieren, in den die folgenden Untersuchungen gehören.

Michael Westons (vgl. Radford 1975, Weston 1975). Radfords provokative These besagt, dass die Gefühle des Fiktionsrezipienten in Bezug auf das Schicksal Anna Kareninas und auf fiktionale Figuren im Allgemeinen „irrational“ sind, weil der Leser eines Romans nicht von der Existenz des Gegenstandes überzeugt ist und weil er nicht zum Handeln veranlasst wird. Die Reaktionen und Einwände auf Radfords These werden bis heute in immer wieder neuen Varianten diskutiert.

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Eine erste Frage, die sich umgehend stellt, sobald man in philosophischer Perspektive über Literatur nachzudenken beginnt, lautet: Was eigentlich ist Literatur? Es scheint weitgehend Einigkeit darüber zu bestehen, dass Literatur sich nicht einfach durch die Angabe von notwendigen und hinreichenden Bedingungen definieren lässt. Die Gruppe der literarischen Werke ist außerordentlich heterogen und weist zum Teil unterschiedliche Merkmale auf. Die einzelnen Werke sind allenfalls – und auch dies ist strittig – durch Familienähnlichkeiten miteinander verbunden. Hinzu kommt, dass der Literaturbegriff im allgemeinen und auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch uneinheitlich gebraucht wird. Das Spektrum der Verwendungen reicht von einem Verständnis, dem zufolge fast alle Arten von schriftlichen Texten als Literatur gelten (zum Beispiel in Wendungen wie „Literatur zum Thema“, oder Ausdrücken wie „Sekundärliteratur“) über die Einschränkung auf (zumeist in einer im weitesten Sinne ästhetischen Perspektive) besonders gelungene Texte unterschiedlicher, nicht-fiktionaler wie auch fiktionaler Art (Schriften von Leibniz und Werke von Goethe, die Arbeiten von Freud und Musil gehören beispielsweise dazu) bis hin zu der noch weiter gehenderen Einschränkung auf fiktionale Texte, die im Sinne der Literaturgeschichte und des Literaturbetriebs der Gegenwart als Literatur gelten und in einen Kanon eingehen (Goethe, Musil und andere). Während der erste Begriff weitgehend deskriptiv ist, weisen die beiden andern Verwendungen normative Komponenten auf. Ästhetische und institutionelle Kriterien sind in die Charakterisierung des Literarischen in diesem Sinne eingeflossen. Häufiger wurde versucht, vor allem im Rahmen von im weitesten Sinne formalistischen Ansätzen, literarische Texte auf der Grundlage besonderer Weisen des Sprachgebrauchs und unter Absehung von deren Inhalt von anderen Texten zu unterscheiden. Die Schwierigkeit solcher Bestimmungsversuche liegt darin, dass sie keine trennscharfe Unterscheidung zwischen den vorhin genannten unterschiedlichen Verwendungen des Literaturbegriffs erlauben. Es scheint keine (in formaler oder semantischer Hinsicht) relevanten intrinsischen Merkmale von Literatur zu geben, aufgrund derer sich Literatur und Nicht-Literatur eindeutig voneinander abgrenzen ließen. Aufgrund der Schwierigkeiten Literatur zu definieren und Kriterien für ihre Bestimmung festzulegen ist eine institutionelle Auffassung von Literatur, wie sie Peter Lamarque und Stein H. Olsen vorgeschlagen haben, zu einer in den letzten Jahren vieldiskutierten Konzeption geworden. Literatur wird in diesem Zusammenhang als eine soziale Praxis verstanden, die Autoren, Texte und Leser umfasst.3 Dieser Vorschlag führt nicht nur aus den Schwierigkeiten formalistischer Definitionsversuche heraus, er vermeidet gleichzeitig die Engführungen von produktions- wie auch rezeptionsästhetischen Ansätzen, indem gerade die Relation zwischen Autoren und ihren Absichten, Texten und ihrer Gestaltung sowie Lesern und ihren Erwartungshaltungen eingehend vermessen wird. Dem literarischen Text liegen Autorintentionen zugrunde, rezipiert werden die Texte auf der Grundlage von Konventionen, die sich auf der Basis eines historisch gewachsenen und sozial bestätigten Korpus ergeben und regeln, wie Texte verfasst sein sollten, wie sie gelesen und bewertet werden sollten, um als Literatur zu gelten. Die Frage, wie diese Konventionen im Einzelnen aussehen, wie Autoren und Leser von ihnen Gebrauch machen, erfordert freilich Untersuchungen eigener Art 3

Lamarque/Olsen 1994, 35ff., Lamarque 2009, v. a. 57ff.

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und versteht sich mitnichten von selbst. Die wichtigste Einsicht des institutionellen Ansatzes besteht vorderhand darin, die Literatur in erster Linie (wie zum Beispiel das Geld und andere soziale Einrichtungen) als eine soziale Praxis zu verstehen, in die unterschiedliche Aspekte einfließen. Mit einer solchen Konzeption sind noch keine weitreichenden substantiellen Vorentscheidungen getroffen, aber der Rahmen ist vorgegeben, in dem es literarische Texte, den Umgang mit ihnen und ihren Wert geben kann. Eine in der philosophischen Diskussion über die Literatur immer wieder von Neuem diskutierte Frage betrifft den Begriff der Fiktion. Wurde er doch immer wieder verwendet, um die Literatur im Sinne von zumeist auf ästhetischer Ebene ansprechend gestalteten Texten im Allgemeinen (wozu dann beispielsweise neben Erzählungen und Romanen auch Essays, journalistische Texte, ja sogar wissenschaftliche Abhandlungen gehören können) von der Literatur im Sinne der Literaturgeschichte und des Literaturbetriebs zu unterscheiden, deren Interesse ja häufig und in erster Linie – Ausnahmen bestätigen die Regel – fiktionalen Texten gilt. Doch was heißt es, dass ein Text „fiktional“ ist? John R. Searle hat in einem vieldiskutierten Aufsatz die fiktionale Rede dadurch charakterisiert, dass die üblicherweise für den Vollzug illokutionärer Akte geltenden Regeln außer Kraft gesetzt werden.4 Die mit dem Vollzug von Sprechakten im Normalfall verbundenen Ansprüche werden nicht wirklich erhoben, sondern es wird lediglich vorgegeben, sie zu erheben. Autoren fiktionaler Texte, so muss man Searle verstehen, treffen keine Feststellungen, sondern sie geben lediglich vor, Feststellungen zu treffen. Die Behauptungen in einem fiktionalen Text erheben nicht den Anspruch wahr zu sein. Die in ihnen verwendeten Ausdrücke beziehen sich nicht auf Gegenstände in der Wirklichkeit. Analoges gilt für andere Typen von illokutionären Akten als Behauptungen: Versprechen auf der Theaterbühne sind keine wirklichen Versprechen, die Trauung in einem Roman führt nicht zu einer Eintragung beim Standesamt. In diesem Zusammenhang charakterisiert Searle das Verhältnis des fiktionalen Diskurses zum alltäglichen Diskurs im Anschluss an Austin als „parasitär“. Die Verwendung dieses Ausdrucks scheint eine Abwertung des fiktionalen Diskurses zu implizieren, die es zu vermeiden gilt. Searles Überlegungen haben der neueren Debatte über den Begriff der Fiktion zweifellos wichtige Impulse gegeben, auch wenn sie in verschiedenen Hinsichten korrigiert worden sind und Alternativen zu dieser Konzeption bestehen.5 So wurde insbesondere Searles These kritisiert, dass es keinen genuinen illokutionären Akt der fiktionalen Rede gibt, sondern die Eigenart fiktionaler Rede gerade darin besteht, dass die für illokutionäre Akte üblicherweise geltenden Regeln außer Kraft gesetzt werden. Demgegenüber ist geltend gemacht worden, dass es genuine fiktionale Sprechakte gibt: Diese müssen als Aufforderungen begriffen werden, etwas zu glauben oder so zu tun, als ob etwas der Fall sei. Damit werden fiktionale Texte nicht nur mit den Intentionen ihrer Urheber in Verbindung gebracht, sondern die Rolle des Publikums bzw. der Leserinnen und Leser wird ebenfalls eingehend gewürdigt. Leserinnen werden eingeladen zu glauben, dass ihnen eine wahre Geschichte erzählt wird. Institutionel4 5

Searle 1975. Vgl. z. B. bereits Gabriel 1975, ferner: Currie 1990, v.a. 1–51.

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le Ansätze der Literatur können an die sprechakttheoretisch inspirierten Überlegungen und deren Betonung der Rolle von Produzenten und Rezipienten von Literatur sowie der in diesem Zusammenhang einschlägigen Konventionen und Intentionen anschließen. Schließlich finden sich Analysen, die den Fiktionsbegriff aus einem sprachphilosophischen, insbesondere sprechakttheoretischen Rahmen herauslösen, um den verschiedenen Objekten des Fingierens Raum zu geben und unterschiedliche Typen von Fiktion berücksichtigen zu können wie etwa den Modus des So-tun-als-ob im Kinderspiel.6 Fiktionale Werke, wobei sich der Blick nicht nur auf literarische Werke richtet, sondern auch Werke der bildenden Kunst, aber ebenfalls Kinderspielzeug, Computerspiele und ähnliche Gegenstände mit in die Betrachtung einbezieht, werden dieser Konzeption zufolge als Requisiten begriffen, die zu einem Prätentionsspiel einladen. Man nimmt sie zum Anlass so zu tun, als ob dieses oder jenes der Fall sei. Fiktionen gelten als etwas, was insbesondere unsere imaginativen Fähigkeiten, unsere Einbildungskraft anspricht und mit unserem Realitätssinn spielt. Diese sprachtheoretischen Analysen werden in der aktuellen Diskussion durch Überlegungen ontologischer Art ergänzt. Wie ist der ontologische Status fiktionaler Gegenstände einzuschätzen, auf die man sich in der Literatur bezieht? Sofern über die betreffenden Gegenstände gesprochen wird, kommt ihnen eine bestimmte Art von Realität zu, auch wenn diese von der Realität der Objekte in der Außenwelt unterschieden werden muss. In Bezug auf fiktionale Entitäten in der Literatur lassen sich im Prinzip zwei gegensätzliche Haltungen einnehmen.7 Entweder man behauptet, dass fiktionalen Entitäten Realität zukommt (Realismus) oder es wird angenommen, dass sie irreal sind (Irrealismus). Irrealistische Positionen lassen sich leicht charakterisieren. Sie vertreten die allgemeine Annahme, dass fiktionale Entitäten als solche nicht existieren. Der Realismus hingegen tritt in verschiedenen Lesarten auf. Die erste Variante wird als „Meinongianismus“ bezeichnet. Anhänger Meinongs behaupten, dass es Dinge gibt, die es nicht gibt. Fiktionale Entitäten wären dann als reale und aktuelle, wenn auch als nicht existente Gegenstände aufzufassen. Die Idee, die hinter dieser Position steckt, lässt sich dahingehend explizieren, dass jede Kombination von Eigenschaften als ein Objekt verstanden wird und dass einigen dieser Objekte die Eigenschaft der Nichtexistenz zukommt. Der zweiten Variante zufolge werden fiktionale Entitäten als mögliche Entitäten aufgefasst. Fiktionale Figuren sind dann als Entitäten anzusehen, welche in möglichen Welten existieren. Schließlich gibt es die Auffassung, dass fiktionale Entitäten abstrakt sind, entweder weil sie als abstrakte Entitäten der Literaturwissenschaft fungieren, so wie Zahlen abstrakte Entitäten der Mathematik sind, oder weil es sich um menschliche Artefakte handelt. Im Allgemeinen lässt sich der ontologische Diskurs über fiktionale Gegenstände mit zwei gravierenden Einwänden konfrontieren. Zum einen ist es schwierig, ontologische Merkmale fiktionaler Charaktere zu benennen, die für alle Formen von literarischer Fiktion gültig sind. Zum anderen zwingt der ontologische Diskurs dazu, fiktionale Entitäten in irgendeiner Form als nicht existierend zu betrachten, was der Intuition widerspricht, dass fiktionale Entitäten als Teile der Welt des Lesers angesehen werden können. Trotz dieser Schwierigkeiten tragen 6 7

Walton 1990. Die Skizze folgt Sainsbury 2010.

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ontologische Überlegungen dazu bei, das Fiktionsphänomen und seine Verbindung mit sprachtheoretischen, epistemologischen und psychologischen Fragen näher zu bestimmen. Aus dem Umstand, dass viele literarische Texte fiktional sind, folgern manche Autoren, dass Eigennamen in literarischen Texten sich nicht auf reale Gegenstände beziehen, die Texte keinen Bezug zur realen Welt aufweisen und dass Wahrheit daher in der Literatur keine bzw. allenfalls eine untergeordnete oder zufällige Rolle spielt. Wenn es zu den wesentlichen Dimensionen der fiktionalen Literatur gehört, keine Wahrheitsansprüche zu erheben, dann stellt sich die Frage, in welchem Sinne diese Art von Literatur überhaupt Erkenntnisse vermitteln kann. Können wir etwas aus der Literatur lernen, wenn mit Sätzen in literarischen Werken keine Behauptungen aufgestellt werden und ihre Ausdrücke nicht referieren? Oder macht nicht bereits der fiktionale Charakter der betreffenden Texte deutlich, dass ihre Funktion eine ganz andere sein muss, und Erkenntnis bzw. Wissen als Lektüreziele keine Rolle, zumindest keine konstitutive Rolle spielen können? Damit sind wir beim Thema dieses Bandes und den Fragen angelangt, welche in den meisten der vorliegenden Beiträge verfolgt werden. Doch bleiben wir zunächst bei der Frage nach dem Verhältnis von Fiktion und Wahrheit, um von dort aus weitere für die Gegenwartsdebatte relevante Begriffe in ihrer Bedeutung für das Diskussionsfeld kurz zu skizzieren. Bei der Antwort auf die Frage, ob und in welchem Sinne fiktionale literarische Werke Wahrheit enthalten können, hängt alles davon ab, wie eng oder weit man den Begriff der Wahrheit gebraucht. Einem kanonischen Verständnis zufolge sind eine Überzeugung oder eine Behauptung genau dann wahr, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Wahre Beschreibungen charakterisieren Gegenstände so wie sie tatsächlich beschaffen sind; sie bringen Sachverhalte zur Darstellung, die tatsächlich bestehen. Nicht nur wissenschaftliche Theorien und Beschreibungen von Weltausschnitten sowie journalistische Darstellungen treten in der Regel mit diesem Anspruch auf. Wahrheitsansprüche werden ebenfalls mit Behauptungssätzen in der alltäglichen Rede verknüpft. Für fiktionale Texte gilt dies nicht, jedenfalls nicht in einem direkten Sinne. Gelegentlich werden daher Verständnisse des Wahrheitsbegriffs bemüht, die über den Begriff der Wahrheit in seinem kanonischen Sinne hinausgehen. Fiktionale literarische Texte gelten dann als wahr im Sinne von „wahrhaftig“, „treffend“ oder „vorbildlich“ und mit Hilfe solcher Prädikate wird zum Ausdruck gebracht, dass die Auseinandersetzung mit literarischen Texten in einem kognitiven Sinn bereichernd sein kann, sie unsere Begriffe erweitert oder unsere Sicht der Welt vervollständigt, auch wenn ihre Wahrheit anders verstanden werden muss als die Wahrheit wissenschaftlicher oder journalistischer Texte. Die Diskussionen drehen sich aber auch um die Frage, ob der Wahrheitsbegriff überhaupt der richtige Begriff ist, um dieses Merkmal der Literatur zu erfassen, oder ob nicht andere Begriffe geeigneter sind, die kognitive Dimension literarischer Texte zu charakterisieren. Wer sich am Wahrheitsbegriff der Wissenschaften orientiert, wird die These verneinen, dass literarische Texte Wahrheit enthalten. Aber auch unter den Autorinnen und Autoren, die davon ausgehen, dass der Wahrheit eine zentrale Rolle für literarische Texte und ihre Produktion und Rezeption zukommt, gibt es eine Diskussion darüber, in welcher Weise Wahrheit zur Darstellung gelangt und welche Formen des Wissens in der oder durch die Literatur vermittelt werden oder sogar, inwiefern Literatur ihrerseits als

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eine besondere Form des Wissens zu betrachten ist. Enthält die Literatur direkt in Form von Aussagesätzen ausgedrückte Wahrheiten, oder müssen diese erst durch Interpretation ermittelt werden? Handelt es sich überhaupt um ein mit Hilfe von Aussagesätzen ausgedrücktes oder ausdrückbares Wissen, um so genanntes propositionales Wissen, oder aber ist nicht gerade die Literatur auf besondere Weise dazu in der Lage, nicht-propositionales Wissen in Form des praktischen oder phänomenalen Wissens darzustellen? Die Antworten auf diese Fragen fallen ganz unterschiedlich aus. Ein weiterer Begriff, der neben den Begriffen der Wahrheit und des Wissens gerade auch bezogen auf fiktionale literarische Texte zu einer Debatte herausfordert und daher innerhalb der philosophischen Diskussion über Literatur ebenfalls eine wichtige Rolle spielt, ist derjenige des Sinns bzw. der Bedeutung eines literarischen Textes. Fiktionale literarische Texte gelten im Allgemeinen als Gebilde, die vielschichtige Sinndimensionen aufweisen und der Interpretation bedürfen. Wer einen literarischen Text interpretiert, der sucht nach Antworten auf die Frage, worum es in einem Text geht. Leitend ist dabei die Idee, dass der Gehalt eines Textes sich nicht allein durch eine oberflächliche Lektüre erschließt, sondern es einer Form der Auseinandersetzung bedarf, welche die unterschiedlichen und mitunter nicht offenkundigen Sinndimensionen eines Textes freilegt. Texte erzählen zwar meistens eine Geschichte, die sich als Textgegenstand ansehen lässt, aber die Geschichte, die in bzw. von einem Text erzählt wird, ist nicht notwendigerweise identisch mit seinem Thema. Im Gegenteil: In der Regel müssen Gegenstand und Thema eines Textes voneinander unterschieden werden, wobei die Charakterisierung und Explikation des Textthemas Gegenstand der Textinterpretation und Literaturkritik ist.8 Ein Beispiel mag in diesem Zusammenhang dienlich sein. Goethes Faust erzählt die Geschichte des Wissenschaftlers und Gelehrten Heinrich Faust, seiner Unzufriedenheit und Verzweiflung über ein misslungenes Leben, die ihn zu einem Pakt mit Mephisto führt. Er wird in einen jungen Mann zurückverwandelt und beginnt eine Liebschaft mit Margarete. Das ist der Gegenstand des Textes, das Thema des Textes lässt sich durch verschiedene Interpretationen auf ganz unterschiedliche Weise bestimmen. Wissenschaftskritische Interpretationen sind ebenso möglich wie Lektüren psychoanalytischer und poststrukturalistischer Provenienz. Im Zusammenhang mit der Interpretation literarischer Texte, welche auf eine Bestimmung ihrer thematischen Gehalte zielen, stellt sich die Frage, welchen Komponenten jeweils eine besondere Bedeutung zuzuerkennen ist, denn es scheint nicht besonders sinnvoll zu sein, sich lediglich auf einen Aspekt, beispielsweise auf Lesehaltungen zu stützen. Autorintentionen, Gestaltungsmerkmale des Textes, seine in gattungsgeschichtlicher Hinsicht relevanten Eigenschaften, sind ebenfalls miteinzubeziehen, je nach Zweck, der mit der Interpretation verfolgt wird. In der Geschichte von Literaturwissenschaft und Literaturkritik wurden zum Teil je nach theoretischen Moden ganz unterschiedliche Zugänge und Methoden favorisiert. Neben der Frage nach den Kriterien für eine angemessene Interpretation stehen in diesem Zusammenhang eine Reihe weiterer Probleme auf der Agenda einer Philosophie der Literatur: Worin sind die allgemeinen Ziele von Interpretationen zu suchen? Können Interpretationen im Wortsinn wahr sein oder haben sie lediglich als mehr oder weniger plausibel zu gelten? Wie verhalten sich Sinn und Bedeutung eines Textes zu seiner Interpretation? 8

Zur Unterscheidung von Gegenstand (subject) und Thema (theme) vgl. Lamarque 2009, 150f.

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Sind Interpretationen konstitutiv für die Bedeutung eines literarischen Textes? Oder besteht Bedeutung unabhängig von diesen? Wie verhält sich die Bedeutung eines Textes zur Bedeutung der Wörter und Sätze, die in ihm vorkommen? Lässt sich überhaupt sinnvoll von einer Textbedeutung sprechen? Erfordert tatsächlich jedes Erfassen von Bedeutungen in einem literarischen Text eine Interpretation oder lassen sich diese auch auf dem Wege eines spontanen Verstehens erfassen? Dies sind nur einige der vielfältigen Probleme, die sich in der Philosophie der Literatur im Zusammenhang mit dem Begriff der Bedeutung stellen. „Literatur“, „Fiktion“, „Wahrheit“, „Wissen“, „Bedeutung“ und „Interpretation“, so lauteten die Begriffe, deren Stellenwert im Rahmen einer Philosophie der Literatur kurz charakterisiert wurde. Die Auseinandersetzung mit der Literatur, und dies gilt auch für die philosophische Auseinandersetzung kommt ohne Werturteile und folglich – dies ist ein weiterer Begriff, der in den neueren Debatten mehr und mehr eine Rolle spielt – ohne den Begriff des Wertes nicht aus.9 Wertfragen stellen sich auf allen Ebenen der Auseinandersetzung mit literarischen Texten und sie betreffen nicht nur deren kognitive Dimension, auf die sich die Beiträge dieses Bandes konzentrieren. Wertfragen können Teile aus Texten, ganze Texte, aber auch die Literatur als solche betreffen. Einzelheiten in einem Roman oder Gedicht werden gelobt oder kritisiert, die sprachliche Gestaltung oder Handlungsführung gilt als stimmig, als gelungen oder manieriert, die Psychologie mancher Charaktere wirkt glaubwürdig und auf irritierende Weise lebensnah, andere Charaktere machen einen holzschnittartigen und schematischen Eindruck. Manche Bücher gelten als Zeugnisse einer beeindruckenden Kulturhöhe, als Werke, in denen sich die Grundzüge einer Epoche verdichten und deren Lektüre zu einer Transformation des eigenen Selbst- und Weltverständnisses führt. Oft wird diesen Werken ein großer moralischer Ernst und Weitblick bescheinigt. Anderes erscheint demgegenüber blass und nichtig. Über die Frage nach dem ästhetischen oder moralischen Wert einzelner Passagen oder Werke hinaus lässt sich fragen, aus welchem Grund man sich überhaupt mit Literatur beschäftigen sollte. Auf der Grundlage welcher Kriterien lässt sich der Wert des Lesens fiktionaler Werke überhaupt bemessen? Müssen sie bilden oder zur Ausbildung und Erweiterung eines moralischen Sinns beitragen? Kann nicht auch Unterhaltung wertvoll sein? Was bereits im Zusammenhang mit den anderen hier angesprochenen und zur Philosophie der Literatur gehörenden Fragen zu bemerken war, gilt auch mit Blick auf das Thema des Werts der Literatur: es ist nahezu unüberschaubar. Im Zentrum der Beiträge dieses Bandes stehen die Begriffe der Wahrheit, des Wissens und der Erkenntnis in ihrem Verhältnis zur fiktionalen Literatur. Sie werfen im Wesentlichen die Frage nach dem kognitiven Wert der Literatur auf, die sie in unterschiedlichen Richtungen verfolgen. Was lernen wir aus der Literatur? Auf welche Weise versorgt uns die Literatur mit Wissen? Gibt es überhaupt Kriterien auf deren Grundlage es gerechtfertigt werden kann, die Literatur als eine Quelle des Wissens anzusehen? Den Hintergrund der Untersuchungen bilden neuere philosophische Auseinandersetzungen über den Wissensbegriff und den Status fiktionaler Texte. Zu denken ist zum Beispiel an die Unterscheidung zwischen propositionalem und nicht-propositionalem Wissen sowie an die vielschichtige Diskussion zum Verhältnis von Fiktion und Wahrheit. Ein maßgeb9

Vgl. Lamarque 2009, 255ff.

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liches Ziel des Bandes besteht darin, das in der Debatte über den kognitiven Wert der Literatur und angrenzenden Gebieten verwendete Vokabular zu präzisieren und weiterzuentwickeln. Der erste Teil des Bandes enthält Beiträge, welche die Frage nach dem Verhältnis zwischen literarischen und anderen Weisen menschlicher Selbstverständigung diskutieren. Wie verhalten sich die Selbst- und Weltbeschreibungen zueinander, die Literatur und Wissenschaft liefern? Literatur und Wissenschaft bzw. Philosophie werden gelegentlich als komplementäre Phänomene angesehen, manchmal auch als solche, die sich ausschließen. Folgt man Alex Burri, dann übernimmt die Literatur im Rahmen eines aufgeklärten Weltbildes eine mythischen und religiösen Systemen vergleichbare Funktion: sie stiftet Sinn und verhilft zur Orientierung. Das Weltbild der Naturwissenschaften, welches sich in der Neuzeit durchzusetzen beginnt, ist nach Burri durch zwei Defizite gekennzeichnet. Charakteristisch für dieses Weltbild ist eine inhaltliche Offenheit hinsichtlich seiner Ausgangspunkte; anders als narrative Weltbilder mythischen oder religiösen Zuschnitts enthält es keine Dogmen, liefert keine fertigen Antworten und erzeugt so ein Gefühl der „Unbehaustheit“. Charakteristisch für es ist zudem eine inhaltliche Unverbindlichkeit, die sich aus dem provisorischen Charakter aller wissenschaftlichen Theorien ergibt. Die Ergebnisse der Wissenschaften stehen immer wieder aufs Neue zur Disposition. Mit Hilfe einer Rekonstruktion von Descartes’ Metaphysik der Natur macht Burri deutlich, dass sich die Welt im Rahmen neuzeitlicher Entwicklungen in ein pythagoreisches Universum verwandelt hat, in dem genau diejenigen Eigenschaften, die Menschen wichtig sind, nicht mehr vorkommen. Außerdem werde das Subjekt aus der Welt verbannt. Aufgeklärte Weltauffassungen lassen Naturgesetze an die Stelle handelnder Akteure treten. Unser Selbstbild bleibe jedoch mythologisch, macht Burri geltend, insofern wir uns als Handelnde verstünden und Geschichten erzählten, die unsere Identität betreffen. „Narrativität“ lautet eines der in diesem Zusammenhang einschlägigen Stichworte. Burri sieht Möglichkeiten, das wissenschaftliche Weltbild und sein narratives Gegenstück miteinander zu versöhnen. Er knüpft an Überlegungen zum anomalen Monismus Davidsons an: Überzeugungen und Wünsche fallen, sofern sie handlungswirksam sind, unter Kausalgesetze. Eine Kausalkette beginnt in diesem Fall allerdings nicht mit einer bzw. ausgehend von einer Person. Das Ich bzw. die Personen – so Burri – treten dadurch in die Welt der Naturwissenschaften ein, dass die handlungswirksamen Wünsche und Überzeugungen immer jemandem zugehören. In diesem Sinne lässt sich ein narratives Selbstverständnis mit den Voraussetzungen der naturwissenschaftlichen Weltsicht vereinbaren. Christiane Schildknechts Beitrag unterscheidet im Zusammenhang mit dem weiten Feld, welches die Frage nach dem Verhältnis zwischen Philosophie und Literatur darstellt, drei Themengebiete: die Philosophie in der Literatur, die Philosophie als Literatur sowie die Philosophie der Literatur. Ihr Analysen gipfeln in einer genauen Verhältnisbestimmung von Philosophie und Literatur, wobei die Unterscheidung zwischen einem propositionalen Satzwissen und nicht-propositionalen Formen der Erkenntnis, die sich durch Merkmale wie Adäquatheit und Nicht-Begrifflichkeit kennzeichnen lassen, im Hintergrund der Überlegungen steht. Die Grenzziehung zwischen Philosophie und Literatur, so Schildknecht, ist epistemisch geprägt. Die philosophische Rolle, die man der Literatur zuzubilligen bereit sei, hänge auf das Engste mit den jeweils verwendeten Be-

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griffen des Wissens und der Erkenntnis zusammen. Der Beitrag skizziert die Rolle der nicht-propositionalen Erkenntnis in der Literatur, ohne auszuschließen, dass Literatur auch in propositionaler Form Wissen enthalten und vermitteln kann. Er zieht Linien vom Unsagbarkeitstopos im Anschluss an Hofmannsthal bis hin zur Diskussion über phänomenales Bewusstsein in der Philosophie des Geistes. Wenn man unterstellt, dass das phänomenale Bewusstsein einen Stolperstein für alle im weitesten Sinne materialistischen Theorien des Geistes darstellt, sofern es sich nicht in der Sprache der Naturwissenschaft und dem daran angelehnten Vokabular zur Darstellung bringen lässt, lässt sich fragen: Kann die Literatur das phänomenale Erleben erfassen? Schildknechts Antwort ist differenziert. Wenn der qualitative Gehalt der phänomenalen Erfahrung nicht-begrifflich ist, wenn er untrennbar mit der Perspektive der Ersten Person verbunden ist, dann muss man konstatieren, dass Erlebnisse und Emotionen in fiktionalen bzw. narrativen Texten zwar dargestellt, aber nicht erlebt bzw. noch einmal erlebt werden. Im Text, so Schildknechts These, gibt es kein Erleben. Die imaginative Partizipation an einem dargestellten Geschehen bedarf der reflektierenden Urteilskraft und stellt keine Form der direkten epistemischen Bekanntschaft dar. Der Beitrag von Wolfgang Huemer analysiert die Rolle der Sprache in der Literatur und verteidigt die Eigenständigkeit des Literarischen gegenüber etwaigen Vereinnahmungen durch philosophische Disziplinen, indem er daran erinnert, dass literarische Texte sprachliche Kunstwerke sind. Er wendet sich gegen die in der zeitgenössischen Philosophie der Literatur weit verbreitete Tendenz, Literatur als (abwegigen) Sonderfall des Sprachgebrauchs zu verstehen und versucht, dem ein Verständnis von Literatur als regelgeleiteter Form der Kommunikation entgegen zu setzen. In der Sprache der Literatur ist nicht, wie manchmal argumentiert wird, die Verbindung von Wörtern und Welt aufgehoben, vielmehr bestimmen die intersubjektiv gültigen Regeln für diese Form der Kommunikation, wie sich ein literarischer Text auf die Welt bezieht und welche Aussage er über welche Aspekte der Realität machen kann. Ein referenzielles Modell der Sprache reicht für die Analyse der Literatur nicht aus. Die Skepsis gegenüber dem kognitiven Wert der Literatur, so macht Huemer geltend, verdankt sich diesem Modell, da es dazu einlade, den Wert von Texten auf das Vorhandensein von wahren Propositionen zu beschränken. Es gibt jedoch Fälle, in denen literarische Texte die Realität trefflicher charakterisieren als eine wissenschaftliche Abhandlung. Statt den kognitiven Wert der Literatur zu bestreiten, sollten derartige Fälle zum Anlass genommen werden, über die philosophische leitende Konzeption dieses Wertes nachzudenken und diese Konzeption ggf. zu verändern. Ein besseres philosophisches Verständnis von Literatur setzt zudem voraus, auch ihre ästhetischen Aspekte eingehend zu würdigen. Im zweiten Teil dieses Buches finden sich Aufsätze, welche die verschiedenen Argumente, die in der Diskussion um die Frage nach dem kognitiven Wert der Literatur eine Rolle spielen, einer eingehenden Prüfung unterziehen. Sie alle fragen in einer allgemeineren Perspektive danach, ob und inwieweit bzw. auf welche Weise die Literatur Wissen und Erkenntnis vermittelt. Maria E. Reicher bejaht die Frage, ob wir aus fiktionalen Texten lernen können, auf offensive Weise. Sie verteidigt die Auffassung, dass fiktionale Texte neben nicht-propositionalen Erkenntnissen und speziellen Arten des propositionalen Wissens (u. a. des moralischen Wissens) gewöhnliches mit Hilfe von Propositionen ausdrückbares und ausgedrücktes Weltwissen enthalten, indem sie sich mit

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verschiedenen Einwänden gegen ihre Position auseinandersetzt. Redundanz- und Trivialitätseinwand werden kurz skizziert und zurückgewiesen. Im Zentrum des Beitrags steht eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Einwänden der fehlenden Referenz und der epistemischen Unzuverlässigkeit. Der Vorwurf der fehlenden Referenz besagt, dass sich fiktionale Texte nicht in Form von Behauptungen auf die Welt beziehen. Reicher macht hingegen geltend, dass es rein fiktionale Werke gibt, die eine fiktive Welt entwerfen, sich aber gleichwohl mit Hilfe von Behauptungen auf die Welt beziehen. Es gibt Äußerungen mit denen gleichzeitig zwei Akte vollzogen werden: fiktive Welten werden entworfen und Behauptungen über die reale Welt werden aufgestellt. Der Einwand der epistemischen Unzuverlässigkeit, der sich darauf bezieht, dass literarische Werke nicht als seriöse Quellen für Wissen angesehen werden können, wird im Rückgriff auf den Umstand zurückgewiesen, dass literarische Werke durchaus zuverlässige Zeugnisse zu sein vermögen, und Leser auch darin gerechtfertigt sein können, dies anzunehmen. Der ästhetische Wert eines Werkes, so zeigt Reicher ebenfalls, kann von seinem kognitiven Wert abhängen. Im Zentrum des Beitrags von Lisa Jones steht der Begriff der Imagination. Sie beschäftigt sich mit dem kognitiven Ertrag der vorstellenden Tätigkeit des Lesers und weist auf zwei in diesem Zusammenhang wesentliche Dimensionen hin. Sowohl der Akt des Vorstellens, den ein Leser vollziehen muss, als auch der vorgestellte Inhalt, über den er nachdenken muss, können sein Verstehen durch eine Klärung, Verfeinerung und Verbesserung vieler praktischer, moralischer und begrifflicher Auffassungen vertiefen. Jones räumt ein, dass fiktionale Texte auf unterschiedlichen Ebenen auch propositionale Wahrheiten enthalten können, sei es im Sinne faktisch richtiger Beschreibungen bestimmter Umstände (beispielsweise des Walfangs in Melvilles Moby Dick), sei es auf der Ebene von manchmal explizit vorgetragenen, häufig aber impliziten, abstrakten und thematischen Äußerungen, die mit Hilfe von Interpretationen herausgearbeitet werden. Sie hält es allerdings für wenig überraschend, dass der Literatur vor dem Hintergrund des skizzierten Wahrheitsverständnisses gelegentlich der Vorwurf der Trivialität gemacht wurde. Die wahren kognitiven Früchte der Literatur sind anderswo zu suchen, wie Jones auf der Grundlage eines pragmatisch verstandenen Begriffs der Fiktion deutlich macht. Fiktionale Texte laden Leser dazu ein, sich etwas vorzustellen. Wesentlich im Rahmen ihrer Überlegungen ist die Konzeption einer erfahrenden Vorstellung, auf deren Grundlage Leser zu einem vielschichtigen Verständnis des Lebens gelangen. Der Begriff der Vorstellung wird so zu einem Schlüsselbegriff, der es erlaubt, durch Literatur in Gang gebrachte Lernprozesse auf subtile Weise zu charakterisieren. Íngrid Vendrell Ferran vertritt in ihrem Aufsatz eine bestimmte Form des literarischen Kognitivismus, der zufolge der genuine Erkenntniswert der Literatur darin besteht, uns mit bestimmten Erfahrungen vertraut zu machen. Das Wissen der Literatur kann daher als „Wissen-wie-es-wäre“ charakterisiert werden. In ihrem Beitrag wird mit Blick auf die Literatur zunächst auf die Grenzen hingewiesen, die der traditionelle Wissensbegriff im Sinn von wahrer gerechtfertigter Meinung besitzt. Es wird für eine Erweiterung der Rede von einem kognitiven Wert plädiert, die nicht auf die Begriffe der Wahrheit, Rechtfertigung oder Überzeugung eingeschränkt werden sollte, sondern Begriffe wie „Verstehen“ oder „Bekanntschaft“ mit in die Betrachtung einzubeziehen hat. Im Anschluss an Gottfried Gabriel und Dorothy Walsh akzentuiert der Beitrag den Erfah-

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rungsbegriff im Zusammenhang mit der Vergegenwärtigungsleistung der Literatur. Die Frage, wie es möglich ist, aus den in der Literatur beschriebenen Erfahrungen Wissen zu erwerben, wird zunächst anhand einer Unterscheidung zwischen Alltagserfahrung und virtueller Erfahrung beantwortet. Virtuell ist die Erfahrung, welche der Literaturrezipient in der Imagination macht, wenn er sich mit einem literarischen Werk beschäftigt. Die erkenntnistheoretische Leistung der Imagination wird aus drei verschiedenen Blickwinkeln untersucht. Erstens wird die Funktion verschiedener Formen des Imaginierens für die Literatur bestimmt: analysiert werden perspektivische, aperspektivische, propositionale und experientielle Imagination. Zweitens wird die Imagination bei der Auseinandersetzung mit Literatur von zwei ähnlichen Formen der Perspektivenübernahme abgegrenzt: Simulation und Einfühlung. Schließlich werden moralisch relevante Aspekte der kognitiven Funktion der Imagination akzentuiert. Der Beitrag von Christoph Demmerling, der den zweiten Teil abschließt, fragt danach, ob eine kognitive Auffassung von Literatur überhaupt auf die Begriffe der Wahrheit und des Wissens bezogen werden muss. Er geht zwar davon aus, dass literarische Texte Wahrheit enthalten und Wissen vermitteln können, möchte aber zeigen, inwiefern die Literatur auch dann ein epistemisches Gut sein kann, wenn man sie nicht mit den Begriffen der Wahrheit und des Wissens verknüpft. Nach einer Verständigung darüber, in welchen Modi Wahrheit im literarischen Text präsentiert werden kann und welche Art von Wissen in der Literatur von Belang sein kann, setzt sich der Text mit der Idee auseinander, dass literarische Texte ähnlich wie Gedankenexperimente in den Wissenschaften und in der Philosophie funktionieren. Ebenso wenig wie Gedankenexperimente in den genannten Kontexten nicht unmittelbar mit Wahrheit oder Wissen verbunden sein müssen, ohne darum ihren kognitiven Wert zu verlieren, bedarf auch die Konstellation von Lebenssituationen und -entwürfen, mit denen die Literatur ihre Leser konfrontiert, keiner direkten Verknüpfung mit Wahrheit und Wissen, um im kognitiven Sinne als wertvoll zu gelten. Literarische Texte sind allerdings keine Gedankenexperimente, da die Anordnungen von Figuren und Situationen eine Vielzahl von Aspekten umfassen und komplexer sind als die in der Regel eindimensionalen Szenarien, mit denen wissenschaftliche oder philosophische Gedankenexperimente aufwarten. Der kognitive Wert der Literatur besteht für Leser darin, aus der imaginativen Konfrontation mit einer Situation neue Aspekte sehen zu lernen und die eigene Sicht der Welt zu modifizieren. Die Beiträge des dritten Teils vertiefen die Untersuchungen zum kognitiven Wert der Literatur, indem sie verschiedene Wissensformen behandeln. Besondere Aufmerksamkeit erhalten die Vergegenwärtigungsleitung der Literatur, das propositionale Wissen, das Zeugniswissen und das begriffliche Wissen. Gottfried Gabriel geht es darum zu zeigen, dass eine spezifische Leistung fiktionaler literarischer Texte darin zu sehen ist, eine imaginative Vergegenwärtigungsleistung zu erbringen. Die in ihr thematisierten Kenntnisse fallen nicht mit propositionalem Wissen zusammen und sind auch von einem nichtpropositionalem Wissen durch Bekanntschaft zu unterscheiden. Literatur, so die These des Beitrags, vermittelt kein Wissen, sondern Erkenntnis im Sinne einer Kenntnis darüber, wie es ist, sich in einer bestimmten Situation usw. zu befinden. Gabriel richtet sich mit seinen Überlegungen sowohl gegen Versuche, der Kunst bzw. Literatur eine gegenüber den Wissenschaften höherwertige Form der Erkenntnis zuzutrauen, aber auch gegen emotivistische Verständnisse, die der Literatur jede Art von kognitivem Wert ab-

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sprechen und ihr lediglich eine Wirkung auf die Gefühle des Menschen zubilligen. Die Erschließung der Wirklichkeit sei nicht allein den Wissenschaften vorbehalten, weder den Natur-, noch auch den Sozialwissenschaften. Auf der Grundlage einer Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktionen plädiert Gabriel dafür, dass literarische Fiktionen trotz oder gerade wegen des Fehlens eines direkten Wirklichkeitsbezugs Erkenntnis vermitteln können. Im Rückgriff auf zahlreiche Beispiele macht er deutlich, inwiefern es in der Literatur zu einer Richtungsänderung des Bedeutens kommt: an die Stelle der verweisenden Bezugnahme tritt die aufweisende Bezugnahme, die den Leser nach Deutungen suchen lässt, indem sie seine reflektierende Urteilskraft aktiviert. Achim Vesper vergegenwärtigt zunächst die Argumente, die dagegen sprechen, die Literatur als Vermittlerin von Wissen oder als Wissensquelle zu betrachten. Folgt man der Standardanalyse fiktionaler Rede, enthält die Literatur keine Behauptungen. Außerdem bietet die Literatur auch keine Rechtfertigung für etwaige Überzeugungen, die in ihr zum Ausdruck kommen. Aber, so macht Vesper geltend, die Literatur vermittle in jedem Fall ein vom traditionellen Wissensbegriff zu unterscheidendes Wissen und er nennt drei Fälle: das Wissen von den phänomenalen Zuständen anderer, Fertigkeiten wie die Verfeinerung der Anwendung von Begriffen und praktisches Wissen im Sinne einer Ausbildung von Handlungsoptionen für ungewohnte Situationen. Die Kernthese des Beitrags allerdings lautet, dass die Literatur auch wahrheitsrelevantes Überzeugungswissen einschließt. Die Literatur enthält nicht nur Aussagen über einzelne Sachverhalte, sondern sie umfasst vielfach auch Aussagen über Allgemeines, die sich durch Interpretationen ermitteln lassen. Vesper zeigt, dass eine propositionale Theorie literarischer Erkenntnis drei Anforderungen genügen muss und auch genügen kann: Sie muss deutlich machen, in welchem Sinn ein literarisches Werk allgemeine Aussagen impliziert. Sie muss erläutern, weshalb von einem Werk implizierte allgemeine Aussagen einen Anspruch auf Wahrheit erheben und schließlich muss sie darlegen, warum die Beurteilung der Wahrheit der implizierten Aussagen für die Wertschätzung des literarischen Werks relevant ist. In der Auseinandersetzung mit verschiedenen Einwänden – immer wieder bezieht er sich auf die Konzeption von Lamarque und Olsen – gewinnt der Vorschlag von Vesper Konturen, indem er eine instrumentalistische Literaturkonzeption zurückweist und die spezifische Leistung der Literatur bei der Vermittlung von propositionalem Wissen darin erblickt, dass die Suche nach Wissen als kooperatives Unternehmen expliziert werden kann, zu dem die Interaktion zwischen Autor und Leser gehört. Tobias Klauk bezieht die Idee, dass literarische Texte eine Wissensquelle sein können, auf das Zeugniswissen. Lässt sich das Wissen, welches man durch die Lektüre literarischer Texte erwerben kann, in Analogie zum Wissen vom Hörensagen begreifen, da die Autoren literarischer Texte deren Inhalte ‚bezeugen‘? Klauk diskutiert die Möglichkeit, die Rede vom kognitiven Wert der Literatur im Rückgriff auf die so genannte ZeugnisStrategie zu verteidigen. Diese besteht darin zu zeigen, dass fiktionale Texte Behauptungen enthalten, dass man aus Behauptungen Wissen vom Hörensagen erwerben kann und man also aus fiktionalen Texten Wissen vom Hörensagen erwerben kann. Klauk zeigt jedoch, dass ein in Standardfällen für das Zeugnis Anderer geltendes Akzeptanzprinzip („Solange es keine Gründe gibt, dass Zeugnis von jemandem anzuzweifeln, ist man berechtigt anzunehmen, dass er die Wahrheit sagt“) in fiktionalen Kontexten außer Kraft gesetzt ist. Es bedarf zusätzlicher, positiver Gründe, um Behauptungen in literarischen

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Texten für wahr zu halten. Um das Wissen aus literarischen Texten epistemisch zu stützen, bedarf es der Formulierung bestimmter Konventionen, die regeln, wann man einem Text bzw. Autor vertrauen kann. Man kann an Konventionen denken, die Autoren darauf verpflichten, bestimmte Informationen geographisch oder historisch akkurat zu gestalten. Wenn derartige Konventionen Geltung besitzen, dann ist die Zeugnis-Strategie nicht mehr davon abhängig, dass in fiktionalen Texten Behauptungen getätigt werden. Denn ob Autoren bezogen auf bestimmte (beispielsweise geographische) Sachverhalte etwas behaupten oder es lediglich präsupponieren spielt dann keine Rolle mehr. Inwieweit literarische Texte als eine Reflexion auf begriffliches Wissen verstanden werden können, zeigt der Beitrag von Catrin Misselhorn. Den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildet die institutionelle Konzeption der Literatur, die auf Lamarque und Olsen zurückgeht, und sich von der Auffassung leiten lässt, dass ein höherstufiger thematischer Gehalt für das Verständnis literarischer Texte wesentlich ist. Vor dem Hintergrund einer empiristischen Theorie des Begriffs, der zufolge Begriffe als Proxytypen anzusehen sind, skizziert Misselhorn wie sich begriffliche Reflexion im literarischen Text niederschlägt. Proxytypen werden als kontextsensitive Merkmale perzeptueller Art verstanden, die denjenigen Gegenständen zukommen, die unter einen Begriff fallen. Als Anwendungsbeispiel diskutiert sie Musils Novelle Die Vollendung der Liebe und macht deutlich, dass und inwiefern sich dieser Text als Reflexion auf den Liebesbegriff verstehen lässt, die mit den Mitteln der Proxytypentheorie analysiert werden kann. Sie skizziert verschiedene Besonderheiten der literarischen Begriffsreflexion und kontrastiert diese mit dem philosophischen Nachdenken über Begriffe. Im vierten Teil des Bandes schließlich sind Texte zusammengestellt, die sich in einem bestimmten Sinne als Anwendungen der grundsätzlichen Diskussion über Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur auffassen lassen. Sie beschäftigen sich mit der Literatur als Quelle moralischen Wissens sowie dem Beitrag der Literatur zu psychologischen Fragen, welche das Verständnis der Rolle der Gefühle und die narrative Dimension der Selbstidentität betreffen. Die Überlegungen Margit Sutrops gehen davon aus, dass die Literatur einen kognitiven Wert hat und konzentrieren sich auf die Frage, in welcher Weise fiktionale Literatur eine Quelle moralischen Wissens sein kann. Der Rückgriff auf unsere Fähigkeit, die Zustände anderer (fiktiver) Personen zu simulieren, reicht nicht aus, um zu erklären, wie sich aus Fiktionen moralische Erkenntnisse schöpfen lassen. Der moralische Erkenntnisgewinn entsteht vielmehr durch das Nachdenken darüber, was in den vorgestellten Situationen richtigerweise zu tun ist und durch den Vergleich des moralischen Verständnisses des Protagonisten mit dem des Lesers. Künstlerisch wertvolle Literatur enthält deshalb oft Beispiele moralischer Dilemmata sowie Situationen, in denen zwischen verschiedenen Werten abgewogen werden muss. Fiktionale Literatur vermittelt uns eine tiefere Einsicht in den Zusammenhang, in dem diese Dilemmata und Wertkonflikte stattfinden. Indem wir uns selbst in unserer Vorstellung in diese fiktionalen Situationen hineinversetzen, simulieren wir nicht bloß die Erfahrungen der Protagonisten (wie etwa Currie meint), sondern wir beurteilen ihre Handlungen und denken darüber nach, was wir in diesen Umständen tun würden oder was man in solchen Umständen tun sollte. Dadurch, dass wir die Einstellungen und Reaktionen des Protagonisten mit unserem ei-

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genen Verständnis vergleichen und moralische Urteile fällen, gewinnen wir moralisches Wissen und entwickeln unsere Werte und moralischen Ideale. Sabine Döring beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Ausdrucksfunktion der Kunst. Sie begreift diese Funktion als einen besonderen Fall expressiven Handelns. Gefühlsausdruck in der Kunst, so ihre These, werde deshalb besonders geschätzt, da die Kunst es ermögliche, auch komplexe Emotionen auszudrücken, die sich anders nicht ausdrücken ließen. Döring möchte zudem zeigen, inwiefern Kunstwerke, indem sie die Gefühle des Künstlers ausdrücken, eine Repräsentation der Welt sein können und eine kognitive Funktion haben. Ausgangspunkt ihres Beitrags ist die adverbiale Emotionstheorie Musils. Musils Auffassung lautet, dass Emotionen Gestaltqualitäten einer bestimmten Art sind, d. h. Phänomene höherer Ordnung, welche Phänomene erster Ordnung wie Wahrnehmungen, Gedanken, Wünsche, Interessen oder Bedürfnisse des Subjekts dynamisch und nach bestimmten Gestaltprinzipien integrieren. Emotionen lenken unseren Blick so auf die Dinge, die für uns von Belang sind, und gestalten auf diese Weise die Welt. In dieser Konzeption haben Emotionen die Funktion, die Weltsicht des Subjektes zu strukturieren. Die Gedanken, Wünsche und Bedürfnisse eines Subjekts werden zu einer bestimmten Gestalt organisiert, was zugleich die für eine Emotion jeweils spezifische Phänomenologie ausmacht. Der intentionale Emotionsausdruck in der Kunst beginnt – so die Autorin des Beitrags – mit dem expressiven Handeln. Cain Todds Augenmerk gilt der Explikation der Kategorie der verfeinerten Emotionen. Es geht Todd um die Art und Weise, auf welche die Literatur den Erwerb von Wissen begünstigt und er diskutiert dabei insbesondere die Rolle, die Emotionen, Aufmerksamkeit und Vorstellungsvermögen spielen. Emotionale Reaktionen auf fiktionale Literatur weisen eine epistemische Dimension auf, da die Fähigkeit des praktischen Schließens involviert ist. Verfeinerte Emotionen sind keine eigene Klasse von Emotionen, sondern ein Modus ihrer Qualifikation, im Rahmen dessen unter anderem Reflexion und Besonnenheit eine Rolle spielen. Durch verfeinerte Emotionen wird eine Relation der involvierten Distanziertheit zum Gegenstand etabliert. Verfeinerte Emotionen sind auf unterschiedliche Weise in epistemischer Hinsicht relevant. Als emotionale Reaktionen auf literarische Fiktionen können sie dazu führen, sich mit den eigenen Emotionen näher auseinanderzusetzen, sie bieten aber häufig auch den Anlass zur Wahrnehmung subtiler und feinkörniger Unterschiede, welche das Verständnis für bestimmte Sachverhalte schärfen und die einem im Modus umfänglicher Betroffenheit leicht entgehen können. Verfeinerte Emotionen fördern eine Einstellung der Kontemplation, der Aufmerksamkeit und der Zurückhaltung, weshalb Todd ihnen epistemische Tugendhaftigkeit bescheinigt und ihnen eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit dem Wissenserwerb zuerkennt. Arto Haapala untersucht die Bedeutung der „Übertreibung“ bei der Auseinandersetzung mit Literatur. Er geht von einer Beobachtung aus, die viele von uns machen, wenn sie sich mit Literatur beschäftigen. Es ist oft der Fall, dass eine fiktionale Figur sich auf eine Art und Weise benimmt, die im alltäglichen Leben als geschmackslos oder als dumm betrachtet werden würde. Das Verhalten vieler fiktionaler Figuren – ein prominentes Beispiel Haapalas ist Anna Karenina – würde im realen Leben weder Sympathie noch auch Mitgefühl erwecken. Im Fall von Fiktionen scheinen wir jedoch toleranter zu sein. Haapala beschäftigt sich in seinem Text mit dem Grund für die Dis-

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krepanz zwischen Haltungen, die man gegenüber realen Menschen an den Tag legt und Einstellungen, die man gegenüber fiktionalen Figuren hegt. Systematisch untersucht er die Frage, warum es häufig der Fall ist, dass eine fiktionale Figur unsere Sympathien schneller und leichter als eine reale Person erweckt. Er fragt sich, warum Figuren, die übertriebene Charakterzüge aufweisen und sich in mancherlei Hinsicht unangemessen benehmen, trotzdem gefallen können. Diese Frage wird in Haapalas Text ausgehend von der Eigenschaft „melodramatisch zu sein“ beantwortet. Dieter Teichert akzentuiert die philosophische Relevanz verschiedener Konzeptionen narrativer Identität, indem er die Frage danach stellt, welche Versionen dieses Begriffs als maßgeblich angesehen werden müssen. Er diskutiert, ob für die Rede von narrativer Identität alltägliche Narrationsverständnisse ausreichend sind oder ob an fiktionale Narrationsbegriffe angeschlossen werden muss. Nach einer Verständigung über die Begriffe der Identität und der personalen Identität widmet sich Teichert einer eingehenden Untersuchung des Begriffs des Selbst. Teichert unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen zwei Versionen der These von der narrativen Identität: Erzählungen können als Medien verstanden werden, die einen Beitrag zur Konstitution des Selbst leisten; sie lassen sich aber auch als einzige Quelle der Selbstkonstitution ansehen. Teichert differenziert zudem objektivistische Identitätskonzeptionen, denen zufolge Fragen der Identität Fragen der Erkenntnis und des Wissens sind, von anti-objektivistischen Konzeptionen, die davon ausgehen, dass sich das (Identitäts-)Bewusstsein von Personen vollständig beschreiben oder als objektive Tatsache fixieren lässt. Letztere finden sich v.a. in der Tradition der Phänomenologie und Hermeneutik. Im Anschluss unter anderem an Heidegger macht Teichert deutlich, inwieweit Erzählen als eine Form der Sinnbildung begriffen werden kann, durch die sich Selbstverstehen artikuliert. Detaillierte Interpretationen zu Ricœur schließlich führen zum Entwurf einer umfassenden Konzeption narrativer Identität. Literaturverzeichnis

Currie, Gregory (1990), The Nature of Fiction, Cambridge. Gabriel, Gottfried (1975), Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur, StuttgartBad Cannstatt. Lamarque, Peter (2009), The Philosophy of Literature, Oxford. Lamarque, Peter/Olsen, Stein H. (1994), Truth, Fiction, and Literature: A Philosophical Perspective, Oxford. Radford, Colin (1975), „How Can We Be Moved by the Fate of Anna Karenina?“, in: Proceedings of the Aristotelian Society 49, 67–80. Sainsbury, Mark (2010), Fiction and Fictionalism, London/New York. Searle, John (1975), „The Logical Status of Fictional Discourse“, in: New Literary History 6:2, 319–332. Walton, Kendall L. (1990), Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of Representational Arts, Harvard. Weston, Michael (1975), „How Can We Be Moved by the Fate of Anna Karenina? (II)“, in: Proceedings of the Aristotelian Society 49, 81–94.

I. Literatur, Philosophie und Wissenschaft

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Das wissenschaftliche Weltbild und sein narratives Gegenstück

Das individuelle menschliche Leben spielt sich im Spannungsfeld zweier übergeordneter Einflüsse ab: etablierter Lebensformen einerseits und überlieferter Weltbilder andererseits. Von einem Spannungsverhältnis zwischen Lebensform und Weltbild kann man aus mehreren Gründen sprechen. Zum einen deckt sich eine Lebensform, eine Art zu leben, nur bedingt mit dem idealisierten menschlichen Selbstverständnis, wie es gerade den religiösen Weltanschauungen nicht selten entspringt. In Form von Gepflogenheiten, Sitten und Bräuchen inkorporiert Erstere zwar immer auch einige Elemente, deren Sinnhaftigkeit oder Legitimität sich einem überhaupt erst durch Letztere erschließt, doch steht die soziale Praxis, die „inappellable Mechanik des äußeren Lebens“ (Heimito von Doderer), stets unter faktischen Zwängen, die einer Weltanschauung als solcher fremd sind. Dies hat schon seit jeher zu mehr oder minder großen Diskrepanzen zwischen beiden geführt. Zum anderen sieht sich seit dem Anbruch der Moderne nicht nur das arbeitende Individuum, sondern auch die zunehmend industrialisierte, zunehmend urbanisierte Gemeinschaft bisweilen einer echten Entfremdung ausgesetzt, einem Bruch zwischen der orthodoxen Weltanschauung und der heterodoxen Lebenswirklichkeit. So dürfte die Säkularisierung der Gesellschaft im neunzehnten Jahrhundert auf einen weltanschaulich unbegleiteten Wandel der Lebensform selbst zurückzuführen sein, nicht auf die vorangehende Aneignung und eine daran anschließende Umsetzung des dafür prädestinierten aufklärerischen Weltbildes. Letzteres hat trotz der tiefgreifenden sozialen Veränderungen nur sehr beschränkt Fuß fassen können. Im Gegenteil scheinen die Umbrüche der industriellen Revolution ein Manko der aufklärerischen Weltsicht überhaupt erst greifbar und eine sich daraus speisende, mitunter eskapistisch anmutende Suche nach alternativen Gesamtkonzeptionen ausgelöst zu haben. Das ist allerdings kein Zufall. Als Produkt der philosophischen Umwälzungen des siebzehnten Jahrhunderts, mit denen die Moderne in intellektueller Hinsicht überhaupt erst beginnt, lässt uns das nüchterne Weltbild der Neuzeit nämlich in verschiedener Hinsicht unbefriedigt. Um welche Defizite es sich dabei handelt, werde ich im zweiten Abschnitt ebenso erörtern wie die Frage, warum gerade diejenigen seiner Merkmale,

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in denen diese Defizite wurzeln, für die Entwicklung der Naturwissenschaften von entscheidender Bedeutung gewesen sind. Was hier zutage tritt, ist ein fast unvermeidbarer Konflikt zwischen zwei einander entgegengesetzten, aber gleichermaßen grundlegenden menschlichen Bedürfnissen: einem praktischen und einem theoretischen. Woraus ihr Widerstreit sich speist und weshalb die frontalen Versuche, ihn zu beseitigen, wenig verheißen, erörtere ich im dritten Abschnitt. Im vierten und letzten lege ich einen aussichtsreicheren Syntheseversuch vor. Zunächst wende ich mich jedoch zwei Besonderheiten der wissenschaftlichen Forschung zu, die unabhängig von den ontologisch-metaphysischen Grundlagen ihrer Theoriekonstruktionen erklären helfen, warum das Mythologisch-Narrative trotz des unvergleichlichen theoretischen Erfolgs und des großen technischen Nutzens der Physik und der Chemie ein einflussreicher Sinn- und Orientierungsstifter geblieben ist.

1.

Zwei wissenschaftliche Besonderheiten

Die Naturwissenschaften, allen voran die Physik, unterrichten uns über die mikro- und makroskopische Beschaffenheit der Welt, über deren Funktionsweise und indirekt auch über unsere (offensichtlich marginale) Stellung in ihr. Im Vergleich zu mythologischen oder religiösen Erklärungsansätzen tun sie dies allerdings auf eine ungewöhnliche Weise, nämlich ohne jeglichen inhaltlichen Vorgriff. Denn die Wissenschaft und ihre theoretischen Erzeugnisse definieren sich nicht durch die vorgängige Annahme bestimmter Inhalte, sondern einzig und allein durch die Einhaltung einer bestimmten Methode. Die wissenschaftliche Methode verhält sich hinsichtlich sämtlicher Inhalte, seien es einzelne Beobachtungen, seien es allgemeine Resultate, a priori neutral. Statt inhaltlicher Vorgaben verlangt sie lediglich die Standardisierung und die Reproduzierbarkeit der Messungen und Beobachtungen, die den Anlass zur Theoriebildung geben. Zumindest prinzipiell erlaubt sie dafür im Gegenzug die Falsifikation oder die Bestätigung aller vorgeschlagenen Hypothesen, Modelle und Erklärungen. Die allgemeinen wissenschaftlichen Inhalte sind mit anderen Worten das, was sich im Laufe des Forschungsprozesses erst herausschält, keinesfalls dessen Ausgangspunkt. Das unterscheidet sie von den Dogmen religiöser Weltanschauungen. Die erkenntnistheoretische Wende, die Descartes mit seinem Discours de la méthode von 1637 in der Philosophie eingeleitet hatte, ebnete dieser Herangehensweise den Weg. Darin legte Descartes nämlich eine kurze Beschreibung des ersten wissenschaftlich zu nennenden Erkenntnisverfahrens vor, mit dem er die dogmatische Theorietradition seiner Zeit überwinden half. Außer der Mathematik, so stellte er im Discours fest, sei es bisher noch keiner Disziplin gelungen, zu verlässlichen Ergebnissen und damit zu einem substantiellen Erkenntnisfortschritt zu gelangen. Stattdessen herrsche allenthalben ein unauflösbar scheinender Streit konkurrierender Meinungen und Theorien vor.1 Effektiv hielt man sich im ausgehenden Mittelalter in theoretischen Belangen nicht an eine Methode, sondern an überlieferte Autoritäten: an Aristoteles, an die Scholastiker, an die Heilige 1

Siehe Descartes 1996a (zuerst 1637), 8 und 16 (dt. 15 und 27).

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Schrift, an die Kirchenväter. Die Ausgangspunkte der entsprechenden Systeme waren dementsprechend stets inhaltlicher Natur. Das Erkenntnis- oder Wahrheitskriterium kann Descartes zufolge jedoch nicht die autoritative Quelle, sondern nur die eigene Einsicht sein, namentlich der Umstand, dass die Inhalte unseres Denkens von uns selbst klar und deutlich erfasst zu werden vermögen. Und das Mittel der Wissensvermehrung kann weder in der Lektüre kanonischer Schriften noch im Zeugnis Dritter, sondern nur in der Ableitung von Theoremen aus selbstevidenten Grundeinsichten vermittels selbstevidenter Deduktionsschritte bestehen.2 Wissensansprüche müssen für einen selbst überprüfbar sein. Sind sie es nicht, handelt es sich bei den entsprechenden Inhalten auch nicht um Erkenntnisse, sondern um bloße Dogmen, deren Ablehnung einer Häresie und damit einem Ausschluss aus der doktrinären parawissenschaftlichen Gemeinschaft gleichkommt. Jenes Kriterium schließt die Weiterverwendung von Einsichten anderer selbstredend nicht aus. Solange die Daten, Methoden, Überlegungen oder Argumente, aus denen sie gewonnen wurden, Allgemeingut sind oder zusammen mit den Erkenntnissen übermittelt werden, solange also die Wiederholbarkeit ihres Zustandekommens gewährleistet bleibt, kann ihre Überprüfung ohne weiteres solange unterbleiben, bis auftauchende Gegenevidenz Zweifel an der Korrektheit der Befunde aufkommen lassen. In Treu und Glauben braucht hingegen nichts akzeptiert zu werden. Weil in der Wissenschaft die akzeptierten Inhalte auf dem Rechtfertigungsverfahren beruhen, und nicht, wie in den dogmatischen Kontexten, die Rechtfertigungen umgekehrt auf den geglaubten Inhalten, kommt eine wissenschaftliche Theorie immer post festum. Ihr systematisches Gebäude aus Hypothesen und Erklärungen ist gleichsam noch im Bau, während die Wissbegierigen schon längst auf die gesuchten Antworten warten. Für diejenigen, die sich von den allgemeinen Resultaten der Wissenschaft so etwas wie Orientierung erhoffen, erzeugt dies fast unweigerlich ein Gefühl der geistigen Unbehaustheit. Demgegenüber haben die doktrinären Weltanschauungen des Mythos und der Religion die ersehnten Antworten immer schon parat. Zur vorausgehenden inhaltlichen Offenheit der Wissenschaft gesellt sich zudem eine nachträgliche inhaltliche Unverbindlichkeit. Descartes’ am Vorbild der Mathematik orientierte deduktive Methode ist für empirische Belange nämlich unzureichend. Sie lässt weder Raum für statistisch-induktive Verfahren noch erlaubt sie die Formulierung tentativer Hypothesen, wie sie für das hypothetisch-deduktive Vorgehen der Naturwissenschaften effektiv vonnöten sind. Auch wenn sich einige Gesetzesaussagen aus anderen ableiten lassen, so zum Beispiel die Keplerschen Gesetze aus denjenigen der Newtonschen Mechanik, bleiben die naturwissenschaftlichen Prinzipien insgesamt kontingent und a posteriori. Mit einer quasi-axiomatischen Methode kartesianischer Prägung vermögen sie in ihrer Gesamtheit dementsprechend auch nicht erzeugt zu werden. Und weil eine gesetzesartige Verallgemeinerung stets einen unbegrenzten Skopus besitzt, der ihre eigene Induktionsbasis überschreitet, also stets mehr Gehalt aufweist als die vorhandenen Beobachtungsdaten, die sie systematisiert, sind jene aposteriorischen Prinzipien zudem stets fehlbar. Es handelt sich mit anderen Worten um Erkenntnisse auf Abruf. Man braucht Poppers strikten Falsifikationismus nicht zu teilen, um den provi2

Siehe ebd., 18f. (dt. 31 und 33).

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sorischen Charakter aller wissenschaftlichen Theorien und Modelle herausstreichen zu können. Zwar erfährt ein System von Hypothesen, das zu richtigen Voraussagen führt, durch seinen prädiktiven Erfolg eine ernstzunehmende Form der Bestätigung, doch vermögen künftige Beobachtungen und künftige experimentelle Befunde es trotzdem noch ins Wanken oder gar zum Zusammensturz zu bringen. Wegen des Primats der Methode steht das Gebäude der Wissenschaft auf dem bestmöglichen Fundament, das in empirischen Gefilden zu haben ist. Dieselbe Methode, die dem Bau seine Solidität verleiht, verhindert indessen nicht nur seine Vollendung, sondern auch, dass sein architektonischer Gesamtbauplan jemals vorgezeichnet werden könnte. Letzteres macht die vorausgehende inhaltliche Offenheit der Wissenschaft aus, Ersteres hingegen das, was ich als ihre „nachträgliche inhaltliche Unverbindlichkeit“ bezeichnet habe. Zusammengenommen vermitteln diese beiden Charakteristika den Eindruck einer Behelfsmäßigkeit, die den totalitären, in sich abgeschlossenen Weltanschauungen vor-, nicht- oder antiwissenschaftlicher Provenienz fremd ist.

2.

Die metaphysischen Grundlagen der Wissenschaft

Wie Descartes mit seinem Discours einen methodologischen Wandel eingeleitet hatte, welcher der heute „wissenschaftlich“ zu nennenden Denkweise einen entscheidenden Anstoß gab, so legte er in den vier Jahre später erschienenen Meditationes und insbesondere in den Principia philosophiae von 1644 die metaphysischen Grundlagen für Newtons Philosophiae naturalis principia mathematica – und damit für die erste und zugleich beispielhafteste naturwissenschaftliche Theorie modernen Zuschnitts. Der erste der beiden im Folgenden noch zu diskutierenden Eckpfeiler der kartesischen Metaphysik macht Newtons epochalen theoretischen Ansatz überhaupt erst naheliegend, folgerichtig und damit nachvollziehbar. Zusammen mit dem zweiten Eckpfeiler vermag er gleichzeitig aber auch zu erhellen, warum uns die neuzeitlichen physikalischen Theorien als Kristallisationspunkte eines entsprechenden Weltbildes entrückt vorkommen und letztlich unberührt lassen. Während die philosophische Unterscheidung zwischen Erscheinung und Realität bis zu Parmenides und Zenon zurückreicht, ist die damit verwandte, aber metaphysisch folgenreichere Unterscheidung zwischen den primären und den sekundären Qualitäten trotz erster Anklänge bei Demokrit jüngeren Datums. Gemeinhin gilt sie als Erfindung Lockes. Letzteres ist allerdings unzutreffend. Zwar gehen die entsprechenden Bezeichnungen tatsächlich auf Locke zurück, doch stammt die Unterscheidung selbst von Descartes. Wir finden sie mitsamt ihren erkenntnistheoretischen und ontologischen Implikationen in den Meditationes und, einschließlich einer heutigen Ansprüchen nahezu genügenden physiologischen Unterfütterung, am Schluss der Principia philosophiae. Viele der Eigenschaften, die wir den Außenweltdingen auf der Grundlage unserer sinnlichen Wahrnehmung zuschreiben, sind, so macht Descartes geltend, nicht objektiv. Es handelt sich dabei mit anderen Worten nicht um intrinsische Eigenschaften der Dinge selbst, sondern vielmehr um Qualitäten, die in der uns vertrauten Ausprägung erst im wahrnehmenden Subjekt entstehen. Dazu zählen „alle Empfindungen, wie die […] des Lichts und der Farben, der Töne, der Gerüche, der Geschmäcke, der Wärme, der Här-

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te“.3 Zur Begründung ihres subjektiven Charakters legt Descartes im Wesentlichen zwei Argumente vor. Das erste, das er in den Meditationes präsentiert, ist erkenntnistheoretischer Natur und unzureichend. Er illustriert es am Beispiel eines Stücks Wachs, das zunächst nach Blumen duftet, weiß, kalt und hart ist, aber seinen Duft verliert, seine Farbe ändert und warm und flüssig wird, sobald man es dem Feuer nähert. Weil es während dieses Transformationsprozesses jedoch dasselbe Wachs bleibe, seien die Farbe, der Geruch etc. keine Eigenschaften des Wachses selbst, also dessen, was wir als gleichbleibenden Gegenstand erkennen.4 Diese Überlegung überzeugt insofern nicht, als Descartes hier entweder die per se plausible Unterscheidung zwischen akzidentellen und wesentlichen Eigenschaften eines Dings unterschlägt oder stillschweigend und ohne Begründung voraussetzt, nur die wesentlichen und damit persistenten Eigenschaften einer Sache könnten deren intrinsische, objektive Beschaffenheit ausmachen. Das zweite Argument aus den Principia philosophiae nimmt den kausalen Ursprung unserer sinnlichen Eindrücke ins Visier. „Was wir nämlich empfinden, kommt unzweifelhaft von einer Sache, welche von unserer Seele verschieden ist; denn es steht nicht immer in unserer Gewalt, das eine eher als das andere zu empfinden.“5 Weil unsere bewussten Empfindungen eine äußere Ursache haben, unterliegt das, was sich überhaupt empfinden lässt, also das, was sich vermittels eines kausalen Vorgangs in unserem Bewusstsein überhaupt als Farbe, Ton, Geruch, Geschmack oder Wärmeempfindung zu manifestieren vermag, kausalen Beschränkungen. Die Dinge der Außenwelt können nämlich nur mechanisch auf unsere Sinnesorgane einwirken. Die Einwirkungen hängen mit anderen Worten einzig und allein von der Bewegung, der Größe, der Anzahl und der geometrischen Gestalt derjenigen Körper bzw. materiellen Partikel ab, die auf unsere Sinnesrezeptoren treffen – hingegen nicht von ihrer Farbe (falls sie eine hätten), ihrem Geschmack (falls sie einen hätten) etc. Was wir zum Beispiel als süß, sauer, bitter oder salzig empfinden, ist nicht eine der Speise an sich innewohnende Süße oder Bitterkeit, sondern vielmehr die geometrische Gestalt – heute würden wir sagen: die molekulare Struktur – ihrer im Speichel aufgelösten Bestandteile: Ferner werden andere Nerven, die an der Zunge und den ihr benachbarten Teilen zerstreut sind, von den Teilen derselben Körper, die voneinander getrennt mit dem Speichel im Munde herumschwimmen, verschieden bewegt, je nach der Verschiedenheit der Gestalt jener, und bewirken so die Empfindung verschiedenen Geschmacks.6 Ein Geschmack, wie wir ihn aus der sinnlichen Erfahrung kennen, lässt sich mechanisch nicht von der Speise auf die Geschmacksknospen und von dort via Nerven aufs Gehirn (oder gar ins Bewusstsein) übertragen. Vielmehr ist er die Art und Weise, wie wir eine objektive, aber völlig anders geartete Eigenschaft der Speise, nämlich eben die geome3 4 5 6

Descartes 1996c (zuerst 1644), Pars prima, § 48, 23 (dt. 16f.). Siehe Descartes 1996b (zuerst 1641), 30f. (dt. 53 und 55). Descartes 1996c, Pars secunda, § 1, 40 (dt. 31). Ebd., Pars quarta, § 192, 318 (dt. 239).

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trische Form ihrer Bestandteile, subjektiv erleben. Demgegenüber wird im Ohr nicht die Gestalt, sondern die Art der Bewegung der Luftteilchen registriert: Es sind in dem Innern der Ohren zwei Nerven verborgen, welche das Zittern und die Schwingungen der ringsum sich bewegenden Luft aufnehmen. Diese Luft stößt auf das Trommelfell, das mit der Kette dreier Knöchelchen in Verbindung steht, welchen die Nerven anhaften, und stößt letztere. Von der Verschiedenheit dieser Bewegungen entspringt die Verschiedenheit der verschiedenen Töne.7 Unterschiedliche Schwingungen bzw. Bewegungsarten geben, subjektiv betrachtet, also zu unterschiedlichen Tonhöhenempfindungen Anlass. Die jeweils empfundene Tonhöhe ist aber ihrerseits keine Schwingung, sondern ein qualitativer Bewusstseinsinhalt, also das, was man in der zeitgenössischen Philosophie des Geistes als „Quale“ bezeichnet. Wie erheblich die Beschränkung der kausalen Transmission von Eigenschaften in den Wahrnehmungsprozessen ist, offenbart sich erst recht, wenn man die neuronale Verbindung zwischen den unterschiedlich operierenden Sinnesorganen einerseits und dem Gehirn andererseits betrachtet. Man bemerkt nämlich „nicht den geringsten Unterschied an den Nerven, der die Annahme gestattete, dass etwas anderes durch dieselben von den Organen der äußeren Sinne zum Gehirn gelange […], außer der örtlichen Bewegung dieser Nerven“.8 Die Art der zum Gehirn übertragenen Signale ist mit anderen Worten in allen Fällen dieselbe. Dementsprechend beruht der qualitative Unterschied zwischen einem erlebten Geschmack und einer erlebten Tonhöhe letztlich nicht auf einer intrinsischen Differenz in der „Bewegung“ der jeweiligen Nerven, sondern nur auf der Verschiedenartigkeit ihres Ursprungs, d. h. in einer bloß relationalen bzw. funktionalen Differenz. Wie die Aktivitäten des Gehirns wiederum mit dem bewussten Erleben zusammenhängen, darüber schweigt sich Descartes im Wesentlichen aus. Aber er schreibt: Ich mache […] darauf aufmerksam, dass die menschliche Seele, wenn sie auch den ganzen Körper erfüllt, ihren vornehmsten Sitz doch im Gehirn hat, wo sie nicht allein erkennt und bildlich vorstellt, sondern auch empfindet, und zwar dies letztere mit Hilfe der Nerven, die sich wie Fäden vom Gehirn nach allen Teilen des Körpers erstrecken und hier so befestigt sind, dass man keine Stelle des Körpers berühren kann, ohne dass die hier verteilten Nervenenden bewegt werden und deren Bewegung sich nach dem anderen Ende dieser Nerven überträgt, die in dem Gehirn um den Sitz der Seele zusammentreffen […] Die so im Gehirn von den Nerven erregten Bewegungen erregen aber die mit dem Gehirn verbundene Seele bzw. den Geist verschieden nach ihrer eigenen Verschiedenheit.9 Die Außenwelt, zu welcher der kartesischen Konzeption zufolge auch der menschliche Körper zu zählen ist, enthält mithin keine „Farben, Töne, Gerüche, Geschmäcke, Wärme

7 8 9

Ebd., § 194, 319 (dt. 239). Ebd., § 198, 321 (dt. 241). Ebd., § 189, 315f. (dt. 236).

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und Kälte und sonstige Berührungsqualitäten“.10 Die objektiven Eigenschaften der materiellen Dinge beschränken sich vielmehr auf „die Größe oder Ausdehnung nach Länge, Breite und Tiefe, die Gestalt, die der Begrenzung dieser Ausdehnung entspringt, die Lage, die die verschiedenen Gestalten zueinander einnehmen, und die Bewegung oder die Veränderung dieser Lage. Hierzu kann man noch die Substanz, die Dauer und die Zahl hinzufügen“.11 Für die Entstehung, Legitimation und Plausibilität der Newtonschen Physik und ihrer späteren Erweiterungen ist dies von entscheidender Bedeutung. Sofern nämlich die Natur nur materielle Substanzen und primäre Qualitäten enthält, erschließt sie sich überhaupt erst einer mathematischen Beschreibung unter mathematischen Prinzipien (Newtons principia mathematica), ja, nur einer solchen Beschreibung: Die Gestalt und die Lage sind geometrische Eigenschaften, die Anzahl ist eine arithmetische Eigenschaft, die Größe und die Dauer sind jeweils beides zugleich (Letztere allerdings nur unter einer vierdimensionalen Betrachtung). Einzig die Bewegung schien sich zu Descartes’ Zeiten einer mathematischen Darstellung zu entziehen. Die von Newton und Leibniz entwickelte Infinitesimalrechnung hat dieses theoretische Unvermögen indessen beseitigt. Descartes’ Metaphysik verwandelt die Natur, wie wir sie zu kennen glauben, in ein pythagoreisches Universum und damit in eine Welt ohne all jene Eigenschaften, an denen uns am meisten liegt: Fürs Funktionieren des Körpers bleibt der Geschmack einer Speise, im Unterschied zu ihrem Nährwert, unerheblich, aber nicht für das, was uns Freude bereitet und was wir zu kultivieren versuchen. Anders als Pythagoras selbst behauptet hat, enthält ein pythagoreisches Universum, weil klanglos, keine musikalische Harmonie. Sein ästhetischer Wert ist auf ein asketisches Minimum reduziert, seine Behaglichkeit inexistent. Es ist keine Welt, in der wir leben möchten – aber genau diejenige, innerhalb derer sich unser Leben tatsächlich abspielt. Sofern Weltbilder emotionale Bedürfnisse zu befriedigen haben, uns beispielsweise ein Gefühl des Aufgehobenseins oder des Einklangs mit der Natur vermitteln sollen, ist dasjenige kartesianisch-newtonianischer Provenienz beispiellos ernüchternd. Der zweite weltanschaulich bedeutsame Aspekt von Descartes’ Metaphysik ist die Verbannung des Subjektes aus der Welt. Der Leib-Seele-Dualismus, in der sie sich philosophisch manifestiert, gehört nicht etwa zu den stillschweigenden Voraussetzungen des kartesischen Ansatzes, sondern ergibt sich als indirekte Konsequenz aus dem CogitoArgument. Unabhängig davon, ob meine Wahrnehmung gerade trügerisch ist, ob ich im Moment gerade träume oder ob mich ein böser Dämon permanent über die Beschaffenheit der Außenwelt täuscht, vermag ich allein aufgrund des Vorhandenseins meiner gegenwärtigen Bewusstseinszustände mit Sicherheit zu schließen, dass ich jetzt gerade existiere. Denn es gibt keine Sinnestäuschungen ohne einen Getäuschten, keine Träume ohne einen Träumenden und keine betrügerischen Illusionen ohne einen Betrogenen. Meine Existenz erkenne ich also mit Gewissheit quer durch all mein Denken, d. h. quer durch alle meine wie auch immer gearteten Bewusstseinsvorgänge hindurch, während ich die Existenz meines Körper nur dann erkenne, wenn die Wahrnehmungen meiner Hände oder meine körperlichen Empfindungen wahrheitsgetreu und nicht illusorisch 10 11

Descartes 1996b, 43 (dt. 79). Ebd., 43 (dt. 79).

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sind. Für Letzteres habe ich indessen keine Garantie: „Nun weiß ich aber bereits gewiss, dass ich bin, und zugleich, dass möglicherweise alle diese Bilder und ganz allgemein alles, was sich nur auf die Natur des Körpers bezieht, nichts sind als Träume.“12 Die Existenz des eigenen denkenden Ichs ist mit anderen Worten gewiss, während die Existenz des eigenen Körpers es nicht ist. Wenn ich von mir jedoch etwas weiß, das ich von meinem Körper nicht weiß, muss ich von meinem Körper verschieden sein. Denn es ist wiederum „gewiss, dass die Kenntnis dieses genau nur so verstandenen Ich nicht von dem abhängt, von dessen Existenz ich noch nichts weiß“13 . Der menschliche Körper muss Descartes zufolge mithin von anderer Art sein als der menschliche Geist. Ersterer zählt, wie die Steine und Bäume, zur materiellen Außenwelt bzw. zur Natur, während Letzterer davon verschieden ist, außen vor bleibt und einen ihm eigenen, in jenem Sinne nicht-natürlichen Bereich ausmacht. Sofern ein Weltbild uns selbst in ein mit uns verwandtes Ganzes einbetten soll, das uns trägt und unserem Denken und Tun eine Grundlage und sinnvolle Richtung verleiht, ist Descartes’ metaphysische Konzeption eines von der Materie abgetrennten Geistes eine Totgeburt, ja, ein regelrechter Spielverderber. Jedenfalls besiegelt die kartesische Verbannung des Subjekts aus der Natur eine tiefgreifende weltanschauliche Entwicklung, die mehr als zweitausend Jahre zuvor mit Thales begonnen hatte und verständlich macht, weshalb die narrativen Gegenentwürfe als ungebrochen verheißungsvoll betrachtet werden.

3.

Weltbild und Selbstbild

Die mythologischen Weltbilder, die mit der Entstehung der ionischen Naturphilosophie erstmals eine materialistische und damit im weitesten Sinne wissenschaftliche Konkurrenz erhielten, sind animistisch: Sie erklären das Naturgeschehen im Allgemeinen und die fürs menschliche Leben einschneidenden Ereignisse wie Erdbeben, Vulkanausbrüche oder Unwetter im Besonderen vermittels personaler Akteure, die zwar aus menschlichen Motiven wie Zorn oder Eifersucht handeln, zumindest in einigen Fällen jedoch übermenschliche Kräfte besitzen. Dem liegt eine intuitiv naheliegende Vorstellung zugrunde, wonach Veränderungen letztlich eine geistige Ursache haben müssen, sprich: am Ende auf Handlungen und damit auf handelnde Akteure zurückgeführt werden müssen. Denn die Materie ist für sich genommen inert. Einmal in Bewegung versetzt, vermag sie zwar auf das Umliegende einzuwirken, doch kann sie nicht von sich aus Bewegungen initiieren. Dementsprechend kehrt sie, einmal sich selbst überlassen, wie ein abgeschossener Pfeil, ein geworfener Stein oder ein angeschobener Karren letztlich in einen Ruhezustand zurück. Im Grundsatz ist diese Art der Betrachtung allerdings weder der ionischen Naturphilosophie noch der Metaphysik der Neuzeit fremd. So berichtet Aristoteles über Thales: „Auch Thales scheint, nach dem, was man berichtet, die Seele für etwas Bewegungsfähiges aufzufassen, wenn er sagte, der Magnet habe eine Seele, 12 13

Ebd., 28 (dt. 49). Ebd., 27f. (dt. 49). Kripke kommt aufgrund einer weit elaborierteren Überlegung zur Natur von Schmerzen und trotz der von ihm konstatierten Mängel im kartesischen Argument letztlich zu einem vergleichbaren Ergebnis. Siehe Kripke 1981, 144–153.

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weil er das Eisen bewege.“14 Im Unterschied zum mythologischen Animismus braucht das, was hier als „Seele“ bezeichnet wird und die Rolle einer bewegenden Kraft einnimmt, allerdings nichts Personales zu sein, also nichts, was zudem noch über Motive, Wünsche oder Absichten verfügt. Auch Descartes nimmt an, „dass die Fähigkeit, sich selbst zu bewegen, ebenso wie die zu empfinden oder zu denken keineswegs zur Natur des Körpers gehöre“.15 Um den Schritt von der Untätigkeit der Materie zu animistischen Konklusionen oder zu einer Wiedereinführung des Geistes in die Mechanik zu verhindern, bedarf es indessen keiner natürlicher Bewegungserzeuger ex nihilo. (Letztere würden den Energie- und den Impulserhaltungssatz verletzen.) Es genügt vielmehr eine Neudefinition dessen, was eigentlich als „Ruhezustand“ bzw., präziser, als „Trägheitszustand“ zu gelten hat: Inert ist ein physikalischer Körper auch dann, wenn er sich in Abwesenheit einwirkender Kräfte gleichförmig bewegt. Was laut Newtons erstem Gesetz, das auf Galilei zurückgeht und sich bereits vollständig in Descartes Principia philosophiae findet,16 also der Erklärung bedarf, ist nicht die Bewegung selbst, sondern deren Veränderung, d. h. die positive oder negative Beschleunigung. Vereinfacht gesagt bleiben abgeschlossene mechanische Systeme, deren Komponenten einmal in Bewegung sind, immer in Bewegung. Vielleicht benötigt man letzten Endes einen unbewegten Beweger, einen göttlichen Ursprung, um sich das schiere Vorhandensein von Bewegung als solcher verständlich machen zu können, doch führt ein solcher Schritt lediglich zum Deismus, nicht zum Animismus. Weil Letzterer hingegen nur die absolute Ruhe als materiellen Grundzustand anerkennt, muss er für jede einzelne Bewegungskette einen separaten oder zumindest einen jeweils von neuem aktiv werdenden geistigen Beweger postulieren. Thales und seine unmittelbaren Nachfolger haben den exzessiven Anthropozentrismus, wie er den mythologischen und nicht wenigen religiösen Weltanschauungen eigen ist, beseitigt und damit den Grundstein für eine zwar distanziertere, aber erfolgreichere und zumindest aus heutiger Sicht weniger ad hoc anmutende Naturauffassung gelegt. Dank der Neubestimmung der materiellen Trägheit ist mit Descartes und Newton der Geist bzw. die Seele nicht nur in metaphysischer, sondern als ehemals bewegendes Prinzip auch in physikalischer Hinsicht gänzlich aus der Theorie natürlicher Vorgänge verschwunden. An die Stelle handelnder Akteure treten Naturgesetze, welche die Erhaltung und Transformation der Bewegung, des Impulses und der Energie regeln. An der Absenz des Subjektes hat sich trotz offener Fragen bezüglich des Messvorgangs, des Kollapses der Wellenfunktion und des Demarkationsproblems bzw. der Rolle des Beobachters in der Quantenmechanik bis heute letztlich wenig geändert.17

14 15 16 17

Aristoteles 1959, 405a19 (10f.). Descartes 1996b, 26 (dt. 47). Siehe Descartes 1996c, Pars secunda, §§ 26f. und 37, 54f. und 62f. (dt. 42f. und 49f.). Vgl. allerdings Bells Ausführungen zu der unter anderem von Wigner und Wheeler vertretenen Auffassung, nichts anderes als der immaterielle menschliche Geist sei für den Übergang von der Linearität eines Quantensystems zur Nichtlinearität der Messergebnisse verantwortlich: Bell 1987 (zuerst 1986), 190f.

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Nun war, ist und bleibt unser Selbstbild jedoch im doppelten Sinne mythologisch. Auf der einen, inhaltlichen Seite ist es nach wie vor kompromisslos animistisch: Wir erleben und wir betrachten uns selbst als genuine Akteure. Auf der anderen, formalen bzw. darstellerischen Seite ist es, wie der Mythos, durch und durch narrativ: Wir verstehen unser Ich im Lichte vergangener Widerfahrnisse und Entscheidungen, gegenwärtiger Wünsche und Überzeugungen und künftiger Belohnungen und Ahndungen, also im Lichte einer zusammenhängenden, sinnhaften persönlichen Geschichte. Wir verleihen ihm eine von uns auch als solche erfass- bzw. reabsorbierbare Persistenz, indem wir es zum Gegenstand einer fortlaufenden autobiographischen Erzählung machen oder, um mit Dennett zu sprechen, überhaupt erst als „Zentrum narrativer Schwerkraft“ entstehen lassen.18 Letzteres kann allerdings nicht die schiere, zu jedem Zeitpunkt von neuem (à la Descartes) erkennbare Existenz des Ichs betreffen, aber sehr wohl dessen diachrone personale Identität oder Gerichtetheit, ohne die wir uns unverständlich blieben. Auf das Verhältnis zwischen unserem Welt- und unserem Selbstbild wirkt sich dies potentiell unterschiedlich aus. Halten wir sowohl an der von Descartes und Newton vorgezeichneten metaphysisch-wissenschaftlichen Konzeption der Außenwelt als auch an unserem manifesten Selbstverständnis samt der damit einhergehenden Lebensform fest, müssen wir scheinbar ein Schisma, eine irreduzible Kluft zwischen beiden in Kauf nehmen – und damit letztlich auch eine inkohärente Gesamtsicht der Dinge. Die Konzeption wäre dann im strengen Sinne kein Weltbild, keine alles umfassende Perspektive, sondern grundsätzlich unvollständig. Ihr unerlässlicher Gegenpart, unser Selbstbild, würde sie in gewisser Weise zwar ergänzen und vervollständigen, stände mit ihr jedoch in keinem erkennbaren Zusammenhang. Snows berühmte Diagnose zu den zwei Kulturen stellt nur eines von vielen wirklichen Symptomen jenes möglichen Schismas dar.19 Wenn wir die inhärente Schizophrenie eines solchen weltanschaulichen Flickwerks vermeiden wollen, stehen uns zwei Wege offen. Zum einen können wir angesichts der überragenden Wichtigkeit, die wir uns selbst fast zwangsläufig zusprechen, unserem Selbstbild und damit einer historisierenden, literarischen Betrachtungsweise den Vorrang geben. Das ist ein populärer Weg, der auf vielfältige Art und mit unterschiedlicher Entschlossenheit beschritten werden kann. In seiner radikalsten Form läuft er auf eine Ablehnung der Naturwissenschaften und ihrer Befunde hinaus; der Kreationismus liefert dafür ein sprechendes Beispiel. In seiner mildesten Form nimmt er hingegen Anleihen bei den Wissenschaften selbst, indem er ihre diachronen bzw. narrativen Erklärungsansätze – seien es unbestätigte Theorien wie die Psychoanalyse, seien es Theorien von begrenzter Aussagekraft wie diejenige Darwins20 – de facto oder de jure zu neuen Leitparadigmen erhebt. 18 19 20

Siehe Dennett 1992. Siehe Snow 1959. „The Darwinian theory of natural selection, assuming the truth of its historical claims about how organisms develop, is a very partial explanation of why we are as we are. It explains the selection among those organic possibilities that have been generated, but it does not explain the possibilities themselves. It is a diachronic theory […]. It may explain why creatures with vision or reason will survive, but it does not explain how vision or reasoning are possible. These require not diachronic but timeless explanations“ (Nagel 1986, 78f.).

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Zum anderen können wir jedoch auch der metaphysisch-wissenschaftlichen Konzeption den Vorzug geben und unser Selbstbild an sie anzupassen versuchen. In der analytischen, zunehmend naturalistischen Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts macht diese nicht minder radikale Form des Reduktionismus die dominierende Hauptrichtung aus. Sie reicht vom Quietismus des frühen Wittgenstein – „Die Gesamtheit der wahren Sätze ist die gesamte Naturwissenschaft“,21 und darüber hinaus gibt es nichts Sinnvolles zu sagen – bis hin zum eliminativen Materialismus Churchlands, der Wünsche und Überzeugungen für das ontologische Blendwerk eines bankrotten Theoriegeflechts hält und dementsprechend nicht nur die sogenannte Volkspsychologie, sondern jede wie auch immer geartete Form narrativer Erklärung oder narrativen Selbstverständnisses über Bord wirft.22 Während das Motiv hinter der Rückkehr zu einer im weitesten Sinne des Wortes mythologischen Sicht der Dinge primär praktischer Natur sein dürfte, wurzelt der Szientismus in einer reuelos aufklärerischen Einstellung, wonach angesichts eines weltanschaulichen Konflikts unsere Wahl stets auf die mitunter unangenehme, mitunter schmerzhafte wissenschaftliche Wahrheit fallen sollte, und zwar unabhängig davon, ob dadurch unsere Lebensform tangiert oder gar aus den Angeln gehoben wird. Unter zugespitzten Umständen sind wir im einen Fall also offenbar dazu bereit, methodologisch zertifiziertes Wissen einer bequemen bis selbstherrlichen Praxis zu opfern, im anderen Fall hingegen dazu, unser Selbstverständnis und unsere Lebensform einer ideellen Rosskur zu unterziehen. Letztlich scheinen alle drei Optionen, die sich aus dem Kontrast zwischen dem manifesten Selbstbild einerseits und der metaphysischwissenschaftlichen Konzeption der Natur andererseits ergeben, wenig ansprechend zu sein.

4.

Zur Möglichkeit einer vereinigenden Synthese

Der weltliche Verlust der sekundären Qualitäten ist, so bedauerlich er auch sein mag, unwiederbringlich. Aber er koppelt das wahrnehmende Subjekt nicht gänzlich von der Welt ab. Denn erstens sind mein Roteindruck und mein Wärmegefühl in der Regel Empfindungen von etwas Objektivem, nämlich der Wellenlänge bzw. Frequenz von Photonen im einen Fall und der mittleren kinetischen Energie der umgebenden Luft etc. im anderen. Und zweitens braucht die Röte (als subjektive Entsprechung der Wellenlänge) oder die Wärme (als subjektive Entsprechung der Temperatur) nicht als intrinsische Eigenschaft einer intermediären Entität (eines Sinnesdatums) aufgefasst zu werden, die zwischen dem Objekt und dem Selbst zu liegen kommt und Letzteres wie einen Schleier von Ersterem abtrennt. Die Röte kann vielmehr als „Art des Gegebenseins“ (Gottlob Frege) der Wellenlänge betrachtet werden, also als Weise, in der sich diese manifestiert, und damit als bloße Relation zwischen dem wahrnehmendem Selbst und der objektiven Eigenschaft. 21 22

Wittgenstein 1989 (zuerst 1921), Satz 4.11. Siehe Churchland 1981.

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Was ein unüberbrückbares Auseinanderbrechen der subjektiven und der objektiven Sphäre und damit eine Unverträglichkeit zwischen unserem Selbst- und unserem Weltbild zu veranlassen scheint, ist mit anderen Worten nicht das Wahrnehmen bzw. unsere Auffassung davon, sondern das Handeln bzw. unsere Auffassung davon. Es ist der verbleibende Animismus, der quer zur metaphysisch-wissenschaftlichen Konzeption der Kausalität zu stehen scheint: Wenn alle gegenwärtigen körperlichen Bewegungen bloße Transformationen früherer körperlicher Bewegungen sind, unter Wahrung der Energie- und der Impulserhaltung nota bene, scheint es für Akteurskausalität ganz einfach keinen Platz zu geben. Was ich mir selbst zuschreibe, die Bewegung meines Arms beispielsweise, wäre demnach nichts anderes als die Wirkung anderer außenweltlicher Vorgänge. So fiele das vermeintlich handelnde Subjekt tatsächlich aus der Welt heraus. Diese Folgerung ist indessen übereilt. Unserem Selbstbild zufolge resultieren unsere körperlichen Handlungen aus unseren Motiven, Wünschen oder Absichten einerseits und unseren Überzeugungen andererseits. Wären diese sogenannten propositionalen Einstellungen ontologische Extras, die nichts mit der Materie und ihren Bewegungszuständen zu tun haben, gäbe es für Handlungen tatsächlich keinen weltlichen Platz. Doch hindert uns auch die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten nicht daran, die propositionalen Einstellungen mit Körperzuständen in einem noch zu präzisierenden Sinne zu identifizieren. Wenn sie indessen mit Körperzuständen zusammenfallen, so haben und hatten sie im materiellen Gefüge und seinen Transformationen immer schon ihre angestammte Wirkungsstätte. Handlungsgründe, also Wünsche und Überzeugungen, sind, so hat insbesondere Davidson betont, innerweltliche Ursachen.23 Ein derartiger Ausweg aus dem ursprünglichen Dilemma ruft allerdings zwei Fragen respektive Einwände auf den Plan: Sind Wünsche und Überzeugungen tatsächlich respektable Entitäten, die in einer wissenschaftlichen Ontologie Platz finden können? Und sind unter jener Annahme tatsächlich wir es, die handeln? In seiner Kritik an der volkspsychologischen Erklärung von Handlungen durch Wünsche und Überzeugungen verneint Churchland die erste Frage vehement. Aber er tut es auf indirektem Weg: Die Volkspsychologie weise alle Symptome eines stagnierenden oder gar degenerierenden Forschungsprogramms auf, das in den letzten zwei- bis dreitausend Jahren keine Fortschritte erzielt habe und sich überdies nicht ins stetig wachsende Geflecht der wissenschaftlichen Theorien über die angrenzenden Felder integrieren lasse.24 Aus ihrem bescheidenen wissenschaftstheoretischen Status schließt er wiederum, „dass ihre Ontologie eine Illusion ist“25 . Selbst wenn wir seine Einschätzung der Volkspsychologie teilen, brauchen wir ihm hinsichtlich der ontologischen Konsequenzen jedoch nicht zu folgen. Sterne, Planeten und Kometen sind respektable Entitäten, obwohl sie in der Newtonschen Mechanik oder in der allgemeinen Relativitätstheorie nicht als solche, d. h. nicht unter Bezeichnungen wie „Stern“, „Planet“ oder „Komet“ auftauchen. Von ihnen ist darin nämlich nur qua Massen oder qua Massepunkten überhaupt die Rede. Denn 23 24 25

Siehe Davidson 1980a (zuerst 1963). Siehe Churchland 1981, 74f. Ebd., 72.

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von diesen handeln die entsprechenden Gesetzesaussagen. Damit eine Entität zum Gegenstandsbereich einer Theorie zählt, genügt es allerdings, wenn sie unter irgendeine der entsprechenden Gesetzesaussagen fällt. Ob die Gesetzesaussage die Bezeichnung, unter der wir die Entität gemeinhin zu subsumieren pflegen, überhaupt enthält, bleibt demgegenüber ohne ontologische Relevanz. Falls die Bezeichnung im Vokabular der Theorie fehlt, tut dies dem ontologischen Status der betreffenden Entität also keinen Abbruch, solange jene Bedingung erfüllt ist. Nun hat Davidson jedoch geltend gemacht, dass jeder handlungsrelevante Wunsch, jede handlungsrelevante Überzeugung und damit auch jeder genuine Handlungsgrund qua raumzeitliches Einzelereignis bzw. qua raumzeitlicher Einzelzustand unter ein striktes physikalisches Gesetz fallen muss. Die betreffende Allaussage wird Ausdrücke wie „Wunsch“, „Überzeugung“ oder „Grund“ zwar nicht enthalten, ja, nicht enthalten können, weil nicht einmal alle Instanzen eines recht spezifischen Wunschtyps wie etwa des raumzeitlich mehrfach exemplifizierbaren Wunsches, etwas zu trinken, in ein und demselben gesetzesartigen Kausalzusammenhang auftauchen. Doch fällt mein jetziger Wunsch, etwas zu trinken, nichtsdestotrotz unter ein striktes physikalisches Kausalgesetz, sobald er handlungswirksam wird. Nur fällt er dann typischerweise unter ein anderes physikalisches Gesetz als beispielsweise mein gestriger Wunsch, etwas zu trinken. Eben deswegen gibt es keine Gesetzmäßigkeiten über mein Trinkenwollen als Typ, geschweige denn übers menschliche Trinkenwollen im Allgemeinen.26 Davidsons Position, der anomale Monismus, vermag also nicht nur die ontologische Respektabilität von Wünschen und Überzeugungen qua Einzelvorkommnissen zu belegen, sondern gleichzeitig auch zu erklären, warum der Volkspsychologie als einer Theorie von Wünschen qua Wünschen respektive von Überzeugungen qua Überzeugungen jener wissenschaftstheoretische Status fehlt, den Churchland von einer akzeptablen Theorie nicht zu Unrecht verlangt. Was zweitens die Frage betrifft, ob wirklich wir es sind, die diesem Ansatz zufolge handeln, muss man sich von einer Auffassung lösen, wonach eigenes Handeln nur vorliegt, falls die betreffende Kausalkette in oder mit dem eigenen Selbst beginnt und dann gleichsam durch die jeweiligen Handlungsgründe hindurch zu den entsprechenden körperlichen Bewegungen führt. Damit eine Handlung meine Handlung ist, reicht es vielmehr aus, wenn die handlungsrelevanten Wünsche und Überzeugungen meine Wünsche und Überzeugungen sind. Um diese Meinigkeit gewährleisten zu können, braucht es indessen kein substantielles kartesisches Ego. Ein kantisches, rein repräsentationales Modell, wonach das „Ich denke […] alle meine Vorstellungen begleiten können“27 muss, genügt für die hier geforderten Identifikationszwecke vollauf. Denn die Vorstellung Ich denke könnte diesen jetzigen Wunsch, etwas zu trinken, durchaus begleiten, obwohl sie es de facto nicht tut. Begleitet das Ich denke meinen jetzigen Bewusstseinsinhalt nicht, bin ich mir in diesem Moment meiner eigenen Existenz auch nicht gewiss, doch behauptet selbstredend auch Descartes nicht, jede einzelne cogitatio veranlasse uns zu einen Schluss auf die eigene Existenz. 26 27

Siehe Davidson 1980b (zuerst 1970). Kant 2003 (zuerst 1787), B 131 (Hervorh. im Orig.).

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Wittgenstein bemerkt: „Das Ich tritt in die Philosophie dadurch ein, dass die ‚Welt meine Welt ist‘“.28 In Anlehnung daran können wir sagen: Das Ich tritt in die Naturwissenschaften dadurch ein, dass diese Wünsche und Überzeugungen meine Wünsche und Überzeugungen sind. Ob das Ich von substantieller Art ist oder eine sonst wie beschaffene reale Persistenz besitzt, kann hinsichtlich der Frage nach der handlungstheoretischen Vereinbarkeit von Selbst und Welt hingegen offen bleiben. In gewisser Weise vermag unter diesen eingeschränkten Bedingungen sogar unser narratives Selbstverständnis fortzuleben. Schließlich kann das Ich denke auch meine gegenwärtigen Erinnerungen und gegenwärtigen Erwartungen begleiten und mir damit die Genese einer Narration ermöglichen. Allerdings entstünde so zu jedem dafür ausgewählten Zeitpunkt eine andere Erzählung, und keine fortlaufende Autobiographie. Eine Autobiographie ist ebenso wie ein Mythos aus einer einzigen Perspektive konzipiert, nämlich aus derjenigen eines Ich-Erzählers im ersten und eines auktorialen Erzählers im zweiten Fall. Jener Ich-Erzähler, jenes erzählende Ich, hat jedoch seinerseits einen bestimmten Standpunkt in der Zeit, der sich nicht mit dem früheren Standpunkt des erzählten Ichs deckt. Selbst die vergangenen Handlungsgründe, an die sich der Erzähler aus seiner zeitlich fortgeschrittenen Perspektive heraus noch zu erinnern vermag, sind, qua erinnerte, bloß fragmentarische Überbleibsel. Sie sind von den ehemaligen Umständen und Randbedingungen, unter denen sie sich seinerzeit überhaupt erst als relevante Handlungsgründe hatten erkennen lassen, nunmehr abgekoppelt. Losgelöst von der entsprechenden Situation erklären Handlungsgründe jedoch nichts, weil es, wie Davidson dargelegt hat, keine strikten psychologischen Gesetze gibt, welche die isolierten Handlungsgründe betreffen, sondern bestenfalls solche, die ceteris paribus gelten. Othellos Eifersucht führte unter den und den Umständen zu den und den Untaten, die Eifersucht für sich genommen bewirkt hingegen nichts Bestimmtes. Schon allein deswegen können wir aus Shakespeares Stück nichts Allgemeingültiges über die Eifersucht lernen. Und ebenso wenig vermag die punktuelle Erinnerung an einen früheren Zustand der Eifersucht eine zurückliegende autobiographische Episode jetzt zu erhellen. Selbst wenn dem Ich-Erzähler die nachträgliche Handlungserklärung plausibel erscheint, so tut sie dies entweder nur vor dem Hintergrund seiner gegenwärtigen Situation oder dann unter der irrigen Annahme kontextübergreifender, isolierbarer psychischer respektive psychophysischer Gesetzmäßigkeiten. Mithin kann es keine diachrone autobiographische Wahrheit geben. Das einzige wahrheitserhaltende, erklärende narrative Verfahren ist dasjenige des Tagebuchs, also der Aneinanderreihung stückweise und mithin synchron verfasster, je situationsgebundener Anekdoten. Letzteren fehlt jedoch die einheitliche, unifizierende Perspektive eines einzelnen Ich-Erzählers. Denn mein früheres Selbst ist nicht mein jetziges. Anders verhält es sich bei wissenschaftlichen Erklärungen und fiktionalen Erzählungen, zu denen bei Lichte besehen auch die Mythen zu zählen sind. Denn jene beruhen auf strikten physikalischen Gesetzen, die unabhängig vom Kontext und unabhängig von der Kenntnis ausreichend vieler Randbedingungen in Anspruch genommen werden können, während diese im Unterschied zu den Autobiographien insofern keine entkoppelnde Differenz zwischen der Zeit des Erzählers und der Zeit des Erzählten aufweisen, als 28

Wittgenstein 1989, Satz 5.641.

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fiktionale Welten, falls überhaupt, erst im Augenblick des Erzählens entstehen. Qua Fiktionen fehlt den Mythen allerdings der Realitätsbezug, der sie erst wahrheitsfähig und damit explanatorisch bedeutsam zu machen vermöchte. Literaturverzeichnis

Aristoteles (1959), Über die Seele, übers. v. Willy Theiler, Berlin. Bell, John (1987, zuerst 1986), „Six Possible Worlds of Quantum Mechanics“, in: John Bell, Speakable and Unspeakable in Quantum Mechanics, Cambridge, 181–195. Churchland, Paul (1981), „Eliminative Materialism and the Propositional Attitudes“, in: The Journal of Philosophy 78, 67–90. Davidson, Donald (1980a, zuerst 1963), „Actions, Reasons and Causes“, in: ders., Essays on Actions and Events, Oxford, 3–19. Davidson, Donald (1980b, zuerst 1970), „Mental Events“, in: ders., Essays on Actions and Events, Oxford, 207–225. Dennett, Daniel (1992), „The Self as the Center of Narrative Gravity“, in: Frank Kessel/Pamela Cole/Dale Johnson (Hg.), Self and Consciousness: Multiple Perspectives, Hillsdale, 103–115. Descartes, René (1996a, zuerst 1637), Discours de la méthode, in: Oeuvres de Descartes, hg. v. Charles Adam und Paul Tannery, Paris, Bd. VI, 1–78 (dt. Discours de la méthode/Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs, übers. u. hrsg. v. Lüder Gäbe, Hamburg, 1960). Descartes, René (1996b, zuerst 1641), Meditationes de prima philosophia, in: Oeuvres de Descartes, hrsg. v. Charles Adam und Paul Tannery, Paris, Bd. VII, 1–90 (dt. Meditationes de prima philosophia/Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, übers. v. Artur Buchenau u. hrsg. v. Lüder Gäbe, Hamburg, 1992). Descartes, René (1996c, zuerst 1644), Principia philosophiae, in: Oeuvres de Descartes, hrsg. v. Charles Adam und Paul Tannery, Paris, Bd. VIIIa, 1–348 (dt. Die Prinzipien der Philosophie, übers. v. Artur Buchenau, Hamburg, 1992). Kant, Immanuel (2003, zuerst 1787), Kritik der reinen Vernunft, hrsg. v. Jens Timmermann, Hamburg. Kripke, Saul (1981), Naming and Necessity, Oxford. Nagel, Thomas (1986), The View from Nowhere, New York. Snow, Charles P. (1959), The Two Cultures and the Scientific Revolution, Cambridge. Wittgenstein, Ludwig (1989, zuerst 1921), Logisch-philosophische Abhandlung, Kritische Edition, hrsg. v. Brian McGuinness und Joachim Schulte, Frankfurt/M.

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Literatur und Philosophie: Perspektiven einer Überschneidung

Der Titel eines mittlerweile schon etwas betagten Aufsatzes von Arthur Danto aus dem Jahre 1985 fächerte erstmals das Spektrum auf, in dem die Bereiche „Philosophie“ und „Literatur“ einander begegnen bzw. ineinander übergehen, sich ergänzen, verstärken oder kommentieren: Philosophy as/and/of Literature.1 Angesichts der Vielzahl neuerer und teilweise konkurrierender Ansätze,2 gilt es, dieses Spektrum unter variierenden Fragestellungen erneut zu bestimmen, wobei insgesamt die Frage nach der philosophischen Relevanz literarischer Texte im Zentrum der Überlegungen stehen wird. Folgen wir Danto, so ergibt sich folgende – von der Philosophie ausgehende – Bestimmung: Philosophie als Literatur, Philosophie und Literatur sowie Philosophie der Literatur. Von dieser Differenzierung werde ich insofern abweichen, als mit der primär philosophischen Perspektive Dantos ein weiterer Bereich aus dem Blick gerät: Philosophie in Literatur. Dieser Themenkomplex bildet den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen, deren Fokus auf „Philosophie und Literatur“ und hier insbesondere auf beiden Bereichen gemeinsamen Analysekategorien liegen wird. Die Akzentuierung des Literarischen in diesem Zusammenhang hat eine Erweiterung des ursprünglichen Spektrums zur Folge: Neben die Philosophie als Literatur tritt die Literatur als Philosophie. Um die Verbindungen zwischen Literatur und Philosophie zu bestimmen, sind vorab zwei Begriffsklärungen notwendig: zum einen die Bestimmung des Begriffs von Literatur, der in seinem weiten Sinne, in dem auch wissenschaftliche Texte zwar literarische, aber keine fiktionalen Texte sind, dahingehend eingeschränkt wird, dass mit „Literatur“ im Folgenden fiktionale Literatur gemeint ist. Zum anderen folgt die für philosophischepistemische Bestimmungen zentrale Differenzierung zwischen Wissen und Erkenntnis derjenigen zwischen Propositionalität und Nicht-Propositionalität: Wissen wird als auf Aussagenwahrheit und Begrifflichkeit bezogenes Satzwissen verstanden; der Erkenntnisbegriff schließt demgegenüber nicht-propositionale Aspekte wie Adäquatheit und Nicht1 2

Danto 1985. Vgl. etwa die Beiträge in Gabriel/Schildknecht 1990, Schildknecht/Teichert 1996, Gabriel 1997, Horn/Menke/Menke 2005 sowie die Monographie von Köppe 2008.

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Begrifflichkeit ein. Leitend für die folgenden Überlegungen werden dabei insbesondere die wesentlichen Varianten sein, in denen Begrifflichkeit und Nicht-Begrifflichkeit als Kategorien der Analyse jeweils in Anspruch genommen werden.

1.

Philosophie in Literatur

Mit Philosophie in Literatur ist die Behandlung philosophischer Inhalte in Form von Literatur angesprochen, also beispielsweise die Frage, auf welche Weise bestimmte Autoren philosophische Überlegungen in ihren Werken thematisieren.3 Damit nimmt Philosophie in Literatur nicht nur eine literaturwissenschaftliche Fragestellung, sondern wesentlich ein philosophieinternes Thema in den Blick. Denn die literarische Verarbeitung philosophischer Gedanken wirkt zurück auf eine adäquate Bestimmung der zentralen philosophischen Begriffe Erkenntnis und Wissen: Welche Erkenntnis- und Wissensformen werden außerhalb philosophischer Texte im engeren Sinne durch Literatur vermittelt und reflektiert? Wie werden philosophische Inhalte in Literatur transformiert? Wie sehen die Verfahren aus, durch die literarische Texte philosophische Überlegungen vermitteln? Gibt es eine Differenz zwischen dem philosophischen Aspekt von Literatur und den im engeren Sinn philosophischen Texten? Zu der großen Zahl der hier einschlägigen Texte gehören etwa Shakespeares Hamlet, Cervantes’ Don Quijote, Calderóns Das Leben ein Traum, Sternes Tristam Shandy, Goethes Faust, Lewis Carrolls Alice in Wonderland, Thomas Manns Tod in Venedig, Prousts À la recherche du temps perdu oder Jean-Paul Sartres La Nausée.4

2.

Philosophie als Literatur

Gegenüber einer Analyse von Philosophie in Literatur ist Philosophie als Literatur thematisch umfassender und folglich schwerer zu präzisieren. Formen des Als-ob in der Philosophie wie vor allem die Metapher, aber auch andere indirekte Darstellungsformen wie Vergleiche, Symbole oder Stilfiguren allgemein, insbesondere aber die Probleme, die mit der Bestimmung von Begriffen und dem Ziehen von Begriffsgrenzen zusammenhängen und die sich unmittelbar auf den für Wissen zentralen Begriff der Wahrheit auswirken, haben in der Philosophie dazu geführt, die Rolle der Sprache als Darstellungs- und Vermittlungsmedium allgemein sowie speziell den propositionalen Wissensbegriff kritisch zu reflektieren. Prominente Vorläufer einer Position, die die philosophische Suche nach begrifflicher und/oder wahrheitsbezogener Erkenntnis als verfehlt verwerfen und entsprechend dekonstruktiv verfahren, sind Nietzsche und Mauthner. So treten bei Nietzsche an die Stelle vermeintlich trügerischer philosophischer Wahrheit, die sich letztlich als „bewegliches Heer von Metaphern“5 erweist, vom Zwang nach Wahrheitssuche befreite 3 4

5

Vgl. hierzu die Beiträge in Schildknecht/Teichert 1996. Die hier getroffene Auswahl fiktionaler Prosatexte soll keinesfalls im Sinne eines Ausschlusses der Lyrik verstanden werden; einschlägige lyrische Texte wären beispielsweise Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien oder die Gedichte Paul Celans. Nietzsche 1966, 314.

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Einsichten und Erfahrungen, wie sie Dichtung und Kunst vermitteln. Aber auch Frege hat – entgegen Nietzsche aus der Perspektive des an der Sicherung stabiler Bedeutung und von daher an scharfen Begriffsgrenzen interessierten Logikers und Idealsprachlers – darauf hingewiesen, dass in bestimmten Bereichen der Sprache und vor allem im Hinblick auf Metaphern unvermeidbare „Färbungen“ vorliegen. Aufgrund dieser, wie er es nennt, „unsicheren Verbindung der Vorstellungen mit den Worten“6 ist eine Verständigung hier lediglich durch „Winke“ oder „mit einem Körnchen Salz“7 möglich. Freges Diagnose erweist sich entgegen seinen eigenen Intentionen letztlich für ihn selbst als systematisch unhintergehbar, etwa dann, wenn die kategoriale Unterscheidung zwischen Begriff und Gegenstand nur über die der Chemie entlehnte Metapher der Ungesättigtheit vermittelt werden kann. Die Unverzichtbarkeit metaphorischer Rede nicht nur in diesem Kontext, sondern generell dann, wenn wir es mit Erläuterungen und anderen Formen indirekter Erkenntnisvermittlung zu tun haben, mit Formen also, die in der Begrifflichkeit Wittgensteins in den Bereich des Zeigens fallen, hat in letzter Konsequenz zu einer Auflösung der Grenze zwischen Philosophie und Literatur geführt. Zur Debatte steht die Differenzierung zwischen einer auf Wahrheit und Erkenntnis gerichteten und begrifflich verfahrenden Philosophie einerseits und einer nur auf den ersten Blick begrifflich verfahrenden und lediglich textimmanente, d. h. der Erzählstruktur verpflichtete Wahrheiten transportierenden Literatur andererseits. Denn für die Sprache der Literatur gilt, dass sie im Unterschied zur Sprache der Philosophie nicht behauptend verfährt (und damit keinen Anspruch auf Wahrheit erhebt) und weder eine Bezugnahme auf die Welt (Referenzialisierbarkeit) noch die Erfülltheit ihrer prädikativen Ausdrücke beansprucht.8 Aus der Perspektive der Dekonstruktion, die eine Grenzziehung zwischen Philosophie und Literatur prinzipiell bestreitet, behandelt umgekehrt auch „die philosophischste Lektüre eines philosophischen Werkes – eine Lektüre, die dessen Begriffe und die Grundlagen seines Diskurses in Frage stellt – [...] das Werk als Literatur, als ein fiktives, rhetorisches Konstrukt, dessen Elemente und Ordnung durch diverse textuelle Zwänge determiniert sind“.9 Die Vorläufer einer derartigen Identifikation von Philosophie mit Literatur als der extremsten Variante von „Philosophie als Literatur“ – allen voran Nietzsche, aber in seinem Gefolge auch Heidegger, Adorno, Derrida und Lyotard – sind ihrerseits gleichzeitig bekennende „Anwälte des Nicht-Identischen“.10 Der hier erhobene – vor allem bei Nietzsche und Adorno an den Willen zur Macht gebundene – Vorwurf richtet sich, wie Gottfried Gabriel überzeugend ausgeführt hat, gegen das mit der Begriffsbildung verbundene identifizierende Denken, durch das „Verschiedenes als dasselbe in bestimmter Hinsicht“11 aufgefasst wird. Insofern die „identischen 6 7 8

9 10 11

Frege 1975a (zuerst 1892), 45. Frege 1975b (zuerst 1892), 69, 79. Für eine Definition fiktionaler Rede als nicht-behauptender Rede, die keinen Anspruch auf Referenzialisierbarkeit oder auf Erfülltheit erhebt, vgl. Gabriel 1975, 14–32 sowie ähnlich Lamarque/ Olsen 1994. Dabei entsprechen insbesondere die von Lamarque/Olsen 1994, 53–60 angeführten Kriterien für fiktionale Rede – no truth-value view, no-assertion view, theory of presupposition – der Definition Gabriels. Culler 1988 (engl. zuerst 1982), 166 (Hervorhebung C. S.). Wellmer 1985, 85f., 141f., 148f. Zum Folgenden vgl. Gabriel 1997, 38ff. Gabriel 1997, 39.

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Fälle“ also Fälle desselben Allgemeinen unter Absehung von individuellen Unterschieden sind, besteht ein enger Zusammenhang mit dem Verfahren der Begriffsbildung und den Grenzen von Begriffen. Im Hinblick auf die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Literatur ist damit zugleich primär die Unterscheidung zwischen logischem und analogischem Denken angesprochen, die wiederum direkt auf das jeweilige Verständnis von Wissen bzw. Erkenntnis zurückwirkt: Während logisches Denken darauf ausgerichtet ist, zwischen demjenigen, was ähnlich scheint, zu differenzieren und sich argumentativ in „scharf begrenzten Begriffen“ 12 , d. h. anhand deutlicher Unterscheidungen vollzieht, ist analogisches Denken demgegenüber gerade auf die Übergänge, d. h. auf die „Ähnlichkeiten im Verschiedenen“13 gerichtet; demzufolge steht hier nicht die Schärfe der Begriffsgrenzen, sondern vielmehr deren Durchlässigkeit im Zentrum. Logische Begriffsbildung, beispielsweise in Form von Definitionen, kontrastiert folglich mit analogischer Begriffsbildung in Form von Metaphern und Vergleichen. Indem sie bezweifeln, dass sich überhaupt eine eindeutige Grenze zwischen den Bereichen „Philosophie“ und „Literatur“ ziehen lässt, unterlaufen dekonstruktivistische Ansätze sowohl diejenigen Bestimmungen des Verhältnisses von Philosophie und Literatur, die Wahrheit und (begriffliche) Erkenntnis für die Philosophie reservieren, als auch diejenigen, die die propositionale Ausrichtung der Philosophie zugunsten von Literatur und Kunst generell in Frage stellen und mit zwar nicht-propositionalen, jedoch explizit philosophisch verorteten Erkenntnisformen kontrastieren. Demgegenüber wird im Rahmen einer Entgrenzung von Philosophie und Literatur „Philosophie“ selbst als Bezeichnung eines spezifischen literarischen Diskurses verstanden, der sich durch rhetorische Verfahren der Ab- und Ausgrenzung von anderen literarischen Texten konstituiert. Unterstellt wird dabei, dass sich die Selbsteinschätzung der Philosophie hinsichtlich der Relevanz und Tragweite ihrer Grundbegriffe letztlich der Verleugnung ihrer Literarizität verdankt. Philosophie als Literatur kann aber auch noch etwas anderes heißen: In Abgrenzung von Philosophie in Literatur hat sich – letztlich durch die Provokationen dekonstruktiver Entgrenzung verstärkt – immer auch die These erhalten, dass Philosophie oft auf eine nicht auflösbare Weise mit einer spezifischen Form der sprachlichen Artikulation verbunden und von daher das Philosophische ihrer Texte häufig nur durch Reflexion auf die literarische Form zugänglich ist. Das Absehen vom Moment des Literarischen zerstört in solchen Fällen den philosophischen Gehalt. Philosophie als Literatur kann also auch Philosophie, insofern sie Literatur ist, meinen. Rekurriert wird hier auf die eingangs angeführte neutrale gattungstheoretische Bestimmung des Begriffs „Literatur“, die auch wissenschaftliche Literatur mit einschließt. Bei gleichzeitiger Einschränkung auf verschriftlichte Literatur sind in diesem weiten Sinne auch philosophische Texte literarische Texte. Und diese Texte weisen literarische Formen auf, insofern sie sich Formen der Darstellung im Großen (Dialog, Aphorismus, Autobiographie etc.) wie im Kleinen (Formen des Als-ob, Metapher, Stilelemente etc.) bedienen, wie sie für literarische Texte im engeren Sinne typisch sind. Neutral betrachtet gehören zur philosophischen Literatur neben den ‚Abweichlern‘ Dialog, Essay, Meditation, Brief, Traktat, Autobiographie oder Aphorismus auch das Lehrbuch und andere akademische Textformen. Die Anerkennung 12 13

Frege 1962 (zuerst 1903), § 56. Gabriel 1997, 25.

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einer im engeren Sinne literarischen Form der Philosophie geht demgegenüber einher mit der Revision eines auf Aussagen und propositionsförmiges Wissen eingegrenzten Erkenntnisbegriffs. An die Stelle einer Gleichsetzung von Erkenntnis und Aussagenwahrheit tritt ein Spektrum von Erkenntnisformen, innerhalb dessen neben den propositionalen auch nicht-propositionale Elemente Anerkennung finden, und das folglich von Logik bis Musik reicht.14 Diese komplementaristische Kontinuitätsthese ermöglicht mit ihrer Erweiterung des Erkenntnisbegriffs dem auf Wahrheit und Begrifflichkeit eingeschränkten propositionalen Wissensbegriff gegenüber eine neue Einschätzung des im engeren Sinne literarischen Aspekts philosophischer Texte. Ihre Lektüre vollzieht sich jenseits eines primär auf wahre Propositionen gerichteten Wissens nun anhand spezifischer, durch den Text vermittelter oder thematisierter Erkenntnisweisen.

3.

Philosophie der Literatur

Die Philosophie der Literatur umfasst all die vielfältigen Ansätze, die sich aus allgemein ästhetischer und/oder spezifisch fiktionstheoretischer Perspektive mit den Besonderheiten literarischer Texte befassen. Dazu zählen mit dem Beginn der Philosophie Platons Dichterkritik, die die auf Wahrheit und Erkenntnis gerichtete Philosophie von der nichtepistemischen Bedürfnissen dienenden Literatur abgrenzt, sowie die Poetik des Aristoteles mit ihrer Betonung der dichterischen Vermittlung universaler Wahrheiten. Leitend im Hinblick auf Ästhetik als wissenschaftlicher Disziplin sind insbesondere die grundlegenden Überlegungen Kants (und Baumgartens) zur reflektierenden Urteilskraft, die zu einem Besonderen ein Allgemeines entwirft und auf diese Weise den Sinn literarischer Texte zu erschließen vermag. Goethe hat – die Position Kants unter besonderer Betonung des Unaussprechlichen (nicht nur des Unausschöpfbaren) in Dichtung und Kunst noch verschärfend – das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem für die Dichtung folgendermaßen bestimmt:15 Es ist ein grosser Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht oder im Besonderen das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie, sie spricht ein Besonderes aus, ohne an’s Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig fasst, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät.16 Obwohl also reflektierende Urteilskraft und Poesie auf das Allgemeine gerichtet sind, unterscheiden sie sich gravierend hinsichtlich ihres spezifischen Zugriffs: Die reflektierende Urteilskraft sucht zu einem gegebenen Besonderen das Allgemeine vermittels der Reflexion; die Dichtung hingegen reflektiert nicht auf das Allgemeine, sondern liefert 14 15 16

Zur Erweiterung des Erkenntnisbegriffs in der Philosophie und zur These der Komplementarität vgl. Gabriel 1975, 1991 und 1997 sowie die Beiträge in Gabriel/Schildknecht 1990. Vgl. hierzu Gabriel 1991, 12f. Goethe 1979 (zuerst 1907), Nr. 1113.

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es direkt im Besonderen selbst. Hinsichtlich des thematischen Leitfadens „Begrifflichkeit“ bzw. „Nicht-Begrifflichkeit“ ist hier zudem das Moment der Unbestimmtheit des Allgemeinen im Besonderen relevant, das sich als spezifisch ästhetische Form der Unbegrifflichkeit erweist. Kant war sich in Bezug auf die ästhetische Idee als derjenigen „Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlasst“,17 im Klaren darüber, dass dieser Idee, wie er es formuliert, kein „bestimmter Gedanke, d. i. Begriff , adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann“.18 Dieser Gedanke wird von ihm bereits in Richtung Unaussprechlichkeit akzentuiert, wenn er ausführt, dass eine ästhetische Idee „zu einem Begriff viel Unnennbares hinzudenken lässt“.19 Die begriffliche Unausschöpfbarkeit der ästhetischen Idee bzw. des Ausdeutens des Sinns eines literarischen Textes verweist als prinzipielle Unausschöpfbarkeit nicht nur auf eine grundlegend nicht-propositional verfasste Erkenntnis im Bereich des Ästhetischen (worauf schon die Rede von Adäquatheit anstelle von Wahrheit bei Kant hindeutet), sondern weist zudem eine enge Verbindung zum Aspekt der Nicht-Begrifflichkeit im Rahmen der Philosophie des Geistes auf, die es noch näher zu bestimmen gilt. Folgt man den Analysen Gabriels, so führt die begriffliche Unausschöpfbarkeit, die literarischem Text bzw. ästhetischem Gegenstand und Individuum gemeinsam ist, in der Philosophie zu dem Gedanken einer, die Summe ihrer Teile übertreffenden Ganzheit und damit letztlich zu einer kontemplativen Sicht der Welt, wie sie etwa bei Schopenhauer oder Wittgenstein vorliegt.20 Die philosophische Hinführung zu dieser kontemplativen Weltauffassung hat Wittgenstein mit der Formulierung zum Ausdruck gebracht, dass man Philosophie „eigentlich nur dichten“21 dürfte. Mit dieser methodisch eng gefassten Verbindung von Philosophie und Literatur nähert sich der Bereich der Philosophie der Literatur demjenigen der Philosophie in Literatur an. Die Bestimmung dessen, was Philosophie der Literatur heißen kann, richtet sich als Frage nach dem Erkenntniswert von Literatur also auch auf die über Literatur hinausweisende allgemeine Frage nach der Möglichkeit ästhetischer Erkenntnis und ästhetischer Weltauffassung. Ebenfalls angesprochen sind hier schließlich die (sprach-) analytischen Positionen etwa zum sogenannten Paradox der Fiktion,22 zur Semantik fiktionaler Rede als einer Rede des Als-ob oder zum Begriff der Repräsentation.23 17 18 19 20 21 22

23

Kant 1974 (zuerst 1790), § 49. Ebd. Ebd. Hierzu siehe Gabriel 1991, 16f. Wittgenstein 1977, 53. Zentral ist hier insbesondere die Frage nach dem Vorliegen genuiner und gerechtfertigter Emotionen, die sich auf fiktive Gegenstände beziehen; vgl. dazu Radford 1975, Carroll 1990, Levinson 1997, Joyce 2000 und Gaut 2003. Innerhalb der Fiktionstheorie hat M. C. Beardsley bereits 1981 auf die zentrale Rolle der Repräsentation verwiesen: „Fiction, then, is the representation, not the performance, of illocutionary actions“ (1981, 295); bei Walton 1993 wird „Repräsentation“ zum Leitbegriff seiner Theorie des Make-believe. Jüngste Arbeiten der Narrationsforschung spiegeln die Konjunktur repräsentationalistischer Ansätze innerhalb der Kognitionswissenschaften und Philosophie des Geistes; vgl. etwa Currie (2010, xvii): „Narratives are intentional-communicative artefacts, intentionally fashioned

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4.

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Philosophie und Literatur

Einher mit den vorangegangenen Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Literatur ging eine Fokussierung auf jeweils einen der beiden Bereiche: Philosophie in oder als Literatur bzw. Philosophie der Literatur. Im Folgenden bildet das gleichwertige, wiewohl perspektivisch unterschiedlich akzentuierte „und“ zwischen Philosophie und Literatur den Ausgangspunkt, der sich zunehmend in Richtung des „in“ von Philosophie in Literatur verschieben und schließlich zu Literatur als Philosophie führen wird. Die Diskussion darüber, inwiefern Philosophie in literarischen Texten thematisiert wird oder literarische Texte ihrerseits als Ort von und Quelle für Philosophie betrachtet werden können, orientiert sich vornehmlich an der Grenzziehung zwischen propositionalem Wissens- bzw. nicht-propositionalem Erkenntnisbegriff und ist insofern epistemisch geprägt. Der Begriff des Wissens wird in der Philosophie seit Platon diskutiert und im Hinblick auf seine Grenzen problematisiert. Dabei rekurrieren alle Ansätze letztlich auf die noch immer als Standarddefinition geltende Bestimmung: die Platonische Definition von Wissen als wahrer, begründeter Meinung.24 Die hier zugrundeliegende Idee lautet, dass Wissen notwendigerweise einen Inhalt besitzt, der auf Wahrheit gerichtet ist: Ein Subjekt S weiß, dass p (etwas der Fall ist). Wir schreiben uns oder anderen Wissen – d. h. wahre und verlässliche Information – zu und wir sagen, dass wir Wissen über die Welt, d. h. über das, was in der Welt der Fall ist, erwerben. Diese Art von Wissen besitzt eine komplexe Struktur. Unbestritten war von Anfang an, dass sich theoretisches Wissen auf mindestens drei Komponenten zurückführen lässt: eine Überzeugung, eine Wahrheitsbedingung und eine Begründung. Überzeugungen besitzen einen Gehalt (dasjenige, wovon man überzeugt ist) und sie besitzen eine spezifische Struktur: eine Überzeugung ist von der Form, dass etwas der Fall ist (oder nicht der Fall ist). Der Gehalt einer Überzeugung weist demnach eine satzförmige bzw. propositionale Struktur auf, und nur Sätze können entweder wahr oder falsch sein. Ihre propositionale Struktur teilen Überzeugungen mit anderen sogenannten propositionalen Einstellungen wie etwa Hoffen, Zweifeln, Fürchten oder Wünschen. Wissen, das eine satzförmige Struktur besitzt und dem wie Sätzen ein Wahrheitswert zukommt, wird entsprechend als propositionales Wissen bezeichnet. Von diesem wird zudem verlangt, dass es auf Begründungen beruht. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund sogenannter Gettier-Fälle, in denen zwar Wahrheit von Überzeugungen vorliegt, diese Wahrheit aber auf zufällige Weise zustande gekommen ist.25 Da Wahrheit keine manifeste Eigenschaft ist, nichts an einem Satz also darauf hinweist, ob dieser wahr oder falsch ist, läuft die Suche nach der Wahrheit einer Überzeugung somit letztlich auf die Suche nach den Gründen für die Wahrheit eines Satzes bzw. einer Überzeugung hinaus. Dabei ist die Debatte darüber, wie sich die Qualität von Grün-

24 25

devices of representation that work by manifesting the communicative intentions of their makers. The representational content of a narrative is the story it has to tell, and we can provide a notion of representational content which fits both fictional and non-fictional narratives.“ Zur Kritik am Repräsentationsbegriff siehe weiter unten. Vgl. Platon 1991b, 339, 365f. (Theaitetos 201c, 210a ff.); Platon 1991a, 15–27 (Menon 71e–75a). Vgl. Gettier 1963.

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den bemessen lässt, (auch jenseits deterministischer bzw. kausaler Ansätze) noch nicht abgeschlossen. Welche epistemische Rolle man der Literatur zuzugestehen bereit ist, korreliert mit dem jeweils zugrunde gelegten Wissensbegriff der Philosophie. Das Spektrum reicht hier von der Leugnung jeglichen Erkenntnisgehalts (bei eventuellem Zugeständnis eines emotiven Gehalts) im Hinblick auf literarische Texte über das Zugeständnis der Vermittlung spezifischer Wissensgehalte bis hin zu der Auffassung, dass Literatur per se und in jeder Hinsicht erkenntnisvermittelnd ist, darin in bestimmter Weise evtl. die Philosophie sogar übertrifft. Dabei differieren die Positionen, die der Literatur einen erkenntnisvermittelnden Gehalt zugestehen, ihrerseits im Hinblick darauf, ob sie diesen Gehalt als propositional, d. h. begrifflich bzw. repräsentational, oder als nicht-propositional, d. h. nicht-begrifflich bzw. phänomenal, verfasst verstehen. Mit dieser Differenz sind die beiden zentralen Kriterien der Analyse angesprochen, die in engem Zusammenhang mit der Bestimmung des propositionalen Wissensbegriffs bzw. – via negativa – mit derjenigen nicht-propositionaler Erkenntnis stehen: das Kriterium der Begrifflichkeit bzw. NichtBegrifflichkeit und das Kriterium der Ausrichtung auf Wahrheit bzw. die Abweichung davon. Die folgenden Ausführungen werden sich auf den (nicht-)begrifflichen als den Philosophie und Literatur wesentlich verbindenden Aspekt beschränken. Im Zusammenhang mit der unter „Philosophie der Literatur“ vorgenommenen Bestimmung der ästhetischen Idee war bereits auf deren Unausschöpfbarkeit bzw. Unaussprechlichkeit verwiesen worden. Diese Diagnose ist nicht neu und verbindet das Moment des Ästhetischen mit dem, was die Philosophie des Geistes als „phänomenales Bewusstsein“ bezeichnet. In Hofmannsthals Text Ein Brief kämpft Lord Chandos mit dem Sich-Entziehen der Begriffe, mit ihrer Unfähigkeit, das (wie in der kontemplativen Erkenntnis) als Einheit verstandene Dasein und, damit verbunden, die Gleichnishaftigkeit der Natur adäquat zu erfassen. „[D]ie abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben“, so Lord Chandos verzweifelt, „zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze“.26 Die Begriffe nehmen „plötzlich eine solche schillernde Färbung“ an und fließen ineinander über, und „diese Anfechtung [breitete sich] aus wie ein um sich fressender Rost“,27 so dass es Chandos letztlich nicht mehr gelingt, Dinge und Welt zu erfassen: Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.28 Mit diesem begrifflichen Taumel begründet Chandos seinen „gänzlichen Verzicht auf literarische Betätigung“.29 Das also, was Begriffe zu leisten vermögen, nämlich die Bezugnahme auf dasselbe Allgemeine unter Absehung des individuell Besonderen, leisten 26 27 28 29

Hofmannsthal 1999 (zuerst 1902), 25. Ebd., 25. Ebd., 26. Ebd., 21.

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sie im Falle Chandos’ nicht mehr; dort, wo es darum geht, die Dinge „in einer unheimlichen Nähe“30 zu sehen und zu erfahren, sind Begriffe machtlos (dies auch dann, wenn ihnen nicht von vornherein wie bei Nietzsche die Macht identifizierenden Denkens unterlegt wird).31 Wir haben es hier mit einer Form begrifflicher Unsagbarkeit zu tun, die sich umgekehrt proportional zur unausschöpflichen Fülle der ästhetischen Idee verhält, insofern nicht der anschauliche Überschuss des (ästhetisch) Allgemeinen angesprochen ist, sondern umgekehrt die sich dem begrifflich notwendigerweise Allgemeinen prinzipiell entziehende Reichhaltigkeit des Individuellen, der kein Begriff und – Hofmannsthal zufolge – auch keine Sprache angemessen sein kann. Auch im Bereich des phänomenalen Bewusstseins begegnen wir diesem Überschuss des Individuellen und zwar im Rahmen der (eigenen) inneren Erfahrung bzw. des Wissens, wie es ist (z. B. eine Fledermaus zu sein oder sich im Zustand der Schwerelosigkeit zu befinden). Unsere Erlebnisfähigkeit ist Dreh- und Angelpunkt dessen, was uns ausmacht, und in der jüngsten Philosophie des Geistes spielt Erleben eine Rolle, die sich mit Blick auf die Dominanz reduktionistischer Bemühungen zunehmend als deren Kontrapunkt versteht. In der Form phänomenalen Erlebens wird das unmittelbare Erleben im Rahmen der Qualia-Debatte zur letzten Bastion, deren Einnahme oder Verteidigung über Sieg oder Niederlage physikalistischer bzw. naturalistischer Ansätze entscheidet. Hier gilt nach wie vor die Diagnose von David Chalmers, wonach phänomenales Bewusstsein „the really hard problem“ der Naturalisierung von Bewusstsein darstellt.32 Dabei bezieht sich der Begriff des phänomenalen Bewusstseins auf denjenigen Bereich des mental Präsenten, dessen Spezifikum der qualitative Aspekt subjektiven Erlebens ist – die Art und Weise also, wie es sich anfühlt, in bestimmten Erfahrungszuständen zu sein. Folgende Charakteristika sind für diese Form von Bewusstsein zentral:33 das Wie-es-ist unseres qualitativen Erlebens, die Innenperspektive, d. h. die untrennbar mit dem Erlebnischarakter verbundene Perspektive der Ersten Person, und schließlich das Bewusstsein und Literatur verbindende Moment der Nicht-Begrifflichkeit, d. h. im Hinblick auf phänomenales Bewusstsein der als nicht-begrifflich zu charakterisierende Gehalt qualitativer Erfahrung. Insbesondere die Spezifizierung phänomenaler Bewusstseinszustände anhand ihres qualitativen Gehalts als eines an die Perspektive der Ersten Person gebundenen Erlebnischarakters unterscheidet diese von kognitiven Bewusstseinszuständen (etwa Überzeugungen) mit begrifflichem Gehalt. Der Gehalt phänomenaler Bewusstseinszustände erweist sich insbesondere deswegen als nicht-begrifflicher Gehalt, insofern die hier – z. B. in der Wahrnehmung – getroffenen Unterscheidungen feinkörniger sind, als es die uns verfügbaren Begriffe zulassen, mit anderen Worten: Sie entziehen sich einer begrifflichen Strukturierung. Der Reichhaltigkeit des Erfahrungsgehalts steht also ein prinzipielles begriffliches Artikulationsdefizit gegenüber; ein Defizit analog zu dem, das Lord Chandos im Hinblick auf die Reichhaltigkeit des Individuellen verzweifeln lässt.

30 31 32 33

Ebd., 26. Vgl. hierzu Gabriel 1997, 39. Chalmers 1995, 201. Vgl. hierzu Lanz 1996, 71ff.

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Dennoch scheint es entgegen dieser Diagnose möglich zu sein, das Erlebnishafte des Bewusstseins, wenn auch evtl. nur unvollständig, begrifflich zu erfassen und auf diese Weise sprachlich zu vermitteln; verfahren wir nicht permanent so, wenn wir unsere Erlebnisse sprachlich artikulieren? Genau genommen stoßen unsere begrifflichen Möglichkeiten jedoch dann an eine unüberwindbare Grenze, wenn die phänomenale Qualität unserer Bewusstseinszustände betroffen ist. Die Philosophie hat dieses Defizit in jüngster Zeit durch die Annahme so genannter phänomenaler Begriffe zu beheben versucht, für die in Abweichung vom klassischen Begriffsverständnis gerade ihr subjektiver Charakter kennzeichnend ist:34 Wer noch nie etwas Rotes gesehen hat, verfügt demnach über keinen phänomenalen Begriff der visuellen Wahrnehmung von etwas Rotem, auch dann nicht, wenn es gelingen sollte, den entsprechenden Wahrnehmungszustand beispielsweise vermittels des einschlägigen wissenschaftlichen, z. B. neurophysiologischen Vokabulars korrekt zu beschreiben. Anders ausgedrückt: Wer noch nie etwas Rotes gesehen hat, ist in einem phänomenalen Sinne blind gegenüber den introspektiven Berichten anderer Personen über Rotwahrnehmungen. Eine phänomenale Interpretation von Erlebnisberichten kann also insbesondere dann scheitern, wenn es nicht möglich ist, auf eigene Erfahrungen oder Empfindungen zurückzugreifen, weil diese – etwa im Fall bestimmter psychopathologischer Zustände – schlichtweg nicht zur Verfügung stehen. Die Erlebnisse, von denen derartige Berichte handeln, bleiben also in einem wesentlichen Sinne unverstanden, weil uns die entsprechenden Erfahrungen fehlen. Dabei besteht das Spezifikum phänomenaler Begriffe darin, dass sie sich nicht durch Beschreibung, sondern direkt hinweisend, mithin deiktisch, auf ihren Gegenstand beziehen, der in diesem speziellen Fall in einem nicht-intentionalen, d. h. nicht objektivierbaren Bewusstseinszustand besteht. Um zu wissen, worauf sich phänomenale Begriffe beziehen, muss man das Objekt der Bezugnahme aus der eigenen Erfahrung kennen; Russell gemäß muss also knowledge by acquaintance vorliegen.35 Auch hier gilt also, dass keine noch so umfassende Beschreibung, d. h. kein noch so präzises knowledge by description, an die Stelle dieser Erfahrung treten kann. Das, was die Begriffe bezeichnen sollen, ist somit erneut unbeschreibbar, unsagbar. Uns fehlen echte Erlebniswörter – unsere Begriffe gleiten am Erlebten ab. Welche Relevanz haben diese philosophischen Überlegungen zur Begrenztheit der begrifflichen Erfassung phänomenalen Erlebens für die Literatur? Ausschließlich konstitutiv für phänomenales Erleben ist dem Bisherigen zufolge die unmittelbare Erfahrung, nicht aber irgendeine Art der Beschreibung – sei sie nun objektiv oder subjektiv, wissenschaftlich oder eben narrativ, weswegen auch die Literatur von dieser Diagnose betroffen ist. Sprachliche Mitteilung reicht im Hinblick auf Erleben nicht aus; unverzichtbar ist hier die direkte Bekanntschaft (knowledge by acquaintance), d. h. man muss in dem jeweiligen Bewusstseinszustand sein, seine Präsenz erleben oder einmal erlebt haben. Nur wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, vermögen entsprechende Passagen eines literarischen Textes einen Impuls im Leser auszulösen, auf das eigene Erleben zurückzugreifen, so dass sich auf dieser Basis und in Orientierung an der Matrix des Textes eine Projektion des Erlebten auf den Text vollziehen kann, in der sich die Bedeutungen 34 35

Vgl. Levin 2007, Levine 2007 und Chalmers 2007. Vgl. Russell 1910/1911.

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konkretisieren und Textverstehen stattfindet. Literarische Texte können dem Rezipienten relativ zu dessen Erlebnishintergrund fremd bleiben und gerade dadurch, dass sie neue Welten erschließen, faszinieren; sie können aber auch eine vertraute Erlebniswelt imaginativ variieren. Wie auch immer die fiktive Welt jeweils beschaffen sein mag: Es gibt kein Erleben im Text. Die Kriterien für phänomenales Bewusstsein gelten also auch mit Blick auf die Analyse fiktionaler Texte und markieren gleichzeitig die Grenzen der Übertragbarkeit: Neben dem Wie-es-ist unseres qualitativen Erlebens und dem als nicht-begrifflich zu charakterisierenden Gehalt qualitativer Erfahrung ist es hier primär die untrennbar mit dem Erlebnischarakter verbundene Perspektive der Ersten Person, die verhindert, dass die durch narrative Verfahren erzeugten und in narrativen Texten, beispielsweise in Prousts À la recherche du temps perdu oder Kafkas Das Schloss, dargestellten Erlebnisse und Emotionen bei der Lektüre selbst noch einmal phänomenal erlebt werden. Aber auch wenn es kein Erleben im Text gibt, so gibt es doch – und das ist nicht wenig – eine Art Nach- oder Mit-„erleben“ anhand des Textes oder anders gesagt: (exemplarische) Vergegenwärtigung durch Nachvollzug.36 Diese imaginative Partizipation ist zwar im Unterschied zum knowledge by description propositional nicht einholbar, unterscheidet sich aber gleichzeitig auch vom knowledge by acquaintance, da die „Bekanntschaft“, die durch Literatur hergestellt wird, kein direkter epistemischer Kontakt ist, kein unmittelbares, phänomenales Wissen, wie es ist, d. h. kein Erleben, sondern ein Erkennen (oder auch Wiedererkennen), wie es sein könnte oder wie es wäre (bzw. war) – die sich anhand der reflektierenden Urteilskraft vollziehende Herstellung einer fiktional vermittelten Perspektive oder Sicht auf die Dinge, die wir realiter oder prinzipiell nicht (bzw. nicht mehr) zur Verfügung haben. Im ersten Band von À la recherche du temps perdu benennt Prousts Ich-Erzähler diese imaginative Leistung literarischer Texte auf eindrückliche und ihrerseits fiktional vermittelte Weise. Bei der Lektüre im Garten von Combray bilden „der Glaube an den philosophischen Gehalt und die Schönheit des Buches [...] sowie [das] Verlangen, [sich] diese zu eigen zu machen, den unmittelbar vorgegebenen, tiefen Grundton“:37 Nach diesem zentralen Glauben, der sich in mir während des Lesens unablässig von innen nach außen, auf die Entdeckung der Wahrheit zubewegte, kamen die von der Handlung, an der ich teilnahm, geweckten erregenden Gefühle, denn jene Nachmittage waren an dramatischen Ereignissen reicher, als ein ganzes Menschenleben es oft ist. Es waren die Ereignisse, die in dem von mir gelesenen Buch eintraten; es stimmt, die davon berührten Personen waren [...] nicht „wirklich“. Allerdings kommen alle Empfindungen, die die Freude oder das Unglück einer wirklichen Person in uns wecken, auch nur auf dem Weg über ein Bild dieser Freude oder dieses Unglücks zustande; der geniale Einfall des ersten Romanschriftstellers bestand in der Entdeckung, daß in unserem Gefühlsapparat das Bild das einzige wesentliche Element ist [...]. Der Fund des Romanschriftstellers bestand in der Idee, diese für die Seele undurchdringlichen Partien [des wirklichen Menschen] durch die gleiche Menge 36 37

Hierzu vgl. Gabriel 2011 sowie Gabriel 2013 (in diesem Band). Proust 2004 (franz. zuerst 1913), 124f.

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C S immaterieller Teile zu ersetzen, das heißt solcher, die unsere Seele sich anverwandeln kann. Was spielt es nun noch für eine Rolle, ob die Handlungen und Gefühle dieser Wesen einer ganz neuen Art uns als wahr erscheinen, da wir sie ja zu den unseren gemacht haben, da sie sich in uns selbst vollziehen und, während wir fieberhaft die Seiten des Buches umblättern, die Schnelligkeit unserer Atemzüge und die Lebhaftigkeit unseres Blicks sich ganz nach ihnen regeln muß. Wenn uns aber der Romanschriftsteller erst einmal in diesen Zustand versetzt hat, in dem wie bei allen rein innerlichen Vorgängen jedes Gefühl verzehnfacht ist [...], dann entfesselt er in uns während einer Stunde alle nur möglichen Gefühle von Glück und Unglück, wofür wir im Leben Jahre brauchen würden, um nur einige wenige kennenzulernen, und von denen uns die intensivsten nie offenbart würden, weil sie sich mit einer Langsamkeit vollziehen, die es uns unmöglich macht, sie wahrzunehmen [...].38

Diese Würdigung der Leistung von Literatur ist dahingehend zu präzisieren, dass durch die Anverwandlung fiktiver Gegenstände und Gegebenheiten, wie sie durch die literarischen Verfahren der Rede des Als-ob ermöglicht wird, Handlungen und Gefühle nicht auf unmittelbare Weise „zu den unseren“ werden – weder der Schmerz Anna Kareninas, noch die Entfremdung K.s, noch die Begeisterung des Ich-Erzählers in Combray; die imaginative Anverwandlung beruht vielmehr auf Vorstellung und/oder Projektion und ist von daher – im Unterschied zum unmittelbaren phänomenalen Erleben – kognitiv vermittelt. Die bisherige, auf nicht-propositionalen Analysekategorien phänomenalen Bewusstseins wie „Nicht-Begrifflichkeit“ bzw. „qualitatives Erleben“ beruhende Diagnose schließt natürlich nicht aus, dass die epistemische Dimension der Literatur auch in propositionaler Form, beispielsweise vermittels Beschreibungen von Gegenständen, Personen oder Situationen vorliegen kann. Augenfällig ist dies in der Übertragung des Erkenntnisbegriffs der Logik im Sinne von Aussagenwahrheit auf die Literatur. Die daraus resultierende Position bestreitet ebenfalls nicht, dass Literatur ein Erkenntniswert zukommt, beschränkt diesen allerdings auf propositionales Wissen. In jüngster Zeit sind literarische Werke vermehrt als Fundgruben und Orte von Wissensbeständen zum Thema geworden.39 So können wir beispielsweise aus den (wahren) Aussagen in Shakespeares The Merchant of Venice, Lessings Minna von Barnhelm, Dostojewskis Der Spieler, Arthur Millers Death of a Salesman oder Rainald Goetz’ Johann Holtrop propositionales Wissen über die Funktion von Geld und aus James Joyces Ulysses oder Charles Dickens’ Great Expectations geographisches Wissen über Dublin oder London gewinnen; genauso wie wir medizinisches Wissen in den Werken Büchners oder Benns, bei Max Frisch oder Siri Hustvedt finden oder experimentelles Wissen bei E. T. A Hoffmann oder Émile Zola (wobei Zolas Le Roman expérimental von 1880 selbst das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft dahingehend bestimmt, dass die Wissenschaften zwar als Verifikationsbasis und Korrekturinstanz für die ‚Hypothesen’ des Romans fungieren, dieser jedoch auch über jene hinausgehen und sie 38 39

Proust 2004, 125ff. Vgl. etwa Klausnitzer 2008.

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leiten dürfe). Da diese Wissensbestände mit ihrer Einbettung in den fiktionalen Kontext aber gleichzeitig eine „imaginäre“, d. h. nicht-propositionale Veränderung erfahren und zudem die fiktionale Rede des Als-ob eine nicht-behauptende Rede ist, die keinen Anspruch auf Referenzialisierbarkeit erhebt, lässt sich die Grenzziehung zwischen propositionalen Wahrheiten und nicht-propositionaler Imagination und damit letztlich zwischen Wissenschaft auf der einen und Literatur auf der anderen Seite hier nicht aufrechterhalten; eine propositionale Isolation derartiger Wissensbestände ist von daher nur um den Preis der Verleugnung der Spezifika fiktionaler Rede und der Aberkennung exemplifizierender Leistungen narrativer Texte zu haben. Aus propositionaler Perspektive kann mit Wissen in Literatur auch lediglich Wissen über Literatur gemeint sein, insofern literarische Texte solche sind, über die man Wissen erwerben kann; schließlich bezieht sich Wissen in Literatur aber auch darauf, dass literarische Werke fiktive Welten entwerfen, anhand derer wir Wissen über die Welt und über uns selbst gewinnen können.40 Insofern die Frage nach einem solchen, durch Literatur vermittelten propositionalen Wissen nicht selten in Form einer Frage nach dem repräsentationalen Gehalt von Literatur gestellt wird, scheint sich die oben bereits im Zusammenhang mit phänomenalem Erleben (bzw. nicht-propositionaler Erkenntnis) diagnostizierte Übertragung zentraler Unterscheidungen aus der gegenwärtigen Philosophie des Geistes auf die Analyse des Verhältnisses von Philosophie und Literatur zu verfestigen. Nach sprachanalytischen (sprechakttheoretischen bzw. semantischen)41 und epistemischen (Wissen durch Bekanntschaft bzw. durch Beschreibung)42 Zugangsweisen sind es nun die zentralen Begriffe, Ansätze und Unterscheidungen der philosophy of mind, die das Analyserepertoire im Hinblick auf literarische Texte vorgeben: Begrifflichkeit vs. Nicht-Begrifflichkeit, qualitatives Erleben und Repräsentation. Dabei ist zu beobachten, dass bestimmte Kombinationen propositionaler und nichtpropositionaler Aspekte, z. B. von Repräsentation und Erleben, die bereits im Rahmen der Philosophie des Geistes nicht überzeugen konnten, sich nun auch bezüglich der Analyse von Literatur mit vergleichbaren Einwänden konfrontiert sehen. So suchen beispielsweise dem propositionalen Wissensbegriff verpflichtete repräsentationalistische Ansätze im Bereich des phänomenalen Bewusstseins die Unterscheidung zwischen phänomenalen und intentionalen Zuständen aufzugeben und den phänomenalen Gehalt als eine spezifische Art von intentionalem Gehalt zu interpretieren, Erleben mithin propositional zu integrieren.43 Um diese Interpretation zu ermöglichen, wird der Begriff der Repräsentation dahingehend modifiziert, dass er nicht mehr durch das Kriterium 40 41 42 43

Vgl. Köppe 2008. Vgl. Searle 1969, Gabriel 1975. Vgl. Russell 1910/1911. Vgl. Tye 1995, Dretske 1995. Die repräsentationale Theorie Michael Tyes unterscheidet zwischen zwei Arten von intentionalem Gehalt, die im Prozess der Informationsverarbeitung zwei unterschiedlichen Ebenen zugeordnet werden: Während die intentionalen Gehalte auf der höheren, kognitiven Ebene ein begriffliches Format aufweisen, werden die intentionalen Gehalte auf der basalen, sensorischen Ebene nicht-begrifflich repräsentiert. Da das phänomenale Bewusstsein nach Tye auf der basalen Ebene lokalisiert ist, sind seine Gehalte somit als nicht-begriffliche Gehalte sensorischer Repräsentation aufzufassen.

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der Isomorphie spezifizierbar ist,44 da phänomenale Gehalte mit den physikalisch realisierten Eigenschaften, die sie repräsentieren, keine erkennbare Strukturähnlichkeit aufweisen.45 Obwohl ein solchermaßen erweiterter Repräsentationsbegriff zwar problemlos auf die meisten phänomenalen Zustände anwendbar ist, ist es gerade seine Unterbestimmtheit, die verhindert, mittels dieses Begriffs eine Erklärung dafür zu entwickeln, warum bestimmte repräsentationale Gehalte auf eine spezifische Weise erlebt werden.46 Die aus dem phänomenologischen Kontext übernommene NichtBegrifflichkeitsthese wird hier in ihrer Gültigkeit auf sensorische Repräsentationen eingeschränkt, deren Gehalte zwar als phänomenale Gehalte charakterisiert werden, die aber genau jenes Merkmal vermissen lassen, das phänomenologisch betrachtet für diese Gehalte kennzeichnend ist: nämlich, dass sie bewusst erlebt werden und als bewusst erlebte Gehalte zugleich nicht-begrifflich sind. Der Versuch, phänomenales Erleben vermittels Repräsentation zu objektivieren (und damit begrifflich zu erfassen), scheitert also. Diese im Hinblick auf phänomenales Bewusstsein formulierte Kritik an repräsentationalistischen Ansätzen wird durch den augenfälligen Übertragungsprozess in Richtung „Literatur“ nicht obsolet, sondern infiziert diesen vielmehr, insofern auch für fiktionale Texte gilt, dass Nach- bzw. Mit-„erleben“ und repräsentationaler Gehalt epistemische Formate unterschiedlicher, d. h. nicht-begrifflicher bzw. begrifflicher Art darstellen, die nicht oder nur um den Preis eines Themenwechsels ineinander übersetzbar sind. Kehren wir noch einmal zu der Lektüre im Garten von Combray zurück. Proust dreht hier das bisherige, von der Philosophie bestimmte Verhältnis zwischen Philosophie und Literatur um, indem er den Fokus auf die Leistungen von Literatur richtet, die über diejenigen der Philosophie hinausgehen; anders ausgedrückt: aus Philosophie in Literatur wird Literatur als Philosophie. Mit der durch Literatur – und nur durch Literatur – ermöglichten imaginativen Anverwandlung verweist der Ich-Erzähler zunächst darauf, dass eine indirekte, d. h. kognitiv vermittelte Bekanntschaft mit den Gefühlen anderer durchaus möglich ist. Literatur kommt aber nicht nur dem phänomenalen Erleben so nah, wie es begrifflich möglich ist, sondern vermag darüber hinaus zusätzlich etwas zu leisten, was sich selbst dem Erleben entzieht: Sie „entfesselt [...] in uns [...] alle nur möglichen Gefühle von Glück und Unglück, wofür wir im Leben Jahre brauchen würden, um nur einige wenige kennenzulernen, und von denen uns die intensivsten nie offenbart würden, weil sie sich mit einer Langsamkeit vollziehen, die es uns unmöglich macht, sie wahrzunehmen [...]“.47 Es gibt demnach Erfahrungen, die so langsam sind, dass sie sich dem Zugriff des phänomenalen Bewusstseins entziehen – beispielsweise der Prozess des 44 45 46

47

Hierzu vgl. Cummins 1989. Tye versteht unter Repräsentation entsprechend lediglich „a matter of causal covariation or correlation [...] under optimal conditions“ (Tye 1995, 101). Darüber hinaus dienen Begriffe, die konkrete Zustände des phänomenalen Bewusstseins bezeichnen, zur Kennzeichnung des Gehalts sensorischer Repräsentationen, denen zwar ein phänomenaler Charakter zugeschrieben wird und die auch als bewusste Zustände bezeichnet werden, aber das, was sie in einem phänomenologischen Sinne als bewusst erlebte Zustände kennzeichnet, resultiert erst aus einem kognitiven Akt der Bezugnahme, d. h. aus begrifflicher Bestimmung. Vgl. Tye 1995, 191. Proust 2004, 126f.

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Alterns –, die jedoch über Literatur vermittelt und auf diese Weise zumindest imaginativ „erlebt“ werden können. Was die Verbindung von Philosophie und Literatur betrifft, so ist über die gemeinsamen Analyseschemata hinaus folglich nicht nur von Relevanz, auf welche Weise Philosophie in Literatur zum Tragen kommt, sondern auch, dass bestimmte literarische Texte philosophisch Bedeutsames ermöglichen, was die Philosophie selbst nicht zu vermitteln vermag – dass also Literatur als Philosophie auftreten kann.48 Für beide, Philosophie wie Literatur, gilt dabei das Diktum Wittgensteins: „Denk nicht, sondern schau’!“49 – auf den Einzelfall und das ästhetisch Besondere, möchte man ergänzen. Literaturverzeichnis

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Über die nicht nur für Proust, sondern auch für Flaubert, Thomas Mann oder Hofmannsthal charakteristische Vermittlung von Zeiterfahrung hinaus kann Literatur, anders als Philosophie, zudem das Innenleben ihrer Figuren sowie Unübersichtlichkeit, Zufall oder generell Szenarien des Möglichen poetologisch ausloten und narrativ erfahrbar machen. Wittgenstein 1971 (zuerst 1953), § 66.

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Sprache im literarischen Text1

1.

Die Philosophie der Literatur: Eine Zustandsbeschreibung

Orientiert man sich an der Anzahl der einschlägigen Publikationen, so kann man feststellen, dass die Aufmerksamkeit, die Philosophinnen und Philosophen dem Thema Literatur widmen, in den letzten Jahren stark zugenommen hat.2 Dies ist nicht zuletzt der Formulierung verschiedener vermeintlicher Paradoxa geschuldet, etwa dem Paradox der Fiktion, also der Frage, ob wir genuine Emotionen für fiktionale Personen empfinden können, obwohl wir wissen, dass diese nicht existieren; dem Paradox der Tragödie bzw. des Horrors, also der Frage, wie es möglich ist, dass wir uns an einer Tragödie bzw. einem Horrorfilm erfreuen, obwohl die dargestellten Ereignisse Mitleid oder Entsetzen hervorrufen sollten; oder der Frage nach dem kognitiven Wert fiktionaler Werke, also der Frage, ob fiktionale Texte kognitiven Gehalt haben und also unser Wissen bereichern können, obwohl die in ihnen enthalten Propositionen falsch sind.3 In diesem Befund manifestiert sich ein zwiespältiges Bild, das den Zustand der Disziplin gut wiedergibt: Während sich die Philosophie der Literatur immer mehr zu einer selbständigen philosophischen Teildisziplin entwickelt, ist festzustellen, dass viele Beiträge zur Debatte kein genuines Interesse für Literatur zeigen. Oft stehen vielmehr Fragestellungen der Sprachphilosophie, der Erkenntnistheorie, der Metaphysik oder der 1 2

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Ich danke Daniel Steuer für wertvolle Hinweise und Anregungen zu einer früheren Fassung dieses Textes. Als Beleg für das zunehmende Interesse sowie dafür, dass die Philosophie der Literatur daran ist, sich zu einer eigenständigen philosophischen Teildisziplin zu entwickeln, kann der Hinweis genügen, dass die Anzahl der Anthologien, Hand- und Einführungsbücher zur Philosophie der Literatur in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Vgl. John/Lopes 2004, Eldridge 2009, Lamarque 2009, Hagberg/Jost 2010 sowie Carroll/Gibson (im Erscheinen). Diese Problemstellungen sind freilich nicht neu, sind aber durch pointierte Diskussionsbeiträge wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Ich erinnere hier für das Paradox der Fiktion an Radford 1975, für das Paradox des Horrors an Carroll 1990 und für das Problem des kognitiven Gehalts der Fiktion an Stolnitz 1992.

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Gefühlstheorie im Mittelpunkt, die außerdem zumeist nicht am Phänomen Literatur, sondern an dem der Fiktion abgearbeitet werden – was sich nicht zuletzt in den eben erwähnten Paradoxa zeigt. Es ist freilich nicht ungewöhnlich, dass es enge Beziehungen und Überschneidungen zwischen verschiedenen philosophischen Teildisziplinen gibt; in diesem Fall besteht aber eine Schieflage, da es sich nicht um einen Austausch auf Augenhöhe handelt. Vielmehr geht es zumeist um den Versuch, Theorien, die in anderen Bereichen entwickelt wurden, am vermeintlichen Sonderfall der Literatur bzw. des fiktionalen Diskurses zu testen. Das geschieht, weil Literatur von Vielen als Ausnahmefall angesehen wird, als Grenzfall des Sprachgebrauchs, der nicht einmal eigenständig, sondern eben nur als Ausnahme bestehen könne, weil sich die Sprache der Literatur parasitär zur Alltagssprache verhalte, wie es etwa John Searle explizit formuliert hat.4 Die Diskussionen, die sich so entwickelt haben, tragen wenig zu unserem theoretischen (bzw. philosophischen) Verständnis von Literatur bei. Die Frage etwa, ob fiktionale Texte andere mögliche Welten wahrheitsgetreu beschreiben, die zum Beispiel David Lewis aufwirft, ist eher für die Theorie der möglichen Welten interessant als für unseren theoretischen Zugang zur Literatur; ähnlich bereichert die Diskussion, ob es sich bei fiktionalen Texten um Arten von Sprechakten sui generis handelt oder nicht, unsere Konzeption der Sprechakttheorie, aber nicht der Literatur; und Eigennamen im fiktionalen Kontext, die typischerweise leer sind, stellen eine Herausforderung für eine sprachphilosophische Theorie der Eigennamen, nicht aber für interessierte Leserinnen und Leser literarischer Texte dar.5 Dies wirft die Frage auf, was die Philosophie der Literatur als eigenständige Teildisziplin charakterisiert und an welchen Themenstellungen sie sich orientieren sollte. Sie kann nur dann eine eigenständige philosophische Teildisziplin werden, so will ich argumentieren, wenn sie eine philosophische Perspektive auf die Literatur entwickelt. Das bedeutet zweierlei: Erstens sollte die Perspektive, die eingenommen wird, eine genuin philosophische sein. Es sollten spezifisch philosophische Fragestellungen – und nicht etwa solche, die für die Literatur- oder die Sprachwissenschaft, die Soziologie oder die Ökonomie relevant sind – aufgeworfen werden. Sie wird sich also nicht in erster Linie für Stilmerkmale einzelner Epochen, die Frage nach der Repräsentation von (z. B.) Landschaften in verschiedenen literarischen Traditionen, die wirtschaftlichen Besonderheiten des Verlagswesens oder den Einsatz der Literatur in verschiedenen Bildungssystemen etc. interessieren; die resultierenden Ansätze bzw. Theorien sollten abstrakter und mög-

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Vgl. Searle 2007 (engl. zuerst 1975), 29: „In diesem Sinn ist Geschichtenerzählen wirklich ein eigenes Sprachspiel (um einen Terminus Wittgensteins zu benutzen); damit es gespielt werden kann, bedarf es eigener Konventionen, wenngleich diese keine Bedeutungsregeln sind; und dieses Sprachspiel ist nicht auf derselben Ebene angesiedelt wie die illokutionären Sprachspiele, sondern in bezug auf diese parasitär“ [Hervorhebung. v. W. Huemer]. Ich diskutiere diesen Punkt ausführlicher, mit besonderem Interesse für das Verhältnis von Sprachphilosophie und Philosophie der Literatur, in Huemer 2012. Stellvertretend sei hier an Lewis 1983, Searle 2007 und Adams/Fuller/Stecker 1997 erinnert.

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lichst nicht empirisch sein6 , sich in eine breitere philosophische Perspektive einfügen und für andere philosophische Teildisziplinen von Relevanz sein. Zweitens bedeutet das aber auch, das Phänomen der Literatur als eigenständiges Phänomen und in ihren Besonderheiten ernst zu nehmen. Literarische Texte und die Praxis des Erzählens sind sehr tief in unserer Kultur (im weitesten Sinn) integriert. Reduziert man sie auf scheinbar missglückte Beschreibungen von Ereignissen und Personen7 , so verschließt man sich von vorneherein der Möglichkeit, ihre eigentliche Bedeutung zu verstehen. Anstatt die Literatur als Sonderfall des Sprachgebrauchs zu behandeln oder auf Fiktion zu reduzieren, sollte man eher fragen, warum es überhaupt Literatur gibt und warum sie von Bedeutung ist.8 Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist es nicht – nicht einmal ansatzweise – eine neue philosophische Theorie der Literatur, die diesem Anspruch gerecht wird, vorzustellen; dies ist mir nicht nur aus Platzgründen nicht möglich. Vielmehr will ich an einige Besonderheiten des Phänomens „Literatur“ erinnern, die in der zeitgenössischen Debatte häufig vernachlässigt werden, und damit zu einem Perspektivenwechsel einladen, der es uns erlaubt, auch diejenigen Aspekte besser zu würdigen, die unserem Blick ansonsten vielleicht verstellt wären. Anstatt eine neue Theorie zu entwerfen sollte es, um es mit Ludwig Wittgensteins Worten zu sagen, darum gehen, etwas zu „verstehen, was schon offen vor unseren Augen liegt. Denn das scheinen wir, in irgendeinem Sinne, nicht zu verstehen“.9 Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen soll eine Feststellung bilden, die so offensichtlich erscheint, dass sie leicht übersehen oder als banal abgetan werden kann: Literarische Texte sind sprachliche Kunstwerke. Beide Aspekte sind gleichermaßen wichtig: Literatur manifestiert sich im Medium der Sprache, also einem regelgeleiteten, formalen System von Symbolen, die Bedeutungsträger sind und von Menschen zum Zweck der Kommunikation gebraucht werden, und tritt mit dem Anspruch auf, damit ästhetischen Anforderungen gerecht zu werden – und auch das kann sowohl auf der syntaktischen Ebene, also durch die Anordnung der Zeichen, der semantischen Ebene, also auf der Ebene der Bedeutung, sowie auf der pragmatischen Ebene erfolgen. Die Philosophie der Literatur muss beiden Aspekten gleichermaßen Aufmerksamkeit schenken, wenn sie eine reduktionistische Sichtweise vermeiden will.

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Das impliziert natürlich nicht, dass empirische Studien (etwa aus der Rezeptionsforschung) ignoriert werden können. Die Philosophie der Literatur sollte offen für den interdisziplinären Dialog sein, es kann aber nicht zu ihrer Aufgabe gehören, solche Untersuchungen selbst durchzuführen. Ich spreche hier von „missglückten” Beschreibungen, weil in fiktionalen literarischen Texten typischerweise Personen und Ereignisse beschrieben werden, die nie gelebt bzw. stattgefunden haben und es auch in nicht-fiktionalen literarischen Texten tendenziell weniger auf den Gegenstand der Beschreibung als auf die Art, wie dieser beschrieben wird, ankommt. Ich folge hier der Anregung von Frank Farrell (2004), der argumentiert, dass in der zeitgenössischen Literaturtheorie, aber auch in der Philosophie der Literatur, eben diese Frage vernachlässigt werde. Wittgenstein 1984 (zuerst 1953), § 89.

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2.

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Literatur als Form der regelgeleiteten Kommunikation

Es ist wohl der erste dieser beiden Aspekte, der viele Philosophinnen und Philosophen dazu angeregt hat, sich dem Thema Literatur zuzuwenden. In der Philosophie spielt bekanntlich die Sprache eine ganz besondere Rolle; nicht nur als Gegenstand der Reflexion, sondern auch als Medium, in dem und mit Hilfe dessen diese durchgeführt wird: Die Sprache dient dazu, Überlegungen und Theorien zu formulieren, argumentativ zu untermauern oder zu kritisieren. Während andere wissenschaftliche Disziplinen auch auf empirische Daten, Experimente und mathematische Modelle zurückgreifen können, bedient sich die Philosophie fast ausschließlich der Sprache bzw. der in der Sprache angelegten logischen Strukturen und inferentiellen Beziehungen. Sobald aber die Sprache zum Gegenstand der philosophischen Forschung wird, können wir eine weit verbreitete Tendenz erkennen, das Phänomen in seiner Komplexität zu reduzieren. Viele Philosophinnen und Philosophen scheinen davon auszugehen, dass sich die Sprache in wahrheitswertfähigen Aussagen erschöpfe und jedes Wort einen Gegenstand benenne. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass die zeitgenössische Sprachphilosophie auf Ansätzen aufbaut, die am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, oft in engem Zusammenhang mit der philosophischen Logik, entwickelt wurden. Zudem hatten viele dieser frühen Sprachphilosophen ein starkes Interesse an (natur-)wissenschaftlichen Theorien, was die Frage nach der Struktur von wahren, informativen Beschreibungen der Wirklichkeit in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken ließ. So hat sich ein „referenzielles Modell“ der Sprache etabliert, das von „Wahrheit“ und „Referenz“ als Grundbegriffen ausgeht.10 Vertreterinnen und Vertreter dieses Modells sind sich zwar bewusst, dass die Sprache auch andere Verwendungsweisen zulässt, gehen aber davon aus, dass Aussagesätze ihren eigentlichen Kern darstellten; wenn man einmal eine solide Theorie für diesen entwickelt hätte, könne man sie, in einem zweiten Schritt, auf andere Verwendungsweisen erweitern und sie so vervollständigen. Auch wenn dieses Modell mit dem Aufkommen der ordinary-language Philosophie in der Mitte des letzten Jahrhunderts, die versucht hat, eine umfassendere Perspektive auf die Sprache zu entwickeln, ins Wanken gekommen ist, ist es in der gegenwärtigen sprachphilosophischen Diskussion immer noch sehr präsent. Das referenzielle Modell beruht auf der Vorstellung, dass sich die Bedeutung der Wörter aus dem Kontakt der Sprache mit der sprach-unabhängigen Realität ergibt, an der sie sich reibt und die sie abbildet. Gemäß dieser Konzeption stehen Sätze in einer engen Verbindung zu den (real existierenden) Tatsachen, die sie beschreiben. Nur dadurch sei es möglich, dass die Sprache Informationen über die Welt vermittle, was, diesem Bild zufolge, ihre eigentliche Funktion darstelle. Literarische Texte, in denen diese Reibung an den Tatsachen häufig fehlt oder im Hintergrund steht, sind demnach parasitär, sie sind, in anderen Worten, nur vor dem Hintergrund einer bereits funktionierenden Sprache möglich, weil sie sich an einem reichen Fundus an Wörtern bedienen können, die schon eine Bedeutung haben, wenn wir mit dem Dichten beginnen. So schlüssig diese Konzeption auf den ersten Blick zu sein scheint, so schnell offenbaren sich ihre Grenzen, wenn man an nicht-beschreibende Verwendungen der Sprache 10

Vgl. dazu auch Huemer 2006 (engl. zuerst 2004), 14ff.

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denkt. Wenn jemand einen Befehl gibt, eine Frage stellt, jemanden begrüßt, einen Witz erzählt, ein Versprechen macht, ein Gebet spricht, eine Fußballmannschaft anfeuert, ein Kochrezept niederschreibt, jemandem zum Geburtstag gratuliert, gute Besserung wünscht oder ihn zu beruhigen versucht, ein Strafmandat ausstellt, ein Ereignis oder eine Bemerkung ironisch kommentiert oder der Frau, mit der er seit vielen Jahren glücklich verheiratet ist, zum wiederholten mal sagt, dass er sie liebe – die Liste ließe sich noch lange fortsetzen –, geht es nicht (oder nicht in erster Linie) um Informationsvermittlung über Tatsachen der Wirklichkeit; und doch wird niemand behaupten wollen, dass wir es hier mit Grenzfällen des Sprachgebrauchs oder mit Ausnahmen zu tun hätten, bei denen die Sprache nicht in ihrer eigentlichen Funktion verwendet werde. Bei den angeführten Beispielen handelt es sich um Formen der Kommunikation, die in einem komplexen Geflecht von ineinander verwobenen Beziehungen der Sprecherinnen und Sprecher zu den anderen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft und zu den Tatsachen der nichtsprachlichen Realität angesiedelt sind. Sie machen deutlich, dass nicht alle Verwendungsweisen der Sprache sich auf dieselbe Weise auf die Welt beziehen. Während das bei beschreibenden Aussagen ziemlich direkt und geradlinig der Fall ist – eine Beschreibung bezieht sich direkt auf eine Tatsache, die sie korrekt oder inkorrekt wiedergibt –, ist der Weltbezug bei anderen Verwendungsweisen häufig indirekter und verwickelter. Bei manchen steht er darüber hinaus gänzlich im Hintergrund, etwa wenn es darum geht, eine Beziehung zu anderen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft aufzunehmen oder zu pflegen. Literatur kann nur dann als Sonderfall erscheinen, wenn man die Sprache auf ihre Funktion der Beschreibung der Wirklichkeit beziehungsweise der Informationsvermittlung reduziert. Will man aber der Vielfalt der Funktionen, die die Sprache tatsächlich ausfüllen kann, gerecht werden, sollte man sein Augenmerk darauf legen, wie sie von den Mitgliedern der Sprachgemeinschaft in einer jeweils gegebenen Situation tatsächlich gebraucht wird. Nur so wird man würdigen können, dass unsere Sprache uns ein breites Repertoire an Instrumentarien zur Verfügung stellt, die es uns ermöglichen zu kommunizieren, miteinander zu interagieren und zu handeln. Als kompetente Sprachbenutzerinnen und -benutzer ist es für uns selbstverständlich, dieses reiche Repertoire an Instrumentarien, das die Sprache uns zur Verfügung stellt, abhängig von der jeweiligen Situation, den Erfordernissen, aber auch den individuellen linguistischen Kompetenzen, auszuschöpfen. All diese Verwendungen unterliegen konstitutiven Regeln, die den Sprachbenutzern geläufig sein müssen; nur so können sie etwa den Unterschied zwischen einer ernstgemeinten Aussage und einer ironischen Bemerkung erkennen oder wissen, wann und in welcher Form eine Beileidskundgebung angemessen ist. Allerdings sind diese Regeln sehr differenziert, feingliedrig und häufig sehr subtil. Zudem ziehen sie nichtsprachliche und situationelle Aspekte mit ein11 und würden damit den Rahmen einer jeden Grammatik sprengen. 11

Außerdem ist der Übergang zwischen sprachlichen und nichtsprachlichen Kompetenzen oft fließend: eine geschulte Diplomatin, Richterin oder Politikerin weiß, welche sprachlichen Züge sie in einer bestimmten Situation machen kann und welche sie unterlassen muss. Hierbei handelt es sich freilich nicht um rein linguistische Regeln, sondern um Gepflogenheiten der Diplomatie, Grundsätze der Jurisdiktion bzw. Mechanismen der Politik, deren eventuelle Missachtung zu Misserfolgen oder Sanktionen führen können.

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In dieser Perspektive gilt die literarische Sprache nicht mehr als (abwegiger) Sonderfall der Sprachverwendung, noch als parasitär zur beschreibenden Sprache; sie ist vielmehr ein fester Bestandteil des vielfältigen Repertoires an Verwendungsweisen, deren sich kompetente Sprachbenutzerinnen und -benutzer bedienen können, wenn es ihnen angemessen erscheint. Dies ist nur möglich, weil es für jede von ihnen, und also auch für die Sprache der Literatur, Regeln gibt, die eine bestimmte Verwendungsweise gegenüber den anderen ausweist und die den beteiligten Sprachbenutzern geläufig sind. Andernfalls könnten wir nicht erklären, wie es ihnen möglich sein kann, literarische Texte als solche zu erkennen. (Das bedeutet freilich nicht, dass sie ohne weiteres in der Lage wären, diese Regeln vollständig und explizit aufzulisten und gleichsam eine Grammatik der literarischen Sprache zu erstellen.) Bei manchen dieser Regeln handelt es sich um einfache Konventionen, wie etwa bei der Formel „Es war einmal, vor langer, langer Zeit ...“ am Beginn des Textes oder durch Hinweise im Paratext, etwa dem Verweis „Roman“ auf dem Buchdeckel. Neben diesen stark institutionalisierten Konventionen gibt es aber eine Unmenge anderer, oftmals subtilerer Regeln, die uns dazu einladen, Texte, auch wenn sie nicht gleich am Beginn explizit als literarische Texte ausgewiesen sind, von einem literarischen Standpunkt zu lesen.12 Das bedeutet, dass Literatur kein Genre-spezifisches Charakteristikum ist; vielmehr können neben Romanen, Hörspielen und Komödien gelegentlich auch Briefe, Lehrbücher, Reportagen, wissenschaftliche Abhandlungen, etc. als literarische Texte gelesen werden; bei einer solchen Lektüre tritt ihre eigentliche Funktion allerdings in den Hintergrund. Dass wir gelegentlich auch nicht-fiktionale Texte von einem literarischen Standpunkt lesen, zeigt deutlich, dass die Regeln der Sprache der Literatur den Bezug der Wörter auf die nicht-sprachliche Realität nicht generell außer Kraft setzen13 ; vielmehr können sie spezifizieren, wie der Text sich auf die Welt bezieht, was wiederum bedeutet, dass diese Regeln die Bedeutung des Textes (mit-)bestimmen.14 Dies zeigt sich nicht zuletzt 12

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Ich folge hier Peter Lamarques Vorschlag, „eine entspanntere Haltung hinsichtlich der Extension von ‚Literatur’ einzunehmen und das Augenmerk stattdessen auf den Begriff des Lesens eines Textes als Literatur oder von einem literarischen Standpunkt zu lenken“ (Lamarque 2007, 14). Dies erscheint gerechtfertigt, weil es nicht klar ist, ob wir explizit Kriterien formulieren können, die es erlauben würden, einen literarischen Text eindeutig als solchen zu erkennen, aber auch deshalb, weil Literatur wesentlich Leser einbezieht, vor allem dann, wenn man Literatur als Form der Kommunikation zwischen Autoren und Lesern versteht, wie ich das in dem vorliegenden Artikel vorschlage. Wenn John Searle also argumentiert, dass fiktionale Rede nur möglich ist durch „eine Menge von außersprachlichen, nichtsemantischen Konventionen, welche die Verbindung zwischen den Wörtern und der Welt durchbrechen“ (Searle 2007, 28), so gilt das sicherlich nicht für die Sprache der Literatur im Allgemeinen. Searles These setzt zudem voraus, dass wir eine klare Trennlinie zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Verwendungsweisen ziehen können, was sie auch in ihrer ursprünglichen Formulierung problematisch erscheinen lässt. Vgl. Huemer 2012, 43f. Dies zeigt, contra Searle (vgl. Fußnote 4), dass die Regeln, die für die Sprache der Literatur gelten, sehr wohl bedeutungskonstitutiv sind. Das heißt natürlich nicht, dass die Bedeutung eines Wortes sich, sobald es in einem literarischen Text verwendet wird, plötzlich ändert und auf andere Gegenstände referiert als in anderen Verwendungsweisen; die Sprache der Literatur ist nicht hermetisch von den anderen Verwendungsweisen der Sprache abgeschottet. Die Regeln bestimmen vielmehr

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darin, dass das literarische Genre eines Textes direkte Auswirkungen auf dessen Weltbezug hat: Ein historischer Roman ist der Realität auf andere Weise verpflichtet als ein Science-Fiction Roman, ein Agenten-Thriller oder eine Autobiographie. Auch bei fiktionalen Texten ist der Bezug zur Welt nicht gänzlich außer Kraft gesetzt, was sich darin zeigt, dass sie (wie auch andere fiktionale Werke) Fehler enthalten können, die von den Leserinnen und Lesern als solche erkannt und häufig als störend empfunden werden.15 Was im Einzelfall als Fehler gilt, hängt von der Art des Weltbezuges des jeweiligen Textes ab. So kann ein Zauberspruch im Märchen einen Menschen in ein Tier verwandeln, nicht aber in einem Kriminalroman, ein historischer Roman sollte keine Anachronismen enthalten und in Science-Fiction-Romanen können Gesetze der Physik aufgehoben sein, um etwa Zeitreisen zu ermöglichen, grundlegende psychologische Verhaltensmuster aber durchaus realistisch dargestellt werden.16 Beim Verfassen des Textes machen Autorinnnen und Autoren bestimmte Züge, sie treffen Entscheidungen auf inhaltlicher, stilistischer und formaler Ebene. In diesen Festlegungen manifestieren sich die Regeln, zu denen sich der Text konform verhält und die wiederum die Bedeutung des Textes bestimmen. Manche dieser Züge sind sehr explizit und leicht zu erkennen, andere sind subtiler, können zu Missverständnissen einladen oder bewusst zweideutig sein.17 Dass es sich dabei um (intersubjektive) Regeln handelt, zeigt sich in der Möglichkeit des Verstoßes, also des Aufweisens von Fehlern, und der Korrektur. Die Tatsache, dass es Beispiele gibt, die ganz eindeutig als Fehler zu klassifizieren sind und von aufmerksamen Leserinnen und Lesern auch als solche erkannt werden, zeigt, dass diese eine sehr deutliche Vorstellung davon haben, welche Regeln für einen bestimmten Text gelten. Von diesen Regeln hängt es letztlich aber auch ab, ob

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die Bedeutung des Textes, indem sie die Kriterien dafür festlegen, welche Äußerungen in einem Text angemessen und wie diese in der Welt verankert sind. Eine reiche Fülle an Beispielen für Fehler in fiktionalen Texten findet sich in Ricks 1996. Ich diskutiere die Bedeutung von Fehlern im fiktionalen Kontext in Huemer 2010 sowie, mit stärkerem Bezug auf die Sprache der Literatur, in Huemer 2012. Ein bekanntes Beispiel illustriert diesen Punkt sehr gut: In der Sherlock Holmes Geschichte Das gesprenkelte Band löst der Detektiv den Fall, indem er nachweist, dass das Opfer durch den Biss einer Sumpfotter (im englischen Original: Russell's viper) getötet wurde, die über den Strang eines Klingelzuges kletternd zu ihrem Opfer gelangt war. Der Zoologe Carl Gans hat in seinem Aufsatz How Snakes Move, in dem er detailliert die Muskelapparate verschiedenster Schlangenarten beschreibt, darauf hingewiesen, dass eine Russell's viper aufgrund ihres Muskelaufbaus gar nicht in der Lage sei, an einem Strang hinauf oder herunter zu klettern. In einer Nebenbemerkung meint er zu Arthur Conan Doyles Geschichte: „What Holmes did not realize was that Russell’s viper is not a constrictor. The snake is therefore incapable of concertina movement and could not have climbed the rope.“ (Gans 1970, 93) Dieses viel zitierte Beispiel für einen Fehler im fiktionalen Kontext zeigt, dass wir es als Verstoß gegen die Genre-spezifischen Regeln eines Kriminalromans empfinden, wenn dieser unmotiviert den Naturgesetzen widerspricht. Beginnt ein Text etwa mit einer Beschreibung eines Raumschiffes, das sich mit Überlichtgeschwindigkeit fortbewegen kann, so signalisiert die Autorin deutlich, dass es sich bei dem betreffenden Text um einen Science-Fiction-Roman handelt. Umgekehrt hat etwa die Zensur viele Autorinnen und Autoren gezwungen, die Hinweise dafür, dass ein Text als politische Parodie zu lesen ist, sehr subtil zu gestalten.

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ein Text informativ über einen bestimmten Aspekt der Realität sein soll bzw. was er über diesen Aspekt kommunizieren soll. Mit meiner These, dass Literatur eine regelgeleitete Form der Kommunikation ist, will ich nicht behaupten, dass es ein einheitliches System von Regeln gäbe, das für alle literarischen Texte gleichermaßen gültig sei; dies würde der Mannigfaltigkeit an literarischen Ausdrucksformen nicht gerecht. Literatur ist, in anderen Worten, kein einheitliches Sprachspiel. Vielmehr haben wir es mit einer Vielfalt an sehr feingliedrig ausdifferenzierten Regelsystemen zu tun, die miteinander höchstens durch eine Art Familienähnlichkeit verbunden sind. Welches dieser Regelsysteme eine Autorin bzw. ein Autor aufgreift oder für die eigenen Zwecke adaptiert, zeigt sich im Text in einer für die Leserinnen und Leser erkennbaren Weise. Wir haben es also mit einer Wechselwirkung zu tun: Auf der einen Seite bestimmen die im Text gemachten Züge und die Festlegungen der Autorin bzw. des Autors auf intersubjektiv nachvollziehbare Weise das Regelsystem, andererseits bestimmt dieses Regelsystem, welche Züge im Text möglich sind, wie der Text gelesen werden soll (da er die Bedeutung der im Text enthaltenen Propositionen (mit-)bestimmt), auf welche Weise er sich auf die Welt bezieht und welche Art von Aussage er machen kann.18 Die Tatsache, dass sich Literatur im geschriebenen Text manifestiert kann dazu einladen, sie als einseitige Form der Kommunikation zu empfinden, in der nur die Verfasserin bzw. der Verfasser eine aktive Rolle einnehmen könne und die Leserinnen und Leser zum passiven Rezipieren reduziert wären. In Wirklichkeit ist das Verhältnis aber ausgewogener. Natürlich erwecken Autorinnen und Autoren einen Text zum Leben und legen bei diesem Schaffensprozess dessen Form, Inhalt und Aussage fest.19 Der Text ist seiner Natur nach aber immer auf ein Du gerichtet, das die Autorin bzw. der Autor zur Kommunikation einlädt. Letztere entwickeln im Text eine bestimmte Aussage, ein Bild oder eine Perspektive, die sie aber nur vorschlagen können und die von den Leserinnen und Lesern mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln – über die sie als kompetente Benutzerinnen und Benutzer dieser Art der Kommunikation verfügen – erwogen, kritisch hinterfragt, verworfen oder akzeptiert werden können. Diese Reflexionsebene20 stellt einen wesentlichen Aspekt des Phänomens Literatur dar und ist gerade in Bezug auf den kognitiven Wert derselben von Bedeutung; die zentrale Rolle der Leserinnen und Leser unterstreicht, dass es sich bei Literatur um eine genuine Form der zwischenmenschlichen Kommunikation handelt. 18

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Dies gilt natürlich nicht nur für literarische Texte. Gottfried Gabriel weist auf die Bedeutung der literarischen Form für die Aussage philosophischer Werke hin, wenn er argumentiert, dass „die Nichtbeachtung der literarischen Form zu Mißverständnissen des philosophischen Gehalts führt“ (Gabriel 1990, 17). Damit will ich nicht sagen, dass die Intentionen der Autorin bzw. des Autors die Bedeutung des Textes festlegen; sie tun das nur indirekt, indem sie die spezifische Ausgestaltung des Textes bestimmen, der wiederum die Bedeutung festlegt. Wenn man die Aussage eines Textes kennen lernen will, so muss man den Text lesen, und nicht versuchen, die Intentionen der Autorin bzw. des Autors zu ergründen. Ich folge hier Íngrid Vendrell Ferran und Katrin Wille, die zwischen Gegenstandsebene, thematischer Ebene und Reflexionsebene unterscheiden. Vgl. Vendrell Ferran/Wille 2012, 789.

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3.

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Wahrheit, Wissen, Literatur

Der Vorschlag, Literatur als regelgeleitete Form der Kommunikation zu verstehen, erlaubt es uns, ein Verständnis von Literatur zu entwickeln, das wesentlich über das auf dem referenziellen Modell der Sprache aufbauenden – und in der gegenwärtigen Debatte der Philosophie der Literatur weit verbreiteten – Modell hinausgeht. Damit können wir aber auch eine neue Perspektive auf einige der viel diskutierten Probleme gewinnen, auf die ich eingangs hingewiesen habe. Ganz besonders deutlich wird das bei der Debatte um den kognitiven Gehalt der Literatur, auf die ich mich im Folgenden konzentrieren werde. Die Frage, ob ein literarischer Text gehaltvolle Aussagen über die Wirklichkeit machen kann, kann nur dann dringlich erscheinen, wenn man diesen nach den Regeln der beschreibenden oder wissenschaftlichen Sprache analysiert, als handle es sich bei dem Text um einen journalistischen Bericht oder eine wissenschaftliche Abhandlung. Die Plausibilität dieser Vorgangsweise kann darin begründet sein, dass, isoliert betrachtet, Sätze in literarischen Texten oft dieselbe Form zu haben scheinen wie Sätze, die in Berichten oder Abhandlungen vorkommen. Wir dürfen jedoch nicht übersehen, dass die Bedeutung auch von dem Text, in dem die Proposition eingebettet ist, bzw. von den Regeln, die für diese Art von Text gelten, (mit-)bestimmt wird. Auch ein Aufdeckungsjournalist könnte eine Reportage mit dem folgenden Satz beginnen: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Das sollte uns aber nicht darüber hinweg täuschen, dass er in einer solchen Reportage ganz anders verwendet würde als in Kafkas Roman Der Prozess, der bekanntlich auch mit diesem Satz beginnt. Im Falle der Reportage ist die Sache eindeutig: Josef K. hat nie existiert, niemand hat ihn jemals verleumdet und er wurde auch nie verhaftet. Die Proposition ist falsch und kann uns somit keinerlei Informationen über die Welt vermitteln, sie hat keinen kognitiven Wert. Da aber die Textsorte der Reportage auf die (buchstäbliche) Wahrheit der in ihr vorkommenden Propositionen verpflichtet, täte die Autorin bzw. der Autor gut daran, den Artikel zurück zu ziehen. Ganz anders stellt sich die Sache im Roman dar. Hier leitet der Satz eine Erzählung ein, die bestimmte Aspekte der Wirklichkeit sehr anschaulich und treffend beschreibt. Dass Josef K. nie wirklich gelebt hat und auch nie verhaftet wurde, tut dabei nichts zur Sache. Der Roman vermittelt nicht Information auf der Ebene von einzelnen Propositionen, vielmehr bringt er als Text ein Bild der Welt zum Ausdruck, in dem die Leserinnen und Leser Verweise auf Aspekte der Wirklichkeit erkennen können. Der Fehler der antikognitivistischen Argumentationslinie liegt darin, dass sie den kognitiven Wert eines Textes auf ein einziges Kriterium reduziert: Das Vorhandensein von wahren Propositionen. Natürlich gibt es Fälle, wo dieses Kriterium angemessen ist, etwa bei der Fahrplanauskunft der Bahn oder der Abfrage des aktuellen Kontostandes. Bei den meisten anderen Texten, auch bei solchen, die wir als prototypische Beispiele für kognitiv wertvolle Texte ansehen, erweist es sich aber als unzureichend. Vielmehr können verschiedene Textsorten in einer für sie besonderen Weise ein Bild der Welt entwerfen, das für Leserinnen und Leser als solches erkenntlich und informativ – und somit kognitiv wertvoll – sein kann.

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Besonders deutlich wird das, wenn wir uns einer Textsorte zuwenden, bei der viele Antikognitivisten selbstverständlich davon ausgehen, dass sie kognitiven Gehalt haben: Wissenschaftliche Lehrbücher. Es scheint offensichtlich, dass wir durch die Lektüre dieser Bücher etwas über die Welt lernen können. Dem liegt die Idee zugrunde, dass sie wahre Propositionen enthielten, die von den Leserinnen und Lesern absorbiert würden und so ihr Wissen erweiterten. Diese Vorstellung ist jedoch offensichtlich unzulänglich: Jemand, der eine im Lehrbuch vorgestellte wissenschaftliche Theorie lediglich auswendig lernt, ohne sie zu verstehen, ist deshalb noch nicht gebildet. Darüber hinaus ist es sehr wahrscheinlich, dass die betreffende Theorie sich in der Zukunft als unzureichend oder gar als falsch erweisen wird, was bedeutet, dass viele, wenn nicht alle, der im Lehrbuch enthaltenen Propositionen falsch sind. Niemand wird deshalb behaupten wollen, dass Lehrbücher keinen kognitiven Wert haben und dass man durch ihre Lektüre nichts über die Welt lernen könne. Vielmehr entwerfen sie ein bestimmtes Bild der Wirklichkeit, das verschiedene Aspekte in einen Sinnzusammenhang stellt, und bietet damit ein Erklärungsmodell an. Darüber hinaus zeigen sich in der Darstellung der Theorie auch die wissenschaftlichen Argumentationsmuster und methodischen Ansätze, die angewendet wurden, um diese zu entwickeln. Beim Studium des Textes können die Leserinnen und Leser deshalb auch Fähigkeiten erwerben oder trainieren, die sie in die Lage versetzen, eines Tages selbst dabei mitzuhelfen, ein derartiges Bild der Realität zu entwerfen. Wie Lehrbücher entwerfen auch andere Textsorten, etwa Reportagen, Biographien, Romane, Hörspiele, Gedichte usw. mit den jeweils für sie spezifischen Mitteln ein Bild der Realität, das für kompetente Leserinnen und Leser informativ und lehrreich sein kann. Auch wenn sie diese typischerweise nicht mit Informationen über singuläre Tatsachen versorgen, können sie ein Bild der Realität präsentieren, das ihr Wissen wesentlich bereichert, ihnen neue Perspektiven aufzeigt oder ihr Verständnis vertieft. Anstatt also darüber zu debattieren, ob Literatur kognitiven Wert haben kann, sollten wir uns lieber fragen, weshalb kompetente Sprachbenutzerinnen oder -benutzer die Literatur oft als die zweckmäßigste und angemessenste Ausdrucksform erkannt haben, um eine bestimmte Aussage zu machen. Wir sollten also, wie ich das eingangs vorgeschlagen habe, die Literatur als eigenständiges Phänomen und in ihren Besonderheiten Ernst nehmen und analysieren, wie (und warum) sie tatsächlich verwendet wird. Dann werden wir erkennen, dass es Fälle gibt, in denen ein Roman, eine Kurzgeschichte oder ein Gedicht eine Aussage über die Realität viel trefflicher und eindrucksvoller kommunizieren kann als eine wissenschaftliche Abhandlung. Wenn unsere philosophischen Konzeptionen von Wissen und kognitivem Fortschritt der kognitiven Kraft der Literatur nicht gerecht werden, so sollten wir das zum Anlass nehmen, unsere philosophischen Konzeptionen von Wissen und kognitiven Fortschritt zu revidieren anstatt die Literatur als kognitiv belanglos abzutun. Die Debatte um den kognitiven Gehalt der Literatur verdeutlicht, dass Probleme, die in der gegenwärtigen Philosophie der Literatur diskutiert werden, häufig dadurch entstehen, dass man eine philosophische Theorie der Sprache bzw. des kognitiven Fortschritts, die in anderen Bereichen entwickelt wurde, ohne große Modifikationen auch auf die Literatur anwendet und so deren eigentlicher Natur nicht gerecht wird. Wenn ich auf den letzten Seiten argumentiert habe, dass Literatur sehr wohl kognitiv wertvoll sein kann, will ich damit den Wert der Literatur aber natürlich nicht auf ihren kognitiven

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Gehalt reduzieren. Die Vielfalt an literarischen Formen und die Bandbreite an literarischen Ausdrucksmöglichkeiten sind so groß, dass es unangemessen wäre, sie auf eine Funktion reduzieren zu wollen. Es erscheint mir aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass Literatur diese Rolle auch erfüllen kann, gerade weil dies von vielen Philosophinnen und Philosophen bestritten wurde.

4.

Das literarische Kunstwerk

Auf den vorangehenden Seiten habe ich immer wieder die große Vielfalt an literarischen Ausdrucksformen betont. In der Tat handelt es sich bei der Literatur um ein sehr heterogenes Phänomen, was es eben so schwierig macht, ihm mit einer einheitlichen Theorie vollständig gerecht zu werden. Trotz dieser Vielfalt gibt es einen Aspekt, den wir in der einen oder anderen Form in allen literarischen Texten vorfinden und der dennoch von der Philosophie der Literatur beinahe gänzlich ignoriert wird: Ein Text kann nur dann einladen, von einem literarischen Standpunkt gelesen zu werden, wenn er – zumindest dem Anspruch nach – versucht, ästhetischen Kriterien gerecht zu werden. Literarische Texte sind sprachliche Kunstwerke. Natürlich gibt es eine große Vielfalt an ästhetischen Kriterien und Zielsetzungen, an denen sich ein jeweiliger Text orientieren kann – die Kriterien dafür, ein dadaistisches Gedicht oder einen Science-Fiction-Roman als gelungen zu bezeichnen, weichen wesentlich von denen ab, die eine klassische Ballade als ästhetisch besonders wertvoll auszeichnen. Dies gilt auch für Werke der Unterhaltungsliteratur aus der literarischen Massenproduktion: Auch solche Texte erlauben es, sie nach ästhetischen Kriterien zu beurteilen (auch wenn wir mit diesen Urteilen kaum interessante oder überraschende Ergebnisse erhalten werden).21 Selbstredend werden nicht alle Texte den ästhetischen Ansprüchen, die sie sich selbst gesetzt haben, gerecht. Dass literarische Texte Kunstwerke sind, ist so offensichtlich, dass es überflüssig erscheinen kann, explizit darauf aufmerksam zu machen. Umso mehr mag es erstaunen, dass dieser Aspekt in der gegenwärtigen Philosophie der Literatur keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielt. Dies ist meines Erachtens ein weiteres Indiz für die Tendenz, auf die ich mit dem vorliegenden Beitrag aufmerksam machen will: Anstatt die Literatur in ihren Besonderheiten Ernst zu nehmen, werden in der Philosophie der Literatur häufig Theorien, die in anderen Kontexten entwickelt worden sind, auch auf die Literatur angewendet. Dabei könnten die Debatten um den kognitiven Gehalt der Literatur davon profitieren, wenn man die ästhetischen Aspekte der Literatur stärker berücksichtigen würde. Kunstwerke lenken die Aufmerksamkeit der Rezipienten immer auch auf die eigene Form; sprachliche Kunstwerke lenken die Aufmerksamkeit auf die Sprache. Der kognitive Wert eines literarischen Textes liegt also nicht nur in dem Bild, das er entwirft, 21

Wer urteilt, dass solche Texte eigentlich keine Literatur seien, verwendet den Begriff „Literatur“ in seiner wertenden Bedeutung: Es geht dann wohl nicht darum, zu behaupten, dass er nicht zu einer bestimmten Textsorte gehöre, sondern eher darum, dass seine literarische Qualität mangelhaft sei. Das zeigt aber nur, dass es kein Kategorienfehler ist, auch solche Texte nach ästhetischen Kriterien zu beurteilen.

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und das immer auch einen Bezug zur Realität hat, sondern auch in der Art und Weise, wie dieses Bild entwickelt wird. Es werden dem Leser nicht nur Erkenntnisse über bzw. Perspektiven auf die Welt angeboten, sondern auch linguistische Kompetenzen vorgeführt, die das eigene linguistische Repertoire wesentlich erweitern können. Es geht dabei aber nicht bloß darum, den eigenen Wortschatz zu vergrößern oder die eine oder andere Redewendung zu übernehmen: Sprache ist das Medium, in dem wir reflektieren, argumentieren, neue Erkenntnisse gewinnen und schließlich unser Wissen formulieren und kommunizieren. Eine Erweiterung dieser Fähigkeiten ermöglicht es uns also auch, über Themen zu reflektieren, die wir bisher ignoriert haben, Argumente für Positionen zu entwickeln, die bisher unbekannt waren, und Propositionen zu formulieren, die so zum festen Bestandteil unseres Wissens werden. Gerade durch ihre ästhetischen Aspekte können wir von literarischen Texten Fähigkeiten erwerben, mit Hilfe derer wir in die Lage gesetzt werden, autonom neues Wissen zu gewinnen. Indirekt gelangen wir durch literarische Texte so auch zu neuem propositionalen Wissen. Literaturverzeichnis

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II. Der Erkenntniswert der Literatur

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Können wir aus Fiktionen lernen?1

1.

Einleitung

In diesem Beitrag geht es um die Frage, ob wir aus fiktionalen literarischen Werken etwas lernen können. Können fiktionale literarische Werke uns Wissen vermitteln? Wenn ja, wie ist das möglich, und welche Art von Wissen vermitteln uns fiktionale Werke? Ich werde argumentieren, dass fiktionale literarische Werke in der Tat Wissen vermitteln können, und zwar, unter anderem, propositionales Wissen über die „wirkliche Welt“. Ich werde hier nicht den Versuch unternehmen, zu definieren, was „Literatur“ bzw. ein „literarisches Werk“ ist bzw. was literarische Werke von nichtliterarischen Sprachwerken unterscheidet. Ich werde aber – in (3.) – etwas darüber sagen, was ein fiktionales Werk ist, d. h., was fiktionale Sprachwerke von nichtfiktionalen Sprachwerken unterscheidet. Manches von dem, was im Folgenden gesagt werden wird, ließe sich, mutatis mutandis, auf nichtsprachliche fiktionale Werke (z. B. Filmwerke) übertragen. Aber keine dieser Übertragungen wird hier durchgeführt werden. Wenn im Folgenden ohne nähere Eingrenzung von „fiktionalen Werken“ die Rede ist, dann sind damit stets literarische fiktionale Werke gemeint. Es scheint, dass viele (auch neuere) Beiträge zur Frage nach dem Erkenntniswert von Literatur immer noch motiviert sind durch die uralte Kontroverse um den Wert von Kunst im Allgemeinen und Literatur im Besonderen im Vergleich zu den Wissenschaften – jene Kontroverse, deren Ursprung für gewöhnlich bei Platon verortet wird: Sind Kunst und Literatur unnütz, weil sie uns – im Gegensatz zu den Wissenschaften – nichts lehren, oder gar schädlich, weil sie uns den Blick auf die Wahrheit verstellen oder uns zumindest davon ablenken? Mein Anliegen ist keineswegs, ein weiteres Mal die Literatur zu rehabilitieren bzw. ihr Existenzrecht neben den Wissenschaften zu verteidigen. Vielmehr nehme ich es als gegeben an, dass literarische Werke aus vielerlei 1

Dieser Beitrag ist in wesentlichen Teilen eine Übersetzung meines Aufsatzes „Knowledge from Fiction“ (Reicher 2012). Dem Leiter des mentis-Verlages, Dr. Michael Kienecker, danke ich herzlich für die Erlaubnis, den Text zu verwenden.

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Gründen intrinsisch wertvoll sein können, dass sie sowohl kognitive als auch nichtkognitive Funktionen verschiedenster Art erfüllen können. Ich setze hier auch keineswegs voraus, dass kognitive Funktionen per se größeres Gewicht haben als nichtkognitive Funktionen (wie zum Beispiel ästhetisches Vergnügen, Unterhaltung, Zerstreuung und Entspannung, emotionales Bewegtwerden, Trost etc.). Hinsichtlich des relativen Werts dieser unterschiedlichen Funktionen bin ich vollkommen neutral. Vielmehr bin ich motiviert durch zwei starke Intuitionen: erstens, dass man aus fiktionalen Werken viel über die Welt lernen kann, und zweitens, dass der Erkenntniswert eines literarischen Werks ein wesentlicher Grund für die Wertschätzung des Werks als literarisches Werk sein kann. Der vorliegende Aufsatz ist in fünf Hauptabschnitte gegliedert. In (2.) – Ästhetischer Kognitivismus und ästhetischer Antikognitivismus – werde ich die Fragestellung präzisieren und einige wichtige Positionen skizzieren. In (3.) – Antikognitivistische Argumente – werde ich vier Einwände gegen den ästhetischen Kognitivismus formulieren, und ich werde auf die ersten beiden dieser vier Einwände auch gleich Entgegnungen präsentieren. Die folgenden beiden Abschnitte sind den beiden übrigen antikognitivistischen Einwänden gewidmet. In (4.) – dem umfangreichsten Abschnitt – werde ich mich mit dem Einwand der fehlenden Referenz auseinandersetzen, welcher kurz gefasst lautet, dass wir aus fiktionalen Werken nichts lernen können, weil fiktionale Werke nicht behauptend sind. Im Zuge dieser Auseinandersetzung werde ich verschiedene Arten von fiktionalen Werken unterscheiden und eine Analyse des Fiktionalitätsbegriffs vorschlagen, die von einer heute sehr verbreiteten Fiktionalitäts-Konzeption abweicht. In (5.) werde ich den Einwand der epistemischen Unzuverlässigkeit diskutieren, welcher lautet, dass wir aus fiktionalen Werken keine epistemisch gerechtfertigten wahren Überzeugungen gewinnen können, weil wir keine guten Gründe haben, solche Werke für zuverlässige Zeugnisse zu halten. Im Zuge dieser Diskussion werde ich die Frage beantworten, wodurch Leser epistemisch gerechtfertigt sein können, fiktionale Werke als zuverlässige Zeugnisse anzusehen. Im fünften und letzten Abschnitt werde ich mich der Frage zuwenden, ob der kognitive Wert eines Kunstwerks für dessen Wert als Kunstwerk relevant ist.

2.

Ästhetischer Kognitivismus und ästhetischer Antikognitivismus

Von ästhetischem Kognitivismus bzw. ästhetischem Antikognitivismus ist in verschiedenen Bedeutungen die Rede, die nicht immer scharf voneinander unterschieden werden. Grundsätzlich geht es bei der Unterscheidung kognitivistischer bzw. antikognitivistischer Positionen um die folgenden beiden Fragen: 1. Können Kunstwerke Wissen vermitteln? 2. Falls Kunstwerke Wissen vermitteln können, vergrößert der kognitive Wert eines Kunstwerks dessen Wert als Kunstwerk, also dessen ästhetischen Wert (in einem hinreichend weiten Sinn von „ästhetischer Wert“)? Man könnte die erste der beiden Fragen als epistemische Frage bezeichnen, die zweite als ästhetische Frage.2 Manche bezeichnen nun als ästhetischen Kognitivismus jene Position, die eine positive Antwort auf 2

Gaut 2003, 436.

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beide Fragen impliziert.3 Ästhetischer Antikognitivismus besteht demgemäß in der Ablehnung entweder der These, dass wir durch Kunstwerke Wissen erwerben können, oder in der Ablehnung der These, dass der kognitive Wert eines Kunstwerks zu dessen Wert als Kunstwerk beiträgt. Alternativ könnte man als ästhetischen Kognitivismus jedoch schlicht jegliche Position bezeichnen, die eine positive Antwort auf die epistemische Frage impliziert. Ästhetischer Kognitivismus wäre demnach einfach die Auffassung, dass Kunstwerke Wissen vermitteln können – unabhängig von der Folgefrage, ob der epistemische Wert eines Kunstwerks zu dessen ästhetischem Wert beiträgt oder nicht. Ästhetischer Antikognitivismus wäre entsprechend die Verneinung der These, dass Kunstwerke Wissen vermitteln können. Ich werde hier die Bezeichnungen „ästhetischer Kognitivismus“ und „ästhetischer Antikognitivismus“ im zweiten Sinn verwenden, also allein in Hinblick auf die epistemische Frage. Ich werde mich in diesem Aufsatz in erster Linie der Erörterung der epistemischen Frage widmen; auf die ästhetische Frage werde ich erst am Ende des Aufsatzes noch einmal kurz zurückkommen. Die Positionen innerhalb des Feldes des ästhetischen Kognitivismus unterscheiden sich unter anderem hinsichtlich der Frage, welche Arten von Wissen Kunstwerke vermitteln können. Viele haben – überzeugend – argumentiert, dass Kunst im Allgemeinen und fiktionale Literatur im Besonderen eine Vielzahl unterschiedlicher kognitiver Funktionen erfüllt. Insbesondere wurde darauf verwiesen, dass Kunstwerke verschiedene Arten nichtpropositionaler Erkenntnis vermitteln können. Unter anderem wurde festgehalten, dass Kunstwerke zu einem vertieften Verständnis bereits bekannter Tatsachen beitragen4 oder uns schlicht an bereits bekannte Tatsachen erinnern bzw. uns diese deutlicher zu Bewusstsein bringen5 . Darüber hinaus argumentieren mehrere Autoren, dass insbesondere literarische Kunstwerke unser linguistisches und begriffliches Repertoire erweitern und verfeinern oder sogar eine Revision unseres Begriffssystems anstoßen können.6 Veränderungen und Erweiterungen des Begriffssystems können zweifellos die Wahrnehmung verändern; so überrascht es nicht, dass häufig auch behauptet wird, dass Kunstwerke die Art und Weise verändern, wie wir die Welt wahrnehmen.7 Manche meinen, dass Kunstwerke praktisches Wissen im weitesten Sinn vermitteln können, also Wissen, wie etwas zu tun ist.8 Unter die Kategorie des praktischen Wissens wird manchmal auch die „Erziehung der Gefühle“ subsumiert,9 also das Erlernen angemessener emotionaler Reaktionen auf bestimmte Ereignisse, Handlungen oder Sachverhalte. Zu denken ist hier wohl in erster Linie an moralische Gefühle im weitesten Sinn, also zum Beispiel Empörung, Scham, Mitleid, Schuld, Vergebung. Eine weitere Art nichtpropositionalen Wissens, dessen Vermittlung Kunstwerken häufig zugeschrieben wird, 3 4 5 6 7 8 9

Zum Beispiel Berys Gaut, ebd., 436f. Siehe z. B. Döring 2001, Elgin 2002, Gabriel 1975a, Gabriel 2010, Graham 1995, Jäger 2005, Kutschera 2005, Reicher 2007, Wilson 1983. Siehe Cebik 1984, 200–202. Siehe z. B. Cebik 1984, Gibson 2007 und Huemer 2007. Siehe z. B. Cebik 1984, Gabriel 2010, Graham 1995, Novitz 1983. Siehe z. B. Novitz 1983. Gaut 2003, 438.

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ist phänomenales Wissen (auch Erfahrungswissen genannt), also Wissen, wie es ist bzw. wie es sich anfühlt, in der-und-der Situation zu sein.10 Ähnliches dürfte gemeint sein, wenn Gottfried Gabriel von „nichtpropositionaler Vergegenwärtigung der Lebenswirklichkeit“ als Erkenntnisleistung der Literatur spricht.11 Es wurde aber auch behauptet, dass Kunstwerke spezielle Arten von propositionalem Wissen vermitteln können, z. B. moralisches Wissen, Wissen über metaphorische Wahrheiten (also Wissen, dass das-und-das in einem metaphorischen Sinn wahr ist, zum Beispiel, dass kein Mensch eine Insel ist) oder modales Wissen, also Wissen darüber, was der Fall sein könnte, wenn die Umstände so-und-so wären.12 M. E. steckt in dem Gesagten viel Wahres. Ich bestreite nicht, dass fiktionale Werke verschiedene kognitive Funktionen haben und dass sie insbesondere verschiedene Arten von nichtpropositionaler Erkenntnis vermitteln können. Ich halte einige dieser Funktionen sogar für sehr wichtig.13 In diesem Aufsatz soll es jedoch nicht um die verschiedenen Formen nichtpropositionalen Wissens gehen, die Kunstwerke mutmaßlich vermitteln können, und auch nicht um spezielle Arten propositionalen Wissens. Mir geht es hier vielmehr um die Frage, ob fiktionale Werke gewöhnliches propositionales Weltwissen vermitteln können. Gewöhnliches propositionales Weltwissen schließt historisches, politisches, soziologisches, geographisches, ökonomisches und psychologisches Wissen ein – Wissen darüber, was in der realen Welt tatsächlich (in einem ganz wörtlichen Sinn) der Fall ist bzw. war (nicht, was der Fall sein könnte bzw. gewesen sein könnte). Außer Betracht bleiben in diesem Zusammenhang sämtliche Formen nichtpropositionaler Erkenntnis sowie auch die Einsicht in metaphorische Wahrheiten, modales Wissen und moralische Erkenntnis. Ich werde, wie in der Einleitung schon gesagt, hier die These vertreten, dass fiktionale literarische Werke propositionales Weltwissen vermitteln können.14

3.

Antikognitivistische Argumente

Berys Gaut diskutiert in seinem sehr empfehlenswerten Handbuchartikel vier antikognitivistische Argumente.15 Ich übernehme Gauts Auflistung hier, spreche aber (im Gegensatz zu Gaut) nicht von Kunstwerken im Allgemeinen, sondern von fiktionalen Werken; auch die Bezeichnungen der Einwände finden sich so nicht bei Gaut. Der Redundanzeinwand: Man kann zwar etwas von fiktionalen Werken lernen, aber es gibt keine besondere Art von Erkenntnis, die wir nur durch fiktionale Werke erlangen 10 11 12 13 14

15

Siehe z. B. Jacobson 1996, Kutschera 2005, Novitz 1987, Reicher 2007. Gabriel 2010, 257. Für eine Übersicht über verschiedene Arten kognitiver Funktionen von Kunstwerken siehe z. B. Gaut 2003 und Scholz 2011. In Reicher 2007 habe ich ausdrücklich dafür argumentiert, dass fiktionale Werke Erfahrungswissen vermitteln können und dass das eine sehr wichtige Funktion fiktionaler Werke ist. Dies wird explizit bestritten z. B. von T. J. Diffey (dessen antikognitivistische Argumentation Gegenstand von Abschnitt (3.) sein wird) und L. B. Cebik (siehe Cebik 1984, Diffey 1995). Explizit bejaht wird es z. B. von David Novitz (siehe Novitz 1983). Gaut 2003, 439–444.

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können. Alles, was wir aus solchen Werken lernen können, können wir auch auf andere Weise lernen, insbesondere durch wissenschaftliche Schriften. Der besondere Wert fiktionaler Werke kann also nicht in ihrer erkenntniserweiternden Funktion liegen; wäre es das, was den Wert fiktionaler Werke ausmacht, dann könnte man auf diese Sorte sprachlicher Artefakte ebenso gut verzichten.16 Der Trivialitätseinwand: Rezipienten behaupten oft, von fiktionalen literarischen Werken etwas gelernt zu haben, können aber häufig nicht formulieren, was sie gelernt haben, und wenn sie es doch versuchen, kommen oft nur banale Allerweltsweisheiten zum Vorschein, die der Komplexität der Werke in keiner Weise gerecht werden. So ist es beispielsweise offensichtlich inadäquat, den Wert von Jane Austens berühmtem Pride and Prejudice auf die Einsicht zu reduzieren, dass „[s]tubborn pride and ignorant prejudice keep attractive people apart“.17 Der Einwand der fehlenden Referenz: Man kann von fiktionalen literarischen Werken nichts lernen, weil fiktionale literarische Werke sich nicht auf die reale Welt beziehen, jedenfalls nicht im behauptenden Modus. Der Einwand der epistemischen Unzuverlässigkeit: Fiktionale literarische Werke können uns zwar wahre Überzeugungen vermitteln, sie können uns aber kein Wissen vermitteln, weil wir nicht gerechtfertigt sind, diese Werke als zuverlässige Quellen anzusehen – es sei denn, wir prüfen die Zuverlässigkeit der fiktionalen Quellen durch andere, nichtfiktionale Quellen, zum Beispiel Geschichtsbücher. In letzterem Fall würden wir unser Wissen aber den Geschichtsbüchern verdanken, nicht dem fiktionalen Werk. Diese vier Einwände gegen den ästhetischen Kognitivismus haben sehr unterschiedliches Gewicht. Die ersten beiden – also der Redundanzeinwand und der Trivialitätseinwand – sind ziemlich leicht zu kontern; die letzten beiden – also der Einwand der fehlenden Referenz und der Einwand der epistemischen Unzuverlässigkeit – bedürfen einer ausführlicheren Diskussion. Ich werde daher jetzt gleich kurze Entgegnungen auf den Redundanz- und den Trivialitätseinwand formulieren und im Anschluss den beiden ernsthafteren Einwänden jeweils einen eigenen Abschnitt widmen. Zum Redundanzeinwand: Der Redundanzeinwand trifft die von mir in dem vorliegenden Aufsatz vertretene Form des ästhetischen Kognitivismus nicht. Denn ich behaupte hier ja gar nicht, dass fiktionale Werke eine besondere Art von Erkenntnis vermitteln. Im Gegenteil, ich betone hier die erkenntniserweiternde Funktion fiktionaler Werke in Bezug auf Wissen, das ganz ausdrücklich „gewöhnliches Weltwissen“ ist. Selbstverständlich kann solches Wissen auch mit Hilfe anderer Quellen vermittelt werden. Das aber widerspricht nicht der epistemischen These, dass solches Wissen auch durch fiktionale Werke vermittelt werden kann. Der letzte Teil des Redundanzeinwands verdient jedoch noch gesonderte Beachtung: „Wäre es die Vermittlung propositionalen Weltwissens, was den Wert fiktionaler literarischer Werke ausmacht, dann könnte man auf diese Sorte sprachlicher Artefakte ebenso gut verzichten.“ Diese Behauptung ist zweideutig. Sie kann entweder gelesen werden im Sinne von „Wäre es ausschließlich die Vermittlung propositionalen Weltwissens, was 16 17

Ähnlich lautet Gottfried Gabriels „Verdoppelungseinwand“. Vgl. Gabriel 1975b, 71. Diesen Hinweis verdanke ich Íngrid Vendrell Ferran. Stolnitz 1992, 193.

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den Wert fiktionaler Werke ausmacht ...“ oder im Sinne von „Wäre es unter anderem die Vermittlung propositionalen Weltwissens, was den Wert fiktionaler Werke ausmacht ...“. In der Ausschließlichkeits-Interpretation ist diese These wohl richtig, in der anderen Lesart ist sie aber falsch. Der ästhetische Kognitivismus, den ich hier verteidige, impliziert aber nicht die Ausschließlichkeits-Interpretation. Es ist nicht impliziert, dass der Wert eines fiktionalen literarischen Werks ausschließlich an seinem Potential hängt, das propositionale Weltwissen der Leser zu erweitern. Der hier vertretene ästhetische Kognitivismus lässt reichlich Raum für andere Funktionen (kognitiver und nichtkognitiver Art), die ebenfalls zum Wert fiktionaler literarischer Werke beitragen und die nicht ohne Weiteres von anderen Artefakten (insbesondere nicht von wissenschaftlichen Werken) übernommen werden können. Zum Trivialitätseinwand: Zunächst ist festzuhalten, dass der Trivialitätseinwand mit einem Wertprädikat operiert. Die epistemische These enthält jedoch keinerlei Wertprädikate. Die epistemische These besagt, dass fiktionale Literatur Wissen vermitteln kann; sie ist neutral bezüglich der Frage, wie bedeutend, tief oder neu das vermittelte Wissen ist. Also würde der Trivialitätseinwand, selbst wenn er sachlich richtig wäre, die epistemische These nicht widerlegen. Zweitens ist festzuhalten, dass Trivialität relativ zum Adressaten ist: Was für den einen selbstverständlich ist, mag für den anderen eine wichtige neue Einsicht sein. Drittens ist der Trivialitätseinwand höchstwahrscheinlich sachlich nicht richtig. Es ist mehr als zweifelhaft, ob die propositionalen Wahrheiten, die aus fiktionalen Werken abgeleitet werden können, allen oder auch nur der Mehrheit der (intendierten oder tatsächlichen) Leser bereits bekannt oder für diese leicht zugänglich sind.18 Ich gebe einige Beispiele für Wissen, das ich der Lektüre fiktionaler Literatur verdanke: Ich habe aus Franz Werfels Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh viel über den Genozid an den Armeniern gelernt, unter anderem, dass die türkische Regierung ihre Aktionen gegen die Armenier als „Umsiedlungen“ deklarierte, dass aber zugleich klar war, dass die Bedingungen, unter denen diese stattfanden, zum Tod eines großen Teils der Betroffenen führen mussten, und dass die Verbündeten der Türkei im Ersten Weltkrieg, insbesondere Deutschland, über die Lage recht genau unterrichtet waren, aber wenig dagegen unternahmen, aus Sorge, einen Verbündeten zu vergraulen. Ich habe aus John Steinbecks Früchte des Zorns viel über die sozialen Konflikte in den USA in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gelernt, unter anderem, dass infolge der zunehmenden Industrialisierung der Landwirtschaft in den 30er Jahren Hunderttausende landwirtschaftliche Kleinpächter ihre Höfe aufgeben mussten, dass viele davon sich nach Kalifornien aufmachten, in der Hoffnung, auf den dortigen Plantagen Arbeit zu finden und sich eine neue Existenz aufbauen zu können, und dass aus dieser Wanderbewegung ein Heer von verelendeten Tagelöhnern entstand, die sich später zum Teil gewerkschaftlich organisierten, um ihre Lage zu verbessern. Ich habe aus Dschingis Aitmatovs Ein Tag länger als ein Leben viel über den Stalinismus gelernt, beispielsweise, dass nicht nur Gegner Stalins Opfer stalinistischer „Säuberungen“ wurden, sondern auch ganz re18

Noël Carroll, ein Verteidiger des ästhetischen Kognitivismus, meint sogar, dass es oftmals die ästhetischen Antikognitivisten selber seien, die die Botschaften der Autoren trivialisieren, indem sie komplexe Zustandsbeschreibungen auf eine simplifizierte Formel bringen (Carroll 2007, 36f.).

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gimetreue Kommunisten in untergeordneten Positionen in die Mühlen der politischen Justiz kommen konnten, und dass die Mechanismen dieser Justiz ein „nicht schuldig“ praktisch nicht zuließen. Ich bezweifle, dass all das für die Mehrheit der (intendierten und/oder tatsächlichen) Leser schon vorab bekannt und selbstverständlich war.19 Allerdings enthält der Trivialitätseinwand einen wahren Kern: Es ist sicherlich wahr, dass es in vielen Fällen inadäquat ist, den Wert oder auch nur den kognitiven Gehalt eines komplexen fiktionalen Werks auf eine schlichte, in einem Satz formulierbare Wahrheit („die Moral von der Geschichte“) herunterzubrechen. Das widerspricht aber der epistemischen These nicht. Die epistemische These impliziert nicht, dass das gesamte durch ein fiktionales Werk vermittelte Wissen auf eine kurze Formel zu bringen sein muss; die epistemische These impliziert auch nicht, dass das durch fiktionale Werke vermittelte Wissen eine bestimmte Art von Inhalt hat, zum Beispiel dass es ausschließlich oder in erster Linie allgemeine Wahrheiten über die menschliche Natur zum Inhalt hat. Ich möchte dieser letzten Behauptung sogar ausdrücklich widersprechen. M. E. ist es nicht (wie vielfach gesagt wird) Aufgabe der Literatur, möglichst allgemeine Wahrheiten zu vermitteln; vielmehr scheint mir der Erkenntniswert der Literatur oftmals eher in der Vermittlung von Details zu liegen, im Kleinen, scheinbar Nebensächlichen.

4.

Der Einwand der fehlenden Referenz

Der Einwand der fehlenden Referenz wird besonders klar und dezidiert von T. J. Diffey vertreten. Diffey behauptet, dass „there is nothing significant to be learned from art about history, society, or life, if ›learned‹ is understood in a narrow sense as the acquisition of previously unknown truths or facts.“20 Dass Diffey hier allgemein von „Kunst“ spricht anstatt von fiktionalen Werken ist jedoch irreführend. Denn wie aus dem Verlauf von Diffeys Argumentation klar wird, geht es ihm darum zu zeigen, dass es prinzipiell unmöglich ist, propositionales Weltwissen aus fiktionalen Werken zu gewinnen. Dass nichtfiktionale Werke wie Biographien, Tagebücher oder Reportagen ebenfalls den Rang von Kunstwerken genießen können, ist Diffey entweder einfach nicht in den Sinn gekommen oder er hat Gründe, dies zu bestreiten (die er aber in dem zitierten Aufsatz jedenfalls nicht benennt). Das tut aber der Relevanz seiner Argumentation für die antikognitivistische epistemische These keinen Abbruch. Daher soll Diffeys Argument hier genauer untersucht werden. Es wird sich zeigen, dass Diffeys Argument auf weithin akzeptierten Annahmen über das Wesen der Fiktionalität beruht; und dieser Umstand macht eine Auseinandersetzung mit diesem Argument auch über den Themenbereich „Erkenntnis und Fiktion“ hinaus relevant. Die These, die es zu diskutieren gilt, und für die Diffey argumentiert, lautet also: Aus fiktionalen Werken kann nichts über die Welt gelernt werden. Diffeys Argument lautet im Original wie folgt: 19

20

Gegen den Trivialitätseinwand spricht prima facie nicht nur die subjektive Erfahrung vieler Leser, sondern auch eine Reihe von empirischen Studien, in denen nachgewiesen wird, dass die Rezeption fiktionaler Werke in teilweise erstaunlichem Ausmaß zu Überzeugungsänderungen führt. Siehe z. B. Appel 2005, Marsh/Meade/Roediger III 2003, Schreier 2009, Strange 2002. Diffey 1995, 210.

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M E. R I deny art is directly the source of any knowledge of the world for the reason that the mediums of art show something without saying or asserting it. But a condition of learning from art in any unproblematic sense requires works of art to refer to the world. In the case of art, however, reference is suspended. How can a work of art be faithful to the facts it would teach if art is not by its nature fact-stating?21

Aus den oben schon angeführten Gründen muss man sich den Ausdruck „art“ in diesem Zitat durch „fiction“ ersetzt denken. Eine adäquate Rekonstruktion von Diffeys Argument lautet also wie folgt: 1. Damit man aus einem Werk etwas über die Welt lernen kann, muss das Werk auf die Welt Bezug nehmen und das Werk muss behauptend [fact-stating] sein. 2. Fiktionale Werke nehmen nicht auf die Welt Bezug und sie sind nicht behauptend. 3. Also kann man aus fiktionalen Werken nichts über die Welt lernen. Ich werde im Folgenden argumentieren, dass die zweite Prämisse dieses Arguments falsch ist, dass also zumindest manche fiktionalen Werke sehr wohl auf die Welt referieren und behauptend sind. Die zweite Prämisse lässt jedoch zwei Lesarten zu, je nachdem, ob man den Ausdruck „fiktionale Werke“ ausschließlich auf rein fiktionale Werke bezieht oder auch auf nicht rein fiktionale Werke. Ein rein fiktionales Werk enthält ausschließlich fiktionale Äußerungen, während ein nicht rein fiktionales Werk sowohl fiktionale als auch nichtfiktionale Äußerungen enthält, ähnlich wie Patchworkdecken aus Stoffstücken unterschiedlichen Materials zusammengesetzt sind oder Gesteinsbrocken metallische Einschlüsse haben können. Es macht nun offenbar einen wesentlichen Unterschied, ob die zweite Prämisse ausschließlich auf rein fiktionale Werke oder sowohl auf rein fiktionale als auch auf nicht rein fiktionale Werke gemünzt ist. Es ist zu vermuten, dass auch ein entschiedener Antikognitivist wie Diffey der Auffassung nähertreten könnte, dass die nichtfiktionalen Äußerungen innerhalb nicht rein fiktionaler Werke sich auf die Welt beziehen und behauptend sein können und dass es mithin auch möglich ist, aus diesen Äußerungen etwas über die Welt zu lernen. Ich bestreite nicht, dass diese „Patchwork-Auffassung“ (wie ich sie nenne) für manche Fälle adäquat sein kann. Ich denke aber nicht, dass sie für typische Beispiele realistischer fiktionaler Literatur funktioniert, denn typische Beispiele realistischer fiktionaler Literatur sind, so lautet meine These, rein fiktionale Werke. Ich nenne das die Reinheitsthese. Da also typische Werke realistischer fiktionaler Literatur rein fiktionale Werke sind, ist die Patchwork-Auffassung auf sie nicht anwendbar. Die Verteidigung der Reinheitsthese erfordert eine Analyse des Begriffs der fiktionalen Äußerung. Als Einstieg dazu möchte ich eine Passage aus T. C. Boyles historischem Roman Wassermusik präsentieren:

21

Ebd., 208.

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An der Wende zum 19. Jahrhundert besaß die Westküste Afrikas (von Dakar bis zur Bucht von Benin) einen auf der ganzen Welt unerreichten Ruf der Pestilenz und Fäulnis. Bei ihrer Hitze und Feuchtigkeit, den jahreszeitlichen Sintfluten und den Myriaden von Insekten war sie eine Art gigantische Petrischale zur Kultur exotischer und schreckenerregend zerstörerischer Seuchen. Du lern und bleib fern der Bucht von Benin, ging ein Matrosenliedchen jener Zeit, einer kommt raus und fünfzig sind hin. Fleckfieber, Frambösie, Typhus und Schlafkrankheit gediehen dort prächtig. Dito Hakenwürmer, Cholera und Pest. Im Trinkwasser lauerten Bilharziose und der Guineawurm, Tollwut in den scharfen Reißzähnen der Fledermäuse und Wölfe, Filarien im Speichel der Moskitos und Bremsen.22 Boyle selbst legt großen Wert auf die Feststellung, dass Wassermusik zwar auf historischen Fakten basiere, aber nichtsdestotrotz ein fiktionales Werk sei, wie er in einer Vorbemerkung („Apologie“) schreibt. Trotz dieses Warnhinweises an die Leser denke ich, dass die oben zitierten Ausführungen über die klimatologischen und epidemiologischen Bedingungen an der westafrikanischen Küste um 1800 im Wesentlichen den Tatsachen entsprechen. Würde sich herausstellen, dass die Küste Westafrikas um 1800 allgemein als ein angenehmer und gesunder Ort zum Leben galt oder dass Pest und Cholera in Afrika zu jener Zeit völlig unbekannt waren, könnte man Boyle vorwerfen, nicht gründlich genug recherchiert zu haben. Obgleich wohl auch ohne Boyles „Apologie“ nur sehr naive Leser alle in dem Roman geschilderten Umstände und Ereignisse für bare Münze nehmen würden, darf man in einem Werk dieser Gattung in der Regel erwarten, dass allgemeine Beschreibungen realer Schauplätze der Romanhandlung im Großen und Ganzen wirklichkeitsgetreu sind. Auf den ersten Blick scheint dies ein typischer Fall eines nicht rein fiktionalen Werks zu sein. In der Tat sind realistische fiktionale Werke oftmals durchsetzt mit Beschreibungen von historischen Ereignissen, von Lebensumständen vergangener oder gegenwärtiger Menschen oder von realen Schauplätzen, wie in dem obigen Zitat. Dabei ist entscheidend, dass in diesen scheinbar nichtfiktionalen Einsprengseln keinerlei Bezugnahme auf fiktive Figuren und Geschehnisse vorkommt; genau deshalb erscheinen sie ja als nichtfiktional. Ob die zitierte Passage aus Boyles Roman tatsächlich aus nichtfiktionalen Äußerungen besteht, hängt jedoch nicht zuletzt davon ab, welche Auffassung von Fiktionalität zugrunde gelegt wird. Eine heute sehr verbreitete Auffassung (ich bezeichne sie im Folgenden als die Standardauffassung) kann folgendermaßen formuliert werden: Eine fiktionale Äußerung ist ein Äußerungs-Vorkommnis, das nicht dazu verwendet wird, jenen Typus eines illokutionären Aktes zu vollziehen, der normalerweise mit ÄußerungsVorkommnissen dieses Typs vollzogen wird. Wenn also zum Beispiel Vorkommnisse eines bestimmten Äußerungstyps normalerweise dazu verwendet werden, den illokutionären Akt des Behauptens zu vollziehen, dann werden Vorkommnisse desselben Typs von Äußerungen im fiktionalen Modus der Rede nicht dazu verwendet, etwas zu behaupten. 22

Boyle 2002 (engl. zuerst 1982), 491.

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Daher sind, gemäß der Standardauffassung, in der fiktionalen Rede die gewöhnlichen Konversationsregeln außer Kraft gesetzt. Beispielsweise gelten für den illokutionären Akt des Behauptens (nach allgemeiner Auffassung) die folgenden Regeln: Der behauptende Satz muss wahr sein; die Person, die den behauptenden Satz äußert, muss den Satz selbst für wahr halten; und die Person, die den behauptenden Satz äußert, muss gute Gründe dafür haben, den Satz für wahr zu halten. In nichtfiktionaler Rede erwarten Hörer und Leser, dass die Sprecher diese Regeln befolgen; stellt sich heraus, dass das nicht der Fall ist, gibt es in der Regel Sanktionen (etwa in Form von Vorwürfen). In der fiktionalen Rede jedoch erwarten Leser nicht, dass Autoren diese Regeln befolgen; daher wird Nicht-Befolgung auch nicht sanktioniert. So weit die Standardauffassung fiktionaler Äußerungen.23 John Searle, der vielleicht prominenteste Vertreter der Standardauffassung der fiktionalen Rede, behauptet nicht nur, dass in fiktionaler Rede nicht jene illokutionären Akte vollzogen werden, die normalerweise mit Äußerungen des betreffenden Typs vollzogen werden (also z. B. behaupten, fragen etc.); er vertritt die stärkere These, dass in fiktionaler Rede überhaupt keine illokutionären Akte vollzogen werden. Vielmehr würden Autoren in fiktionaler Rede nur vorgeben, illokutionäre Akte zu vollziehen (z. B. den Akt des Behauptens, des Fragens etc.). In diesem Sinn sei die fiktionale Rede „parasitär“ gegenüber der gewöhnlichen Rede.24 Gemäß der Standardauffassung der fiktionalen Rede sind die zitierten Einlassungen Boyles über Westafrika um 1800 höchstwahrscheinlich nichtfiktional. Denn aller Wahrscheinlichkeit nach gilt nicht nur, dass diese Äußerungen wahr sind, sondern auch, dass Boyle sie selbst für wahr hält, und dass er gute Gründe hat, sie für wahr zu halten. Ich aber halte die Standarderklärung der fiktionalen Rede nicht für adäquat. Mein erster Einwand lautet, dass es nicht zutrifft, dass in fiktionaler Rede keinerlei illokutionäre Akte vollzogen werden. Vielmehr werden in fiktionaler Rede illokutionäre Akte eines ganz speziellen Typs vollzogen, nämlich Akte des Entwerfens einer fiktiven Welt. Eine fiktive Welt zu entwerfen heißt, dem Bewusstsein der Leser fiktive Sachverhalte, Personen, Dinge, Orte und Ereignisse zu präsentieren.25 23 24 25

Bekannte Vertreter dieser Auffassung sind Gottfried Gabriel und John Searle (siehe z. B. Searle 2010 (engl. zuerst 1975) und Gabriel 2010). Searle 2010, 29. Auch Gregory Currie bestreitet (in kritischer Auseinandersetzung mit Searles Fiktionalitätstheorie), dass in fiktionaler Rede keinerlei illokutionäre Akte vollzogen werden. Seine Erklärung der in fiktionaler Rede vollzogenen Akte weicht jedoch von meiner ab. Seiner Auffassung nach handelt es sich dabei um Akte der Aufforderung: Die Autoren fordern die Leser auf, so zu tun, als ob sie glaubten, dass der Autor ihnen eine wahre Geschichte erzählen will. (Currie 2010, engl. zuerst 1985). Ich denke nicht, dass man beim Lesen eines fiktionalen Werkes typischerweise so tut, als ob man glaubt, dass die erzählte Geschichte wahr sei bzw. dass der Autor eine wahre Geschichte erzählen will; und ich denke auch nicht, dass Autoren dies normalerweise von ihren Lesern erwarten oder sie dazu auffordern. Ich wüsste auch gar nicht, was man tun sollte, um einer solchen Aufforderung nachzukommen. Wesentlich plausibler erscheint es mir, dass Autoren möchten, dass die Leser sich die dargestellten Figuren, Ereignisse etc. vorstellen (in einem weiten und nicht notwendig anschaulichen Sinn von „vorstellen“). Sich vorzustellen, dass das-und-das der Fall ist, ist aber etwas anderes als so zu tun, als ob.

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Die Standarderklärung der fiktionalen Rede ist nicht gänzlich falsch, aber sie greift zu kurz. Sie ist nicht gänzlich falsch, weil man in einem bestimmten Sinn schon sagen kann, dass in fiktionaler Rede „so getan wird, als ob“ gewöhnliche illokutionäre Akte (z. B. Akte des Behauptens) vollzogen würden. Das trifft nämlich zu in dem Sinn, dass die Äußerungen in der fiktionalen Rede der äußeren Form nach nicht zu unterscheiden sind von Äußerungen, mit denen in nichtfiktionaler Rede z. B. behauptet wird. Die Erklärung greift aber zu kurz, weil nicht alle Äußerungen, die äußerlich von Behauptungen ununterscheidbar sind, ohne echte Behauptungen zu sein, Äußerungen in fiktionaler Rede sind. Aussagesätze werden normalerweise verwendet, um Behauptungsakte zu vollziehen; sie kommen in fiktionaler Rede vor, wo sie nicht verwendet werden, um Behauptungsakte zu vollziehen; sie kommen aber auch in verschiedenen nichtfiktionalen Kontexten vor, wo sie ebenfalls nicht dazu verwendet werden, Behauptungsakte zu vollziehen. Aussagesätze können z. B. in einem Grammatik-Lehrbuch vorkommen, oder in einem Logikkurs (um eine bestimmte Art von Syllogismus zu demonstrieren), oder sie können als Aussprache-Übungen dienen. In keinem dieser Fälle haben wir es mit fiktionaler Rede zu tun. Gleichwohl weisen diese Beispiele alle Merkmale auf, die gemäß der Standardauffassung Äußerungen in der fiktionalen Rede zukommen: Die üblichen Konversationsregeln (Wahrheit, Überzeugung des Sprechers und Rechtfertigung) sind außer Kraft gesetzt. Gegen die Standardauffassung der fiktionalen Rede ist also einzuwenden, dass sie den Unterschied zwischen dem Gebrauch eines Satzes in fiktionaler Rede und dem Gebrauch eines Satzes z. B. in einem Grammatik-Lehrbuch nicht erklären kann. Deshalb schlage ich folgende Explikation des Begriffs der fiktionalen Äußerung vor: Eine Äußerung ist fiktional genau dann, wenn sie verwendet wird, um eine fiktive Welt zu entwerfen. Eine fiktive Welt zu entwerfen heißt, das zu tun, was nötig ist, um dem Bewusstsein des Lesers eine bestimmte fiktive Welt zu präsentieren. Als nächstes gilt es zu klären, ob für fiktionale Äußerungen (verstanden in dem eben explizierten Sinn) das gilt, was gemäß der Standardauffassung der fiktionalen Rede für fiktionale Äußerungen gilt, nämlich dass für sie die üblichen Konversationsregeln nicht gelten. Trifft es also zu, dass für Aussagesätze, die verwendet werden, um eine fiktive Welt zu entwerfen, die Regeln der Wahrheit, der Überzeugung und der Rechtfertigung nicht in Kraft sind? Trifft es zu, dass wir von einem Autor, der Aussagesätze verwendet, um damit eine fiktive Welt zu entwerfen, nicht erwarten, dass er die Wahrheit sagt, dass er selbst glaubt, was er sagt, und dass er gute Gründe hat, das zu glauben? Ich denke, dass das in der Tat häufig der Fall ist, vielleicht sogar in den meisten Fällen, aber nicht immer. Einer der Ausnahmefälle könnte die oben zitierte Westafrika-Passage von T. C. Boyle sein. Wenn ich diese Stelle richtig interpretiere, dann werden die Äußerungen, aus denen sie besteht, dazu verwendet, zweierlei illokutionäre Akte zugleich zu vollziehen: Einerseits entwirft der Autor mit ihnen eine fiktive Welt, andererseits stellt er – mit denselben Äußerungen – Behauptungen über die reale Welt auf.26 Ich bestreite nicht, dass es Werke geben kann, die in der Tat aus fiktionalen und nichtfiktionalen Äußerungen zusammengesetzt sind (d. h., aus Äußerungen, die dazu verwendet werden, eine fiktive Welt zu entwerfen, und aus Äußerungen, die nicht dazu 26

Damit widerspreche ich Monroe Beardsley (siehe Beardsley 1981, zuerst 1958, § 23).

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verwendet werden, eine fiktive Welt zu entwerfen). Beispiele dafür finden sich etwa in Bertold Brechts epischem Theater. Wenn es etwa im Epilog des Brecht’schen Stücks Der gute Mensch von Sezuan heißt: „Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss! Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!“27 , dann ist der Zweck dieser Äußerung eindeutig nicht, eine fiktive Welt zu entwerfen. Im Gegenteil, hier findet offenbar ein kalkulierter Bruch statt: Die Rezipienten sollen aus der Vorstellung der entworfenen fiktiven Welt herausgerissen und in die reale Welt zurückgeholt werden; und dies geschieht durch einen Wechsel von fiktionaler Rede zu ernsthafter Rede. Ich bezweifle jedoch, dass Derartiges auch in typischen historischen Romanen (wie Boyles Wassermusik oder Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh) stattfindet. Die zitierte Passage von Boyle hat eindeutig die Funktion, zum Entwerfen der fiktiven Welt beizutragen, zusammen mit vielen anderen Äußerungen, deren Beziehung zum Überzeugungssystem des Autors unterschiedlich sein kann: Einige der zum Weltentwerfen verwendeten Äußerungen mag der Autor für wahr halten, andere für falsch, und wieder anderen mag er vielleicht niemals einen Wahrheitswert zugeordnet haben.28 Gerade der Kontrast zum epischen Theater zeigt m. E. sehr klar, dass in typischen Fällen realistischer fiktionaler Literatur auch wahrheitsgetreue Beschreibungen realer Schauplätze und Ereignisse oder allgemeine Bemerkungen zur menschlichen Psychologie etc. Teil des fiktionalen Weltentwurfs sind und nicht etwa ein Bruch mit demselben. Mithin ist die zitierte Passage von Boyle ein Beispiel fiktionaler Rede gemäß der von mir vorgeschlagenen Definition. Zugleich gelten aber für die Äußerungen, aus denen diese Passage besteht, die üblichen Regeln der nichtfiktionalen Rede, also die Regeln der Wahrheit, des Glaubens und der Rechtfertigung. Entscheidend ist, dass es Äußerungen gibt, welche die folgenden beiden Merkmale in sich vereinen: 1. Sie werden verwendet, um eine fiktive Welt zu entwerfen (und daher sind sie fiktional). 2. Für sie gelten die gewöhnlichen Regeln ernsthafter Rede (also z. B. die gewöhnlichen Regeln für das Behaupten). Ich habe oben argumentiert, dass die Patchwork-Auffassung auf typische Werke realistischer fiktionaler Literatur nicht anwendbar ist, weil typische Werke realistischer fiktionaler Literatur rein fiktionale Werke sind. Das habe ich als „die Reinheitsthese“ bezeichnet. Auf der Basis der vorgeschlagenen Explikation des Fiktionalitätsbegriffs (die, wie gezeigt wurde, von der Standardauffassung wesentlich abweicht) lässt sich nun folgendes Argument für die Reinheitsthese formulieren: 1. Ein literarisches Werk w ist ein rein fiktionales Werk genau dann, wenn alle Äußerungen, aus denen w besteht, fiktionale Äußerungen sind. 2. Eine Äußerung ist fiktional genau dann, wenn sie verwendet wird, um eine fiktive Welt zu entwerfen. 3. In typischen Werken realistischer fiktionaler Literatur werden alle Äußerungen dazu verwendet, eine fiktive Welt zu entwerfen. 27 28

Brecht 1967 (zuerst 1953), 1607. Die Einsicht, dass Äußerungen, die ein Autor für wahr hält, nichtsdestotrotz (von demselben Autor) zum Entwerfen einer fiktiven Welt verwendet werden können (und sehr häufig auch verwendet werden), verdanke ich Tilmann Köppe. Siehe Köppe 2008, Abschnitt 3.3.2.1.

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4. Also sind in typischen Werken realistischer fiktionaler Literatur alle Äußerungen fiktional. (2,3) 5. Also sind typische Werke realistischer fiktionaler Literatur rein fiktionale Werke. (1,4) Ich behaupte nun aber, dass die zweite Prämisse des Arguments der fehlenden Referenz auch für rein fiktionale Werke falsch ist. Mit anderen Worten, es gibt rein fiktionale Werke, die auf die Welt Bezug nehmen und behauptend sind. Was heißt es überhaupt zu sagen, dass ein Werk auf die Welt Bezug nimmt und behauptend ist? Ich schlage folgende Antwort auf diese Frage vor: Ein Werk nimmt auf die Welt Bezug und ist behauptend29 genau dann, wenn der Autor intendiert, durch die (Gesamtheit der) Äußerungen, die das Werk konstituieren, etwas über die Welt zu behaupten, und wenn kompetente Leser in der Lage sind, die (Gesamtheit der) Äußerungen, die das Werk konstituieren, gemäß der genannten Autorabsicht zu interpretieren. Nun erscheint es ziemlich klar, dass fiktionale Werke, die – unter anderem – behauptende Äußerungen enthalten, diese Bedingungen erfüllen und daher behauptend sind. Boyles Wassermusik, zum Beispiel, enthält (wie oben argumentiert wurde) behauptende Äußerungen (also Äußerungen, für die die üblichen Regeln des Behauptens gelten). Wenn das richtig ist, dann dürfen wir wohl auch annehmen, dass Boyle mit seinem Roman den Lesern unter anderem etwas über Westafrika um 1800 mitteilen wollte und dass kompetente Leser den Roman auch so verstehen können, mit anderen Worten, dass das Werk als Ganzes behauptend ist. Da viele fiktionale Werke des realistischen Genres unter anderem behauptende Äußerungen enthalten, kann also festgehalten werden, dass viele fiktionale Werke dieses Genres als behauptend angesehen werden können. Mithin zeigt das Argument der fehlenden Referenz zumindest für eine wichtige Gruppe von fiktionalen Werken nicht, was es zeigen soll – nämlich, dass wir aus fiktionalen Werken nichts über die Welt lernen können. Ich meine aber, dass das Argument der fehlenden Referenz darüber hinaus auch an manchen jener Werke scheitert, die ausschließlich nichtbehauptende Äußerungen enthalten. Genauer gesagt lautet meine These, dass auch Werke, die ausschließlich aus nichtbehauptenden Äußerungen bestehen, als Ganzes behauptend sein können. Zur Illustration möchte ich ein neues Beispiel präsentieren:

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Die Betonung liegt hier auf „behauptend“, nicht auf der Bezugnahme auf die Welt, denn in einem bestimmten Sinn ist es möglich, in einem fiktionalen Werk auf Gegenstände der realen Welt Bezug zu nehmen, ohne etwas zu behaupten – aber nicht umgekehrt. In einem bestimmten Sinn nimmt ein Autor z. B. auf London Bezug, wenn er den Eigennamen „London“ in einem fiktionalen Werk verwendet, etwa in dem Satz „Sherlock Holmes lebte in London“. Aber das impliziert nicht, dass ein Satz, der den Namen „London“ enthält, verwendet wird, um etwas zu behaupten. Dasselbe gilt, mutatis mutandis, auch auf der Textebene: Das Vorkommen von Eigennamen, die auf Gegenstände der realen Welt verweisen, impliziert nicht, dass das Werk als Ganzes behauptend ist.

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M E. R 1942/43 […] Thereses Vater arbeitete seit dem Sommer im Lazarett in Bedburg-Hau. Oft kam er tagelang nicht nach Hause. In den Nächten mischte sich das Heulen von Sirenen mit dem Grollen der Bomber. Noch überflogen sie den Niederrhein, suchten sich ihre Ziele im Ruhrgebiet, warfen ihre Lasten auf die großen Städte. Die Farben des Sommers schlichen an ihren müden Augen vorbei auf den Herbst zu, und im September brachte ein Militärlastwagen russische Kriegsgefangene, Arbeitskräfte für die Landwirtschaft. Dem Kaldergut wurden vier Männer zugeteilt, dem Höverhof zwei. Wilhelm war im Rathaus als SS-Scharführer für den Einsatz und die Überwachung der Russen zuständig. Regelmäßig fuhr er mit SA-Rottenführer Gerhard die Höfe ab. Im Ort hingen Zettel aus, die vor Kontakten mit den Feinden warnten und empfindliche Strafen androhten.30 Der Winter 1942/43 war eisig. Der alte Höver holte Jurij und Fedir abends ins Haus und ließ sie auf der Küchenbank schlafen. Wilhelm führte weiterhin die Kontrollen auf dem Höverhof durch. Diesen Verstoß gegen die Unterbringungsregeln von Kriegsgefangenen bekam er nicht mit, aber eines Mittags traf er Jurij und Fedir zusammen mit den Hövers beim Essen an. Wilhelm war außer sich. ,Sie haben mir zugesagt, dass Sie sich an die Regeln halten. Es ist verboten, mit den Feinden zu essen.‘31

Wenn man diese Passagen mit jener aus Boyles Roman vergleicht, dann zeigt sich folgender Unterschied: Obwohl ich argumentiert habe, dass Boyles Äußerungen faktisch als fiktionale fungieren (also dazu verwendet werden, die fiktive Welt des Romans zu entwerfen), so muss man andererseits doch festhalten, dass diese Äußerungen auch als nichtfiktionale Einschübe innerhalb des fiktionalen Romans verwendet werden könnten. Denn für diese Äußerungen gelten die üblichen Regeln des Behauptens. Das gilt jedoch nicht für die eben zitierten Äußerungen aus dem Kriminalroman von Mechtild Borrmann. Denn diese Äußerungen enthalten fiktionale Namen, also Namen, die in der fiktionalen Rede zur „Bezugnahme“ auf fiktive Figuren verwendet werden („Therese“, „Wilhelm“, „Höver“, „Jurij“, „Fedir“), die auf nichts in der realen Welt referieren.32 Da Therese (als reale Person) niemals existierte, existierte auch ihr Vater nicht; und dieses Wissen teilt die Autorin mit ihren Lesern. Die Autorin erhebt für den Satz „Thereses Vater arbeitete seit dem Sommer im Lazarett in Bedburg-Hau“ keinen Wahrheitsanspruch; und die Leser erwarten nicht, dass dieser Satz wahr ist und dass die Autorin ihn (mit gu30 31 32

Borrmann 2011, 135. Ebd. 151f. Siehe die ausdrückliche Erklärung der Autorin auf der Impressumseite: „Die Handlung ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.“

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ten Gründen) für wahr hält. In diesem Sinn ist dieser Satz nicht behauptend. Die Autorin behauptet nicht, dass der Vater einer jungen Frau namens Therese (die von einem SSMann namens Wilhelm umworben wird, sich aber in einen russischen Kriegsgefangenen verliebt) 1942 im Lazarett von Bedburg-Hau arbeitete. Analoges gilt für die meisten (wenn nicht für alle) Sätze in den beiden Zitaten.33 Meine These lautet nun aber, dass die Autorin diese im explizierten Sinn nichtbehauptenden Sätze nichtsdestotrotz dazu verwendet, Behauptungen aufzustellen, nämlich unter anderem: „Im Herbst 1942 bekamen Bauernhöfe im Niederrhein russische Kriegsgefangene als Arbeitskräfte zugeteilt. Es gab strenge Regeln für den Umgang mit diesen Menschen. Unter anderem war es verboten, gemeinsam mit den Gefangenen die Mahlzeiten einzunehmen oder ihnen Schlafplätze im Wohnhaus anzubieten. Die Einhaltung der Regeln wurde von Mitgliedern der SS und SA kontrolliert. Dennoch hielten sich nicht alle daran.“ Es ist sehr klar, dass hier eine Bezugnahme auf reale Orte und reale historische Ereignisse vorliegt; und wenn die Behauptungen, die ich der Autorin hier unterstelle, falsch wären und/oder die Autorin diese Behauptungen selber nicht für wahr halten würde und/oder dafür keine epistemische Rechtfertigung hätte, dann würde man ihr das zum Vorwurf machen. Das bedeutet, dass für diese indirekten Behauptungen die gewöhnlichen Regeln des Behauptens in Kraft sind. Autoren fiktionaler Werke können also nichtbehauptende fiktionale Äußerungen dazu verwenden, indirekte Behauptungen aufzustellen. Ich nenne das die These des indirekten Behauptens.34 Obwohl diese indirekten Behauptungen eng (manchmal untrennbar) verwoben sind mit nichtbehauptenden Äußerungen, die dazu verwendet werden, eine fiktive Welt zu entwerfen, gelten für sie doch die gewöhnlichen Regeln des Behauptens. Ich denke, dass sich in den meisten (wenn nicht allen) fiktionalen Werken des realistischen Genres indirekte Behauptungen finden lassen. Das bedeutet aber, dass nicht nur fiktionale Werke, die direkt behauptende Äußerungen enthalten (wie Boyles Wassermusik), sondern sogar fiktionale Werke, die ausschließlich aus nichtbehauptenden Äußerungen bestehen, sich (als Ganzes) auf die Welt beziehen und behauptend sein können. Mithin ist die zweite Prämisse des Arguments der fehlenden Referenz (Fiktionale Werke nehmen nicht auf die Welt Bezug, und sie sind nicht behauptend) für eine große und wichtige Klasse fiktionaler Werke falsch. Daher beweist dieses Argument nicht, dass man aus fiktionalen Werken nichts über die Welt lernen kann. Ich fasse zusammen: Das Argument der fehlenden Referenz beruht wesentlich auf der Prämisse, dass fiktionale Werke sich nicht auf die Welt beziehen und nicht behauptend sind. Ich habe argumentiert, dass diese Prämisse falsch ist. Sie ist einerseits falsch, weil einzelne fiktionale Äußerungen (d. h. Äußerungen, die dazu gebraucht werden, eine fiktive Welt zu entwerfen) durchaus direkt auf die Welt Bezug nehmen und behauptend sein können. Sie ist andererseits falsch, weil selbst Werke, die ausschließlich aus Äußerungen bestehen, die nicht behauptend sind, als Ganzes behauptend sein können, indem die nichtbehauptenden Äußerungen unter anderem dazu verwendet werden, indirekte Behauptungen aufzustellen. 33 34

Ausnahmen sind möglicherweise die ersten beiden Sätze des zweiten Absatzes („In den Nächten mischte sich das Heulen der Sirenen …“) und der Satz „Der Winter 1942/43 war eisig“. Zum indirekten Behaupten durch fiktionale Äußerungen siehe auch Gabriel 1982.

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5.

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Der Einwand der epistemischen Unzuverlässigkeit

Der Einwand der epistemischen Unzuverlässigkeit lautet, wie erinnerlich, kurz gefasst: Fiktionale literarische Werke können kein Wissen vermitteln, weil wir nicht gerechtfertigt sind, diese Werke als zuverlässige Quellen anzusehen; Menschen können zwar in der Tat wahre Überzeugungen durch die Lektüre von rein fiktionalen Werken erwerben, aber keine gerechtfertigten wahren Überzeugungen. Man könnte diesen Einwand auch in Form des folgenden Arguments formulieren: 1. Lernen heißt Wissen zu erwerben. 2. Wissen ist nicht einfach wahres Glauben, sondern gerechtfertigtes wahres Glauben, also wahres Glauben plus epistemische Rechtfertigung. 3. Wir können zwar durch die Lektüre rein fiktionaler Werke wahre Überzeugungen erwerben, aber keine gerechtfertigten wahren Überzeugungen. 4. Also können wir durch die Lektüre rein fiktionaler Werke kein Wissen erwerben. (2,3) 5. Also können wir aus rein fiktionalen Werken nichts lernen. (1,4) Ich nenne dies das Argument der fehlenden Rechtfertigung. Die zentrale Prämisse dieses Arguments ist offenbar Prämisse 3: Rein fiktionale Werke können uns zwar wahre Überzeugungen liefern, aber keine gerechtfertigten wahren Überzeugungen. Diese Prämisse ist ihrerseits gegründet auf das Argument des unzuverlässigen Zeugnisses: 1. Um aus einem Werk w gerechtfertigte wahre Überzeugungen gewinnen zu können, müssen wir gute Gründe haben, w für ein zuverlässiges Zeugnis zu halten. 2. Wenn ein Werk w ausschließlich aus Äußerungen besteht, für die die üblichen Regeln des Behauptens (Wahrheit, Überzeugung, Rechtfertigung) nicht gelten, dann haben wir keine guten Gründe, w für ein zuverlässiges Zeugnis zu halten. 3. Rein fiktionale Werke bestehen ausschließlich aus Äußerungen, für die die üblichen Regeln des Behauptens nicht gelten. 4. Also gilt: Wenn ein Werk w rein fiktional ist, dann haben wir keine guten Gründe, w für ein zuverlässiges Zeugnis zu halten. (2,3) 5. Also können wir aus rein fiktionalen Werken keine gerechtfertigten wahren Überzeugungen gewinnen. (1,4) Es wurde jedoch bereits in (3.) dieses Aufsatzes gezeigt, dass Prämisse 3 dieses Arguments falsch ist: Es wurde gezeigt, dass nicht alle rein fiktionalen Werke ausschließlich aus Äußerungen bestehen, für die die üblichen Regeln des Behauptens nicht gelten. Rein fiktionale Werke bestehen ausschließlich aus Äußerungen, die dazu verwendet werden, eine fiktive Welt zu entwerfen. Dass eine Äußerung dazu verwendet wird, eine fiktive Welt zu entwerfen, impliziert aber nicht, dass für diese Äußerung die üblichen Regeln des Behauptens nicht gelten; denn manche Äußerungen werden verwendet, um zwei illokutionäre Akte zugleich zu vollziehen: das Entwerfen einer fiktiven Welt und das Aufstellen von Behauptungen über die reale Welt.

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Ich bestreite darüber hinaus Prämisse 2 des Arguments des unzuverlässigen Zeugnisses. Ich behaupte, dass wir unter bestimmten Umständen gute Gründe haben können, ein Werk, das ausschließlich aus nichtbehauptenden Äußerungen besteht, in gewissen Hinsichten für ein zuverlässiges Zeugnis zu halten. Diese These gründet sich ihrerseits auf die These des indirekten Behauptens, also auf die These, dass nichtbehauptende Äußerungen dazu verwendet werden können, auf indirekte Weise Behauptungen aufzustellen. Da mit Hilfe von ausschließlich nichtbehauptenden Äußerungen (für die die üblichen Regeln des Behauptens nicht gelten) indirekte Behauptungen aufgestellt werden können (für die die üblichen Regeln des Behauptens gelten), dürfen wir grundsätzlich von den Autoren erwarten, dass ihre indirekten Behauptungen epistemisch gerechtfertigt sind. Eine andere Frage (und keineswegs eine triviale) ist freilich, unter welchen Umständen Leser gerechtfertigt sind, eine bestimmte Passage eines fiktionalen Werks für ein zuverlässiges Zeugnis zu halten und bestimmte indirekte Behauptungen für zuverlässig zu halten (bzw. dem Autor zuallererst solche indirekten Behauptungen zu unterstellen). Zunächst zum Problem der Unterscheidung zwischen epistemisch gerechtfertigten und nicht epistemisch gerechtfertigten Passagen: Offenkundig können fiktionale Werke nicht zur Gänze als zuverlässige Zeugnisse gelten. Wir können nicht erwarten, dass in einem fiktionalen Werk alle Äußerungen wahr sind, und noch weniger, dass der Autor alle Äußerungen seines Werks gerechtfertigterweise für wahr hält; und kompetente Leser erwarten das auch nicht. Wie können Leser dann aber erkennen, welche Äußerungen eines fiktionalen Werks für bare Münze zu nehmen sind und welche nicht? Nehmen wir als Beispiel die zitierte Passage aus Boyles Wassermusik: Ich bin wie gesagt davon überzeugt, dass Boyle diese Äußerungen für wahr hält und dass er gute Gründe dafür hat, diese Äußerungen für wahr zu halten. Aber warum denke ich das? Ein erster Hinweis ist sicherlich der sprachliche Duktus dieser Passage. Diese Sätze könnten genau so auch in einem populärwissenschaftlichen Werk vorkommen. Das allein wäre freilich ein schwacher Grund, diese Äußerungen für wahr und gerechtfertigt zu halten; schließlich können Autoren fiktionaler Werke sich ja bewusst eines wissenschaftlichen Stils bedienen. Es gibt aber noch eine Reihe anderer Überlegungen, die alle in dieselbe Richtung weisen: 1. Es gibt hier eine eindeutige Bezugnahme auf einen realen Ort und Bezugnahmen auf real existierende Krankheiten und Krankheitserreger. 2. Die Äußerungen passen gut in mein bereits vorhandenes Überzeugungssystem, das sich unter anderem aus Schulbildung, Pressemitteilungen, populärwissenschaftlichen Fernsehsendungen und den Impf- und Verhaltensempfehlungen für Fernreisende speist, wie man sie etwa auf schwarzen Brettern in Arztpraxen findet. 3. Das Werk ist insgesamt eindeutig dem Genre des historischen Romans zuzuordnen, und ich weiß, dass Autoren historischer Romane normalerweise mehr oder weniger sorgfältige und gründliche Recherchen über ihre Schauplätze anstellen (bzw. sogar Mitarbeiter beschäftigen, die die Recherche-Arbeit für sie erledigen). 4. Es gibt keinen erkennbaren Grund, warum der Autor an dieser Stelle seiner Phantasie freien Lauf lassen sollte, anstatt sich an die recherchierten Fakten zu halten. 5. Es gibt andere Stellen in demselben Werk und aus anderen Werken desselben Autors, die den Eindruck sorgfältiger Recherche erwecken (aus den unter 1.-4. genannten Gründen). 6. Ich weiß, dass Leser historischer Romane erwarten, dass Beschreibungen realer Orte tatsachengetreu und recherchegestützt sind,

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und es ist mehr als wahrscheinlich, dass ein professioneller Autor wie Boyle diese Erwartungen kennt und nicht ohne Not enttäuscht. Natürlich stellen Leser üblicherweise beim Lesen eines Romans nicht bewusst solche Überlegungen an. Es scheint aber, dass Leser ziemlich geschickt darin sind, automatisch zwischen behauptenden und nichtbehauptenden Äußerungen innerhalb eines fiktionalen Werks zu unterscheiden; die oben formulierten Überlegungen sind der Versuch einer rationalen Rekonstruktion dieses Prozesses. Das Problem der Zuverlässigkeit indirekter Behauptungen ist eigentlich ein doppeltes: Zunächst einmal bedarf es der Interpretation des Lesers, indirekte Behauptungen als solche zu identifizieren, und damit stellt sich das allgemeine Problem der epistemischen Rechtfertigung für Interpretationshypothesen. Eine solche Interpretationshypothese vorausgesetzt stellt sich jedoch, zweitens, erneut das Problem der Einschätzung der epistemischen Rechtfertigung der (nunmehr indirekten) Behauptung im konkreten Fall. Ich habe der Krimi-Autorin Mechtild Borrmann unterstellt, dass sie, unter anderem, indirekt behauptet, dass im Herbst 1942 Bauernhöfe im Niederrhein russische Kriegsgefangene als Arbeitskräfte zugeteilt bekamen. Der Satz „Im Herbst 1942 bekamen Bauernhöfe im Niederrhein russische Kriegsgefangene als Arbeitskräfte zugeteilt“ folgt logisch aus den fiktionalen Sätzen ihres Werks; aber da diese Sätze (wie ich jetzt annehme) allesamt nichtbehauptend sind, erhebt sich natürlich die Frage, warum dann diese Implikation behauptend sein soll. Es gibt zweifellos viele Sätze, die aus den fiktionalen Sätzen des Werks folgen, die nichtbehauptend sind. Was rechtfertigt die Annahme, dass dieser Satz behauptend ist, das heißt, dass die Autorin Wahrheitsanspruch für diesen Satz erhebt und gute Gründe für diesen Anspruch hat? Die Gründe für diese Behauptungs-Unterstellung sind ähnlich denen, die ich oben zugunsten der These vorgebracht habe, dass Boyles Äußerungen über die Epidemiologie Westafrikas behauptender Natur sind; und sie sind zugleich auch Gründe dafür, die unterstellte indirekte Behauptung für epistemisch gerechtfertigt zu halten. Zunächst einmal gibt es in dem relevanten Abschnitt des Werks eine eindeutige und sehr genaue Bezugnahme auf reale Orte und eine ganz bestimmte Phase in einem historischen Ereignis, nämlich den Zweiten Weltkrieg. Die Beschreibungen der Orte und Ereignisse stimmen mit meinen bereits vorhandenen Überzeugungen über diese Geschehnisse im Wesentlichen überein (sie erscheinen mir also stimmig und plausibel), wobei die vorhandenen Überzeugungen unter anderem aus nichtfiktionalen Quellen gespeist sind. Zwar ist das Werk kein historischer Roman im eigentlichen Sinne, sondern ein Krimi, aber er ist trotzdem dem weiten Genre der realistischen Fiktion zuzuordnen, und ich weiß, dass Autoren dieses Genres üblicherweise historische Schauplätze und Ereignisse mehr oder weniger gründlich recherchieren. Mein Vorwissen dürfte in diesem Fall nicht idiosynkratisch sein, sondern ungefähr dem Standard der intendierten Leserschaft entsprechen. Dieses Vorwissen erzeugt Erwartungen an die Autorin, die ihr höchstwahrscheinlich bewusst sind und die sie nicht ohne gute Gründe (zum Beispiel ein ganz bestimmtes ästhetisches Konzept) enttäuschen wird. In diesem Fall kommt noch ein weiterer spezieller Punkt hinzu, der mit dem besonderen historischen Kontext zu tun hat: Zumindest in Deutschland herrscht weitgehend Konsens darüber, dass der publizistische Umgang mit dem Dritten Reich und allem, was damit zusammenhängt, größtmögliche Sorgfalt verlangt. Schludrigkeit oder (wenn man so will) künstlerische Freiheit, die zu einer Verzerrung

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des Geschichtsbildes führen könnte, verzeiht man einer Autorin hierzulande nicht leicht. Die Autorin ist Deutsche und richtet sich in erster Linie an deutsche Leser; es ist zu erwarten, dass sie nicht ohne sehr gute Gründe mit dem erwähnten Konsens bricht. Solche guten Gründe sind in diesem Fall aber nicht erkennbar. Es ist klar, dass keiner der genannten Gründe (und auch nicht alle zusammengenommen) garantieren, dass die Autorin die unterstellte indirekte Behauptung tatsächlich aufgestellt hat und dass sie dafür auch epistemisch gerechtfertigt war. Aber epistemische Rechtfertigung kommt in Graden, und es gibt hinreichende epistemische Rechtfertigung auch unterhalb des Niveaus der Garantie. Ich denke, dass die genannten Gründe die Annahme, dass eine epistemisch gerechtfertigte indirekte Behauptung vorliegt, in der Tat rechtfertigen. Das impliziert aber, dass Autoren fiktionaler Werke durchaus zuverlässige Zeugnisgeber sein können und Leser mithin gerechtfertigte wahre Überzeugungen aus fiktionalen Werken gewinnen können. Natürlich sind Autoren fiktionaler Werke gelegentlich auch unzuverlässige Zeugnisgeber – sowohl hinsichtlich ihrer direkten als auch hinsichtlich ihrer indirekten Behauptungen. Zuweilen kann es auch schwierig sein festzustellen, ob ein Autor ein zuverlässiger Zeugnisgeber ist oder nicht. Aber das impliziert nicht, dass Wissenserwerb durch fiktionale Werke nicht möglich ist, sondern nur, dass Wissen aus fiktionalen Werken nicht irrtumssicher ist. Das kann aber auch niemand vernünftigerweise fordern. Schließlich sind auch Journalisten oder Historiker nicht immer zuverlässige Zeugnisgeber. In vielen Fällen haben wir aber gute Gründe anzunehmen, dass Autoren fiktionaler Werke in wesentlichen Hinsichten zuverlässige Zeugnisgeber sind. Ich fasse zusammen: Ziel des vorliegenden Aufsatzes war es, die zentrale epistemische These des ästhetischen Kognitivismus zu verteidigen, nämlich die These, dass es möglich ist, durch die Lektüre fiktionaler literarischer Werke propositionales Wissen über die reale Welt zu erwerben. Vier Einwände gegen diese These wurden diskutiert: der Redundanzeinwand, der Trivialitätseinwand, der Einwand der fehlenden Referenz und der Einwand der epistemischen Unzuverlässigkeit. Es konnte rasch gezeigt werden, dass der Redundanzeinwand und der Trivialitätseinwand (unabhängig von der Frage der sachlichen Richtigkeit dieser Einwände) die epistemische These gar nicht wirklich treffen. Wesentlich mehr Aufwand war erforderlich, um den Einwand der fehlenden Referenz zu entkräften. Ich habe mich hier auf ein Argument von T. J. Diffey bezogen, dessen zentrale Prämisse lautet, dass fiktionale literarische Werke sich nicht auf die Welt beziehen und nicht behauptend sind. Meine Argumentation richtete sich gegen diese Prämisse. Ich habe argumentiert, dass fiktionale Werke (und zwar rein fiktionale Werke, also fiktionale Werke, die ausschließlich aus fiktionalen Äußerungen bestehen) sich in verschiedenen Weisen auf die Welt beziehen und behauptend sein können: Einerseits können sie behauptende Sätze enthalten, andererseits können nicht behauptende Sätze dazu verwendet werden, indirekte Behauptungen aufzustellen. Basis dieser Argumentation war eine Explikation des Begriffs der Fiktionalität von Äußerungen, die von der Standard-Explikation dieses Begriffs abweicht. Zuletzt habe ich mich mit dem Einwand der epistemischen Unzuverlässigkeit auseinandergesetzt. Die zentrale These dieses Einwands lautete, dass wir durch die Lektüre fiktionaler Werke keine gerechtfertigten wahren Überzeugungen gewinnen können, weil fiktionale Werke ausschließlich aus Äußerungen bestehen, für die die üblichen Regeln des Behauptens nicht gelten, und

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weil wir keine guten Gründe haben, ein Werk für ein zuverlässiges Zeugnis zu halten, das ausschließlich aus Äußerungen besteht, für die die üblichen Regeln des Behauptens nicht gelten. Ich habe beide in dieser These enthaltenen Annahmen bestritten. Ich habe also erstens argumentiert, dass in manchen fiktionalen Werken Äußerungen vorkommen, für die die üblichen Regeln des Behauptens gelten. Zweitens habe ich argumentiert, dass sogar Werke, die ausschließlich aus Äußerungen bestehen, für die die üblichen Regeln des Behauptens nicht gelten, in Bezug auf indirekte Behauptungen zuverlässige Zeugnisse sein können. So weit ich sehe, sind die vier hier diskutierten Einwände die wichtigsten Einwände gegen den ästhetischen Kognitivismus. Da keiner dieser Einwände stichhaltig ist, gibt es keine guten Gründe, die epistemische These zurückzuweisen. Es gibt aber gute Gründe, diese These zu akzeptieren: Sie stimmt sowohl mit den persönlichen Erfahrungen vieler Leser als auch mit empirischen Studien über die überzeugungsverändernde Kraft fiktionaler Werke überein.

6.

Coda: Die ästhetische Frage

In (1.) dieses Aufsatzes habe ich zwei Fragen unterschieden, nämlich die epistemische Frage („Können Kunstwerke Wissen vermitteln?“) und die ästhetische Frage („Vergrößert der kognitive Wert eines Kunstwerks dessen Wert als Kunstwerk, also dessen ästhetischen Wert (in einem hinreichend weiten Sinn von ›ästhetischer Wert‹)?“). In diesem Aufsatz habe ich mich primär mit der epistemischen Frage beschäftigt. Ich werde aber mit einigen wenigen Bemerkungen zur ästhetischen Frage schließen.35 Offensichtlich hängt für die Beantwortung dieser Frage viel von der Bedeutung des notorisch unklaren und vieldeutigen Adjektivs „ästhetisch“ ab. Wenn man die Bedeutung dieses Adjektivs in der Verbindung „ästhetischer Wert“ sehr eng fasst (so dass man den ästhetischen Wert etwa nur vom Sprachstil abhängig macht), dann wäre der kognitive Wert eines literarischen Werks freilich für dessen ästhetischen Wert irrelevant. Damit wäre jedoch keineswegs gezeigt, dass es adäquat ist, bei der Beurteilung eines literarischen Werks als literarisches Werk ausschließlich den (so eng verstandenen) ästhetischen Wert als Maßstab heranzuziehen. Ich bin im Gegenteil sehr geneigt zu behaupten, dass es hochgradig inadäquat wäre, so zu verfahren. Speziell bei erzählenden literarischen Werken (und um solche geht es hier ja!), wird ein Kritiker, der sprachliche Eleganz oder Virtuosität zum alleinigen Wertmaßstab macht, kaum unwidersprochen bleiben. Wenn man aber auch Merkmale wie Spannung, Handlungsverlauf, Figurenzeichnung, Stimmigkeit und Plausibilität zur Ermittlung des ästhetischen Werts eines literarischen Werks heranzieht, dann scheint der ästhetische Wert nicht mehr gänzlich unabhängig vom kognitiven Wert zu sein. Es ist (in diesem erweiterten Sinne von „ästhetisch“) zumindest auch ein ästhetischer Makel, wenn zum Beispiel in einem Krimi das Mo35

Es gibt Philosophen der Literatur, die hinsichtlich der epistemischen Frage die hier vertretene kognitivistische Auffassung vollkommen teilen, die aber zugleich die ästhetische Frage entschieden verneinen. Der vielleicht wichtigste Vertreter dieser Position ist Peter Lamarque (siehe Lamarque 1997 und Lamarque 2007).

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tiv eines Täters nicht nachvollziehbar ist, weil das angebliche Motiv nicht mit unseren Vorkenntnissen über menschliche Psychologie verträglich ist.36 Die Geschichte ist dann nicht mehr stimmig und plausibel; Fehler dieser Art erschweren (sofern sie bemerkt werden) das Eintauchen in die fiktive Welt des Werks; sie sind eine Störung des ästhetischen Erlebnisses. Analoges gilt für Fehler bei der Darstellung realer Orte und Figuren sowie historischer Begebenheiten. Natürlich wird nicht jede Abweichung von der Realität als ein störender Fehler empfunden. Aber Leser sind allem Anschein nach in der Regel ziemlich gut darin zu unterscheiden zwischen Abweichungen, die durch ein stimmiges ästhetisches Konzept motiviert sind, und Abweichungen, die in Schlamperei oder Unvermögen gründen. Autoren fiktionaler Werke sind in großem Ausmaß auf das Weltwissen der Leser angewiesen. Die Leser sind an vielen Stellen aufgefordert, die „Unbestimmtheitsstellen“37 des Werks mit Hilfe ihres Weltwissens auszufüllen. Wenn nun ein Autor beispielsweise durch die Verwendung von Namen bestimmter realer Orte in den Lesern einen bestimmten Bestand an Weltwissen evoziert, aber im selben Werk ohne erkennbaren Grund und ohne zureichende Erklärung ein Konflikt mit diesem Wissensbestand auftritt, dann ist das ein Bruch, der zunächst einmal das Hineingezogenwerden in die fiktive Welt (und damit auch Empathie mit den Figuren, das Erleben von Spannung etc.) erschwert oder gar verunmöglicht. Bekanntlich können Autoren so etwas als bewussten Verfremdungseffekt einsetzen – aber das funktioniert eben nur im Rahmen bestimmter ästhetischer Konzepte. In anderen Fällen wird es als Fehler und Störung empfunden. Ein letzter Punkt noch: Die obige Formulierung der ästhetischen Frage suggeriert, dass es bei der Bewertung eines Kunstwerks als Kunstwerk ausschließlich auf den ästhetischen Wert des Werks ankomme, dass es also inadäquat sei, zur Bewertung eines Kunstwerks als Kunstwerk andere als ästhetische Merkmale heranzuziehen. Mit anderen Worten, es wird suggeriert, dass das Heranziehen anderer Wertmaßstäbe dem Kunstwerk als Kunstwerk nicht gerecht werden würde, dass man nicht wesensgemäßen Gebrauch von einem Kunstwerk macht, wenn man es aufgrund anderer als ästhetischer Merkmale wertschätzt (etwa so, wie wenn jemand ein Feuerzeug wertschätzt, weil es sich gut als Flaschenöffner eignet). Ich möchte das grundsätzlich in Zweifel ziehen. Kunstwerke können vielerlei Funktionen haben, und eine davon ist, uns etwas Interessantes über die Welt zu lehren. Ich behaupte nicht, dass alle Kunstwerke (oder auch nur alle fiktionalen literarischen Werke) diese Funktion haben, aber viele haben sie. Wenn man es mit einem solchen Werk zu tun hat, dann ist es vollkommen angemessen und dem Werk wesensgemäß, für dessen kognitiven Wert offen zu sein und diesen bei der Gesamtbewertung des Werks als Kunstwerks zu berücksichtigen.38

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Anders wäre es natürlich, wenn es dem Autor gelingen würde, unser Überzeugungssystem bezüglich der menschlichen Psychologie zu revidieren. Aber zu einer solchen Revision sind Leser nicht ohne Weiteres bereit. Falls ein Werk epistemische Gründe für eine solche Revision liefern würde, wäre das Werk in dieser Hinsicht aber wiederum kognitiv wertvoll. Siehe Ingarden 1972 (zuerst 1931), §§ 38 und 63. In diese Richtung argumentiert auch Noël Carroll: Selbst wenn nicht allen Kunstwerken die Vermittlung von Wissen wesentlich sei, könne die Vermittlung von Wissen doch Kunstwerken einer bestimmten Art wesentlich sein – als Kunstwerken dieser Art (Carroll 2007, 30–35).

94 Literaturverzeichnis

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Der zweifache kognitive Wert des imaginativen Aspekts von fiktionalen Texten

Wer ein literarisches Werk gelesen hat, behauptet anschließend oft, dabei etwas gelernt zu haben. Doch seitdem es wissenschaftliche Überlegungen zu literarischen Werken gibt, wird auch ihr kognitiver Wert kontrovers diskutiert. Von Platons negativer Kritik der Dichtung in der Politeia und Aristoteles’ Antwort in der Poetik bis hin zu aktuellen Debatten über das Wesen und den Wert der Fiktion: Der kognitive Status literarischer Fiktionen ist seit Langem umstritten. In der analytischen Ästhetik der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts sind mehrere Fragestellungen in Bezug auf unterschiedliche Konzeptionen von Wissen (verstanden als Wahrheit oder Tatsache, moralisches Wissen oder begriffliches Wissen) verfolgt worden. Anfangs konzentrierte sich die Diskussion auf den propositionalen Gehalt von Fiktionen. Die Frage lautete, ob und wie es möglich sei, Wahrheiten aus Fiktionen zu gewinnen.1 Die Propositionen-Theorie spielt jedoch aktuell keine große Rolle mehr. Vertreter einer kognitivistischen Auffassung von Literatur haben sich stattdessen anderen Aspekten literarischer Fiktionen zugewandt, um alternative, nicht-propositionale Formen von Wissen auszumachen, die literarischen Werken zugeschrieben werden können. Beispiele wären das Wissen-wie statt des Wissens-dass und das Wissen, wie es ist, etwas zu erleben oder zu sein. Gleichzeitig haben die Gegner des kognitivistischen Ansatzes entweder argumentiert, dass diese nicht-propositionalen Formen angeblichen Wissens, das durch Literatur gewonnen werden kann – die Vertiefung unseres Verstehens durch stellvertretende Erfahrungen –, überhaupt als Wissen gelten können. Und falls doch, spiele dieses Wissen für den literarischen Wert eines Werkes keine Rolle.2 Die Debatte geht munter weiter. 1 2

Dazu gehören: Elliott 1967, Hospers 1960, Lewis 1978, Mew 1973, Sirridge 1975. Der kognitivistische Standpunkt wird meist so verstanden, dass er zwei Behauptungen einschließt, von denen die erste kognitivistisch und die zweite evaluativ ist: Erstens können wir durch Literatur (oder Kunst im Allgemeinen) etwas lernen. Zweitens trägt dieser Umstand zu ihrem ästhetischen oder ihrem künstlerischen Wert bei. Siehe dazu z. B. Gaut 2006, 115. Der Anti-Kognitivist bestreitet folglich eine dieser Behauptungen oder beide.

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Ich selber vertrete einen kognitivistischen Standpunkt. Ich behaupte, dass literarische Fiktionen über einen wichtigen kognitiven Wert verfügen können und dass dieser ihren künstlerischen Wert zumeist erhöht. Ich behaupte nicht, dass alle literarischen Werke über einen kognitiven Wert verfügen. Was den künstlerischen Wert betrifft, ist meine Haltung pluralistisch. Ich glaube, dass literarische Werke auch nicht-kognitive Werte besitzen können und tatsächlich besitzen. Ein kognitiver Wert ist nur einer von mehreren literarischen Werten und ist für den literarischen Wert eines Werkes nicht essentiell. Ich werde hier jedoch keine Argumente für diese allgemeinen kognitivistischen Thesen vorlegen.3 Stattdessen möchte ich diskutieren, wie bestimmte Aspekte fiktionaler literarischer Werke Ort und Quelle kognitiver Werte sein können. Den offensichtlichsten Aspekt literarischer Fiktion bilden wohl die Wörter und Sätze, aus denen sie besteht – der propositionale Inhalt der Fiktion. Doch wir werden sehen, dass die Konzentration auf diesen Aspekt lediglich zu kraftlosen kognitiven Gehalten führt. Auf diese Weise kann zwar Wahrheit in der Fiktion vorhanden sein, aber ihre wahren Sätze neigen dazu, trivial oder auf sonstige Weise uninteressant zu sein. Gute Fiktionen können jedoch viel reifere kognitive Früchte tragen, und um ihre diesbezüglichen Möglichkeiten umfassend zu erkunden, müssen wir uns einem anderen Aspekt als dem propositionalen Inhalt zuwenden, und zwar dem Aspekt der Imagination. Fiktionen laden dazu ein, dass wir uns bestimmte deskriptive Repräsentationen von konkreten Situationen und Protagonisten vorstellen, die mit diesen Situationen zurechtkommen müssen. Ich will nun zeigen, dass diese vorstellende Tätigkeit des Lesers auf zweierlei Weise kognitiv ertragreich sein kann: Sowohl der Akt des Vorstellens, den ein Leser vollziehen muss, als auch der vorgestellte Inhalt, über den wir nachdenken müssen, können unser Verstehen durch eine Klärung, Verfeinerung und Verbesserung vieler unserer praktischen, moralischen und begrifflichen Auffassungen vertiefen. Im Folgenden soll es deswegen nicht um die Sätze oder Propositionen gehen, aus denen Fiktionen zusammengesetzt sind, sondern um die imaginären Szenen, die sie uns präsentieren, und um die vorstellende Aktivität, die beim Lesen erforderlich ist. Wenn wir uns die Feinheiten dieser beiden Elemente vor Augen führen, werden wir sehen, wie uns fiktionale literarische Werke zu wertvollem Wissen und Verstehen führen können. Zunächst möchte ich jedoch kurz klären, was ich mit dem Begriff der Fiktion meine und einige Argumente vorlegen, warum propositionale Wahrheit nicht den wahren kognitiven Schatz darstellt, der in Fiktionen gefunden werden kann.

1.

Literatur, Fiktion und Wahrheit

Bisher habe ich die Begriffe „Literatur“ und „Fiktion“ lose verwendet und vielleicht den Eindruck erweckt, sie seien austauschbar. Aber natürlich bezeichnen sie zwei getrennte Phänomene, selbst wenn sie auf ein und dasselbe Objekt anwendbar sind. Viele literarische Werke sind fiktional, aber nicht alle literarische Werke sind Fiktionen, und 3

Wer mehr über die Kognitivismus-/Anti-Kognitivismus-Debatte erfahren möchte, kann anhand der beiden Beiträge von Berys Gaut und Peter Lamarque in Kieran 2006 ein hervorragendes Beispiel für die Debatte finden. Meine Ansichten decken sich mit denen von Gaut.

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nicht alle Fiktionen sind literarisch. Kurz gesagt zeigt der Begriff „Literatur“ an, dass der betreffende Gegenstand bestimmte ästhetische oder künstlerische Werte verkörpert und dass er als Teil einer künstlerischen Tradition des Schreibens wahrgenommen wurde – und wahrscheinlich wurde dies vom Autor auch so beabsichtigt. Deswegen gehen wir mit literarischen Texten auf bestimmte Weise um. Dazu gehört, unter anderem, die Bereitschaft, ihre Bedeutung kreativ zu interpretieren und in ihnen nach künstlerischen Qualitäten zu suchen. Etwas als Fiktion zu bezeichnen, sagt im Gegensatz dazu etwas ganz anderes aus, und zwar in Bezug auf den Modus, in dem es uns präsentiert wird, und die Grundhaltung, die wir seinem Inhalt gegenüber einnehmen sollen. Wieder nur kurz gesagt: Eine Fiktion ist nicht durch ihre semantischen oder äußerlichen Eigenschaften definiert (dadurch, ob es ihr gelingt, auf die Welt Bezug zu nehmen, oder durch einen bestimmten Schreibstil), sondern dadurch, im Wesentlichen ein Akt der Kommunikation zu sein. Dieser besteht aus etwas, das wir fiktionale Äußerungen seitens des Autors oder Sprechers nennen können, und aus einer fiktionalen Haltung („fictive stance“) des Lesers oder Publikums. Fiktionale Äußerungen wiederum können als Äußerungen beschrieben werden, die in einem bestimmten Modus und mit bestimmten Intentionen hervorgebracht werden. Bei letzteren könnte es sich beispielsweise um fiktionale Intentionen handeln. Dazu gehört die Intention, dass das Publikum (oder der Leser) dem geäußerten (oder geschriebenen) Inhalt gegenüber eine bestimmte Haltung annimmt. Dabei handelt es sich nicht um die Haltung, die wir für gewöhnlich dem Inhalt nicht-fiktionaler Äußerungen gegenüber annehmen. Die fiktionale Haltung ist die Reaktion des Publikums (oder Lesers) auf das Erkennen der fiktionalen Intention. Sie besteht aus dem, was ich das vorstellende Fassen des Inhalts der fiktionalen Äußerung nenne. Wenn ein Autor also eine Fiktion schreibt, präsentiert er Wörter und Sätze mit der Intention, dass der Leser eine bestimmte Haltung – nicht Überzeugung – gegenüber dem Geschriebenen einnimmt. Beim Lesen einer Fiktion erkennt ein Leser die Intention hinter der fiktionalen Äußerung und nimmt eine fiktionale Haltung an. Vorstellend wird er die Bedeutung der geäußerten Sätze fassen. Er tut dabei nur so, als glaube er (make-believe) oder nehme er an, dass die Sätze wahr sind und auf etwas Bezug nehmen.4 Fiktion hat also eher mit Pragmatik – damit, was wir mit Worten machen – zu tun als mit Semantik. Diese Auffassung davon, was Fiktion ausmacht, beschränkt sich nicht auf geschriebene Werke wie Romane oder Dramen. Sie kann auch leicht auf andere Formen von Fiktion ausgeweitet werden, wie etwa Filme, Theateraufführungen oder Comics. Wenn ich im Folgenden von Fiktionen spreche, meine ich meistens geschriebene Fiktionen, die 4

Meine Auffassung von Fiktion ist die von Lamarque und Olsen, deren gemeinsames Buch einen höchst einflussreichen Beitrag zur Philosophie der Literatur darstellt (Lamarque/Olsen 1994). Ich verwende die Begriffe „vorstellen“, „so tun, als glaube man“ und „annehmen“ bei der Charakterisierung der fiktionalen Haltung in einem ganz gewöhnlichen Sinn. Ich möchte aber darauf hinwiesen, dass einige andere Philosophen sie in einem speziellen Sinn verwenden. Kendall Waltons Theorie der Fiktion beispielsweise beruht auf seinem sehr speziellen Begriff von „makebelieve“ (vgl. Walton 1990). Im weiteren Verlauf dieses Aufsatzes werde ich die Vorstellungen, die wir im Zusammenhang mit Fiktionen erleben, näher erläutern, aber ich verwende „so tun, als glaube man“ und „annehmen“ in einem nicht-technischen Sinn. Der entscheidende Punkt ist, dass diese Haltungen das Gegenteil von „glauben“ bzw. „überzeugt sein“ sind.

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zudem literarisch sind. Mein Musterbeispiel ist der Roman.5 Allerdings können meine Argumente genauso gut auf Filme und andere narrative Fiktionen angewendet werden. Dennoch werde ich nicht auf nicht-literarische Fiktionen eingehen. Der einfache Grund dafür lautet, dass mein Ziel darin besteht, den kognitiven Wert von Fiktionen zu untersuchen. Einen solchen werden wir mit größerer Wahrscheinlichkeit in literarisch-ästhetischen Fiktionen finden als in Fiktionen, die zur bloßen Unterhaltung gedacht sind.6 Ich möchte auch anmerken, dass diese Auffassung von Fiktion die Möglichkeit zulässt, dass Fiktionen – direkt oder indirekt – Wahrheiten vermitteln. Das mag zunächst seltsam klingen, da Fiktion doch als Diskurs beschrieben wird, dem gegenüber wir eine Haltung angenommen haben, in der wir etwas nur annehmen oder nur so tun, als würden wir es glauben, anstatt es tatsächlich zu glauben. Doch die Definition von Fiktion im Sinne von Pragmatik anstatt Semantik lässt die Möglichkeit zu, dass eine Äußerung fiktional ist, auch wenn ihr propositionaler Gehalt wahr wäre, wenn sie nicht-fiktional geäußert werden würde. Viele Romane verfügen über faktisch korrekte Inhalte, die in den geäußerten Propositionen direkt vermittelt werden. Zu den oft zitierten Beispielen für diese faktisch korrekten Inhalte gehören die Informationen, die Melville über die Natur und das Verhalten von Walen in Moby Dick angibt, und die zahlreichen geographischen und kulturellen Beobachtungen über London, die in vielen der Romane von Dickens zu finden sind. Solche Inhalte stellten einst ein Problem für manche Definitionen von Fiktion dar, da die faktisch korrekten Sätze aus der Fiktion herauszuspringen scheinen, quasi als träte der Autor aus der Fiktion heraus, um Wahrheiten zu verkünden.7 Doch mit der Auffassung von Fiktion, der ich mich anschließe, kann dieses Problem vermieden werden. Melville schreibt in Moby Dick: „In Anbetracht dieser eigentümlichen seitwärtigen Lage der Walaugen ist es klar, daß er nie einen Gegenstand sehen kann, welcher geradewegs vor ihm ist, nicht besser, als er einen geradewegs achtern sehen kann.“8 Ein Satz wie dieser ist fiktional (oder wahr-in-der-Geschichte), da er uns im fiktionalen Modus präsentiert wird – unabhängig davon, dass der Satz tatsächlich wahr ist, wenn er nichtfiktional geäußert wird.9 Die Rolle, die solche Sätze in der Fiktion spielen, besteht primär darin, einen realistischen Hintergrund für die beschriebene Situation zu schaffen. Wenn solche Sätze zudem faktisch korrekt sind, sofern sie auf die wirkliche Welt ge-

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Wer mehr über die speziellen Problemstellungen in Zusammenhang mit Fiktionen in den visuellen Medien (z. B. Film) erfahren möchte, sei auf Currie 1995a verwiesen. Ich schließe nicht aus, dass nicht-literarische Fiktionen über einen kognitiven Wert verfügen können. Viele Kindergeschichten zum Beispiel sollen Kindern etwas beibringen. Doch diese Fiktionen sind zumeist stark didaktisch, so dass die Geschichte bloß eine Veranschaulichung dessen ist, was das Kind lernen soll. Dies ist bei literarischen Texten nicht der Fall. Dieses Problem stellt sich Searle 1975. Searle versteht das Schaffen von Fiktionen so, dass ein Autor „vorgibt, etwas zu behaupten“. Deswegen muss Searle sagen, dass faktisch korrekte Sätze dann auftreten, wenn der Autor nicht mehr vorgibt, etwas zu behaupten und tatsächlich etwas behauptet. Melville 2011 (engl. zuerst 1851), 465. Wir können jedoch Propositionen gegenüber, von denen wir wissen, dass sie wahr sind, eine Haltung des Vorstellens oder So-Tuns, als ob wir glauben, einnehmen. Wahrheit schließt das Einnehmen der fiktionalen Haltung nicht aus.

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münzt sind – ihr Inhalt also wahr ist – verleiht dies der realistischen Fiktion zusätzliche Plausibilität. Obwohl solche Fälle also Beispiele dafür sind, inwiefern Fiktionen Wahrheiten enthalten können, und obwohl wir beim Lesen tatsächlich etwas Neues (z. B. über Wale oder das viktorianische London) lernen können, wäre es enttäuschend, wenn dies alles wäre, was wir meinen, wenn wir sagen, dass Literatur einen kognitiven Wert hat. Der Umstand, dass die primäre Funktion solcher „faktisch korrekten“ Sätze darin besteht, die Beschreibungen in einem Roman realistischer erscheinen zu lassen, verrät bereits, dass sie außerhalb der Fiktion – auf die Welt bezogen – unbedeutend sind. Derartige „faktische“ Beschreibungen dienen nicht dazu, uns etwas Neues über die wirkliche Welt beizubringen. Vielmehr sollen sie uns ermutigen, uns mit der fiktional beschriebenen Welt des Romans als imaginative Repräsentation von etwas einzulassen, das der wirklichen Welt ähnelt. Realistische Beschreibungen helfen uns dabei, den fiktionalen Hintergrund und die Szenen eines Romans zu verstehen. Sie geben uns Hinweise darauf, wie wir das, was der Autor explizit beschreibt, gedanklich ergänzen sollen. Ihre Rolle ist grundsätzlich intern. Selbst wenn wir sie neben ihrer internen Rolle auch außer-fiktional wahrnehmen, stellt sich die Frage, woher wir wissen, dass sie faktisch korrekt sind. Schließlich könnten Schriftsteller auch „realistische“ Details in ihren Romanen verwenden, die außer-fiktional falsch sind. Normalerweise wissen wir, dass sie faktisch korrekt sind, da wir auf das zurückgreifen, was wir bereits über die wirkliche Welt wissen. Die Fakten sind uns bereits bekannt, bevor wir den Roman lesen. Also erfahren wir nichts Neues. Es gibt jedoch noch eine andere Art von propositionaler Wahrheit, die wir in Fiktionen antreffen können. Sie ist abstrakter oder thematischer als die eben genannten faktischen Beschreibungen. Diese Propositionen treten entweder dann auf, wenn ein Schriftsteller explizit eine generelle Behauptung oder eine Behauptung zu einem bestimmten Thema aufstellt, die nicht nur eine interne Rolle zu spielen scheint, oder wenn der Leser eine nicht-explizite, sondern vielmehr implizierte Äußerung aus der Lektüre herausliest. Hier ist ein Beispiel für den ersten Fall. Dieser Satz stammt aus dem ersten Kapitel von Theodore Dreisers Roman Schwester Carrie: „Wenn ein Mädchen ihr Heim mit achtzehn Jahren verläßt, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder sie findet Schutz bei Freunden und wird besser, oder sie nimmt rasch den Tugendmaßstab der Großstadt an und wird schlechter.“10 Äußerungen wie diese unterscheiden sich von den faktisch korrekten Beschreibungen, von denen eben die Rede war. Sie beschreiben nicht bloß eine Szene oder stellen Verbindungen zwischen den Ereignissen in der Geschichte des Romans her. Sie scheinen vielmehr eine evaluative Rolle zu spielen. Sie kommentieren den erzählten Inhalt oder reflektieren ihn. Dabei nehmen sie Verallgemeinerungen vor, die auf die beschriebenen Ereignisse und Charaktere zutreffen. Der Satz aus Dreisers Roman ist eindeutig ein Gedanke über die Ereignisse, die in der Geschichte beschrieben werden (zu diesem Zeitpunkt eine Beschreibung der Protagonistin Carrie Meeber, die ihr Zuhause verlässt und 10

Dreiser 1953 (zuerst 1900), 5. Die in der philosophischen Diskussion über literarische Werke am häufigsten als Beispiele herangezogenen thematischen Äußerungen sind der erste Satz von Tolstois Anna Karenina und von Jane Austens Stolz und Vorurteil.

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alleine den Zug nach Chicago nimmt). Diese Reflexion verallgemeinert die speziellen Ereignisse in Form einer anscheinend allgemeingültigen Behauptung. Ein Beispiel für den zweiten Fall – eine implizite thematische Äußerung – wäre, dass wir als Leser über die Ereignisse in Dreisers Roman nachdenken und zu dem Schluss kommen, Schwester Carrie impliziere die Äußerung, dass das Schicksal menschlicher Individuen eher von zufälligen Umständen bestimmt wird als von bewussten moralischen Entscheidungen. Eine solche Äußerung wird nirgendwo in Dreisers Text vorgetragen, aber es wäre legitim zu sagen, dass der Roman diese thematische Behauptung impliziert. Damit es nicht rätselhaft erscheint, wie ein fiktionaler Roman etwas implizieren kann, vor allem eine thematische Äußerung, können wir Implikation hier einfach im übertragenen Sinn verstehen. Gemeint ist ein normaler Vorgang bei der Interpretation von Literatur. Implizierte thematische Äußerungen kommen zustande, wenn der Leser als Kritiker beim Beurteilen des Romans eine Äußerung in Form einer Verallgemeinerung herausarbeitet oder konstruiert. Diese Äußerung verknüpft diejenigen expliziten thematischen Äußerungen des Werkes, die am meisten Sinn ergeben, wenn sie zu einem Thema zusammengefasst werden.11 Die herausgearbeitete Äußerung ist also eine allgemeine Reflexion, die einen internen Bezugspunkt herstellt. Sie fasst zusammen, worum es in dem Roman geht bzw. was der Roman uns zeigen will. Kann eine dieser zwei Arten von Äußerungen – oder beide – als propositionale Wahrheit gelten und damit als aus Fiktion gewonnenes Wissen? Vielleicht. Das hängt davon ab, ob wir der Ansicht sind, dass ihre Funktion sich darin erschöpft, eine interne Rolle zu spielen, oder ob wir zugeben, dass sie auch eine wichtige außerfiktionale Rolle spielen können. Zunächst sollten wir nicht vergessen, dass keine dieser Äußerungen als Aussage verstanden werden sollte. Die expliziten thematischen Äußerungen sind zwar vom Autor vorgetragen, jedoch im fiktionalen Modus, und sie spielen eine fiktionsinterne Rolle. Die Dreiser-Äußerung darüber, was passiert, wenn ein Mädchen mit Achtzehn ihr Zuhause verlässt, ist für die Charakterisierung des Inhalts der Geschichte relevant. Sie stimmt auf Carries Reise in die weite Welt ein und fungiert als eine Art Vorwarnung, die uns auf das hinweist, was Carrie wohl erwartet. Die Äußerung stellt uns sozusagen einen Maßstab zur Verfügung, anhand dessen wir Carries moralische Entwicklung beurteilen können. Also spielt sie eine durchaus wichtige Rolle innerhalb der Fiktion. Indem sie eine Perspektive andeutet, aus der Leser die kommenden Ereignisse um Carrie und ihre Entwicklung verfolgen können, trägt sie zu den internen Eigenschaften des Romans – seiner Form und Einheit – bei. Auch die impliziten thematischen Äußerungen (die offensichtlich keine Aussagen sind, da sie im Text gar nicht vorgetragen werden) könnten als interne Funktion verstanden werden.12 Es mag seltsam klingen, dass Propositionen, die einem Werk 11

12

Diese vernünftige Art und Weise, die Idee einer „impliziten Äußerung“ zu erläutern, stammt von Lamarque und Olsen (siehe Lamarque/Olsen 1994, 327). Frühere Beiträge zu dieser Diskussion sind z. B. Hospers 1960 und Sirridge 1975. Lamarque und Olsen meinen, dass die interne Rolle die primäre Rolle darstellt, die thematische Äußerungen spielen (Lamarque/Olsen 1994, Kap. 13). Ihre These ist eine moderne Version der sogenannten „Keine-Wahrheit-Theorie“ – sie bestreiten, dass literarische Fiktionen Wahrheiten vermitteln oder kommunizieren.

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indirekt entnommen sind, einen vorwiegend internen und fiktionalen Zweck erfüllen. Dennoch: Unser Beispiel, dass das Schicksal menschlicher Individuen eher von zufälligen Umständen bestimmt wird als von bewussten moralischen Entscheidungen, ist eindeutig wichtig, um Form und Inhalt der Fiktion zu vereinheitlichen. Gerade die Methode, mit der implizite Äußerungen aufgedeckt werden, zeigt ihre Funktion als interne Orientierung an. Sie sind literarische Interpretationen, mit denen wir die Ereignisse des Romans auf uns beziehen und Bedeutungen in ihnen aufspüren. Es ist leicht einzusehen, dass sowohl explizite als auch implizite thematische Äußerungen für die interne Ebene einer Fiktion wertvoll sein können. Dennoch könnte eingewendet werden, dass sie zwar eine wichtige kontextuelle Rolle spielen, aber möglicherweise auch eine außerfiktionale. Thematische Äußerungen können einen zweifachen Zweck erfüllen. Sie tragen dazu bei, die innere Einheit des Werkes zu strukturieren. Gleichzeitig stellen sie interessante oder erhellende Gedanken über die Welt im Allgemeinen dar und sind zumindest Hypothesen, die wir auf das Leben beziehen können. Einige der Philosophen, die einen Keine-Wahrheit-Standpunkt vertreten, lehnen auch diesen Vorschlag ab und argumentieren dafür, dass es bei der Wertschätzung von literarischer Fiktion keine Rolle spielt, inwiefern sich thematische Äußerungen auf die wirkliche Welt beziehen lassen. Bei der angemessenen Wertschätzung von Literatur geht es ihnen zufolge ggf. darum, ob ein Thema in einem Werk angesprochen wird und ob dies auf eine künstlerische und überzeugende Weise geschieht. Doch es ist irrelevant, ob eine thematische Äußerung – als Hypothese über die wirkliche Welt – wahr ist.13 Ein solcher Verweis auf die Vielfältigkeit literarischer Wertschätzung ist legitim. Jedoch sollten wir nicht vergessen, dass zu einer „literarischen Wertschätzung“ das gehört, was normale Leser mit literarischen Werken machen. Sie beschränkt sich nicht auf die akademische Praxis der Literaturwissenschaftler. Normale Leser beachten zwar die interne Relevanz thematischer Äußerungen und schätzen ihren Wert als Interpretationshilfen, aber sie denken möglicherweise auch darüber nach, inwiefern diese Äußerungen für unsere Welt und unser Leben relevant sind. Nichts daran ist illegitim. Literarische Werke sind repräsentierende Artefakte, die uns Sicht- und Denkweisen in Bezug auf unsere Welt und unser Leben anbieten. Diese außerfiktionalen Überlegungen führen vielleicht nicht dazu, dass der Leser entschieden verkündet, die in dem Werk ausgedrückten Ansichten seien wahr oder falsch. Aber der Umstand, dass es nicht zu einem solchen Ergebnis kommt, bedeutet nicht, dass die Reflexion und das Nachdenken nicht stattfinden. Literarische Werke verfügen, wie ein Autor gesagt hat, über ein reflexives „Nachwirken“, in dem die Leser über die Bedeutung dessen nachdenken, was sie gelesen haben. Dazu gehört das Abwägen und Bedenken bestimmter Themen und darüber, ob uns diese Themen zeigen, wie das wirkliche Leben zu verstehen sein könnte.14 Ich glaube also schon, dass ein gewisser kognitiver Wert von Literatur aus propositionalen Wahrheiten besteht – in Form von thematischen Äußerungen, die uns als Hypothesen dabei helfen, unser Verständnis gewisser Aspekte unseres Lebens zu verbessern. Dennoch halte ich sie für nur begrenzt nützlich. Der Hauptgrund dafür lautet, dass solche Propositionen und der thematische Inhalt, den sie vermitteln, sich oft als 13 14

Auch dies ist eine These von Lamarque/Olsen 1994, die auch in Lamarque 2006 nachzulesen ist. Bei diesem Kommentator handelt es sich um Kivy 1997, Kap. 5.

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eher banal und sogar unoriginell herausstellen, sobald sie aus dem Roman destilliert und auf das Leben bezogen worden sind. Um den vielleicht bekanntesten Angriff auf die Propositionen-Theorie zu zitieren: Es ist „erbärmlich dürftig“ zu verkünden, die in Stolz und Vorurteil artikulierte Wahrheit bestünde zusammengefasst darin, dass „dickköpfiger Stolz und dumme Vorurteile attraktive Leute voneinander trennen.“ Stolnitz fragt resigniert: „Kann das alles sein? Bei einem der bedeutendsten Roman der Welt?“15 Natürlich ist das nicht „alles“, was Stolz und Vorurteil an kognitivem Wert zu bieten hat. Aber vielleicht ist es alles, wenn wir uns auf die Kategorie der propositionalen Wahrheit beschränken. Es ist deswegen kaum überraschend, dass die meisten gegenwärtigen Kognitivisten sich von der Propositionen-Theorie abgewandt und nach anderen Arten und Quellen von Wissen in literarischen Werken gesucht haben.16 Auch wir sollten uns nun einem vielversprechenderen Bereich zuwenden, in dem ein kognitiver Wert zu finden sein könnte: dem vorstellenden Aspekt von Fiktion.

2.

Der imaginative Aspekt von Fiktion

Dass die Vorstellungskraft zur Fiktion gehört, ist selbstverständlich. Die hier vorgeschlagene Definition von Fiktion besagt bereits, dass Leser sich vorstellen, etwas sei der Fall. Dies geschieht auf Einladung des Autors. Wie gesagt erfasst der Leser die Bedeutung der geäußerten Sätze, indem er eine fiktionale Haltung einnimmt. Dabei muss der Leser sich den geäußerten Inhalt sowohl vorstellen als ihn auch gedanklich um zusätzliche Hintergrundinformationen ergänzen.17 Beides kommt durch die Vorstellungskraft zustande. Doch wenn ein Leser ganz in der Fiktion versunken ist, leistet die Vorstellungskraft noch mehr als das. Oft projizieren Leser etwas von sich selber in die Szenen, die ihnen fiktional beschrieben werden, und werden in das Leben der fiktionalen Charaktere hineingezogen. Wir können also sagen, dass es verschiedene Grade vorstellender Aktivität gibt, die beim Verstehen eines fiktionalen Werkes eine Rolle spielen, und wir müssen selbige sorgfältig untersuchen, wenn wir bestimmen wollen, inwiefern die imaginative Dimension von Fiktion zu unserem Verständnis beitragen kann. In heutigen Theorien der Imagination wird häufig zwischen Vorstellen de dicto (sich vorstellen, dass) und Vorstellen de se (sich selbst „von innen“ vorstellen) unterschieden.18 Vorstellen de dicto entspricht einer Form von Vorstellen, die beim Umgang mit 15 16 17

18

Stolnitz 1992, 193f. Wilson 1983 war die erste, welche die von ihr so genannte Propositionen-Theorie kritisierte. Zu der Ergänzung des Hintergrundes gehören Dinge wie sich vorzustellen, dass Anna Karenina einen bestimmten Gang hat, wie ihre Stimme klingt oder anzunehmen, dass sie zwei Arme und Beine hat, obwohl Tolstoi diese Eigenschaften nicht explizit beschreibt. Diese Ergänzung mag eher halbbewusst als ganz bewusst vonstatten gehen. Die Unterscheidung zwischen „sich vorstellen, dass“ (d. h. propositionalem Vorstellen) und einer aktiveren Form von Vorstellen „aus der Innenperspektive“ wird beispielsweise von Lamarque und Olsen 1994, Kendall Walton 1990 und auch Richard Wollheim 1974 getroffen, wenn auch nicht unbedingt in derselben Begrifflichkeit, die ich hier verwende. Wollheim zum Beispiel spricht von „zentralem“ und „azentralem“ Vorstellen, das Vorstellen de se bzw. propositionalem Vorstellen entspricht (Wollheim 1974, 59).

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Fiktionen erforderlich ist. Bisher habe ich dies als propositionales Vorstellen bezeichnet. Vorstellen de se deckt die übrigen Formen von Vorstellungen im Zusammenhang mit Fiktionen nicht ganz ab. Sicherlich spielt das Vorstellen de se bei unserem Umgang mit Fiktionen eine Rolle, sogar oft. Doch ist es nicht der einzige Gegensatz zu Vorstellen de dicto oder propositionalem Vorstellen. Ich werde deswegen den Begriff „erfahrendes Vorstellen“ einführen, der Vorstellen de se umfasst, aber auch weitere Phänomene. Vorstellen de dicto heißt einfach, dass eine bestimmte Haltung gegenüber dem propositionalen Inhalt der betreffenden Sätze eingenommen wird, also sich vorstellen, dass p (im Gegensatz zu glauben, dass p oder wünschen oder hoffen, dass p). Genau diese Art von Vorstellen zeichnet die fiktionale Haltung aus. Deswegen spielt sie eine entscheidende Rolle bei unserem Umgang mit Fiktionen. Diese Form von Vorstellungen kann über einen umfassenden phänomenologischen Aspekt verfügen – oder auch nicht. Wir können uns vorstellen, dass p, ohne dass es dabei zu einer sinnlichen oder wahrnehmungsgleichen Tätigkeit kommt. Wir lesen, dass Flauberts Heldin Emma Bovary in ihrem Zimmer sitzt und ihren Morgenmantel trägt. Wir lassen uns auch dann auf diese fiktionale Äußerung ein, wenn wir ihren Inhalt lediglich erfassen (d. h. uns den Inhalt vorstellen, also die fiktionale Haltung annehmen), ohne dass wir dabei eine sinnliche Erfahrung machen. Doch obwohl für ein Sicheinlassen auf Fiktion nicht mehr als dies erforderlich ist, hat unser Erfassen meistens doch einen sinnlichen oder wahrnehmungsgleichen Aspekt – wir erfassen nicht nur die Proposition, dass Emma Bovary in ihrem Zimmer sitzt, sondern wir stellen uns auch sinnlich vor, dass Emma dort sitzt, indem wir einen mentalen Zustand erleben, wie wir ihn aus der Wahrnehmung kennen. Wir „sehen“ Emma im Morgenmantel. Wir können aktiv visualisieren, wie sie aussieht und welche Farbe ihr Morgenmantel hat (ein Detail, das Flaubert nicht aufklärt). Dieser wahrnehmungsgleiche Zustand des Visualisierens ist eindeutig mehr, als einfach nur die Bedeutung der Proposition zu erfassen, und es ist eindeutig ein Aspekt des Lesens von Fiktion, der nicht ungewöhnlich ist. Es ist sogar schwer vorstellbar, einen Roman zu lesen, ohne dieser Aktivität in einem gewissen Ausmaß nachzugehen. Das wahrnehmende Vorstellen ist eine Form von erfahrendem Vorstellen. Es ist erfahrend, weil wir dabei eine Erfahrung machen, die der Wahrnehmung ähnelt. In dem obigen Beispiel findet unsere erfahrende Vorstellung von Emma in ihrem Morgenmantel aus einer Perspektive außerhalb von Emma statt. Wir sehen sie von der anderen Seite des Zimmers aus, so als wären wir mit ihr im Zimmer, ohne dass sie es weiß. Wir könnten dies erfahrendes Vorstellen aus der Beobachterperspektive nennen. Aber es gibt noch eine weitere Form erfahrenden Vorstellens, das beim Lesen von Fiktion oft eine Rolle spielt. Dabei befinden wir uns in der Situation des Protagonisten, den wir uns vorstellen. Es handelt sich also um eine interne statt um eine externe Perspektive. Manchmal erfahren wir das, was der Autor fiktional beschreibt, nicht aus der Perspektive eines unsichtbaren Beobachters, sondern indem wir die Perspektive der betreffenden Figur übernehmen. Statt mir vorzustellen, dass Emma in ihrem Zimmer sitzt, stelle ich mir vor, mich in Emmas Lage zu befinden und dort zu sitzen. Diese Form von Vorstellen aus der Eigenperspektive ist das, was Philosophen Vorstellen de se genannt haben, eine Form von Vorstellung, bei der wir beteiligt sind. Der Definition von Fiktion zufolge, die ich hier vorgeschlagen habe, ist ein solches Vorstellen ebenso wenig für das Sicheinlassen auf Fiktionen notwendig wie erfahrendes

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Vorstellen aus der Beobachterperspektive.19 Der Grundmechanismus für das Sicheinlassen auf Fiktionen ist propositionales Vorstellen. Doch wenn sich das Vorstellen auf diese Form beschränkt, ist das Sicheinlassen eher anämisch und distanziert. Die meisten Leser machen andere Erfahrungen. Während wir Fiktionen lesen, lassen wir uns oft auf reichhaltige erfahrende Vorstellungen ein. Außerdem projizieren wir einen Teil von uns in die Szenen, die uns beschrieben werden. Wir stellen uns vor, dass wir uns in diesen Situationen befinden, und diese Form von Vorstellung ist in Hinsicht auf den Wert oder den Nutzen von Fiktionen am interessantesten. Wenn wir eine fiktionale Geschichte lesen, hängt unser Verständnis der Geschichte von mehr ab als nur unserer Fähigkeit, die Bedeutung der Sätze zu erfassen, die wir lesen, und ihren Inhalt zu visualisieren: Oft müssen wir nicht nur verstehen, wie sich ein Protagonist fühlt oder dass er eine bestimmte Situation erlebt, sondern wir müssen auch verstehen, warum er sich so fühlt und wie es für ihn ist, sich in dieser Situation zu befinden. Ein derartiges empathisches Verständnis hilft oft dabei, der Geschichte im vollen Umfang zu folgen und sich auf die fiktionalen Beschreibungen und Repräsentationen so einzulassen, dass wir sie richtig aufnehmen und über sie nachdenken. Im Fall von Flauberts Roman müssen wir also erst einmal Emma Bovarys Situation verstehen, und zwar nicht nur in dem Sinn, dass wir die Beschreibungen von ihr aufnehmen, sondern dass wir verstehen – oder gar fühlen – wie sie diese Situation empfindet. Solange wir ihre Situation nicht empathisch verstehen, werden wir sie nicht als tragische Heldin ansehen und werden den Roman folglich nicht richtig wertschätzen und seine Themen nicht verstehen können (wie die Makel der Bourgeoisie und die Machtlosigkeit von Frauen). Um dieses Verständnis zu erlangen, müssen wir Emmas Dilemma in gewissem Maße nachspielen: gefangen zu sein in einem provinziellen Lebensstil ohne Luft zum Atmen, verheiratet mit einem Mann, den sie nicht liebt, frustriert und von dem hoffnungslosen Wunsch auf ein besseres Leben voller Romantik und Leidenschaft erfüllt. Als Leser müssen wir uns in Emmas Lage versetzen, uns vorstellen, die gleichen Überzeugungen, Wünsche und Werte wie sie zu haben. Kurz gesagt müssen wir uns vorstellen, wie es ist, ihre Gedanken, Gefühle und Einstellungen zu haben. Wenn unser Vorstellen gelingt, werden wir einen Eindruck davon bekommen, wie es ist, sich in dieser Lage zu befinden, und wie wir darauf reagieren würden. Da wir diese Gefühle dann erleben, können wir uns vorstellen, dass Emma sich so fühlt, und wir können vorausahnen, wie sie sich verhalten wird. Diese vorstellende Anteilnahme verleiht uns ein tieferes Verständnis der Heldin, über die wir nun auch angemessen nachdenken können.20 19

20

Manchen Theorien der Fiktion zufolge ist Vorstellen de se essentiell für das Sich-einlassen auf Fiktionen. Derek Matravers beispielsweise meint, dass eine grundlegende Bedingung für unser Verständnis von Fiktion darin besteht, dass sich Leser vorstellen, einen wahren Bericht über tatsächliche Ereignisse zu lesen. Matravers zufolge ist also ein anfänglicher Akt von Vorstellen de se notwendig, um sich auf Fiktionen einzulassen. Siehe Matravers 1998, vor allem Kapitel 3. Was ich erfahrendes Vorstellen aus der Eigenperspektive nenne, wird von einigen Philosophen als Simulationstheorie bezeichnet. Sie stammt aus der Kognitionsforschung und ist eine Theorie darüber, wie wir Menschen die Gedanken und das Verhalten von anderen verstehen und vorhersagen können. Die hier beschriebene Aktivität wird deswegen oft simulierendes Vorstellen oder einfach Simulation genannt. Ich habe nichts gegen diesen Titel, aber ich halte es für unnötig, ihn zu verwenden. Da in der Diskussion um Fiktion zudem Uneinigkeit darüber herrscht, in welchem

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Bei diesem imaginativen Prozess lernen wir etwas über die Protagonistin und ihre Situation. Dies geht über die Beschreibungen hinaus, die der Autor uns explizit gibt. Durch diesen Prozess können wir uns ganz auf den Roman einlassen. Wir können also sagen, dass die erfahrende Vorstellung aus der Eigenperspektive eine bedeutende Rolle bei unserer Reaktion auf literarische Fiktionen spielt, denn das tiefere Verständnis, das sie uns ermöglicht, versetzt uns letztlich auch in die Lage, uns mit spezifisch literarischen Aspekten auseinanderzusetzen, wie zum Beispiel dem Thema des Werkes. Außerdem lernen wir bei dieser vorstellenden Tätigkeit etwas über uns selber, und zwar wie wir uns fühlen würden, wenn wir uns in solch einer misslichen Lage befänden. Wenn diese Art von Erfahrung im Gedächtnis gespeichert und auf den Bereich unseres tatsächlichen Lebens übertragen wird, erweist sie sich oft als kognitiv wertvoll. In den nächsten Abschnitten soll das Ausmaß untersucht werden, in dem diese vorstellende Tätigkeit unser Verständnis der Vielschichtigkeit des Lebens befördert. Damit soll gezeigt werden, dass Fiktionen als ertragreiche Wissensquelle angesehen werden können, da sie derartige vorstellende Erfahrungen ermutigen und begünstigen.

3.

Lernen durch den imaginativen Aspekt von Fiktion

Nachdem wir uns die Rolle der Vorstellung bei unserem Umgang mit Fiktionen angesehen haben, lautet unsere Aufgabe nun, die verschiedenen Weisen zu beschreiben, auf die Fiktionen unser Verstehen befördern und bereichern. Sie alle beruhen auf der Fähigkeit von Fiktionen, unserem Vorstellen deskriptive Repräsentationen von einzelnen konkreten Situationen und Charakteren, die damit umgehen müssen, vorzulegen. Indem sie uns dazu verleiten, uns vorstellend auf diese Beschreibungen einzulassen und somit über sie nachzudenken, bieten Fiktionen eine Möglichkeit des Lernens, das zwar eindeutig nicht propositional ist, aber doch eine Klärung, Verfeinerung und Verbesserung unseres praktischen, moralischen und begrifflichen Denkens bedeutet.21 Dass Literatur in mancherlei Hinsicht als ein Zweig oder eine Ausweitung der Moralphilosophie angesehen werden kann, ist eine Idee, die in den vergangenen Jahrzehnten viel Aufmerksamkeit erhalten hat. Das war natürlich damit begründet, dass es in literarischen Fiktionen um die Darstellung konkreter menschlicher Situationen geht. Dank dieses Merkmals sind Fiktionen bestens für das Erkunden moralischer Probleme und Dilemmata geeignet. Martha Nussbaum ist eine der bekanntesten Vertreterinnen dieser Ansicht. Sie schreibt, dass die Literatur eine besonders gut geeignete Form ist, um Wahrheiten über das menschliche Leben auszudrücken. Dies geschehe mit einem subjektiven

21

Maß Simulation Grundlage unseres Verständnisses von Fiktion ist, ist es vielleicht am besten, hier auf den Begriff zu verzichten. Currie 1998 meint, Simulation sei der Kern von Fiktionen. Im Gegensatz dazu hat Kieran 2003 argumentiert, dass Simulation nicht grundlegend für unser Verständnis von fiktionalen Figuren und Erzählungen ist. Für mehr über die Simulationstheorie in den Kognitionswissenschaften siehe Davies/Stone 1995. Eloquent vertreten wurde diese Ansicht von Novitz 1987. Auch einige Ästhetiker haben sie in jüngster Vergangenheit artikuliert, z. B. Currie 1995b, Currie 1998, John 1998, Carroll 2002, Gaut 2006.

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Detailreichtum, der bei traditionellen Formen des Nachdenkens über Moral nur schwer erreichbar sei.22 Ich stimme dieser Ansicht über Literatur zwar weitgehend zu (wenn auch nicht unbedingt in Bezug auf die Moralphilosophie), möchte sie hier aber nicht so wie Nussbaum oder Putnam ausführen. Stattdessen möchte ich die These untersuchen, dass unser vorstellender Umgang mit Fiktion zu einer Verbesserung unserer praktischen und moralischen Fähigkeiten führen kann, und zwar nicht nur aufgrund des Inhalts, den wir fassen, sondern – und das ist viel interessanter – aufgrund der Aktivität des Vorstellens. Ich werde also vor allem untersuchen, wie wir bei Akten des Vorstellens lernen – und was wir dabei lernen. Es wird sich zeigen, dass dazu eine Verbesserung unserer praktischen Fähigkeiten gehört (unsere Fähigkeit, Strategien für unser Handeln und Planen zu entwerfen) sowie der Erwerb von Werten und begrifflichen Fähigkeiten.

4.

Lernen durch Vorstellen: praktisches Wissen, wertschätzen und planen

Schauen wir uns zunächst einmal die Behauptung an, dass unser vorstellender Umgang mit Fiktionen zu einer Verbesserung unserer praktischen Fähigkeiten führen kann. Mit praktischen Fähigkeiten meine ich unsere Möglichkeit, Strategien zu entwickeln, die es uns erlauben, Entscheidungen oder Handlungen zu planen und durchzuführen. Hilary Putnam hat ein gutes Beispiel dafür, wie die Vorstellungskraft uns beim Bilden von Strategien helfen kann: A man is climbing a mountain. Halfway up he stops, because he is unsure how to go on. He imagines himself continuing via one route. In his imagination, he proceeds up to a certain point, and then he gets into a difficulty which he cannot, in his imagination, see how to get out of. He then imagines himself going up by a different route. This time he is able to imagine himself getting all the way to the top without difficulty. So he takes the second route.23 Die Aufgabe des Bergaufstiegs ist ein ziemlich überschaubares Problem mit einem klaren, offensichtlichen Ziel. In unserem Leben stehen wir jedoch regelmäßig komplexeren Problemen gegenüber, für die es kein im Voraus identifizierbares Ziel gibt. Beispiele wären, wie die eigene Karriere weiterverfolgt werden soll, oder ob man eine Beziehung beenden sollte. Angesichts solch komplexer Fragestellungen besteht unser unmittelbarer Wunsch darin, das zu tun, was am besten ist. Doch wissen wir nicht sofort, was das Beste ist. Theoretisches Abwägen alleine wird nicht ausreichen, um die beste Vorgehensweise zu bestimmen. Zwar können wir theoretisch in der Lage sein, die uns zur Verfügung stehenden Vorgehensweisen zu identifizieren, doch wir benötigen unbedingt ein Gespür dafür, welche davon die richtige oder beste ist. An dieser Stelle kommt die Vorstellungskraft ins Spiel. Durch sie können wir uns in jede Strategie hineindenken, die wir theoretisch als möglich identifiziert haben, und 22 23

Nussbaum 1990. Ein weiterer (früherer) Vertreter dieser These ist Putnam 1978. Putnam 1978, 85f.

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uns somit vorstellen, das jeweilige Ergebnis zu erleben. Indem wir jede der möglichen Vorgehensweisen vorstellend durchführen, können wir prüfen, wie sie sich anfühlt: Erfolgreiche Vorstellungen werden dazu führen, dass wir als Reaktion auf die möglichen Ergebnisse Emotionen empfinden. So können wir uns vorstellen, dass wir glücklich sein werden, wenn wir a machen, und unglücklich, wenn wir b machen. Diese emotionalen Reaktionen helfen uns dabei zu entscheiden, ob ein bestimmtes Vorgehen das richtige ist, oder ob wir uns eine Alternative vorstellen sollten.24 Nachdem wir mehrere imaginäre Szenarien durchgegangen sind, so dass alle möglichen Vorgehensweisen überprüft worden sind, werden wir schließlich eine Hypothese aufstellen, was das Beste ist, das wir tun können, und entsprechend handeln. Die These, dass Vorstellungen uns auf diese Weise weiterhelfen, wenn wir einem komplexen Problem gegenüberstehen, ist recht geläufig und nicht weiter kontrovers. Doch wie helfen uns die vorgestellten Erfahrungen, die aus Fiktionen stammen? Ebenso, wie wir dadurch lernen können, dass sich unsere Vorstellungskraft verschiedene Ergebnisse ausmalt, können wir davon profitieren, uns vorstellend mit Szenen auseinandersetzen, die der Vorstellungskraft von jemand anderem entspringen, so wie im Fall von Fiktionen. Ich habe bereits erörtert, wie erfahrendes Vorstellen aus der Eigenperspektive uns die Gelegenheit gibt, zu erfahren, wie es ist, sich in der Lage eines fiktionalen Charakters zu befinden, der sich in allen möglichen fiktionalen Zwickmühlen befindet. Bei dem emphatischen Verständnis haben wir häufig Ideen, was der fiktionale Charakter in der Zwickmühle tun sollte. Dies beruht auf unseren Überlegungen, was wir selber tun würden. Wir bilden, mit anderen Worten, Hypothesen darüber, wie auf die fiktionale Zwickmühle zu reagieren ist. Wenn es sich bei einer konkreten Zwickmühle um eine Zwickmühle handelt, der wir in unserem wirklichen Leben (noch) nicht begegnet sind, ist es nicht absurd zu behaupten, dass wir etwas Neues gelernt haben, indem wir die Hypothese gebildet haben, und zwar, was wir tun würden, wenn wir uns in einer solchen Zwickmühle befänden. Natürlich könnte eingewendet werden, dass dies kein Wissen konstituiert, denn wir haben nur eine Hypothese. Doch stellt der Einwand unsere Hypothese lediglich auf dieselbe Stufe wie alle anderen Hypothesen, darunter wissenschaftliche und mathematische Thesen. So wie alle Hypothesen, muss auch unsere Strategie, wie in einer bestimmten Situation vorzugehen wäre, in der wirklichen Welt getestet werden. Wir projizieren unsere aus der Fiktion gewonnenen Hypothesen versuchsweise auf die Welt, falls eine passende Situation entsteht. Wenn die Hypothese sich in dieser Situation als sinnvoll erweist, werden wir sie vertreten bzw. von ihr überzeugt sein. Schließlich mag sie im Leben bestätigt werden oder sich als ungeeignet erweisen. Wenn sie sich bestätigt, können wir sagen, dass die Fiktion, die dafür verantwortlich ist, dass wir diese strategische Hypothese aufgestellt haben, uns empathisches Wissen über eine Lebenssituation ver24

Ich vermute, niemand wird bestreiten, dass wir emotionale oder affektive Reaktionen zu vorgestellten Sachverhalten haben können. Schließlich ist dies ein ganz gewöhnliches Phänomen bei unserem Umgang mit Fiktionen. Aktuelle Ergebnisse aus der empirischen Bewusstseinsforschung (vor allem von Antonio Damasio) haben gezeigt, dass emotionale Reaktionen auf imaginäre Simulationen – so wie sie im Groben hier beschrieben werden – sogar ein wesentlicher Teil unserer Fähigkeit sind, Entscheidungen zu treffen (vgl. Damasio 2000).

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mittelt hat. Dieses Wissen hat unsere Fähigkeit verbessert, mit den Schwierigkeiten der wirklichen Welt umzugehen. Auf diese Weise ermutigen uns Fiktionen, die praktische Fähigkeit zu entwickeln, wünschenswerte Ergebnisse angesichts von schwierigen Lebenssituationen zu wählen – indem sie uns stellvertretend Erfahrungen anbieten, die im wirklichen Leben in problematischen Situationen auftreten würden. Indem wir diese Situationen vorstellend erkunden, können wir praktische Strategien formen, die wir im Hinterkopf behalten, bis sie im echten Leben benötigt werden. Novitz formuliert es folgendermaßen: […] our imaginative participation in the fiction […] furnishes us with empathic beliefs, and, partly as a result, with a set of practical hypotheses for tackling similar quandaries in the actual world. Such hypotheses may amount either to possible ways of considering such problems, or they may amount to possible ways of tackling them. Either way, they help furnish practical rather than purely propositional knowledge and belief.25 Außerdem erlauben uns unsere imaginären Erfahrungen mit Fiktionen oft den Zugang zu viel mehr problematischen Situationen, als sie uns im wirklichen Leben je begegnen würden. Dadurch erfahren wir mehr als durch echte Erfahrung. Fiktionen bieten nicht nur mehr Erfahrungen als das wirkliche Leben. Die Erfahrungen aus der Fiktion können zudem ausführlicher und länger reflektiert werden. Die Möglichkeit, sich vorstellend in eine Lage zu versetzen lädt zu einem gründlicheren Nachdenken ein als unsere Einblicke in wirkliche Situationen, wie Currie anmerkt: We may learn more from imaginative projections if we give conscious, critical attention to their results. Two […] features of the fictional scaffolding assist this reflection. One is the fact that the projection takes place, exactly, as part of the relatively disengaged activity of reading fictions. This allows us to dedicate scarce mental resources to the task of reflecting on the result of the projection […] . The other is that a well-made narrative, with illuminating commentary, may be just the thing to encourage and guide that reflection. […] Good fictions give us, through the talents of their makers, access to imaginings more complex, inventive and instructive than we could often hope to make for ourselves.26 Das Zitat verweist auch auf die enge Verbindung zwischen den ästhetischen und kognitiven Aspekten von Fiktionen. Bestenfalls stellen die Eigenschaften, aufgrund derer eine Fiktion ästhetisch wertvoll ist – die Form (eine geschickt aufgebaute Erzählung) und der Inhalt (gute Einfälle) – auch die Grundlage für eine wertvolle Lernerfahrung dar. Es könnte eingewendet werden, dass die Tendenz von Fiktionen, die in ihr dargestellten Situationen mit Details auszufüllen – indem Themen erörtert werden, wichtige Faktoren betont werden und unwichtige in den Hintergrund treten und unsere Reflexion durch Kommentare gelenkt wird –, sie unrealistisch macht und die Szenen der Wirklichkeit somit nicht genug ähneln, um ein Lernen zuzulassen. Im wirklichen Leben sind die 25 26

Novitz 1987, 137 (Hervorhebung im Original). Currie 1998, 170–171.

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Ergebnisse verschiedener Vorgehensweisen meist unklar, da unzählige Komplikationen und Variablen sie verhüllen. Die detaillierten und idealisierten Szenarien aus der Literatur können deswegen nicht lehrreich sein. Sie sind zu weit von konkreten, speziellen Situationen im echten Leben entfernt. Dieser Einwand beruht jedoch auf der Prämisse, dass Fiktionen unsere Lebenserfahrung genau widerspiegeln müssen, damit wir etwas daraus lernen können. Doch ist dies nicht notwendigerweise der Fall. Zum einen ist es sicherlich möglich, durch das Nachdenken über idealisierte und abstrakte imaginäre Fälle wichtige Lektionen zu lernen, die auf das Leben angewendet werden können. Philosophische Gedankenexperimente scheinen dies zu belegen.27 Der Umstand, dass fiktionale Szenen und die Schwierigkeiten des echten Lebens sich nicht ganz decken, bedeutet also nicht, das erstere nicht lehrreich sein können. Zum anderen müssen Fiktionen nicht das Leben widerspiegeln, damit wir etwas aus ihnen lernen. Es geht vielmehr darum, dass sie – wie Currie sagt – die Vorstellungskraft anleiten.28 Indem sie uns ermutigen, uns auf anhaltende erfahrende Vorstellungen einzulassen, vor allem jene aus der Eigenperspektive, verleihen uns Fiktionen Übung in der imaginären Erkundung von Dilemmata. Der Wert dieses Vorgangs kann nicht nur darin bestehen, dass wir hypothetische Lösungen für dieses oder jenes fiktionale Dilemma entwickeln und uns somit einen Vorrat an Hypothesen zurechtlegen, sondern auch darin, dass wir generell Erfahrung darin sammeln, hypothetische Handlungsstrategien aufzustellen. Wichtiger noch als der Inhalt, mit dem wir uns auseinandersetzen, ist die Aktivität, sich auf diese Weise mit etwas auseinanderzusetzen. Sie stellt eine Verbesserung unserer praktischen Fähigkeit her, wünschenswerte Ergebnisse problematischer Lebenssituationen zu wählen. Das Vermögen von Fiktionen, unsere imaginäre Aktivität zu ergänzen und anzuleiten, kann auch zu Weiterentwicklungen in Bezug auf unsere Werte führen. Diejenigen von uns, die das Privileg genießen, dass unser Lebensweg nicht vorgeschrieben ist, müssen sich mit vielen wichtigen Entscheidungen auseinandersetzen – was stellen wir mit unserer Zeit und Arbeit an, welche Ziele verfolgen wir, welche Arten von Beziehungen gehen wir ein? Um gute Entscheidungen zu treffen, wenn es um solche Fragen geht, müssen wir wissen, welche Dinge einen Wert haben. Die Wahl oder das Übernehmen eines Wertes wiederum bedeutet, dass uns die Konsequenzen dieser Werte bewusst sind und wir verstehen, wie sie uns beeinflussen werden.29 Jedoch kann es großer imaginierender Mühen bedürfen, sich in andere, manchmal fremdartige, Situationen zu versetzen, damit wir einen Wert auf diese Weise untersuchen und herausfinden können, was es bedeuten wird, sich für diesen Wert zu entscheiden. Das Lesen von Fiktionen kann uns dabei helfen und bietet eine ideale Gelegenheit, um Werte zu untersuchen und zu prüfen. Bei unserem Umgang mit Fiktionen können wir imaginär die Werte eines fiktiven 27

28 29

Currie 1998, 176 weist auf etwas Ähnliches hin, während er gegen den von ihm so genannten „Vereinfachungs-Einwand“ argumentiert. Der Vergleich zwischen Fiktionen und philosophischen Gedankenexperimenten wird im Folgenden noch weiter untersucht werden. Currie 1990. Currie präsentiert eine ähnliche Auffassung davon, wie wir Werte wählen (Currie 1995b, 253– 255). Die These, dass unsere Werte etwas sind, das wir auswählen, ist jedoch nicht unumstritten. Zum Beispiel hat Warnock 1978 dagegen argumentiert.

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Charakters annehmen, die wir selber nicht vertreten. Dies könnte dazu führen, dass wir die entsprechenden Werte plausibel finden und wir fortan Werte vertreten, die wir zuvor vernachlässigt haben. Unsere Lektüre könnte auch unsere eigenen Werte herausfordern, wodurch wir sie neu überdenken und gegebenenfalls ändern. Das Resultat unseres Umgangs mit Fiktionen kann also eine Änderung oder eine Bekräftigung unserer Werte sein. Diese Verbesserung unserer praktischen strategischen Fähigkeiten und unserer Übernahme von Werten führt letztlich dazu, dass wir unser Leben allgemein besser planen können. Um unser Leben gut zu planen, benötigen wir gewisse theoretische Fähigkeiten, aber auch ein fundiertes Verständnis, zu welchen Ergebnissen verschiedene Vorgehensweisen führen können, sowie ein Verständnis, welche Zustände erstrebenswert sind. Zum Teil kann dieses Verständnis auf unseren aus Fiktionen gewonnenen Erfahrungen beruhen. Fiktionen können uns also dabei helfen, unser Leben gut zu planen. Dies hat bedeutende Auswirkungen auf unser moralisches Leben, da ein gut geplantes Leben dazu neigt, aus empfehlenswerten Entscheidungen und Handlungen zu bestehen. Im Gegensatz dazu wird ein schlecht geplantes Leben bedauerliche Entscheidungen umfassen. Unsere Erfahrungen aus Fiktionen können also unsere praktischen Kapazitäten verbessern und auch positive Auswirkungen auf unser moralisches Wesen haben. Das ist eine schwerwiegende Behauptung, und sie wird im Folgenden wieder auftauchen, wenn wir eine weitere Art und Weise untersuchen, in der Fiktionen potentiell zum Lernen einladen, und zwar in Hinsicht auf unsere begrifflichen Fähigkeiten.

5.

Lernen durch den Inhalt von Vorstellungen: begriffliches Wissen

Die letzte Frage, die ich hier untersuchen möchte, lautet: Wie können die durch das Lesen von literarischer Fiktion gewonnenen Erfahrungen zu einer Klärung oder Modifikation unseres begrifflichen Wissens führen, und zwar so, dass unsere Lebensanschauung sich verändert? Dabei wollen wir uns nun auf den Inhalt von fiktionalen Vorstellungen konzentrieren statt auf den Vorgang des Vorstellens. Die These, dass das Lesen von Fiktionen eine begriffliche Bereicherung hervorbringen kann, ist weder radikal noch neu, aber es ist schwer, sie überzeugend zu formulieren.30 Dies mag zum Teil dem Umstand geschuldet sein, dass schnell unscharfe Grenzen auftreten können, wenn es um Begriffe geht. Es gibt ganz verschiedene Auffassungen darüber, was als begriffliches Wissen zählt, die von einem breit gefassten bis zu einem engen, streng analytischen Verständnis reichen. Ich gehe an dieser Stelle davon aus, dass begriffliches Wissen unser Verständnis der Bedeutung unserer Begriffe meint und unser Verständnis der Kriterien für ihre Anwendung auf die Welt.31 Entsprechend findet eine begriffliche Modifikation entweder dann 30 31

Zu den Vertretern dieser Auffassung gehören Wilson 1983, Novitz 1987, siehe Kap. 6, John 1998 und Carroll 2002. Es ist bekanntlich schwierig zu definieren, was mit einem Begriff gemeint ist, und die Definitionen variieren, je nachdem ob das eigene Interesse daran eher psychologisch oder logisch-semantisch ist. Entsprechend groß ist die Uneinigkeit, was genau ein Begriff ist. Hier gehe ich einfach davon aus, dass ein Begriff der gemeinsam nutzbare Bestandteil eines Gedankens ist.

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statt, wenn sich die Bedeutung eines Begriffs ändert, oder wenn seine Anwendungsbedingungen geändert werden. Dies kann durch Begriffsanalyse geschehen, etwa wenn Philosophen wie Wittgenstein Begriffe sprachphilosophisch untersuchen (was dann begrifflichem Wissen im engen, analytischen Sinn entspräche). Die Modifikation kann aber auch als Nebenprodukt von offenkundig ganz anderen Aktivitäten stattfinden, die dennoch unsere Begriffe in Frage stellen. Wenn eine Veränderung in diesem Rahmen stattfindet, ist sie nicht immer offenkundig, nicht einmal für den Verwender des Begriffs. Oftmals spüren oder erkennen wir die Veränderung in unserem begrifflichen Schema erst anhand zukünftigen Verhaltens, wie zum Beispiel Veränderungen in unserer Wahrnehmung oder unseren Urteilen. Begriffliche Veränderungen können auf einer subtilen und unbewussten Ebene auftreten, wo sie nicht artikuliert werden können. Wenn sie dazu führen, dass wir in der Zukunft Dinge anders angehen, wäre dies ein Grund, hier von Wissen in einem umfassenderen Sinn zu sprechen. Um zu untersuchen, wie diese Veränderung oder Bereicherung unserer Begriffe durch unsere Erfahrungen mit Fiktionen vonstatten gehen kann, sollten wir uns zunächst damit befassen, wie bestimmte fiktionale Werke uns Konzeptionen der Wirklichkeit präsentieren, die sich irgendwie von unseren eigenen unterscheiden oder etwas Neues hinzufügen. Was meine ich mit dem Präsentieren eines Begriffs oder einer Konzeption von Wirklichkeit? Eine Erklärung wäre der Verweis auf die faktisch korrekten Überzeugungen, die aus Fiktionen gewonnen werden können. Ich habe bereits erwähnt, wie propositionale Überzeugungen aus der Lektüre von Fiktionen entstehen können. Diese Überzeugungen können unsere gewöhnliche Auffassung der Welt herausfordern, indem sie uns alternative Sichtweisen anbieten, und wenn wir selbige übernehmen, kann dies eine Veränderung in unserem begrifflichen Schema darstellen. Novitz nennt ein entsprechendes Beispiel: „[I]f, in the light of Jane Austen’s Emma, one comes to believe that pride breeds self-deception, one may come to look for, and for the first time notice, the respects in which proud people are self-deceived.“32 Vor der Lektüre von Emma beinhaltete die Auffassung oder der Gebrauch des Lesers von dem Begriff Stolz keinen Bezug zu Selbsttäuschung. Doch nach der Lektüre des Romans gelangt der Leser vielleicht zu Überzeugungen, die einen solchen Bezug herstellen. Dies kann zu einem veränderten Verhalten des Lesers in der Zukunft führen, zum Beispiel indem er darauf achtet, inwiefern sich stolze Leute selbst täuschen. Deswegen können wir sagen, dass sein Verständnis des Begriffs Stolz sich geändert hat. Seine Bedeutung umschließt nun auch die Möglichkeit der Selbsttäuschung. Dieses Beispiel ist eine ziemlich einfache Zusammenfassung dessen, was wir begriffliche Modifikation oder Bereicherung nennen können.33 Aber es gibt auch komplexere Fälle, wo literarische Fiktionen nicht bloß ein alternatives begriffliches Schema darbieten, sondern ein begriffliches Problem aufwerfen und eine Reaktion von dem Leser erwarten, die begriffliche Unterscheidungen erfordert. So etwas kann vorkommen, wenn beispielsweise die tatsächlichen begrifflichen Verpflichtungen (aus der wirklichen Welt) 32 33

Novitz 1987, 137. Novitz selber sagt zu diesem Beispiel: „[W]hat, for want of a better term, I shall call conceptual or cognitive skills: skills which offer radically new ways of thinking about or perceiving aspects of our environment“ (Novitz 1987, 119).

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der Leser herausgefordert oder in Frage gestellt werden. Eileen John illustriert diese begriffliche Bereicherung anhand einer Kurzgeschichte, in welcher die Protagonistin (und Erzählerin) von ihrem Ex-Mann dafür kritisiert wird, „nie etwas gewollt zu haben“. Diese ungewöhnliche Kritik an einer Person ist verwirrend und führt den Leser dazu, über das Wesen des Wollens und den Begriff des Wünschens nachzudenken.34 Die Geschichte versetzt den Leser in ein schwieriges begriffliches Gelände, und das anhand von Fragen, die bei einer recht normalen Lektüre aufgeworfen werden: Die Fragen drängen sich den meisten Lesern auf – nicht nur denen, die sich mit Begriffsanalyse beschäftigen –, da man mit ihnen ringen muss, um die Protagonistin einzuschätzen. Die begrifflichen Überlegungen sind in diesem Fall Bestandteil der grundlegenden literarischen Interpretation. In diesem Sinne tragen die literarischen ästhetischen Eigenschaften zu der begrifflich erhellenden Rolle der Fiktion bei. Noël Carroll argumentiert ebenfalls für die Beziehung zwischen Reaktionen auf literarische Fiktionen und begrifflicher Aktivität. Ihm zufolge ist die Beziehung noch bedeutsamer. Er behauptet, dass literarische Fiktionen oft analog zu philosophischen Gedankenexperimenten funktionieren.35 In den meisten philosophischen Traditionen werden Gedankenexperimente verwendet. Dabei geht es darum, über ein imaginäres Szenario nachzudenken, um die Intuitionen über einen Aspekt unserer Auffassung aufzudecken. Als methodologisches Werkzeug können Gedankenexperimente für zahlreiche Zwecke eingesetzt werden, aber eine ihrer wesentlichen Funktionen besteht darin, unsere Begriffe zu beleuchten.36 Zu diesem Zweck mag ein Gedankenexperiment darin bestehen, eine strukturierte Auswahl sorgfältig ausgewählter, imaginärer Beispiele zu präsentieren, die sich voneinander in hinreichend relevanter Weise unterscheiden, um ein Nachdenken über den fraglichen Begriff und das Treffen entsprechender Unterscheidungen anzuregen. Um zu zeigen, wie literarische Fiktionen auf analoge Weise funktionieren können, konzentriert sich Carroll auf die Begriffe von Tugend und Laster. Er argumentiert dafür, dass uns viele Fiktionen Wissen über diese Begriffe vermitteln können „[B]y stimulating the reader to an awareness, through reflective self-analysis, of the conditions, rules and criteria for her application of said concepts.“37 Diese begriffliche Unterscheidung ist als Antwort auf das erforderlich, was Carroll die „Tugendräder“ („virtue wheels“) nennt. Sie sind in die meisten narrativen fiktionalen Kunstwerke eingebaut, sowohl in literarische als auch nicht-literarische.38 Mit Tugendrädern meint er das Tableau von Charakteren, die in Fiktionen auftreten, und zwischen denen wir unausweichlich Vergleiche anstellen. 34 35 36

37 38

John 1998. Bei der Geschichte handelt es sich um Wants von Grace Paley (Paley 1974). Carroll 2002. Carroll nennt einige der primären Funktionen von philosophischen Gedankenexperimenten: „[D]efeating alethic claims concerning possibility or necessity or deontic claims of what ought or ought not to be done, or of what is or is not obligated; advancing modal claims about what is possible; and, finally, motivating conceptual distinctions − that is, refining conceptual space“ (Carroll 2002, 9). Carroll 2002, 14. Carroll stellt dar, dass diese Tugendräder in allen Formen narrativer Kunst vorhanden sind, d. h. von Klassikern der Literatur bis hin zu zeitgenössischer Massenkunst (zu seinen Beispielen gehören Howard’s End, Star Trek und Sex and the City).

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Diese Charaktere werden jeweils bestimmte Tugenden zu einem gewissen Grad aufweisen (oder eben nicht). Die fraglichen Tugenden variieren von Fiktion zu Fiktion, aber typische Tugenden sind Ehrlichkeit, Treue, Großzügigkeit, Mitleid usw. Indem Charaktere so nebeneinander gestellt werden, dass diese Kontraste deutlich werden, ermutigen Fiktionen ihre Leser dazu, die entsprechenden Begriffe von Tugend und Laster auf die Charaktere anzuwenden. Dies schärft die Fähigkeit des Lesers, zwischen und innerhalb von Konzepten zu unterscheiden. Zuvor hat der Leser vielleicht nur vage, unausgebildete Kenntnisse von diesen Unterscheidungen gehabt. Das Tugendrad besitzt also eine vergleichbare Struktur und Funktion wie bestimmte philosophische Gedankenexperimente. Damit besteht laut Carroll hinreichend Grund, Fiktionen, die ein Tugendrad aufweisen, als „literarische Gedankenexperimente“ zu betrachten. Man könnte einwenden, dass eine strukturelle und funktionale Ähnlichkeit nicht bedeutet, dass philosophische und literarische Gedankenexperimente in jeder Hinsicht zu vergleichen sind. Was die Intentionen betrifft, die hinter ihrem Aufbau und ihrer Verwendung stehen, gibt es natürlich Unterschiede. Philosophen beschäftigen sich mit Gedankenexperimenten, weil sie das Ziel haben, eine zuvor identifizierte Theorie oder ein begriffliches Problem zu klären, doch das gilt nicht für die Verfasser literarischer Texte. Selbst wenn Schriftsteller eine strukturierte Anordnung von Charakteren im Sinne eines Tugendrades anlegen, ist der beabsichtigte Zweck dabei rein formal und intern. Die Konstruktion ist von literarisch-ästhetischen Zwecken geleitet, nicht von akademischen. Nichtsdestotrotz spricht nichts dagegen, dass ein Tugendrad seine literarisch-ästhetischen Zwecke erfüllt und gleichzeitig zur Bildung seiner Leser beiträgt. Das Reflektieren über die Tugenden eines Charakters in einer Fiktion und im wirklichen Leben kann insofern ineinander übergehen, da Charakter in beiden Fällen dasselbe bedeutet, d. h. ein Ensemble aus Tugenden und Lastern. Deswegen können wir fiktive Charaktere anhand derselben Personenschemata verstehen, mit denen wir uns gegenseitig verstehen. Außerdem sind Begriffe etwas Allgemeines: die Verwendungsweise eines Begriffs in einem bestimmten Kontext kann nicht davon isoliert werden, wie er in anderen Kontexten verwendet wird. Wenn die durch die Lektüre von Fiktionen hervorgerufene begriffliche Aktivität mit der durch philosophische Gedankenexperimente hervorgerufenen Aktivität vergleichbar ist, sollten wir ihr einen kognitiven Status zusprechen.39 Die durch Fiktionen ermutigte vorstellende Interpretation von Begriffen ist nicht bloß ein reflektierendes Spiel mit den Begriffen, über die wir bereits verfügen, oder ihre Anwendung. Sie ähnelt strukturell und ihrem Wesen nach der Funktionsweise von philosophischen Gedankenexperimenten. Sie beruht auf dem Vorwissen des Begriffsverwenders und ruft Intuitionen hervor, um Begriffe zu klären und Vagheiten in Bezug auf ihre Anwendung aufzulösen. Wenn Philosophen meinen, solche Gedankenexperimente würden Wissen generieren, dann trifft das auch auf literarische Fiktionen zu, die ein Tugendrad umfassen. Insgesamt spricht vieles dafür, dass literarische Fiktionen die vorstellende Reflexion über Begriffe ermutigen und befördern und dass dies Wissen hervorbringt, insofern sich unser Verständnis von Begriffen ändert. Eine derartige begriffliche Bereicherung findet als Teil unserer literarisch-ästhetischen Auseinandersetzung mit Fiktionen statt 39

Mehr zu dieser Diskussion findet sich bei Elgin 2007 und Davies 2007.

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und nicht, weil wir diese kleinen Wissensbrocken auf Kosten der ästhetischen Erfahrung ausgraben. Die begriffliche Bereicherung ist vielmehr direkt mit unserer ästhetischen Reaktion auf das Werk verbunden.

6.

Fazit

Ich wollte zeigen, inwiefern die imaginativen Aspekte von Fiktionen kognitiv wertvoll sein können – sowohl durch den vorgestellten Inhalt von Fiktionen als auch die vorstellende Aktivität, die sie dem Leser abverlangen. In unserem Leben lernen wir wichtige Dinge nicht nur durch direkte Erfahrungen mit der Wirklichkeit und durch das Zeugnis anderer, sondern auch durch vorstellende Erfahrung. Unsere Vorstellungen können uns dabei helfen, die praktischen Fähigkeiten des Planens und Entwickelns von Strategien zu verbessern, den Reiz bestimmter Lebensziele und Werte zu begreifen und die Begriffe zu verstehen und anzuwenden, die Bestandteile unseres Wissens sind. Da fiktionale literarische Werke uns dazu einladen, uns auf ausgedehnte vorstellende Erfahrungen einzulassen, können sie eine wichtige Quelle derartiger Fähigkeiten, Werte und Begriffe sein. Gute fiktionale Werke rufen aktive und oft intime Vorstellungen hervor und präsentieren uns Gelegenheiten, um unsere praktischen Fähigkeiten auszuüben. Sie fordern zudem unsere Reflexion über die dargestellten imaginativen Szenen sowie über die Gedanken, Handlungen und Dilemmata der Charaktere heraus, was wiederum einen Einfluss auf unser begriffliches Reservoir haben kann. Wenn diese Tätigkeit Früchte trägt und uns hilft, uns besser in unserem Leben und der Welt zurechtzufinden, haben wir sicherlich etwas von kognitivem Wert aus unserer Auseinandersetzung mit Fiktionen gelernt. Fiktionale Werke können Wahrheiten vermitteln, und oft tun sie dies auch. Doch eine Wahrheit, die in einzelnen Sätzen aus einem Roman mit Tausenden von Wörtern destilliert werden kann, hat meist keinen großen Wert. Viel wertvoller sind die Ergebnisse der imaginativen Exkursionen, die wir beim Lesen unternehmen, und die reflexive Nachwirkung dieser Reisen. Übersetzung aus dem Englischen von Michael Weh Literaturverzeichnis

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Das Wissen der Literatur und die epistemische Kraft der Imagination1

In diesem Beitrag möchte ich eine Version des literarischen Kognitivismus vertreten, der zufolge Literatur uns mit bestimmten Erfahrungen vertraut macht und unsere Perspektiven auf die Welt vervielfältigt. Um diese These zu erläutern und zu begründen, werde ich zunächst für eine Erweiterung des Wissensbegriffes in der Erkenntnistheorie und Ästhetik plädieren, indem ich die Grenzen der traditionellen Wissenskonzeption und die Bedeutung des Erfahrungsbegriffs für das Verständnis des kognitiven Werts der Literatur darlege. Die epistemische Kraft der Imagination wird mich in einem nächsten Schritt beschäftigen, bevor ich abschließend auf einige moralisch relevante Aspekte der kognitiven Leistungen der Literatur aufmerksam mache.

1.

Literatur und ihre epistemische Funktion: Spielarten des literarischen Kognitivismus

In diesem Beitrag gehe ich von der in rezenten Debatten häufig diskutierten philosophischen Position des literarischen Kognitivismus aus. Der literarische Kognitivismus spezifiziert die zwei Hauptthesen des ästhetischen Kognitivismus, die sich auf alle Künste beziehen, für den konkreten Bereich der Literatur.2 Die erste These ist erkenntnistheoretisch und behauptet, dass literarische Werke einen kognitiven Wert haben. Die zweite ist eine ästhetische These und besagt, dass der kognitive Wert ein wesentlicher Bestandteil des ästhetischen Wertes ist. 1

2

Zu Dank verpflichtet bin ich Berys Gaut für seine freundliche Aufnahme während meines Forschungsaufenthaltes in St. Andrews im März 2012, wo ich die erste Fassung dieses Aufsatzes ausgearbeitet habe. Der Text hat auch von den zahlreichen Anregungen profitiert, die ich von Josep Ma. Bech, Francesc Perenya und Joan Gonzàlez Guardiola im Rahmen zweier Workshops 2012 und 2013 an der Universitat de Barcelona bekommen habe. Norbert Axel Richter danke ich für das Lektorat. Vgl. Gaut 2006, 115; auch Gaut 2007, 136.

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Die hier vertretene Auffassung von Literatur ist im Kern anti-essentialistisch. Ich verzichte daher auf den Versuch, den Terminus ausgehend von notwendigen und hinreichenden Bedingungen zu definieren. Meiner Ansicht nach lassen sich keine Merkmale finden, die alle literarischen Werke charakterisieren. „Literatur“ verstehe ich im Anschluss an einen Vorschlag von Berys Gaut (der auf Kunst im Allgemeinen gemünzt war) als einen „Clusterbegriff“, der durch eine offene Liste von Kriterien erläutert werden kann.3 Von allen diesen verschiedenen Kriterien für Literatur interessiert mich hier nun ein einziges: ihr kognitiver Wert. Dementsprechend werde ich mich in diesem Aufsatz auf die erste der beiden Thesen des literarischen Kognitivismus beschränken. Diese Fokussierung auf die epistemische Leistung der Literatur ist mit der Ansicht verträglich, dass Literatur sich auch durch andere Kriterien, Funktionen und Werte bestimmen lässt. Darüber hinaus ist anzumerken, dass in diesem Aufsatz „Kognition“ nicht als das Gegenteil von „Gefühl“ verstanden wird, wie einige Autoren es tun, wenn sie zwischen emotiven und kognitiven Funktionen der Literatur unterscheiden. Denn beide Aspekte sind aufeinander bezogen: Auch Gefühle haben eine kognitive Funktion, und kognitive Leistungen werden oft von Interessen und Gefühlen geleitet. Inwiefern ist die kognitive Funktion für die Literatur wesentlich? Durch welche Mechanismen realisiert sie sich? Wie ist der „kognitive Wert“ zu verstehen? Die erkenntnistheoretische These des literarischen Kognitivismus hat viele Lesarten, je nachdem, wie diese Fragen beantwortet werden. Einige Vertreter der These der „kognitiven Verstärkung“ verstehen den Erkenntniswert der Literatur als Schulung bestimmter kognitiver Fähigkeiten; so besitzen wir etwa nach der Lektüre eines Werkes mehr Begriffe und mehr linguistische Ressourcen, um die Welt besser zu beschreiben und wahrzunehmen.4 Die „literarischen Propositionalisten“ plädieren dagegen dafür, den Erkenntniswert der Literatur im Sinne einer Vermittlung von wahren gerechtfertigten Meinungen zu verstehen, d. h. im Sinne der Vermittlung von Wissen im klassischen Sinne des Wortes.5 Eine weitere Gruppe von Autoren votiert für eine Erweiterung des Wissensbegriffs durch Einbeziehung nicht-propositionaler Erkenntnisformen. Als nicht-propositional gilt das „praktische Wissen“, das im vorliegenden Kontext als Wissen davon, wie man etwas tun kann oder soll, zu verstehen ist, aber auch das „Wissen, wie es wäre“, d. h. wie es sich

3

4 5

Vgl. Gaut 2000, 24–44. Die Clustertheorie stützt sich auf einen Vorschlag von Morris Weitz, „Kunst“ als einen offenen Begriff („open concept“) im Sinne von Wittgensteins Konzept der Familienähnlichkeit zu verstehen. Die Theorie geht aber über Wittgenstein hinaus, indem sie versucht, Kriterien für das Erkennen von Ähnlichkeiten zu entwickeln (vgl. Weitz 1956, 27–35; ferner Weitz 1977, 49–90). Zu einer Familienähnlichkeitstheorie der Literatur, dem Verzicht auf eine Begriffsdefinition und der Suche nach einer Funktionsbestimmung, welche die Literatur nicht anhand einer Begriffsdefinition, sondern durch eine Bestimmung ihrer kognitiven Funktion erklärt vgl. auch Gabriel v. a. 2013. Diese Bezeichnung übernehme ich von Peter Lamarque (vgl. Lamarque 2007a, 24). Als Hauptvertreter dieser Ansicht sind Huemer 2007 und Gibson 2007 zu erwähnen. Die Bezeichnung übernehme ich von Gabriel (vgl. Gabriel 1975). Lisa Jones (2013) spricht von der „Propositionen-Theorie“. Damit scheint sie mir in der Tradition von Monroe C. Beardsley zu stehen. Vgl. Beardsley 1981, 369. Lamarque und Olsen beziehen sich auf diese Theorie als „propositional theory of literary truth“ (vgl. Lamarque/Olsen 1994).

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anfühlt, in einer bestimmten Lebenssituation zu sein bzw. eine bestimmte Erfahrung zu machen. In Anbetracht dieser verschiedenen Wissensformen werde ich in diesem Aufsatz eine allgemeine und eine konkrete These über den kognitiven Wert der Literatur vertreten. Meine allgemeine These besagt zunächst, dass der kognitive Wert von Literatur erkenntnispluralistisch aufzufassen ist. Es ist unzweifelhaft, dass Literatur unsere kognitiven Ressourcen verbessern kann und dass sie uns sowohl propositionales als auch nicht-propositionales Wissen vermitteln kann. Die konkrete These besagt, dass von diesen beiden Wissensformen nur eine für die Literatur wesentlich und konstitutiv ist. Es handelt sich um die nicht-propositionale Leistung des „Wissens, wie es wäre“, die Leistung also, uns mit bestimmten Situationen vertraut zu machen. Den ersten Schritt zum Beweis dieser konkreten These möchte ich liefern, indem ich Argumente gegen die Reduktion des Wissens der Literatur auf propositionales Wissen entwickle und für eine Erweiterung des Wissensbegriffes plädiere.

2.

Die traditionelle Wissenskonzeption und der literarische Propositionalismus

Die moderne Erkenntnistheorie wird von der Auffassung dominiert, dass jedes Wissen propositional ist.6 Denker, die dieser Konzeption treu geblieben sind, haben im Rahmen des „literarischen Propositionalismus“ versucht, den kognitiven Wert der Literatur als Vermittlung von wahren gerechtfertigten Überzeugungen zu erläutern. Wie werden wahre gerechtfertigte Überzeugungen durch literarische Texte vermittelt? Diese Überzeugungen können zwar auf der Textebene gefunden werden, aber wenn der literarische Propositionalist über das Wissen der Literatur spricht, hat er nicht nur die Textaussagen im Auge, sondern er will auch die rezeptive und interpretative Tätigkeit des Lesers einbeziehen. Daher behauptet der literarische Propositionalist, dass die Wissensvermittlung auf einer zweiten Ebene, der Ebene der Interpretation der Aussagen des Textes, stattfindet. Morris Weitz vertritt in „Does Art tell the Truth?“ (1943) eine starke Version des literarischen Kognitivismus, der zufolge einige literarische Werke Wahrheiten aussprechen und diese Wahrheiten ein Teil des ästhetischen Wertes sind. Die Wahrheiten der Literatur sind aber nicht auf der Ebene des Textes zu finden, sondern auf einer Ebene zweiter Ordnung. Diese Ebene wird wie folgt beschrieben: „[…] a depth-meaning is one which, psychologically, is suggested by and, logically, is a function of the surface meanings of the work of art. It is here that the emotive meanings of art become symbolic and where one is to look for the truth claims of literature.“7 Weitz spricht von einer Bedeutung zweiter Ordnung („second-order meaning“), die mittels der Interpretation erreicht wird, und versteht diese Bedeutung als Bedeutung einer Proposition mit einem Wahrheitswert. Exemplarisch illustriert Weitz diese These anhand des Romans Native Son von Richard Wright. Dieser Roman hat – so Weitz – eine Bedeutung zweiter Ordnung, die sich 6 7

Pritchard 2009, 3. Weitz 1943, 344.

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in mehreren Propositionen ausdrücken lässt, denen jeweils Wahrheit oder Falschheit zugeordnet werden kann. Die konkreten drei Propositionen dieses Romans lauten: 1) Die individuelle Freiheit ist noch ein unerfülltes Ideal in den Vereinigten Staaten, weil die sozialen Ungerechtigkeiten die individuelle Entwicklung verhindern; 2) die sozialistische Erneuerung ist der einzige Weg, die Unmenschlichkeit unserer Gesellschaft zu überwinden; 3) die einzige Freiheit, welche dem modernen Menschen gelassen wurde, ist die Freiheit, zu zerstören.8 Weitz nennt diese Propositionen auch „Themen“, aber diese „Themen“ haben eine thesenartige Struktur und können wahr oder falsch sein (manchmal – aber nicht notwendigerweise und in allen Fällen – sind sie sogar verifizierbar).9 Die Tatsache, dass Weitz diesen Wahrheitswert eher als eine Möglichkeit versteht und dass er von „Themen“ spricht, deutet auf eine Spannung in seiner Theorie hin, weil sich dies schlecht mit der These versöhnen lässt, der kognitive Wert der Literatur bestehe in der Wahrheitsvermittlung. Diese Spannung wird ihn dazu veranlassen, in späteren Texten auf den Wahrheitsbegriff zu verzichten. In Philosophy in Literature: Shakespeare, Voltaire, Tolstoy and Proust (1963) revidiert Weitz seine Meinung. In diesem Buch spricht er nicht mehr von Propositionen mit einem Wahrheitswert, sondern von Themen, und diese Themen werden hier als Ideen über die menschliche Natur, das Fühlen, das Handeln, die Gesellschaft und die Realität verstanden.10 So würden etwa in Voltaires Candide zwei philosophische Themen behandelt: dass Optimismus absurd sei und dass der Mensch kein utopisches Glück wolle.11 Die Behandlung beider Themen findet nicht anhand von Argumenten statt, sondern sie werden dem Leser mittels einer Abfolge von Katastrophen gezeigt. Vermittelt werden sie nicht nur durch die Aussagen des Textes oder durch deren Interpretation, sondern auch mithilfe des Plots, der Dialoge, der Beschreibungen und Charaktere, durch den ‚Ton‘ der Darstellung usw. Weitz hat in diesem Buch den literarischen Propositionalismus im Grunde genommen schon aufgegeben: Die Themen der Literatur versteht er nicht als Thesen, sondern als Ideen, und diese verbindet er nicht mehr unbedingt mit einem möglichen Wahrheitswert. Eine heutige Vertreterin des literarischen Propositionalismus ist Catrin Misselhorn. Dieser Autorin zufolge ist der Anspruch auf Wahrheit für die Literatur konstitutiv und hat Einfluss auf ihren ästhetischen Wert.12 Als Resultat der interpretativen Tätigkeit, die nicht nur darin besteht, die Aussagen zu verstehen, sondern auch darin, die Bedeutung des Textes zu erschließen, kommt – so Misselhorn – der Leser zu einer Menge von Propositionen, welche nicht unbedingt wahr sind, aber Anspruch auf Wahrheit erheben.13 Nun kann man sich kritisch fragen, warum man am Wahrheitsbegriff noch festhalten sollte, wenn Wahrheiten nicht unbedingt verifizierbar sind. Noch problematischer ist 8 9 10

11 12 13

Ebd., 344ff. Vgl. zur Unterscheidung zwischen Thema und These: Beardsley 1981 (zuerst 1958), 405–411. Weitz 1963, 9. In diesem Buch behauptet Weitz – genauso wie in der vorherigen Schrift –, nicht alle guten literarischen Werke würden Themen behandeln. Denn es gebe Literatur, die bloß Ausdruck der Phantasie sei und zur Unterhaltung diene. Weitz 1963, 92. Misselhorn 2011, 22. Ebd., 29, 34.

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aber für den Propositionalismus die Frage nach der Interpretation. Woher wissen wir, dass eine Interpretation, die den Wahrheitsgehalt erschließen soll, richtig ist? Muss sich diese Interpretation mit der Absicht des Autors decken oder mit der herrschenden Interpretation eines Werkes, die sich innerhalb der Praxis der literarischen Kritik etabliert hat? Diese Probleme finden im Rahmen des literarischen Propositionalismus keine befriedigende Lösung. Auch wenn Literatur Wissen in Form von Überzeugungen, die verifiziert und gerechtfertigt werden können, vermitteln kann, erschöpft sich ihr Erkenntnisgewinn nicht in dieser möglichen Leistung. Das Problem des literarischen Propositionalismus liegt eben in seinem Anspruch, das Wissen der Literatur als ausschließlich propositionales Wissen zu erklären. Wenn es so wäre, ginge aber die eigentümliche Erkenntnisleistung der Literatur verloren, und ihr kognitiver Wert bestünde darin, Wahrheiten anderer Disziplinen zu vermitteln; Erkenntnis wäre eine bloße „Nebenwirkung“ des Lesens. Gegen den literarischen Propositionalismus möchte ich zwei Einwände präsentieren, die in der Debatte oft gegen den literarischen Kognitivismus im Allgemeinen vorgebracht worden sind, die aber – so meine These – nur seine propositionalistische Lesart betreffen.

3.

Die Wissensskeptiker und die Grenzen des literarischen Propositionalismus

a.

Der Verdoppelungseinwand und die kognitive Trivialität der Literatur

Einer der bekanntesten Einwände gegen den literarischen Kognitivismus im Allgemeinen wurde von Stolnitz in „On the Cognitive Triviality of Art“ (1992) formuliert. In knapper Form ausgedrückt, vertritt Stolnitz die doppelte These, dass es im Unterschied zu Wissenschaft, Geschichte, Philosophie oder Religion keine eigene „artistische Wahrheit“ im Bereich der Kunst gebe und dass die Wahrheiten der Kunst trivial seien, weil sie mittels anderer Wissenschaften besser erworben werden könnten.14 Den ersten Teil der These, der die Inexistenz der „artistischen Wahrheiten“ betrifft, belegt Stolnitz mit folgenden Beobachtungen: 1) Es gibt keine Methode für die Wahrheitsentdeckung in der Kunst; 2) es gibt keine artistische Evidenz; 3) es existiert kein Corpus von artistischen Erkenntnissen: Was in einem Werk als Wahrheit gilt, wird in einem anderen Werk bestritten; 4) die Kunst untersucht keinen eigenen Bereich der Realität; 5) es gibt keine Experten für die artistische Wahrheit und 6) das, was als artistische Wahrheit bezeichnet wird, hat mit Wissen nichts zu tun: Oft wird „artistische Wahrheit“ mithilfe von Begriffen wie „Authentizität“ oder „Kohärenz“ erklärt, aber damit wird kein eigener Bereich von Wahrheiten bezeichnet, denn es handelt sich um Metaphern.15 Aus der zutreffenden Beobachtung, dass es keine „artistische Wahrheit“ gibt, schließt aber Stolnitz irrtümlicherweise den zweiten Teil seiner These, dem zufolge die einzige kognitive Leistung der Literatur darin bestehe, Wahrheiten anderer Disziplinen zu vermitteln. 14 15

Stolnitz 2004 (zuerst 1992), 322. Die verschiedenen Argumente lassen sich im Text von Stolnitz auf folgenden Seiten finden: 317, 320, 321 und 322.

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Eben aus diesem Grund ist die Literatur in Stoltnitz’ Augen kognitiv „trivial“ und ihre Wahrheiten sind stets „verdoppelt“, da sie eigentlich die Wahrheiten anderer Disziplinen sind. Dieser Trivialitäts- bzw. Verdoppelungseinwand16 lässt sich gut gegen den literarischen Propositionalismus wenden. Denn diese Ansicht versteht die kognitive Leistung der Literatur als Vermittlung von wahren gerechtfertigten Meinungen, und diese sind in der Tat besser aus Psychologie-, Geographie- oder Geschichtsbüchern zu erwerben als aus literarischen Werken. Der Einwand aber gründet auf einem sehr beschränkten und monistischen Bild des kognitiven Wertes, denn er berücksichtigt nur die Wissensvermittlung als kognitiv wertvoll. Dabei wird erstens ignoriert, dass Tätigkeiten wie etwas zu verstehen, mit etwas vertraut zu werden, Einsicht in etwas zu gewinnen, etwas einzuschätzen (und dergleichen mehr) ebenfalls kognitiv relevant und vielleicht sogar kognitiv relevanter sind als die Wissensvermittlung.17 Zweitens ist das Bild des Wissens als einem Corpus von Wahrheiten unvollständig, wenn gleichzeitig andere Aspekte wie der Wille zur Klarheit, die Unterscheidungsfähigkeit, die Orientierungsfähigkeit und der Scharfsinn nicht berücksichtigt werden.18 Darüber hinaus scheint der Einwand zu ignorieren, dass es auch andere Wissensquellen als Schlussfolgerungen und Inferenzen gibt: Wissen kann auch durch Wahrnehmung, Erinnerung, Zeugnis anderer und – wie ich später betonen werde – Imagination erworben werden.19 Diese drei Beobachtungen, die den Akzent auf nicht-propositionale Aspekte des kognitiven Wertes legen, spielen eine wichtige Rolle für die Erweiterung des Wissensbegriffes und die kognitive Funktion der Literatur, wie im Folgenden zu zeigen ist. Also trifft der Trivialitätseinwand nur die propositionalistische Version des literarischen Kognitivismus, nicht aber eine erweiterte Version, die auf den erwähnten kognitiv wertvollen Elementen gründen würde.

b.

Die „Keine Wahrheit“-These und der kognitive Wert als Nebenprodukt

In dem für die Philosophie der Literatur kanonischen Buch Truth, Fiction, and Literature (1994) haben Lamarque und Olsen im Rahmen einer humanistischen Ansicht gegen die erkenntnistheoretische These des literarischen Kognitivismus argumentiert. Der Wert der Literatur besteht laut diesen Autoren darin, die ewigen Themen der Menschen zu behandeln, und nicht in der Vermittlung von Wissen. Besonders Lamarque hat in mehreren Aufsätzen dafür plädiert, dass Wahrheit kein fundamentaler Wert der Literatur sei, und daher sei – so seine Schlussfolgerung – die Erkenntnisvermittlung nicht wesentlich für die literarische Praxis.20 16

17 18 19 20

Ich verwende hier die Ausdrücke „Verdoppelungs-“ und „Trivialitätseinwand“ als Synonyme und folge damit Gabriel, auch wenn dieser sich nicht auf Stolnitz bezieht. Vgl. Gabriel 1975, 64–65 und Gabriel 2008, 73. In der angelsächsischen Debatte ist aber „Trivialitätseinwand“ die gängige Bezeichnung. Vgl. Kvanvig 2003 zu der Ansicht, dass andere kognitive Tätigkeiten wichtiger als Wissen sind. Im selben Sinne Scholz 2001, 37; ferner Gabriel 2008, 731. Im selben Sinne Gaut 2007. Diese Ansicht vertritt er etwa in: Lamarque 2007a, 13, 21–22 sowie Lamarque 2007b, 14.

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Genauso wie bei Stolnitz wird bei Lamarque der „kognitive Wert“ auf die Vermittlung von wahren gerechtfertigten Überzeugungen zurückgeführt. Im Gegensatz zu ihm aber räumt er die Möglichkeit ein, dass die Literatur Wissen vermittelt, wenn dies auch nur als ein „Nebenprodukt“ dieser Praxis zu verstehen ist. Da der kognitive Wert für die Literatur nicht wesentlich ist, ist sie auch für den ästhetischen Wert nicht wichtig. Im Folgenden möchte ich zwei der Hauptargumente für Lamarques „No-Truth“-These diskutieren. Dem ersten Argument zufolge unterscheiden sich Philosophie und Literatur in ihren Zielen und Arbeitsmethoden. Während das Ziel der Philosophie darin besteht, unsere Erkenntnis zu erweitern, lesen wir Literatur – so Lamarque – nicht um der Wahrheit willen, sondern weil wir nach Vergnügen streben.21 Was die Methoden anbelangt, arbeitet die Philosophie im Unterschied zur Literatur mit Argumenten und rationaler Überzeugung. Prägnant ausgedrückt: „It is not just that literary fictions do not rely, as does philosophy, on rational persuasion, rather they are not ,constitutively cognitive‘ in the sense described; they do not have the transmission of belief as part of their very nature.“22 Laut dem zweiten Argument gibt es Praxen wie die Philosophie, die Geschichtsschreibung und die Wissenschaft, bei welchen das Lernen ein integraler Bestandteil der Praxis ist: Sie sind in dieser Absicht geschaffen worden und man wendet sie an, um Erkenntnis zu gewinnen. Es ist hingegen keine definitorische Eigenschaft der Literatur, dass sie sich mit Erkenntnis befasst, wenn dies auch als eine Art Nebenprodukt dieser Praxis geschehen kann. In Bezug auf das erste Argument ist zu bemerken, dass die Trennung von Philosophie und Literatur nach Maßgabe ihrer unterschiedlichen Ziele und Vorgehensweisen problematisch ist. Man verkennt damit zum einen, dass das Vergnügen an der Literatur selbst einen kognitiven Wert haben kann, etwa indem es die Lektüre motiviert und das Interesse fokussiert; und zum anderen, dass es literarische Formen der Philosophie gibt, die Gedichte, Dialoge oder andere Besonderheiten der Textstruktur methodisch benutzen, um dem Leser bestimmte Ideen zugänglich zu machen.23 Das zweite Argument, das zwischen definitorischen und nicht-definitorischen Eigenschaften einer Disziplin unterscheidet, beruht auf einer Verwechslung. Die Tatsache, dass eine bestimmte Praxis nicht zum Zweck der Wissensvermittlung geschaffen worden ist, schließt nicht aus, dass im Verlauf der Praxis Wissen vermittelt wird und dass dies wesentlich für diese Praxis ist. Damit eine Eigenschaft wesentlich für eine Praxis ist, ist es nicht notwendig, dass diese Eigenschaft schon vor der Realisierung der Praxis besteht. Emergente Eigenschaften, die erst im Laufe eine Praxis entstehen, sind nicht unbedingt „Nebenprodukte“; sie können vielmehr für diese Praxis durchaus konstitutiv und wesentlich sein. Lamarque reduziert hier Werte auf Ziele, und damit wird der Wert der literarischen Praxis als Tätigkeit ignoriert. Auch wenn Lamarques Argumente ihre Grenzen haben und wenn er auch mit einem reduzierten Begriff des kognitiven Wertes arbeitet, bin ich mit seiner Diagnose einverstanden, dass Wahrheit für die Literatur nicht konstitutiv ist. Dieser Einwand richtet sich 21 22 23

Lamarque 2007a, 22. Lamarque 2007b, 15, 20. Danto 1984, vgl. auch die Beiträge in Gabriel/Schildknecht 1990.

126

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gegen den literarischen Propositionalismus, aber er liegt falsch, wenn er aus dessen Unhaltbarkeit folgert, dass die Erkenntnisvermittlung für die Literatur nicht wesentlich sei. Damit ignoriert er – wie auch Stolnitz –, dass es Wissensformen gibt, die nicht propositional sind, und dass eben der Erkenntnisgewinn der Literatur darin besteht, uns diese Wissensformen zu vermitteln. Diese letzte These lässt sich im Übrigen gut mit Lamarques „humanistischer Intuition“ vereinbaren, dass die Literatur uns mit den wichtigsten menschlichen Angelegenheiten vertraut macht.

4.

Das „Wissen, wie es wäre“ und die literarische Vergegenwärtigung

a.

Subjektivität, Erfahrung und Perspektive: das „Wissen, wie es wäre“

Geht man von der Unzulänglichkeit des literarischen Propositionalismus und von der Notwendigkeit aus, nicht-propositionale Aspekte einzubeziehen, um dem Wissen der Literatur Rechnung zu tragen, so erscheint es sinnvoll, im Anschluss daran die Plausibilität einer weiteren Lesart des Kognitivismus zu untersuchen. Diese Variante erklärt das Wissen der Literatur als „Wissen, wie es wäre“, in einer bestimmten Situation zu sein. Den Vertretern der These des „Wissens, wie es wäre“ zufolge hat Gilbert Ryle in seinem Buch The Concept of Mind einen ersten Schritt zur Pluralisierung des Wissensbegriffs gemacht. In Ryles Buch wird zwischen „theoretischem Wissen“ als Erwerb von wahren gerechtfertigten Überzeugungen und „praktischem Wissen“ als Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten unterschieden, die entstehen, wenn wir einer expliziten oder impliziten Regel folgen.24 Praktisches Wissen ist eine Form von nicht-propositionalem Wissen, aber – so die Theoretiker des „Wissens, wie es wäre“ – nicht die einzige! Die Erweiterung des Wissensbegriffs durch Ryle soll also nur als Anregung verstanden werden, weitere Formen nicht-propositionalen Wissens zu erkunden.25 Dieser Idee zufolge hat Wissen nicht nur mit objektiven Standpunkten zu tun. Es gibt einen nichteliminierbaren subjektiven Standpunkt, der uns Aspekte des Lebens offenbart, die aus einer objektiven Perspektive nicht ans Licht kämen.26 Diese Idee eines subjektiven Standpunkts legt den Akzent auf den qualitativen phänomenalen Erfahrungsaspekt. Man kann sie aber weiterentwickeln, indem man die Idee einer Perspektive bzw. einer Verortung, ausgehend von der eine bestimmten Situation erlebt wird, in den Mittelpunkt rückt. Beide Aspekte, derjenige der Erfahrung und derjenige der Perspektive, sind als zwei Seiten einer Medaille zu verstehen, auch wenn der Erfahrungsaspekt als erster gegeben ist.27 24

25 26 27

Ryle 1949. In seinem Buch geht es Ryle zwar weniger darum, verschiedene Wissensformen voneinander zu unterscheiden, als gegen eine Überintellektualisierung des menschlichen Geistes zu argumentieren, dennoch sind seine Überlegungen prägend für die erkenntnistheoretische Debatte um verschiedene Arten des Wissens. Ich übernehme diese Interpretation Ryles von Beardsmore (vgl. Beardsmore 1972, 24). Das hat Thomas Nagel u. a. in The View from Nowhere zutreffend bemerkt: Nagel 1986, 5. Vgl. für eine ähnliche Auslegung Nagels: Lamarque/Olsen 1994, 368–394. Lamarque und Olsen aber trennen beide Aspekte zu stark voneinander. Vgl. Burri 2007 zu einer Weiterentwicklung der These, dass Literatur uns einen maximalen subjektiven Standpunkt zugänglich macht.

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Um dieses Wissen zu bezeichnen, wird in der aktuellen Debatte von einem „subjektiven Wissen“, einem „Wissen, wie es ist“, „Wissen, wie es wäre“, „erlebnishaften Wissen“ oder „Wissen, wie es sich anfühlt“ gesprochen.28 Wenn behauptet wird, dass man wisse, wie es ist, sich plötzlich in jemanden zu verlieben, sich nachts allein im Wald verlaufen zu haben oder arm und isoliert in einer Großstadt zu leben, handelt es sich hier um ein Wissen von Erlebnisqualitäten und nicht um den Erwerb von wahren und gerechtfertigten Überzeugungen.29 In diesen Fällen wird der Wissensbegriff benutzt, um die Bekanntschaft mit einem Phänomen auszudrücken. Diese Bekanntschaft kann sehr genau und präzise sein, aber sie ist nicht propositionaler Natur.30 Diese Idee eines Bekanntschaftswissens ist nicht neu und hat in der Philosophie eine lange Tradition, sei es im Sinne einer bloßen Vorstufe von „echtem“ Wissen oder im Sinne einer gleichrangigen und komplementären Wissensform. Die Unterscheidung wird in den lateinischen Termini „noscere“ und „scire“ zum Ausdruck gebracht, deren Differenz in vielen romanischen Sprachen noch lebendig bleibt. „Noscere“ könnte man als „Kennen“ ins Deutsche übersetzen und würde eine durch Empfindung vermittelte Bekanntschaft bezeichnen; „scire“ hingegen wäre als begriffliches „Wissen“ bzw. „Erkennen“ zu verstehen. Diese Unterscheidung hat Russell mit den Ausdrücken „knowledge by acquaintance“ (als ein Wissen, das durch unmittelbare Bekanntschaft, Erfahrung oder Könnerschaft entsteht) und „knowledge by description“ (das auf Schlüssen basiert) fruchtbar gemacht.31 Diese Thesen über das „Wissen, wie es wäre“ sind aufschlussreich, wenn es darum geht, die genuine kognitive Funktion von Literatur zu erläutern: Sie kann propositionales Wissen vermitteln, ihre eigentümliche Leistung aber besteht darin, uns mit bestimmten Erfahrungen bekannt zu machen und uns die Welt aus einer bestimmten Perspektive zu präsentieren. Die Formulierungen zweier der Hauptvertreter dieser Ansicht lauten wie folgt. Dorothy Walsh schreibt: „[L]iterary art, when functioning successfully as literary art, provides knowledge in the form of realization: the realization of what anything might come to as a form of lived experience.“32 Unabhängig von dieser „realizations“These Walshs versteht Gottfried Gabriel die kognitive Leistung der Literatur als die einer imaginativen „Vergegenwärtigung (allgemein-)menschlicher Erfahrungen“.33 In der „imaginativen Vergegenwärtigung“ bestimmter menschlich relevanter Erfahrungen liegt – so die These beider Autoren, die ich weiterentwickeln möchte – die genuine epistemische Funktion der Literatur. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass bei dem „Wissen, wie es wäre“ die Kategorien von Wahrheit und Falschheit fehl am Platz sind. Das Gegenteil des „Wissens, wie es wäre“ ist nicht der Irrtum – wie im Fall des propositionalen Wissens –, sondern die Ignoranz oder die Unkenntnis.34 Darüber hinaus sind einige dieser Erfahrungen emo28 29 30 31 32 33 34

Als Hauptvertreter dieser Position gelten u. a.: Walsh 1969, Gabriel 1975, 2008 und 2010, Wilson 1983, Schildknecht 2007, Feagin 1996, Reicher 2007, Scholz 2001 und Döring 2001. Ich übernehme diese Beispiele von Walsh 1969, 100. Gabriel 2008, 734. Russell 1905. Gabriel 2010 spricht in diesem Zusammenhang von Kennen und Erkennen. Walsh 1969, 136. Gabriel 1975, 86, vgl. auch Gabriel 2008 und 2010. Vgl. zur Opposition „knowledge vs. falsehood“ und „knowledge vs. ignorance“ Walsh 1969, 97 und 109. Das bedeutet nicht, dass diese Erfahrungen keine Korrektheitsbedingungen haben; diese sind

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tionaler Natur, so dass mit Gefühlen vertraut zu werden als kognitive Leistung gilt und damit die strenge Trennung zwischen kognitiven und emotionalen Funktionen der Literatur aufgehoben wird.

b.

Direkte vs. indirekte Bekanntschaft: Alltagserfahrung und virtuelle Erfahrung

Ein zentraler Aspekt der Vergegenwärtigungsthese Walshs und Gabriels ist die Rolle des Erfahrungsbegriffs. Wenn die Literatur uns mit Erfahrungen bekannt macht, ist zu fragen, inwiefern die literarische Erfahrung den Erfahrungen unseres Alltagslebens gleicht oder sich vielmehr durch spezifische Merkmale von ihnen unterscheiden lässt. Einige Vertreter des „Wissens, wie es wäre“ haben den kognitiven Wert der Erfahrung erläutert, ohne dabei die Alltagserfahrung von der literarischen Erfahrung zu unterscheiden. So definiert etwa Maria Reicher das „erlebnishafte Wissen“ als „Bekanntschaft mit bestimmten Erlebnisqualitäten“ und versteht diese Bekanntschaft sowohl emotional – ich weiß, wie es ist, von einem geliebten Menschen verlassen zu werden – als auch sinnlich: Ich weiß, wie Ananas schmeckt.35 Dabei klingt es so, als ob die dank der literarischen Vergegenwärtigung erworbene Bekanntschaft mit bestimmten Erlebnisqualitäten sich von der direkten Bekanntschaft mit Erlebnisqualitäten in unserer Alltagserfahrung nicht unterscheiden würde. In beiden Fällen würde es sich dann um dasselbe „knowledge by acquaintance“ handeln, d. h. um dieselbe Art von Bekanntschaftswissen. Wenn es so wäre, würde sich die Frage stellen: Warum wenden wir uns der Literatur zu, um mit Erfahrungen vertraut zu werden, anstatt selbst Erfahrungen im Leben zu machen oder das unmittelbare Zeugnis Anderer zu suchen? Gewiss hat die literarische Erfahrung den Vorteil, dass wir uns die Risiken und Nachteile einer Alltagserfahrung ersparen (diesen Vorteil haben im Übrigen auch die Erfahrungen, die wir dank dem Zeugnis anderer machen). Es wäre aber ein Fehler zu denken, dass wir allein aus diesem Grund die Erfahrungen der Literatur vorziehen. Die Attraktivität der Literatur kann sich nicht in der Risikolosigkeit erschöpfen, mit der diese Erfahrungen gemacht werden.36 Die Idee, die ich hier fruchtbar machen möchte und die bei Walsh und Gabriel zu finden ist, besteht darin, das Wissen der Literatur nicht als direkte, sondern als eine indirekte Bekanntschaft zu verstehen.37 Einige Autoren, die sich auf Russell gestützt haben – wie etwa Reicher – haben nur die Form der unmittelbaren Bekanntschaft ins Auge gefasst und dabei die Tatsache vernachlässigt, dass die Bekanntschaft der Literatur immer durch die Vermittlung der Imagination stattfindet. Diese Rolle der Imagination ist aber ausschlaggebend, wenn es darum geht, die literarische Erfahrung von der Alltagserfahrung zu trennen. Die literarische Erfahrung besteht eben in der „Vergegenwärtigung“ einer Situation und nicht im unmittelbaren Erleben derselben. Den Unterschied zwischen propositionalem Wissen, direktem Bekanntschaftswissen und Vergegenwärtigungswis-

35 36 37

mithilfe von Begriffen wie Adäquatheit vs. Nicht-Adäquatheit oder Authentizität vs. Inauthentizität erklärt worden: Walsh 1969, 113 und Gabriel 2008, 731; ferner Scholz 2001, 38. Reicher 2007, 28–29. Im selben Sinne: Walsh 1969, 78–79. Walsh 1969, Gabriel 2008, Schildknecht 2013.

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sen als indirektem Bekanntschaftswissen betont Walsh etwa in folgender Passage: „This knowing is not the acquisition of information, or of inferential knowledge about something, as I might know that the cat is in the house on the basis of acquaintance with the cat-in-house situation, it is knowing in the sense of realizing by living through.“38 Die Vergegenwärtigung einer Situation ist von der Bekanntschaft einer Situation in der Hinsicht zu trennen, dass die erste in der Imagination stattfindet, die zweite hingegen nicht. Um den Unterschied zwischen den Erfahrungen noch stärker zu machen, die aus diesen zwei verschiedenen Modi, mit etwas vertraut zu werden, resultieren, werde ich im Anschluss an Dorothy Walsh von „virtueller Erfahrung“ und „Alltagserfahrung“ sprechen.39 Virtuelle Erfahrungen sind – genauso wie die Alltagserfahrungen – im Bewusstsein aktuell, aber sie werden im virtuellen Raum der Imagination erlebt. Und noch mehr: Es ist nicht nur so, dass die Imagination in Gang gesetzt wird, sondern auch so, dass dies auf eine bestimmte Art und Weise geschieht, nämlich angeregt durch den literarischen Text und nicht ganz arbiträr nach Lust und Laune des Subjekts. Aus diesem Tatbestand ergeben sich einige Unterschiede zwischen beiden Erfahrungstypen. Während die Alltagserfahrung episodisch und fragmentarisch ist, bildet die virtuelle Erfahrung eine Einheit und ist in einer bestimmten Form in dem literarischen Werk strukturiert und artikuliert. Die Sätze des Textes, der Ton, die stilistische Intensität, der Plot usw. – all dies sind Elemente, die ästhetisch relevant sind und bis ins kleinste Detail vom Autor gestaltet wurden, um beim Leser eine Reaktion hervorzurufen, so dass diese ästhetischen Eigenschaften zum kognitiven Wert der Literatur ihren Beitrag leisten. Darüber hinaus sind virtuelle Erfahrungen nicht als individuelle Erfahrungen einer Person zu verstehen, sondern besitzen mittels des literarischen Werkes eine öffentliche Präsenz, sind für viele Menschen zugänglich und können mehrmals erfahren werden, wenn auch jedes Mal mit unterschiedlichen Nuancen.40 Diese Eigenschaften erlauben es uns, eine Situation in der Imagination und angeleitet durch einen literarischen Text zu erleben, die wir vielleicht in unserem realen Leben nie erlebt hätten. Von Vorteil ist nicht nur, dass wir uns die unangenehmen Konsequenzen ersparen, mit denen die Situation im realen Leben in Verbindung stehen würde, sondern auch, dass die Erfahrung in der literarischen Form in einer prägnanten, nuancierten, detaillierten und ästhetisch gekonnten Weise gedacht, geschaffen, vermittelt und erlebt wird. Dieser letzte Grund ist dafür verantwortlich, dass wir Literatur lesen, anstatt direkte Erfahrungen zu sammeln oder dank des Zeugnisses anderer Menschen mit Erfahrungen vertraut zu werden.

38 39 40

Walsh 1969, 101. Ebd., 90 („ordinary experience“, „virtual experience“). Walsh stützt sich ihrerseits auf Susanne Langer. Ebd., 105, im selben Sinne auch 90.

130

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5.

Die imaginative Teilnahme: Imagination, Simulation und Einfühlung

a.

Perspektivisches und aperspektivisches Imaginieren

In Rahmen der Vergegenwärtigungsthese stellt sich die Frage nach der „imaginativen Teilnahme“ am literarischen Geschehen.41 Welche Spielarten des Imaginierens werden in Gang gesetzt, wenn wir uns mit Literatur befassen, an einer geschilderten literarischen Situation teilnehmen, uns in die Figuren hineinversetzen, eine virtuelle Erfahrung machen und eine Perspektive auf die Situation gewinnen? Diese Fragen möchte ich beantworten, indem ich zwei wichtige Aspekte des Imaginierens behandle: das Imaginieren ausgehend von einer bestimmten Perspektive und das Imaginieren ohne Standpunkt einerseits, das propositionale und experientielle Imaginieren andererseits. Eine erste Unterscheidung soll zwischen perspektivischem und aperspektivischem Imaginieren getroffen werden, um damit zwei Möglichkeiten des Sich-Hineinversetzens in einen Text zu bezeichnen. Ich wende mich zunächst der Möglichkeit des perspektivischen Imaginierens zu. Um diesen Begriff zu erläutern und ihn vom Begriff des aperspektivischen Imaginierens zu unterscheiden, werde ich die konzeptuelle Unterscheidung zwischen „zentralem“ und „azentralem“ Imaginieren von Richard Wollheim übernehmen und weiterentwickeln. Im Fall des „zentralen Imaginierens“ – so Wollheim – versetzt sich der Leser in die konkrete Perspektive einer Figur hinein und erlebt die literarische Situation ausgehend von dieser Perspektive. Das zentrale Imaginieren ist durch drei Merkmale gekennzeichnet: Der Gesichtspunkt einer Figur wird übernommen („point of view“), so dass wir ihr Denken, Fühlen und Erleben nachempfinden („plenitude“), um dann dazu zu neigen, in denselben Zustand wie die Figur zu geraten („cogency“).42 Ein wichtiger Aspekt dieser Idee des zentralen Imaginierens, den ich zunächst weiterentwickeln möchte, ist das Merkmal der „plenitude“, oder in Wollheims Definition: die Übernahme des Denkens, Fühlens und Erlebens einer Figur. Dies bedeutet, dass Wahrnehmungsinhalte, Erinnerungen, Phantasien, Überzeugungen, Annahmen, Wünsche und Gefühle der Figur übernommen werden. Dies wird oft unter der Rubrik „recreative imagination“ behandelt, um zu bezeichnen, dass der Leser fähig ist, Teilaspekte der Perspektive einer Figur zu übernehmen.43 Wollheims Gedanke kann weitergeführt werden: Der Leser nimmt, indem er den Gesichtspunkt der Figur übernimmt, für einen Augenblick die Situation so wahr, als ob die Persönlichkeitsmerkmale der Figur, ihre Biographie, ihre Art und Weise, die Welt zu sehen, seine eigenen wären. Wir erleben alles aus einer sehr subjektiven Perspektive heraus, die sich manchmal sehr stark von unserem gewöhnlichen subjektiven Standpunkt unterscheiden kann. Wir sind dann fä41

42 43

Ich spreche von „imaginativer Teilnahme“ und übernehme diesen Begriff von Walsh („imaginative participation“, Walsh 1969, 138). Gabriel spricht ebenfalls von „imaginativer Teilnahme“, aber er versteht diese als eine Art „kognitive Einfühlung“ (Gabriel 2008). Die Idee einer Einfühlung in fiktionale Figuren werde ich weiter unten kritisieren. Wollheim 1984, 79. Currie/Ravenscroft 2002.

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hig, die Welt mit den Augen einer der Figuren bzw. mit den Augen einer anderen Person zu betrachten. Hier steht die Art und Weise im Mittelpunkt, in der die Welt uns zugänglich wird, die Form, in welcher man sich auf die Welt richtet, auf was man aufmerksam wird und was das Interesse weckt. Schlicht und einfach: Wir übernehmen ein konkretes Wertsystem, das die konkreten Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten in der Welt vorherbestimmt. Dies bringt uns dazu, manchmal eine neue Perspektive auf die Welt zu gewinnen und uns in der literarischen Situation mit der Figur oder gegen sie zu positionieren. Ein weiterer Aspekt des perspektivischen Imaginierens ist die Unterscheidung zwischen zwei Formen der Perspektivenübernahme. Zum einen ist ein direktes Sich-Hineinversetzen in die Perspektive einer Figur möglich. In diesem Fall nimmt der Leser den Standpunkt eines oder mehrerer der Protagonisten ein und erlebt die Situation aus dieser Perspektive. Denkbar wäre auch ein indirektes Sich-Hineinversetzen in die Perspektive einer Figur mithilfe des Sich-Hineinversetzens in einen hypothetischen Leser. Diese Idee stammt von Currie. Er behauptet, dass der Leser Ersatzversionen der relevanten mentalen Zustände der Figuren entwickelt: I-Überzeugungen (imaginierte Überzeugungen) und I-Wünsche (imaginierte Wünsche).44 Auch wenn die imaginierten mentalen Zustände des Lesers denselben Inhalt haben wie die mentalen Zustände der Figuren und eine ähnliche Rolle im psychischen Zusammenhang spielen, sind die mentalen Zustände des Lesers nicht identisch mit den Zuständen der Figuren – so Currie –, weil die ersteren abgekoppelt von jeglichem Handeln auftreten: Sie sind im „Offline“-Modus. Wie kommt es dazu, dass die I-Zustände des Lesers „offline“ sind? Currie erklärt diesen Unterschied, indem er eine neue Instanz einführt: den hypothetischen Leser des Textes. Der reale Leser würde sich dann vorstellen, die mentalen Zustände eines hypothetischen Lesers zu haben, welcher den Text so liest, als ob es sich um reale Tatsachen handelte: „[R]eaders of fiction simulate the states of a hypothetical reader of fact […]. As a reader of fiction, I simulate someone who is reading a factual account of whatever the work is about.“45 Dann kann der reale Leser die imaginierten mentalen Zustände abgekoppelt von jeglichem Handeln im „Offline“-Modus erleben. Auch wenn diese Idee eines indirekten perspektivischen Imaginierens konzeptuell interessant ist, sollten wir sie m. E. verwerfen, weil es sich erstens um eine sehr barocke Theorie unserer Beschäftigung mit Fiktionen handelt und weil es zweitens unklar ist, wie der hypothetische Leser als Vermittlungsinstanz zwischen fiktionalen Figuren und realem Leser zu verstehen ist und wie der Leser seine mentalen Zustände simuliert. Problematisch ist auch – und dies wird klarer werden, wenn ich später den Simulationsbegriff im Allgemeinen zurückweise –, dass die dank der Imagination erzeugten mentalen Zustände „offline“ sein sollen. Wir können auch Literatur lesen, uns das Geschehen vorstellen und ein Bewusstsein von den Erlebnissen der Figuren haben, ohne dabei irgendeine der Perspektiven der Figuren oder eines hypothetischen Lesers zu übernehmen. In diesem Fall handelt es sich um ein aperspektivisches Imaginieren. Der Leser, der diese Einstellung einnimmt, bleibt von den literarischen Ereignissen eher unberührt und distanziert, auch wenn er die mentalen Zustände und die Hintergründe der Figuren sehr gut nachvollziehen kann. 44 45

Currie 1997, 67. Später hat sich Currie von dieser Position verabschiedet. Ebd., 68.

132

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Perspektivisches und aperspektivisches Imaginieren sind für das Verstehen der Literatur unerlässlich und tragen zu ihrem kognitiven Wert bei. Wichtig sind beide auch für die Erweiterung unserer „literarischen Psychologie“, d. h. für die Kunst, sich vorzustellen, wie die Figuren fühlen, denken und erleben.46 Und dies sowohl, wenn wir uns in die Standpunkte der Figuren versetzen und diese dann nachempfinden, als auch, wenn wir uns die Situation vorstellen, ohne irgendeine der Perspektiven zu übernehmen, wohl aber eine Übersicht über die verschiedenen Konstellationen von Ereignissen und Zusammenhängen haben. Ferner ist die Ausübung der imaginativen Teilnahme (bei der wir uns in die Figuren hineinversetzen und dann ihre Situationen nachempfinden oder auch uns selbst in der Situation vorstellen) für die Generierung der virtuellen Erfahrung wesentlich. Darüber hinaus bilden beide Formen des Imaginierens die notwendige erste Stufe jenes Prozesses, in dem wir unseren eigenen Standpunkt zur im Text dargestellten Situation herausbilden. In diesem Fall stellen wir uns zunächst vor, was die Figur als solche empfindet, danach können wir uns vorstellen, dass wir selbst in der dargestellten Situation sind, und schließlich können wir imaginieren, wie wir denken, fühlen und handeln würden.

b.

Propositionales und experientielles Imaginieren

Neben der Unterscheidung eines Imaginierens mit oder ohne Perspektive gibt es eine weitere Unterscheidung zwischen propositionalem und experientiellem Imaginieren. Die propositionale Imagination hat eine aussageförmige Struktur: „[M]an stellt sich vor, dass p oder q der Fall ist.“ Diese Form des Imaginierens hat Goldman als S-Imagination („supposition-imagination“) bezeichnet, weil sie die Funktion einer Annahme bzw. Hypothese erfüllt.47 Wenn wir Literatur lesen, verwenden wir diese Imaginationsart, denn ein literarisches Werk besteht gerade aus Sätzen, deren Bedeutungsgehalt wir uns vorstellen müssen, um uns in die Welt des Werkes hineinzuversetzen. Die Imagination ist aber auch dafür verantwortlich, dass wir Erfahrungen machen. Für den Erfahrungsaspekt ist eben das nicht-propositionale Imaginieren zuständig. Goldman hat in diesem Zusammenhang von einer E-Imagination („enactment-imagination“) gesprochen. Seine Definition lautet: „Enactment-imagination is a matter of creating or trying to create in one’s own mind a selected mental state, or at least a rough facsimile of such a state, through the faculty of imagination.“48 Diese Imaginationsart vermittelt erfahrungsähnliche Momente, wenn wir uns vorstellen, in einer bestimmten Situation zu sein. Es handelt sich nicht um ein „Imaginieren, dass p“, sondern um ein „Imaginieren, wie es wäre“ in einer bestimmten Situation zu sein. Dieses Imaginieren spielt eine sehr wichtige Rolle, wenn es darum geht, die Vermittlung eines „Wissens, wie es wäre“ durch die Literatur zu erklären.

46 47 48

Ich übernehme den hier vorausgesetzten Unterschied zwischen literarischer und wissenschaftlicher Psychologie von Walsh (Walsh 1969,128). Goldman 2006, 42. Ebd., 42.

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133

Die E-Imagination in diesem Sinne betrifft die Wahrnehmungen, Vorstellungen, Erinnerungen, Überzeugungen und Wünsche der Figuren, die dann seitens des Lesers übernommen werden und von denen wir – wie schon besprochen – ein Faksimile haben.49 Interessanter in diesem Zusammenhang ist aber die experientielle Imagination. Diese besteht nicht darin, ein Faksimile eines mentalen Zustandes zu haben, sondern sie bezieht sich auf etwas Somatisches. Experientiell ist die E-Imagination, wenn wir uns etwa vorstellen, eine wahrnehmungsähnliche Erfahrung zu machen, ohne dass die Reize vorhanden sind, die diese Wahrnehmung normalerweise auslösen.50 Das experientielle Imaginieren wäre für den qualitativen phänomenalen Aspekt der Erfahrung der imaginativen Teilnahme zuständig. Dank dieses Typs von Imagination erzeugen wir das Faksimile einer Erfahrung, die in struktureller und funktionaler Hinsicht ihrem Gegenstück, das sich auf Reales bezieht, ähnlich ist. Dies geschieht nicht in abstracto, sondern hat eine sehr starke somatische Komponente, denn wir stellen uns leiblich vor, in einer beschriebenen Situation zu sein, haben ähnliche Empfindungen, empfinden die der beschriebenen Wahrnehmung zugehörigen somatischen Reaktionen, verspüren dieselbe Stimmung, geraten in eine ähnliche Gefühlslage usw. Wir erfahren, wie es sich anfühlt, in einer bestimmten Situation zu sein. Diese Erfahrung ist dann ähnlich wie die Erfahrung der Figuren, denn wir geraten oft in einen „ähnlichen“ Zustand;51 diese Ähnlichkeit werde ich weiter unten noch einmal diskutieren. Perspektivisches und aperspektivisches, propositionales und experientielles Imaginieren schließen einander nicht aus, sondern überschneiden sich, und alle Spielarten sind grundlegend, um unsere Beschäftigung mit Literatur zu erklären und die kognitive Rolle der literarischen Erfahrung näher zu bestimmen. Das „Imaginieren einer bestimmten Situation“ ist die Grundvoraussetzung dafür, dass das „Wissen, wie es wäre“, in dieser bestimmten Situation zu sein, als Erkenntnisleistung der Literatur betrachtet werden kann.

c.

Theorie-Theoretiker, Simulationisten und Imaginationisten

Um die Unterscheidung zwischen dem propositionalen und dem experientiellen Imaginieren zu erläutern, habe ich im vorherigen Abschnitt den Wortschatz der Simulationstheoretiker übernommen, ohne dabei im Geringsten die simulationistischen Hauptthesen vertreten zu wollen. Welches sind die Hauptthesen der Simulationisten? Gegenüber dem Theorie-Theoretiker, der die Beschäftigung mit literarischen Texten ausgehend von einer Theorie über die mentalen Zustände der Figuren und aufgrund von Inferenzen und Schlüssen erklärt, behauptet der Simulationist, dass wir uns, wenn wir uns mit Fiktionen beschäftigen, in die fiktionalen Situationen hineinversetzen, sie „simulieren“, ohne eine Theorie der Psyche der einzelnen Figuren und der Zusammenhänge zwischen ihnen zu haben. Die Simulation kann als Resultat einer Identifikation mit den mentalen Zuständen 49 50 51

In dieser Hinsicht sprechen Currie und Ravenscroft von einer „recreative imagination“. Currie/ Ravenscroft 2002. Vgl Gaut 2007, 151 zur Definition der experientiellen Imagination. Dies ist das Merkmal der „cogency“, das schon im Zusammenhang mit Wollheim erwähnt wurde.

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der Figuren verstanden werden, sie kann auch „impersonal“ sein, sie kann sich auf eine Situation beziehen oder sie kann als ein Mosaik verschiedener Simulationstypen verstanden werden.52 Simulation muss nicht immer Simulation von jemandem sein, wenn sie auch immer Simulation von etwas ist. Darüber hinaus vertritt der Simulationist – und dies haben wir in unseren Überlegungen über einen hypothetischen Leser schon besprochen –, dass die mentalen Zustände, die durch die Simulation ausgelöst werden, in einem „Offline“-Modus auftreten: Sie haben keine motivationale Kraft und sind vom Handeln losgelöst. In diesem Kontext wird von einem durch Simulation generierten Quasi-Zustand gesprochen. Hauptsächlich ist hier die Rede von Quasi-Wahrnehmungen, QuasiÜberzeugungen (make-believe) und Quasi-Gefühlen. Beide Thesen des Simulationisten sind falsch. Denn das Verstehen und Wertschätzen der Literatur ist zwar nicht aufgrund einer Theorie über die mentalen Zustände der Figuren oder der Situation zu erklären, aber es wäre fehlerhaft, daraus zu schließen, dass wir mit dem Simulationsbegriff zu einer umfassenden Erklärung gelangen. Wir können zwar simulieren, aber dieser Mechanismus erklärt nicht die bedeutende Rolle der Imagination bei der Beschäftigung mit Literatur. Oft sind auch Theorien und Inferenzen, Annahmen und Hypothesen notwendig, um ein Werk zu verstehen und wertzuschätzen.53 Noch problematischer als diese Beschränkung ist die zweite These, d. h. die These, dass die durch die Imagination erzeugten mentalen Zustände im „Offline“-Modus auftreten. Achten wir etwa auf die Gefühle in Bezug auf Literatur. Handelt es sich hier um Quasi-Gefühle, wie in der Debatte oft behauptet wird?54 Keinesfalls! Wenn sie uns auch nicht direkt zum Handeln veranlassen, sind sie doch in unseren psychischen Zusammenhang eingebettet, denn in ihnen spiegelt sich unsere Persönlichkeit, spiegeln sich unsere Präferenzen und Vorlieben, unsere Erinnerungen und unsere Vergangenheit. Darüber hinaus können sie in einer indirekten Weise zum Handeln motivieren: Zwar können wir nicht in die literarische Welt eingreifen, wohl aber in die reale. Dies geschieht etwa, wenn wir nach der Lektüre eines Buches über Diskriminierung achtsamer auf solche Phänomene in unserem Alltag werden und uns entschiedener gegen sie wenden. Unsere literarisch induzierten Gefühle können auch unsere Denkweisen und Überzeugungen verändern. Außerdem motivieren uns auch nicht alle Gefühle zum Handeln, die wir in Bezug auf Reales haben. Es ergibt daher keinen Sinn, eine grundsätzliche Andersartigkeit der Gefühle in Bezug auf Literatur zu behaupten. Gegen die These der QuasiGefühle ist ein „emotionaler Realismus“ zu vertreten, dem zufolge unsere emotionalen Reaktionen auf Fiktionen rational und real sind.55 Die Widerlegung der These der Andersartigkeit der Gefühle in Bezug auf fiktionale Literatur ließe sich auch auf andere durch Imagination erzeugte mentale Zustände erweitern, so dass es sinnlos ist, von einem „Offline“-Status der Produkte der Imagination zu sprechen. Die verschiedene Ebenen, auf denen die Imagination eine Rolle spielt, zeigen, dass die dank dieser Fähigkeit er52

53 54 55

Vgl. für ein Verständnis der Simulation als Identifikation mit Figuren Stroud 2008, 21. Für die Idee einer impersonalen Simulation, einer Simulation einer globalen Situation und einer Simulation als Mosaik von Simulationen vgl. Currie 2006, 213. Im selben Sinne Gaut 2007. Als prominenten Vertreter der These der Quasi-Gefühle vgl. Walton 1978, 1990. Ich übernehme die Bezeichnung „emotionaler Realismus“ von Berys Gaut (Gaut 2007, 203–226).

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zeugten mentalen Zustände uns mit einer bestimmten Situation vertraut machen, die uns sonst verborgen bleiben würde. Dies führt dazu, dass die Perspektivenübernahme, die wir dank der Literatur vollziehen, nicht nur ein Spiel in einer virtuellen Welt ist, sondern uns in unserem Alltag im Sinne einer realen Erweiterung unseres Erfahrungshorizonts beeinflussen kann. Gegenüber dem Theorie-Theoretiker und dem Simulationisten wird hier eine imaginationistische Ansicht vertreten, der zufolge die Imagination in vielen verschiedenen Spielarten auf unsere Beschäftigung mit Literatur einwirkt und zum kognitiven Wert derselben beiträgt.

d.

Einfühlungsskeptizismus und der literarische Text als Erfahrungshorizont

Ist die virtuelle Erfahrung, die wir anhand der Literatur machen, eine Erfahrung der Figuren oder besteht sie in einer eigenen Leistung des Lesers? Ich werde im Folgenden für diese zweite Option plädieren, indem ich den literarischen Text als Erfahrungshorizont erkläre und meine Skepsis gegenüber der Idee einer Einfühlung in die Figuren argumentativ stütze. Auch wenn wir uns in die mentalen Zustände der Figuren hineinversetzen und dann selbst eine Erfahrung machen, ist unsere Erfahrung doch nie dieselbe wie die Erfahrung der Figuren. Nachvollziehen und nachfühlen ist möglich und notwendig, aber wir als Leser besitzen Informationen, die die Figuren nicht besitzen, und dies macht unsere Erfahrung anders. Aus diesem Grund kann die virtuelle Erfahrung mithilfe von Begriffen wie Einfühlung oder Identifikation nicht erklärt werden. Wie Gabriel bemerkt hat, müssen wir nicht depressiv werden, um den depressiven Zustand einer literarischen Figur zu verstehen.56 Außerdem sind Fälle einer echten Einfühlung in die Figuren zwar möglich, aber eher selten: Unsere Persönlichkeit ist eine andere als die der Figuren, wir leben nicht in der fiktionalen Welt und können nicht mit den Figuren interagieren und da wir wissen, dass es sich bloß um eine Fiktion handelt und unsere Vorstellungen keine unmittelbare Wirksamkeit in der realen Welt haben, können wir uns erlauben, einige moralische Grenzen in der Vorstellung zu überschreiten.57 Darüber hinaus existieren die literarischen Figuren nicht wie reale Personen. Wenn wir behaupten, uns in die Figuren einzufühlen, ist es oft so, dass wir uns zunächst die Situation vorstellen und erst im Nachhinein den Figuren mentale Zustände zuschreiben.58 Nicht zu vergessen ist auch, dass uns einige literarische Figuren unsympathisch sind und wir uns mitunter weigern, auch wenn wir den Text gut nachvollziehen können, ihre Perspektive zu übernehmen; diese Weigerung kann Teil der Erfahrung des Lesers und der Wertschätzung des Textes sein. Die Idee eines perspektivischen Imaginierens und die Tatsache, dass wir oft in einen ähnlichen Zustand wie die Figuren geraten, kann daher nicht als Einfühlung in die mentalen Zustände der Figuren erklärt werden. Da es darüber hinaus auch mög-

56 57 58

Gabriel 2008. Vendrell 2011. Feagin 1996.

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lich ist, dass wir uns eine literarische Situation aperspektivisch vorstellen, deckt sich die Erfahrung des Lesers nicht unbedingt mit der Erfahrung der Figuren. In Anbetracht dieser Überlegungen muss die virtuelle Erfahrung als eine eigene Leistung verstanden werden, die jeder Leser erbringt und die bei jedem Leser und bei jedem Lesen andere Nuancen annehmen kann. Auch wenn der Leser sich für die Entstehung dieser Erfahrung in die Situationen der Figuren hineinversetzt oder von ihnen Kenntnis hat, sind die Erfahrungsinhalte der Leser mit denen der Figuren nicht deckungsgleich. Somit werden wir mit bestimmten Erfahrungen vertraut und einige davon können die Erfahrungen der Figuren sein, aber andere gehören nicht unbedingt einer Figur, sondern bilden sich in einem Wechselspiel von Projektion, Nachfühlen, Nachvollziehen, Einfühlen, Sympathisieren mit den Situationen und mentalen Zuständen der Figuren heraus – einem Wechselspiel, das die eigenen Erfahrungen des Lesers, sein Denken, Fühlen und Wertschätzen einbezieht. Zwischen der virtuellen Erfahrung des Lesers und den Erfahrungen der Figuren besteht daher ein Abhängigkeitszusammenhang, aber keine Identität. Aus diesem Unterschied zwischen den Erfahrungen der Figuren und den Erfahrungen des Lesers ist nicht zu schließen, dass eine absolute Beliebigkeit bei der Herausbildung der virtuellen Erfahrung besteht. Jedem literarischen Text ist ein „Horizont an Erfahrungen“ zugeordnet, die der Leser machen kann. Genauso wie nicht jede Interpretation eines Textes möglich ist und nur einige zu dem jeweiligen Werk passen, sind die virtuellen Erfahrungen, die wir anhand eines Werkes machen können, auch nicht arbiträr: Der Erfahrungshorizont eines Textes ist beschränkt. Es muss berücksichtigt werden, dass der Autor eine Absicht hatte, als er das Werk geschrieben hat, und dass er bestimmte Erfahrungen beim Leser hervorrufen wollte, andere nicht. Neben dieser Intention des Autors muss auch die Rolle der literarischen Kritik berücksichtigt werden, um den Erfahrungshorizont eines Werkes zu bestimmen. Ferner sollten auch die Erfahrungen der Gemeinschaft von Lesern in Betracht gezogen werden. Dieser Auffassung zufolge können sich also die Erfahrungen, die verschiedene Leser ausgehend von einem Werk machen können, unterscheiden, ohne deshalb beliebig zu sein. Auch für die virtuelle Erfahrung des Lesers gibt es dann Korrektheitsbedingungen. Denn die literarische Imagination ist nicht frei, sondern entfaltet sich unter den Prämissen des fiktionalen Werkes, denen sich der Leser anpassen muss und die ihn einschränken.59 Nur dann kann von einer Erkenntnisleistung der Imagination gesprochen werden.

6.

Die literarische Imagination und ihre moralische Relevanz

Auch wenn literarische Werke Quelle verschiedener Wissensformen propositionaler und nicht-propositionaler Natur sein können, besteht ihre genuine kognitive Funktion darin, den Leser in der Imagination mit bestimmten Situationen vertraut zu machen. Diese kognitive Leistung hat eine moralische Relevanz, auf welche ich abschließend kurz hinweisen möchte. Diese moralische Bedeutung zeigt schon, dass die Spielart des literarischen Kognitivismus, die hier vertreten wurde, sich mit der humanistischen Ansicht 59

Gaut 2007, 153.

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verbinden lässt, dass die Rolle der Literatur darin besteht, uns mit menschlich relevanten Angelegenheiten bekannt zu machen. Die besagte moralische Bedeutung ist aus verschiedenen Blickwinkeln erhellt worden. Dass die Literatur das Allgemeine im Besonderen exemplifiziert, dass sie uns erlaubt, bestimmte Möglichkeiten zu explorieren, dass sie uns für Nuancen der Welt sensibilisiert und dass sie unseren Zugang zur Welt erweitert und sogar ändert, sind kognitive Leistungen mit moralischer Relevanz. So haben einige Autoren für eine „Exemplifikationsthese“ plädiert, der zufolge die Funktion der Literatur in einer konkreten, exemplarischen Darstellung allgemeiner Aspekte der menschlichen Natur bzw. der Conditio humana besteht. In diesem Sinne findet in der Literatur eine „Inszenierung“ des menschlichen Lebens statt.60 Ein weiterer Aspekt der moralischen Relevanz der Literatur besteht darin, uns die Möglichkeit zu geben, verschiedene Lebensoptionen zu erproben. Laut dieser „Explorationsthese“ erlaubt uns die Imagination, uns verschiedene Möglichkeiten des Fühlens, Denkens und Handelns zu vergegenwärtigen – sie macht uns also mit diesen verschiedenen Möglichkeiten vertraut.61 Moralisch relevant ist die Literatur auch in der Hinsicht, dass sie unsere Sensibilität für die Wahrnehmung und Einschätzung von Situationen verfeinert62 und unsere Fähigkeit des Einfühlens und Fühlens schult.63 Da es kein festes ethisches Normensystem gibt, das für alle Menschen und auf alle Situationen anwendbar wäre, können wir uns – so diese „Sensibilisierungsthese“ – dank der Imagination lebhaft vorstellen, wie es wäre, in einer bestimmten Weise zu leben, und können so feststellen, wie man in dieser Situation moralisch handeln kann.64 Diese Perspektiven ergänzen einander gut: Bei der Erläuterung der moralischen Rolle der Literatur legen sie großen Wert auf die literarische Imagination, anstatt diese Rolle im Sinne einer bloßen Übernahme eines in einem literarischen Werk vertretenen moralischen Standpunktes zu verstehen. In dieselbe Richtung geht noch ein weiterer Vorschlag, der von Beardsmore in „Learning from a Novel“ entwickelt wurde und – in einer besonders ausgeprägten Form – einen bestimmten Aspekt der moralischen Relevanz des „Wissens, wie es wäre“ hervorhebt. Es handelt sich um die „Veränderungsthese“. Beardsmore zufolge kann die Literatur einen moralischen Charakter haben, indem sie uns dazu veranlasst, uns zu verändern.65 Dies kann nach dem Modell der imaginativen Teilnahme, das hier angeboten wurde, erklärt werden, indem wir die Wertsysteme der Figuren übernehmen, sie vergleichend mit unserem konfrontieren. Wir können im Einklang mit der Figur wertschätzen und mit ihren Wertschätzungen einverstanden sein. Dies führt zu einer Verstärkung des eigenen Wertsystems. Es kann aber auch der Fall sein, dass die Erfahrung für uns ganz neu ist, und dann erfahren wir die Welt aus einem neuen Blickwinkel und in einer neuen Gestalt, so dass die virtuelle Erfahrung uns „wertsichtig“66 für Aspekte der Welt macht, die uns 60 61 62 63 64 65 66

Explizit über die Inszenierung: Gabriel 1975 und 2008. Vgl. zur Exemplifikationsthese auch Nussbaum 1990. Putnam 1976. Putnam 1976, Nussbaum 1990, Diamond 2012. Nussbaum 1990, Robinson 2007. Putnam 1976, 485, Scholz 2001, 45, Gaut 2007, 164. Beardsmore 1972, 40–41. Ich übernehme diesen Terminus aus Schelers Philosophie der Gefühle.

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sonst verborgen geblieben wären. Es kann auch der Fall sein, dass wir uns, nachdem wir das Wertsystem der Figur zur Kenntnis genommen haben, gegen ihre Position erklären. Wir fragen uns, wie die Figur die Situation einschätzt, was ihr wichtig ist usw., und sind mit den Werteinschätzungen der Figur nicht einig. Diese Inkongruenz führt dann dazu, die eigenen Werte in Frage zu stellen, sie mit gegensätzlichen Einschätzungen zu konfrontieren, sie zu verstärken oder zu revidieren. Exemplifizieren, Explorieren, Sensibilisieren und Verändern sind kognitive Leistungen der Literatur, die nicht mit Wahrheit und mit wahren gerechtfertigten Meinungen zu erklären sind. Nicht die Wahrheit oder das Wissen in traditionalen Sinne des Wortes machen die Literatur kognitiv wertvoll und moralisch relevant, sondern die epistemische Kraft der literarischen Imagination, die, durch das Werk angeregt und geleitet, uns mit menschlichen Themen, Aspekten, Nuancen und Möglichkeiten virtuell vertraut macht und uns in der Realität beeinflusst. Literaturverzeichnis

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Literatur als Experiment? Überlegungen zur kognitiven Dimension der Dichtung

„Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt erschafft oder […] die Dinge in seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt. Es wäre dann unrecht zu meinen, es nähme diese Welt nicht ernst.“ Sigmund Freud, Der Dichter und das Phantasieren Welchen Nutzen hat die Auseinandersetzung mit der Dichtung? Welchen Wert hat die Lektüre fiktionaler Literatur? Diese Frage und die grundsätzlichen Antworten darauf sind beinahe so alt wie die Philosophie. Schon Platon warnt vor den Lügen der Dichter, während Aristoteles beispielsweise der Tragödie eine kathartische und in diesem Sinne die Affekte sowie den menschlichen Geist reinigende und insofern bildende Funktion zuerkennt. Er billigt der Dichtung zu, etwas nachzuahmen und allgemeine Wahrheiten mitzuteilen. Die gegenwärtige philosophische Debatte über den Stellenwert der fiktionalen Literatur ist weitverzweigt und in ihrer Verständigung über literarische Texte und ihre Gegenstände betreffende semantische, erkenntnistheoretische und ontologische Fragen überaus ausdifferenziert. Vermitteln fiktionale literarische Texte Erkenntnis oder Wissen? Worauf beziehen sich Ausdrücke in fiktionaler Rede? Können mit Sätzen in fiktionalen literarischen Werken überhaupt Wahrheitsansprüche verbunden sein? Gibt es bzw. in welchem Sinne gibt es die Gegenstände, die in einem fiktionalen Text vorkommen? Wie verhalten sich fiktive Gegenstände und Sachverhalte zu Gegenständen und Sachverhalten, die in der realen Welt existieren?1 Ich möchte mich im Folgenden ausschließlich mit der Frage beschäftigen, ob und in welchem Sinn die Auseinandersetzung mit fiktionaler Literatur einen – wie es manchmal heißt – kognitiven Wert besitzt und worauf sich ein solcher Wert begründen könnte.2 1

2

Vgl. zur Frage des Wissens und der Erkenntnis in der Literatur Lamarque/Olsen 1994, einen Überblick über die neuere Diskussion gibt Köppe 2008; zum Status von Fiktionen und fiktionalen Texten Currie 1990, v. a. 1–51, Gabriel 1975, Walton 1990; ontologische Fragen diskutiert u. a. Currie 1990, 127–181. Viele Beiträge in diesem Band – u. a. die Texte von Gabriel, Jones, Reicher, Vesper – diskutieren zahlreiche Argumente, die sich gegen und (insbesondere) für die Auffassung vorbringen lassen, dass die Auseinandersetzung mit Literatur kognitiv wertvoll ist. Sie vergegenwärtigen die Vielfalt der Spielzüge, die sich in der Diskussion über den kognitiven Wert der Literatur ausführen lassen,

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Wenn ich im vorliegenden Beitrag von „Dichtung“ oder „fiktionaler Literatur“ spreche, dann habe ich den künstlerisch ambitionierten Roman vor Augen und denke vor allem an Werke, denen in der Literaturgeschichte oder im Literaturbetrieb der Gegenwart ein bedeutender Stellenwert zuerkannt wird. Meine Überlegungen gelten explizit diesem Typus von Literatur, wobei ich nicht von vornherein ausschließen möchte, dass sie sich auf andere Gattungen und mit Einschränkung auch auf triviale Formen wie den Wildwest-, Arzt- oder Heimatroman ausdehnen lassen. Dies ist jedoch nicht Thema dieses Beitrags. Im ersten Teil des Aufsatzes skizziere ich einige Grundzüge der Diskussion um die Frage, ob fiktionale Literatur Wissen und Erkenntnis vermitteln kann und ob literarische Werke Wahrheit enthalten können (1). Eine genaue Formulierung des zur Diskussion stehenden Fragenkomplexes lautet: Gesetzt den Fall, dass literarische Texte Wahrheiten enthalten und Wissen vermitteln, hat dieser Umstand einen Einfluss auf den ästhetischen Wert eines Textes, ist er vielleicht sogar konstitutiv für diesen? Oder handelt es sich um ein Merkmal, welches mit Blick auf die spezifischen Belange der Literatur letztlich vernachlässigt werden kann? Im zweiten Teil des Beitrags frage ich danach, ob ein im weitesten Sinne kognitives Verständnis der Literatur überhaupt auf die Kategorien des Wissens und der Wahrheit angewiesen ist. Meine Antwort wird lauten, dass das nicht der Fall ist. Mit dieser Antwort möchte ich nicht bestreiten, dass Wahrheit und Wissen in der bzw. für die Literatur eine Rolle spielen. Im Gegenteil: Ich gehe davon aus, dass literarische Texte Wahrheiten enthalten und Wissen vermitteln können. Ich möchte aber dafür plädieren, dass die Literatur auch dann einen kognitiven Wert haben kann, wenn man sie nicht unmittelbar mit den Begriffen der Wahrheit und des Wissens verknüpft, wenn man also die Wahrheitsthese („Literatur enthält Wahrheiten“) verneint und auch der Wissensthese mit Skepsis begegnet, sofern man den Begriff des Wissens in seinem kanonischen Sinn versteht („Literatur vermittelt propositionales Wissen im Sinne von wahren und gerechtfertigten Überzeugungen“) (2). Ein kurzer Ausblick formuliert ein Fazit und benennt offene Fragen (3).

1.

Wahrheit und Wissen in der Literatur – Grundzüge einer Kontroverse

Die Diskussion unter den Autoren und Autorinnen, die behaupten, dass die Literatur Erkenntnisse vermittelt und Wissen enthält oder schwächer formuliert: dass sie zumindest Erkenntnisse vermitteln und Wissen enthalten kann, konzentriert sich häufig auf den Begriff der Wahrheit bzw. auf die Frage, inwieweit und in welchem Sinne literarische Texte wahr sein können.3 In diesem Zusammenhang lassen sich eine ganze Reihe von

3

und machen sich alle in der einen oder anderen Form für den Erkenntniswert der Literatur stark. Dass die Auseinandersetzung mit der Literatur nicht nur unter kulinarischen Gesichtspunkten von Belang ist, die Literatur nicht nur einen Unterhaltungswert besitzt, sondern auch auf intellektuelle Weise bildet und den Verstand anspricht, lässt sich schwerlich bestreiten. Recht verstanden lautet die Frage also nicht so sehr, ob das der Fall ist, sondern wie und in welchem Ausmaß es der Fall ist. Wesentliche Aspekte dieser Debatte skizziert Lamarque 2009, 220–254.

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Positionen voneinander unterscheiden, die zudem in auf verschiedene Weise miteinander kombinierter Form auftreten. Dass die Literatur Wahrheiten im allerweitesten Sinne enthalten kann, wird häufig eingeräumt. Die kontrovers diskutierten Fragen lauten, ob Wahrheiten in einem literarischen Werk zu dessen ästhetischem Wert beitragen und wie sich die Rede von der Wahrheit in der Literatur zu dem in den Wissenschaften üblichen Verständnis der Wahrheit verhält. So gestehen beispielsweise Peter Lamarque und Stein H. Olsen durchaus zu, dass literarische Werke Erkenntnis vermitteln können und dass Wahrheit in diesem Sinne eine Rolle spielt, allerdings bestreiten sie, dass diese Eigenschaften eines literarischen Textes für den Text als literarischen Text konstitutiv sind. Es handelt sich um Eigenschaften, die ein literarischer Text zwar kontingenterweise haben kann, die jedoch keinen Einfluss auf seinen ästhetischen Wert haben, um den es im Rahmen einer Auseinandersetzung mit Literatur – folgt man Lamarque und Olsen – in erster Linie geht.4 Daneben finden sich Autoren, die davon ausgehen, dass die Vermittlung von Erkenntnis und Wissen, und damit auch die Eigenschaft wahr zu sein, zu den zentralen Charakteristika literarischer Texte gehören und auch bei einem Urteil über deren ästhetischen Wert Berücksichtigung finden müssen.5 Aber selbst wenn man sich darauf verständigt hat, dass Wahrheit zum literarischen Text gehört, selbst wenn man es offen lässt, ob dies in wesentlicher oder lediglich in kontingenter Form der Fall ist, bleibt eine Vielzahl von Streitfragen offen. Zentral dürfte die Debatte darüber sein, ob es tatsächlich Wahrheit im engeren Sinne ist, die von Belang ist, oder ob es nicht vielmehr andere Arten von epistemischen Gütern sind, die uns die Literatur zur Verfügung stellt, solche, die zwar einen Bezug zu Wahrheitsfragen aufweisen mögen, ihrerseits aber von der Frage nach der Wahrheit im engeren Sinn zu unterscheiden sind. Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Klarheit, Pointiertheit, Trefflichkeit, Nachvollziehbarkeit oder Plausibilität sind beispielsweise Kandidaten, die sich in diesem Zusammenhang nennen lassen. Flauberts Beschreibung von Emma Bovarys Sehnsucht nach einem leidenschaftlichen Liebhaber kann trefflich sein, aber es ist nicht ausgemacht, in welchem Sinne man eine derartige Beschreibung als wahr ansehen kann. Schließlich existieren weder Emma noch Léon in der realen Welt. Die Charakterisierungen der Verwerfungen innerhalb einer Familie mögen pointiert und mit großer Klarheit gestaltet sein, wie in Jonathan Franzens Korrekturen oder Peter Buwaldas Bonita Avenue, aber sind die Charakterisierungen deshalb wahr? Wer in der Wirklichkeit besitzt die Eigenschaften, welche den Charakteren der Romane zukommen? Und selbst wenn man der Wahrheit einen Ort im literarischen Text zubilligt, stellt sich die Frage danach, wie sich die in den Romanen zur Sprache gebrachten Wahrheiten beispielsweise zu einer familiensoziologischen Untersuchung über Familien mit Parkinson- oder Demenzkranken oder einer sozialpsychologischen Studie über Patchworkfamilien in einem gehobenen Milieu verhalten? Wie verhalten sie sich zu einem Dokumentarfilm, der das Schicksal einer Familie zur Darstellung bringt? Eine weitere Frage lautet, in welchem Modus die Wahrheit zur Sprache kommt und um welche Form von Wahrheit bzw. Wissen es geht.

4 5

Vgl. Lamarque/Olsen 1994, 5ff.; vgl. auch Lamarque 2007, 22ff. In verschiedenen Ausgestaltungen wird diese Auffassung u. a. vertreten von Gabriel 1975, Gabriel 2011, Gaut 2007, Reicher 2007.

144

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Mit der Rede vom Modus der Wahrheit beziehe ich mich auf die Diskussion darüber, ob eine Wahrheit auf direkte und explizite Weise zur Darstellung gelangt, wie das beispielsweise in wissenschaftlichen oder journalistischen Texten der Fall ist, oder ob sie in indirekter oder impliziter Form eine Rolle spielt und nicht ausgesprochen, gleichwohl aber mitgeführt wird. Ein Satz wie „Es war eine Besonderheit der Kolonialkriege in Nordamerika, dass, ehe die feindlichen Heere aufeinandertreffen konnten, es den Widrigkeiten und Gefahren der Wildnis zu trotzen galt“ (mit diesem Satz beginnt James Fenimore Coopers Der letzte Mohikaner)6 könnte sich im Prinzip auch in einer historischen Arbeit über die Kolonial- bzw. Imperialkriege in Nordamerika finden. Wenn der vorhin zitierte Satz wahr ist, dann, so möchte man sagen, ist er es in derselben Weise, in der er es in einer historischen Arbeit wäre. Gleiches gilt für Beschreibungen, beispielsweise von den geographischen Gegebenheiten in einer bestimmten Region oder einer Stadt, wie sie in literarischen Texten häufig vorkommen. Man denke an die Beschreibung Berlins in Alexander Döblins Berlin Alexanderplatz oder an die Darstellung von Straßen und Plätzen in Wien in Heimito von Doderers Strudlhofstiege. Wenn mit Sätzen in den betreffenden Texten etwas Wahres gesagt wird, sei es über historische Begebenheiten oder geographische Gegebenheiten, dann ist das häufig auf dieselbe Weise direkt und explizit der Fall, wie bei Sätzen, die sich in nicht-fiktionalen Texten finden. Im Unterschied zur Schilderung eines Tathergangs vor Gericht oder der Schilderung eines sportlichen Ereignisses in einer Tageszeitung wird in literarischen Texten allerdings häufig ein anderer Modus der Thematisierung verwendet. In ihnen finden sich nicht nur Sätze, die etwas in direkter und expliziter Weise auf der Ebene der Beschreibung sagen. Um mich einer beinahe schon klassischen Unterscheidung zu bedienen: Fiktionale Texte sagen nicht nur etwas, direkt und explizit, oftmals zeigen sie auch etwas, sie machen etwas auf indirekte Weise zum Thema.7 Die Schrulligkeit einer Person beispielsweise lässt sich durch Schilderung ihrer Verhaltensweisen und Reaktionsmuster darstellen, ohne dass an einer einzigen Stelle in einer Erzählung oder in einem Roman explizit gesagt wird, dass die betreffende Person schrullig ist. Mit dem Problem des Modus der Wahrheit verbunden sind auch in der Diskussion verbreitete Unterscheidungen wie die zwischen These und Thema, zwischen Behauptung und Vergegenwärtigung, zwischen dem semantischen Gehalt und dem thematischen Gehalt eines Textes. Literarische Texte können etwas zum Thema machen, ohne auf das betreffende Thema bezogene Behauptungen aufzustellen. Ein Roman oder eine Erzählung könnten die Unaufhaltbarkeit der Macht des Schicksals, das entfremdete Leben in der modernen Großstadt oder die Vergänglichkeit des Glücks thematisieren, ohne darauf bezogen explizite Thesen zu vertreten, indem sie etwa behaupten, dass das Glück vergänglich ist. Thesen sind wahr oder falsch, was für Themen nicht gilt.8 Themen sind interessant und wichtig, oder langweilig und ermüdend. Die Themen, die in einem Text zur Sprache kommen und sich durch Interpretationen ermitteln lassen, sind nicht nur von Thesen zu unterscheiden, die im Rahmen eines Themas selbstredend vertreten wer6 7 8

Cooper, 2013 (zuerst engl. 1826), 19. Zur Unterscheidung von „sagen“ und „zeigen“ im Kontext der Philosophie der Literatur vgl. Lamarque/Olsen 1994, 287f. Vgl. Lamarque/Olsen 1994, 286f.; vgl. auch die pointierten Bemerkungen bei Gabriel 1975, 99ff.

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den können, sie sind auch auf einer anderen Ebene anzusiedeln als die Beschreibungen, die ein Text liefert, welche die Handlungen, die Personen, den Ort und die Zeit eines Geschehens betreffen. Die Wahrheiten, die mit Blick auf literarische Texte in der Regel als besonders relevant gelten, werden häufig nicht auf der Ebene der einzelnen Beschreibungen verortet, die ein Text von seinen Figuren, deren Lebensumständen und Verhaltensweisen zeichnet, sondern auf der Ebene des thematischen Gehalts.9 Unterscheidungen wie die zwischen „explizit“ und „implizit“, „sagen“ und „zeigen“, „behaupten“ und „vergegenwärtigen“, „These“ und „Thema“, „semantischem“ und „thematischem“ Gehalt eines Textes sind miteinander verzahnt, ohne aufeinander reduziert oder auseinander abgeleitet werden zu können. Alle diese Unterscheidungen betreffen die Art und Weise, in der in der Literatur etwas Wahres zur Darstellung gelangt. Bezogen auf die Frage nach dem Modus der Wahrheit sehe ich keinen Grund, der gegen eine pluralistische Sicht sprechen würde, der zufolge in der Literatur von allen Modi der Thematisierung Gebrauch gemacht werden kann und je nach Text auch Gebrauch gemacht wird. Die Literatur sagt und zeigt, behauptet und vergegenwärtigt, verfährt mal explizit, mal implizit; in manchen Texten regiert das Vergegenwärtigen über das Behaupten, in anderen Texten verhält es sich umgekehrt. Dieser Befund mag theoretisch unbefriedigend sein, entspricht aber der Vielfalt und dem Formenreichtum literarischer Texte. Kommen wir zu der zweiten der vorhin angesprochenen Fragen: Unter den Autorinnen und Autoren, für die Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur relevante Faktoren sind, wird kontrovers über die Frage diskutiert, welche Form von Wahrheit, Wissen oder Erkenntnis in bzw. von der Literatur thematisiert wird. Einem verbreiteten Verständnis der Wahrheit zufolge ist Wahrheit im Sinne ihrer Definition als Übereinstimmung einer Überzeugung oder Behauptung mit der Wirklichkeit aufzufassen. Einem kanonischen Verständnis des Wissens zufolge handelt es sich bei einer Überzeugung oder Behauptung dann um Wissen, wenn die betreffende Überzeugung bzw. Behauptung wahr und gerechtfertigt ist. Als möglicher Kandidat für Wissen kommt unter dieser Voraussetzung lediglich das so genannte propositionale Wissen in Frage. Propositionen sind Inhalte von Aussagesätzen, die mit Hilfe eines Aussagesatzes oder Nebensatzes mit „dass“ dargestellt werden können, Wahrheits- bzw. Korrektheitsbedingungen unterliegen, in Folgerungszusammenhängen stehen und aus Begriffen zusammengesetzt sind. Dementsprechend ist propositionales Wissen ein Wissen, welches mit Hilfe eines Aussagesatzes oder Nebensatzes mit „dass“ zum Ausdruck gebracht werden kann, Wahrheits- bzw. Korrektheitsbedingungen unterliegt, in Folgerungszusammenhängen steht und aus Begriffen zusammengesetzt ist. Als paradigmatische Form des propositionalen Wissens gilt das theoretische Wissen, dass dieses oder jenes der Fall ist, wie zum Beispiel, dass Frankfurt eine Stadt in Hessen ist oder dass Der Zauberberg ein Roman Thomas Manns ist. Häufig werden vom propositionalen Wissen verschiedene Formen des nicht-propositionalen Wissens unterschieden: das praktische Wissen, wie man etwas macht (Schwimmen, Klavierspielen), das (erst-persönliche) phänomenale Wissen davon, wie es zum Beispiel ist eine Farbe zu sehen oder einen Schmerz zu verspüren, und auch das Wis9

Vgl. Misselhorn 2011, zur Unterscheidung zwischen ‚buchstäblichem‘, semantischem und thematischem Gehalt vgl. Lamarque/Olsen 1994, 282ff.

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sen, welches aus der (direkten und unmittelbaren oder aber vermittelten) Bekanntschaft mit etwas, einem Ort, einer Person oder einem Ding resultiert.10 Eine Strategie, den kognitiven Wert der Literatur zu verteidigen besteht darin, die Begriffe der Wahrheit und des Wissens in einem weiten Sinne zu verstehen, der insbesondere auch das nichtpropositionale Wissen mit umfasst. Die Literatur sei, so wird gelegentlich in Form einer Komplementaritätsthese geltend gemacht, vor allem ein für die Vermittlung nichtpropositionalen Wissens geeignetes Medium, zum Beispiel von phänomenalem Wissen, während die verschiedenen Disziplinen der Wissenschaften in erster Linie propositionales Wissen vermitteln würden.11 Daneben findet sich aber auch die Auffassung, dass zumindest auf der thematischen Ebene literarischer Texte, also auf der Ebene derjenigen Inhalte, die sich durch Interpretation erschließen lassen, auch propositionales Wissen eine Rolle spielt, mit dem direkt ein Anspruch auf Wahrheit verknüpft ist.12 „Die Macht des Schicksals ist nicht aufzuhalten“, „Das Glück ist vergänglich“, so könnten in diesem Zusammenhang relevante Sätze lauten, die sich als Ergebnisse der Deutung dieses oder jenen literarischen Werkes verstehen lassen. Bezogen auf die Frage nach der Form oder Art des Wissens, welches in literarischen Texten zur Sprache kommt, spricht wie im Fall der Frage nach dem Modus der Wahrheit ebenfalls nichts gegen eine pluralistische Auffassung: Literarische Texte können propositionales wie auch nicht-propositionales Wissen enthalten bzw. vermitteln. Ein Streit darüber, ob eher dieses oder jenes der Fall ist, ist müßig und eine Antwort auf die Frage nach der Form des für die Literatur relevanten Wissens dürfte mit Blick auf unterschiedliche Texte jeweils anders zu beantworten sein. Wenn ich recht sehe, wird ein solcher Streit auch gar nicht ernsthaft geführt, vielmehr sind es lediglich unterschiedliche Akzentsetzungen, die von Verteidigern propositionalen Wissens in der Literatur auf der einen Seite und Verteidigern nichtpropositionalen Wissens auf der anderen Seite vorgenommen werden. Aufs Ganze gesehen spricht alles für einen unaufgeregten Umgang mit der Frage nach der Wahrheit und dem Wissen in der Literatur, sofern dies Modus und Form der Wahrheit bzw. des Wissens betrifft. Wer bezogen auf die Literatur von „Wahrheit“ oder „Wissen“ reden möchte, der tut gut daran, und dies ist ein wichtiges Ergebnis der skizzierten Diskussion, sich die auf komplexe Weise binnendifferenzierten Anwendungsmöglichkeiten beider Begriffe vor Augen zu führen, ohne sich vorschnell auf ein bestimmtes Verständnis der Wahrheit oder des Wissens festzulegen. Wahrheiten lassen sich eben auf unterschiedliche Weise präsentieren und können auf unterschiedlichen Ebenen zur Darstellung gelangen. Wissen kann verschiedene Formen annehmen und in unterschiedlichen Formen zur Darstellung gelangen. Anders als die Wissenschaften, anders auch als die Philosophie stellt die Literatur ein Medium dar, in welchem es möglich ist, sich verschiedener Modi der Wahrheitspräsentation zu bedienen und unterschiedliche Wis10

11

12

Vgl. Schildknecht 1999, Schildknecht 2002; zur Charakterisierung und Diskussion der verschiedenen Fälle nicht-propositionalen Wissens vgl. auch Gabriel 2004; zur Thematik des praktischen Wissens im Allgemeinen und unabhängig von der Literatur siehe Jung 2012. Gottfried Gabriel z. B. hat in zahlreichen Publikationen (u. a. Gabriel 1991, Gabriel 2011) eine Konzeption komplementärer Erkenntnisformen in Dichtung, Philosophie und Wissenschaft entwickelt. Misselhorn 2011, 29; vgl. auch Reicher 2007, 44.

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sensformen zur Darstellung zu bringen. Der folgende Abschnitt geht der Frage nach, ob ein kognitives Verständnis der Literatur, also ein Verständnis, welches ihr dezidiert einen Erkenntniswert zubilligt, (zumindest im Prinzip) nicht auch ohne einen unmittelbaren Bezug auf die Begriffe der Wahrheit und des Wissens auskommen kann.

2.

Der kognitive Wert der Literatur

Dass die Lektüre eines literarischen Werkes nicht nur Vergnügen bereitet, dass sie Menschen nicht nur zu emotionalen Reaktionen veranlasst, sondern auch die Phantasie beflügeln und die Einbildungskraft in Gang setzen kann, lässt sich schwerlich bestreiten. Die Beschäftigung mit Literatur vermag es überdies, die Wahrnehmung zu verfeinern und neue Aspekte der Welt und des Lebens sehen zu lassen. Sie fesselt die Aufmerksamkeit und schult die Konzentration, sie trainiert und verbessert die Sprachfertigkeit. Literatur spricht geistige Fähigkeiten an, sie leistet im Einzelfall einen Beitrag zu deren Verbesserung, und zwar auch ohne dass notwendigerweise von Beginn an Wahrheit oder Wissen im Spiel sind. Wem am kognitiven Wert der Literatur gelegen ist, der sollte sich nicht ausschließlich an der Frage orientieren, ob fiktionale literarische Texte wahr sein können oder einen Beitrag zu unserem Wissen leisten können, so meine These, die ich zunächst im Anschluss an einige Überlegungen von Catherine Elgin erläutern möchte.13 Elgin räumt ein, dass die Befassung mit literarischen Texten zum Erwerb von wahren Überzeugungen und von Wissen führen kann, jedoch lediglich in dem trivialen Sinne, der die Literatur selbst betrifft. Was ist damit gemeint? Liest man beispielsweise Katherine Anne Porters Roman Das Narrenschiff weiß man, dass das Buch mit einer Szene in Veracruz beginnt, man erwirbt ein Wissen über den Inhalt des Buches und weiß, dass das Buch in der deutschen Übersetzung 701 Seiten zählt. Aber wahre Überzeugungen über die Welt außerhalb des Buches, über die Schiffspassage von Veracruz nach Bremerhaven, über deutsche Arroganz und moralisierendes Sendungsbewusstsein in der ‚guten‘ Gesellschaft Deutschlands am Vorabend des Nationalsozialismus, erwirbt man nicht, jedenfalls nicht notwendigerweise. Selbst für den Fall, dass das Buch wahre Sätze über die Schiffspassage enthalten sollte, selbst für den Fall, dass sich die geschilderten Ereignisse oder auch nur Teile derselben so oder in ähnlicher Form auf einer Schiffsreise im Jahr 1931 abgespielt haben sollten, lernt man nichts über die Schiffsreise, da es in Romanen in der Regel gar nicht um die Vermittlung von Wissen geht und weder Wahrheitsansprüche erhoben werden noch auch Gründe für die Wahrheit der betreffenden Sätze bereitgestellt oder Rechtfertigungspflichten übernommen werden. Fiktive Texte sind anders als Gerichts- oder Sitzungsprotokolle keine verlässlichen Kandidaten, wenn es um die Wahrheit des in ihnen Gesagten geht (und selbst im Fall von Protokollen darf man gelegentlich bezweifeln, ob sie der Norm genügen, der sie unterstehen sollten). Das heißt aber nicht, so der entscheidende Gedanke Elgins, dass die Literatur keinen kognitiven Wert hat. Wer diesen Schluss zieht, der ist an einem zu engen und einseitigen Verständnis des Kognitiven orientiert. Er macht letztlich die kognitiven Fähigkeiten, die man beispielsweise in den Wissenschaften benötigt, zum Maß aller Dinge. 13

Elgin 2007.

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Und genau hier liegt die Crux der Debatte über den kognitiven Wert der Literatur wie sie üblicherweise geführt wird, wenn die Begriffe der Wahrheit und des Wissens die entscheidende Grenze zwischen der Auffassung markieren, die ihr Wahrheitsfähigkeit zuerkennt, und derjenigen, die sie ihr abspricht. Es wird dabei nämlich regelmäßig übersehen, dass es eine Vielzahl von kognitiven Fähigkeiten gibt, die im Zusammenhang mit dem Erwerb von Weltwissen durchaus relevant sein können, und die auch im Zusammenhang mit der Suche nach Wahrheit oder dem Bestreben, sich ein angemessenes Bild von der Welt zu verschaffen, eine Rolle spielen können, ohne darum ihrerseits schon als Aneignung einer wahren Überzeugung oder Wissen gelten zu können.14 Selbst also wenn man den Kritikern der Auffassung von der Wahrheitsfähigkeit der Literatur Recht gibt, folgt daraus nicht, dass die Literatur keinen kognitiven Wert besitzt. Elgin schlägt vor, das Verständnis von Wissen im Sinne der Aufnahme einer Menge von voneinander getrennten Einheiten von Informationen um eine auf die Erkenntnis des Ganzen gerichtete Komponente zu ergänzen. Zum Wissen in diesem Sinne gehören nicht nur auf einzelne Tatsachen oder Sachverhalte gerichtete Überzeugungen und andere einzelne Überzeugungen, die sich auf etwaige Zusammenhänge zwischen den fraglichen Sachverhalten beziehen, sondern auch Einsichten in die Feinstruktur der betreffenden Zusammenhänge, in die Orte, welche die verschiedenen Glieder in einem größeren Zusammenhang jeweils einnehmen sowie ein Gespür dafür, was wichtig und unwichtig ist, wie sich die Zusammenhänge zwischen einzelnen Tatsachen genau gestalten und welche Faktoren die jeweils entscheidenden Merkmale in einem Zusammenhang darstellen. Welche Aspekte können vernachlässigt werden? Welche Aspekte sind von zentraler Relevanz? Literarische Texte vermögen dadurch, dass Lebenszusammenhänge in ihnen häufig auf eine besonders pointierte Form zur Darstellung gelangen, solche Merkmale hervorzuheben und unseren Blick für sie zu schärfen. Sie können uns helfen, Dinge, die von Wichtigkeit sind, von solchen zu unterscheiden, die vernachlässigt werden können. Ein Beispiel mag in diesem Zusammenhang dienlich sein. Über das Scheitern von Liebesbeziehungen und Ehen, über dessen Gründe und Hintergründe, über außereheliche Liebschaften, über den Umgang mit der Philanderie und andere in diesem Zusammenhang einschlägige Phänomene gibt es eine Vielzahl von wissenschaftlichen Untersuchungen ganz unterschiedlicher Provenienz. In Biologie, Psychologie, Soziologie und auch der Philosophie finden sich in großer Zahl Untersuchungen zu unterschiedlichen Aspekten der Thematik.15 Das Spektrum reicht von empirischen Studien, über Fallgruppenanalysen sowie Arbeiten zu sozialen und historischen Hintergründen bestimmter Liebesverständnisse und der diese leitenden Normen bis hin zu ‚rationalistischen‘ Traktaten. Aus allen diesen Untersuchungen mag sich viel lernen lassen. Wer das einschlägige Schrifttum konsultiert, der erwirbt ein vielfältiges interdisziplinäres Wissen über die romantische Liebe und mit ihr zusammenhängende 14

15

Die Idee von epistemisch relevanten Fähigkeiten, die jenseits von Wissen und Erkenntnis in klassischen Verständnis anzusiedeln sind, steht auch hinter Gabriels Plädoyer für eine Ausweitung des Erkenntnisbegriffs, wenn er die kognitive Leistung der Literatur als Vermittlung nicht-propositionaler Kenntnis bestimmt. Vgl. insbesondere Gabriel 2010. Um nur einige Beispiele zu nennen: Illouz 2011, Lenz 1998, Lenzen 1999, 41–120, Voland 2007, 57–81, Wetz 2011.

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Phänomene und Probleme. Wie die Ergebnisse dieser Untersuchungen im Einzelnen zu beurteilen sind, steht nicht zur Debatte. Festzuhalten ist einzig: Die Autoren von im weitesten Sinn wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema treten mit dem Anspruch auf, wahre Überzeugungen mitzuteilen und sie rechtfertigen diese auch. Die romantische Paarliebe, und insbesondere auch das Scheitern von Liebesbeziehungen und Ehen ist ebenfalls eines der großen Themen der Weltliteratur. Ich nenne lediglich Flauberts Madame Bovary, Tolstois Anna Karenina und Fontanes Effi Briest. Anders als wissenschaftliche Untersuchungen oder philosophische Arbeiten erzählen diese Romane die Geschichte jeweils einer Ehe und ihres Zerfalls. Der Zerfall der Ehen und die Reize der außerehelichen Liebschaft(en) werden feinkörnig ausgelotet, die Psychologie der Charaktere wird eingehend vermessen und das soziale Milieu, in welchem sich die Geschehnisse zutragen, gelangt zu einer nachgerade ‚plastischen‘ Darstellung. Anders als in einer wissenschaftlichen Untersuchung werden allerdings nicht alle in diesen und vergleichbaren Fällen möglicherweise einschlägigen Sachverhalte präsentiert, sondern einzelne Gesichtspunkte werden hervorgehoben, um die wesentlichen Aspekte in den jeweiligen Konstellationen hervortreten zu lassen. Um nur die offensichtlichsten Faktoren zu nennen, könnte man etwa auf Emmas gesellschaftlichen Ehrgeiz, Charles’ Einfachheit und seinen mangelnden Sinn für subtile Arrangements, Annas Gefühlsreichtum, Karenins Bemühen um Korrektheit und Wronskijs vielleicht zu sehr von Stolz geprägte und daher ambivalente Leidenschaftlichkeit, auf Effis Leichtfertigkeit und Instettens zwar intellektuell gebrochenen, aber letztlich zwanghaften Ehrsinn verweisen. Indem fiktionale literarische Texte manche Gesichtspunkte hervorheben, andere vernachlässigen, führen sie uns Lebenssituationen unter Laborbedingungen vor, so dass sich ein Vergleich zwischen der Funktionsweise literarischer Texte mit der Rolle von Experimenten in den Naturwissenschaften aufdrängt.16 Experimente sind schließlich auch nicht als Verfahren zu begreifen, mit deren Hilfe ein Gegenstandsbereich einfach und vollständig zu einer Abbildung gebracht wird. Vielmehr werden im Experiment bestimmte Aspekte eines Geschehens besonders hervorgehoben, indem auf der Grundlage der Handlungen (Planen, Konstruieren, Präparieren, einen Ablauf starten) eines Experimentators Bedingungen geschaffen werden, die es erlauben, ein Geschehen mit technischen Mitteln so zu kontrollieren, dass bestimmte Phänomene bzw. Merkmale eines Ablaufs in herausgehobener Form vor Augen treten.17 Experimente exemplifizieren bestimmte Aspekte von Phänomenen.18 Die Funktionsweise literarischer Texte lässt sich in enger Anlehnung an die Charakterisierung des Experimentes beschreiben. Auch literarische Texte bilden einen Gegenstandsbereich nicht einfach ab, vielmehr werden in ihnen bestimmte Aspekte eines Geschehens hervorgehoben, etwas wird mit ästhetischen Mitteln so gestaltet, dass bestimmte Phänomene besonders deutlich hervortreten, und der Blick sich auf die im Rahmen eines Geschehens besonders relevanten Merkmale richten kann. So kann es nicht überraschen, dass die Werke der fiktionalen Literatur gelegentlich nicht 16 17

18

Vgl. Elgin 2007, 84f. Eine kurze Darstellung und Rechtfertigung dieser Sicht der Dinge findet sich in Janich 1997, 97– 104; ausführlich zur Rolle von Experimenten siehe Hacking 1996 (zuerst 1983), 249–453, v. a. 364ff. Vgl. Elgin 2007, 81f.

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nur mit Experimenten verglichen, sondern ihrerseits als Gedankenexperimente angesehen wurden.19 Gedankenexperimente sind in den Wissenschaften, insbesondere aber in der Philosophie verbreitet. Ein philosophisches Gedankenexperiment stellt – bei allen Unterschieden und aller Vielfalt, die für das Verfahren, mit oder in Gedanken zu experimentieren, kennzeichnend sind – in der Regel ein recht knapp gehaltenes Szenario dar, in dem eine Situation vorgestellt wird, die so nicht der Fall ist.20 Elemente der uns vertrauten Wirklichkeit werden variiert, um philosophischen Aufschluss über eine bestimmte Problemlage zu erhalten. Das Gedankenexperiment im philosophischen Text hat eine kognitive Funktion, auch wenn in ihm keine wahren Überzeugungen zum Ausdruck kommen oder kein Wissen im engeren Sinne vermittelt wird. Man denke an die Mühle von Leibniz, an Hobbes’ Schiff des Theseus, an Putnams Zwillingserde oder Davidsons Sumpfmenschen. Gedankenexperimente dienen häufig dazu, den Inhalt eines Begriffs zu klären, manchmal auch dazu, ihn zu verändern. An Putnams Szenario von der Zwillingserde beispielsweise schließt sich ein Vorschlag zum Verständnis des Bedeutungsbegriffs an. Es liefert ein Beispiel, an welches mit philosophischen Argumenten angeschlossen werden kann. Das Gedankenexperiment als solches enthält keine Argumente, es stellt auch keine Theorie dar und mit ihm muss keine These verbunden sein. Gleichwohl spricht es unsere kognitiven Fähigkeiten im weitesten Sinne an. In der Philosophie sind Gedankenexperimente in eine philosophische Fragestellung eingebettet und es wird mit philosophisch relevanten Unterscheidungen und Schlussfolgerungen an das im Gedankenexperiment vorgestellte Szenario angeschlossen. Mit Vorschlägen zur Begriffsklärung oder Veränderung eines Begriffsverständnisses können Gedankenexperimente auch das Ziel verfolgen, uns eine neue Sicht der Dinge nahe zu bringen. Ein literarischer Text ist jedoch kein Experiment oder Gedankenexperiment im skizzierten Sinn. Ein bereits oberflächlich feststellbarer, aber maßgeblicher Unterschied zu Gedankenexperimenten in der Philosophie besteht darin, dass die Anordnungen von Figuren und Situationen in literarischen Texten mitunter sehr ausführlich sind und eine Vielzahl von Aspekten umfassen. Die Anordnungen von Figuren, Handlungen und Situationen in einem fiktionalen literarischen Text sind komplexer und facettenreicher als in einem philosophischen (oder wissenschaftlichen) Gedankenexperiment. Tiefgreifender als diese Differenz ist der folgende Unterschied: Im philosophischen Gedankenexperiment geht es zumeist um ein einziges Problem oder um einen einzelnen Begriff, zum Beispiel den Bedeutungsbegriff oder mit dem Begriff der Identität verbundene Probleme. In fiktionalen literarischen Texten stehen dagegen häufig ganze Lebenssituationen oder -entwürfe zur Diskussion, die eine Vielzahl von Begriffen betreffen können. Viele, zum Teil ganz unterschiedliche Problemlagen werden ineinander verschachtelt. Zwar ist es auch im Roman so, dass bestimmte Sachverhalte im Vordergrund des Erzählten stehen, während andere Gesichtspunkte vernachlässigt werden, aber die Konzentration 19 20

Vgl. Carroll 2002, 7ff., Elgin 2007, 81. Die Diskussion reicht allerdings weiter zurück: vgl. Davenport 1983. Zu Gedankenexperimenten in der Philosophie vgl. Cohnitz 2006, im Anschluss daran auch Bertram 2012, deren Überlegungen ich z. T. folge.

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auf einen einzigen Aspekt dürfte eher selten sein, wenn sie überhaupt vorkommt. Ein literarischer Text dient für gewöhnlich nicht dazu, sich eines einzigen Problems anzunehmen. Aber wie beim philosophischen Gedankenexperiment kann es zu den Wirkungen der Lektüre eines literarischen Textes gehören, dass sich ein Begriff klärt, dass sich der Inhalt eines Begriffs verändert oder sich bezogen auf einen bestimmten Gegenstandsbereich eine neue Sicht der Dinge entwickelt. Und zweifellos lässt sich auch an literarische Texte, zumindest an einzelne ihrer Teile oder Passagen mit philosophischen Unterscheidungen und Schlussfolgerungen anschließen. Dies gilt zum Beispiel für einige Romane des 19. und 20. Jahrhunderts, man denke an Henry James’ Die goldene Schale, an Dostojewskis Schuld und Sühne, Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder Musils Mann ohne Eigenschaften. An diese Texte wurde vielfach mit philosophischen Lektüren angeschlossen und sie wurden nicht einfach nur zur Illustration philosophischer Überzeugungen verwendet, sondern ebenfalls im Zusammenhang mit der Etablierung neuer Deutungen von Begriffen und dem Plädoyer für neue Sichtweisen auf diese oder jene Situation fruchtbar gemacht.21 Wenn man Gedankenexperimenten in philosophischen Texten einen kognitiven Wert zubilligt, dann ist nicht einzusehen, warum man diesen den Konstellationen, die ein literarischer Text bietet, absprechen sollte, zumal sich literarische Texte in ähnlicher Form wie Gedankenexperimente verwenden lassen. Auch wenn es literarische Texte gibt, in denen explizit argumentiert wird, und welche überdies die Form des Nachdenkens über etwas zum Thema machen (um nur ein Beispiel zu nennen, verweise ich auf J. M. Coetzees Erzählung Das Leben der Tiere), so enthalten die Anordnungen von Personen, Handlungssträngen und Begebenheiten in einem literarischen Text in der Regel keine Argumente, Theorien oder Thesen, jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem dies in einem wissenschaftlichen Text der Fall ist. Anders ausgedrückt: Während man es als Defizit eines philosophischen oder wissenschaftlichen Textes ansehen würde, wenn für die in ihm vorgetragenen Überzeugungen nicht argumentiert wird, spielt das für einen literarischen Text keine Rolle. Ein literarischer Text stößt nicht deshalb auf Kritik, weil er keine guten Argumente präsentiert. Literarische Texte aber bereits aus diesem Grund als kognitiv belanglos anzusehen, hieße einzig und allein Fähigkeiten wie das Argumentieren für oder Rechtfertigen von Überzeugungen, Fähigkeiten, die in den Wissenschaften und insbesondere in der Philosophie eine besonders wichtige Rolle spielen, als kognitiv relevant anzusehen. Es lassen sich verschiedene Dimensionen der kognitiven Relevanz von literarischen Texten unterscheiden: (1) Die Auseinandersetzung mit fiktionalen literarischen Texten besitzt bereits aus dem einfachen Grund einen kognitiven Wert, weil man mit argumentativen und an Wahrheit und Wissen orientierten Diskursen an sie anschließen kann (wie an das philosophische Gedankenexperiment), auch wenn die betreffenden Texte ihrerseits nicht den Anspruch erheben, Wahrheiten zu enthalten oder Wissen zu vermitteln. Literarische Texte bzw. ihre Inhalte können zum Gegenstand eines Gesprächs werden, welches auf Wahrheit und Wissen zielt. Das aber ist nicht alles. (2) Die Literatur spricht unsere kognitiven Vermögen außerdem in dem Sinne an, dass sie unsere Wahrnehmun21

Die neuere Diskussion wurde v. a. von den in Nussbaum 1990 gesammelten Texten inspiriert. Wie die Auseinandersetzung mit einem literarischen Text die Sicht auf einen Begriff verändern kann, zeigt Misselhorn 2013 am Beispiel eines Textes von Musil.

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gen verfeinert, unsere Aufmerksamkeit schult und den Blick für Unterschiede schärft, wobei in diesem Zusammenhang weder argumentative Fähigkeiten im Spiel sein noch auch Wahrheit bzw. Wissen im unmittelbaren Sinne eine Rolle spielen müssen. Einen kognitiven Wert besitzt die Literatur also auch dort, wo nicht direkt mit philosophischen und anderen wahrheitsrelevanten Überlegungen an sie angeschlossen wird. Die Auseinandersetzung mit der Literatur bildet das Vorstellungsvermögen und schult die Phantasie. Hier handelt es sich um Fähigkeiten, die dem Denken im Sinne des Schlussfolgerns und dem Argumentieren insofern an die Seite gestellt werden können, als das Vorstellungsvermögen und die Phantasie zu unseren kognitiven Fähigkeiten gehören. (3) Die Literatur konfrontiert Leserinnen und Leser mit Situationen, in denen diese selbst (möglicherweise) noch nie waren und in die sie vielleicht auch nie kommen werden. Sie schildert in mitunter recht nuancierter Form die Innenperspektive anderer Personen, indem sie die Leserinnen und Leser an deren Erwägungen und Wahrnehmungen teilhaben lässt, und kann sie auf diese Weise mit Erlebnissen konfrontieren, die sie so noch nicht hatten. Gerade die selbstvergessene Lektüre kann einen Leser vollständig in einem Text und in der Erfahrungswelt anderer aufgehen lassen. Man kann sich in einem Buch ‚verlieren‘ und so an ihm teilhaben, als würde es um das eigene Leben gehen. Bei den Erfahrungen, die man anhand der Lektüre einer Erzählung oder eines Romans macht, handelt es sich genau besehen zwar lediglich um Erfahrungen ‚zweiter Hand‘, jemand erlangt Vertrautheit mit etwas, mit dem er nicht in einem direkten Sinne bekannt ist. Aber ebenso wie die Ereignisse des eigenen Lebens kann die Lektüre eines Textes dazu führen, ein anderer Mensch zu werden. Wie eigene Erfahrungen uns und unsere Sicht der Dinge verändern können, so können auch Lektüreerfahrungen zu einer Modifikation unseres Selbst- und Weltverhältnisses beitragen. Wer erwartet, dies alles sei nur unter der Voraussetzung möglich, dass der Text als solcher Wahrheiten enthalte und auf die Vermittlung von Wissen abziele, der ist zu sehr an den Begriffen der Wahrheit und des Wissens orientiert, die für die Wissenschaften und verwandte Unternehmungen maßgeblich sind.22 Unter einer derartigen Voraussetzung liegt es freilich nahe, den Reiz der Befassung mit fiktionaler Literatur und mit der Kunst im Allgemeinen ganz in den Bereich des Ausdrucks und der Erregung von Emotionen abzuschieben, wie dies im Rahmen des vor allem unter Vertretern des logischen Empirismus und ihren Nachfolgern verbreiteten Emotivismus der Fall war.23 Als Ergebnis meiner Überlegungen lässt sich vorläufig festhalten: Der kognitive Wert von (Lektüre-)Erfahrungen besteht darin, aus der imaginativen Konfrontation mit einer Situation neue Aspekte sehen zu lernen und die eigene Sicht der Welt unter Umständen zu modifizieren. Dies muss nicht in der Weise geschehen, dass die Wahrheitsfrage 22

23

Weniger an den Begriffen der Wahrheit und des Wissens orientiert als vielmehr an demjenigen der Sprache diagnostiziert Huemer 2013 ebenfalls eine zu starke Orientierung an den Wissenschaften, die den Blick auf den Eigensinn der Literatur verstellen kann. Man vergegenwärtige sich – um nur ein Beispiel zu nennen – etwa Moritz Schlicks Auffassung, dass die Kunst die Aufgabe habe „das Reich des Erlebens zu bereichern“ (Schlick 1926, 150) und daher insgesamt strikt von den Wissenschaften zu unterscheiden sei: „Während der Endzweck der Wissenschaft Erkenntnis ist, vollständiger Ausdruck wirklicher Tatbestände, ist es Zweck der Kunst, in uns gewisse Gefühle zu wecken […]“ (Schlick 1986, 179, zuerst 1938).

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umgehend auf den Tisch gelangt, sondern kann sich zum Beispiel auf die spielerische Vergegenwärtigung von unterschiedlichen Aspekten einer Szenerie beschränken, die uns auf bestimmte Nuancen aufmerksam werden lässt. Solche Lektüren sind nicht nur in einem weiten Sinne kognitiv belangvoll, sie heben zudem das ästhetische Vergnügen bei der Auseinandersetzung mit einem Text. Etwas neu sehen zu lernen und mit etwas bisher Unbekanntem konfrontiert zu sein, übt in der Regel einen größeren Reiz aus als die Konfrontation mit den immer gleichen Mustern oder sattsam bekannten Inhalten. Wenn man einen Text als aufregend oder langweilig klassifiziert, dann spielt die Tatsache, ob und inwieweit er uns mit etwas Neuem konfrontiert eine wichtige Rolle. Prädikate wie „aufregend“ oder „langweilig“ sein würde ich als Beispiele für ästhetische Prädikate verstehen, die von den kognitiv relevanten Eigenschaften eines Gegenstandes abhängig sind. Mit dieser Bemerkung möchte ich nicht bestreiten, dass Urteile, die den ästhetischen Wert von etwas betreffen, von anderen Merkmalen des betreffenden Gegenstandes unabhängig sein können. Es geht mir lediglich darum, deutlich zu machen, dass ästhetische Wertschätzung von kognitiver Wertschätzung abhängen kann, und dass es sich in vielen Fällen tatsächlich so verhält, wie unsere Urteile über die ästhetischen Qualitäten von Literatur zeigen. Welche Einwände lassen sich dagegen erheben, die oben angesprochenen Aspekte als Dimensionen der kognitiven Relevanz von Literatur geltend zu machen? Man könnte einwenden, dass es sich bei den Anschlussmöglichkeiten für an Wahrheit und an Wissen orientierte Diskurse, die mit literarischen Texten verbunden sind, nicht um Eigenschaften der betreffenden Texte handelt, sondern dass solche Anschlussmöglichkeiten sich im Wesentlichen aus Leserhaltungen ergeben. Menschen sind Wesen, die ein Interesse an Wahrheit und Wissen haben, und sie benutzen (auch) die Literatur, um diesem Interesse nachzugehen. Was für die Literatur gilt, gilt für fast alle Dinge, mit denen Menschen sich konfrontieren: auch Sportereignisse, Bergwanderungen oder ein Einkaufsbummel können den Anlass bieten, mit an Wahrheit und Wissen orientierten Gedanken oder Gesprächen an diese anzuschließen. Würde man deshalb sagen, dass Sportereignisse, Bergwanderungen oder ein Einkaufsbummel einen kognitiven Wert besitzen? Und wenn man es sagen würde, müsste man dann nicht auch sagen, dass für Menschen alles einen kognitiven Wert besitzt bzw. besitzen kann und dass daher die Kategorie der kognitiven Relevanz ihre differenzierende Kraft verliert, da mit ihrer Hilfe keine Unterscheidung mehr getroffen wird? Wenn alles einen kognitiven Wert haben kann, dann handelt es sich bei diesem Wert nicht um eine spezifische Eigenschaft bestimmter Gegenstände oder Sachverhalte, denen dieser Wert aufgrund bestimmter Merkmale zukäme. Es ist vollkommen richtig, dass die Bemessung des kognitiven Werts von Literatur (auch) in den Haltungen von Leserinnen und Lesern gründet. Man kann ebenfalls zugeben, dass Sportereignisse oder Bergwanderungen kognitiv wertvoll sein können. Aber anders als Sportereignisse oder Bergwanderungen sind literarische Texte von vornherein auf die Betätigung unserer kognitiven Vermögen zugeschnitten. Es handelt sich um sprachliche Gebilde, die eine mehr oder weniger komplexe Struktur besitzen, und ganz bestimmte Fragen aufwerfen. Literarische Texte erweisen sich als in besonderer Weise geeignet für die Betätigung kognitiver Vermögen. Was Sportereignisse und Bergwanderungen betrifft, so wird auf sie nicht zwingend mit kognitiver Aufmerksamkeit reagiert. Sie können unsere kognitiven Vermögen zwar ansprechen, sind aber – anders als die

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Literatur – nicht dafür gemacht. Ob und inwieweit dies auch für durch und durch triviale fiktionale Texte gilt, die mit einer klischeebeladenen Handlung, schablonenhaften Charakteren und sprachlich einfachen Mitteln arbeiten, wäre eigens zu diskutieren. Für meine Zwecke reicht es aus, wenn man bereit ist einzuräumen, dass jedenfalls in ästhetischer Hinsicht als gelungen geltende Werke dafür gemacht sind, unsere kognitiven Vermögen anzusprechen. Die Verfeinerung der Wahrnehmung oder die Schulung der Sinne, die Bildung des Vorstellungsvermögens und der Phantasie, so kann man einen auf den zweiten Aspekt bezogenen Einwand formulieren, besitzen keine kognitive Relevanz im engeren Sinne. Zwar lässt sich die Fähigkeit, einen Sachverhalt möglichst genau wahrnehmen zu können oder sich den Nuancenreichtum eines Gegenstandes bzw. einer Situation vor Augen führen zu können, durchaus als eine Bedingung für Erkenntnis ansehen, die in unterschiedlichen Situationen relevant sein kann, aber zu echter Erkenntnis gehört am Ende immer ein Begriff. Ohne eine Anleitung durch Begriffe bleibt das sinnliche Wahrnehmungsvermögen verworren und konfus, und dies gilt auch für das Wahrnehmen im übertragenen Sinne des Aufmerkens oder der Aufmerksamkeit. Eine kognitive Relevanz erhalten die Fähigkeiten der Wahrnehmung und der Aufmerksamkeit erst dadurch, dass sie mit Begriffen zusammenwirken. Dieser Einwand lässt sich mit folgendem Hinweis entkräften: Warum sollte man einem Vermögen wie der Wahrnehmung, welches als Teil in ein umfassenderes Vermögen eingeht oder gemeinsam mit einem anderen Vermögen (dem Vermögen der Begriffe) zu einem umfassenderen Vermögen wird, keine kognitive Relevanz zubilligen? Teile des Erkenntnisvermögens oder Vorbedingungen der Erkenntnis sind kognitiv relevante Phänomene, wie auch immer man ihren Beitrag im Einzelnen einschätzen mag und in welchem Ausmaß es auch immer einer Zusammenwirkung mit anderen Vermögen bedarf. Dem Vorstellungsvermögen und der Phantasie schließlich wird man kognitive Relevanz nur schwerlich absprechen können. Zwar sind Vorstellung und Phantasie nicht notwendigerweise auf Wahrheit bezogen, noch auch lässt sich die Funktion dieser Vermögen in vollem Umfang mit Hilfe des Wissensbegriffs erfassen, trotzdem besitzen beide Vermögen wichtige Funktionen im Rahmen des kognitiven Haushalts von Personen. Handelt es sich doch um Fähigkeiten, die das Durchspielen von Handlungsmöglichkeiten, die Antizipation von Situationen sowie die Ausgestaltung kontrafaktischer, nichtrealer und in diesem Sinne fiktiver Szenarien ermöglichen, ebenso wie sie die Einfühlung in andere Personen und den Nachvollzug von deren Belangen möglich machen. Auf diese Weise werden Voraussetzungen bereitgestellt, die im Zusammenhang mit dem praktischen Schließen eine Rolle spielen können. Aus diesem Grund gehören die genannten Fähigkeiten mit zu den zentralen Kompetenzen rationaler Wesen und sind auf das Engste mit der Wahrnehmungsfähigkeit und dem Vermögen der Begriffe verzahnt. Die Konfrontation mit neuen Situationen, die Vermittlung von Erfahrungswissen aus zweiter Hand, um auf den dritten der oben genannten Aspekte zu sprechen zu kommen, scheint noch am ehesten geeignet, als Rechtfertigung für den Erkenntniswert der Literatur zu dienen. Wer eine Erfahrung vermittelt bekommt, der – so können Anhänger einer kognitiven Auffassung von Literatur geltend machen – lernt etwas. Man kann sich jedoch fragen, ob literarische Texte tatsächlich Erfahrungswissen aus zweiter Hand vermitteln und ob sie für ihre Leser zur Darstellung bringen, wie es ist in einer bestimmten

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Situation zu sein. Im Zusammenhang mit einer Antwort auf die Fragen sind zwei Aspekte voneinander zu unterscheiden. In einem relativ trivialen Sinne verstanden vermitteln viele, vielleicht sogar die meisten literarische Texte Erfahrungen (gemeint sind Erfahrungen jenseits der Erfahrung des Lesens), indem sie bestimmte Erfahrungen beschreiben, man denke an die Erfahrung einer Reise (die Schiffsreise von Veracruz nach Bremerhaven in Porters Narrenschiff ) oder der Arbeitssituation in den Schlachthöfen Chicagos an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (wie sie der Protagonist Jurgis Rudkus in Upton Sinclairs Roman The Jungle erlebt). Den Lesern werden bestimmte Erfahrungen geschildert, die sie in der Regel selber nicht gemacht haben. Die Umstände mit denen ein Buch seine Leserinnen konfrontiert, sind normalerweise solche, mit denen diese keine direkte Bekanntschaft haben. Die Form des Wissens oder der Erkenntnis beschränkt sich, wie man im Anschluss an Russell sagen könnte, auf eine Erkenntnis durch Beschreibung.24 Ob literarische Texte über die Beschreibung von Erfahrungen hinaus auch phänomenales Wissen vermitteln, dies freilich ist eine Frage, über die sich trefflich streiten lässt.25 Erleben Leser tatsächlich wie es ist – um eine von Thomas Nagel für das subjektive Wissen geprägte Wendung aufzugreifen26 – zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Schiffsreise zu machen oder in den Schlachthöfen Chicagos zu arbeiten? Phänomenales Wissen, so könnte man geltend machen, setzt (direkte) Bekanntschaft voraus. Nehmen Leser teil an den phänomenalen Erfahrungen der Protagonisten? Man könnte einwenden, es sei zwar richtig, dass Leserinnen und Leser bei der Lektüre von Texten (auch phänomenale) Erfahrungen machen, aber sie machen eben nicht die Erfahrungen von Jurgis Rudkus, dem Protagonisten von Sinclairs Roman, sie machen auch nicht die Erfahrungen, die der Autor Sinclair im Vollzug seiner Recherchen oder beim Schreiben gemacht hat, sondern Leserinnen machen ihre eigenen Erfahrungen. Oftmals leben sie in einer ganz anderen Welt als die Protagonisten der Texte. Wie sollten sie da deren Erfahrungen machen? Sie verfolgen das Geschehen, beobachten das Schicksal der Protagonisten, nehmen deren Erfahrungen zur Kenntnis, aber sie machen nicht deren Erfahrungen und fühlen nicht das, was die Helden oder andere Figuren eines Buches fühlen. Auch wird nicht im eigentlichen Sinne – so lautet eine weitergehende Variante des Einwandes – etwas über die Situation (beispielsweise der Schlachthofarbeiter) gelernt. Wer nicht bereits etwas darüber weiß, wer nicht zumindest über die Spur einer Ahnung von der Demütigung verfügt, die es bedeutet, zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehr oder minder entrechtet in einem Schlachthof in Chicago zu arbeiten, nach einem Arbeitsunfall diese Stelle zu verlieren, in der Folge den Tod der eigenen Frau erleben zu müssen, um schließlich mit einem nochmaligen sozialen und gesundheitlichen Abstieg konfrontiert zu sein, der wird auch aus der Lektüre des Buches nichts darüber lernen, was das im Einzelnen heißt und keine diesbezüglichen Erfahrungen machen.27 Eine Antwort auf die Frage, ob bei der Lektüre eine Textes eigene Erfahrungen gemacht werden bzw. in welcher Form man mit Erfahrungen anderer konfrontiert ist, hängt letztlich davon ab, wie man die Akzente bei der Beschreibung und Analyse von Lektü24 25 26 27

Russell 1967 (engl. zuerst 1912). Stellungnahmen finden sich bei Reicher 2007, z. B. 28. Vgl. Nagel 1974. Vgl. zu diesem Typ von Einwand Lamarque/Olsen 1994, 378–386.

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reerfahrungen setzt, und wie man die Rede davon versteht, dass man eine Erfahrung macht oder mit ihr konfrontiert wird. Versteht man sie in einem wörtlichen Sinn, dann heißt eine Erfahrung zu machen, auf eine direkte Weise mit ihrem Gehalt konfrontiert zu sein. So verstanden machen Leser keine Erfahrungen, sie werden lediglich mit den Erfahrungen, die ihnen beschrieben werden, konfrontiert. Aber mit einer Erfahrung konfrontiert sein, von einem Sachverhalt durch Beschreibung zu erfahren, kann ebenso wie das Machen einer Erfahrung dazu führen, dass sich unser Selbst- und Weltverständnis verändert, dass sich der Gehalt und Bestand unserer Begriffe verändert oder erweitert. Die Konfrontation mit einer Erfahrung kann in einer nüchternen Perspektive erfolgen, während das Machen einer Erfahrung sich im Modus des Betroffen-seins vollzieht. Die Konfrontation mit einer Erfahrung muss sich aber hinsichtlich ihres epistemischen Stellenwerts nicht vom Machen einer Erfahrung unterscheiden, so dass sich die Auffassung vom kognitiven Wert der Auseinandersetzung mit fiktionaler Literatur mit Blick auf den Aspekt der Vermittlung von Erfahrungen verteidigen lässt, auch wenn Leserinnen und Leser die Erfahrungen der Protagonisten nicht im wörtlichen Sinn machen.

3.

Fazit und offene Fragen

Es spricht also vieles dafür, die Literatur als ein kognitiv relevantes Unternehmen anzusehen, auch unabhängig von einem Bezug zu den Begriffen der Wahrheit und des Wissens. Außerdem lassen sich eine Reihe von Gründen geltend machen, die dafür sprechen, dass Wahrheit und Wissen im Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit der Literatur eine wichtige Rolle spielen. Dies gilt zumindest dann, wenn man sich nicht ausschließlich am kanonischen Wissensbegriff im Sinne von wahrer und gerechtfertigter Meinung orientiert, als auch die Differenzierung unterschiedlicher Arten des Wissens für sinnvoll hält, wie zum Beispiel die Unterscheidung zwischen propositionalem und nicht-propositionalem Wissen. Eine vorschnelle Festlegung darauf, in welchem Modus Wahrheiten zur Sprache gelangen, direkt und explizit oder indirekt und implizit, scheint mir den Blick auf die verschiedenen Möglichkeiten zu verstellen, von denen literarische Texte Gebrauch machen. Mit Blick auf den Reichtum der Gehalte und die Vielfalt der Thematisierungsweisen, mit denen uns die fiktionale Literatur konfrontiert, ist es sinnvoll, Kernbegriffe wie „Wahrheit“, „Wissen“ oder „Erkenntnis“ zunächst einmal in einem vergleichsweise weiten Sinn zu verwenden. Nicht-kognitivistische Auffassungen der Literatur sind letztlich zu stark an den vor allem in den Wissenschaften verbreiteten Präsentationsmodi orientiert. Es bleibt die Frage, in welcher Weise der kognitive Gehalt der Literatur und seine Wirkungsweise genau zu bestimmen ist. Die von verschiedenen Autoren angeführte Analogie zwischen literarischen Texten und Experimenten bzw. Gedankenexperimenten enthält Hinweise, welche durchaus in eine richtige Richtung weisen. Allerdings ist es verfehlt, den literarischen Text unmittelbar als Gedankenexperiment aufzufassen, da die Unterschiede zum Gedankenexperiment beispielsweise in der Philosophie einfach zu groß sind. Aber man kann durchaus sagen, dass literarische Texte auf ähnliche Weise wirken können wie Gedankenexperimente, zudem lässt sich auf vergleichbare Weise an sie anschließen. Wie ein Gedankenexperiment stellt uns ein literarischer Text eine

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bestimmte Szenerie vor Augen, die jedoch in der Regel komplexer ist als im Fall des wissenschaftlichen bzw. philosophischen Gedankenexperiments, zudem hat sie bezogen auf ihren jeweiligen Gegenstandsbereich einen exemplarischen Charakter. Jedenfalls ist das ein Anspruch, der mit vielen literarischen Texten erhoben bzw. verbunden wird. Anders als eine Diskussion über das Gelingen oder Scheitern der Liebe, über schmerzliche Verluste oder unverhoffte Erfolge, die ausschließlich mit begrifflichen Mitteln arbeitet, geben literarische Texte ein Beispiel, welches von dieser oder jener Liebe, diesem oder jenem Scheitern bzw. Erfolg handelt. Interesse ziehen diese Beispiele auf sich, weil sie über sich hinausweisen, nicht nur einen einzigen Fall schildern, sondern am Einzelfall sollen Konturen allgemeiner menschlicher Belange und deren Verläufe deutlich gemacht werden. Anders formuliert: Im Einzelnen soll auch ein Allgemeines zur Darstellung gelangen. So kann es nicht überraschen, dass bezogen auf die kognitiven Potentiale der Literatur häufiger der Begriff der Exemplifikation bemüht wird.28 Literarische Texte erweitern, bereichern und vertiefen unser Verständnis der in einem Text relevanten Belange (das Gelingen oder Scheitern der Liebe zum Beispiel), indem bestimmte Aspekte und Eigenschaften dieser Belange exemplifiziert und im Rahmen der personellen, situativen und sonstigen Anordnungen in einem fiktionalen Text durchgespielt werden.29 Weitere Untersuchungen hätten die Machart literarischer Exemplifikationen genauer zu untersuchen. Außerdem wäre der Begriff der Exemplifikation als Zentralbegriff einer kognitivistischen Konzeption von Literatur und ggf. auch der Kunst im Allgemeinen eingehend gegen Einwände zu verteidigen, wie etwa gegen denjenigen, dass das Verständnis einer Exemplifikation im Grunde bereits ein Verständnis des Exemplifizierten voraussetzt. Bei alledem darf auch nicht vergessen werden, dass ein literarischer fiktionaler Text keine wissenschaftliche Abhandlung, kein journalistischer Bericht oder irgendeine Art von Protokoll ist. Die Auslotung des kognitiven Werts der Literatur hat nicht nur die spezifischen Merkmale literarischer Texte, unter anderem die Rolle der Sprache und anderer ästhetischer und kompositorischer Gestaltungsmöglichkeiten zu berücksichtigen, die für die Literatur konstitutiv sind, sondern sie auch in ihrem Verhältnis zum ausgedrückten Gehalt zu analysieren.30 Andernfalls droht – um einmal mehr einen Gedanken von Lamarque und Olsen ins Spiel zu bringen – die Gefahr einer „Philosophentheorie der Literatur“.31 Eine Analyse, die auch Formgesichtspunkte in ausreichendem Maß berücksichtigt, kann freilich nur im Rahmen einer umfangreicheren Untersuchung geleistet werden und hätte nicht allein den allgemeineren philosophisch-theoretischen Hintergrund der Auseinandersetzung mit Literatur zu skizzieren, sondern auch dem einzelnen literarischen Werk und seiner Analyse mehr Raum zu geben. 28

29 30

31

Dies ist oftmals im Anschluss an Goodman 1973 (engl. zuerst 1968) der Fall; vgl. Elgin 2007, ferner: Thürnau 1994, v. a. 89ff.; zum Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem in der Literatur vgl. auch Gabriel 1975, 99ff. Diese Formulierung folgt Elgin 2007, 81. Einige der aus meiner Sicht relevanten Besonderheiten der fiktionalen Literatur diskutiere ich mit Blick auf die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Literatur in Demmerling 2001, 344ff. Vgl. Lamarque/Olsen 1994, 397.

158 Literaturverzeichnis

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III. Formen des Wissens in der Literatur

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Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis in der Literatur

„Sieh es nicht als selbstverständlich an, sondern als ein merkwürdiges Faktum, dass uns [...] erdichtete Erzählungen Vergnügen bereiten; unsern Geist beschäftigen.“ Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 524 „Da wollen sie wissen, welche Stadt am Rhein bei meinem Hermann und Dorothea gemeint sei. Als ob es nicht besser wäre, sich jede beliebige zu denken. Man will Wahrheit, man will Wirklichkeit und verdirbt dadurch die Poesie.“ Goethe: Gespräch mit Eckermann im Dezember 1826 Bei dem Begriff der Literatur dürfte es sich wohl im Sinne Wittgensteins um einen Familienähnlichkeitsbegriff handeln, für den sich kein einheitlicher Kern von Merkmalen angeben lässt.1 Ich verzichte deshalb auf eine Begriffsbestimmung und versuche im Folgenden statt dessen eine Funktionsbestimmung der Literatur zu geben, und zwar eine Bestimmung ihrer Erkenntnisfunktion. Hieraus ergibt sich eine ungefähre Eingrenzung des Gegenstandsbereichs: So ist der weite Literaturbegriff, wie er etwa in der Altgermanistik vorherrscht, demzufolge jedes schriftliche Zeugnis bereits als literarisches Dokument gilt, nicht im Blick. Überdies beziehen sich meine Überlegungen vorwiegend auf die erzählende Literatur und hier besonders auf solche fiktionaler Art, also auf Romane, Novellen usw. Statt von ‚fiktionaler Literatur‘ werde ich auch kurz von ‚Dichtung‘ sprechen, ohne damit unterstellen zu wollen, dass beide ungeschieden zusammenfallen. Mit Blick auf die vorgenommenen Einschränkungen ist zu betonen, dass es mir – logisch gesprochen – nicht um die Begründung einer Allaussage über Literatur, sondern um die Begründung einer Existenzaussage geht: Es gibt fiktionale Literatur, die einen relevanten Erkenntniswert besitzt. Meine Hauptthese besagt, dass dieser Erkenntniswert in einer Vergegenwärtigungsleistung besteht. Den Erkenntniswert von Vergegenwärtigungen gilt es nun genauer zu bestimmen. Wie wir sehen werden, fallen Wahrheit und Erkenntnis nicht zusammen. Daher verzeichnet der Titel beide Begriffe. Angekündigt ist damit eine Erweiterung des Erkenntnisbegriffs – am Beispiel der Vergegenwärtigungsleistungen von fiktionaler Literatur. 1

So bereits Searle 1990 (engl. zuerst 1975), 81.

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Vergegenwärtigungen finden sich auch in philosophischen Texten, z. B. in Form von eidetischen Variationen, Gedankenexperimenten und Narrationen. Dies bedeutet, dass es eine scharfe Grenze zwischen Philosophie und Literatur nicht gibt. Eine gänzliche Aufhebung der Gattungsunterschiede ist damit aber keineswegs impliziert. Vor allem läuft der Umstand, dass sich die Philosophie literarischer Darstellungsformen bedient, nicht auf eine Dekonstruktion ihres Erkenntnisanspruchs hinaus, sondern unterstreicht ganz im Gegenteil, dass solche Formen methodologisch ernst zu nehmen sind. Zu widersprechen ist damit nicht nur der Dekonstruktion, sondern auch dem Szientismus, der meint, Erkenntnis auf wissenschaftliche Wahrheit und damit auf aussageartiges propositionales Wissen reduzieren zu können. Grundlage der folgenden Überlegungen zum Erkenntniswert fiktionaler Literatur ist, dass im Gegensatz zu postmodernen fiktionalistischen Tendenzen (im Anschluss an F. Nietzsche),2 die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Dichtung oder Fakten und Fiktionen zu nivellieren, an dieser Unterscheidung mit Nachdruck festgehalten wird. Gewiss ist die Verwechslung von Fiktion und Wirklichkeit bzw. das Verschwimmen von deren Grenzen häufig selbst Thema fiktionaler Literatur gewesen (vgl. Cervantes’ Don Quijote und Wielands deutschsprachiges Pendant Don Sylvio von Rosalva). So ist das Spiel mit dieser Grenze als „Fiktionsironie“3 , „Metafiktion“4 oder „narrative Metalepse“5 bekannt, und „das Leben ein Traum“ darf als Topos der Weltliteratur gelten (Calderón, Hofmannsthal, Lewis Carroll). Jedoch geht es dabei um die literarische Vergegenwärtigung einer Vermischung der Ebenen und – wie im Falle von Don Quijote und Don Sylvio – deren so verheerenden Folgen. Keineswegs aber ist von den Autoren die Behauptung aufgestellt worden, dass es keinen Unterschied zwischen Fakten und Fiktionen gäbe. Ganz im Gegenteil kann deren Vermischung nur vor dem Hintergrund einer zuvor getroffenen oder doch vorausgesetzten Unterscheidung zum Thema werden. Das ganze Gerede vom „Verschwinden der Wirklichkeit“ ist demnach kategorialer Unsinn. Neuerdings bricht sich freilich die heimliche Sehnsucht der Postmoderne nach dem Referenten wieder Bahn. Symptomatisch scheint mir Hans Ulrich Gumbrechts Klage in seinem Buch Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz zu sein, dass „wir das Gefühl haben, zu den Dingen dieser Welt keinen Kontakt mehr zu haben“.6 Wer ist mit diesem „wir“ gemeint? Mir ist dieses Wir-Gefühl gänzlich fremd. Ich kann allerdings gut nachvollziehen, wie es zu einem solchen, wie Gumbrecht meint, „Weltverlust“ gekommen ist. Er benennt die Hintergründe selbst: „die Ausgrenzung der epistemologischen Dimensionen der Wahrnehmung und des Bezugs“,7 anders gesagt: die poststrukturalistische Polemik gegen den Begriff der Referenz. Von dem Gumbrecht’schen „wir“ möchte ich mich daher nachdrücklich distanzieren. Für die Kreise, in denen Gumbrecht 2 3 4 5 6 7

Vgl. z. B. Culler 1988 (engl. zuerst 1982), 201, wo es heißt, dass „Wahrheiten Fiktionen sind, deren Fiktionalität in Vergessenheit geriet“. Vgl. Heimrich 1968. Vgl. Bunia 2007, 140–143. Zur narrativen Metalepse als (fiktionsimmanenter) Grenzüberschreitung zwischen den Ebenen der Fiktion und der Wirklichkeit in beiden Richtungen siehe Klimek 2010. Gumbrecht 2004, 69. Gumbrecht 2004, 68.

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sich bewegt, ist die Krise allerdings zutreffend beschrieben. Vor diesem Hintergrund ist der Ruf nach Präsenz einigermaßen verdächtig. Zu befürchten ist nämlich, dass das Pendel nun in die entgegengesetzte Richtung ausschlägt. Nachdem wir uns jahrelang anhören mussten, dass alles Text und dessen Referenz allenfalls selbstreferentiell sei, scheint nun zu gelten: Raus aus den Texten, rein in die unmittelbare Wirklichkeit. Die frühere Referenzvergessenheit kippt in eine neue Referenzversessenheit um, und es ist nicht auszuschließen, dass man sich demnächst den Vorwurf gefallen lassen muss, einen zu weichen Wirklichkeitsbegriff zu vertreten. Ein starkes Motiv, die traditionelle Unterscheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeit nivellieren zu wollen, dürfte sein, dass man von ihr eine Depotenzierung der Rolle der Dichtung befürchtet. Dieser Befürchtung scheint der Gang der so genannten Nachahmungsdebatte Nahrung zu geben. Die Dichtung hatte sich seit Platons Zeiten gegenüber Philosophie und Wissenschaft zu rechtfertigen. Unterscheidungen wie diejenige zwischen „eigentlicher“ und „uneigentlicher Rede“ scheinen den Verdacht zu bestätigen, dass Fiktionen gegenüber Fakten ein bloß defizienter Status zugebilligt wird. Nur so ist es zu erklären, dass insbesondere sprechakttheoretische Versuche, fiktionale Rede durch ihre Abweichungen von normaler Rede zu definieren, als Ausgrenzungsversuche missverstanden worden sind. J. R. Searles Charakterisierung fiktionaler Rede als „parasitär“ (parasitic)8 mag diesem Missverständnis Vorschub geleistet haben, wobei hinzukommt, dass Searle es bei einer negativen Charakterisierung belässt, ohne auf die positiven Leistungen fiktionaler Literatur einzugehen. Eine solche Beschränkung sollte aber nicht dem sprechakttheoretischen Ansatz als solchem angelastet werden. Jedenfalls impliziert eine Explikation fiktionaler Rede durch Bestimmung ihrer Abweichung von ‚normaler‘ Rede weder deren Ausgrenzung noch deren Herabsetzung.9 Die negative Charakterisierung besagt lediglich, von welchen Verpflichtungen fiktionale Rede freigestellt ist, damit sie in der Form von Dichtung, d. h. als fiktionale Literatur, ihre eigentliche Funktion komplementär zu anderen Erkenntnisformen erfüllen kann. Es geht also um die Frage, wie Dichtung trotz oder gerade wegen ihrer Aufhebung eines direkten Wirklichkeitsbezugs einen Wert und insbesondere einen Erkenntniswert haben kann.10 Es ist gerade der Sachverhalt der Fiktionalität, der uns zwingt, den Erkenntniswert der Dichtung an der richtigen Stelle zu suchen. Aus gattungstheoretischer Sicht ist zunächst zu klären, worin der Unterschied zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten besteht. Geht man bei der Wortbildung von fiktionaler Literatur von einer Zusammenfügung von fiktional und Literatur aus, so hat sich die analytische Sprachphilosophie weniger um den Aspekt des Literarischen als vielmehr um den semantischen (und pragmatischen) der Fiktionalität gekümmert. Hier 8 9 10

Searle 1990, 89. Der Ausdruck „parasitic“ wird bereits von Austin 1962, 22 verwendet. Zur Begründung der Abweichungstheorie der Literatur siehe allgemein Fricke 1981. Mit Blick auf diese Fragestellung scheint mir nach wie vor der sprechakttheoretische Ansatz angemessen oder doch zumindest hinreichend zu sein. Die folgende Bestimmung des Begriffs der fiktionalen Rede beschränkt sich daher auf eine (vereinfachte) Darstellung der Überlegungen in Gabriel 1975. Die Übereinstimmungen mit dem im gleichen Jahr erschienenen Aufsatz von Searle erklären sich so, dass beide Ansätze unabhängig von einander von Fregeschen Unterscheidungen ausgehen. Diese wurden bereits in Gabriel 1970 expliziert. Zu neueren Entwicklungen in der Fiktionstheorie vgl. Zipfel 2001; ferner Bareis 2008, besonders Teil II.

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bedarf es einer Ergänzung um Überlegungen, die sich der traditionellen Ästhetik verdanken. Auszugehen ist dabei – ungeachtet fiktionalistischer Tendenzen – weiterhin von dem traditionellen Gegensatz zwischen Fiktion und Wirklichkeit (bzw. Wahrheit), von (ästhetischem) Schein und (außerästhetischem) Sein. Die Explikation hat zunächst negativ zu bestimmen, was Fiktion fehlt, um ‚der Wirklichkeit‘ oder ‚der Wahrheit‘ gerecht zu werden. Hierbei sind zwei Aspekte der Wirklichkeitserkenntnis zu berücksichtigen: Dasein und Sosein. Es können Individuen oder Personen fingiert sein, die in der Literaturwissenschaft Figuren heißen, und es können Sachverhalte und Handlungszusammenhänge fingiert sein. Wesentlich ist darüber hinaus die Unterscheidung des Modus der Präsentation fingierter Sachverhalte, ob sie erkennbar als Fiktionen oder ob sie affirmativ in täuschender oder lügnerischer Absicht präsentiert werden. Die Explikation des Fiktionsbegriffs mag mit Blick auf literarische Beispiele vorgenommen werden, sollte aber in der Sache unabhängig vom Literaturbegriff erfolgen. Gibt es doch sowohl nicht-literarische Fiktionen als auch nicht-fiktionale Literatur. An dieser Stelle möchte ich deshalb ausdrücklich betonen, dass ich Fiktionalität nicht als ein definierendes Merkmal von Literatur ansehe. Fiktionalität ist kein notwendiges Merkmal von Literatur und erst recht ist sie kein hinreichendes Merkmal. Es ist aber so, dass traditionellerweise (seit Platon) gerade die fiktionale Literatur den Vorwurf heraufbeschworen hat, dass die Dichter lügen. Sofern es darum geht, den Erkenntniswert von Literatur zu verteidigen, ist gerade auf diesen Vorwurf und damit auf das Problem der Fiktionalität einzugehen. Nach dem Gesagten empfiehlt es sich, Literatur und Fiktion zunächst getrennt zu halten und einen neutralen Begriff der Fiktion bzw. der fiktionalen Rede zugrunde zu legen. Entsprechend der bereits angedeuteten Unterscheidung kann sich das Fingieren auf das Dasein, das Sosein und die Präsentation beziehen: 1. Dasein: Jemand kann so sprechen, als ob er über bestimmte Personen und Objekte redet, obwohl diese gar nicht existieren. Derlei liegt vor, wenn Namen oder Kennzeichnungen ohne Wirklichkeitsbezug (Referenz) verwendet werden. 2. Sosein: Jemand kann so sprechen, als ob ein bestimmter Sachverhalt (zwischen als existierend anerkannten Objekten) besteht, obwohl dieses gar nicht der Fall ist. Derlei liegt vor in der Beschreibung eines nicht bestehenden Sachverhalts unter Verwendung von Namen und Kennzeichnungen mit Referenz. 3. Präsentation: Jemand kann so sprechen, als ob er einen Sachverhalt in bestimmter Weise präsentiert, insbesondere behauptet, obwohl er dieses gar nicht tut. Derlei liegt insbesondere vor, wenn jemand einen Behauptungssatz äußert, ohne den Sprechakt der Behauptung zu vollziehen, d. h. ohne einen Wahrheitsanspruch zu erheben.11 Die Charakterisierung fiktionaler Rede durch ihre Abweichung von normaler Rede hat die Konsequenz, dass es der Anerkennung eines eigenständigen fiktionalen Sprechaktes

11

Diese Bestimmungen beziehen sich, wie eingangs bemerkt, in erster Linie auf die erzählende Literatur und damit auf die epische Fiktion. Mit Blick auf Aufführungen dramatischer Literatur kann auch davon gesprochen werden, dass ein Schauspieler ‚so tut als ob‘, indem er in eine bestimmte Rolle schlüpft. Die Besonderheiten der dramatischen Fiktion bleiben hier unberücksichtigt.

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des Sprechens-als-ob nicht bedarf. Es ist auch nicht zu sehen, wie ein solcher positiv zu bestimmen wäre.12 Während in Alltagssituationen und in den Wissenschaften ein Sprechen-als-ob normalerweise nicht zulässig ist und durch entsprechende Regeln ausgeschlossen wird, sind Autoren fiktionaler Texte an diese Regeln nicht gebunden. Damit sind die Dichter insbesondere von dem auf Platon zurückgehenden Vorwurf der Lüge entlastet. Unter Zugrundelegung eines Begriffs von Lüge, nach dem nur derjenige lügt, der etwas behauptet, von dem er weiß, dass es nicht wahr ist, war dieser Vorwurf bereits von Philip Sidney (1595) mit dem treffenden Argument zurückgewiesen worden, dass Dichter schon deshalb nicht lügen, weil sie gar nicht behaupten.13 Es versteht sich, dass eine solche Entlastung nicht für alle Literatur zwischen historischem Roman und Märchen in gleicher Weise gilt. Die genannten Bestimmungen können aber gerade für eine differenzierte Beschreibung unterschiedlicher Grade von Fiktionalität bis hin zur Phantastik14 – im Sinne eines stärkeren oder geringeren Wirklichkeitsgehaltes – herangezogen werden. Kehren wir nach der Bestimmung des Begriffs der fiktionalen Rede zu unserer Frage nach dem Erkenntniswert der Dichtung zurück. Da Werke der Dichtung großenteils aus fiktionaler Rede bestehen, ist die Frage, wie solche Werke trotz ihrer Fiktionalität Erkenntnis vermitteln können. Die schlichteste Antwort lautet, dass es in der Dichtung neben Aussagen, die aufgrund fehlender Referenz weder wahr noch falsch sind oder bei vorhandener Referenz falsch sind, auch wahre Aussagen gebe, so dass man selbst aus einem Roman Geschichte und Geographie lernen könne. Nun mag es eine interessante Erfahrung sein, Dublin nach den Beschreibungen von James Joyce im Ulysses zu durchstreifen, als Stadtführer ist der Roman aber gewiss nicht geschrieben worden – ungeachtet seiner bis in die Details bestehenden realistischen Referenzialisierbarkeit, die Arno Schmidt von einem „Handbuch für Städtebewohner“ sprechen ließ. Eine nicht ganz so schlichte Antwort lautet, dass es nicht singuläre Aussagen über historische Personen, Orte und Ereignisse, sondern allgemeine Aussagen über den Menschen und die Welt sind, auf deren Wahrheit es in der Dichtung ankomme. Beide Antworten setzen sich dem Einwand aus, dass die Dichtung etwas mitteile, das Wissenschaften wie Geschichte, Geographie, Psychologie und Soziologie genauer sagen könnten. Um einem solchen Verdoppelungs- oder Trivialitätseinwand zu entgehen, haben viele Theoretiker ganz unterschiedlicher Herkunft (wie der Logiker Frege und besonders entschieden die 12

13 14

Vgl. dagegen Reicher 2009, 52f. Reicher meint (53), „dass die spezifischen Sprechakte, welche fiktionale Rede konstituieren, darin bestehen, dass so getan wird, als würden behauptende Sprechakte vollzogen“. Sprechakte, die so tun, als würden Sprechakte vollzogen, sind keine Sprechakte mit eigenständiger illokutionärer Rolle. Die zitierte Formulierung belegt selbst den abkünftigen Modus des Sprachspiels fiktionaler Rede und stützt dabei geradezu Searles (umstrittene) Charakterisierung der fiktionalen Rede als „parasitär“. Subtiler verteidigt auch Sutrop 2008, 143 unter Rekurs auf die Rolle der Imagination die Auffassung, dass fiktionale Rede „ein Sprechakt sui generis“ sei. Die sprechakttheoretischen Bestimmungen selbst verbleiben allerdings ebenfalls negativ. Was die positiven Leistungen der Imagination anbelangt, die Sutrop zu Recht betont, so kommen diese m. E. erst bei der Bestimmung des Erkenntniswerts fiktionaler Literatur ins Spiel (vgl. dazu weiter unten). Sidney 1971 (zuerst 1595), 52. Vgl. dazu Antonsen 2007.

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Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger15 ) den Erkenntnisanspruch aufgegeben und der Dichtung statt dessen eine emotive Funktion zugewiesen. Nun hat Dichtung sicher auch eine emotive Funktion, müssen wir deshalb aber ihren Erkenntniswert opfern? Eine wesentliche Voraussetzung dieses Opferwillens ist die Festlegung auf einen propositionalen Erkenntnisbegriff. Erkenntnis wird zunächst auf Aussagenwahrheit eingeschränkt. Sodann wird das Verhältnis von Werk und Wahrheit als bloßes Mitteilungsverhältnis gesehen, so dass man die Wahrheit der Dichtung mit den irgendwie im Werk enthaltenen, implizierten oder nahegelegten wahren Aussagen meint gleichsetzen zu können bzw. zu müssen. „Was wollte uns der Dichter sagen?“ ist die typische Frage einer solchen Sicht. Dem ist nun entgegenzuhalten, dass selbst in Fällen, in denen wir es tatsächlich mit Aussagenwahrheit zu tun haben, wie z. B. in didaktischer Dichtung, das semantische Verhältnis von Werk und Wahrheit kein Mitteilungs-, sondern ein Darstellungsverhältnis ist. Auch der Moral von der Geschicht’ geht noch eine Geschichte voraus. Zum anderen darf man die Wahrheit der Dichtung nicht so ohne weiteres mit Aussagenwahrheit gleichsetzen, jedenfalls darf man, wenn man dies tut, nicht außerdem Wahrheit und Erkenntnis gleichsetzen; denn auch ohne dass ein Werk Wahrheiten aussagt oder darstellt, kann es sehr wohl Erkenntnis vermitteln. Was Dichtung wesentlich meint, wird nicht in ihr gesagt oder als in ihr enthalten mitgeteilt, sondern gezeigt, und zwar in der Weise, dass ein fiktional berichtetes Geschehen aufgrund seiner Fiktionalität den Charakter des Historisch-Einzelnen verliert und so – zu einem Besonderen geworden – eine Vergegenwärtigungsleistung erbringt. Gerade der Verzicht auf Referenz, auf verweisende Bezugnahme, ermöglicht eine Richtungsänderung des Bedeutens im Sinne einer auf weisenden Bezugnahme, einer symbolischen Exemplifikation, welche die reflektierende Urteilskraft des Lesers auf der Suche nach einer Deutung aktiviert. Die Richtungsänderung des Bedeutens lässt sich an der Verwendung fiktionaler Eigennamen verdeutlichen. Eigennamen dienen in normaler Rede dazu, auf Individuen eindeutig Bezug zu nehmen, nämlich diese zu identifizieren, wobei der Redekontext im Zweifelsfall zu bestimmen hilft, welcher Hans etwa (unter den auch sonst noch ‚Hans‘ genannten) gemeint ist. Dabei haben Eigennamen keinen Bedeutungsinhalt, der Eigenschaften des benannten Individuums beschreiben würde. Es fehlt ihnen die lexikalische Bedeutung, außer dass sie den Träger in der Regel als männlich oder weiblich charakterisieren. Es ist zwar oft so, dass Eltern mit der Namensgebung für ihr Kind einen Wunsch oder eine Hoffnung zum Ausdruck bringen. Wenn man etwa seinen Sohn im Deutschland des Kriegsjahres 1943 ‚Gottfried‘ nennt, so hat man sich sicher etwas dabei gedacht, sei es, dass man sich für ihn den göttlichen Frieden herbeisehnt, sei es, dass man ihn unter den Schutz Gottes stellt. Damit ist aber keineswegs gesagt, dass sich der Wunsch oder die Hoffnung für den Namensträger auch erfüllt. Eine Verbindung zwischen dem durch die Etymologie eines Eigennamens evozierten Bedeutungsinhalt und den Eigenschaften des Referenten besteht also nicht. Eigennamen charakterisieren ihren Träger nicht und sie liefern keine Beschreibung zur Identifizierung ihres Trägers. Fiktionale Namen in der Dichtung sind dagegen häufig konnotativ sprechende, bedeutungsvolle Namen, wel15

Hamburger 1979.

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che die Figuren charakterisieren und sogar Voraushinweise auf deren Schicksal geben.16 Selbst wenn sich die Charakterisierungen im Laufe der Erzählung nicht erfüllen, so gibt auch dieser Umstand etwas zu verstehen und aktiviert unsere interpretierende reflektierende Urteilskraft. Denken wir beispielsweise an das bedeutsame Geflecht der Eigennamen der Figuren in Goethes Roman Wahlverwandtschaften, das symbolisch die Beziehungen zwischen den Figuren zum Ausdruck bringt.17 Das Beziehungsgeflecht bildet sich in der Wiederkehr der Silbe ‚ott‘ in den Namen der Hauptfiguren ab. So heißt nicht nur der Hauptmann ‚Otto‘, sondern ursprünglich auch Eduard, der zunächst im ersten Satz des Romans – scheinbar auktorial – mit den Worten eingeführt wird „so nennen wir einen Baron im besten Mannesalter“, von dem wir aber später erfahren, dass er sich diesen Namen erst nachträglich selbst zugelegt hat. Die Silbe ‚ott‘ ist auch Bestandteil der Namen ‚Charlotte‘ und ‚Ottilie‘, charakteristischerweise unterschiedlich als Nach- sowie als Vorsilbe, und auch das Kind der Liebesbeziehung zu viert erhält den Namen ‚Otto‘. Die Bedeutsamkeit des Namenspiels wird dadurch unterstrichen, dass die anderen Figuren nicht namentlich, sondern lediglich kennzeichnend eingeführt werden als ‚der Gehülfe‘, ‚der Graf‘ usw. Als weiteres besonders nachdrückliches Beispiel seien die Namensgebungen in E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann angeführt. So lässt sich der Name der Hauptfigur ‚Nathanael‘ – abgesehen von der wörtlichen Bedeutung ‚Gottesgeschenk‘ und mit Blick darauf, dass der biblische Nathanael einer der zwölf Erschaffungsengel ist – als PortmanteauWort lesen. In dieser Lesart stellt sich der Name als die zusammengezogene Verbindung des lateinischen Worts ‚natus‘ (geboren) mit dem Namen des griechischen Todesgottes ‚Thanatos‘ dar. Er konnotiert geradezu ‚geborener Todesengel‘ und verweist somit auf das Schicksal der Figur Nathanael. Eindeutiger bringt der Doppelgängername ‚Coppelius/Coppola‘ (italienisch ‚coppa‘ bedeutet ‚Augenhöhle‘) den signifikanten Bezug auf den eingebildeten oder wirklichen Augenraub seines Trägers zum Ausdruck, und offensichtlich charakterisiert der Name ‚Klara‘ die klare Einsicht und die menschlichen Eigenschaften der Trägerfigur.18 Die Richtungsänderung des Bedeutens bei fiktionalen dichterischen Eigennamen besteht darin, dass sie nicht auf die Wirklichkeit verweisen (es fehlt ihnen die referentielle Bedeutung), sondern in umgekehrter Richtung eine symbolische Bedeutung auf weisen. Damit werden aus sonst bloß bedeutungsleeren fiktionalen Eigennamen bedeutungsvolle poetische Eigennamen. Was hier am Beispiel dichterischer Eigennamen erläutert wurde, lässt sich verallgemeinern: Auf Grund der Richtungsänderung des Bedeutens vollzieht sich dichterische Erkenntnis weniger im Sprachmodus des propositionalen Sagens als vielmehr im Sprachmodus des vergegenwärtigenden Zeigens. Nun werden in fiktionaler Literatur gewiss auch propositionale Informationen vermittelt, welche Funktion haben sie aber? Betrach-

16 17 18

Siehe ausführlich Birus 1978, besonders 31–53, mit zahlreichen Beispielen aus der Geschichte der Literatur. Vgl. ferner Debus 2002. Vgl. Schlaffer 1972 und Birus 1978, 41. Zu weiteren Aspekten vgl. Birus 1978, 176, Anm. 274.

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G G

ten wir etwa die Eingangspassage von Gottfried Kellers Der grüne Heinrich (in der ersten Fassung): Zu den schönsten vor allen in der Schweiz gehören diejenigen Städte, welche an einem See und an einem Flusse zugleich liegen, so dass sie wie ein weites Tor am Ende des Sees unmittelbar den Fluß aufnehmen, welcher mitten durch sie hin in das Land hinauszieht. So Zürich, Luzern, Genf; auch Konstanz gehört gewissermaßen noch zu ihnen.19 Die hier angeführten Städtenamen beziehen sich auf wirkliche Städte, sind also referenzialisierbar. Die Textpassage könnte geradezu in einem Reiseprospekt stehen, der z. B. für einen Urlaub in Konstanz wirbt. Im vorliegenden Kontext liefert sie den Anlass zu einer Aufforderung an den Leser, ‚in der Vorstellung‘ eine Schiffsfahrt anzutreten: „Man kann sich nichts Angenehmeres denken als die Fahrt auf einem dieser Seen, z. B. auf demjenigen von Zürich. Man besteige das Schiff zu Rapperswyl [...].“ Im Verlauf der imaginierten Schiffsfahrt werden Zürich und seine Umgebung in ihren historischen und geographischen Besonderheiten (über ungefähr zwei Seiten) beschreibend vergegenwärtigt. Obwohl in poetisch angereicherter Sprache abgefasst, ist diese Vergegenwärtigung – bezogen auf ihre Zeit – nicht nur referenzialisierbar (die Bezüge sind real), sondern auch verifizierbar (die Aussagen sind wahr). Sie könnte insofern durchaus ihren Platz in einem klassischen Reisebericht haben, dem es nicht nur darum zu tun ist, die Reiseroute anzugeben, sondern auch die Stimmung der Gegebenheiten einzufangen. Die Textpassage findet sich hier aber in einem Roman, und dieser Ort bestimmt unsere Einstellung zu ihr. Bei einem Reisebericht mag uns die Poesie erfreuen, auf Referenzialisierbarkeit und Wahrheit werden wir aber bestehen. In einem Roman des poetischen Realismus konstituieren Referenzialisierbarkeit und Wahrheit (im Sinne der Forderung nach realistischer Glaubwürdigkeit) den Handlungsrahmen der Figuren, ohne dass aber jede Einzelheit stimmen müsste. Wenn Arno Schmidt bemerkt, dass in Goethes Werther die Abschiedsszene am 9. September 1771 nach Sonnenuntergang von einem aufgehenden Mond beleuchtet wird, obwohl nach exakter astronomischer Berechnung „leider, ‚in Wirklichkeit‘, an jenem Werther-Abend wenige Stunden zuvor Neumond, die haarfein-unsichtbare Sichel bei Sonnenuntergang also mit verschwunden war“, und er diesen ‚Fehler‘ seines liebsten Feindes Goethe mit den Worten kommentiert „das wollen nun Klassiker sein!“, so wollen wir zu seinen Gunsten annehmen, dass diese Besserwisserei ironisch und nicht ‚in Wirklichkeit‘ gemeint ist.20 Von fiktionaler Literatur erwarten wir lediglich, dass bekannten Fakten entsprochen wird, dass ihnen Genüge getan wird. Insofern spielen propositionale Wahrheiten (als Hintergrundwissen) eine wichtige Rolle, ohne dass diese aber im strengen Sinne behauptet werden. Wir erwarten nämlich nicht – wie bei Behauptungen – die Einlösung des Wahrheitsanspruchs durch Begründungen. Daher scheint es mir auch nicht angemessen zu sein, in Verbindung mit fiktionaler Literatur von propositiona-

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Keller o. J., Bd. 1, 9. Siehe Schmidt 1995, 90f. Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Sebastian Hille.

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lem Wissen zu sprechen.21 Verlangt dieses doch gemäß der klassischen Bestimmung als „begründeter wahrer Glaube“ eine Begründung. Schwächt man freilich den Begriff des Wissens so ab, dass der Begründungsanspruch entfällt und etwa auch das in Prüfungen oder Quizsendungen abfragbare so genannte ‚lexikalische Wissen‘ bereits als Wissen gilt, so ist nicht zu bestreiten, dass fiktionale Literatur solches propositionale Wissen vermittelt. Allerdings lässt sich darauf keine eigenständige Erkenntnisleistung der Dichtung gründen. Von einer poetischen Darstellung verlangen wir mehr, nämlich dass sie propositionales Wissen gerade überbietet, indem sie zum Beispiel den Faktenwahrheiten eine symbolische Bedeutung (für die Situation der Figuren im Roman) verleiht. So wird im Grünen Heinrich die Verbindung von See und Fluss zum Symbol des Gegensatzes zwischen Ruhe (Sammlung, Systole) und Bewegung (Aufbruch, Diastole) im Leben der Figur des Grünen Heinrich. Im Text wird diese Richtungsänderung des Bedeutens selbst thematisiert. Im Anschluss an die Beschreibung der Schiffsfahrt heißt es, das Eingangsmotiv aufgreifend: So haben Luzern oder Genf ähnliche und doch wieder ganz eigene Reize ihrer Lage an See und Fluß. Die Zahl dieser Städte aber um eine eingebildete zu vermehren, um in diese, wie in einen Blumenscherben, das grüne Reis einer Dichtung zu pflanzen, möchte tunlich sein: indem man durch das angeführte, bestehende Beispiel das Gefühl der Wirklichkeit22 gewonnen hat, bleibt hinwieder dem Bedürfnisse der Phantasie größerer Spielraum und alles Mißdeuten wird verhütet.23 Als „Mißdeuten“ ist hier die referenzialisierende Lektüre angesprochen, mit der sich Keller auch sonst auseinandergesetzt hat. Ironisch weist er in der Vorbemerkung zum zweiten Teil von Die Leute von Seldwyla die referenzversessene Frage zurück, welche der Schweizer Städte „mit Seldwyla gemeint sei“, indem er das fiktive Seldwyla als „ideale Stadt“ gegen das „wirkliche Seldwyla“ ausspielt.24 (Vergleiche in diesem Sinne auch das Goethesche Eingangsmotto.) Zur zweiten Auflage seines Grünen Heinrich bemerkt Keller, dass er „allerlei hineingeflunkert“ habe, um das Buch „deutlicher zum Roman zu machen“. Als Begründung führt er an, dass es noch immer „Esel“ gebe, „die es für bare biographische Münze nehmen“.25 Zugestanden wird damit, dass auch biographische Elemente in den Roman eingeflossen sind. Dieser sei, wie Keller an seinen Verleger Vieweg schreibt, „ein Produkt der Erfahrung“: „Es ist wohl keine Seite dar21

22 23 24 25

So auch Reicher 2007. Reicher argumentiert allerdings nicht ganz konsistent, wenn sie zunächst richtig feststellt, dass „die Vermittlung propositionalen Wissens im Falle fiktionaler Erzählkunst [...] eine untergeordnete Rolle spielt“ (ebd., 34), dann aber „die kognitivistische Position“ davon abhängig macht, dass in fiktionalen Werken „behauptet wird“ (ebd., 38). Stellt der Sprechakt der Behauptung doch gerade den Prototyp propositionaler Wissensansprüche dar. Schwankend bleibt das Verhältnis zwischen Wissen und Erkenntnis auch in neueren Arbeiten wie Daiber/Konrad/ Petraschka/Rott 2012. Der I. Teil ist mit „Knowledge and Cognition“ überschrieben, wobei man aber davon auszugehen scheint, dass zwischen beiden Begriffen kein Unterschied besteht. Hervorhebung G. G. Angesprochen ist hier, was ich oben die „Glaubwürdigkeit“ genannt habe. Keller o. J., Bd. 1, 11. Keller o. J., Bd. 2, 251. Keller o. J., Bd. 1, 1155 (Brief an Maria Melos vom 29.12.1880).

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in, welche nicht gelebt und empfunden worden ist“.26 Natürlich: Ohne Erfahrungen kein Stoff. Überdies: Die Verarbeitung eigener Erfahrungen mag die Authentizität eines literarischen Werkes befördern, dessen Erkenntniswert besteht aber nicht in der Garantie einer solchen Glaubwürdigkeit, sondern darin, eigene Erfahrungen für andere exemplarisch zu vergegenwärtigen, das historisch Einzelne zu einem literarischen Besonderen umzugestalten. In diesem Sinne spricht auch Keller davon, dass er sich mit der Einfügung seiner biographischen „Jugendgeschichte“ die Aufgabe gestellt habe, „ein Exempel zu statuieren“.27 Gezielte Referenzialisierungen literarischer Texte, wie z. B. eine Besichtigung Dublins nach den Ortsangaben in James Joyces Ulysses, ein Besuch Dresdens an Hand der im Umlauf befindlichen Referenz-Liste zu Uwe Tellkamps Der Turm oder eine Begehung des Buddenbrook-Hauses in Lübeck, folgen nicht der Richtungsänderung des Bedeutens und werden damit dem exemplifikatorischen Charakter fiktionaler Literatur nicht gerecht. Allgemein lässt sich sagen: In realistischen, naturalistischen und historischen Romanen sind Referenzialisierbarkeit und Verifizierbarkeit in gewissen Grenzen unverzichtbar, sie begründen aber nicht den spezifischen Erkenntniswert von Literatur. Selbst in den Fällen, in denen fiktionale literarische Texte den Anspruch erheben, neue propositionale Erkenntnisse – etwa Einsichten über die Lebenswirklichkeit – vermitteln zu können, besteht die Erkenntnisleistung doch weniger in der abstrakten Auf stellung einer allgemeinen Proposition oder These als vielmehr in der konkreten nicht-propositionalen Darstellung, nämlich in der narrativen Vergegenwärtigung von deren Inhalt.28 Dies gilt auch für die „Moral“ des Grünen Heinrich, die Keller dahingehend propositional bestimmt, „dass derjenige, dem es nicht gelingt, die Verhältnisse seiner Person und seiner Familie im Gleichgewicht zu erhalten, auch unbefähigt sei, im staatlichen Leben eine wirksame und ehrenvolle Stellung einzunehmen“, und sodann sogar auf das Sprichwort bringt: „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!“29 Diese propositionale Explizitheit dürfte allerdings dem besonderen Umstand geschuldet sein, dass Keller in diesem Zusammenhang seinem Verleger Vieweg den Inhalt des Romans erläutert. Die eigentliche Erkenntnis wird auch für Keller durch das „Exempel“, die exemplarische Vergegenwärtigungsleistung des Romans, vermittelt. In diesem Sinne ist auch das Motto zu verstehen, das Wieland seinem Agathon vorangestellt hat: „Quid Virtus et quid Sapientia possit / Utile proposuit nobis exemplum.“ (Was Tugend und was Weisheit vermögen / hat uns nützlich ein Beispiel gezeigt.)30

26 27 28

29 30

Ebd., 1138 (Brief an Eduard Vieweg vom 3.5.1850). Ebd., 1139 (Brief an Hermann Hettner vom 4. 3. 1851). Hervorh. G. G. Vgl. Gabriel 1975, 97. Dieser wesentliche Aspekt findet in der Verteidigung des (propositionalen) Wahrheitsanspruchs der Literatur in Misselhorn 2011 m. E. zu wenig Beachtung, obwohl dort auch die Bedeutung der (nicht-propositionalen!) „imaginative[n] Vergegenwärtigung bestimmter Erfahrungen und Erlebnisse“ betont wird (Misselhorn 2011, 36). Keller o. J., Bd. 1, 1137 (Brief an Eduard Vieweg vom 3. 5. 1850). Das Motto ist aus den Epistolae (1. Buch, II, Vers 17f.) des Horaz übernommen. Bei Horaz steht „exemplar“ statt „exemplum“. Mit dieser Änderung, die Wieland in der zweiten Auflage vornimmt, unterstreicht er das Moment des Exemplarischen; denn nicht jedes einzelne „exemplar“ ist auch schon ein besonderes „exemplum“.

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Als Standardbeispiel einer allgemeinen These gilt in der Literaturtheorie der Eingangssatz von Tolstois Roman Anna Karenina: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Art.“ Natürlich hat dieser Satz schon auf Grund seiner hervorgehobenen Stellung eine lektüre- und erkenntnisleitende Funktion. Es wäre aber vollkommen abwegig, in ihm den Erkenntniswert von Tolstois Roman ausmachen zu wollen. Auf die Frage nach dessen „Hauptgedanken“ antwortet Tolstoi denn auch, dass er, um all das zu sagen, was er habe ausdrücken wollen, den gleichen Roman noch einmal schreiben müsste.31 Mit anderen Worten, die Erkenntnisleistung der narrativen Vergegenwärtigung ist propositional nicht einholbar. Nicht-propositionale Vergegenwärtigungsleistungen der Literatur, deren ästhetisches Gelingen an ihrer Prägnanz im Sinne einer komplexen (detailgenauen, nuancenreichen) Darstellung gemessen wird, können allerdings Anlass zu weiteren propositionalen Erörterungen etwa in moralphilosophischer Absicht geben. Der Erkenntniswert der Literatur besteht hier in einer exemplarischen Kultivierung und Sensibilisierung unserer moralischen Urteilskraft als Voraussetzung eines differenzierten moralischen Diskurses.32 Die Vergegenwärtigung von Situationen ‚Anderer‘ (in Gestalt literarischer Figuren) erweitert den Horizont unseres Verstehens; sie erlaubt uns eine imaginative Teilnahme an vielfältigen Handlungszusammenhängen, Motiven, Gefühlen, Haltungen, Sichtweisen und Stimmungen, die uns selbst im wirklichen Leben nicht zuteil geworden – oder auch erspart geblieben sind.33 Dabei handelt es sich nicht um eine wirkliche (unmittelbare) Bekanntschaft, nicht um einen direkten epistemischen Kontakt mit den Dingen selbst. Imaginativer Vergegenwärtigung geht es gerade nicht um die „Produktion von Präsenz“ im realen Sinne34 und nicht einmal um das Glaubenmachen (make-believe) von Präsenz im Sinne eines ‚Eintauchens‘ in eine andere, fiktive Welt.35 Dabei will ich der Literatur die psychotherapeutische Funktion des kathartischen Rollenspiels nicht streitig machen, die ästhetische Rezeption von Literatur ist aber nicht Sache einer psychologischen Identifikation, sondern eines semantischen Nachvollzugs. So soll die Vergegenwärtigung des Gefühls der Entfremdung in den Texten Kafkas dieses Gefühl nicht hervorrufen, sondern verstehbar machen.36 Das Interesse an solcher imaginativen Teilnahme wird in neueren kognitionswissenschaftlichen Literaturtheorien auf ein Nachahmungsbedürfnis des Menschen zurückgeführt, wobei dieses evolutionstheoretisch durch das Faktum so genannter „Spiegelneuronen“ zu erklären versucht wird.37 Wenn das Vorhandensein von Spiegelneuronen auch eine (sehr aufschlussreiche) kausale Erklärung der Tatsache liefern mag, dass der Mensch ein „Wohlgefallen an der Nachahmung“ – sozusagen 31 32 33 34 35 36

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Tolstoi 1978, 296f. (Brief an N. N. Strachov vom 23. und 26. 4. 1876). Vgl. Nussbaum 1990. Die wesentliche Unterscheidung zwischen den Sprachformen des Aussagens und des Vergegenwärtigens findet bei Nussbaum allerdings keine Berücksichtigung. Vgl. Jäger 2005, 18f. Zur Verbindung von Fiktion und Imagination vgl. ausführlich Sutrop 2000. Dies betone ich in Absetzung von Gumbrecht 2004. Hierin unterscheidet sich meine Auffassung von Walton 1990. Es geht also nicht um „reale Emotionen“, wie Vendrell Ferran 2010, 106 meint. M. E. scheint es mir ein zu großes Zugeständnis an den Emotivismus zu sein, wenn es heißt, dass „im Mittelpunkt unserer imaginativen Einstellung die Suche nach einer lustvollen ästhetischen Erfahrung steht“. So Lauer 2007. Zur Diskussion vgl. Koepsell/Spoerhase 2008.

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eine „Naturanlage“ zur Nachahmung – hat, so ist eine solche Erklärung doch keine argumentative Begründung für die Berechtigung des Nachahmungstriebs sowie die Berechtigung einer aus diesem Trieb entstandenen Literatur. Auch Zwangsneurosen und Wahnvorstellungen haben ihre Ursachen, ohne deshalb berechtigt zu sein, und ist nicht die Figur des Don Quijote die gelungene literarische Vergegenwärtigung just solcher aus dem Nachahmungstrieb erwachsener Wahnvorstellungen. Um die Relevanz der Literatur zu begründen, muss man deren Leistungen (wie z. B. Erkenntnisleistungen) plausibel machen, und dazu muss ich über Spiegelneuronen gar nichts wissen. Eine angemessene Stütze findet der Gedanke der imaginativen Teilnahme (im Sinne einer gewissermaßen kognitiven Einfühlung) dagegen in der Rehabilitierung der Gefühle in der gegenwärtigen Erkenntnistheorie und Moralphilosophie. Wie in der Ästhetik, so ist die Einbeziehung der Gefühle auch in der Ethik mit einem Kognitivismus verträglich, sofern Gefühle nicht – wie im Emotivismus – die Grundlage moralischer Urteile abgeben, sondern der vorbereitenden Sensibilisierung für moralische Fragen dienen.38 Da wir alle moralisch relevanten Situationen selbst weder durchleben können noch wollen, helfen literarische Vergegenwärtigungen, uns in solche Situationen und Gefühlslagen stellvertretend hineinzuversetzen. Ohne literarische Vergegenwärtigungen darauf festlegen zu wollen, kommt der narrativen Darstellung hier eine ausgezeichnete Rolle zu, weil sie Gefühle vorrangig mit relevanten Entscheidungssituationen exemplarisch in Verbindung bringt und so die Phantasie der moralisch reflektierenden Urteilskraft belebt und auf ihren Weg vom Besonderem zum Allgemeinen für die Komplexität der Lebenswirklichkeit empfänglich macht.39 Literatur in diesem Sinne eine moralische Relevanz zuzusprechen, heißt nicht, sie einseitig in den Dienst der Moralphilosophie zu stellen oder gar für eine ganz bestimmte Moralvorstellung in Anspruch zu nehmen.40 Neben moralisch relevanten Vergegenwärtigungsleistungen der Literatur, gibt es selbstverständlich auch solche, die moralisch neutral, aber ästhetisch oder epistemisch bedeutsam sind. Die hier vorgelegte Analyse sollte deutlich gemacht haben, dass und wie Dichtung trotz oder sogar auf Grund ihrer Fiktionalität einen Erkenntniswert haben kann. Dabei ist festzuhalten, dass die Orientierung an Fakten die Wirklichkeitserkenntnis der Historie keineswegs über diejenige der Dichtung stellt. Obwohl die Dichtung von Forderungen nach ihrer Referenzialisierbarkeit und Verifizierbarkeit befreit ist, kommt sie der Lebenswirklichkeit dennoch häufig näher als die Historie, weil es in ästhetisch zutreffenden Darstellungen nicht auf das Bestehen singulärer Tatsachen ankommt. So besteht die Funktion der Fiktion einer historischen Quelle in Wielands Geschichte des Agathon gerade darin, die Fixierung auf quellengestützte historische Wahrheit ironisch zu unterlaufen und für die Literatur eine Erkenntnisleistung anderer Art geltend zu machen. 38 39 40

Vgl. Demmerling 2004, 31. Teichert 1996, 211 spricht von der „emotionalen Partizipation“ als der besonderen „Erkenntnisform der Tragödie“. Vgl. in diesem Sinne auch Mittelstraß 2010, besonders 48f. Eine solche Funktionalisierung nimmt Rorty 2001 (zuerst 1998), 164 vor, wenn er die Sensibilisierung und „Erweiterung der moralischen Vorstellungskraft“ durch Literatur pragmatistisch in den Dienst des „moralischen Fortschritts“ stellt, eines Fortschritts, den die rhetorische Überredung mehr befördere als die philosophische Reflexion. Vgl. dagegen die berechtigten Bedenken, die Vendrell Ferran 2011 gegen eine direkte Wirksamkeit von Literatur auf moralisches Handeln erhebt.

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Diese Leistung besteht (ganz unabhängig vom vorliegenden Beispiel) in einer exemplarischen Vergegenwärtigung der conditio humana, der Situation des Menschen in seiner Welt. In diesem Sinne mag es die Dichtung zwar mit derselben Wirklichkeit zu tun haben wie die Wissenschaft, aber nicht mit bloßen Tatsachen, sondern mit der Sicht der Wirklichkeit aus menschlicher Perspektive. Denken wir etwa an den Unterschied zwischen einer historischen Darstellung der Rolle des Bildungsbürgertums im Dritten Reich und der literarischen Vergegenwärtigung der bildungsbürgerlichen Perspektive in der Figur des Erzählers Serenus Zeitblom in Thomas Manns Roman Doktor Faustus. Die Überlegenheit der Dichtung gegenüber der Historie erwächst insbesondere aus der Möglichkeit, Innenansichten darstellen zu können, bis hin zur Nutzung der Erzählform des inneren Monologs und der Darstellung von Bewusstseinsströmen, was der eher behavioristisch zu verfahrenden Historie aus methodologischen Gründen versagt ist, weil sie keinen direkten Zugang zum Psychischen historischer Personen hat. Jedenfalls gilt dies für die Historie als Geschichtswissenschaft, der es freilich unbenommen bleibt, Aufzeichnungen von Zeitzeugen – erlebte Geschichte aus persönlicher Perspektive – als dokumentarische Quellen ernst zu nehmen. Zu nennen sind hier etwa die Tagebücher des jüdischen Romanisten Victor Klemperer, die aufgrund ihrer narrativen Vergegenwärtigungsleistungen zu einem klassischen Text der Erinnerungskultur geworden sind und ein nachdrückliches Beispiel für nicht-fiktionale Literatur liefern.41 Es versteht sich, dass es neben einer solchen Mischform und anderen Mischformen, wie etwa literarischen Formen der Philosophie, weitere Darstellungsformen als Erkenntnisformen gibt, die hier aber nicht Gegenstand der Untersuchung waren. Unsere Aufmerksamkeit galt vor allem zwei gleichberechtigten Formen der Erkenntnis, die sich zusammenfassend bestimmen lassen als: 1. die propositionale wissenschaftlich-apophantische Beschreibung der Faktenwirklichkeit, 2. die nicht-propositionale literarisch-fiktionale Vergegenwärtigung der Lebenswirklichkeit. Dichtung als fiktionaler Literatur kommt danach ein Erkenntniswert zu, der nicht mit Aussagenwahrheit zusammenfällt.42 Dieses Ergebnis widerspricht der logischen Tradition bis zu Frege und darüber hinaus, in der Erkenntnis mit propositionalem Wissen gleichgesetzt wurde. Dagegen ist festzuhalten, dass eine Erkenntnis der Dinge und Situationen nicht nur durch deren propositionale Beschreibung erfolgen kann, sondern auch so, dass wir mit ihnen bekannt gemacht werden. Zu verweisen ist hier auf die Unterscheidung zwischen propositionalem Wissen, dass etwas der Fall ist, und nichtpropositionalem Wissen, wie es ist, sich in der-und-der Stimmung oder Situation zu befinden.43 41 42

43

Klemperer 1995. Ähnlich meint Seel 1985, 159, „ästhetische Präsentationen“ stimmten mit anderen „Formen der Vergegenwärtigung“ darin überein, dass sie „in wesentlicher Hinsicht propositional nicht artikuliert sind“. In beiden Fällen handelt es sich um theoretisches Wissen. Das Wissen-wie-es-ist vermag in entsprechenden Begriffsfeldern zudem das distinguierende und das nuancierende Unterscheidungs-

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Mit dem Wissen-wie-es-ist ist eine Dimension des Erkennens angesprochen, die insbesondere in der Diskussion um die Erlebnisqualitäten in der so genannten Qualia-Debatte ihren Platz hat und in wahrnehmungstheoretischen Zusammenhängen zur Anerkennung nicht-propositionaler Erkenntnis geführt hat.44 Zu wissen, dass etwas rot ist, ist etwas anderes als zu wissen, wie es ist, eine Rotwahrnehmung zu haben. Ein Farbenblinder kann ersteres Wissen erwerben, letzteres aber nicht. Diese Differenz ist nicht nur erkenntnistheoretisch, sondern auch ästhetisch relevant. So wird in den monochromen Gemälden moderner Künstler, wie Barnett Newman und Yves Klein, das kontemplative Moment der Farbwahrnehmung ästhetisch (im Sinne von ‚aisthetisch‘) nicht nur vergegenwärtigt, sondern wirklich gegenwärtig und bis zum Erlebnis (Gefühl) der Erhabenheit gesteigert. Vor diesem Hintergrund möchte ich betonen, dass ich ‚Bekanntschaft‘ weiter verstehe und nicht auf solche Erlebnisqualitäten beschränkt sein lasse.45 Der Erkenntniswert der Literatur erstreckt sich nicht nur auf die Bekanntschaft mit Gefühlen, Befindlichkeiten, Stimmungen usw., sondern auch auf die Bekanntschaft mit Situationen und der conditio humana insgesamt. Hervorzuheben ist, dass eine wirkliche Bekanntschaft im Sinne eines direkten epistemischen Kontakts, eines Wissens durch Bekanntschaft (knowledge by acquaintance), wie im Falle der Erlebnisqualitäten, durch literarische Vergegenwärtigung nicht erreicht werden kann. Positiv gesagt: Eine unmittelbare Bekanntschaft bleibt uns auch erspart. Die gelungene (adäquate) literarische Vergegenwärtigung einer Situation ermöglicht es dem Leser, sich in diese Situation imaginativ zu versetzen. Kognitive Empathie führt aber nicht dazu, dass man wirklich weiß, wie es ist, sich in dieser Situation zu befinden. Aus diesem Grunde dürfte es angemessener sein, statt von einem Wissen-wie-esist von einem Erkennen-wie-es-ist zu sprechen. Wie es ist, eine Depression zu haben, weiß wohl nur derjenige, der selbst in einer solchen Situation gewesen ist, die Depression am eigenen Leibe erlebt bzw. in der eigenen Seele gefühlt hat. Dann erst kennt man sie wirklich. Auf der anderen Seite fehlt uns in der Situation der wirklichen Bekanntschaft die reflexive Distanz, diese zu begreifen. Dazu verhilft uns erst die imaginative Vergegenwärtigung der Situation eines anderen, in der wir unsere eigene Situation möglicherweise wiedererkennen. Die Aktivierung der Imagination verlangt nicht, dass diese im wörtlichen Sinne als Einbildungskraft mentale Bilder erzeugt. Das Verstehen eines literarischen Textes mag von bildlichen Vorstellungen begleitet sein. Es ist aber nicht davon abhängig, dass gewissermaßen ein innerer Vorstellungsfilm abläuft. Selbst die Aufforderung ‚sich etwas vorzustellen‘, z. B. in Berlin zu sein, verlangt ja nicht, ein mentales Berlin-Bild zu entwerfen und in diesem Bild aufzutreten. Sich imaginativ in die Situation einer literarischen Figur zu versetzen, impliziert demgemäß nicht, in einem Vorstellungsbild oder Vorstellungsfilm deren Platz einzunehmen. Ein imaginatives Rollenspiel ist mög-

44 45

wissen zu schärfen. Praktisches Wissen, wie man angemessen handelt, etwas macht oder herstellt, ist eine weitere Form nicht-propositionalen Wissens, die hier aber außerhalb der Betrachtung bleibt. Vgl. hierzu ausführlich Schildknecht 2002, besonders 199–215. Vgl. dagegen Reicher 2007, 28, die das Wissen-wie-es-ist auf „Bekanntschaft mit Erlebnisqualitäten“ zu beschränken scheint.

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lich, aber keine notwendige Bedingung für ein angemessenes Verständnis fiktionaler Literatur. Möglicherweise verhindert eine solche ‚Identifikation‘ sogar die reflexive Einstellung und damit weitergehende Erkenntnis. Die Unterscheidung zwischen (nicht-propositionalem) Wissen-wie-es-ist und (nichtpropositionalem) Erkennen-wie-es-ist schließt ein, dass die Arten der Betroffenheit wesentlich verschieden sind. Damit dürfte sie auch für die gegenwärtig viel diskutierte Frage der Gefühlsqualität der Tränen, die mitunter bei der Lektüre fiktionaler Literatur vergossen werden, von Belang sein. Man wird zugestehen können, dass es sich nicht nur in physischer, sondern auch in psychischer Hinsicht um echte Tränen handelt. Es sind also keine ‚Krokodilstränen‘, die Gefühle in heuchlerischer Absicht vortäuschen. Es handelt sich auch nicht bloß um Als-ob-Tränen, wie sie etwa der Schauspieler erzeugt. Dennoch sind es keine Tränen wie im wirklichen Leben, weil die Gefühle, von denen sie ausgelöst werden, weniger nachwirken und leichter ‚abgeschüttelt‘ werden können. Die kathartische Wirkung ist ja gerade an das Abklingen der Gefühle gebunden. Es versteht sich, dass eine tränenreiche Anteilnahme auf Seiten der Rezipienten nicht schon als Anzeichen ästhetisch gelungener Vergegenwärtigung auf Seiten des Werkes zu werten ist. Hinter vielen Versuchen, im Bemühen um Erkenntnis über propositionale Wahrheit hinauszugehen, steht als Motiv die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit, Dies gilt zum Beispiel für Bergsons Begriff der Intuition46 und für Heideggers Versuch, Wahrheit als „Unverborgenheit“ zu deuten und damit sogar den Wahrheitsbegriff nicht-propositional zu bestimmen.47 Letztlich dürfte auch hinter den Bemühungen der Dekonstruktion, diskursive Erkenntnis immer wieder zu unterlaufen, eine negative Theologie der Unmittelbarkeit stehen. Offensichtlich ist eine solche Verbindung bei einem Vorläufer der Dekonstruktion, dem Sprachkritiker Fritz Mauthner. Die hier vertretene Auffassung einer Komplementarität von propositionaler und nichtpropositionaler Erkenntnis setzt sich von den genannten Traditionen ausdrücklich ab. Gegen die Emphase der Unmittelbarkeit und deren Kehrseite, nämlich Entzugstheorien und Negativitätsästhetik, plädiere ich dafür, Literatur (und Kunst insgesamt) nicht zu überfrachten und sich statt dessen auf deren positive Erkenntnisleistungen zu besinnen, die darin bestehen, uns mit Dingen, Situationen und Sichtweisen imaginativ bekannt zu machen. Die gelungene literarische Vergegenwärtigung von Situationen, Einstellungen, Stimmungen und Lebensformen stellt ganz unabhängig davon, ob ich diese moralisch billige oder verabscheue, einen Erkenntniswert dar, indem sie mich die conditio humana, gegebenenfalls auch ihre dunklen Seiten und Perversionen, kennen lehrt. Um den Unterschied zur propositionalen Erkenntnis auch terminologisch festzuhalten, könnte man hier statt von einem Erkenntniswert auch von einem Kenntniswert in dem Sinne sprechen, dass Literatur uns Kenntnis darüber vermittelt, wie es ist, sich in einer bestimmten Situation, Stimmung usw. zu befinden.48 Jedenfalls empfiehlt es sich nicht, wie noch 46 47 48

Bergson 1985 (franz. zuerst 1934). Heidegger 1979 (zuerst 1927), 32ff., 219ff. Zur Vorgeschichte und Diskussion des Begriffspaars Kennen und Erkennen siehe Gabriel 2010. Einen kognitivistischen Ansatz in der Literaturtheorie verfolgt auch Tilmann Köppe. Allerdings bestreitet er die Möglichkeit nicht-propositionaler Erkenntnis. So macht er die Alternative auf zwischen der Vermittlung von propositionalem Wissen und der Verursachung von anschaulichen

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einmal zu betonen ist, von einer Wissensvermittlung durch Literatur zu sprechen: Propositionales Wissen verlangt eine Begründung, die der Dichtung fremd ist, und nichtpropositionales Wissen im Sinne eines Wissens durch Bekanntschaft setzt einen direkten epistemischen Kontakt voraus, während Dichtung eine imaginative und damit indirekte Bekanntschaft vermittelt. Es geht in ihr nicht um Gegenwärtigung (Präsenz), sondern um Vergegenwärtigung. Ersetzen wir daher ‚Wissen‘ durch ‚Erkenntnis‘ oder ‚Kenntnis‘! Der kognitive Wert der Literatur bleibt in jedem Fall gesichert. Literaturverzeichnis

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Literatur und Aussagen über Allgemeines1

1.

Einleitung

Die Lektüre von Fiktionen wird im Allgemeinen als wertvoll betrachtet. Dass fiktionaler Literatur Wert zugeschrieben wird, kommt darin zum Ausdruck, dass der Umgang mit ihr gesucht und empfohlen wird. Warum aber werden literarische Fiktionen wertgeschätzt? Man kann fiktionale Literatur wertschätzen, weil sie vergnügt und unterhält; Leser können fiktionale Literatur aber auch deshalb wertschätzen, weil sie durch die Lektüre etwas Neues oder eine neue Sicht auf etwas Bekanntes kennenlernen, zu einer neuen Einsicht gelangen oder allgemein etwas lernen. Nach dieser Auffassung besteht der Wert von fiktionaler Literatur darin, dass wir durch sie zu Wissen gelangen. Allerdings liegt es nicht auf der Hand, dass Literatur für den Erwerb von Wissen überhaupt in Frage kommt. Charakterisieren lässt sich fiktionale Literatur gegenüber anderen Formen der Literatur dadurch, dass sie ihre Leser dazu einlädt, sich etwas vorzustellen.2 Beruht der Umgang mit fiktionaler Literatur aber auf der imaginativen Tätigkeit des Lesers, so erscheint unklar, wodurch sie Wissen zu vermitteln in der Lage ist. Für die Meinung, dass wir uns durch Literatur nicht epistemisch besserstellen können, scheint noch mehr zu sprechen.3 Stellt man den kognitiven Wert von Literatur in Abrede, so kann man sich auch auf die engeren Merkmale fiktionaler Rede stützen. Nach der von Searle etablierten Analyse fiktionaler Rede, die als Standardanalyse gelten kann, wird mit literarischen Äußerungen nicht der Sprechakt des Behauptens vollzogen.4 Dabei stellen Behauptungen Äußerungen dar, die mit Wahrheitsanspruch vertreten werden. Gemäß der Standardanalyse sind Sätze innerhalb fiktionaler Rede jedoch nicht wahr1 2 3 4

Für Kommentare zu früheren Textversionen danke ich Stefan Deines und Martin Seel sowie den Zuhörern eines Vortrags im Forum für Philosophie, Frankfurt. Vgl. Köppe 2008, 24ff., ausgehend von Currie 1990. Unter Literatur wird nachfolgend immer fiktionale Literatur verstanden. Vgl. Searle 1975, zu fiktionaler Rede und Behauptungen außerdem Gabriel 1975, 42–52. Auch Reicher 2007, 37, bezeichnet die Erklärung fiktionaler Rede bei Searle als Standardanalyse.

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heitswertfähig, weil sie Eigennamen und Kennzeichnungen enthalten, mit denen nicht auf reale Personen oder Orte Bezug genommen wird. Zu den Vorteilen der Standardanalyse gehört, dass sie den Vorwurf entkräften kann, nach dem die Dichter gegen ihre epistemischen Pflichten verstoßen. Weil literarische Autoren nicht behaupten, lassen sie sich nicht der Lüge oder der Täuschung bezichtigen. Die Erklärung wird damit dem Umstand gerecht, dass literarische Autoren nicht für einzelne Äußerungen kritisiert werden, die gegen die Wahrheit verstoßen. Allerdings hat die Standardanalyse fiktionaler Rede auch eine Kehrseite. Wenn fiktionale Werke keine Behauptungen enthalten, scheint ausgeschlossen, dass Leser durch ihre Lektüre etwas über die Welt erfahren. Zumindest auf den ersten Blick spricht die Standardanalyse dagegen, dass fiktionale Literatur eine wahrheitssuchende Institution nach dem Modell der Wissenschaft oder der Philosophie bildet.5 Nimmt man literarische Äußerungen genauer in den Blick, so fällt jedoch auf, dass auch im Verwendungskontext fiktionaler Literatur Behauptungen vorkommen. Auch in literarischen Texten kommen Aussagesätze vor, mit denen etwas behauptet wird und die Überzeugungen zum Ausdruck bringen. Die Anfangssätze von Fontanes Stechlin geben ein Beispiel: Im Norden der Grafschaft Ruppin, hart an der mecklenburgischen Grenze, zieht sich von dem Städtchen Gransee bis nach Rheinsberg hin (und noch darüber hinaus) eine mehrere Meilen lange Seenkette durch eine menschenarme, nur hie und da mit ein paar alten Dörfern, sonst aber ausschließlich mit Förstereien, Glas- und Teeröfen besetzte Waldung. Einer der Seen, die die diese Seenkette bilden, heißt ,der Stechlin‘.6 Diese Sätze enthalten Namen für historisch existierende geographische Gegebenheiten und stellen Behauptungen über Topographie und Kultur einer Region zur Zeit der Abfassung des Werks dar.7 Aus dem Beispiel geht hervor, dass auch in fiktionalen literarischen Werke Behauptungen mit Bezug nehmenden Ausdrücken vorkommen. Offenkundig kann fiktionale Literatur neben fiktionaler auch behauptende Rede beinhalten. Durch den Verweis darauf, dass in fiktionalen Werken auch Behauptungen vorkommen können, lässt sich der Zweifel an ihrem kognitiven Wert dennoch nicht beseitigen. Den Erkenntnisanspruch von Literatur kann man auch deshalb in Frage stellen, weil literarische Meinungen anders als Meinungen im wissenschaftlichen oder philosophischen Diskurs nicht durch andere Meinungen begründet werden, die für ihre Wahrheit sprechen. Nach diesem Einwand können Leser kein Wissen aus Literatur beziehen, weil Literatur keine Rechtfertigung durch die inferentielle Stützung von Meinungen enthält. Allerdings schreiben wir auch Subjekten Wissen zu, die nicht über die Gründe für die Wahrheit einer Überzeugung verfügen. Wissen kann man auch dadurch gewinnen, dass man die Meinung anderer übernimmt und dem Glauben schenkt, was man liest oder gesagt bekommt. Da literarische Autoren aber nicht wie wissenschaftliche Experten oder 5 6 7

Vgl. die Darstellung zum No-learning-from-fiction-Argument bei Reicher 2012, 115ff. Fontane 2001 (zuerst 1897), 5. Zu behauptender Rede innerhalb fiktionaler Werke vgl. Reicher 2007, 2012 und Gabriel 2010, 256ff.

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Augenzeugen den Status einer mit Glaubwürdigkeit ausgestatteten epistemischen Autorität besitzen, bietet Literatur auch keine Quelle für ein vom Zeugnis glaubwürdiger anderer auf den Hörer oder Leser transferiertes Wissen.8 Stellt man diese Argumente zusammen, so scheinen literarische Äußerungen mehrfach gegen die Bedingungen für Wissen als wahre gerechtfertigte Meinung zu verstoßen. Gegen den kognitiven Wert von Literatur spricht, dass einerseits fiktionale Rede als wesentlicher Bestandteil fiktionaler Werke nicht behauptend ist und andererseits Behauptungen innerhalb fiktionaler Werke nicht begründet werden. In der Folge lässt sich bezweifeln, dass uns fiktionale Literatur ähnlich wie die Wissenschaften oder die Philosophie mit der Welt vertraut machen kann. Ist es also falsch, Literatur kognitiven Nutzen zuzuerkennen und sie aufgrund ihres kognitiven Nutzens für wertvoll zu halten?

2.

Literatur und nicht-propositionale Erkenntnis

Bei näherer Betrachtung verliert die Auffassung, dass fiktionale Literatur keinen kognitiven Wert trägt, jedoch schnell ihre Plausibilität. Tatsächlich können literarische Werke sogar deshalb zu Erkenntnis verhelfen, weil sie fiktional sind. Verteidigen lässt sich der kognitive Wert von Literatur etwa unter der Voraussetzung, dass Literatur eine gegenüber dem traditionellen Wissensbegriff alternative Form von Wissen vermittelt. Nach diesem Gedanken lässt sich durch Literatur ein vom Überzeugungswissen, wie es Wissenschaft und Philosophie vermitteln, verschiedenes Wissen gewinnen. In dieser Perspektive verhilft Literatur zum Erwerb eines Wissens, das sich komplementär zu wissenschaftlichem und philosophischem Wissen verhält.9 Man kann etwa dafür argumentieren, dass sich durch Literatur ein Wissen in Bezug auf die phänomenalen Zustände anderer erwerben lässt.10 Während wir über ein Wissen von den phänomenalen Zuständen der eigenen Person verfügen, weil wir mit diesen unmittelbar vertraut sind, eröffnet Literatur einen Zugang zu den phänomenalen Zuständen anderer Personen in der Gestalt literarischer Figuren. Durch literarische Darstellung erlangen wir ein Wissen, wie es ist oder wie es sich anfühlt, eine Person mit einer bestimmten Biographie zu sein – wie es zum Beispiel ist, die in ihrer Ehe unglückliche Emma Bovary zu sein.11 Demnach ist Literatur dadurch ausgezeichnet, dass sie uns an Erfahrungen anderer in der Perspektive der ersten Person simulatorisch teilhaben lässt.12 Auch allgemeiner kann man behaupten, dass Literatur durch die Einnahme einer subjektiven Perspektive gekennzeichnet ist. Da sie eine von Einstellungen und Präferenzen nicht abgelöste Sichtweise auf die Welt zur Darstellung bringt, lernen wir durch literarische Lektüre eine Alternative zur objektiven Beschreibung der Welt kennen, wie sie 8

9 10 11 12

Die epistemische Autorität von Experten oder Zeugen gibt einen – nach Meinung von Reduktionisten in Bezug auf testimoniales Wissen geforderten – positiven Grund dafür, ihnen Glauben zu schenken (vgl. Lackey 2011, 73ff.). Zum Gedanken der Komplementarität der Wissensformen vgl. Gabriel 1991b. Zu phänomenalem Erleben und Literatur vgl. Schildknecht 2007b. Vgl. Nagel 1974 und Jackson 1986 zum phänomenalen Bewusstsein als Wissen, wie es ist oder wie es sich anfühlt, ein x zu sein. Vgl. zur Perspektivenübernahme in ästhetischer Erfahrung Misselhorn 2005, 430ff.

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unter anderem die Wissenschaften geben. Auf diesem Weg können literarische Werke zur Transparenz bringen, wie die Welt in subjektiver Perspektive gesehen wird.13 Neben einem Wissen von subjektiven Perspektiven kann Literatur aber auch ein Wissen von Fertigkeiten vermitteln. Zum Beispiel verhilft Literatur zu kognitiven Fertigkeiten, weil sie die Anwendung von Begriffen auf Seiten des Lesers verfeinert.14 Literatur kann den Leser aber auch darin unterrichten, wie in Situationen eines bestimmten Typs zu handeln ist. Durch Literatur lässt sich ein praktisches Wissen erwerben, da wir durch sie Handlungsgewohnheiten auch für unvertraute Situationen ausbilden. Anstelle des Überzeugungswissens im Sinne des Wissens, dass etwas der Fall ist, können Leser durch literarische Lektüre ein Wissen, wie es ist, oder ein Wissen, wie etwas zu tun ist, erwerben.15 Die Bekanntschaft mit phänomenalen Zuständen oder Perspektiven wie die Aneignung von kognitiven oder praktischen Fähigkeiten sind Instanzen von subjektivem Wissen und nicht unter das Überzeugungswissen subsumierbar. Da diese Fälle von Wissen nicht in der Anerkennung der Wahrheit von Behauptungen bestehen, bilden sie Formen nicht-propositionaler Erkenntnis.16 Insofern Literatur zum Überzeugungswissen alternative Formen von Wissen zu vermitteln in der Lage ist, lässt sich die negative These ausräumen, dass Literatur keinen Erkenntniswert trägt. Weil Literatur zu einer von wissenschaftlichem oder philosophischem Wissen verschiedenen Art von Wissen verhilft, ist sie womöglich sogar besonders wertvoll. In diesem Rahmen lässt sich Literatur auch ein gegenüber Wissenschaft und Philosophie anderes epistemisches Ziel zusprechen – während das Ziel von Überzeugungen, wie sie Wissenschaft oder Philosophie formulieren, in der Wahrheit besteht, zielt literarische Darstellung auf Adäquatheit.17 Demnach erfüllt eine literarische Darstellung ihre Erkenntnisfunktion, wenn sie dem Leser zu einem adäquaten Wissen von subjektiven Perspektiven oder von Fertigkeiten verhilft. Für den kognitiven Wert von Literatur ist der Gewinn von nicht-propositionaler Erkenntnis mit Sicherheit relevant. Dadurch, dass Literatur eine Quelle für nicht-propositionales Wissen bietet, ist aber nicht ausgeschlossen, dass sich durch Literatur auch propositionales Wissen erwerben lässt. Im Folgenden soll die Auffassung verteidigt werden, dass Literatur neben nicht-propositionalem Wissen auch zu Überzeugungswissen

13

14 15 16

17

Burri 2007, 139ff., sowie Lamarque/Olsen 1994, 368ff. Auch Gibson 2009, 15, ist so zu verstehen: „The vision we find in literary narratives shows us human practice and circumstance not from an abstracted, external perspective but from the ,inside‘ of life.“ Laut Gibson verkörpern literarische Werke eine Form wertgebundenen Verstehens. Vgl. zur Erweiterung begrifflicher Fähigkeiten durch Literatur Wilson 1983 und Lamarque/Olsen 1994, 378ff. Vgl. z. B. Grundmann 2008, 71ff., zur Unterscheidung der Arten von Wissen. Zu Literatur als Quelle von auf Erlebnisse oder auf Fertigkeiten bezogenem Wissen vgl. Reicher 2007, 28f. Insbesondere Gabriel 1991a, 1991b und 2010 vertritt die Position, dass literarische Erkenntnis nicht-propositional ist, daneben z. B. Döring 2001 und Schildknecht 2007a. Vgl. außerdem Lamarque/Olsen 1994, 370ff., zu literarischem Wissen als subjektivem Wissen. Zur Charakterisierung des Adäquatheitsanspruchs von Literatur vgl. Gabriel 1975, 82ff., 97ff.

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verhilft.18 Dann zählt nicht nur die Adäquatheit der Darstellung, sondern auch die Wahrheit von Überzeugungen zu den epistemischen Zielen von Literatur.

3.

Literatur und propositionale Erkenntnis

Die Rolle von Literatur für den Erwerb von Wissen lässt sich auch anhand der Frage diskutieren, welche Art von Überzeugungen Literatur vermitteln kann. Unter anderem lassen sich Überzeugungen dadurch klassifizieren, dass sie sich entweder auf einzelne oder auf allgemeine Sachverhalte beziehen. Innerhalb von Literatur kommen singuläre Überzeugungen häufig vor – wie die im Zauberberg vom Erzähler eingangs geäußerte Überzeugung, dass es von Hamburg bis Davos eine weite Strecke ist.19 Gewiss kann man durch Literatur zu vielfältigen neuen Überzeugungen über einzelne räumlich entfernte oder historisch vergangene Sachverhalte gelangen. Mit Blick auf das Genre des historischen Romans kann man etwa darauf verweisen, dass Romane Behauptungen über historische Begebenheiten enthalten können.20 Allerdings leiden historische Romane als Quelle für das Wissen über einzelne historische Sachverhalte gegenüber alternativen Quellen unter einem Mangel. Historische Untersuchungen sind im Unterschied zu literarischen Darstellungen in epistemischer Hinsicht dadurch positiv ausgezeichnet, dass sie Belege für Behauptungen anführen. Wenn es aber für den Erwerb von Wissen über einzelne Sachverhalte alternative und bessere Quellen gibt, kann der Erkenntniswert von Literatur nicht im Erwerb von Wissen über einzelne Sachverhalte begründet sein. Zusätzlich zu Aussagen über Einzelnes enthält Literatur aber auch Aussagen über Allgemeines. Im Vergleich zu anderen literarischen Äußerungen bilden sie keine Beschreibungen von Gegenständen, sondern stellen Reflexionen dar, die in vielen Fällen das Thema des Werks betreffen.21 In literarischen Werken geäußerte und auf das Thema des Werks bezogene Reflexionen haben die Form genereller oder generischer Sätze oder lassen sich zu diesen schematisieren und bringen ihrem Inhalt nach Grundlagen des menschlichen Selbstverständnisses zur Sprache. Wie ein großer Teil philosophischer Aussagen beziehen sie sich auf allgemeine Züge der menschlichen Natur oder allgemeine Aspekte des menschlichen Lebens.

a.

Explizite Aussagen über Allgemeines

Oft werden allgemeine Aussagen innerhalb literarischer Werke explizit geäußert und auch durch eine Platzierung an durch die formale oder inhaltliche Beschaffenheit eines Werkes prominenten Stellen hervorgehoben. Häufig angeführte Beispiele für allgemeine 18 19 20 21

Auch nach Scholz 2001, Jäger 2005, Huemer 2007, Reicher 2007 und 2012 kann Literatur nicht nur zu nicht-propositionalem, sondern auch zu propositionalem Wissen verhelfen. Mann 2002 (zuerst 1924), 11: „Von Hamburg bis dort hinauf, das ist aber eine weite Reise.“ Reicher 2012 spricht historischen Romanen kognitiven Nutzen zu, da diese auf indirekte Weise etwas über Tatsachen aussagen. Zur Unterscheidung literarischer Äußerungen nach Beschreibungen von Gegenständen und Reflexionen über das Thema vgl. Lamarque/Olsen 1994, bes. 285ff.

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und auf das Thema des literarischen Werks bezogene Aussagen bilden die am Textbeginn von Anna Karenina formulierte Überzeugung, dass alle glücklichen Familien einander ähnlich sind und jede unglückliche Familie auf ihre Weise unglücklich ist,22 oder der Antigone beschließende Chorgesang, nach dem unter anderem Besonnenheit das höchste Gut ist: „Bei weitem ist Besonnenheit das / höchste Glück; man darf den Bereich der Götter / in keiner Weise entweihen; doch große Worte / von Prahlenden haben, wenn sie unter großen Schlägen gebüßt, / im Alter vernünftiges Besinnen gelehrt.“23 Andere Beispiele für im literarischen Text hervorgehobene und das Thema des Werks betreffende allgemeine Aussagen bilden die oft Strophen abschließenden sogenannten „Gnome“ in der Dichtung Hölderlins, etwa die Verszeile „Was bleibet aber, stiften die Dichter“ am Ende von Andenken.24 Generelle Aussagen innerhalb literarischer Werke können aber auch einen normativen alternativ zu einem deskriptiven Gehalt tragen und die Form präskriptiver Regeln annehmen. Normative Überzeugungen werden zum Beispiel geäußert, wenn literarische Figuren einen Meinungswandel durch eine Bildungsgeschichte erfahren haben. So wird Wielands Agathon nach leidvollen Episoden ein Bekenntnis zu einem gemäßigten Skeptizismus als angemessene Lebensweise zugeschrieben.25 Wie aus weiteren Äußerungen hervorgeht, bildet die Formel ein Fragment der Überzeugung, dass in allen Entscheidungssituationen eine mit einer skeptischen Haltung gegenüber objektiven Lebenszielen verträgliche Handlungsweise zu wählen ist. Alle diese Äußerungen nehmen gegenüber anderen literarischen Äußerungen eine Sonderrolle ein, weil sie eine auf das Thema des Werks bezogene These artikulieren. Ungeachtet dieser Beispiele ist die explizite Kundgabe genereller thematischer Überzeugungen aber kein allgemeines Literaturmerkmal. Literarische Werke können jedoch auf das Thema des Werks reflektierende Überzeugungen nicht nur explizit, sondern auch implizit enthalten.

b.

Implizite Aussagen über Allgemeines

Dass literarische Werke Aussagen über Allgemeines implizieren, gehört sogar zu den Gemeinplätzen der Dichtungstheorie. Bekanntlich ist die Dichtung nach Aristoteles philosophischer als die Geschichtsschreibung, weil sie anhand fiktiver Figuren und ihrer Handlungen etwas Allgemeines hinsichtlich menschlichen Handelns zum Ausdruck bringt.26 Auch unabhängig von Aristoteles ist die Meinung prominent, dass sich Literatur auf Allgemeines bezieht. Nicht anhand von Überzeugungen, sondern anhand von Begriffen behauptet Kant im für seine Dichtungstheorie einschlägigen § 49 der Kritik der Urteilskraft, dass die Bedeutung von Literatur in Allgemeinem besteht.27 Zwar enthalten Kunstwerke ihm zufolge generell keine Vorstellungen mit gemeinsamen Merkmalen, durch die Begriffe exemplifiziert werden – sie enthalten aber Vorstellungen mit verwandten Bedeutungen, durch die Begriffe ausgedrückt werden. Als Begriffe, 22 23 24 25 26 27

Tolstoi 2009 (russ. zuerst 1877/78), 7. Sophokles 1981, 107. Hölderlin 1992 (zuerst 1808), 475. Wieland 1996 (zuerst 1766), 582. Aristoteles 1982, 29. Kant 1908 (zuerst 1790), 314ff.

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die durch Dichtung ausgedrückt, aber nicht exemplifiziert werden, kommen dabei nach Kant nur Vernunftbegriffe in Frage. Aristoteles wie Kant gehen gemeinsam davon aus, dass die Bedeutung von Dichtung in etwas Allgemeinem besteht, obgleich dichterische Werke einzelne Gegenstände wie Figuren und ihre Handlungen beschreiben. Die Auffassung, dass literarische Werke allgemeine Behauptungen über ihr Thema enthalten, gewinnt an Plausibilität, wenn man sich der Literaturinterpretation zuwendet. Nach dem üblichen Verständnis besteht die Interpretation literarischer Werke in der Suche nach einer Erklärung für ihre Beschaffenheit. Erfolgreich erklären wiederum lässt sich die Beschaffenheit eines literarischen Werks, wenn eine allgemeine Überzeugung identifiziert wird, die durch das Werk zum Ausdruck gebracht wird. Weil thematische Reflexionen ein Muster für die Erklärung eines Werks liefern, strukturiert die Suche nach ihnen die Tätigkeit des Interpreten. Legt man diese Konzeption literarischer Interpretation zugrunde, so sind Leser im literarischen Verstehen von der Unterstellung geleitet, dass literarische Werke allgemeine Behauptungen über ihr Thema wenigstens implizit enthalten. Denkt man an kanonisierte literarische Werke, so können Leser in Rilkes Der Panther die Überzeugung entdecken, dass menschliches Leben psychisch deformierenden Zwängen unterworfen ist, obgleich zu den im Gedicht beschriebenen Gegenständen keine Menschen gehören. Eine Interpretation der Lehrjahre kann die implizite Behauptung erschließen, dass zu den Voraussetzungen gelingenden Lebens eine positive Einstellung gegenüber der Welt ohne utopische Hoffnungen gehört. Diese Auffassung bildet einen Rahmen, in den sich die unterschiedlichen Episoden des Romans einordnen lassen. Gemäß dieser Rekonstruktion gibt es einen Zusammenhang zwischen der inhaltlichen wie formalen Offenheit literarischer Fiktionen und der Suche nach von einem Werk implizierten allgemeinen Überzeugungen. Weil fiktionale Werke Eigenschaften der Wirklichkeit variieren, widerstreiten sie zumindest in Teilen gewöhnlichen Überzeugungen etwa über die Verläufe von Handlungen. Ungewöhnliche Ereignisse innerhalb literarischer Darstellung können von Interpreten dadurch bewältigt werden, dass sie allgemeinen Überzeugungen zugeordnet werden, die durch das literarische Werk zum Ausdruck gebracht werden. Weil darüber hinaus Konventionen wie die der Gattung oder des Genres die formale und inhaltliche Offenheit literarischer Werke nur zum Teil begrenzen, kann ein Werk auch untereinander heterogene Elemente versammeln. Die von einem Werk implizierte allgemeine Überzeugung stellt dabei ein Muster für das Verstehen auch von Werken dar, die durch formal Disparates oder inhaltlich kontrastierende Stoffe gekennzeichnet sind. Insofern die Interpretation auf einem Aufstieg zu allgemeinen Überzeugungen basiert, die durch das literarisch Dargestellte artikuliert werden, bildet die Suche nach allgemeinen Überzeugungen eine der kognitiven Anstrengungen, mit der Leser konfrontiert sind. Interpreten sind in ihrem Umgang mit einem literarischen Text von der Annahme geleitet, dass durch das Werk eine allgemeine und für das Thema des Werks relevante Überzeugung ausgedrückt wird.

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4.

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Herausforderungen für eine Theorie propositionaler literarischer Erkenntnis

In ihrem zum Klassiker der Debatte über den kognitiven Wert von Literatur avancierten Buch Truth, Fiction and Literature gestehen Lamarque und Olsen zu, dass eine propositional theory of literary truths mit Blick auf die Rolle allgemeiner thematischer Aussagen zumindest in Teilen kohärent formulierbar ist.28 Grundlegend für die Theorie propositionaler literarischer Erkenntnis ist gemäß ihrer Darstellung die folgende Annahme: „the literary work contains or implies general thematic statements about the world which the reader as part of an appreciation of the work has to assess as true or false.“29 Die Theorie propositionaler literarischer Erkenntnis stellt dabei zwei Behauptungen auf: „First, a literary work implies propositions which can be construed as general propositions about the world. Second, these propositions are to be construed as involved in true or false claims about the world.“30 Nach Lamarque und Olsen ist die Theorie insgesamt jedoch unüberwindlichen Schwierigkeiten ausgesetzt. Ihnen zufolge müssen Vertreter der Theorie propositionaler literarischer Erkenntnis erklären (i) in welchem Sinn ein literarisches Werk allgemeine Aussagen impliziert, (ii) weshalb mit von einem Werk implizierten allgemeinen Aussagen ein Anspruch auf Wahrheit erhoben wird und (iii) weshalb die Beurteilung ihrer Wahrheit für die Wertschätzung des literarischen Werks relevant ist. Mit Lamarque und Olsen gehe ich davon aus, dass eine Theorie propositionaler literarischer Erkenntnis diese drei Bedingungen erfüllen muss; anders als Lamarque und Olsen werde ich jedoch dafür argumentieren, dass die Theorie propositionaler literarischer Erkenntnis alle drei Herausforderungen besteht.

a.

Das Problem der Implikation

Wie Lamarque und Olsen zu Recht anführen, müssen Vertreter der Theorie propositionaler literarischer Erkenntnis erklären, auf welche von einem literarischen Werk implizierten Aussagen sie sich beziehen.31 Eine Schwierigkeit besteht darin, dass zu den von einem literarischen Werk implizierten Überzeugungen auch triviale Überzeugungen gehören. Zum Beispiel gehören zu den vom Zauberberg implizierten Überzeugungen auch die uninteressanten Überzeugungen, dass es Berge, Sanatorien und Grammophone gibt. Nicht trivial sind demgegenüber die von einem literarischen Werk implizierten Überzeugungen, auf denen die Bedeutung des Werks beruht und die etwas Allgemeines zum Inhalt haben. Dass literarische Werke allgemeine Überzeugungen implizieren, kommt überdies durch einen Aspekt unserer Rede über Literatur zum Ausdruck. Zum üblichen Sprachgebrauch in Bezug auf literarische Werke gehört es, dass sie eine Meinung nahe legen oder etwas zu verstehen geben. Redeweisen dieser Art basieren auf der Annahme, 28

29 30 31

Lamarque/Olsen 1994, 321ff. Ihr Beispiel ist die Geschichte von Lydgate aus George Eliots Roman Middlemarch mit der impliziten thematischen Aussage „the best human hopes and aspirations are always thwarted by forces beyond human control“ (Lamarque/Olsen 1994, 325). Ebd., auch im Original kursiv. Ebd. Ebd., 326ff.

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dass sich ein literarisches Werk für eine generelle Meinung ausspricht, auch wenn sie in ihm nicht explizit geäußert wird. Nach diesem Sprachgebrauch implizieren literarische Werke allgemeine Überzeugungen, die von ihnen nahe gelegt oder zu verstehen gegeben werden. Damit lassen sich einer Theorie propositionaler literarischer Erkenntnis die von einem literarischen Werk implizierten Überzeugungen zugrunde legen, die von ihm nahegelegt werden und seine Bedeutung oder zumindest einen Aspekt seiner Bedeutung bilden. Zusätzlich müssen Vertreter der Theorie propositionaler literarischer Erkenntnis erklären, auf welche Weise die von einem literarischen Werk implizierten und mit dem Thema des Werks verbundenen allgemeinen Überzeugungen herausgefunden werden. Die Beantwortung dieser Frage bildet jedoch keine Schwierigkeit, da allgemeine Überzeugungen, die ein Werk impliziert, durch Interpretation ermittelt werden können. Dass literarische Interpretationen umstritten sind, spricht dabei nicht dagegen, dass literarische Werke auch nicht-triviale allgemeine Überzeugungen implizieren. Auch wenn die Offenheit für Interpretationsalternativen zu den Voraussetzungen literarischer Hermeneutik gehört, dürfen Interpretationen nicht kontingent gewählt werden.32 Zwar existiert ein Spielraum für die Zuschreibung allgemeiner Überzeugungen gegenüber einem Werk, es gelten aber auch Korrektheitsbedingungen. Vor allem sind Interpreten nur dann berechtigt, einem Werk eine allgemeine Überzeugung zuzuschreiben, wenn diese ihm im Ganzen Kohärenz verleiht. In anderen Worten besteht die Tätigkeit des Lesers zu einem guten Teil in der Suche nach interpretativen Sätzen, die ein Muster für die literarische Darstellung sowohl in ihren inhaltlichen als auch in ihren formalen Aspekten ergeben. Als interpretative Sätze sind sie aber nur dann akzeptabel, wenn sie tatsächlich über das Werk Aufschluss geben – wobei dafür vorrangig Sätze in Frage kommen, die eine in einem Werk implizit enthaltene allgemeine Überzeugung zum Ausdruck bringen. Dabei müssen literarische Werke nicht einzelne allgemeine Überzeugungen implizit zum Ausdruck bringen, sie können auch mehrere oder eine Gruppe von Überzeugungen ausdrücken, die zusammen eine Sichtweise auf die Welt ergeben. Obgleich durch ein Werk mehrere Überzeugungen zum Ausdruck gebracht werden können, gehen rationale Interpreten jedoch nicht davon aus, dass ein Werk mehrere miteinander unvereinbare Überzeugungen implizit äußert.

b.

Das Problem der Wahrheit

Lamarque und Olsen stimmen der Meinung zu, dass von einem Werk implizierte und auf das Thema des Werks reflektierende Äußerungen für die Interpretation relevant sind.33 Relevant für die Interpretation sind in einem Werk implizit enthaltene allgemeine thematische Aussagen auch nach ihrem Verständnis, weil sie der literarischen Darstellung Kohärenz geben und literarische Interpretation in der Suche nach Kohärenz besteht. Allerdings problematisieren Lamarque und Olsen die Vorstellung, dass die von einem 32 33

Zur Frage, ob es nur eine richtige Interpretation oder mehrere richtige Interpretationen geben kann, vgl. Krausz 2002. Lamarque/Olsen 1994, 326.

190

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literarischen Werk implizierten allgemeinen Aussagen in einem authentischen Sinn als Behauptungen aufzufassen sind. Nach ihrem Verständnis besitzen diese Äußerungen nur deshalb Bedeutung, weil sie einem literarischen Werk Kohärenz verleihen und nicht weil sie mit einem Anspruch auf Wahrheit vertreten werden. Für ihre Ausführung nehmen Lamarque und Olsen jedoch einen Widerspruch in Kauf. Auf der einen Seite teilen Lamarque und Olsen den Gedanken, dass Propositionen über Allgemeines Behauptungen darstellen, auch wenn sie im Verwendungskontext eines fiktionalen Werks auftreten; auf der anderen Seite werden ihnen zufolge diese Behauptungen lediglich in fiktionaler Weise geäußert.34 Obgleich sie ihrem Inhalt nach von der Welt handeln, wird mit allgemeinen thematischen Aussagen laut Lamarque und Olsen nicht etwas über die Welt, sondern lediglich über das Werk behauptet. Der Gedanke, dass literarische Äußerungen von der Welt handeln, aber keine Behauptungen über die Welt darstellen, lässt sich jedoch nicht kohärent ausbuchstabieren. Getreu der Standardanalyse kann Sätzen innerhalb fiktionaler Rede keine behauptende Kraft zukommen, weil sie Ausdrücke ohne Bezugnahme auf existierende Gegenstände enthält. Verfügen Aussagen jedoch über referentielle Ausdrücke, so spricht nichts dagegen, sie auch als Aussagen über die Welt zu verstehen. In einem jüngeren Text räumt Lamarque ein, dass innerhalb eines Werks artikulierte allgemeine Aussagen sowohl – „nach innen“ – auf das Werk als auch – „nach außen“ – auf die Welt verweisen.35 Für die Interpretation sollen sie aber nur deshalb wichtig sein, weil sie „ein Organisationsprinzip innerhalb eines fiktionalen Werkes“ charakterisieren und nicht weil sie „nach außen hin etwas über die Welt im Allgemeinen“ sagen.36 Demnach stellen allgemeine Aussagen zwar echte Behauptungen dar, sie sind aber für den Interpreten als mit Wahrheitsanspruch vertretene Äußerungen nicht interessant. Auch vermittels dieser Unterscheidung versucht Lamarque, die Funktion allgemeiner thematischer Aussagen für das Werkverstehen und ihre Funktion für das Weltverstehen zu dissoziieren. Anders aber als Lamarque sollte man die Funktion allgemeiner literarischer Aussagen für das Werk- und Weltverstehen in ihrer Interdependenz erfassen und ihre Funktion für das Werkverstehen nicht gegenüber ihrer Funktion für das Weltverstehen isolieren. Man kann sich an der Frage orientieren, unter welcher Bedingung Leser zu der Annahme berechtigt sind, dass ein literarisches Werk eine allgemeine und für sein Thema relevante Behauptung impliziert. Leser sind dann zu dieser Annahme legitimiert, wenn Autoren mit einer im literarischen Werk implizit enthaltenen Äußerung die kommunikative Absicht der Mitteilung verfolgen und implizite literarische Äußerungen von ihren Autoren für wahr gehalten werden. Bezogen auf den Bereich der von einem literarischen Werk implizierten Überzeugungen erhält auch der Gedanke Plausibilität, dass ein Leser mit dem Autor des Werks ein Gespräch führt.37 Allerdings scheint es ge34 35 36 37

Ebd., 331. Lamarque 2007b, 20, auch im Original kursiv. Ebd. Daraus folgt jedoch nicht, dass Leser zum Verstehen impliziter literarischer Äußerungen die Autorenabsicht feststellen müssen. – Die Idee eines Gesprächs zwischen Lesern und Autoren benutzt Carroll 1992.

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gen eine Mitteilungsabsicht literarischer Autoren zu sprechen, dass Leser nicht von der Aufrichtigkeit literarischer Autoren ausgehen. Bei näherer Betrachtung gehört es aber zu unserem Umgang mit literarischen Werken, dass wir literarischen Autoren für von ihrem Werk implizierte allgemeine Überzeugungen Verantwortung zuschreiben. Literarische Autoren können für von ihrem Werk implizierte allgemeine Überzeugungen getadelt werden; ohne eine Mitteilungsabsicht für implizite Überzeugungen kämen sie als Adressaten von Kritik aber nicht in Frage. Gleichwohl kann es den Fall geben, dass ein literarisches Werk eine vom Autor nicht geteilte Überzeugung zum Ausdruck bringt. Eine Erklärung dafür kann beispielsweise darin bestehen, dass ein Autor eine empörungswürdige Überzeugung in der Hoffnung zum Ausdruck gebracht hat, dass sie von seinen Lesern abgelehnt wird. In diesem Fall ist die Mitteilungsabsicht der Absicht des Autors untergeordnet, bei Lesern eine spezifische Einstellung hervorzurufen. Anders als von normalen Sprechern mit Mitteilungsabsicht wird von literarischen Autoren aber nicht die Bereitschaft verlangt, ihre Behauptungen zu begründen. Auch wenn von einem literarischen Werk implizierte allgemeine Aussagen mit Wahrheitsanspruch vertreten werden, werden sie nicht durch andere Aussagen begründet, die für ihre Wahrheit sprechen. Alternativ geben literarische Werke einer Überzeugung dadurch ein epistemisch positives Ansehen, dass sie darstellen, was der Fall ist, wenn die von ihnen implizit geäußerte allgemeine Überzeugung wahr ist.38 Auf diese Weise empfehlen literarische Werke generelle Überzeugungen, die vom Leser anerkannt oder abgelehnt werden. Teil der literarischen Interpretation ist es, die allgemeine Überzeugung epistemisch zu bewerten, für die sich ein Werk ausspricht. Interpreten beurteilen literarische Überzeugungen mit Blick darauf, ob sie bestätigt werden können oder zurückgewiesen werden müssen.

c.

Das Problem der Wertschätzung

Die Theorie propositionaler literarischer Erkenntnis ist aber noch einem Einwand anderer Art ausgesetzt. Auch wenn Literatur zu propositionalem Wissen verhilft, muss das nicht die Grundlage ihrer Wertschätzung bilden. Vielleicht ist ihre Wertschätzung davon unabhängig, ob uns Literatur zu Wissen führt. Nach dieser Meinung ist das Interesse an Literatur im Unterschied zum Interesse an Wissenschaft oder Philosophie nicht im Interesse an Wissen begründet. Diese Position bezieht auch Lamarque und argumentiert dafür, dass der Erkenntniswert nicht für den literarischen Wert fundamental ist.39 Ihm zufolge ist der kognitive Wert eines Werks nicht mit seinem literarischen Wert verbunden; stattdessen stellt das Erlangen von Wissen „eher ein Nebenprodukt als einen intrinsischen Aspekt“ von Literatur dar.40 Folgt man diesem Verständnis, so ist es für

38 39 40

Ähnlich bilden nach Elgin 2007a und 2007b fiktionale Werke wie Gedankenexperimente künstliche Anordnungen, die einen Schluss auf die Wirklichkeit erlauben. Lamarque 2007b. Ebd., 23.

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die literarische Wertschätzung unerheblich, ob eine von einem Werk implizierte Überzeugung wahr oder falsch ist.41 Dass der kognitive Wert für den literarischen nicht fundamental ist, lässt sich durch die Beobachtung stützen, wonach manche literarische Gebilde – zum Beispiel hermetische Lyrik – lediglich als Kunstwerke und nicht zugleich als Quelle für Wissen wertgeschätzt werden. Aber auch wenn der kognitive Wert eines Werks nicht mit seinem literarischen Hand in Hand geht, muss die Beziehung zwischen kognitivem und literarischem Wert nicht kontingent sein. Die Beurteilung impliziter literarischer Überzeugungen kann auch statt eines ausschlaggebenden Faktors einen beitragenden Faktor für die Wertschätzung eines literarischen Werks liefern. Nach dieser plausiblen Auffassung trägt die Beurteilung der Wahrheit von impliziten allgemeinen Aussagen zur literarischen Wertschätzung zumindest bei.

(A.) Das Kritiker-Argument In kritischer Auseinandersetzung mit der Position, die Lamarque und Olsen in Truth, Fiction and Literature vertreten, verteidigt Kivy ebenfalls die Auffassung, dass die Wertschätzung eines literarischen Werks mit der Beurteilung der in ihm enthaltenen allgemeinen Überzeugungen verbunden ist.42 Laut dem zentralen Argument Lamarques und Olsens kann die Beurteilung einer allgemeinen literarischen Aussage die Wertschätzung nicht beeinflussen, da Literaturkritiker in literarischen Werken geäußerte allgemeine Überzeugungen in der Regel nicht auf ihre Wahrheit prüfen.43 Dagegen führt Kivy an, dass Literaturkritiker nur herauszufinden haben, welche impliziten Überzeugungen in einem literarischen Werk enthalten sind, während Leser zusätzlich mit der Beurteilung und Wertschätzung literarischer Werke beschäftigt sind: Now if one thinks, as I do, that part of the readers’s literary appreciation consists in confirming and disconfirming for himself the general thematic statements he perceives in the fictional works he reads, sometimes unaided, sometimes through the writings of literary critics, one will see why it is quite compatible with the Propositional Theory that such confirmation and disconfirmation should be absent from the writings of literary critics. For confirmation and disconfirmation are part of appreciation, and appreciation is the job, if I may so put it, of the reader, not the critic qua critic. The critic’s job, qua critic, is, among other things, to make available to the reader whatever hypotheses the fictional work may, directly or indirectly, propose. It is the reader’s job to appreciate them, in part, by confirming them for himself.44

41 42 43 44

Entsprechend ist es nach Lamarque 2007a auch nicht konstitutiv für literarische Werke, dass sich aus ihrer Lektüre etwas lernen lässt. Vgl. Kivy 1997 und 2006, 100ff. Lamarque/Olsen 1994, 332ff. Kivy 1997, 125. Vgl. kritisch zu dieser Passage Gibson 2009, 5f.

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Zu Recht stellt Kivy heraus, dass die Wertschätzung eines literarischen Werks durch den Leser auch von der Beurteilung der in ihm artikulierten allgemeinen Überzeugung abhängt. Lamarques und Olsens Argumentation wie Kivys Gegenargumentation leiden jedoch gemeinsam unter dem Mangel, dass Kritiker durchaus mit literarischer Wertung und auch mit der Beurteilung der durch ein literarisches Werk artikulierten Überzeugungen befasst sind. Daher sollte die Debatte über kognitiven und literarischen Wert nicht anhand der Frage nach der Schlüssigkeit des Kritiker-Arguments geführt werden.

(B.) Suche nach Wissen als geteiltes Projekt Die Kritik an der Theorie propositionaler literarischer Erkenntnis verfügt aber auch über einen Hintergrund in der Ablehnung einer instrumentalistischen Perspektive auf Literatur. Gemäß dieser Kritik wird die Theorie propositionaler literarischer Erkenntnis literarischen Werken nicht in ihrem Status als Kunstwerken gerecht, weil Literatur auf ein Mittel zum Erwerb von Wissen reduziert wird. Die Abwehr eines instrumentalistischen Literaturverständnisses liefert vielleicht das entscheidende Motiv für den Widerstand gegen die Theorie propositionaler literarischer Erkenntnis. Ihre Vertreter können sich jedoch darauf berufen, dass literarische Werke kein beliebiges Mittel zum Gewinn von Erkenntnis darstellen – aber wodurch erlangt Literatur ihre Sonderstellung im Vergleich mit anderen Mitteln zum Wissenserwerb? Eigentümlich für literarische Darstellungen ist es, dass mit ihnen eine Aufforderung an den Leser als Interpreten einhergeht. Wie philosophische Aussagen betreffen in literarischen Werken implizit enthaltene allgemeine Aussagen den Bereich von für alle Personen basalen Überzeugungen, da sie sich auf grundlegende Aspekte des menschlichen Lebens beziehen. Anders als bei philosophischen oder auch wissenschaftlichen Darstellungen ist die Suche nach einer Begründung für eine durch das Werk zum Ausdruck gebrachte Überzeugung aber Teil der Aufgaben des Lesers. Die Bereitschaft, eine Begründung für in literarischen Werken implizit enthaltene Überzeugungen zu geben, gehört nicht zu den Pflichten des Autors, sondern zu denen des Lesers als wohlmeinendem Interpreten. Allerdings stellt sich die Frage, warum literarische Werke als Mittel zum Erwerb von Wissen ein besonderes Wohlwollen auf Seiten ihrer Interpreten genießen sollten. Die Antwort besteht darin, dass die literarisch vermittelte Suche nach Wissen kooperativ verfasst ist. Für Literatur als Mittel zum Erkenntniserwerb ist spezifisch, dass Leser mit den Autoren in der Suche nach Wissen kooperieren. Als wohlwollende Interpreten erbringen Leser einen kooperativen Dienst in der Suche nach Wissen, weil sie eine Bestätigung für eine von einem Werk implizierte allgemeine Überzeugung zu finden versuchen. Da in einem Werk implizit enthaltene Überzeugungen grundlegende Züge des menschlichen Lebens betreffen, können sie von Lesern mit eigenen Erfahrungen verglichen werden. Auf dieser Grundlage erscheint der Gewinn von Wissen durch Literatur als eine Unternehmung, an der Autoren und Leser gemeinschaftlich teilhaben; das durch Literatur vermittelte Wissen ist ein in der Interaktion von Autor und Leser gemeinschaftlich erworbenes Wissen. Gemäß dieser Auffassung ist es Teil der literarischen Rezeption, Gründe aufzufinden, die für die Wahrheit einer in einem literarischen Werk implizit enthaltenen Meinung sprechen. In anderen Worten formuliert Literatur Hypothesen über die Welt, deren wohl-

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wollende Prüfung einen Teil der Praxis des Interpretierens ausmacht. Zwar kann die Nachsicht des Interpreten auch an eine Grenze gelangen, wenn ein literarisches Werk Überzeugungen enthält, die einer Prüfung nicht standhalten; erfüllen literarische Werke jedoch ihre kognitive Funktion, so trägt das zu ihrem literarischen Wert bei. Nach diesem Bild gehört die Kooperation literarischer Autoren und ihrer Interpreten zu dem, was literarische Werke als solche auszeichnet. Dabei liegt es an der Form literarischer Werke, dass Leser in kognitiver Hinsicht besonders engagiert sind und die Rolle von Kooperationspartnern in der Suche nach Wissen einnehmen.

5.

Schluss

Ich habe dafür argumentiert, dass fiktionale Literatur nicht nur zu nicht-propositionaler, sondern auch zu propositionaler Erkenntnis verhilft. Weil literarische Werke generelle Aussagen implizieren, können Leser durch literarische Lektüre auch ihr propositionales Wissen erweitern. Zu diesem Ergebnis gelangt man, wenn man sich nicht allein auf die Frage konzentriert, welcher Sprechakt mit einzelnen literarischen Sätzen vollzogen wird. Unter dieser Voraussetzung verschiebt sich der Untersuchungsgegenstand von den in einem Werk enthaltenen Sätzen zu den durch Interpretation erschließbaren Überzeugungen, die ein Werk als Ganzes oder in größeren Teilen ausdrückt. Dabei gehört zu den Vorteilen eines solchen Vorgehens, dass es die Standardanalyse fiktionaler Rede intakt lässt. Anknüpfen kann es an die von Searle am Ende von The Logical Status of Fictional Discourse geäußerte Vermutung darüber, warum literarische Werke als Phantasieprodukte eine bedeutsame Rolle für das menschliche Leben innehaben: „And one aspect of the role that such products play derives from the fact that serious (i.e., nonfictional) speech acts can be conveyed by fictional texts, even though the conveyed speech act is not represented in the text. Almost any important work of fiction conveys a ‚message‘ or ‚messages‘ which are conveyed by the text but are not in the text.“45 In diesem Rahmen wird verständlich, dass Literatur eine Nachwirkung im kognitiven Leben von Lesern hat und Leser durch literarische Lektüre sogar Orientierung in ihrer Lebensführung erhalten können.46 Demnach gehört Literatur mit den Wissenschaften und der Philosophie in eine Reihe wahrheitssuchender Institutionen – auch wenn sich die Funktion von Literatur nicht darin erschöpft, uns der Wahrheit näher zu bringen. Literaturverzeichnis

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Searle 1975, 332. Dass Literatur aufgrund der Vermittlung propositionalen Wissens ein „Nachleben“ auf Seiten des Lesers führt, hebt zu Recht Kivy hervor (vgl. Kivy 2006, 108f.).

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Fiktion, Behauptung, Zeugnis

Ein prominenter Typ von Argumenten für die These, dass fiktionale Texte Wissensquellen sein können, beruht auf der Zeugnis-Strategie, also der Idee, dass wir von Autorinnen Wissen vom Hörensagen erwerben können. Während die generelle Strategie durchaus Erfolg versprechend scheint, gibt es zwei Probleme, mit denen solche Argumente sich konfrontiert sehen. Erstens wird typischerweise angenommen, die Zeugnis-Strategie setze voraus, dass fiktionale Texte genuine Behauptungen enthalten können. Und zweitens ist die Parallele von Wissen aus Fiktionen und Wissen vom Hörensagen bislang nicht en détail ausgeführt worden. Die Frage ist, wie die epistemische Unterstützung in diesen Fällen eigentlich beschaffen ist. Mein Beitrag zur Lösung der beiden Probleme fällt sehr unterschiedlich aus. Bezüglich des ersten Problems lege ich nahe, dass Behauptungen gar nicht Voraussetzung der Zeugnis-Strategie sein müssen. Bezüglich des zweiten Problems gebe ich exemplarisch eine verbreitete Weise an, in der die epistemische Stützung bestehen kann. Dabei gehe ich wie folgt vor: Abschnitt eins expliziert, was mit der Rede von „fiktionalen Texten als Wissensquellen“ gemeint ist, und führt den vorgeblichen Zusammenhang zwischen Behauptungen und der Zeugnis-Strategie ein. Abschnitt zwei stellt die Zeugnis-Strategie im Detail vor. Im Anschluss geht es um die zwei Probleme der Zeugnis-Strategie. In Abschnitt drei diskutiere ich die Frage, inwiefern in und mit fiktionalen Texten behauptet werden kann. Abschnitt vier untersucht, worin die epistemische Unterstützung genau bestehen soll. Abschnitt fünf schließlich bietet mit einer bestimmten Fiktionskonvention exemplarisch eine Teillösung dieses Problems und eine Neubewertung der Rolle von Behauptungen für die Zeugnis-Strategie an.

1.

Fiktionale Texte als Wissensquelle

Ich gehe im Folgenden davon aus, dass fiktionale Texte Wissensquellen sein können. Es gibt eine erdrückende Fülle von Beispielen, in denen Menschen aus fiktionalen Texten etwas gelernt haben, und es besteht kein Grund, diese Beispiele weg zu erklären. Da-

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gegen möchte ich zeigen, dass sich die Frage, warum wir aus fiktionalen Texten lernen können, als schwieriger herausstellt, als allgemein angenommen wird. Dazu ist es nötig, zunächst zu klären, was mit „fiktionale Texte können eine Wissensquelle sein“ eigentlich behauptet wird. Es kann gemeint sein, dass wir aus fiktionalen Texten wahre Meinungen erwerben, die sich auf irgendeine Weise, z. B. durch wissenschaftliche Versuche, rechtfertigen lassen. Diese genetische These ist derart schwach, dass niemand sie ernsthaft bezweifeln sollte.1 Selbst Hilary Putnam, der argumentiert, dass wir aus fiktionaler Literatur nie mehr als Hypothesen ableiten können, gibt doch zu, dass Meinungserwerb aus fiktionalen Texten möglich ist. Putnam sagt zwar, dass man aus fiktionaler Literatur kein Wissen erwirbt, was zum Wissen fehlt ist aber nicht der Meinungserwerb, sondern die passende Rechtfertigung: [...] it is one of the virtues of The Golden Notebook that it presents an extremely plausible account of how it felt to be a communist in the 1940s. Yet it cannot be said that after reading it one has acquired knowledge of what it was like to be a communist in the 1940s, unless one has some independent source of knowledge that Doris Lessing’s account is factually true. You may feel convinced upon reading The Golden Notebook; you may say to yourself this is what it must have been like; but unless you want to substitute plausibility and conformity with What is Agreeable to Reason for answering to the objective facts and being shown by adequate evidence to so answer the criteria for knowledge, you have no right to say ‚I know that this is what it was like‘.2 Dass fiktionale Texte eine Wissensquelle sein können, kann aber auch bedeuten, dass fiktionale Texte in der epistemischen Unterstützung von Meinungen eine Rolle spielen können. Wenn im Folgenden von fiktionaler Literatur als einer Wissensquelle die Rede ist, so ist immer diese zweite These gemeint. Es geht also nicht darum, dass wir, indem wir fiktionale Texte lesen, Meinungen erwerben, was sicherlich auch geschieht, sondern dass diese Meinungen unter anderem mit Rekurs auf fiktionale Texte epistemisch unterstützt werden können. Dabei lasse ich prinzipiell zwei Arten epistemischer Unterstützung zu. Rechtfertigung ist die epistemische Unterstützung einer Meinung, die dem wissenden Subjekt zugänglich ist und die es im Prinzip anführen kann. Berechtigung muss dem wissenden Subjekt dagegen nicht zugänglich sein.3 Wir sind, solange keine gewichtigen Gründe dagegen sprechen, z. B. berechtigt, uns auf Erinnerung oder Wahrnehmung zu verlassen. Mein fünfjähriger Sohn weiß, was er gestern Nachmittag gespielt hat, ohne irgendeine Rechtfertigung für seine wahre Meinung liefern zu können. Auf Nachfragen kann er nur hilflos

1 2 3

Diffey 1995, 208 bezweifelt allerdings auch die schwache genetische These, vgl. die Rekonstruktion und Widerlegung seiner Position durch Reicher 2012, 117–122. Putnam 1976, 489. Eine ähnliche Position vertritt schon Mew 1973. Ich orientiere mich in dieser Unterscheidung an Burge 1993, 458–459. „Rechtfertigung“ entspricht also dem englischen „justification“, „Berechtigung“ entspricht „entitlement“ und der Oberbegriff „epistemische Unterstützung“ entspricht „warrant“.

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oder zornig reagieren, aber er ist berechtigt, sich auf seine Erinnerung zu verlassen und das genügt schon, um ihm wahrheitsgemäß Wissen zuzuschreiben.4 Dass fiktionale Texte Wissensquellen sein können, muss nicht so verstanden werden, dass Meinungen allein mit Rekurs auf fiktionale Texte epistemisch unterstützt werden können. Epistemische Unterstützung speist sich häufig nicht aus einer Wissensquelle allein. Wenn Alexander unter nicht optimalen Wahrnehmungs- und Erinnerungsbedingungen, etwa weil er zu viel getrunken hat, sieht, dass Daniela die Party verlässt, so mag das für sich keine ausreichende Berechtigung darstellen, um zu glauben, dass Daniela die Party verlassen hat. Wenn er dann aber von verschiedenen anderen (ebenfalls nicht optimal wahrnehmenden) Personen berichtet bekommt, dass Daniela die Party verlassen hat, so kann es sein, dass die epistemische Unterstützung zusammen ausreicht für Wissen. Ich lasse also explizit die Möglichkeit zu, dass fiktionale Texte zwar eine positive Rolle in der epistemischen Unterstützung von Meinungen spielen, alleine aber niemals ausreichend für Wissen sind. Man kann sich nun fragen, warum epistemische Unterstützung für Meinungen sich auch auf fiktionale Texte berufen kann, wo doch Autorinnen fiktionaler Texte in der Lage sind, sich Szenarien frei auszudenken. Wenn z. B. zu Beginn von Wolf von Niebelschütz’ Der Blaue Kammerherr der Botschafter der Republik Venedig beginnt, gedanklich einen diplomatischen Bericht zu verfassen, klingt das so: Man lag vor Myrrha, jener seltsamen, länglichen und ziemlich ausgedehnten Insel, die eben jetzt zum Mittelpunct der Ägäis aufrückte, vermöge keines anderen oder absonderlicheren Umstandes, als daß eine heiratsfähige Prinzessin – Erbprinzessin! – die Blicke der Nachbarn auf sich zog. Was waren das für begehrliche, eifersüchtige, neiderfüllte Blicke! Handelte es sich doch, menschlicher Voraussicht nach, um das endgültig einzige Kind des regierenden Paares.5 Ganz offenbar sind Leser durch die Lektüre dieser Zeilen nicht gerechtfertigt zu glauben, es gäbe eine Insel namens Myrrha oder habe sie gegeben, es habe einen venezianischen Botschafter gegeben, der über die Insel und seine Erbprinzessin nachdachte und so fort. Falls Leser aus der Lektüre von Niebelschütz’ Roman etwas lernen können, so sicherlich nicht dies und sicherlich nicht, indem sie schlicht für bare Münze nehmen, was der Text beschreibt. Es wird im Allgemeinen gerade für eine spezifische Eigenart fiktionaler Rede gehalten, dass in ihr die üblichen Sprechaktkonventionen aufgehoben sind: „the preten4

5

Immer vorausgesetzt, dass p wahr ist, er auch der Meinung ist, dass p, und er nicht einem GettierFall zum Opfer fiel. Gettier 1963 zeigt, dass wahre gerechtfertigte Meinung in Spezialfällen nicht ausreicht, um Wissen zu besitzen. Man stelle sich z. B. Jan vor, der an der Bibliothek vorübergeht. Durch die Scheibe sieht er von hinten seine Freundin Julia im Erdgeschoss sitzen. Erfreut geht Jan in die Bibliothek, um Julia zu begrüßen, die ihm überraschend aus dem ersten Stock der Bibliothek entgegenkommt: Die Person im Erdgeschoss war gar nicht Julia! Kurz bevor Jan die Bibliothek betrat, hatte er die Meinung, dass Julia sich in der Bibliothek befindet, die Meinung war wahr und gerechtfertigt, schließlich glaubte er, sie erkannt zu haben. Obwohl Jan damit alle drei klassischen Bedingungen der Wissensdefinition erfüllt, möchten wir nicht sagen, dass Jan wusste, dass Julia sich in der Bibliothek befindet. Schließlich hat er sich entscheidend geirrt. Niebelschütz 2010 (zuerst 1949), 24.

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ded illocutions which constitute a work of fiction are made possible by the existence of a set of conventions which suspend the normal operation of the rules relating illocutionary acts and the world.“6 Wolf von Niebelschütz’ Sätze lesen sich zwar wie Behauptungen, für Behauptungen gelten jedoch für gewöhnlich bestimmte Regeln, deren wichtigste lauten: (1) The essential rule: the maker of an assertion commits himself to the truth of the expressed proposition. (2) The preparatory rules: the speaker must be in a position to provide evidence or reasons for the truth of the expressed proposition. (3) The expressed proposition must not be obviously true to both the speaker and the hearer in the context of utterance. (4) The sincerity rule: the speaker commits himself to a belief in the truth of the expressed proposition.7 Zumindest die Regeln (1) und (4) sind durch die Fiktionsregeln temporär außer Kraft gesetzt.8 Dieser Regelbruch wirft bereits das zentrale Problem der These auf, fiktionale Texte seien Wissensquellen: Wenn in normalen Äußerungskontexten etwas behauptet wird, so können diese Behauptungen als epistemische Unterstützung meiner Meinungen fungieren. Kurz, es gibt Wissen vom Hörensagen und wie auch immer die epistemische Unterstützung in solchen Fällen genau aussieht, die Sprechaktkonventionen (1), (2) und (4) scheinen eine entscheidende Rolle zu spielen.9 Dabei gilt: Nur wenn eine Sprecherin wirklich etwas behauptet, kann ihr Wort als epistemischer Grund im Sinne des Wissens vom Hörensagen gelten. Es ist zwar möglich, die Rede anderer in anderer Weise epistemisch auszunutzen, doch diese Möglichkeiten stehen hier nicht zur Diskussion: Dass mein Gegenüber japanisch spricht, bietet z. B. Evidenz dafür, dass sie an Japan interessiert ist. Wenn ich auf diese Weise lerne, dass mein Gegenüber an Japan interessiert ist, so ist dies kein Wissen vom Hörensagen. Dazu muss der Inhalt ihrer Worte relevant sein, ihre Verlässlichkeit, ihre Aufrichtigkeit und dergleichen.10

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Searle 1975, 326. Ebd., 322. Es geht übrigens an dieser Stelle nicht um die Frage, ob Searles Ausführungen genügen, um fiktionale Rede oder fiktionale Werke hinreichend scharf von nichtfiktionaler Rede oder nichtfiktionalen Werken abzugrenzen. Searles Bedingung (2) zielt allein auf die Möglichkeit der Rechtfertigung. Da ich explizit auch Berechtigungen zugelassen habe, die dem wissenden Subjekt nicht zugänglich sind, sehe ich (2) auch als erfüllt an, wenn der Sprecher keine Gründe angeben kann, aber berechtigt ist, p für wahr zu halten. Eine Ausnahme von dieser Regel bilden Präsuppositionen. Wenn eine Hörerin versteht, dass die Sprecherin p präsupponiert, so kann ihr unter geeigneten Umständen die Rede der Sprecherin als Wissensquelle im Sinne des Wissens vom Hörensagen dienen. Ich komme ganz am Ende auf diese Ausnahme zurück.

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Im Falle fiktionaler Rede sind nun aber im Allgemeinen zumindest die Bedingungen (1) und (4) nicht erfüllt. Und wenn das richtig ist, so folgt, dass fiktionale Rede nicht zur epistemischen Unterstützung von Wissen vom Hörensagen taugt. Das ist insofern ein Problem für Vertreterinnen der These, dass fiktionale Texte eine Wissensquelle sein können, als Wissen vom Hörensagen ein naheliegendes Modell für die Wissensquelle Fiktion darstellt: Die Autorin gibt ihr Wissen an die Leserinnen weiter. Eine Möglichkeit, auf dieses Problem zu reagieren, besteht darin, nur noch die schwache, genetische These zu vertreten. Für den Erwerb der Meinung, dass p, kommt es nicht darauf an, dass Sprecherinnen aufrichtig sind, die Meinung besitzen, dass p usw. Eine zweite Möglichkeit auf das Problem zu reagieren, besteht darin, nach anderen Weisen zu suchen, wie fiktionale Texte eine Wissensquelle darstellen können. Möglicherweise kann man die Autorinnen umgehen und direkt die epistemische Verlässlichkeit bestimmter fiktionaler Textsorten nachweisen. Üblich ist jedoch eine dritte Reaktion, die annimmt, dass Autorinnen in und mit fiktionalen Texten sehr wohl behaupten können. Das Raffinierte dieser Idee ist, dass man scheinbar auf einen Schlag alle Begründungsprobleme los ist, die mit der richtigen Rezeptionshaltung gegenüber fiktionalen Texten zusammenhängen. Denn Mitteilungen, die eine Autorin mit oder in ihren Texten macht, sind keine fiktionalen Sprechakte, sondern ganz normale Behauptungen, denen gegenüber wir nicht die fiktionale Haltung einnehmen, sondern dieselben Einstellungen, die wir auch anderen Behauptungen gegenüber einnehmen: Wir können an ihnen zweifeln, sie glauben, sie für mehr oder minder verlässlich halten; aber im Prinzip unterscheidet solche Behauptungen, die in oder mit Hilfe eines fiktionalen Textes gemacht werden, nichts von anderen Behauptungen. Sobald man also erst einmal geklärt hat, so die Idee, dass die Autorin behaupten wollte, dass p, kann diese Behauptung wie anderes Hörensagen behandelt werden. Es gibt dann keine speziellen epistemologischen Probleme, die nicht grundsätzlich für alle durch andere Personen erworbenen Meinungen ebenso gelten würden. Ich nenne diese Strategie, in der angenommen wird, dass in und mit fiktionalen Texten behauptet wird und dass diese Behauptungen Grundlage für Wissen vom Hörensagen sein können, die Zeugnis-Strategie. (2.) wird sie ausführlich vorstellen.

2.

Die Zeugnis-Strategie

Die Zeugnis-Strategie stützt sich typischerweise auf zwei Prämissen: 1. In und mit fiktionalen Werken können Behauptungen angestellt werden. 2. Eine bekannte Wissensquelle, nämlich das Zeugnis anderer Personen, stützt sich auf Behauptungen. Aus diesen beiden Prämissen soll folgen, dass fiktionale Werke durch das Zeugnis der Autorin Wissensquellen sein können, indem in ihnen (etwas) behauptet wird. Im Folgenden stelle ich zwei typische Vertreter der Strategie vor. So schreibt z. B. Tilmann Köppe:

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T K Der induktive Schluss, den ein Leser bei der Rechtfertigung einer anhand eines fiktionalen literarischen Werkes (X) gewonnenen Annahme (p) vollzieht, lässt sich damit oft folgendermaßen abbilden (KA*): (Pi) Anhand des fiktionalen literarischen Werkes X kann ich zu der Auffassung kommen, dass p. (Pii*) Ich muss in Betracht ziehen, dass der Autor von X weder aufrichtige Mitteilungsabsichten in Bezug auf p haben, noch kompetent in Bezug auf die Wahrheit von p sein könnte. (Piii*) p ist (a) mittelbar oder unmittelbar durch q, r usw. (mein ‚Hintergrundwissen‘), oder (b) durch das Testimonium eines zuverlässigen Autors gerechtfertigt. (K*) Ich bin (epistemisch) berechtigt, der Wahrheit von p eine der Güte der Gründe angemessene Wahrscheinlichkeit zuzuordnen.11

Uns interessiert vor allem die (b)-Bedingung der Prämisse (Piii*) des Argumentes. Die (a)-Bedingung, in der die Rechtfertigung allein aus dem Hintergrundwissen der Leserin stammt, erfüllt nicht die Anforderung, die ich eingangs an fiktionale Texte als eine Wissensquelle gestellt hatte, dass nämlich in der epistemischen Unterstützung für eine Meinung der fiktionale Text eine Rolle spielt. Vielmehr wird in der (a)-Bedingung eine Meinung zwar durch Lektüre eines fiktionalen Textes erworben, die Rechtfertigung oder Berechtigung aber beruht nicht auf dem Text. In der (b)-Bedingung dagegen wird (wenn auch versteckt) auf den Text Bezug genommen.12 Die Autorin möchte Lesern etwas mitteilen, und diese Mitteilung kann epistemisch begründet sein wie alle anderen Mitteilungen auch. Dies ist nun genau die Strategie, die wir oben ins Auge gefasst haben. Dass genau sie zur Debatte steht, zeigt sich auch an Prämisse (Pii*), in der gerade vor Fällen gewarnt wird, in denen Autorinnen keine Mitteilung machen wollen oder nicht verlässlich sind. Und die verlockende Idee ist, dass wir für den Mitteilungsfall schon ganz genau wissen, wie die epistemische Begründung funktioniert – nämlich genau wie in anderen Fällen des Wissens vom Hörensagen auch. Reicher (2012) argumentiert in ganz ähnlicher Weise. Allerdings unterscheidet sie zwischen stark fiktionalen Äußerungen und schwach fiktionalen Äußerungen. Für stark fiktionale Äußerungen sind die üblichen Sprechaktregeln außer Kraft gesetzt, schwach

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Köppe 2008, 129–130. Man beachte, dass Köppe hier in einem anderen als dem in diesem Aufsatz verwendeten Sinne von Berechtigung spricht. Prämisse (Piii*) meint also nicht Kommentare, welche die Autorin außerhalb des fiktionalen Werkes macht, auch wenn die Formulierung dies zuließe.

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fiktionale Äußerungen erfüllen dagegen alle solche Regeln.13 Für den Fall schwach fiktionaler Äußerungen argumentiert Reicher wie folgt: 1. If a work w is constituted (at least partly) by utterances for which the standard rules for assertions hold, then there is something to be learned about the world from w. 2. Purely fictional works are constituted by fictional utterances. 3. An utterance is fictional if, and only if, it is used for devising a fictional world. 4. There are utterances that are used for devising a fictional world and for which the standard rules for assertions hold. 5. Thus, there are fictional utterances for which the standard rules for assertions hold. (3, 4) 6. Thus, there are purely fictional works that are constituted (at least partly) by utterances for which the standard rules for assertions hold. (2, 5) 7. There are purely fictional works from which something is to be learned about the world. (1,6)14 Die zentrale Idee des Argumentes ist wiederum die Zeugnis-Strategie. Man kann zeigen, dass fiktionale Texte Behauptungen enthalten, aus Behauptungen kann man Wissen vom Hörensagen erwerben und also kann man aus fiktionalen Texten Wissen vom Hörensagen erwerben. Für Werke die nur stark fiktionale Äußerungen enthalten, geht das erste Argument nicht durch, weil Prämisse 5 falsch ist. Stark fiktionale Äußerungen sind ja gerade so definiert, dass die üblichen Sprechaktregeln für sie nicht gelten. Solche Werke lassen aber laut Reicher immer noch die Möglichkeit zu, dass mit dem ganzen Werk etwas behauptet wird: 1. A fictional work refers to the world and is fact-stating if, and only if, the author intends to assert something about the world by producing the (entirety of the) utterances that constitute the work, and competent readers are able to interpret the (entirety of the) utterances according to the author’s intention. 2. There can be fictional works that are constituted exclusively by strongly fictional utterances and nevertheless are such that their authors assert something 13

14

Diese Unterscheidung ist bereits eine Reaktion auf das Problem, das in (3.) diskutiert wird, ob (und falls ja, wie) in und mit fiktionalen Texten Behauptungen aufgestellt werden können. An dieser Stelle soll es nicht darum gehen, ob Reichers Unterscheidung der beste Vorschlag zur Lösung des Problems ist. Vielmehr kommt es darauf an, einen Typ von Argument nachzuvollziehen, der nicht von diesen Details abhängt. Reicher 2012, 124–125.

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T K about the world by producing the (entirety of the) utterances that constitute the work, and readers interpret the (entirety of the) utterances according to the author’s intention. 3. Thus, there can be fictional works that are constituted exclusively by strongly fictional utterances and nevertheless refer to the world and are fact-stating. (1, 2) 4. If a work w refers to the world and is fact-stating, there is something to be learned about the world from w. 5. Thus, there can be a fictional work w such that w is constituted exclusively by strongly fictional utterances and nevertheless there is something to be learned by w. (3, 4)15

Auch hier ist die Zeugnis-Strategie die zentrale Idee hinter dem Argument. Autorinnen können mit (Teilen von ihren) Werken Behauptungen treffen, diese Behauptungen können wie in anderen Testimonialsituationen auch als Wissensquelle dienen und also können fiktionale Texte Wissensquellen darstellen. Zwischen Reichers und Köppes Argumenten bestehen subtile Unterschiede. Köppes Argument stellt das Schema einer konkreten Rechtfertigung für die Leserin des Textes dar, während Reichers Argumente neutral bezüglich der Frage sind, ob Leserinnen Zugriff auf die Argumente haben und dementsprechend, ob Leserinnen gerechtfertigt oder berechtigt sind, p aufgrund des fiktionalen Textes für wahr zu halten. Man beachte auch, dass Reicher im Gegensatz zu Köppe Testimonialsituationen nicht explizit erwähnt. Die Zeugnis-Strategie sieht sich mit mindestens zwei schweren Problemen konfrontiert. Erstens haben wir oben festgehalten, dass in fiktionaler Rede die gewöhnlichen Sprechaktkonventionen aufgehoben sind. Wie kann es also sein, dass in und mit fiktionaler Rede ein normaler Sprechakt, nämlich Behaupten, begangen wird? Und zweitens, worin genau besteht die epistemische Unterstützung, die vorgeblich genau wie in anderen Fällen des Wissens vom Hörensagen funktioniert? Mit anderen Worten: Was spricht für Prämisse 1 von Reichers erstem und Prämisse 4 ihres zweiten Argumentes?

3.

Das Behauptungsproblem der Zeugnis-Strategie

Für die These, dass Autorinnen in und mit ihren fiktionalen Werken etwas behaupten, scheint vor allem eine ganze Reihe guter Beispiele zu sprechen. Ein Typ Beispiel ist explizit im Text zu finden. Wenn Prousts Erzähler über Swann und seine Amour fou redet, wirkt es, als spreche Proust selbst ernsthaft zu seinen Lesern: „Die menschlichen Wesen sind uns gewöhnlich so gleichgültig, daß, wenn wir in eines von ihnen solche Möglichkeiten des Leidens und der Freude hineingelegt haben, es uns einer anderen Welt anzugehören scheint, sich mit Poesie umgibt und unser Leben zu einer tief be15

Ebd., 127–128.

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wegenden weiten Landschaft macht, in der es uns je nachdem näher oder ferner ist.“16 Kinderbücher sind voll mit derartigen Beispielen. Wenn Dumbledore Punkte an seine Schüler verteilt, behauptet auch J. K. Rowling etwas: „‚There are all kinds of courage‘, said Dumbledore, smiling. ‚It takes a great deal of bravery to stand up to our enemies, but just as much to stand up to our friends. I therefore award ten points to Mr Neville Longbottom.‘“17 Solche Beispiele beschränken sich aber nicht auf allgemeine psychologische Betrachtungen, die man geneigt ist, den Autorinnen zuzuschreiben. Wenn es in Weitlings Sommerfrische heißt „In Bayern hieß alles, was aus Kies bestand und in einen See ragte, ein ‚Zipf‘“,18 oder in Water Music „At the turn of the nineteenth century, the West Coast of Africa – from Dakar to the Bight of Benin – had a reputation for pestilence and rot unequaled anywhere in the world“,19 so handelt es sich zumindest auf den ersten Blick durchaus um Behauptungen der Autoren Nadolny und Boyle. Ein zweiter Typ Beispiel betrifft Behauptungen, die mit fiktionalen Werken getroffen werden. Voltaire behauptet mit seinem Candide unter anderem, dass Leibniz These, wir lebten in der besten aller möglichen Welten, falsch ist. Brecht behauptet mit Mutter Courage und ihre Kinder, dass es gefährlich ist mit Kriegstreibern Geschäfte zu machen.20 Adiga möchte mit der fiktionalen Geschichte des Hochstaplers und Aufsteigers Balram Der Weiße Tiger über den Zustand der indischen Gesellschaft berichten.21 Und der ganze Witz an Schlüsselromanen ist, dass sie unter der fiktionalen Oberfläche als Tatsachenberichte, i.e. wahre Behauptungen über reale Personen verstanden werden können. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Beispiele werden allerdings niemanden überzeugen, der mindestens eines der drei zentralen Argumente gegen die Möglichkeit in und mit fiktionalen Texten zu behaupten für schlagend hält. Gegen solche Beispiele könnte man erstens einwenden wollen, dass der Begriff Behauptung für nicht-fiktionale Äußerungen reserviert werden sollte. Was immer es ist, das Autorinnen tun, „behaupten“ sollte man nur etwas in faktualer Rede nennen. Das ist nun weniger ein Argument als eine terminologische Vereinbarung. Dementsprechend ändert sie nichts an der Überzeugungskraft der Beispiele. So weist Köppe darauf hin, es komme bei solchen Beispielen nicht darauf an, ob wir sie am Ende als echte Behauptungen einstuften, sondern dass sie wesentliche Merkmale mit Behauptungen teilten, wie etwa darauf angelegt zu sein, jemanden von etwas zu überzeugen.22 Tatsächlich ist die terminologische Vereinbarung aber schon für sich genommen nicht plausibel. Solange die Beispiele alle Anforderungen an einen Behauptungssprechakt erfüllen, gibt es keinen Grund, sie anders zu bezeichnen.

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Proust 1997 (franz. zuerst 1913), 313. Rowling 2000 (zuerst 1997), 329, meine Hervorhebung (T. K.). Nadolny 2012, 12. Boyle 2006 (zuerst 1982), 297. Vgl. Brecht 1967 (zuerst 1941). Er möchte auch warnen, das Publikum bewegen, und eine Menge mehr. Der Punkt ist, dass er auch (und möglicherweise implizit) etwas behauptet. Adiga 2008. Köppe 2008, 124.

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Aber natürlich ist es zweitens möglich, genau diesen Punkt zu leugnen. Wollen wirklich in allen Beispielen die Autorinnen etwas behaupten? Oder stellen sie nicht vielmehr etwas zur Diskussion, generieren Hypothesen, die Leserinnen bei sich erwägen sollen?23 Und tatsächlich lassen sich einige Beispiele genauso gut als Hypothesen verstehen. Für das Proust-Zitat liegt eine solche Betrachtungsweise sogar näher als seine Analyse als Behauptung. Doch nicht alle Beispiele lassen sich gut in dieser Weise erklären. Die Zitate von Nadolny und Doyle sollen ganz klar keine Hypothesen über bayrischen Sprachgebrauch oder die allgemeine Meinung über Westafrika zu Beginn des 19. Jahrhunderts darstellen.24 Und während man Voltaire vielleicht so verstehen kann, dass er hauptsächlich zum Nachdenken anregen möchte, indem er eine Alternative zu Leibniz Position aufzeigt, so fällt es schwer zu glauben, dass Brecht mit seinem klar erzieherischen Anspruch lediglich die Hypothese in den Raum stellen möchte, dass es gefährlich sei mit Kriegstreibern Geschäfte zu machen. Wir müssen hier nicht den Status aller Beispiele klären. Es genügt, dass es ein äußerst schwieriges Unterfangen ist, alle prima facie Fälle von Behauptungen in und mit fiktionalen Texten als alternative Sprechakte zu deuten. Das ist wohl auch der Grund, warum sich die Diskussion in der neueren Literatur denn auch weniger um die Frage dreht, ob es generell möglich ist, mit und in fiktionalen Werken etwas zu behaupten, sondern mehr darum, ob und wie dieser Umstand mit Searles zunächst einmal sehr plausibler Auffassung vereinbar ist, dass in fiktionaler Rede die Bedingungen für normale Sprechakte ausgesetzt sind.25 Dieses dritte Problem hat meines Wissens keine allgemein akzeptierte Lösung erfahren. Ich skizziere hier lediglich knapp einige mögliche Ansätze: Searle selbst lässt zu, dass fiktionale Werke sowohl fiktionale als auch nichtfiktionale Rede enthalten: Sometimes the author of a fictional story will insert utterances in the story which are not fictional and not part of the story. To take a famous example, Tolstoy begins Anna Karenina with the sentence ‚Happy families are all happy in the same way, unhappy families unhappy in their separate, different ways.‘ That, I take it, is not a fictional but a serious utterance. It is a genuine assertion. It is part of the novel but not part of the fictional story. [...] Such examples compel us to make a final distinction, that between a work of fiction and fictional discourse. A work of fiction need not consist entirely of, and in general will not consist entirely of, fictional discourse.26 23 24 25

26

So z. B. Mew 1973, 332. Nur weil Nadolny und Doyle keine Hypothesen aufstellen, ist man damit natürlich nicht darauf festgelegt, dass sie etwas behaupten. Abschnitt fünf bietet eine alternative Erklärung an. Noch Walton 1990 dagegen zitiert zustimmend Parsons Bedauern des Forschungsstandes: „Practically all writers on the topic [...] agree that in such cases authors of fiction do not assert or report or describe what they write“ (Parsons 1978, 157–158, Walton 1990, 78). Für eine Liste dieser ehemals beinahe allgemein geteilten Meinung, siehe Walton 1990, 78. Für Kritik, die sich hauptsächlich auf Beispiele wie die im Haupttext genannten stützt, siehe Walton 1990, 78–80, Currie 1990, 35 und Lamarque/Olsen 1994, 64–71. Searle 1975, 331.

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Searles Beispiel ist unglücklich gewählt, weil es gerade kein eindeutiges und spontan einleuchtendes Beispiel für eine normale Behauptung darstellt. Es liegt nicht besonders nahe, dass Tolstoi seinen Leserinnen mitteilen wollte, dass tatsächlich alle glücklichen Familien auf dieselbe Weise glücklich, alle unglücklichen aber auf verschiedene Weise unglücklich sind. Searles Lösung ist jedoch unabhängig vom konkreten Beispiel. Er lässt in fiktionalen Werken nicht-fiktionale Rede zu, für welche die üblichen Sprechaktregeln gelten. Dementsprechend handelt es sich dann bei den oben angeführten Beispielen nicht um das Vorgeben des Behauptungssprechaktes, sondern um echtes Behaupten. Allerdings lässt sich Searles Lösung mit zwei Einwänden konfrontieren. Zum einen ist sie nicht auf alle Beispiele anwendbar. Im Harry-Potter-Zitat liegt nicht nur eine echte Behauptung der Autorin vor, sondern Leserinnen werden auch aufgefordert, sich vorzustellen, dass der Rektor etwas behauptet. Dumbledore spricht in der Fiktion zu seinen Schülern und das bedeutet, dass die Sätze, in denen seine Rede ausgedrückt wird, fiktional sind. Es ist schlicht nicht korrekt zu sagen, dass die fraglichen Sätze (nur) nichtfiktional sind. Genauso kann Searles Vorschlag nicht erklären, was es mit Behauptungen auf sich hat, die eine Autorin trifft, indem sie einen Roman oder ein Drama verfasst. Es gibt allerdings Fälle, für die Searles Analyse zumindest nicht von vornherein unplausibel ist. Ein klassisches Beispiel sind die langen Ausführungen über Techniken des Walfangs in Melvilles Moby Dick. Für diese Passagen ist es prima facie naheliegend, sie als nichtfiktionale Einschübe in einem ansonsten fiktionalen Werk zu verstehen.27 Zum anderen sollte Searles Lösung dem Vertreter der Fiktionale-Texte-sind-Wissensquellen-These nicht genügen. Denn zwar teilt z. B. Melville seinen Leserinnen sehr viel über die Techniken des Walfangs mit, und insofern können seine Leserinnen Wissen vom Hörensagen durch die Lektüre des Romans gewinnen und unter Berufung auf Melvilles Zeugnis rechtfertigen. Doch wäre das die ganze Geschichte, so wären fiktionale Texte nur insofern eine Wissensquelle als sie nicht-fiktionale Passagen enthielten, aus denen man lernen kann. Damit wäre zwar die These, dass fiktionale Texte Wissensquellen sein können, technisch gerettet, aber nicht in dem Sinne, den Vertreter der These (wie ich selbst) üblicherweise im Sinn haben und den einige der Beispiele nahe legen. Wir wollen sagen, dass man nicht nur aus nicht-fiktionalen Passagen fiktionaler Werke lernen kann, sondern aus fiktionaler Rede selbst, insofern mit dieser fiktionalen Rede gleichzeitig nicht-fiktionale Sprechakte begangen werden. Searles Sprechakttheorie hält neben seiner offiziellen Lösung weitere Ressourcen bereit, um mit Behauptungen in fiktionalen Kontexten umzugehen. Vor allem lässt Searle indirekte Sprechakte zu, die zusätzlich zu den primären Sprechakten ausgeführt werden.28 Möglicherweise lässt sich diese Idee so ausbuchstabieren, dass über indirekte Sprechakte erklärt werden kann, wie man mit einem fiktionalen Werk etwas behaupten kann und wie das Vorgeben eines Sprechaktes auch einen echten indirekten Sprechakt involvieren kann. Schlägt diese Strategie fehl, so wird man Lösungen in Betracht ziehen müssen, die mit Searles Sprechakttheorie nicht ohne Weiteres vereinbar sind. 27

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Aber siehe Köppe 2008, Abschnitt 3.3.2.1 und Reicher 2012, 118–122, die beide darauf hinweisen, dass die (meisten) angeblich in faktualer Rede gehaltenen Passagen sehr wohl dazu dienen, die fiktive Welt mit zu entwerfen. Searle 1975a.

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Eine Möglichkeit, die von Reicher diskutiert wird, läuft darauf hinaus, Searles Analyse von fiktionaler Rede zurückzuweisen.29 Es ist demnach gar nicht wahr, dass in fiktionalen Äußerungen alle Sprechaktkonventionen aufgehoben sind. Schwach fiktionale Äußerungen erfüllen alle Sprechaktregeln für Behauptung, Frage, Hypothese, etc. Nur für stark fiktionale Äußerungen sind die üblichen Sprechaktregeln außer Kraft gesetzt. Eine ausführliche Diskussion der Frage, wie eine Sprechakttheorie mit der Beobachtung zu vereinbaren wäre, dass in und mit fiktionalen Texten behauptet werden kann, führte hier zu weit. Tatsächlich bin ich der Überzeugung, dass sich das Behauptungsproblem der Zeugnis-Strategie auf andere Weise umgehen lässt. Wie sich in Abschnitt 5 herausstellen wird, ist die Zeugnis-Strategie gar nicht auf die Behauptungsthese festgelegt!

4.

Das epistemische Problem der Zeugnis-Strategie

Man kann sich fragen, wie genau die epistemische Unterstützung aussieht, die auf (echten) Behauptungen in fiktionalen Kontexten beruht. Diese Frage scheint bislang nicht explizit gestellt worden zu sein. Köppe z. B. schließt sein Argument mit der Prämisse, dass das Testimonium einer verlässlichen Autorin vorliegt. Und Reicher spricht noch nicht einmal von Testimonium oder Wissen vom Hörensagen. Sie sieht ihre Argumente am Ziel, wenn gezeigt werden kann, dass die üblichen Sprechaktbedingungen für Behauptungen gelten. Die Idee dahinter ist so einfach wie prima vista überzeugend: Wenn eine Behauptung vorliegt, so kann diese zumindest manchmal zu Wissen vom Hörensagen führen, weil (echte) Behauptungen im Kontext fiktionaler Rede denselben epistemologischen Status haben wie Behauptungen im Kontext nichtfiktionaler Rede. Doch eine Gegnerin der These, dass fiktionale Texte eine Wissensquelle darstellen können, darf erstens durchaus einfordern, dass wir etwas zum epistemischen Status von Behauptungen in fiktionalen Kontexten sagen. Warum dürfen wir Behauptungen in fiktionalen Kontexten manchmal oder gar immer trauen?30 Und zweitens darf sie den Verdacht hegen, dass die epistemische Unterstützung für Wissen vom Hörensagen nicht aus dem Text selbst stammt, womit die Zeugnis-Strategie für unsere Zwecke unbrauchbar wäre. Die einfachste Art, Zweifel dieser Art als unbegründet zu erweisen, besteht darin, ein Defaultprinzip nachzuweisen, das erlaubt, bestimmte Aussagen für vertrauenswürdig zu halten. Und tatsächlich haben viele Autoren argumentiert, dass dem Zeugnis Anderer zu vertrauen eine epistemische Defaultposition ist. Solange keine Gründe vorliegen, das Zeugnis Anderer anzuzweifeln, sind wir berechtigt oder gar gerechtfertigt, anzunehmen, dass sie die Wahrheit sagen. Ein bekanntes Prinzip dieser Art, und dasjenige, auf das ich mich im Folgenden stützen werde, stammt von Tyler Burge: „A person is entitled to 29 30

Reicher 2012, 118–122. Auch Köppes Argument entgeht dieser Nachfrage nicht. Zwar kann die Formulierung „Testimonium eines verlässlichen Autors“ (Köppe 2008, 130) so verstanden werden, dass die epistemische Unterstützung bei Vorliegen eines Testimoniums schon garantiert ist. Die Frage ist dann aber, woher wir wissen, dass dieses Testimonium vorliegt.

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accept as true something that is presented as true and that is intelligible to him, unless there are stronger reasons not to do so. Call this the Acceptance Principle.“31 Das Prinzip hat viele Anwendungen, von der intrapersonalen Erinnerung an frühere Rechenschritte eines Beweises bis hin zu einfachen Testimonialsituationen wie etwa Antworten auf Fragen nach der Uhrzeit oder dem Weg. Nehmen wir an, dass ein Prinzip dieser Art tatsächlich gilt. Ist damit geklärt, warum wir aus fiktionalen Texten lernen können? Wenn Autorinnen in oder mit fiktionalen Texten etwas behaupten, dann präsentieren sie es als wahr. Wir sehen uns zudem nur solche Fälle an, in denen Leser den Inhalt der Behauptung verstehen. Laut Akzeptanzprinzip genügt das schon, um berechtigt zu sein, den Inhalt der Behauptung als wahr zu akzeptieren – falls keine stärkeren Gründe vorliegen, die davon abraten. Die Frage ist, ob in fiktionalen Kontexten nicht immer solche stärkeren Gründe vorliegen. Die Skeptikerin bezüglich fiktionaler Texte als Wissensquelle könnte sagen: Weil fiktionale Rede für gewöhnlich nicht darauf ausgerichtet ist, Rezipienten Wissen zu vermitteln, sondern sie zu Vorstellungsaktivitäten anzuleiten, ist es grundsätzlich angeraten, eine kritische Haltung an den Tag zu legen, die das Akzeptanzprinzip übertrumpft. Das schließt nicht aus, dass sich positive Gründe finden lassen, die durch fiktionale Texte erworbene Meinungen auch epistemisch stützen. Aber diese epistemische Stütze rührt dann nicht von einer Defaulteinstellung her, die es uns erlauben würde, alles, was uns verständlich als wahr präsentiert wird, auch für wahr zu halten. Nicht so schnell, mögen Anhänger des Akzeptanzprinzips an dieser Stelle fordern. Bei genauer Betrachtung stellen sich die vorgeblichen Gründe, die in fiktionalen Kontexten stets das Akzeptanzprinzip übertrumpfen sollen, als nichtig heraus! Zwar stimmt es, dass wir fiktionale Rede stets erst interpretieren müssen, um herauszufinden, ob und welche (echten) Behauptungen mit ihr getroffen werden. Das betrifft aber alleine die Genese von Meinungen aus fiktionalen Texten, nicht ihre Rechtfertigung oder Berechtigung. Um eine Meinung, deren Inhalt aus einer Behauptung stammt, die mit fiktionaler Rede getroffen wurde, epistemisch zu stützen ist kein Bezug auf die manchmal schwierige Extraktion dieser Inhalte nötig. Sobald erst einmal geklärt ist, dass es sich bei einer Äußerung (auch) um eine ernsthafte Behauptung handelt, die wir verstehen, greift das Akzeptanzprinzip: Solange keine stärkeren Gründe vorliegen, sind wir berechtigt, das Behauptete als wahr anzunehmen. Dieser Einspruch zugunsten des Akzeptanzprinzips in fiktionalen Kontexten geht meines Erachtens fehl. Zwar ist es grundsätzlich wichtig, die Genese einer Meinung von ihrer epistemischen Unterstützung zu trennen, doch in manchen Fällen kann die Genese eine entscheidende Rolle spielen für die epistemische Unterstützung. Fiktionale Kontexte sind genau ein solcher Fall. Um zu verstehen, warum das Akzeptanzprinzip für fiktionale Kontexte nicht genügt, gilt es zunächst zu verstehen, warum im Normalfall eine bestimmte Sorte Einwand gegen das Akzeptanzprinzip nicht einschlägig ist. In einem zweiten Schritt lässt sich dann zeigen, dass der Einwand sich in fiktionalen Kontexten als schlagkräftig erweist. Zunächst der Einwand: Das Akzeptanzprinzip verkennt, so die Idee, dass wir andere immer interpretieren müssen, um zu verstehen, was sie sagen. Die epistemische Stützung 31

Burge 1993, 467.

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von Meinungen, die wir durch andere erwerben, beruht daher immer auch auf Wahrnehmung, Erinnerung und Interpretation. Kurz, die Berechtigung, die das Akzeptanzprinzip verspricht, ist erstens nicht die epistemische Defaultsituation und zweitens nicht a priori. Doch der Einwand greift zu kurz. Zwar sind Erinnerung und Wahrnehmung notwendig, um Meinungen durch andere zu erwerben, aber sie spielen keine Rolle in der epistemischen Stützung dieser Meinungen: In interlocution, the individual’s basic default entitlement normally derives from the presumptive intelligibility of a message understood, not from anything specific in the words perceived. Unless reasonable doubt arises about the reliability or interpretation of the source, the specific perceptions of utterances need not be relied upon in contributing force to the receiver’s entitlement to his understanding of or belief in what is communicated.32 Für den allgemeinen Fall geht der Einwand also nicht durch. Im Fall fiktionaler Rede allerdings lässt sich der Einwand überzeugender konstruieren: Das Akzeptanzprinzip zielt auf Fälle, in denen die epistemische Rolle der Äußerung oder der Erinnerung sich vollständig in der bewahrenden Weitergabe von Information erschöpft. Es zielt explizit nicht auf Fälle, in denen Empfänger komplizierte Interpretationen des Gesagten anstellen müssen oder grundlegende Gründe haben an der Verlässlichkeit der Erinnerung oder des Sprechers zu zweifeln. Es braucht keine zusätzlichen positiven Gründe, um sich auf die Aussagen anderer oder Erinnerungen verlassen zu dürfen, weil Behauptung der Normalfall indikativischer Rede ist. Abweichende Verwendungen wie in Witzen, Ironie oder eben Fiktion müssen markiert werden, um verständlich zu sein.33 Für unsere Frage bedeutet das: Fiktionale Rede ist also gerade ein Fall, in dem die Verhältnisse umgekehrt sind, in dem nicht-behauptende Verwendung normal ist und behauptende Verwendung gekennzeichnet werden muss, um verständlich zu sein. Und das wiederum bedeutet, dass das Akzeptanzprinzip nicht anwendbar ist. Es genügt in fiktionalen Kontexten nicht, eine Äußerung zu verstehen, um berechtigt zu sein, ihren Gehalt für wahr zu halten. Etwas muss hinzukommen an epistemischem Gewicht.

5.

Eine Lesekonvention

Wenn Vertrauen in die Behauptungen von Autorinnen nicht die Defaultposition ist, so bedarf es positiver Gründe, um den Gehalt der Behauptungen für wahr zu halten. Solche Gründe existieren, allerdings sind nicht alle Kandidaten gleich hilfreich, wenn es um fiktionale Texte als eine Wissensquelle geht. Man betrachte etwa einen paratextuellen Hinweis wie in Robert Hültners Nachwort zu seinem Sommer der Gaukler: So frei diese Erzählung mit historischen Fakten zuweilen umgeht, so beruht sie doch im Kern auf einer wahren Begebenheit. Ein anonymer Reisender beschreibt in seinem Tagebuch eine turbulente Schikaneder-Aufführung der 32 33

Burge 1993, 481, meine Hervorhebung (T. K.). Vgl. Burge 1993, 482–483.

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‚Agnes Bernauer‘ im Jahr 1780, bei der das Publikum eine Änderung des Stückes erzwang. Auch die zeitgenössische Berliner ‚Litteratur- und Theaterzeitung‘ berichtete darüber. Ein erstes Treffen zwischen Emanuel Schikaneder und Wolfgang Amadeus Mozart ist für dieses Jahr ebenfalls gesichert. Die hier geschilderten Umstände entspringen zwar meiner Phantasie, aber immerhin lässt sich für die entsprechende Jahreszeit eine Reise Mozarts in die Reichenhaller Gegend nachweisen.34 Zwar gibt einem das Nachwort gute Gründe, die Aussage im Roman, Schikaneder habe im Jahr 1780 die Agnes Bernauer aufgeführt, wobei es zu Turbulenzen gekommen sei, für wahr zu halten, doch ruht die epistemische Kraft eben allein auf dem Nachwort. Der fiktionale Text gibt nichts hinzu. Gesucht war aber gerade epistemische Unterstützung, die zumindest teilweise auf dem fiktionalen Text beruht. Dementsprechend nützen paratextuelle Hinweise uns nicht. Ein zweiter positiver Hinweis sind Textstellen, an denen allgemein geteiltes Wissen dargeboten wird. Allerdings fehlt in diesen Fällen das wesentliche Element des Wissenstransports. Zwar mag man die Wiederholung von etwas, dass man schon wusste als zusätzliche epistemische Bestätigung verstehen, doch wenn sich die epistemische Rolle fiktionaler Texte darin erschöpfte, so sollten wir Vertreter der These, dass man aus Literatur lernen kann, ob dieses mageren Ergebnisses zu Recht enttäuscht sein. Ein möglicher dritter positiver Hinweis wird beiläufig von Reicher erwähnt: It is, however, another question (and not a trivial one) under what conditions readers are justified in believing that a given passage within a fictional work is a reliable testimony. It seems that competent readers are quite sophisticated in distinguishing fact-stating and non-fact-stating utterances, using implicit principles about when and why authors care about respecting the demands of the real world. For instance, competent readers know that authors – in certain genres – do not throw in vocabulary like ‚filariasis‘ whimsically and that sentences in which such terms occur are probably used in a fact-stating way.35 Reicher trifft mit ihrer Vermutung, dass es implizite Prinzipien gibt, die angeben, welche Teile der fiktionalen Rede vertrauenswürdig sind und welche nicht, ins Schwarze. Leserinnen sind gut darin, vertrauenswürdige von nicht vertrauenswürdigen Teilen eines fiktionalen Werkes zu unterscheiden. Und da die Prinzipien, die diese Fähigkeit leiten, den meisten Leserinnen wohl nicht explizit vor Augen stehen, müssen sie wohl implizit sein. Die Beobachtung ist also so wahr wie trivial. Die Frage ist, welche Prinzipien es sind, die manche Aussagen als vertrauenswürdig auszeichnen und andere nicht. Reichers Beispielantwort, die Verwendung von Spezialvokabular, ist gerade kein solches Prinzip. Man denke sich folgende Szene in einem Roman: Ein Arzt tritt an das Bett 34 35

Hültner 2010 (zuerst 2005), 221. Reicher 2012, 123. Reicher ist allerdings nicht der Ansicht, dass derlei Betrachtungen nötig wären, um die Argumente für fiktionale Quellen als Wissensquellen schlagend zu machen.

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des kranken Seemannes und der Erzähler kommentiert: „Der Matrose Schnieder wusste, was die ernste Miene des Arztes zu bedeuten hatte. Er litt an Filariose.“ Das Prinzip des Spezialvokabulars legt nahe, dass der letzte Satz eine Tatsache behauptet. Aber das ist in unserem Beispiel gar nicht der Fall. Eine Lesekonvention, die besagt, dass solche Sätze als Tatsachen behauptend gelesen werden sollten, ist nur in Kraft, wenn zugleich klar ist, dass der Matrose Schnieder eine historische Gestalt ist (z. B. der Großvater der Autorin) und die Autorin seine Lebensgeschichte so getreu wie möglich in fiktionaler Form zu Papier bringen wollte. Doch diese Konvention hat nichts mit dem Gebrauch des Fremdwortes zu tun. Sie besagt vielmehr, dass fiktionale Geschichten, die der Realität nachgebildet sind, in gewissen Hinsichten nicht von der Realität abweichen sollten, und eine schwere Krankheit gehört zu diesen Hinsichten. Das Prinzip des Spezialvokabulars wird also in den wenigen Fällen, in denen es zutrifft, von einem anderen Prinzip übertrumpft. Im Prinzip aber deutet Reicher das richtige Vorgehen an: Wenn wir bestimmen wollen, was die epistemische Unterstützung für Wissen aus fiktionalen Texten ausmacht und uns dabei an der Zeugnis-Strategie orientieren, so kommen wir nicht umhin, Konventionen zu benennen. Eine zentrale solche Konvention soll daher abschließend exemplarisch charakterisiert werden. Man betrachte folgenden Ausschnitt aus Sten Nadolnys Weitlings Sommerfrische: Und weil eine Bootshütte nicht nur Badehütte sein soll, hatte [Weitling] sich dann auch ein Boot zugelegt, eigentlich einen Kahn mit Segel, genannt Plätte, Chiemseeplätte. Als Junge hatte er so ein Boot gesegelt, man konnte Plätten in den Fünfzigerjahren mieten, tausend Meter weiter südlich in Chieming bei Franz Peteranderl, dem ‚Wegmacher-Franz‘. Weil dessen Familie es generationenlang übernommen hatte, in der Gemeinde Wege auszubessern, hieß der Hof ‚beim Wegmacher‘ und die Mole, an der die Boote festmachten, der Wegmacherzipf. In Bayern hieß alles, was aus Kies bestand und in einen See ragte, ein ‚Zipf‘.36 Es ist für erfahrene Leserinnen ein Leichtes, die Informationen in dieser Passage nach ihrer Vertrauenswürdigkeit zu ordnen. Dazu ist es nicht nötig, mit dem Chiemsee und den dortigen Gepflogenheiten vertraut zu sein. Vertrauenswürdig sind beispielsweise die Aussagen, dass es am Chiemsee eine spezielle Art Boot namens Chiemseeplätte gibt, dass die Tradition dieses Bootes zumindest bis in die 50er Jahre zurückreicht, dass zumindest in manchen Gegenden von Bayern alle Kieslandzungen „Zipf“ genannt werden, und dass Chieming am Chiemsee liegt. Nicht vertrauenswürdig sind dagegen die Aussagen, dass Weitling sich einen Kahn zugelegt hat, dass er als Junge eine Plätte gemietet und gesegelt hat, dass es in Chieming einen Hof „beim Wegmacher“ gibt, wo ein Franz Peteranderl, genannt „Wegmacher-Franz“ in den 50er Jahren Plätten vermietet hat. Das bedeutet nicht, dass die vertrauenswürdigen Aussagen allesamt wahr, die nicht vertrauenswürdigen Aussagen dagegen allesamt falsch sind. Tatsächlich gibt es z. B. in 36

Nadolny 2012, 12.

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Chieming einen am See gelegenen Kiosk mit Biergarten „beim Wegmacher“. Es bedeutet lediglich, dass die Konvention Leserinnen erlaubt, sich auf die eine Art von Aussagen bis auf Weiteres zu verlassen, auf die andere aber nicht. Worin besteht nun diese Konvention, was macht also den Unterschied zwischen den Aussagen aus? Man weiß auf Seite zwölf bereits, dass die Handlung des Romans am Chiemsee spielt, und kann sie in etwa historisch einordnen. Weitling ist z. B. in den 50er Jahren ein Junge gewesen, nun aber pensioniert. Die einschlägige Konvention lautet ungefähr: (ST) Ist die Handlung eines fiktionalen Textes raumzeitlich in unserer Welt verortbar, dann sind allgemeine Informationen über die Szenerie und den Hintergrund der Handlung alles in allem historisch akkurat. Je näher eine Information dagegen an der konkreten Handlung des fiktionalen Textes liegt, desto freier kann mit dem historischen Setting umgegangen werden. Die Konvention ist verwandt anderen Konventionen, die für gewöhnlich unter dem Titel „reality-principle“ und „mutual-belief-principle“ diskutiert werden. Bei diesen Konventionen geht es jedoch darum, was über die fiktive Welt erschlossen werden kann. Die für uns einschlägige Konvention dagegen betrifft die Frage, welche der Aussagen über die fiktionale Welt auch Aussagen über die tatsächliche Welt sind. Realitätsprinzip und das Prinzip der allgemein geteilten Meinungen sind schon deswegen nicht einschlägig für unsere Diskussion, weil die Leserinnen die Informationen und alle Gründe, sie für wahr zu halten, zur Lektüre mitbringen. Die uns interessierende Konvention dagegen zeichnet bestimmte Äußerungen von Autorinnen als vertrauenswürdig aus. Ähnliche Konventionen sind schon früher entdeckt worden. So nimmt Eco eine Konvention an, die Autoren historischer Romane auf eine gewisse Realitätsnähe verpflichtet: „Doch eine der elementaren Vertragsklauseln jedes historischen Romans lautet, daß in jedem Fall, so viele fiktive Personen der Autor auch in die Geschichte einführen mag, alles Übrige mehr oder minder dem entsprechen muß, was zu jener Zeit in der wirklichen Welt geschah.“37 Wie wir sehen werden, ist die Konvention jedoch nicht auf historische Romane beschränkt. Die Konvention kann auf verschiedenste Weise kommentiert, gebrochen, oder ausgehebelt werden. Ich gebe einige Beispiele: Erstens können Autoren sich irren, die Fakten können ihnen egal sein (oder sie können Leser absichtlich täuschen wollen). Dass aber trotzdem nicht einfach Beliebiges geht, sondern Autorinnen mit Irrtum oder Faulheit gegen die Konvention verstoßen, zeigt sich unter anderem daran, dass sie von Kollegen für dieses Verhalten getadelt werden. So beschwert sich z. B. Arno Schmidt, dass Walter Scott den Mond nicht wie zu erwarten im Ostsektor, sondern im Nordwesten aufgehen lässt, was niemals vorkommt: ‚Könnten Sie mal bei Walter Scott, im Original, nachsehen‘, fiel mir als weitere Bestechung für ihn ein: ‚Da kommt im „Herz von Midlothian“ das Phänomen vor, daß „der volle Mond breit im Nordwesten“ aufsteigt.‘ Er hatte mir 37

Eco 1994, 141. Es könnte im Vertrauen auf eine derartige Konvention sein, dass Reicher die Gültigkeit ihrer Argumente explizit auf „realist fiction“ einschränkt (Reicher 2012, 114).

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T K lässig das verbrauchte Profil hingehalten, und fragte jetzt vornehm erschöpft: ‚Warum? Gibt’s das nicht?‘ (Man ist also doch letzten Endes allein!).38

Nur weil Scott in Bezug auf seine astronomischen Kenntnisse nicht vertrauenswürdig ist, bedeutet das jedoch nicht, dass er der Konvention überhaupt nicht folgt. Im Gegenteil, der historische Hintergrund von The Heart of Midlothian ist besonders detailliert geschildert. Zweitens verletzen phantastische Ereignisse die Prämisse der Konvention (ST). Nachdem in Weitlings Sommerfrische Weitling in einem Sturm als geisthafter Begleiter in sein jugendliches Ich versetzt wurde, können sich Leserinnen aufgrund des übersinnlichen Ereignisses nicht mehr auf die Konvention verlassen. Dies liegt jedoch nicht daran, wie Ecos enger gefasste Konvention nahe legt, dass die Konvention gar nicht gilt. Vielmehr wird in Weitlings Sommerfrische ausführlich die neue Situation diskutiert, so dass das Vertrauen in allgemeine Beschreibungen schnell wiederhergestellt wird. Wenn in der Folge dann z. B. erzählt wird, Kardinal Ratzinger sei in Traunstein zur Schule gegangen, so darf man dies wieder als vertrauenswürdige Aussage verstehen.39 Drittens können interne Fokalisierung und Figurenperspektive warnende Zeichen sein, dass auf die Konvention lokal kein Verlass ist. Wenn etwa Weitling behauptet „‚Auf bayrischen Seen hat der vor dem Wind Fahrende Vorfahrt vor allen anderen Booten‘“, so bedarf es keiner Fußnote, die Leserinnen erklärt, dass diese Information unverlässlich sein könnte.40 Dementsprechend seltsam mutet es zunächst an, dass Nadolny sich genötigt sieht, genau eine solche Fußnote zu setzen: „Segler Achtung: Weitling irrt!“41 Offenbar befürchtet der Autor, dass Leser dem pensionierten Richter Weitling einen derart schweren Irrtum nicht zutrauen. Es spricht also für die Stärke der Konvention, dass Nadolny durch die Fußnote jedes Missverständnis ausschließen möchte. Fiktionsexterne Gründe können die Defaultregel übertrumpfen. Wenn z. B. Jean Paul seine Belesenheit zum Besten gibt, indem er Eigenschaften des Phlogistons erwähnt, ist für heutige Leserinnen Vorsicht geboten allein aufgrund des historischen Abstandes. Was Jean Paul noch als Stand der Wissenschaft kennt, ist oftmals längst überholt. Die Konvention kann von anderen Konventionen übertrumpft werden. Man betrachte z. B. die Beschreibungen der Heimatstadt im Tonio Kröger: „Die Wintersonne stand nur als armer Schein, milchig und matt hinter Wolkenschichten über der engen Stadt. Naß und zugig war’s in den giebeligen Gassen, und manchmal fiel eine Art von weichem Hagel, nicht Eis, nicht Schnee.“42 Später heißt es: „Schon bevor er von der engen Vaterstadt schied, hatten sich leise die Klammern und Fäden gelöst, mit denen sie ihn hielt. [...] Und er verließ die winklige Heimatstadt, um deren Giebel der feuchte Wind pfiff [...].“43

38 39 40 41 42 43

Schmidt 1966, 45. Dieselbe Beschwerde findet sich auch im nichtfiktionalen Schmidt 1966a, 297, in dem Schmidt viele weitere astronomische Beispiele anführt. Nadolny 2012, 63. Nadolny, 2012, 28–29. Nadolny 2012, 29. Mann 1973 (zuerst 1922), 9. Mann 1973, 24.

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Da man aus anderen Passagen weiß, dass es um eine Hansestadt an der Ostsee geht (wenn nicht gar eindeutig um Lübeck), ließe sich gemäß der Konvention als vertrauenswürdige Information ausmachen, dass die Gassen solcher Städte eng und winklig sind, dass es in ihnen nass und zugig ist. Doch die Gassen der Stadt dienen als Symbol. Sie sollen die Bewohner und Tonio Krögers Herkunft charakterisieren, nicht das tatsächliche Aussehen von Hansestädten an der Ostsee oder die Haltung der realen Bewohner solcher Städte. Werden Beschreibungen in dieser Weise motivisch verarbeitet und damit von der Rolle des bloßen Hintergrundes nahe an das Thema und die Handlung des Textes gerückt, so ist also die Defaultregel übertrumpft. Wie mit allen Konventionen kann auch mit dieser gespielt werden und so ist für viele Passagen fiktionaler Texte unklar, ob sie verlässlich sind. Genrekonventionen können Teile der Konvention teilweise übertrumpfen. Tatsächlich ist es aber schwer, Werke zu finden, die mit der Konvention in jeder Hinsicht brechen. Entscheidend ist, dass all diese Brechungen, Missachtungen und Ironisierungen der Konvention nicht bedeuten, dass es die Konvention gar nicht gibt. Das zeigt sich darin, dass Brechungen markiert werden müssen, um verständlich zu sein und dass Missachtungen Tadel nach sich ziehen. Wie hilft uns nun Konvention (ST) mit den beiden Problemen der Zeugnis-Strategie? Sie bietet eine Lösung für Problem zwei, indem sie angibt, wie die Berechtigung, eine fiktionale Aussage p vertrauenswürdig zu finden, beschaffen ist. Diese Berechtigung kann, wie wir gesehen haben, übertrumpft und in Zweifel gezogen werden. Sie ist eine Defaultposition. Darin (und nur darin) ähnelt sie dem Akzeptanzprinzip. Doch sie ist weder apriorisch noch gilt sie grundsätzlich für alle Testimonialsituationen oder auch nur alle Aussagen in fiktionaler Rede. Konvention (ST) gibt einen positiven Grund an, bestimmte Aussagen in fiktionaler Rede für wahr zu halten, solange nicht andere Gründe dagegen sprechen. Damit genügt diese Lösung, um zu zeigen, dass fiktionale Texte eine Wissensquelle darstellen können – nämlich in den zahlreichen Fällen, in denen Konvention (ST) zutrifft und nicht übertrumpft wird. Wenn uns dagegen interessiert, wie die epistemische Unterstützung von Meinungen durch fiktionale Texte grundsätzlich funktioniert, so handelt es sich lediglich um eine Teillösung. Viele der in Abschnitt zwei erwähnten Beispiele für Behauptungen in und mit fiktionaler Rede fallen nicht unter Konvention (ST). Das sollte einerseits dazu anregen, weitere Konventionen zu suchen, die es erlauben, Typen von Aussagen in fiktionaler Rede für vertrauenswürdig zu halten. Ich nenne eine weitere solche Konvention: Bis auf weiteres dürfen Leserinnen annehmen, dass die Psyche fiktionaler Figuren der unseren gleich oder zumindest doch sehr ähnlich ist. Abweichungen sind natürlich möglich, müssen aber explizit markiert werden.44 Andererseits sollten wir Fälle von Behauptungen in fiktionaler Rede bestimmen, für welche die von Leserinnen erworbene Meinung eben nicht durch den Text epistemisch gestützt ist. Mit dem Fortfall des Akzeptanzprinzips ist es nicht länger einleuchtend, dass alle Fälle von Behauptungen in und mit fiktionaler Rede auch epistemische Stützen von Meinungen sind. 44

Nicht immer muss dabei die Abweichung (und Fremdartigkeit) auch diskutiert werden wie in Lems Solaris (Lem 1983, zuerst 1968).

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Damit kommen wir zurück zum Behauptungsproblem. Es wird durch Konvention (ST) nicht gelöst, doch die Konvention kann uns helfen, die Rolle von Behauptungen für die Zeugnis-Strategie anders und genauer zu bestimmen. Denn bemerkenswerter Weise kommt in (ST) das Wort „Behauptung“ überhaupt nicht vor! Ob eine in fiktionaler Rede transportierte Information gemäß Konvention (ST) vertrauenswürdig ist, hängt nämlich gar nicht davon ab, ob eine Behauptung vorliegt. Wenn es in Nootebooms Rituale von Amsterdam heißt „an der Prinsengracht, auf den Stufen des Justizpalastes“,45 so behauptet Nooteboom nicht, dass der Justizpalast in der Prinsengracht liegt, er präsupponiert es – Behauptung betrifft nur die mit der Äußerung eines Satzes ausgedrückte Proposition, nicht die mit der Äußerung einhergehenden Präsuppositionen. Und dass man mit fiktionaler Rede präsupponieren kann, ist nicht in derselben Weise problematisch wie das Behaupten in fiktionaler Rede.46 Wenn das stimmt, so ist zwar das Behauptungsproblem damit nicht gelöst, aber es behindert die Zeugnis-Strategie nicht länger. Nach wie vor kann man fragen, wie es sein kann, dass in und mit fiktionaler Rede behauptet werden kann – das Behauptungsproblem bleibt ein eigenständiges und interessantes Problem. Doch die Zeugnis-Strategie ist von der Antwort auf diese Frage nicht mehr abhängig. Autorinnen sind per Konvention (ST) verpflichtet, bestimmte Informationen historisch akkurat zu halten und Abweichungen zu markieren. Ob sie diese Informationen behaupten, präsupponieren oder sonst wie transportieren, spielt dabei keine Rolle. Fiktionale Texte können eine Wissensquelle darstellen, sie können Meinungen epistemisch stützen. Ein bekannter und naheliegender Typ Argument für eine solche These stützt sich auf den Umstand, dass Autoren in und mit fiktionalen Texten echte Behauptungen aufstellen können. Behauptungen ihrerseits können Anlass zu Wissen vom Hörensagen sein. Diese Zeugnis-Strategie ist mit zwei Problemen konfrontiert, dem Behauptungs- und dem epistemischen Problem. Mit der Rezeptionskonvention (ST) habe ich eine Lösung des epistemischen Problems vorgestellt, aus der zugleich hervorgeht, dass das Behauptungsproblem kein Problem für die Zeugnis-Strategie ist, weil es für diese nicht von Bedeutung ist, ob in und mit Fiktionen tatsächlich behauptet wird.47 Literaturverzeichnis

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Nooteboom 1993 (zuerst 1980), 9. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass z. B. Reichers (2012) Beispiele alle unter Konvention (ST) fallen. Die Arbeit an diesem Aufsatz wurde gefördert aus Mitteln der Exzellenzinitiative.

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Begriffliche Reflexion in der Literatur Eine Proxytypen-Theorie des kognitiven Gehalts der Literatur erläutert an Musils Vollendung der Liebe1

Bei der Betrachtung der Erkenntnisse, die Literatur vermitteln kann, stehen häufig nichtbegriffliche, nicht-propositionale oder phänomenale Formen des Wissens im Vordergrund.2 Im Gegensatz dazu soll im Folgenden die Frage untersucht werden, ob Literatur auch begriffliches Wissen vermitteln kann. Gemeint ist damit, ob in der Literatur eine Reflexion von Begriffen stattfinden kann. Das mag zunächst trivial erscheinen, denn Texte bestehen ja aus Sätzen, die Propositionen zum Ausdruck bringen, und Propositionen involvieren Begriffe. Somit sollte es auch möglich sein, mit Hilfe dieser Sätze über Begriffe nachzudenken. Doch wie wir sehen werden, verhält sich die Sache nicht so einfach. Denn die begriffliche Reflexion in der Literatur findet zumeist nicht (nur) auf der expliziten Ebene des Texts statt, sondern auf einer höherstufigen nicht-expliziten Ebene, die man als thematischen Gehalt bezeichnen kann. Diese Ebene ist sogar die für die spezifische Form der literarischen Begriffsreflexion entscheidende Ebene. Im ersten Teil des Artikels gehe ich darauf ein, was Literatur ist, und inwiefern der höherstufige thematische Gehalt für das Verständnis literarischer Texte wesentlich ist. Dabei steht die institutionelle Konzeption der Literatur, die auf Lamarque und Olsen zurückgeht, im Vordergrund.3 Diese Literaturauffassung steht in der Tradition der institutionellen Kunstkonzeptionen, die sich um die Mitte des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf eine Grundsatzkritik an der Definierbarkeit von Kunst entwickelten. Es hatte sich gezeigt, dass es anscheinend keine Menge von Eigenschaften gibt, die allen Kunstwerken und nur Kunstwerken zukommt.4 Die Vertreter der institutionellen Kunstdefinition führten dies darauf zurück, dass sich die bisherigen Versuche nur auf manifeste intrinsische Eigenschaften wie Schönheit, Form oder Material konzentriert und nicht-manifeste relationale Eigenschaften außer Acht gelassen hatten, die Kunstwerke auf ihren sozialen 1 2 3 4

Für hilfreiche Anmerkungen und Diskussionen danke ich den Herausgebern Christoph Demmerling und Íngrid Vendrell Ferran sowie Jörg Fingerhut und Tom Poljansek. Gabriel 1990; Schildknecht 2007. Lamarque/Olsen 1994. Weitz 1956.

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und historischen Kontext beziehen.5 Obwohl auch diese Definitionsansätze Einwänden ausgesetzt sind, gibt es aus meiner Sicht kein Zurück hinter die Einsicht, dass der soziale Kontext für die Bestimmung dessen, was Kunst ist, von Bedeutung ist.6 Im zweiten Teil erkläre ich, was ich unter Begriffen verstehe. Ich knüpfe an die empiristische Begriffstheorie an, die von Jesse Prinz vor allem in seinem Buch Furnishing the Mind entwickelt wurde.7 Im Zentrum dieser Theorie steht das Konzept eines Proxytyps, das ausführlich erläutert wird. Vereinfacht formuliert handelt es sich um Verknüpfungen von typischen, aber kontextsensitiven Merkmalen perzeptueller Art (im weitesten Sinn), die denjenigen Gegenständen zukommen, die unter einen Begriff fallen. Dieser Ansatz empfiehlt sich besonders, weil er sowohl philosophisch überzeugend als auch kognitionswissenschaftlich sehr gut unterfüttert ist. Es gelingt Prinz zu zeigen, dass sein Ansatz im Hinblick auf viele Erklärungsdesiderata, die eine gute Begriffstheorie erfüllen muss, besser abschneidet als konkurrierende Theorien. Der dritte Teil ist einem Anwendungsbeispiel gewidmet. Anhand von Musils Novelle Die Vollendung der Liebe wird gezeigt, wie sich die Proxytypentheorie für die Analyse der Rezeption eines literarischen Texts fruchtbar machen lässt. Dabei treten einige Besonderheiten in Erscheinung, die die begriffliche Reflexion in der Literatur kennzeichnen. Dies führt zum letzten Teil, in dem ich die Eigenständigkeit der Begriffsreflexion in der Literatur gegenüber der philosophischen Reflexion von Begriffen herausstelle.

1.

Was ist Literatur?

In der Alltagssprache hat der Begriff der Literatur zwei Bedeutungen: Im weitesten Sinn umfasst er sämtliche geschriebenen Texte. Im engeren Sinn, um den es hier geht, steht er für eine Form der Kunst. Das wirft die Frage auf, wodurch sich Literatur als spezifische Kunstform auszeichnet. Die vorgeschlagenen Antworten auf diese Frage können im vorliegenden Kontext nicht erschöpfend diskutiert werden. Ich wähle daher eine Abkürzung und schließe an die auf Lamarque und Olsen zurückgehende institutionelle Konzeption der Literatur an, die mir am plausibelsten erscheint.8 Ich gehe davon aus, dass sich diese Wahl auch im Verlauf der Argumentation durch die Erklärungsstärke der Theorie im Hinblick auf die vorliegende Fragestellung als gerechtfertigt erweist. Die institutionelle Konzeption ist vor dem Hintergrund des Scheiterns der Versuche zu sehen, Literatur auf der Grundlage der intrinsischen Eigenschaften von Texten zu definieren, seien es syntaktische, semantische, pragmatische oder rhetorische Eigenschaften in einem weiteren Sinn. Diese Einsicht geht bereits auf Aristoteles zurück, der feststellte: 5 6

7 8

Danto 1964, Dickie 1969, Levinson 1979. Da diese Einwände auf einer aus meiner Sicht unzutreffenden Auffassung der Struktur des Kunstbegriffs als bestimmt durch notwendige und hinreichende Bedingungen beruhen, sprechen sie nicht gegen die hier verfolgte Auffassung, die – wie der zweite Teil des Artikels zeigt – eine andere Theorie der Begriffe zugrunde legt. Prinz 2002. Lamarque/Olsen 1994.

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[…] der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt – man könnte ja auch das Werk Herodots in Verse kleiden, und es wäre in Versen um nichts weniger ein Geschichtswerk als ohne Verse […].9 Dasselbe gilt für auch für andere Arten von Merkmalen. Im Zentrum der institutionellen Definition steht demgegenüber der Gedanke, dass Literatur bestimmt wird durch eine soziale Praxis, die Autor, Text und Leser umfasst. Diese Praxis wird durch bestimmte Konventionen konstituiert, die als Muster von Intentionen und Erwartungen solcher Intentionen verstanden werden. Ob ein Text Literatur ist, hängt insbesondere von der Intention des Autors ab, einen Text hervorzubringen, der vor dem Hintergrund dieser Konventionen rezipiert werden soll. Die Konventionen insgesamt betreffen die Art und Weise, wie Literatur geschaffen, gelesen und bewertet werden soll. Die literarische Praxis wird aus Lamarques und Olsens Sicht durch zwei Aspekte bestimmt: Zum einen durch den imaginativ-kreativen Aspekt, der im Erfinden einer Geschichte bestehen kann, aber auch in der formalen Gestaltung von nicht erfundenem Material. Letzteres trägt der Tatsache Rechnung, dass Literatur nicht immer fiktional sein muss. Doch der imaginativ-kreative Aspekt allein genügt nicht, um literarische Texte auszuzeichnen. Es gibt Texte, die diesen Aspekt aufweisen, aber nicht als Literatur gelten können. Darunter fallen beispielsweise gut gestaltete Sachbücher oder Werke, die der reinen Unterhaltung dienen, beispielsweise Groschenromane. Es muss ein weiterer Aspekt hinzukommen; für Lamarque und Olsen handelt es sich dabei um die mimetische Dimension. Damit ist nicht gemeint, dass Literatur stets die Wirklichkeit naturalistisch abbilden oder beschreiben muss. Der entscheidende Punkt ist vielmehr, dass Literatur eine bestimmte Art des semantischen Gehalts hat, den sie als thematischen Gehalt (thematic content) bezeichnen. Literarische Texte bestehen zunächst einmal aus Beschreibungen der Schauplätze, Personen, Handlungen und Ereignisse, um die es geht. Diese Ebene wird als Textgegenstand (subject) bezeichnet. Das Verständnis des Textgegenstands ist notwendig, aber nicht hinreichend für die Rezeption eines Texts als literarisches Werk im Kontext der Literaturpraxis. Insbesondere erschließt sich der Wert eines literarischen Texts nicht auf dieser Ebene, wie Lamarque und Olsen argumentieren: [...] an apprehension […] which did not move beyond an apprehension of subject would be rudimentary and unsatisfactory. It would not capture the qualities that make the poem a valuable work of art. In order to appreciate a literary work, one must attempt to construe the subject under a certain perspective, and as being in some way the bearer of a theme.10 Um einen Text als literarisches Kunstwerk zu rezipieren, ist es erforderlich, ihn als Träger eines thematischen Gehalts aufzufassen. Dieser muss auf der Grundlage des Textgegenstands und der formalen Eigenschaften vom Rezipienten konstruiert werden. Wie ich andernorts ausgeführt habe, handelt es sich daher um einen Gehalt höherer Ordnung, der 9 10

Aristoteles 1982, 29 (1451 b1–4). Lamarque/Olsen 1994, 260.

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auf dem niederstufigen Gehalt aufbaut.11 Lamarque und Olsen explizieren diese Konzeption des thematischen Gehalts am Beispiel des Gedichts Leda and the Swan, das William Butler Yeats zuerst 1924 publizierte. Sie bestimmen den thematischen Gehalt dieses Gedichts anhand der Aussage, die westliche Zivilisation sei aus Leidenschaften, Blut und Gewalt hervorgegangen.12 Der thematische Gehalt muss sich jedoch nicht in einer Aussage erschöpfen, sondern kann komplexer sein. Der niederstufige Gehalt des Gedichts besteht in der mehr gewaltsamen als zärtlichen Begegnung der mythischen Figur Leda mit Zeus in der Gestalt eines Schwans. Der thematische Gehalt wird aber nicht nur über seine höherstufige Natur bestimmt, sondern unterliegt auch inhaltlichen Beschränkungen. Nicht alles kann Thema der Literatur sein, sondern der thematische Gehalt muss von einer gewissen Allgemeinheit und Relevanz für menschliche Belange sein. Lamarque und Olsen übernehmen an dieser Stelle einen aristotelischen Gedanken. Sie sprechen von einem allgemein-menschlich interessanten Gehalt (humanly interesting content). Peter Lamarque spezifiziert diese Formulierung später dahingehend, dass der thematische Gehalt eine gewisse moralische Ernsthaftigkeit (moral seriousness) aufweisen müsse.13 Der Begriff der Moral ist hier in einem weiteren Sinn zu verstehen, der nicht nur unsere Pflichten gegenüber anderen Menschen umfasst, sondern auch Fragen des guten oder sinnvollen Lebens. Die These ist also, dass die Themen der Literatur im weiteren Sinn moralisch relevant, also von Bedeutung für das gute Leben sind. An dieser Verengung habe ich grundsätzlich nicht viel auszusetzen. Ein wichtiger Fall höherstufiger Gehalte, der vielleicht im Randbereich dieser Bestimmung liegt, ist der Begriff der Kunst bzw. Literatur und des Ästhetischen selbst. Diese gehören zu den häufig in der Literatur und anderen Kunstformen thematisierten Begriffen. Dabei geht es nicht immer nur um den Zusammenhang von Kunst und gutem Leben, sondern auch um die Natur der Kunst bzw. Literatur. Ein Beispiel hierfür ist Christian Morgensterns Fisches Nachtgesang. Dieses Werk thematisiert u. a. die Bedeutung des semantischem Gehalts und der Form von Gedichten sowie die Rolle intentionaler Urheberschaft. Auch wenn der Text sich über die Ernsthaftigkeit der „hohen“ Literatur lustig macht, kann man vielleicht trotzdem von einer „moralischen Ernsthaftigkeit“ dieser Themen und ihrer literarischen Behandlung im weiteren Sinn sprechen. Ich selbst bevorzuge allerdings die Ausdrucksweise, dass Kunst bzw. Literatur es mit grundlegenden Wertfragen menschlicher Praxis zu tun hat. Da auch ästhetische Begriffe wie Kunst und Literatur evaluative Begriffe sind, lassen sie sich in diese Bestimmung umstandslos integrieren. Geht man davon aus, dass Literatur über einen thematischen Inhalt höherer Ordnung verfügt, so ist jedoch die Frage noch offen, wie genau der Gehalt höherer Ordnung im Text angelegt ist bzw. wie sich die niederstufigen und die höherstufige Ebene literarischer Texte zueinander verhalten. Lamarque und Olsen sprechen davon, dass die niederstufigen Ebenen den höherstufigen Gehalt implizieren. Es ist jedoch klar, dass es 11 12

13

Misselhorn 2005. Diese Formulierung des thematischen Gehalts des Gedichts erscheint mir zu wenig komplex. Aber da diese interpretatorische Frage im vorliegenden Kontext keine Rolle spielt, gehe ich darauf nicht näher ein. Vgl. Lamarque 2005, 561.

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sich nicht um eine formallogische Implikation handeln kann. Benötigt wird ein weniger strikter Zusammenhang. Lamarque und Olsen suchen die Lösung des Problems im Rückgriff auf die Praxis der Interpretation literarischer Texte: […] the notion [of implication, C. M.] being sought must involve in some way the practice of interpretation and appreciation through which any general proposition regarding literary works is elicited and supported. A literary work ‚implies‘ general propositions only in the sense that the practice of literary appreciation makes use of such propositions to organize into an intelligible pattern the events and situations described literally in a work.14 Die Zuschreibung eines höherstufigen Gehalts muss also auf eine Art und Weise geschehen, die vor dem Hintergrund der Praxis der literarischen Interpretation legitimiert ist. Diese Sichtweise hat aus meiner Sicht jedoch den Nachteil, dass ein angemessenes Verständnis von Literatur notwendigerweise eine Interpretation erfordert. Denn der thematische Gehalt ist konstitutiv dafür, dass etwas als Literatur gilt. Wenn dieser nur durch eine Interpretation herausgearbeitet werden kann, dann ist eine Interpretation Voraussetzung für die Rezeption eines Texts als Literatur. Diese Sichtweise der Literaturrezeption ist aus meiner Sicht zu intellektualistisch. Ich möchte demgegenüber eine erfahrungsbasierte Konzeption der Literaturrezeption vorschlagen, nach der die angemessene Rezeption von Literatur eine Form ästhetischer Erfahrung involviert, für die ein höherstufiger Gehalt konstitutiv ist. Unter einer Erfahrung verstehe ich einen episodischen mentalen Zustand oder Prozess, der einen repräsentationalen Gehalt und eine phänomenale Qualität besitzt. Der spezifische repräsentationale Gehalt der ästhetischen Erfahrung der Literatur ist der Gehalt höherer Ordnung. Dieser höherstufige Gehalt der ästhetischen Erfahrung ist der Ausgangspunkt der literarischen Interpretation, kann durch sie aber auch wieder modifiziert werden. Wie ich im Folgenden argumentieren werde, ist der höherstufige Gehalt begrifflicher Natur.15

2.

Was sind Begriffe? – Die Proxytypentheorie

Begriffe im hier relevanten Sinn sind mentale Entitäten, und zwar Repräsentationen. Diese Auffassung setzte ich voraus, da sie in der Philosophie des Geistes und den Kognitionswissenschaften gut etabliert ist. Mentale Repräsentationen können einerseits anhand ihres Gehalts (was repräsentiert wird) und andererseits anhand der Eigenschaften der Träger dieses Gehalts (wie etwas repräsentiert wird) individuiert werden. Letztere betreffen das Format und die Struktur des Mediums der Repräsentation. So haben ein Bild von Churchill mit Glatze sowie der Satz „Churchill hat eine Glatze“ den gleichen Gehalt 14 15

Lamarque/Olsen 1994, 327. Diese Konzeption schließt an frühere Arbeiten von mir an, beziehungsweise vertieft diese. An anderer Stelle (Misselhorn 2011) habe ich dafür argumentiert, dass Literatur einen propositionalen Gehalt besitzen kann. Hier nun möchte ich zeigen, wie Literatur einen begrifflichen Gehalt haben kann. Dieser begriffliche Gehalt kann dann zur Grundlage des propositionalen Gehalts werden, wenn man davon ausgeht, dass der propositionale Gehalt in der Verknüpfung von Begriffen besteht. Diese These werde ich jedoch hier nicht weiter vertiefen.

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(sie repräsentieren dieselbe Person und Eigenschaft), aber sie unterscheiden sich in der Art und Weise, wie dies geschieht, da es sich im ersten Fall um eine bildliche und im zweiten Fall um eine sprachliche Repräsentation handelt. Je nachdem, welcher Begriffstheorie man anhängt, werden unterschiedliche Antworten auf die Fragen gegeben, wie der Gehalt von Begriffen zustande kommt und welche Eigenschaften die Träger dieses Gehalts besitzen. Das Feld der repräsentationalistischen Begriffstheorien teilt sich auf in rationalistische und empiristische Theorien. Die heutzutage wohl bedeutendste rationalistische Begriffstheorie geht zurück auf Jerry Fodor. Für ihn sind Begriffe angeborene mentale Strukturen, die ein sprachähnliches Format aufweisen.16 Genauer gesagt handelt es sich um arbiträre, amodale Symbole in einer Sprache des Denkens (language of thought). Sie sind arbiträr, weil die Beziehung zwischen dem repräsentierten Gehalt und dem Träger der Repräsentation arbiträr ist; d. h. es besteht kein intrinsischer Zusammenhang zwischen ihnen. Sie sind amodal, weil ihr Format nicht an ein bestimmtes Input- oder Outputsystem gebunden ist, d. h. ihre interne Struktur steht in keinem Zusammenhang zu den sensorischen oder motorischen Zuständen, die sie hervorbringen. So beruht die begriffliche Repräsentation von Farben nach dieser Theorie auf gänzlich anderen neuronalen Systemen, als die perzeptuelle Repräsentation von Farben in der Wahrnehmung. Beide Systeme operieren nach unterschiedlichen Prinzipien und verwenden unterschiedliche Repräsentationsformate. Des Weiteren ist Fodor der Auffassung, dass der Gehalt unserer basalen Begriffe atomistisch ist, also nicht von anderen Begriffen abhängt.17 Begriffliche Atome sind diejenigen Begriffe, die wir in unserer Sprache durch Wörter zum Ausdruck bringen, die sich nicht in kleinere bedeutungstragende Einheiten zergliedern lassen. So wäre der Begriff Hund in diesem Sinn ein atomistisches Symbol unserer Sprache des Denkens (Fodor spricht auch von lexikalischen Begriffen). Ich tendiere hingegen mehr zu einer empiristischen Begriffstheorie, die in ihrer heutigen Form auf den britischen Empirismus (insbesondere Locke) zurückgeht. Dieser Theorietyp geht davon aus, dass die meisten lexikalischen Begriffe strukturiert und modalitätsspezifisch sind. So besteht beispielsweise der Begriff Hund in einer Ansammlung perzeptueller Merkmale, die wir aufgrund unserer verschiedenen Begegnungen mit Hunden gespeichert haben. Dieser Prozess beruht auf der sog. Hebbschen Regel, nach der die synaptische Verknüpfung zwischen Neuronen verstärkt wird, je häufiger sie gemeinsam aktiviert werden; dies führt dann zur Herausbildung neuronaler Netzwerke.18 In jüngerer Zeit wurde diese Auffassung im Anschluss an den Kognitionspsychologen Lawrence Barsalou philosophisch von Jesse Prinz weiterentwickelt, auf dessen Ansatz ich mich im Folgenden stütze.19 Für Prinz beruht jegliche Art mentaler Repräsentation auf der Wahrnehmung. Er greift damit das alte empiristische Motiv auf: „nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu.“20 Allerdings ist der von Prinz vertretene 16 17 18 19 20

Fodor 1998. Eine umfangreiche Verteidigung dieser These gegen holistische Ansätze unternehmen Fodor/ LePore 1992. Hebb 2002 (engl. zuerst 1949). Vgl. Barsalou 1999; Prinz 2002. Vgl. der Sache nach Locke 1975 (engl. zuerst 1690), II, Chap. 1, § 5.

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Begriffsempirismus von anderen Formen des Empirismus wie dem epistemologischen und dem semantischen Empirismus zu unterscheiden. Der Begriffsempirismus betrifft die Natur mentaler Repräsentationen als Träger von Gedanken. Dem epistemologischen Empirismus geht es hingegen darum, alle Formen der Rechtfertigung auf die Sinneswahrnehmung zurückzuführen, während der semantische Empirismus Bedeutung über wahrnehmbare Verifikationsbedingungen bestimmt. Die drei Formen des Empirismus sind der Sache nach unabhängig voneinander. Die These des Begriffsempirismus ist, dass alle menschlichen Begriffe Kopien von Wahrnehmungsrepräsentationen oder Kombinationen solcher Kopien sind.21 Wahrnehmungen sind visuelle, auditive, olfaktorische, gustatorische und haptische Repräsentationen ebenso wie propriozeptive und introspektive Repräsentationen. Die Rede von Kopien klingt zunächst wie eine Metapher, aber Prinz gibt zwei Kausalprozesse an, wie solche Kopien hervorgebracht werden können: One proposal is that representations produced in perceptual systems are duplicated in other systems. Imagine, for example, that a visual percept is a pattern of neural activity in a topographic map corresponding to the visual field. A stored copy of that percept might be a similar pattern in a topographic map stored elsewhere in the brain. An alternative possibility is that representation in perceptual systems leave behind records in other systems that allow those representations to be generated in their original perceptual systems on subsequent occasions. Imagine that a stimulus causes a state in the visual systems, and then some other system stores a record that can cause the visual system to generate a state of the same kind when the stimulus is no longer there. Stored records themselves are not copies, on this proposal; rather they are instructions for producing copies. On both proposals, an active token of a concept qualifies as a copy of a perceptual representation.22 Vereinfacht ausgedrückt handelt es sich bei den Kopien von Wahrnehmungsrepräsentationen also um neuronale Muster, die bei der Wahrnehmung entstehen, und die entweder an einem anderen Ort als dem perzeptuellen System gespeichert werden, oder aber Spuren hinterlassen aufgrund derer sie im perzeptuellen System reproduziert werden können. Die Identifikation von Begriffen mit Kopien von Wahrnehmungsrepräsentationen erinnert an die bereits Aristoteles zugeschriebene Auffassung, Begriffe seien mentale Bilder. Da die Einschränkung von Begriffen auf visuelle Repräsentationen jedoch zu eng ist, gilt sie (und mit ihr häufig die empiristische Begriffstheorie) als diskreditiert.23 Im Unterschied zur Bildtheorie sind Begriffe für Prinz komplexe Repräsentationen, die alle Arten von Repräsentationen einschließen, auf die auch die anderen Begriffstheorien zurückgreifen. Dazu zählen mentale Bilder, aber auch die von den Prototypentheorien hervorgehobenen charakteristischen Merkmale, exemplarische Einzelrepräsentationen sowie diskursive und essentialistische Eigenschaften. So involviert der Begriff Hund 21 22 23

Vgl. Prinz 2002. Prinz 2002, 108f. Einen Überblick der Einwände gegen die Bildtheorie gibt Prinz ebd., 28ff.

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Wahrnehmungen oder imaginierte Repräsentationen von Hunden; diverse mit Hunden verbundene Assoziationen, die stillschweigende Annahme, Hunde bildeten eine natürliche Art; Geschichten, in denen Hunde eine Rolle spielen, etc. Alle diese Hunderepräsentationen sind relevant für den Hundebegriff. Dies ist auch einer der zentralen Unterschiede zwischen der Proxytypentheorie und der Prototypentheorie, die ihr dem Namen und der Sache nach ähnlich ist.24 Prototypentheorien betrachten Begriffe als Zusammenstellungen einer verhältnismäßig kleinen Menge typischer Merkmale.25 Diejenigen Instanzen einer Kategorie, die die größte Anzahl an typischen Merkmalen aufweisen, bzw. die Repräsentationen solcher Instanzen werden als Prototypen bezeichnet. Nicht alle Instanzen eines Begriffs müssen jedoch sämtliche typischen Merkmale aufweisen. Es besteht nur eine Familienähnlichkeit in Wittgensteins Sinn zwischen ihnen. Im Unterschied zur Proxytypentheorie berücksichtigen Prototypentheorien jedoch häufig keine theoretischen Merkmale und sie schließen im Allgemeinen aus, dass es im strikten Sinn wesentliche Merkmale geben könnte. Prinz’ Ansatz ist hingegen mit beiden Auffassungen kompatibel. Ja, er geht sogar davon aus, dass viele Proxytypen sich auf natürliche Arten beziehen und begründet dies mit Hilfe einer informationalen Semantik (s. u.). Prototypentheorien nehmen demgegenüber zumeist an, dass die Referenz von Prototypen durch das Überschreiten einer Ähnlichkeitsschwelle festgelegt wird. Dies ist die grundsätzlichste Differenz zwischen den beiden Theorieansätzen. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die Proxytypentheorie anders als die Prototypentheorie dezidiert empiristisch ist. Alle Repräsentationen, die Begriffe involvieren, gründen in der Wahrnehmung. Dies beinhaltet auch die Repräsentation räumlicher Relationen, z. B. das Verhältnis von Schnabel und Flügeln von Vögeln oder die Flugfähigkeit, die als Sequenz von Flügelschlägen repräsentiert wird, was von Prototypentheorien Prinz’ Ansicht nach nicht so ohne weiteres eingefangen werden kann. Doch in welcher Form werden Proxytypen repräsentiert? Man könnte nun auf den Gedanken kommen, Begriffe seien einfach aus diesen Informationen gebildete neuronale Netzwerke im Langzeitgedächtnis. Doch das ist zu einfach gedacht. Erstens können viele dieser Informationen für verschiedene Begriffe relevant sein. Dann wird es schwierig zu entscheiden, wo die Grenzen zwischen den einzelnen Kategorien genau verlaufen. Doch das wirft keine unüberwindlichen Schwierigkeiten auf. Es ist möglich, dass unterschiedliche Kategorien einander überlappen. Außerdem müssen die Grenzen zwischen verschiedenen Begriffen nicht scharf sein.26 Zweitens sind Begriffe Bestandteile von Gedanken. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zwischen Hintergrundwissen und okkurrentem Denken zu unterscheiden. Hintergrundwissen ist dauerhaft im Langzeitgedächtnis gespeichert, während okkurrentes Denken nur kurze Zeit anhält und im Arbeitsspeicher geschieht. Hintergrundwissen besitze ich auch dann, wenn ich gerade nicht daran denke; okkurrentes Denken erfordert im Gegensatz dazu, dass bestimmte Repräsentationen aktiviert sind: Ich habe ein permanentes Hintergrundwissen, dass Hunde bellen, auch wenn ich gerade ans Wetter denke, 24 25 26

Zum Vergleich der beiden Ansätze vgl. ebd., 155–157. Ein Gründungsdokument der Prototypentheorie ist Rosch und Mervis 1975. Prinz 2002, 148.

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aber ich habe nur einen okurrenten Hundegedanken, wenn eine Hunderepräsentation aktiv ist. Aufgrund der Begrenztheit des Arbeitsspeichers und der kurzen zeitlichen Dauer können nicht stets sämtliche Information aus dem Langzeitgedächtnis aktiviert werden. Wir müssten sonst jedes Mal, wenn wir an einen Hund denken, sämtliche uns über Hunde zur Verfügung stehenden Informationen abrufen. Die Lösung dieses Problems übernimmt Prinz von dem Kognitionswissenschaftler Lawrence Barsalou.27 Dieser schlägt vor, dass Begriffe zeitlich begrenzte Repräsentationen von Kategorien sind, die im Arbeitsgedächtnis auf der Grundlage eines Teils der über die Kategorie im Langzeitgedächtnis verfügbaren Informationen gebildet werden. Allerdings wäre die Konsequenz streng genommen, dass wir nur dann den Begriff Hund haben, wenn wir gerade an Hunde denken. Das erscheint unplausibel. Prinz modifiziert Barsalous Vorschlag deshalb dahingehend, dass Begriffe nicht zwangsläufig okkurrent sind, sondern auch Repräsentationen umfassen, die zwar gerade nicht aktuell im Arbeitsgedächtnis präsent sind, aber dort aktiviert werden können. Diese Repräsentationen bezeichnet Prinz als Proxytypen:28 On the proposal that I am recommending, concepts are proxytypes, where proxytypes are perceptually derived representations that can be recruited by working memory to present a category. A proxytype can be a detailed multimodal representation, a single visual model, or even a mental representation of a word (e. g., an auditory image of the word ‚dog‘). Every long-term-memory network of perceptual representations contains many overlapping proxytypes.29 Von den verschiedenen im Langzeitgedächtnis gespeicherten Informationen zu einer Kategorie wird, je nach Kontext, nur ein bestimmter Teil abgerufen, der dann einen spezifischen Proxytypen bildet. So führt ein Schild „Vorsicht Hund“ zur Aktualisierung des Proxytyps eines Wachhunds, während ein Zeitungsartikel über einen Hunde-Schönheitssalon eher den Proxytypen eines Pudels aktiviert. Es kann aber auch ein neuer Proxytyp gebildet werden. Die Frage ist allerdings, wie ein solcher kontextabhängiger Proxytyp, der weder die notwendigen noch die hinreichenden Eigenschaften einer Sache repräsentieren muss, einen allgemeinen Begriff wie Hund repräsentieren kann. Prinz’ Antwort auf diese Frage beruft sich auf eine Auffassung, die viele Vertreter einer repräsentationalen Theorie des Mentalen akzeptieren, und die insbesondere auch von Jerry Fodor geteilt wird. Denn im Rahmen seiner rationalistischen Begriffstheorie stellt sich ebenfalls die Frage, wie ein arbiträres Symbol in der Sprache des Denkens den Begriff Hund repräsentieren kann. Das bedeutet, der Unterschied zwischen Begriffsempirismus und Begriffsrationalismus manifestiert sich nicht in dieser Frage. Beide können sie in derselben Art und Weise beantworten.

27 28 29

Barsalou 1987. Dieser Begriff ist ein Analogon von Barsalous Begriff perceptual symbol (Barsalou 1999). Prinz 2002, 149.

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Ebenso wie Fodor vertritt Prinz denn auch eine informationale Theorie des semantischen Gehalts von Begriffen.30 Nach diesem, auf Locke zurückgehenden Ansatz, wird der semantische Gehalt von Begriffen durch diejenige Gegenstände bestimmt, die zuverlässig Instanzen dieser Begriffe verursachen. Fodor folgend nimmt Prinz an, dass eine nomologische Kovarianz zwischen dem Begriff (für Fodor: dem Symbol in der Sprache des Geistes) und den Gegenständen besteht, die er repräsentiert. Die nomologische Kovarianz (nomological covariance = NC) wird von Prinz wie folgt definiert: „NC Xs nomologically covary with concept C when, ceteris paribus, Xs cause tokens of C in all proximate possible worlds where one possesses that concept.“31 Das heißt, eine Art von Gegenständen X kovariiert nomologisch mit einem Begriff C, wenn ceteris paribus Vorkommnisse des Begriffs C in allen nahen möglichen Welten durch Gegenstände der Art X verursacht werden. Der Begriff C repräsentiert dann Gegenstände der Art X: Der Begriff Zebra repräsentiert also beispielsweise Zebras, wenn die Vorkommnisse des Begriffs Zebra zuverlässig durch Zebras verursacht werden. Wichtig ist auch der historische Ursprung in dem Sinn, dass es auf den Gegenstand ankommt, mit dem der kausale Erstkontakt stattfand. Der Begriff Zebra kann keine Zebras repräsentieren, wenn er zu allererst durch einen Esel hervorgebracht wurde. Ansonsten können andere Objekte als Zebras zwar ebenfalls Zebra-Repräsentationen verursachen, aber in diesem Fall gilt die ebenfalls auf Fodor zurückgehende asymmetrische Dependenzthese: Gegenstände, die keine Zebras sind, würden keine Zebra-Repräsentationen verursachen, wenn Zebras nicht Zebra-Repräsentationen verursachen. Umgekehrt gilt, dass Zebras immer noch Zebra-Repräsentationen verursachen würden, auch wenn dies nicht für andere Gegenstände gilt. Dieser Ansatz wird von Prinz aufgrund verschiedener theoretischer Probleme noch verfeinert, auf die ich hier nicht eingehen kann. Wichtig ist jedoch die Unterscheidung verschiedener Begriffsarten, bei denen die Art der nomologischen Beziehung differiert. Es gibt Artbegriffe, die natürliche Arten repräsentieren, Erscheinungsbegriffe und Individuenbegriffe, die sich nur auf einen ganz bestimmten Gegenstand beziehen. Diese Unterschiede bringen folgende Definitionen auf den Punkt: C is a kind concept if Xs nomologically cause tokens of C and had Xs looked different than they do, they would still cause tokens of C. C is an appearance concept if Xs nomologically cause tokens of C and had X always looked different than they do, they would not cause tokens of C. C is an individual concept if Xs nomologically cause tokens of C and if an X were presented with an object that appears exactly like X, at most one of those objects would cause tokens of C.32 Artbegriffe repräsentieren ihre Gegenstände also unabhängig davon, wie diese erscheinen, während Erscheinungsbegriffe sich auf Eigenschaften der sinnlichen Erscheinung 30 31 32

Prinz schließt v. a. an Fodor 1990 an. Prinz 2002, 241. Ebd., 242f.

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(z. B. visueller oder auditiver Natur) beziehen. Individuenbegriffe repräsentieren nur einen individuellen Gegenstand, nicht jedoch andere Gegenstände, die qualitativ mit diesem identisch sind. Es gibt jedoch insofern einen Zusammenhang zwischen Art- und Erscheinungsbegriffen, als für Prinz auch Begriffe natürlicher Arten nur aufgrund von nomologischen Beziehungen repräsentieren, die durch sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften vermittelt sind. Der Unterschied zwischen Art- und Erscheinungsbegriffen besteht dann letztlich darin, dass die relevanten sinnlichen Erscheinungseigenschaften im Fall von Artbegriffen über mögliche Welten hinweg sehr verschieden sein können, während dies bei Erscheinungsbegriffen nicht (oder nur geringfügig) möglich ist. An diesem Punkt zeigt sich eine Schnittstelle zwischen Rationalismus und Empirismus: Damit eine solche zuverlässige Verknüpfung zwischen einem Symbol in der Fodorschen Sprache des Geistes und einer Eigenschaft entstehen kann, müssen wir in der Lage sein, die entsprechende Eigenschaft zu entdecken. Wenn es sich um eine Eigenschaft außerhalb unseres Organismus handelt, müssen wir diese Eigenschaft oder eine andere Eigenschaft, die mit ihr korreliert ist, wahrnehmen; d. h. der Zusammenhang zwischen einem arbiträren Symbol in der Sprache des Denkens und einer Eigenschaft in der externen Welt wird vermittelt über die Sinneswahrnehmung hergestellt. Netzwerke wahrnehmbarer Eigenschaften müssen folglich von beiden Ansätzen angenommen werden. Der Unterschied zwischen Rationalismus und Empirismus besteht dann darin, dass der Begriffsempirist diese Netzwerke (bzw. die auf ihrer Grundlage erzeugten Kopien) mit Begriffen identifiziert, während der Rationalist ihnen bloß eine Vermittlerrolle zwischen Begriff und Welt zugesteht. Fodor bezeichnet sie deswegen als Konzeptionen, also kontingente und verschiedenartige Formen, über eine Sache nachzudenken, die aber keine Begriffe sind. Begriffe sind für ihn ausschließlich Symbole in der Sprache des Geistes. Obwohl ich eher dem Empirismus zugeneigt bin und meine These im Rahmen einer empiristischen Theorie entwickle, kann der Grundgedanke meines Ansatzes also prinzipiell auch im Rahmen einer rationalistischen Begriffstheorie Fodorscher Prägung mit Hilfe des Konzeptionsbegriffs reformuliert werden. Nun mag man zu bedenken geben, dass der Begriffsempirismus vielleicht eine Erklärung für Wahrnehmungsbegriffe gibt. Aber wie ist es mit Begriffen, die sich auf Gegenstände beziehen, die nicht direkt wahrnehmbar sind?33 Für unser Thema besonders relevant sind beispielsweise moralische Begriffe. Wie bilden wir auf der Basis von Wahrnehmung den Proxytypen eines Begriffs wie Tugend? Eine Möglichkeit besteht darin, dass wir uns dabei verschiedene tugendhafte Handlungen vorstellen, z. B. den Bedürftigen zu helfen, ein Kind zu retten etc. Außerdem kann die Repräsentation emotionaler Zustände eine Rolle für moralische Begriffe spielen, wie das Gefühl der moralischen Wertschätzung oder im negativen Sinn, der Empörung.34 Auch die Vorstellung von Unparteilichkeit könnte in diesem Zusammenhang von Bedeutung sein. Man gelangt zu ihr, indem man sich in die Perspektive aller Beteiligten hineinversetzt und einen Sachverhalt auf dieser Grundlage beurteilt. Dies sind nur Andeutungen, wie eine empiristische Begriffstheorie mit moralischen Begriffen umgehen kann. Das Problem 33 34

Vgl. ebd., 165ff. Vgl. Prinz 2007.

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kann jedoch im Rahmen dieses Artikels nicht ausführlich behandelt werden. Ich gehe davon aus, dass eine Lösung möglich ist. Es ist freilich nicht die einzige Aufgabe von Begriffen, die Anwesenheit einer bestimmten Art von Gegenstand anzuzeigen. Sie helfen uns außerdem dabei, unser Verhalten gegenüber der Welt zu planen und zu steuern. Dies ist möglich, weil Proxytypen sinnliche Repräsentationen der Gegenstände in ihrer Abwesenheit darstellen. Denken ist für Prinz daher eine Form der Simulation, bei der die begriffliche Repräsentation die Wahrnehmung des Gegenstands vertritt:35 If concepts are proxytypes, thinking is a simulation process (Barsalou 1999). Tokening a proxytype is generally tantamount to entering a perceptual state of the kind one would be in if one were to experience the thing it represents. One can simulate the manipulation of real objects by manipulating proxytypes of them in their absence. The term ‚proxytype‘ conveys the idea that perceptually derived representations function as proxies in such simulations. They are like the scale models that stand in for objects during courtroom enactments.36 Ziel des Denkens ist es, inferentielle Beziehungen, aber auch sinnliche und affektive Konsequenzen bestimmter Gedanken durch Simulation auszuloten. Diese Konzeption des Denkens bietet eine plausible Erklärung dafür, warum wir „neben der sich selbst anbietenden ,Anschauung‘ den unzulänglichen, aber mühseligen Begriff“ besitzen.37 Begriffe dienen dazu, wahrnehmbare Situationen zu reproduzieren oder zu antizipieren. Diesen Ansatz möchte ich nun auf die Literatur übertragen. Der Gehalt höherer Ordnung bei der Rezeption von Literatur wird m.E. auf dieselbe Art erzeugt, wie begriffliche Repräsentationen ausgehend von der sinnlichen Wahrnehmung. Sehe ich eine Blume, so werden die einschlägigen Merkmale von Blumen (z. B. Stengel, Blütenblätter und Duft) zu einem Proxytypen verknüpft. So entsteht auf der Grundlage der sinnlichen Wahrnehmung der Gedanke „Da (ist eine) Blume.“ Der Gedanke ist ein höherstufiger Gehalt, der auf dem Gehalt der Wahrnehmungsrepräsentation aufbaut. In einer analogen Art und Weise entsteht bei der Lektüre eines Texts ein Gedanke. Die Merkmale, die in die Bildung der entsprechenden Proxytypen eingehen, sind die wahrnehmbaren Merkmale der vorgestellten Situation. So kann die Art und Weise, wie die Interaktion von zwei Personen beschrieben wird, den Proxytyp Liebe hervorrufen. Es kann aber auch eine Farbrepräsentation, z. B. Rot, in die Konstruktion des Proxytyps eingehen. Formale Eigenschaften können ebenfalls einen Beitrag leisten. So kann ein bestimmter Rhythmus in einem Gedicht das Merkmal Herzklopfen repräsentieren, welches zum Netzwerk des Liebesproxytypen gehört. Bei den letzten beiden Beispielen handelt es sich möglicherweise um metaphorische Repräsentationen, wobei zumindest im Fall

35

36 37

Diese Form der Simulation von Wahrnehmungszuständen im Denken ist daher – anders als die im Zusammenhang der „Folk Psychology“ diskutierten Phänomene der Resonanz oder des „sich in die Perspektive eines anderen Hineinversetzens“ nicht auf andere Individuen bezogen. Eine Übereinstimmung beider Formen der Simulationen besteht jedoch in ihrem „Off-line“ Charakter. Prinz 2002, 150. Wagner 2003, 17–2.

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von Liebe und Rot die Verknüpfung mittlerweile so etabliert ist, dass es sich wohl schon um eine tote Metapher handelt. Wie komplexe Proxytypen bei der Rezeption eines literarischen Werks konstruiert werden, möchte ich nun anhand eines Beispiels erläutern, und zwar der Novelle Die Vollendung der Liebe von Robert Musil.38 Dabei kann es jedoch nur darum gehen in groben Zügen zu verstehen, wie die literarische Reflexion von Begriffen in dem von mir angenommenen Sinn vor sich geht. Eine erschöpfende Interpretation dieser Erzählung wird damit jedoch nicht angestrebt.

3.

Die Vollendung der Liebe – eine Analyse mit Hilfe der Proxytypentheorie

Der Titel von Musils Erzählung, Die Vollendung der Liebe, bereitet uns darauf vor, dass es um die Liebe geht, und zwar um die Vollendung der Liebe. Die Kombination dieser beiden Wörter erzeugt im Rezipienten zunächst einmal die Proxytypen Vollendung und Liebe. Die Verbindung beider führt zur Bildung eines komplexen Proxytyps, der eine Differenz zwischen dem Ist- und dem Sollzustand der Liebe repräsentiert. Daraus können wir schließen: Wenn es um die Vollendung der Liebe geht, dann ist diese Liebe zu Beginn der Erzählung noch nicht als vollendet anzusehen, aber doch in einem relativ fortgeschrittenen Stadium. Dieser Schluss muss aber nicht reflexiv vollzogen werden. Der bestimmte Artikel führt dazu, dass nicht nur einer von verschiedenen möglichen Liebesproxytypen konstruiert wird, sondern der Proxytyp der Liebe schlechthin oder der idealtypischen Liebe. Die durch den Titel wachgerufenen Proxytypen werden im Folgenden weiter ausgebaut. Es sei nur exemplarisch eine Passage auf der ersten Seite zitiert: Der Arm der Frau aber ragte von der Kanne weg und der Blick, mit dem sie nach ihrem Mann sah, bildete mit ihm einen starren, steifen Winkel. Gewiß einen Winkel, wie man sehen konnte; aber jenes andere, beinahe körperliche konnten nur diese beiden Menschen in ihm fühlen, denen es vorkam, als spannte er sich zwischen ihnen wie eine Strebe aus härtestem Metall und hielte sie an ihren Plätzen fest und verbände sie doch, trotzdem sie so weit auseinander waren, zu einer Einheit, die man fast mit den Sinnen empfinden konnte;.. es stützte sich auf ihre Herzgrube und sie spürten dort den Druck,.. er richtete sie steif an den Lehnen ihrer Sitze in die Höhe, mit unbewegten Gesichtern und unverwandten Blicken, doch fühlten sie dort, wo er sie traf, eine zärtliche Bewegtheit, etwas Leichtes, als ob ihre Herzen wie zwei Schwärme kleiner Schmetterlinge ineinanderflatterten.39 Diese Stelle enthält einerseits typische positiv besetzte Merkmale des idealen Liebesproxytyps wie: Herz, Schmetterlingsgefühl, Einheit, Zärtlichkeit, Verbindung. Auf der anderen Seite gibt es ein gegenläufiges Feld negativ besetzter Merkmale, das über Merk38 39

Musil 1987, 156–94. Musil 1978, 156.

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male wie Starrheit und mechanisches Gestänge eine gewisse Gewaltsamkeit suggeriert. Der auf dieser Grundlage erzeugte Proxytyp verbindet beide Elemente in notwendiger Art und Weise: Die Einheit wird durch das Gestänge hergestellt, der Druck in der Herzgegend ist die Folge der steifen Verbindung und gerade im Moment des Festgestelltseins entsteht das schmetterlingshafte Gefühl der Leichtigkeit und Zärtlichkeit. Die Beschreibung bis in die anatomischen Details soll im Leser eben jenes Gefühl durch gedankliche Simulation hervorrufen. Die Erfahrung, die sich bei der Lektüre einstellt, besitzt einen höherstufigen Gehalt, weil die beschriebene Szene als Repräsentation eines Begriffs wahrgenommen wird und die Lektüre zur bewussten Konstruktion eines Proxytyps dieses Begriffs führt. (Bewusst bedeutet hier nur, dass der Proxytyp im Arbeitsspeicher gebildet und seine Merkmale phänomenal erfahren werden. Es heißt nicht, dass die Konstruktion des Proxytypen willentlich geschieht.) Die Unverträglichkeit der beiden Merkmalsfelder und ihre Verknüpfung in einem Proxytypen erzeugt eine Spannung, die der Motor der weiteren Lektüre ist. Wir suchen nach Informationen, die die merkwürdige Zusammenstellung plausibel erscheinen lassen. Dabei passiert in etwa dasselbe, wie wenn wir mit dem komplexen Begriff Zierfisch, der seinen Besitzer auffrisst, konfrontiert werden. Die Komponenten Zierfisch und seinen Besitzer auffressen sind zwar nicht logisch unvereinbar, aber sie erzeugen dennoch eine Spannung, weil Zierfische normalerweise ziemlich klein sind und ihre Besitzer nicht auffressen können. Wir lösen diese Spannung mit Hilfe unseres Hintergrundwissens auf, indem wir uns einen sehr großen Zierfisch vorstellen. Der kombinierte Proxytyp hat daher eine emergente Eigenschaft, die den Proxytypen nicht zukommt, aus denen er besteht. Im Fall der Musilgeschichte kann die Spannung allerdings nicht einfach durch den Rückgriff auf unser Hintergrundwissen beseitigt werden. Daher suchen wir während der weiteren Lektüre nach entsprechenden Hinweisen. Ein Vorschlag zur Diagnose der Ursache des Problems wird kurz darauf beinah wörtlich gegeben: „Ist nicht jedes Gehirn etwas Einsames und Alleiniges?“40 Das mit dieser Formulierung assoziierte Merkmal ist das Bewusstsein, das jedes Individuum unweigerlich vom anderen trennt. Es ist eine notwendige Bedingung, um überhaupt Liebe zu empfinden, aber zugleich für die Kluft zwischen den Liebenden verantwortlich. Die Vollendung der Liebe kann nur dann erfolgen, wenn diese bewusstseinsbedingte Trennung überwunden wird, ohne dadurch zugleich die Bedingung der Liebe aufzuheben, wie es im Tod oder extremen Rauschzuständen geschähe. Zur Lösung des Problems wird der Begriff des Ehebruchs eingeführt, der den Übergang vom Ist- zum Sollzustand der Liebe hervorbringen soll. Denn wenn es den Ehepartnern gelänge, auch noch den Ehebruch als Inbegriff maximaler Getrenntheit als Akt ihrer gemeinsamen Liebe zu erleben, dann kann die Bewusstseinskluft zwischen den beiden Partnern überwunden werden. Nichts Trennendes stünde mehr zwischen den Liebenden – die Vollendung der Liebe wäre erreicht. Dieses Mal haben wir es mit einem Fall hochgradiger Emergenz zu tun. Wieder gibt es eine Unverträglichkeit der Einzelbegriffe Ehebruch und Liebe, die jedoch in der Kombination Vollendung der Liebe durch Ehebruch verschwinden soll. Der Rekurs auf unser Hintergrundwissen genügt allerdings 40

Ebd., 158

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nicht, um diesen Effekt hervorzubringen. Vielmehr kann das nur durch die literarische Gestaltung dieses Proxytyps erreicht werden. Die Lektüre von Musils Geschichte soll uns zeigen, warum gerade der Ehebruch, der gemeinhin als unverträglich mit der idealtypischen Liebe gilt, zu einer Vollendung der Liebe führen kann. Dieses Beispiel wirft ein Licht darauf, was wir an literarischen Werken schätzen: Sie beleuchten begriffliche Zusammenhänge, die sich nicht durch kompositionales Nachdenken erschließen lassen, sondern nur durch literarisch erzeugte Emergenzeffekte. Im Fall des kompositionalen Nachdenkens erschließen sich die Eigenschaften eines komplexen Begriffs aus den Eigenschaften seiner Bestandteile, z. B. Roter Apfel. Bei literarischen Emergenzeffekten hingegen entstehen aus der Kombination von zwei Begriffen gänzlich neue Eigenschaften, die sich aus den Eigenschaften der Bestandteile der Kombination nicht ableiten lassen, wie eben im Fall Vollendung der Liebe durch Ehebruch. Bei dieser Verbindung emergiert sogar eine Eigenschaft, die im Konflikt mit dem Merkmal Treue steht, das ein wesentlicher Bestandteil des Standardproxytyps Liebe ist. Dieses Beispiel ist daher weit fundamentaler als alltägliche Beispiele emergenter Begriffseigenschaften, wie dasjenige der Größe bei Zierfisch, der seinen Besitzer auffrisst. Freilich sind solche Emergenzeffekte als Einwand gegen Begriffstheorien von der Art der Proxytypentheorie verwendet worden. Komplexe Gedanken sind Kombinationen von Begriffen. Es gehört zum philosophischen Common Sense, die Möglichkeit komplexer Gedanken durch ihre Kompositionalität zu erklären. Das Prinzip der Kompositionalität wird gemeinhin auf Frege zurückgeführt und besagt, dass der Gehalt komplexer Gedanken sich aus dem Gehalt ihrer Bestandteile und entsprechenden Kombinationsregeln ergibt. Dieses Prinzip kommt erstens für die Produktivität des Denkens auf, d. h. für die Tatsache, dass wir grundsätzlich in der Lage sind, unendlich viele Gedanken mit Hilfe endlicher Ressourcen zu begreifen und hervorzubringen. Damit ist nicht gemeint, dass wir tatsächlich eine unendliche Menge von Gedanken hervorbringen oder begreifen können. Das wär für endliche Wesen nicht möglich. Vielmehr geht es darum, dass unsere Fähigkeit nicht begrenzt ist, aus einer endlichen Menge von Begriffen und syntaktischen Regeln beliebige neue Gedanken zu bilden und zu verstehen. Dies liegt daran, dass wir neue komplexe Begriffe und Gedanken durch Rekombination auf der Grundlage bekannter Elemente bilden können. Wir verstehen beispielsweise den Begriff Gestreifter Tennisball, auch wenn wir noch nie einen solchen gesehen haben. Zweitens wird Kompositionalität benötigt, um die Systematizität des Denkens zu erklären. Diese besteht darin, dass die Fähigkeit, einen bestimmten Gedanken zu formen, in einem intrinsischen Zusammenhang mit der Fähigkeit steht, bestimmte andere Gedanken zu bilden. So kann man, wenn man den Gedanken Fred aß den Fisch versteht, auch den Gedanken Der Fisch aß Fred verstehen. Die Bedeutung des Kompositionalitätsprinzips für die Begriffstheorie ist insbesondere von Fodor hervorgehoben worden. Eine Theorie der Begriffe, die deren Kompositionalität nicht erklären kann, ist für Fodor nicht akzeptabel. Die Frage ist jedoch, wie stark diese These zu interpretieren ist. Prinz unterscheidet zwei Ausprägungen des Kompositionalitätsprinzips. Die eine ist die zwingende Kompositionalitätsthese (mandatory compositionality), die Fodor vertritt, der behauptet:

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„Conceptual contents must be compositional.“41 Die andere ist die potentielle Kompositionalitätsthese (potential compositionality), die er selbst verteidigt.42 Diese fordert nicht, dass begriffliche Gehalte immer in Fodors Sinn kompositional sein müssen, sondern nur unter bestimmten Bedingungen. Dies ist der Fall, wenn kein Hintergrundwissen und keine Erinnerungen an beispielhafte Exemplare einer Begriffskombination vorliegen. Liegen diese Faktoren aber vor, erfolgt die Produktion komplexer Proxytypen nicht in Fodors Sinn kompositional. So greifen wir nach Prinz beim Verständnis des komplexen Begriffs Schreiner mit Harvardabschluss auf unser Hintergrundwissen zurück. Wir ziehen unbewusst etwa folgende Schlüsse: Jemand, der mit einem Harvardabschluss in der Tasche den Beruf des Schreiners ergreift, meint, auf diese Art und Weise seine Ziele am besten realisieren zu können. Wenn materieller Wohlstand das Ziel dieser Person wäre, würde ihre Ausbildung es ihr erlauben, Berufe zu ergreifen, die eher zielführend sind. Deswegen kann materieller Wohlstand nicht das Ziel dieser Person sein, sie ist daher nicht materialistisch veranlagt. Wie ich hier zu zeigen versucht habe, verhalten sich die im Gehalt der ästhetischen Erfahrung der Literatur involvierten Begriffe typischerweise nicht kompositional, sondern besitzen emergente Eigenschaften. Sie unterscheiden sich von anderen Fällen komplexer Begriffe, für die dies zutrifft, aber dadurch, dass für ihr Verständnis das Hintergrundwissen oder die Erinnerung an beispielhafte Exemplare der Begriffskombination nicht hinreichend ist. Vielmehr ist es die literarische Gestaltung, die in diesem Fall zum Verständnis der emergenten Eigenschaften der Begriffe führt und so neues begriffliches Wissen generiert. Die begriffliche Reflexion in der Literatur ist deshalb in einer Art und Weise produktiv, die über unser gewöhnliches, kompositional strukturiertes Nachdenken über Begriffe hinausgeht. Gleichwohl gibt es einen Übergang von den alltäglichen Beispielen emergenter Begriffseigenschaften zur Literatur. Obwohl wir die emergenten Eigenschaften eines Begriffs wie Zierfisch, der seinen Besitzer auffrisst relativ leicht durch den Kontext erfassen können, regt er uns dazu an, uns auszumalen, wie es denn dazu kommen kann, dass ein Zierfisch seinen Besitzer auffrisst. Genuine Literatur radikalisiert dieses Prinzip, weil der Kontext, der erforderlich ist, um die emergenten Eigenschaften des Begriffs zu verstehen, überhaupt erst durch den Text erzeugt wird. In Musils Novelle geschieht das, indem ein exemplarischer Fall der Vollendung der Liebe durch Ehebruch erschaffen wird. Dies verbindet die Form der begrifflichen Reflexion in der Literatur mit der ihr eigentümlichen repräsentationalen Struktur, bei der sich der höherstufige thematische Gehalt auf der Grundlage des niederstufigen Gehalts konstituiert. Der institutionelle Charakter der Literatur sorgt dafür, dass wir bestimmten Texten bereits mit der Erwartungshaltung begegnen, solche Phänomene vorzufinden und unsere Aufmerksamkeit mehr oder weniger bewusst auf Anhaltspunkte dafür richten. Vor diesem Hintergrund können wir uns nun der Frage zuwenden, wie die begriffliche Reflexion in der Literatur zu derjenigen in der Philosophie steht. 41 42

Fodor 1998, 105. Prinz 2002, 291ff.

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4.

235

Begriffliche Reflexion in Literatur und Philosophie

Von jeher gehört die Begriffsanalyse zu den Kernkompetenzen, die die Philosophie für sich beansprucht. Nachdem der Anspruch auf synthetische Erkenntnis a priori spätestens seit dem 20. Jh. nicht mehr haltbar erschien, war die Begriffsanalyse für viele Philosophen die letzte Bastion der Philosophie.43 Es scheint so, als käme nur noch die Begriffsanalyse als Kandidat für eine eigenständige Methode der Philosophie in Frage, die a priori ist und das Philosophieren von den empirischen Wissenschaften unterscheidet. Dieser Ansatz geht zumeist einher mit einer klassischen, auf die Antike zurückgehenden definitorischen Auffassung von Begriffen. Begriffe haben demnach die Struktur von Definitionen, die notwendige und hinreichende Bedingungen dafür festlegen, dass ein Gegenstand unter einen Begriff fällt. Ein einfaches Beispiel, das Philosophen gerne anführen, um diese Auffassung zu erläutern, ist der Begriff Junggeselle. Ein Gegenstand fällt nur dann unter diesen Begriff, wenn er unverheiratet, männlich und im heiratsfähigen Alter ist. Männlich, Unverheiratet und Im heiratsfähigen Alter sind also die begrifflichen Komponenten von Junggeselle. Sie stellen notwendige und hinreichende Bedingungen für diesen Begriff dar. Allerdings besitzen wir für die wenigsten unserer Begriffe explizite Definitionen. Die Aufgabe der Philosophie besteht deshalb darin, für die fundamentalen Begriffe unseres konzeptuellen Systems (z. B. Wissen, Gerechtigkeit oder Schönheit) explizite Definitionen zu entwickeln. Wie geht man dabei vor? Man betrachtet einige paradigmatische Beispiele und versucht Merkmale zu abstrahieren. Sodann führt man eine kontrafaktische Variation durch, anhand derer sich feststellen lässt, welche Merkmale notwendig und hinreichend sind. So kann man sich fragen, ob auch ein in einer WG lebender Mann ein Junggeselle ist? Die Antwort ist eindeutig: Ja. Es handelt sich also nicht um eine notwendige Bedingung. Umgekehrt zählt ein Knabe nicht zu den Junggesellen, weil er nicht im heiratsfähigen Alter ist. Allerdings steht die klassische Begriffsanalyse nun auch schon länger im Fokus der Kritik.44 Zum einen ist es kaum gelungen, allgemein akzeptierte Definitionen von Begriffen zu entwickeln. Schon Alltagsbegriffe wie Junggeselle werfen Schwierigkeiten auf (ist beispielsweise ein Mönch ein Junggeselle?), die bei philosophischen Begriffen schier unüberwindlich werden. Ein Beispiel dafür ist der zunächst harmlos anmutende Begriff des Wissens. Gemäß der seit der Antike gängigen Definition ist Wissen wahre, gerechtfertigte Meinung. Doch wie Gettier in einem berühmt gewordenen Aufsatz mit Hilfe intrikat konstruierter Beispiele zeigte, können diese Bedingungen erfüllt sein, ohne dass Wissen vorliegt.45 Die Bedingungen sind also nicht hinreichend. Obwohl Einigkeit über die Unzulänglichkeit der Standarddefinition des Wissens besteht, gelang es bisher nicht, eine zufriedenstellende allgemein akzeptierte Definition zu formulieren. Eine Erklärung für Fehlschläge dieser Art ist, dass Begriffe eben nicht die Struktur von Definitionen haben. 43 44 45

Ayer 1946, Hanfling 2000. Wittgenstein 2003 (zuerst 1953). Gettier 1963

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Dafür sprechen auch psychologische Evidenzen, die die klassische philosophische Konzeption von Begriffen in Form notwendiger und hinreichender Bedingungen nicht erklären kann. Hierzu zählen insbesondere die sog. Typikalitätseffekte.46 So bewerten Versuchspersonen Amseln als typischere Instanzen des Begriffs Vogel als Flamingos und schreiben ihnen mehr gemeinsame Merkmale mit Vögeln zu. Typische Beispiele werden leichter erkannt und schneller klassifiziert. Diese Evidenzen nimmt auch Prinz sehr ernst und kann sie mit seiner Proxytypentheorie erklären. Proxytypen sind allgemein (sie abstrahieren von Einzelfällen), ohne dass sie notwendige und hinreichende Bedingungen erfordern. Darin unterscheidet sich die empiristische Auffassung von der rationalistischen Begriffstheorie, die der klassischen Begriffsanalyse zugrunde liegt. Da Proxytypen kontextsensitiv sind und ihre Merkmale weder notwendige noch hinreichende Bedingungen darstellen, ist es für Prinz nicht erstaunlich, dass die Ausbeute der philosophischen Begriffsanalyse gering ist. Nun könnte man sich die Frage stellen, ob die Philosophie die Begriffsreflexion unter diesen Umständen nicht gänzlich an die Literatur abtreten muss. Sind Begriffe nach der Proxytypentheorie nicht so stark kontextsensitiv, dass eine Begriffsanalyse mit Allgemeinheitsanspruch gar nicht mehr möglich ist? Das hätte für eine Theorie der Begriffe jedoch verheerende Folgen. Intrasubjektive gedankliche Konstanz über die Zeit hinweg und intersubjektiver Austausch können nicht mehr gewährleistet werden angesichts der vielen unterschiedlichen Proxytypen, die bei jedem von uns in unterschiedlichen Kontexten aktiviert werden. Dieser Einwand lässt sich mit Hilfe von Prinz’ Konzeption sog. Standardproxytypen (default proxytypes) zurückweisen.47 Ein Standardproxytyp ist eine Repräsentation, die hervorgerufen wird, wenn für eine Kategorie kein Kontext gegeben ist. In diesem Fall werden diejenigen Proxytypen aktiviert, die in der Interaktion mit Gegenständen, die unter den Begriff fallen, am häufigsten aufgerufen werden. Diese sind relativ stabil, sie werden von vielen Personen geteilt und leiten normales begrifflich vermitteltes Verhalten. Standardproxytypen spielen deshalb eine wichtige Rolle um die intrasubjektive Stabilität und Konstanz von Begriffen sowie die Möglichkeit intersubjektiver Interaktion und Kommunikation zu erklären. Eine Abweichung von den Standardproxytypen erfolgt nur dann, wenn der Kontext eine andere Repräsentation des Begriffs erforderlich macht. Welche Art von Information macht den Standardproxytyp eines Begriffs aus? Prinz schlägt vor, dass der entscheidende Faktor ist, wie häufig ein Merkmal als Bestandteil der Kategorie repräsentiert wird. Einen Einfluss darauf hat u. a. die subjektive Wahrscheinlichkeit, dass ein gegebener Gegenstand, der ein bestimmtes Merkmal aufweist, zu einer bestimmten Kategorie gehört (cue validity). So liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Gegenstand mit der Mikrostruktur H2 0 zur Kategorie Wasser gehört, bei 100 Prozent. Ein anderer wichtiger Faktor ist die subjektive Wahrscheinlichkeit, dass ein Gegenstand, der zu einer bestimmten Kategorie gehört, auch ein bestimmtes Merkmal aufweist (category validity). So ist es sehr wahrscheinlich, dass ein Gegenstand, der unter den Begriff Hund fällt, über das Merkmal Vierbeinig verfügt. Relevant ist außerdem, ob ein Merkmal in der Wahrnehmung hervorsticht (perceptual salience) und welche Be46 47

Smith 1988, 22f. Prinz 2002, 154ff.

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deutung ihm im Rahmen einer Theorie zukommt, die wir von den Mitgliedern einer Kategorie haben (conformity to theories). So sticht zwar das Merkmal, durchsichtig zu sein, in der gewöhnlichen Wahrnehmung von Wasser deutlicher hervor, als das Merkmal, H2 0 zu sein. Letzteres spielt aber in unserer Theorie des Wassers eine wichtigere Rolle. In diesem Punkt unterscheidet sich die Theorie der Standardproxytypen von der Prototypentheorie, weil letztere theoretisch fundierte Merkmale nicht berücksichtigt. Allerdings ist keiner dieser Faktoren notwendig oder hinreichend dafür, dass ein Merkmal zum Standardproxytypen gehört. Meine Hypothese ist nun, dass die philosophische Begriffsanalyse es mit Standardproxytypen zu tun hat. Das Geschäft der Philosophie ist es, über unsere Standardproxytypen bestimmter Begriffe nachzudenken und sie in einer möglichst kontextunabhängigen Art und Weise zu analysieren. Gleichwohl gibt es auch für die Standardproxytypen keine Analyse in Form notwendiger und/oder notwendiger Bedingungen, weil die Struktur von Proxytypen dem nicht entspricht. Im Unterschied zur Philosophie geht es in der Literatur gerade um Begriffe, die von den Standardproxytypen abweichen. Literarische Texte können neue begriffliche Möglichkeiten und Kombinationen von Begriffen mit überraschenden emergenten Eigenschaften aufzeigen. Wer hätte beispielsweise gedacht, dass die Vollendung der Liebe im Ehebruch besteht? Obwohl diese Art von begrifflicher Reflexion nicht zwangsläufig in allen literarischen Texten stattfinden muss, ist es doch insofern ein genuines Merkmal literarischer Texte, als sich diese Möglichkeit aus der Natur der Literatur, insbesondere ihres höherstufigen Gehalts ergibt. Literatur erlaubt es so, unser begriffliches Repertoire über die Standardproxytypen hinaus zu erweitern. Philosophie und Literatur sind somit zwei Formen der begrifflichen Reflexion, die nicht in Konkurrenz zueinander stehen, sondern sich ergänzen. Manch einem mag dieses Resultat so einleuchtend vorkommen, dass es schon fast trivial erscheint. Ist der eingeführte, recht komplexe theoretische Apparat tatsächlich notwendig, um zu dieser Einsicht zu gelangen? Auf diese Frage möchte ich dreierlei antworten: Erstens ist es bei weitem nicht selbstverständlich, Literatur überhaupt einen begrifflichen Gehalt zuzuschreiben und diesen gar als zentrales Merkmal von Literatur als Literatur zu betrachten. Häufig wird nämlich gerade der nicht-begriffliche, phänomenale Aspekt von Literatur in den Vordergrund gestellt.48 Die empiristische Begriffstheorie im Anschluss an Prinz erlaubt es ferner, den phänomenalen Aspekt der Wahrnehmung in die Begriffstheorie mit einzubauen. Zweitens ist es nicht trivial, die begriffliche Reflexion, die in der Literatur stattfindet, nicht nur auf der expliziten Ebene des Texts anzusiedeln (z. B. in den Gesprächen der Protagonisten eines Romans), sondern auf einer höherstufigen impliziten Gehaltsebene. Diese bei Lamarque und Olsen angelegte Auffassung wird jedoch dahingehend modifiziert, dass dieser Gehalt nicht durch Schlussfolgerungen im Rahmen einer Interpretation herausgearbeitet werden muss, sondern sich im Verlauf der Lektüreerfahrung auf der Grundlage des niederstufigen Gehalts konstituiert. Interpretation kann hierbei eine Rolle spielen, muss es aber nicht. Die Proxytypentheorie leistet einen wesentlichen Beitrag für das Verständnis und die Beschreibung, wie dieser Prozess vor sich geht. Nicht zuletzt bietet sie drittens ein präzises Instrumentarium, um den 48

Gabriel 1990, Schildknecht 2007.

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Eigensinn der begrifflichen Reflexion in der Literatur im Unterschied zur Philosophie zu erfassen. Der vorgeschlagene Ansatz betrachtet folglich die ästhetische Erfahrung der Literatur als einen mentalen Prozess, der sich mit den Mitteln einer kognitionswissenschaftlich informierten Philosophie des Geistes beschreiben lässt. Diese Perspektive auf die Literaturrezeption erscheint mir innovativ und informativ, auch wenn sie natürlich – wie jede andere Theorie des Mentalen – an unsere phänomenologische Vorerfahrung anknüpft. Je näher sie dieser Vorerfahrung kommt, desto besser. Trotzdem birgt die Theorie einen Erkenntnisgewinn, insofern sie uns ein tieferes Verständnis der Anatomie dieser Vorgänge erlaubt. Literaturverzeichnis

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IV. Literatur, Gefühl und Identität

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Fiktion, Vorstellung und moralische Erkenntnis1

Haben literarische Texte nur einen künstlerischen und unterhaltenden Wert oder kann man aus ihnen auch etwas lernen? Ich gehöre zu denen, die meinen, dass literarische Werke tatsächlich auch einen Erkenntniswert haben. Aber wie kann das sein, wenn literarische Werke zumeist fiktionale Texte sind, was bedeutet, dass Autoren mit ihnen ihre Vorstellungen ausdrücken und nicht ihre Überzeugungen, und die Texte damit aus Sprechakten bestehen, die keinen Wahrheitswert haben? Die meisten Kognitivisten beantworten diese Frage unter Verweis darauf, dass die Literatur uns emotiv-kognitiv sehr viel über die Welt und uns selbst beibringen kann, entweder durch die Wiedergabe begrifflichen Wissens2 oder sogar durch die nicht-propositionale literarisch-fiktionale Vergegenwärtigung der Lebenswirklichkeit.3 Literatur ermöglicht es uns dabei zu erkennen, was das Durchleben eines Zustandes bedeutet – wie es ist, sich in einer bestimmten Situation, einem bestimmten mentalen Zustand zu befinden,4 und vermittelt uns Kenntnisse über das gute Leben, Werte und Bedeutungen.5 James O. Young (2001) glaubt sogar, dass alle Kunstwerke Erkenntniswert besitzen. Im vorliegenden Beitrag konzentriere ich mich auf die Frage, wie ein literarisches Werk gerade dadurch, dass es fiktional ist, zu einer Quelle moralischer Erkenntnisse werden kann. Die Beziehungen von Literatur und Moral sind seit Urzeiten Gegenstand von Auseinandersetzungen gewesen. Anhänger Platons hielten die Kunst sogar für schädlich, da sie von ihrem Charakter her nachahmend (mimetisch) sei und uns dazu bringe, uns mit den Figuren zu identifizieren, was die eigene Persönlichkeit destabilisiere. Die Befürworter einer Autonomie der Kunst begannen einen bis heute andauernden Streit darüber, ob 1 2 3 4 5

Für Verbesserungsvorschläge zu einer früheren Fassung des Textes danke ich meinem Kollegen Daniel Cohnitz. Carroll 2001. Gabriel 1997, 2013. Currie 1995. Nussbaum 1990, 1995, 2001.

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man literarische Werke überhaupt vom Standpunkt der Moral bewerten kann, da Literatur und Moral zwei vollkommen verschiedene und voneinander unabhängige Welten sind. Martha Nussbaum6 und Noël Carroll7 haben überzeugend dargelegt, dass es gegen eine Autonomie der Literatur spricht, dass zum Verständnis literarischer Werke Nachdenken notwendig ist, dazu gehört aber auch moralisches Nachdenken, weshalb Literatur und Moral nicht getrennt voneinander sein können. Das Hauptziel fiktionaler Erzählungen ist nicht, den Leser moralisch zu erziehen, doch da literarische Werke fiktionale Erzählungen sind und damit eng verbunden mit dem Vorstellen, können sie eine Quelle moralischer Erkenntnis sein. Eine Verbindung von Vorstellungskraft und moralischem Wissen ist auch von anderen Autoren postuliert worden. Leider haben diese Autoren aber nicht in ausreichendem Maße gezeigt, worin die genaue Rolle der Vorstellung in der moralischen Erkenntnisgewinnung besteht. In diesem Beitrag unternehme ich den Versuch, die Verbindungen zwischen unterschiedlichen Arten von Vorstellung einerseits mit moralischem Wissen andererseits aufzuzeigen. Ich werde erläutern, wie die fiktionale Literatur auf sehr vielfältige Weise moralische Erkenntnis fördern kann. Dabei teile ich die Auffassung der Rezeptionsästhetik, dass man, um zu verstehen, wie literarische Werke bestimmte Funktionen erfüllen können, verstehen muss, was das Wirkungspotential ist, das uns dazu bringt fiktionale Texte anders zu lesen als nicht-fiktionale (faktuale) Texte in Zeitungen oder historische Erzählungen. In den ersten Teilen des Aufsatzes lege ich mein Verständnis von der Verbindung zwischen Fiktion und Vorstellungsvermögen dar und beschreibe das Wesen der Akte der Fiktionserzeugung (fiction-making) und der Vorstellung. In den folgenden Teilen werde ich aufzeigen, wie fiktionale Texte einen Anstoß zu zweierlei Vorstellungsakten geben: Einerseits erlauben sie es dem Leser, sich mittels der Vorstellungskraft in die Situation anderer Menschen zu versetzen und die Welt aus anderen Perspektiven als der eigenen zu betrachten. Zweitens aber ermuntern sie den Leser emotional auf das Gelesene zu reagieren und Bedeutungen zu schaffen, indem sie ihn dazu bringen sowohl über das in den literarischen Werken Ablaufende als auch über die eigene Erfahrung zu reflektieren, und somit einen Anstoß für die Entwicklung des moralischen Charakters des Lesers geben. Bei der Konstruktion der Bedeutung eines literarischen Werkes denkt der Leser an die Komplexität der Welt und wird sich seiner Werte bewusst, die er manchmal sogar kritisch neu bewertet. Literatur ist dadurch ethisch relevant und das Lesen dadurch ein moralischer Akt, der uns ein Verstehen unserer selbst und anderer sowie eine Orientierung zum Handeln in der Welt verschafft.

1.

Das Wirkungspotential literarischer Texte

Da die Besonderheit der Leserreaktion auf Literatur durch die Eigenart literarischer Texte bestimmt ist, muss man zunächst mit der Frage beginnen, was die Eigenart literarischer Texte ist. Hier hilft uns die Rezeptionsästhetik weiter. 6 7

Nussbaum 1990, 1995, 2001. Carroll 2001, 2002.

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Was beim Lesen literarischer Texte vor sich geht, hat am besten Wolfgang Iser beschrieben, der zeigte, dass ein literarischer Text ein so genanntes Wirkungspotential enthält, welches beim Lesen zum Leben erwacht. Iser behauptete, dass es in literarischen Texten eine doppelte Unbestimmtheit gibt: Erstens verweisen literarische Texte nicht auf etwas außerhalb ihrer selbst, sondern bitten den Leser etwas hervorzubringen. Literarische Texte sind von ihrer Art her fiktional. Zweitens beinhalten literarische Texte Unbestimmtheitsstellen. Der literarische Text enthält ein Wirkungspotential, da er schematisierte Perspektiven bietet, und diese müssen vom Leser zusammengeführt werden. Der Punkt, an dem sie sich treffen, wird als Bedeutung oder Vorstellungsobjekt bezeichnet. Isers Hauptidee besteht darin, dass Lesen nicht ein Vorgang in nur eine Richtung vom Text zum Leser sei, sondern ein Verkehr in zwei Richtungen, eine Interaktion zwischen den beiden Polen. Der Text selbst ist ein „Geschehen“, er nimmt nur durch das Gelesenwerden Gestalt an. Der Text enthalte gewisse zur Wirkung einladende Strukturen, die dem Leser dazu verhelfen, diesen zu begreifen. Jeder literarische Text biete eine subjektive Betrachtungsweise der Welt, so wie sie der Autor sieht. Aber ein literarischer Text sei ebenso selbst aus vielen verschiedenen Perspektiven, welche die Ansicht des Autors tragen, zusammengesetzt. In der Novelle zählt Iser vier Hauptperspektiven: diejenige des Erzählers, der Figuren, der Handlung (plot) sowie der Leserfiktion. Diese Perspektiventräger befähigen den Leser den Sinn zu erschließen und erlauben ihm, sich selbst in die fiktive Welt hineinzuversetzen. Die Rolle des Lesers sei es, verschiedene Perspektiven in ein sich allmählich entwickelndes Muster einzupassen. Iser betont, dass keine der textlichen Perspektiven identisch mit dem Sinn des Textes sei. Iser erklärt: „Vielmehr markieren sie in der Regel unterschiedliche Orientierungszentren im Text, die es aufeinander zu beziehen gilt, damit der ihnen gemeinsame Verweisungszusammenhang konkret zu werden vermag.“8 Der Verweisungszusammenhang als solcher sei jedoch nicht gegeben, sondern müsse erst vorgestellt werden. Die in der Textstruktur angelegte Leserrolle löse die Vorstellungsakte des Lesers aus, „durch die die Beziehungsmannigfaltigkeit der Darstellungsperspektiven gleichsam erweckt und zum Sinnhorizont gesammelt wird“.9 Der entscheidende Gesichtspunkt sei jedoch, dass der Leser sich die Konvergenz verschiedener Bedeutungen und die Art und Weise, wie sie sich schließlich treffen, vorstellen müsse und sie nicht durch den Text bestimmt seien. Die kreative Rolle des Lesers während des Lesevorganges ergebe sich aus der Unbestimmtheit des Textes selbst. Iser steht hier unter dem Einfluss des polnischen Phänomenologen Roman Ingarden, der über „Unbestimmtheitsstellen“ im literarischen Kunstwerk, besonders in der „Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten“ spricht.10 Nach Ingarden besteht diese Schicht aus einer unwirklichen, geschaffenen und vorgestellten Welt, die Menschen, Dinge, Vorgänge und Ereignisse einschließe. Während jedes reale Objekt vollständig bestimmt ist, haben wir bei vorgestellten Objekten niemals vollständige Bestimmtheit. Weil ein literarisches Kunstwerk diese Unbestimmtheitsstellen enthalte, sei es nicht vollständig bestimmt. Ingarden beschreibt 8 9 10

Iser 1990 (zuerst 1976), 62. Ebd., 63. Vgl. Ingarden 1972 (zuerst 1931), § 38, 261ff.

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das literarische Kunstwerk als ein „schematisches Gebilde“. Die Unbestimmtheitsstellen werden dabei ihm zufolge durch Konkretisierungen teilweise entfernt, die aus individuellen Lesevorgängen des Werkes entstehen. Iser übernimmt Ingardens Gedanken, dass die Ausfüllung der Unbestimmtheitsstellen durch den Text des literarischen Werkes nicht genügend bestimmt sei und deshalb mit verschiedenen Konkretisierungen variiere. Iser sieht in der Unbestimmtheit die Besonderheit aller literarischen Texte. Er benutzt Ingardens Ausdruck „schematisierte Ansichten“ um seine eigene Sichtweise auszudrücken, dass literarische Gegenstände – die keine konkreten Gegenstände der konkreten Welt darstellen – entstehen, indem sich schematische Gebilde entfalten. Anders als Ingarden betrachtet Iser die unbestimmten Abschnitte oder Lücken in literarischen Texten als ein grundlegendes Element für die ästhetische Wirkung, insofern als genau diese Lücken im Text den Leser einladen, an der Gestaltung eines imaginären Gegenstandes teilzunehmen. Iser postuliert, dass „die Unbestimmtheit des Textes den Leser auf die Suche nach dem Sinn [schickt]. Um diesen zu finden, muß er seine Vorstellungswelt mobilisieren“.11 Isers zentrale These lautet hier, dass der Leser beim Lesen auf das reagiere, was er selbst hervorgebracht habe. Iser erläutert: [...] dieser Reaktionsmodus erst macht es plausibel, weshalb wir den Text wie ein reales Geschehen zu erfahren vermögen. Wir fassen ihn nicht auf wie ein gegebenes Objekt, wir begreifen ihn auch nicht wie einen Sachverhalt, der durch prädikative Urteile bestimmt wird; vielmehr ist er uns durch unsere Reaktionen gegenwärtig. Der Sinn des Werks gewinnt damit selbst den Charakter des Geschehens, und da wir diese als das Bewußtseinskorrelat des Textes erzeugen, erfahren wir dessen Sinn als Wirklichkeit.12 Die Rolle des „Imaginären“ im Leseprozess ergebe sich aus der Tatsache, dass Literatur Fiktion sei, was bedeute, dass die fiktiven Objekte keinerlei Beziehung zur Wirklichkeit haben. In dieser Besonderheit literarischer Texte, dass sie sich nicht auf Gegenstände der gegebenen Wirklichkeit beziehen, sieht Iser die Möglichkeit einer neuen Art kommunikativer Beziehung zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Anstatt Fiktion und Wirklichkeit als Gegensätze zu sehen, spricht Iser über ihr Zusammentreffen in der Literatur. Er nimmt an, dass der literarische Text eine Mischung von Wirklichkeit und Fiktion sei und somit eine Wechselwirkung zwischen Vorgestelltem und Gegebenem erzeuge. In seinem letzten Buch Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie (1991) argumentiert Iser, dass es sich empfiehlt, die Zweistelligkeit von Fiktion und Wirklichkeit durch eine dreistellige Beziehung zu ersetzen. Enthält der fiktionale Text Reales, ohne sich in dessen Beschreibung zu erschöpfen, so hat seine fiktive Komponente wiederum keinen Selbstzweckcharakter, sondern ist als fingierte die Zurüstung eines Imaginären.13 11 12 13

Iser 1988, 246. Iser 1990, 210. Iser 1991, 18.

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Isers These besagt, dass durch den Akt des Fingierens die Irrealisierung von Realem und das Realwerden von Imaginärem stattfinde. Iser zeigt, dass obwohl der fiktionale Text sehr viele identifizierbare Realitätsfragmente enthalte, die tatsächliche Welt in Klammern gesetzt werde, „um zu bedeuten, daß die dargestellte Welt nicht eine gegebene ist, sondern nur so verstanden werden soll, als ob sie eine gegebene sei“.14 Durch den Akt des Fingierens werde die Welt, die im literarischen Text dargestellt ist, zu einem Als-Ob. Nach dem Pakt zwischen dem Autor und dem Rezipient müsse letzterer alle „natürlichen“ Einstellungen zu der im literarischen Text dargestellten Welt suspendieren und sich nur vorstellen, dass sie eine Welt sei. Die dargestellte Welt hat nach Iser den Charakter eines Analogon, durch das Welt in Form einer bestimmten Welt exemplifiziert werde. Das Als-Ob rufe Vorstellungen im Rezipienten hervor. Ich glaube, dass Wolfgang Iser Recht hat, dass die Besonderheit literarischer Texte darin besteht, dass sie den Leser zu Vorstellungsaktivitäten und zur Sinnbildung aufrufen. Nur würde ich die Fiktionalität der Texte und die Natur der Vorstellungsaktivitäten eher in der Tradition und mit dem Vokabular der analytischen Philosophie beschreiben. Ich glaube, dass die Kriterien für Fiktionalität nicht in der Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit liegen, sondern in der Art und Weise wie die Sprache verwendet wird. Im Folgenden werde ich deshalb der Frage nachgehen, was die Besonderheit der fiktionalen Rede ist und welche Rolle die Imagination bei der fiktionalen Rede spielt.

2.

Worin besteht die Fiktionalität literarischer Texte?

Die Verwendung des Wortes „Fiktion“ variiert sowohl historisch als auch kulturell und verfügt in unterschiedlichen Sprachen über unterschiedliche Konnotationen. Obwohl die Geschichte des Fiktionsbegriffes, sehr erhellend ist,15 interessiert mich an dieser Stelle nur die Verwendung des Wortes „Fiktion“ in unserer gegenwärtigen sozialen und kulturellen Praxis. Die traditionellste Ansicht besagt, dass es der Inhalt ist, der die Fiktionalität bestimmt. Man glaubt, dass fiktionale Texte erfundene Geschichten beinhalten, die von erfundenen Personen und Ereignissen sprechen, wohingegen nicht-fiktionale Texte von tatsächlichen Personen und Ereignissen sprechen. In der Poetik behauptete Aristoteles, dass es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, dass sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt – man könnte ja auch das Werk Herodots in Prosa kleiden, und es wäre in Versen um nichts weniger ein Geschichtswerk als ohne Verse –; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, dass der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte.16 14 15 16

Ebd., 37. Vgl. z. B. Rösler 1981. Aristoteles 1982, 29 (1451 a35–b5).

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Für Aristoteles ist Dichtung philosophischer als Geschichtsschreibung, da die Dichtung über Universelles spricht, wohingegen die Geschichtsschreibung sich mit Partikularem befasst. Die Definition, welche der moderne Erzählforscher Hayden White gibt, scheint eine geringfügige Modifikation dieser antiken Unterscheidung zu sein. White behauptet: Historians are concerned with events which can be designed to specific timespace locations, events which are (or were) in principle observable or perceivable, whereas imaginative writers – poets, novelists, playwrights – are concerned with these kinds of events and imagined, hypothetical, or fictive ones.17 Obwohl die meisten fiktionalen Werke von ausgedachten Ereignissen und fiktiven Personen handeln, scheint der ausgedachte Gehalt weder hinreichend noch notwendig dafür zu sein, dass ein Text als fiktional gilt. Zunächst gibt es Erzählungen über fiktive Ereignisse, die aber dennoch keine fiktionale Literatur darstellen. So hat beispielsweise in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts der damalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Leonid Breschnew, die Erzählung Das Kleine Land veröffentlicht, in der er seine heroische Teilnahme an einer Schlacht um ein Stück Land auf der Halbinsel Krim während des zweiten Weltkriegs schildert. Diese Schlacht, die bis zu diesem Zeitpunkt Kriegshistorikern völlig unbekannt war, wurde als kriegsentscheidend dargestellt. Jeder Einwohner der Sowjetunion musste daraufhin eine neue Geschichte des zweiten Weltkriegs lernen. Aber obwohl diese Erzählung von fiktiven Ereignissen handelt, würden wir sie nicht als fiktional bezeichnen, sondern vielmehr als falschen Tatsachenbericht, oder schlicht als Lüge. Zum andern gibt es fiktionale Erzählungen über wirkliche Personen und Ereignisse, die wir allerdings nichtsdestotrotz für fiktional erachten. Ein gutes Beispiel ist James Joyces Dubliners, ein Werk, von dem Joyce selber sagte, dass, sollte Dublin einmal zerstört werden, man es auf der Grundlage seiner Geschichten wieder aufbauen könne. Die Tatsache, dass es sowohl Tatsachenberichte über fiktive Ereignisse, wie fiktionale Erzählungen über wirkliche Personen und Ereignisse gibt, zeigt, dass nicht der fiktive Gehalt dafür verantwortlich ist, ob ein Text als fiktional klassifiziert wird. Es ist heutzutage ein Gemeinplatz in der Philosophie der fiktionalen Rede, dass das Fehlen eines Wahrheitswertes oder eines Denotats keine hinreichende Bedingung für Fiktionalität ist. Man ist heute vielmehr der Überzeugung, dass die Kriterien für Fiktionalität nicht in der Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit liegen, sondern in der Art und Weise wie die Sprache verwendet wird. Fast alle Philosophen stimmen darin überein, dass „the explanatory work for defining the fictional dimension of stories appeals more to actions and attitudes than to words and things“.18 Doch es gibt nach wie vor keinen Konsens darüber, welche Art Handlung der Autor eines fiktionalen Textes ausführt und welche Haltung der Leser einnehmen muss, um Fiktion zu erzeugen. Jüngere Versuche, Fiktionalität über die Begriffe des Handelns und der Intention zu definieren, lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe besteht aus 17 18

White 1978, 121. Lamarque/Olsen 1994, 32.

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Theorien, welche die Fiktionalität von Erzählungen in negativen Begriffen definieren, und auf Merkmale verweisen, die fiktionaler Rede im Gegensatz zu normaler Rede fehlen.19 Die einflussreichste Version dieser Sichtweise behauptet, dass in fiktionaler Rede die illokutionäre Kraft fehlt und der Sprecher nur vorgibt, illokutionäre Akte auszuführen.20 In der zweiten Gruppe finden sich Theorien, die betonen, dass fiktionale Rede keine Ableitung aus der normalen Rede darstelle, sondern etwas Besonderes sei. Indem er fiktional spricht, führt der Handelnde einen besonders gearteten Akt der Fiktionserzeugung durch. Dieser Akt der Fiktionserzeugung ist nicht innerhalb des Rahmens der Sprechakttheorie, sondern im Rahmen der Kommunikationstheorie der Bedeutung beschrieben worden. Für diese Autoren ist Fiktion eine Form des ‚So-Tuns-als-ob‘. Für Gregory Currie ist die Fiktion das Ergebnis eines Kommunikationsakts des Autors, ausgeführt mit der Intention einen bestimmten Effekt zu erzeugen und das Publikum dazu zu bringen, eine Einstellung des „So-Tuns-als-ob“ aufzurufen.21 Kendall Walton greift auf die Imagination als eine propositionale Einstellung zurück, die der Rezipient eines fiktionalen Textes gegenüber den Aussagen des Textes einzunehmen aufgefordert ist.22 Wir haben gesehen, dass in beiden Theoriegruppen die Autorabsichten dafür ausschlaggebend sind, ob eine Äußerung oder ein geschriebener Text als fiktional gilt. In beiden Fällen soll der Leser die Absicht des Autors erkennen und eine bestimmte Einstellung gegenüber der fiktionalen Äußerung einnehmen. Ich denke nicht, dass es die Kommunikationshandlung des Autors mit der Absicht im Publikum einen bestimmten Effekt zu erzielen ist, die eine Erzählung zur Fiktion macht. Zugleich teile ich nicht die Ansicht, dass fiktionale Rede nur in negativen Begriffen zu definieren ist, in Begriffen der fehlenden illokutionären Kraft. Obwohl Sprechakttheorien der Fiktion zu Recht dafür argumentieren, dass fiktionale Rede aus Sprechakten besteht, die ohne die Absicht erfolgen, Wahrheit für die ausgedrückten Propositionen zu beanspruchen und ohne die Absicht irgendetwas zu bezeichnen, ist deren illokutionäre Kraft nicht vorgetäuscht, imitierend oder abwesend. Mein Vorschlag ist, dass man sich der Fiktion – anstelle einer Definition im Rahmen von Sprechakt- oder Kommunikationstheorie – über den weiteren Rahmen der Intentionalität nähern sollte. Zurückgreifend auf John R. Searles Theorie der Intentionalität, wie sie in seinem Werk Intentionality dargelegt ist23 , welche postuliert, dass jeder illokutionäre Akt einen Ausdruck des entsprechenden Intentionsstatus des Sprechers darstellt, habe ich an anderer Stelle dargelegt,24 dass der Sprecher, indem er fiktional spricht, seiner Imagination Ausdruck verleiht und nicht seinen Überzeugungen. Meine These ist, dass die Absicht des Sprechers darin besteht, einen fiktionalen Sprechakt auszuführen, bei dem es sich um einen besonderen Akt handelt und nicht um eine vorgetäuschte Behauptung, ein vorgetäuschtes Versprechen oder irgendeine andere Art von vorgetäuschter Handlung. Genau wie jeder andere Sprechakt, wird ein fiktionaler 19 20 21 22 23 24

Beardsley 1981 (engl. zuerst 1958), Urmson 1976, Novitz 1979/80. Ohmann 1971, Gale 1971, Gabriel 1975, Searle 1975. Vgl. Currie 1990. Vgl. Walton 1990. Vgl. Searle 1983. Sutrop 2000, 2008.

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Sprechakt durch drei Merkmale charakterisiert: die Bedingung der Aufrichtigkeit, die Ausrichtung sowie Zweck oder Absicht des Sprechaktes. Die Aufrichtigkeitsbedingung eines fiktionalen Sprechakts ist die Imagination, die Ausrichtung null, und die Absicht des Sprechaktes besteht im Ausdruck des mentalen Zustandes des Sprechers. Was die fiktionale Rede von Behauptungen unterscheidet, ist erstens der ausgedrückte intentionale Zustand (der Imagination) und zweitens die Bedeutungsintention, mit der die Äußerung gemacht wurde – die Absicht des Sprechers einen fiktionalen Sprechakt zu vollziehen, dessen Aufrichtigkeitsbedingung die Imagination ist, dessen illokutionärer Zweck es ist, einen Sachverhalt zu repräsentieren, ohne die Wahrheit dieser Repräsentation zu behaupten, und dessen Ausrichtung null ist. Leser einer fiktionalen Erzählung legen ihre eigenen Überzeugungen beiseite und nehmen eine Haltung der Imagination in Bezug auf die Aussagen der Geschichte ein. Doch sie tun dies nicht, weil sie die Kommunikationsabsicht des Autors erkannt haben, diese Reaktion hervorzurufen (wie die Kommunikationstheorien des „So-Tuns-als-ob“ behaupten), sondern weil sie die Absicht des Autors erkannt haben, seiner Imagination (und nicht seiner Überzeugung) Ausdruck zu geben und einen fiktionalen Sprechakt auszuführen. Und da sie wissen, dass gemäß den Konventionen der fiktionalen Praxis, diese Art der Rede als fiktional zu gelten hat. Der Vorteil dieser Beschreibung der Fiktion als Ausdruck der Imagination liegt darin, dass es eine Definition ist, die fiktionale Rede sowohl in negativen als auch in positiven Begriffen beschreibt. In negativen Begriffen ist fiktionale Rede eine Rede mit keinerlei Ausrichtung, geäußert mit der Absicht einen Sachverhalt oder eine Situation wiederzugeben, ohne die Disposition deren Wahrheit zu behaupten. In positiven Begriffen ist sie der Ausdruck der Imagination des Sprechers. Somit sind verbale Fiktionen Erzählungen, welche Ergebnisse einer fiktionserzeugenden Handlung des Autors sind, und auf die imaginativ zu reagieren ist. Dementsprechend spielt die Imagination eine zentrale Rolle sowohl bei der Fiktionserzeugung als auch in der Reaktion des Lesers auf die Fiktion.

3.

Was heißt „Vorstellen“?

Nach meiner Ansicht ist Vorstellen ein intentionaler Akt, dessen Ausrichtung null ist.25 Imagination zielt nicht auf die Wahrheit ab, so wie Glauben es tut. In den Begriffen von Searles Intentionalitätstheorie ist Imagination ein intentionaler Akt, der über einen intentionalen Inhalt verfügt doch dieser Inhalt bestimmt nicht die Bedingungen seiner Erfüllung, da die Ausrichtung der Imagination null ist. Die Parallele zum fiktionalen Sprechakt ist offensichtlich: sowohl fiktionaler Sprechakt als auch Imaginationsakte verfügen über einen darstellenden Inhalt, aber dieser Inhalt bedingt in beiden Fällen nicht die Erfüllungsbedingung des jeweiligen Aktes, da die Ausrichtung des Aktes selbst null ist. Diese Ähnlichkeit lässt sich dadurch erklären, dass fiktionale Sprechakte Ausdruck der Imagination des Sprechers sind. Vorstellungen können von außen kommen, d. h. aus der Perspektive der dritten Person, wenn man sich etwas als Beobachter vorstellt, und von innen, d. h. aus der Perspektive 25

Eine detaillierte Ausarbeitung meiner Analyse der Imagination findet sich in Sutrop 2000, 2002.

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der ersten Person, wenn der Handelnde sich als Teilnehmenden vorstellt. Es ist wichtig, zwischen den propositionalen und experientiellen Verwendungen des Verbs „vorstellen“ zu unterscheiden. Der Imagination aus der Perspektive der dritten Person entspricht die propositionale Form des Vorstellens. In dieser propositionalen Verwendung bezeichnet das Verb „vorstellen“ ein Denken in hypothetischer Weise, in diesem Fall wird eine Proposition p als unbestätigt in Betracht gezogen. Worin ein Inbetrachtziehen einer Proposition besteht, hat Roger Scruton erklärt.26 Aufbauend auf der Feststellung von Frege, dass das Bestätigt-sein nicht Teil der Bedeutung eines Satzes ist, und dass jeder Aussagesatz einen feststellbaren Inhalt hat, der seinen bestätigten und unbestätigten Verwendungen gemein ist, behauptet er, dass ein Inbetrachtziehen der Proposition p als unbestätigt einen mentalen Akt darstellt, entsprechend dem verborgenen Akt, die Proposition p als unbestätigt zu äußern. Inbetrachtziehungen erfolgen getrennt von Urteilen. Bei diesen Akten wird einfach nur abgewogen, wie es wäre, wenn p wahr wäre. Ein Abwägen beinhaltet ein Nachdenken über die Situation, die durch den Satz beschrieben wird, unter Beachtung einiger der Konsequenzen, die sich ergäben, wenn p der Fall wäre. Scruton weist darauf hin, dass man sich bei einer Imagination mit Spekulationen befasst, und über das hinausgeht, was strenggenommen gegeben ist. Die experientielle Verwendung bezeichnet die Darstellung von perzeptuellen oder subjektiven Erfahrungen. Christopher Peacocke erklärt dies so: „To imagine something, is always at least to imagine, from the inside, being in some conscious state.“27 In experientieller Imagination, wenn man sich vorstellt ein Gefühl, ein Verlangen oder einen anderen mentalen Zustand zu haben, dann erfolgt die Vorstellung der Erfahrungen der Figur von innen heraus, in Form der ersten Person. Diese Art von Vorstellung hilft uns dabei zu verstehen, wie es ist jemand anderes zu sein. Ich denke, dass man beim Lesen fiktionaler Narrative zwei Arten von Vorstellungen hat: einerseits stellt man sich vor, dass etwas der Fall ist (propositionale Vorstellung), andererseits gibt man die Erfahrungen einer Figur wieder (experientielle Vorstellung), deren Ansichten die Erzählperspektive ausrichten. In letzterem Fall erfolgt die Vorstellung als Teilnehmer, von innen heraus, in einer bestimmten Situation, mit den Überzeugungen, Wünschen und Gefühlen der Figur.

4.

Gregory Curries Simulationstheorie

Gregory Currie hat diese beiden Arten von Vorstellung als primäre und sekundäre Vorstellungen bezeichnet.28 Primäre Vorstellungen helfen uns dabei, zu denken, was fiktional wahr ist. Mit sekundären Vorstellungen haben wir es zu tun, wenn wir uns vorstellen, was die Figur erfährt. Curry nimmt den Begriff der Simulation zu Hilfe, um zu erklären, wie sich Leser mittels mentaler Simulation an die Stelle der Figur versetzen und dadurch erfahren, was man in einer solchen Situation erlebt. Nach Currie sind primäre Vorstellungen für das moralische Lernen nicht sehr wichtig, denn wir lernen nicht besonders 26 27 28

Vgl. Scruton 1974. Peacocke 1985, 21. Vgl. Currie 1995.

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viel daraus, wenn wir uns vorstellen, dass eine Figur sich in einem bestimmten moralischen Zustand befindet. Vom Standpunkt der Moralerkenntnis her ist es wichtiger, wenn wir uns selbst in der Situation vorstellen, die durch die fiktionale Erzählung beschrieben wird, wenn wir uns also vorstellen, dass wir die Überzeugungen, Wünsche und Werte der Figur teilen. Durch die Simulation der gedanklichen Zustände fiktionaler Figuren können wir erfahren, was es bedeutet, sich in Situationen zu befinden, wie denen, in denen die Figuren sich wiederfinden, zum Beispiel, wie es sich anfühlen würde, jemanden zu ermorden. Currie glaubt, dass dies eine Grundlage für unser Abwägen bildet, denn bevor man eine bestimmte Handlung vollzieht, ist es wichtig eine Vorstellung davon zu haben, wie man sich fühlen wird, sobald man handelt. Durch Simulation der Erfahrung fiktionaler Figuren finden wir heraus, ob wir heftige Gewissensbisse und Reue fühlen würden. Die Simulationstheorie wurde in der Philosophie des Geistes entwickelt, als Theorie darüber, wie wir andere Menschen verstehen – wir „simulieren“ ihre Perspektive und Empfindungen.29 Demnach verstehen wir andere quasi dadurch, dass wir uns an ihre Stelle setzen. Wenn wir praktische Entscheidungen abwägen, dann simulieren wir ebenfalls unsere eigenen zukünftigen Handlungen. Wir stellen uns verschiedene Handlungsstränge vor und lassen diese im Rahmen unseres eigenen kognitiven System ‚ablaufen‘, um eine Idee davon zu bekommen, wie wir uns unter verschiedenen Bedingungen verhalten und wie wir uns bei der Ausführung verschiedener Handlungsstränge fühlen würden. Somit ist Simulation ein entscheidender Bestandteil des praktischen Abwägens unserer eigenen Handlungsoptionen. Currie überträgt die Simulationstheorie auf das Lesen von Fiktion. Wenn wir lesen, stellen wir uns die Geschichte vor und simulieren dabei unsere eigenen zukünftigen Aktivitäten. Simulation ist eine Art Imagination. Currie erklärt dies wie folgt: We imagine ourselves in a certain situation which the fiction describes, imagining ourselves to have the same relevant beliefs, desires and values as the character whose situation it is. If our imagining goes well, it will tell us something about how we would respond to the situation, and what it would be like to experience it: a response and a phenomenology we can then transfer to the character. That way we learn something about the character. More importantly, from the point of view of moral knowledge, we learn something about ourselves and about the things, we regard or might regard as putative values.30 Betrachten wir einmal näher, wie Curries Simulationstheorie funktionieren würde. Wenn wir uns zum Beispiel vorstellen, uns an der Stelle von Raskolnikow in Dostojewskis Schuld und Sühne zu befinden und zu planen die alte Pfandleiherin zu ermorden, dann stellen wir uns laut Currie vor, die Überzeugungen, Wünsche und Werte Raskolnikows zu haben. Im nächsten Schritt – gemäß der Simulationstheorie – simulieren wir unsere eigenen zukünftigen Handlungen. Und an dieser Stelle scheitert die Theorie meiner Ansicht nach. Ich behaupte, dass unser praktisches Abwägen uns, falls wir nicht selbst bösartig sind, in eine vollkommen andere Richtung bringen wird. Wir werden nicht her29 30

Siehe dazu Gordon 2009. Currie 1995, 257.

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ausfinden, wie sich Raskolnikow in dieser Situation fühlt, sondern werden die Situation stattdessen von außen betrachten, aus der Perspektive der dritten Person. So werden wir wahrscheinlich den Wunsch entwickeln, Raskolnikow aus dieser Angelegenheit herauszuholen. Wir wollen, dass er aufhört, den Mord zu planen, wir schämen uns für seine Absichten oder bedauern ihn, da er sich der Konsequenzen seines geplanten Tuns nicht völlig bewusst ist. Wenn wir nun unsere vorgestellten Erfahrungen auf Raskolnikow übertragen, wie Currie es uns nahelegt, dann werden wir einfach nur Dostojewskis Roman falsch interpretieren. Aber es ist äußerst unwahrscheinlich, dass wir unseren eigenen mentalen Zustand auf die Figur übertragen. Wir werden eher die Unterschiede zwischen uns und der Figur erkennen. Durch das Lesen von Fiktion lernen wir tatsächlich etwas über uns selbst, doch dies geschieht dank unserer eigenen primären Vorstellungen – dadurch, dass wir uns vorstellen, dass es einst einen Mann namens Raskolnikow gab, der plante, eine alte Pfandleiherin zu ermorden. Wir nehmen die Propositionen, welche die Situation beschreiben, in der er sich befindet, an, und beginnen die Bedeutung des Textes zu konstruieren. Wir entwickeln emotionale Reaktionen, wenn wir über die Überzeugungen, Wünsche und Gefühle Raskolnikows nachdenken. Aber unsere moralischen Gefühle sind Gefühle zweiter Ordnung, Gefühle über die Gefühle Raskolnikows, und nicht sekundäre Vorstellungen im Sinne Curries. Somit sollten wir zwischen zwei Arten von Emotionen unterscheiden. Mit Hilfe der Simulation können wir uns tatsächlich in die Figur hineinversetzen und ihre Emotionen nachfühlen. Dies ist hochgradig relevant für die Entwicklung unserer Empathiefähigkeit und das Verständnis anderer Personen. Aber es gibt auch eine andere Art von Emotionen, die wir als Ergebnis unserer propositionalen Imagination entwickeln und dadurch, dass wir verschiedene Perspektiven der Geschichte zusammenführen. Unsere starken emotionalen Reaktionen sind oftmals dadurch verursacht, dass wir über Emotionen, Wünsche und Überzeugungen der Figuren aus der Perspektive unserer eigenen Persönlichkeit und Lebenserfahrung nachdenken. Die von Currie als primär bezeichneten Vorstellungen entsprechen in meiner Theorie den propositionalen Vorstellungen (x stellt sich vor, dass y so ist), die sekundären Vorstellungen sind in meiner Terminologie experientielle Vorstellungen (x stellt sich vor, dass er sich in Situation y befindet). Ich stimme mit Currie darin überein, dass fiktionale Texte dadurch eine Quelle moralischer Erkenntnis sein können, dass sie uns die Möglichkeit geben, uns selbst in Situationen vorzustellen, die wir im wirklichen Leben nicht erfahren könnten. Gleichzeitig irrt Currie meiner Meinung nach in zwei wichtigen Dingen. Erstens besteht kein Grund zu der Annahme, dass sich die mentalen Akte des Lesers nur auf die Nachahmung der mentalen Akte der Figur beschränken. Der Leser stellt sich nicht nur vor, was die Figur in einer Situation fühlt, sondern stellt sich vor, was er selbst in dieser Situation täte oder empfände. Wir simulieren nicht nur die Übernahme von Überzeugungen, Wünschen und Emotionen der Figur, sondern reflektieren auch über ihre Taten und ihren Charakter. Dass wir darüber nachdenken, was wir in der Haut der Figur täten, führt nicht dazu, dass wir unsere Erfahrungen auf die Figur übertragen, sondern wir vergleichen unsere vorstellenden mentalen Akte mit denen der Figur (in dem Ausmaß wie der Text uns über diese informiert). Dies führt aber dazu, dass wir uns unserer verborgenen Wünsche bewusst werden oder Wünsche zweiter Ord-

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nung bezüglich unserer Wünsche entwickeln (indem wir unsere Wünsche ändern oder korrigieren), wie Wayne Booth sagt.31 Zweitens unterschätzt Currie den Anteil primärer (in meiner Terminologie propositionaler) Vorstellungen in der moralischen Erkenntnis. In der Realität setzt das Vorstellen des im fiktionalen Text Beschriebenen einen ganzen Prozess des Nachdenkens (einschließlich moralischen Nachdenkens) in Gang, der unmittelbar zum moralischen Erkenntnisgewinn beitragen kann.

5.

Die moralischen Funktionen von Fiktion

Ich versuche im Folgenden zu zeigen, wie fiktionale Texte auf dreierlei Weise zu einer Quelle moralischer Erkenntnis werden können, in Abhängigkeit von verschiedenen Arten des Vorstellens. Erstens fördert die Literatur unser moralisches Vorstellungsvermögen, Empathie und Verständnis. Fiktionale Texte geben uns die Möglichkeit, uns in die Situation anderer Menschen hineinzuversetzen und deren Erfahrungen wie unsere eigenen anzunehmen. Auf diese Weise können wir Dinge erleben, die wir ansonsten nie fühlen könnten, weil wir zum Beispiel nicht zu einer solchen Zeit gelebt haben, wir uns in einem anderen sozialen oder gesundheitlichen Zustand befinden, anderen Geschlechts oder anderer Nationalität sind. Da fiktionale Texte uns lehren, die Welt aus der Perspektive einer anderen Person zu sehen, helfen sie dem Leser andere Menschen und auch sich selbst besser zu verstehen. Sekundäre (experientielle) Vorstellungen trainieren Empathie und Verständnis des Lesers und sind somit in moralischer Hinsicht sehr wichtig. Doch was bedeutet es, sich etwas aus der Perspektive der ersten Person vorzustellen, zum Beispiel aus der Perspektive der Anna Karenina? Es scheint mindestens drei verschiedene Interpretationen dieses Vorstellungsakts zu geben. 1) Ich identifiziere mich mit Anna Karenina, 2) ich stelle mir mich selbst als Anna Karenina vor, oder 3) ich stelle mir vor Anna Karenina zu sein. In meinem Buch Fiction and Imagination. The Anthropological Function of Literature bin ich dafür eingetreten, dass beim Lesen von Fiktion ich mich aller Wahrscheinlichkeit nach für die dritte Option entscheide – ich stelle mir vor Anna Karenina zu sein.32 Was ich tue, ist, mir vorzustellen eine andere Person zu sein, mit deren Charakter, Erfahrungen und Ansichten. Sich vorzustellen jemand anderes zu sein, bedeutet ein anderes Wesen zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Geschichte darzustellen. Um sich vorzustellen eine andere Person zu sein, muss man keine andere mögliche Welt erschaffen. Alles, was wir tun müssen, ist, die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Man muss das ausführen, was Zeno Vendler als subjektive Imagination bezeichnet hat, sich vorstellen, dass man Erfahrungen, Gefühle, Überzeugungen, Wünsche, Erinnerungen und Erwartungen einer anderen Person hat. Vendler sagt: „So I can imagine being a king, a beggar, a cripple, a child, or a cat; or try to do so, at least, without absurdity. Also, in reading history or fiction, we find ourselves imagining being Caesar, Napoleon, Hamlet, or even being Napoleon at the battle of Waterloo.“33 31 32 33

Booth 1988. Sutrop 2000, 210ff. Vendler 1984, 53.

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Das Rohmaterial für die Konstruktion von Vorstellungen besteht – so würde ich im Anschluss an Vendler sagen, ohne hier im Einzelnen dafür zu argumentieren – in vorgestellten Erfahrungen, epistemischen Zuständen und propositionalen Einstellungen. Um eine bestimmte Erfahrung vorzustellen, müssen wir Wissen über diese Erfahrung haben. Es ist jedoch nicht notwendig, etwas erlebt zu haben, um es sich vorzustellen, da es viele Eigenschaften gibt, die Darstellungen ausfüllen können, selbst wenn Details fehlen. Es ist eine Tatsache, dass sich sechzehnjährige Mädchen lebhaft vorstellen können verliebt zu sein, ohne es jemals gewesen zu sein. Alle Leser von Anna Karenina können sich vorstellen, an ihrer Stelle zu stehen, ungeachtet ihres Geschlechts, Alters und vorheriger Erfahrungen, da fiktionale Erzählungen uns den Zugang zu den Gedanken der Figuren ermöglichen. Beispielsweise erzählt uns in Tolstois Roman der allwissende Erzähler nicht nur, was die Figuren tun und sagen, sondern ebenso, was sie denken. Mir scheint, dass die literarische Fiktion uns auf besondere geeignete Weise ermöglicht, uns vorzustellen eine andere Person zu sein, da sie unsere Imagination mit reichlich Material über die Gedankenwelt anderer versorgt. Sie informiert uns nicht nur darüber, was die Figuren tun und sagen, sondern auch über ihre Wünsche, Überzeugungen, Erinnerungen, Vorstellungen, Verlangen und Absichten. In der wirklichen Welt haben wir keinen Zugang zu den Gedanken anderer. Wir erfahren etwas über das mentale Leben anderer nur über deren eigene Erzählungen. In fiktionalen Werken gibt es einige unterschiedliche Strategien, über die mentalen Zustände der Figuren zu berichten. Dies ist der Grund, warum wir fiktionale Personen besser verstehen als wirkliche Menschen. Es ist einfacher sich in seiner Vorstellung an die Stelle einer anderen Person zu versetzen als an die Stelle eines wirklichen Menschen, denn wir wissen über fiktionale Personen wesentlich mehr als über wirkliche Menschen. Diese Tatsache ist von Umberto Eco wundervoll erläutert worden. In Im Wald der Fiktionen (1994) erwähnt Eco, dass er in einem alten Artikel geschrieben hatte, dass man Julius Sorel, den Protagonisten von Stendhals Roman Rot und Schwarz, besser kenne als den eigenen Vater: Denn ‚unser Vater hat ungekannte Aspekte, viele verschwiegene Gedanken, es gibt bei ihm unbegründete Handlungen, unausgesprochene Gefühle, bewahrte Geheimnisse, die verdeckten Zonen seiner Kindheit‘, während wir von einer Romanfigur wie Julien Sorel ‚alles wissen, was man wissen muss‘. Als ich das schrieb, war mein Vater noch am Leben. Später begriff ich, wieviel mehr ich noch von ihm hätte wissen wollen, und konnte nur noch karge Schlussfolgerungen aus verblassenden Erinnerungen ziehen. Über Julien Sorel dagegen wird mir alles gesagt, was ich wissen muss, um seine Geschichte und seine Generation zu verstehen, und jedesmal wenn ich Stendhal wiederlese, lerne ich über Julien noch etwas hinzu.34 Fiktionale Texte verschaffen uns aber nicht nur Zugang zur Gedankenwelt anderer. Es ist genauso wichtig, dass wir etwas über unsere eigene Gedankenwelt lernen. An dieser Stelle ist es sinnvoll, sich daran zu erinnern, was Wolfgang Iser über die ständige Interaktion zwischen dem gegenwärtigen Text und unserer vergangenen Erfahrung bei jedem Akt des Lesens gesagt hat. Iser zeigte, dass durch die Erfahrung des Textes etwas 34

Eco 1994, 115.

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mit unserem eigenen Erfahrungsschatz geschieht: Die neue Erfahrung entsteht aus der Umstrukturierung der gespeicherten Erfahrung mit Hilfe der Erfahrung des Textes. Iser betonte, dass man das Verhältnis des Lesers zur Welt des Textes nicht als „Identifikation“ verstehen sollte. Seiner Meinung nach ist es falsch, zu sagen, dass sich der Leser selbst mit dem Text identifiziert, da man durch den Akt des Lesens nicht nur fremde Gedanken annimmt, sondern versucht eine Gestalt aus verschiedenen textuellen Perspektiven zu formen. Durch die Formulierung dieser Ganzheit formuliert sich der Leser auch selbst und entdeckt somit etwas über sich selbst, dessen er sich bis dahin nicht bewusst war. Literatur wird so ethisch relevant und das Lesen dadurch ein moralischer Akt.

6.

Die emotiv-kognitive Funktion literarischer Werke

Eine fiktionale Erzählung bringt uns nicht nur dazu, über das Leben nachzudenken, sondern auch emotional auf das Gelesene zu reagieren. Susan Feagin hat gesagt, dass „[t]o appreciate a work is, in part, to get the value out of it, and getting the value out of it involves being affectively or emotionally moved. It is to experience the work in certain ways; it involves ‚reading with feeling‘“.35 Der Wert der Fiktion wurde manchmal in der Möglichkeit gesehen, unterschiedliche Emotionen zu erleben, ohne dass wir uns selbst unbedingt in den Situationen befinden müssten, die heftige emotionale Reaktionen hervorrufen. Es ist behauptet worden, dass Literatur, als eine Vorstellungsübung, uns dabei hilft, unsere eigenen Emotionen zu verstehen und zu bewerten, was entscheidend für die Herausbildung unseres moralischen Charakters ist. In der Literatur können wir etwas über Emotionen lernen und unsere eigenen Gefühle verstehen.36 De Sousa behauptete, dass „at least one component of the need for art is the desire to experience the emotions called forth by death, by sexual thrall, by revenge, or by painful or ridiculous alienation, by evoking the relevant paradigm scenarios without needing to live through the actual events and their natural causes“.37 Man kann fragen, wie es sein kann, dass das Lesen über dunkle Dinge, die unangenehme Assoziationen und schmerzliche Erinnerungen hervorrufen, trotzdem Vergnügen bereiten kann? Manche mögen anführen, dass dies zeigt, dass wir im Missgeschick anderer Befriedigung finden können. Oder dass wir nicht um einer Befriedigung willen lesen, sondern um aufgeklärt zu werden. Doch diese Erklärungen scheinen mir nicht sehr einleuchtend. Ein plausiblerer Weg, das Problem des tragischen Vergnügens zu betrachten, findet sich, wenn man die Tradition von Aristoteles bis Hans-Georg Gadamer folgt. Gadamer stellt die Frage nach der Wirkung des tragischen Schauspiels auf die Zuschauer in den Vordergrund. Er behauptet, das Tragische sei ein „ethisch-metaphysisches Phänomen“.38 Dieter Teichert hat dieses Phänomen des tragischen Vergnügens im Anschluss an Gadamer so erklärt: 35 36 37 38

Feagin 1996, 1. Dazzani/Filho 2010, 217. de Sousa 1990, 320–321. Gadamer 1986 (zuerst 1960), 133f.

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Die spezifische Art der emotionalen Partizipation am Geschehen ist es, auf der die besondere Erkenntnisform der Tragödie beruht. [...] Die Zuschauer können im Lauf der Aufführung sowohl rational als auch emotional an dem partizipieren, was den tragischen Figuren widerfährt. Im Gegensatz zu den an einem realen Konflikt beteiligten Personen sind die Zuschauer nicht in gleicher Weise in der Situation gefangen wie die handelnden Personen selbst. Sie haben die Möglichkeit, sich aus der Vertiefung in das partikulare Geschick der Helden zu lösen und zu erkennen, dass das tragische Individuum exemplarisch aufzufassen ist. [...] Der entscheidende Punkt der Wirkungsweise des tragischen Dramas besteht in der Mischung von affektiver Partizipation und reflektierender Distanzierung.39 Bei fiktionalen Erzählungen hat man sich seit Colin Radfords Aufsatz How Can We Be Moved by the Fate of Anna Karenina?40 darüber gewundert, wie wir in der Lage sind, mit Menschen mitzufühlen, von denen wir wissen, dass sie nicht existieren. Vor kurzem brachte Catherine Wilson eine gute Erklärung dafür: On a more complex level, the reader is saddened by the death of Anna Karenina only to the extent that he has been able to follow the story and to understand what it is like to be and to have to live among the various characters. The reader sitting in the window seat quietly absorbed in a novel is not a person pretending to inhabit the world of nineteenth-century Russia, but the seemingly passive reader is actively using his or her mind to understand the significance of events and to anticipate the actions and reactions of people.41 Wie hängt das mit dem ethischen Wert literarischer Werke zusammen? Wenn wir glauben, dass moralische Bewertungen mit Emotionen verbunden sind, dann gibt es eine deutliche Verbindung. Ernst Tugendhat hat aufgezeigt, dass Emotionen auf Bewertungen beruhen. Dem Fühlen insbesondere moralischer Emotionen wie Hass, Scham, Schuldgefühl oder Entrüstung geht eine moralische Bewertung voraus: Für alle Affekte überhaupt gilt, was schon Aristoteles in einer für die ganze Tradition maßgebenden Klarheit gezeigt hat (Rhetorik, 2. Buch), dass sie sich ihrem eigenen Sinn nach auf ein Urteil aufbauen, und zwar ein Werturteil. [...] Die moralischen Gefühle sind [...] dadurch definiert, dass sie Unlustgefühle sind, die sich auf das Urteil über einen moralischen Unwert aufbauen: wir empfinden Empörung, wenn wir negativ gefühlsmäßig auf die nach unserem Urteil schlechte Handlung eines anderen reagieren; Groll, wenn eine als schlecht beurteilte Handlung mich selbst schädigt; und Schuld oder auch eine bestimmte Form von Scham angesichts einer nach meinem Urteil schlechten Handlung von mir selbst.42

39 40 41 42

Teichert 1996, 211–212. Radford 1975. Wilson 2013, 84. Tugendhat 1993, 20.

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Beim Lesen fiktionaler Texte können wir Hass, Empörung und auch Scham empfinden. Emotionen geben uns einen Einblick in unsere Wertvorstellungen. Offensichtlich zeigt unsere emotionale Reaktion, aus wessen Perspektive wir die Dinge sehen, ob wir die Situation aus der Perspektive der ersten Person oder der dritten Person betrachten. Wenn wir Hass, Scham oder Bedauern empfinden, dann haben wir uns offensichtlich in das Leben der Figur vollkommen hineinversetzt und teilen deren Emotionen. Empörung oder Mitleid sind aber eher Emotionen des Zuschauers. Starke emotionale Reaktionen haben eine moralische Bedeutung. Sie erzeugen in uns den Wunsch die Welt zu verändern und selbst besser zu werden. Lange Zeit dachte man, dass Emotionen und rationales Entscheiden einander ausschließen. Die gegenwärtigen Behandlungen in Philosophie und den Kognitionswissenschaften aber zeigen, dass Emotionen ein wichtiger Faktor im rationalen Entscheidungsprozess sind. Martha Nussbaum hat gezeigt, dass man in der auf Platon zurückgehenden Tradition glaubte, dass Emotionen und Vorstellungskraft Entscheidungen korrumpieren, denn sie machen sie irrational und eigennützig. Gänzlich anderer Meinung war Aristoteles, für den Vorstellungskraft (phantasia) und Emotionen das ethische Räsonieren unterstützen. Die Imagination kann Einzelheiten erfassen, und Einzelheiten sind entscheidend für die Bewertung. Aristoteles folgend schreibt Nussbaum: „Intellect without emotions is, we might say, value-blind; it lacks the sense of meaning and worth of a person’s death (or life) that the judgements internal to emotions would have supplied.“43 Sie hat deutlich gemacht, dass Emotionen nicht einfach außer Kontrolle geratene Gefühle sind, sondern uns in einem Prozess leiten und führen, in dem wir ernste Entscheidungen treffen müssen. Emotionen führen uns nicht blind, sondern sie beinhalten eine Bewertung oder Wertvorstellungen, die Menschen und Dingen Bedeutung zuweisen. Sie sind wichtig im Prozess des Nachdenkens, wenn wir auf ethische Fragen eine Antwort finden müssen – was es bedeutet, ein gutes Leben zu leben – und daher sind sie zentrale Elemente in ethischen Erwägungen. Somit geben Emotionen uns eine ethische Orientierung. Indem wir Imagination und Emotion in unsere Wahrnehmung einer Situation miteinbringen, können wir sie reichhaltiger sehen. Nussbaum glaubt, dass wir durch unsere affektiven Reaktionen auf Dinge, die passieren, ein besseres Verständnis der moralischen Realität erhalten, indem wir die Vielfältigkeit und Unerschöpflichkeit wertvoller Dinge erkennen. Je nuancierter, empfindsamer und wohlüberlegt unsere moralischen Bewertungen sind, desto angemessener werden unsere Kenntnisse sein.

7.

Fiktionale Texte fördern die Reflexion über unsere Lebensweise

Wir haben erfahren, dass Imagination eine entscheidende Rolle bei ethischen Abwägungen spielt. Auch John Dewey44 hat aufgezeigt, dass literarische Texte eine gute Möglichkeit bieten, unser moralisches Vorstellungsvermögen zu entwickeln, das wir beim 43 44

Nussbaum 1995, 68. Dewey 1983 (zuerst 1922), 1987 (zuerst 1934).

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Fällen moralischer Entscheidungen benötigen. Martha Nussbaums größtes Verdienst besteht darin, dass sie in ihren Arbeiten zum Verhältnis von Literatur und Moral45 so überzeugend gezeigt hat, wie Literatur unser praktisches Denken schult, unsere Fähigkeit alle Details einer komplexen Situation zu erfassen und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs zu entscheiden. Ethisches Entscheiden bedeutet nicht nur die Anwendung eines Prinzips, sondern eine konkrete situationsbedingte Bewertung. Sehr gut ist diese partikuläre Herangehensweise auch von Stan van Hooft begründet worden: [...] you cannot just deduce what you should do from a general principle. You have to take the particularities of the situation into account. You have to take the needs and the background of each affected individual into account. It follows that a general principle or norm is only a general guide or a rule of thumb. It will not dictate to you what you should do in any detail. You have to form your own judgement and this judgement will go beyond what the principle alone says to you. Accordingly, the decision you make will not be entirely dictated by the norm: it will also be expressive of your judgement, your experience, your character and your virtue.46 Anstatt einfach nur die „richtige“ Handlung zu wählen, verlangt ethisches Verhalten ein ständiges Hinterfragen und eine Reflexion über unsere Entscheidungen und deren Konsequenzen ebenso wie über die Werte, die diesen Entscheidungen zugrunde liegen und durch sie verändert werden. Zum Fällen einer moralischen Entscheidung ist es nötig, die Situation richtig wahrzunehmen und dabei alle wichtigen Fakten miteinzubeziehen, ethische Fragen und Seiten zu identifizieren, sich Werte, Normen und Prinzipien vor Augen zu führen, von denen man ausgeht, alternative Handlungsmöglichkeiten zu bestimmen und diese Handlungsmöglichkeiten im Licht der Werte, Normen und Prinzipien zu bewerten, unter Bedenken der Konsequenzen jeder Entscheidung. Erst nach allen diesen Schritten können wir eine Entscheidung für die beste Handlungsmöglichkeit treffen.47 Der Ort, an dem sich die Literatur in dieser ganzen Kette als besonders wertvoll erweist, ist in der Wahrnehmung der Situation. Literatur lehrt uns den Kontext zu erkennen, die Situation in einen Rahmen zu bringen. Wie Mark Johnson es treffend formuliert hat: Wie wir eine gegebene Situation in einen Rahmen bringen, bestimmt, wie wir darüber nachdenken, und wie wir sie in einen Rahmen bringen, ist abhängig von der Imagination.48 Obwohl Johnson die Unterscheidung zwischen propositionaler und experientieller Vorstellung nicht verwendet, ist anzunehmen, dass auch für ihn beide wichtig sind. Wir müssen in der Lage sein, in Gedanken eine hypothetische Situation zu erschaffen und zugleich uns vorstellen können, dass wir über andere Erfahrungen als die eigenen verfügen. Literatur hilft uns, aus der Begrenztheit der tatsächlichen Erfahrungen auszubrechen, indem sie zeigt, dass es viele andere Möglichkeiten gibt, wie man leben kann.49 Nuss45 46 47 48 49

Nussbaum 1990, 1995, 2001 van Hooft 2006, 21–22. Young/Annisette 2009, 95–96. Johnson 1993, 2. Dewey 1983, Johnson 1993, Werhane 1999.

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baum weist darauf hin, dass wir durch das Lesen uns dessen bewusst werden, was wir nicht kennen – die Grenzen unserer Erfahrung und unseres Wissens.50 Wir werden mit unserer Unwissenheit über die vielen Aspekte des Lebens konfrontiert, die außerhalb unserer eigenen gelebten Erfahrung liegen. Unsere gelebte Erfahrung schließt unsere Rasse, Klasse, Geschlecht und viele andere Zugehörigkeiten mit ein, über die wir keine oder nur wenig Macht haben. Literatur gibt uns eine Ahnung davon, wie diese Umstände die Möglichkeiten beeinflussen, die wir im Leben haben, indem sie Möglichkeiten einschränken oder erweitern. Literatur hilft uns dabei, zu denken, was hinter diesen Entscheidungen steht, die wir im Leben treffen müssen. Sie hilft auch dabei, sich besser vorstellen zu können, wie sich andere Menschen fühlen, die von unseren Entscheidungen betroffen sind. Literatur macht unsere Erfahrung vollkommen. Beim Lesen literarischer Werke erleben wir nicht nur mit den Figuren mit und fühlen empathisch deren Gefühle, sondern wir denken über die Bedeutung des Geschehenen nach. Gleichzeitig denken wir über den Charakter der Figuren nach und darüber, ob sie sich in der gegebenen Situation richtig verhalten haben. Carroll hat behauptet, dass dies vom Standpunkt der moralischen Erkenntnis her sehr wichtig ist, da es voraussetzt, dass wir wissen, welche Handlung als mutig, feige oder gleichgültig anzusehen ist.51 So trägt die Literatur zur Entwicklung unseres begrifflichen Wissens bei. Indem wir Bewertungen zum Verhalten der Figuren abgeben, denken wir darüber nach, was wir an ihrer Stelle getan hätten. Indem wir in Gedanken vergleichen, wie sich die Figuren in den literarischen Werken verhalten und wie wir selbst uns wahrscheinlich in der gegebenen Situation verhalten hätten, beginnen wir über unsere eigenen Handlungen und unseren moralischen Charakter nachzudenken. Sind wir vom Gelesenen tief bewegt, möchten wir die Welt verändern und selbst moralisch besser werden. Somit hat die Fiktion auch auf die Entwicklung unseres (moralischen) Charakters großen Einfluss. Literatur bringt uns dazu, darüber nachzudenken, was für Menschen wir sein möchten. Indem wir über fiktionale Figuren und Ereignisse reflektieren, beginnen wir intensiver über moralische Entscheidungen und die ihnen zugrundeliegenden Werte nachzudenken. Wir verstehen unsere eigene Verbindung zu anderen Menschen besser. Wir verstehen, dass wir keine einzelnen Atome sind, sondern dass wir eine Vielzahl von verschiedenen Beziehungen und Verpflichtungen haben. Wir stehen sich widersprechenden Pflichten gegenüber, die sich nicht vereinen lassen. Wir müssen ein Gleichgewicht zwischen ihnen finden, und dies stellt uns vor sehr große Entscheidungen. Martha Nussbaum hat aufgezeigt, dass die Literatur uns hilft zu verstehen, wie verbreitet diese Konflikte und widersprüchlichen Pflichten sind, und dass alle Menschen vor derartigen schweren, sogar tragischen Entscheidungen stehen.52 Die Literatur zeigt uns auch, wie andere diese Entscheidungen getroffen haben. Die Literatur erinnert uns daran, dass wir nicht alles können und entscheiden müssen, was in unserem Leben am wichtigsten ist. Beim Lesen werden wir überlegen, ob unsere alten Werte uns immer noch dienen. Die Literatur hilft uns dabei, Klarheit in unseren moralischen Idealen zu finden und unsere Vorstellung

50 51 52

Vgl. Nussbaum 1995. Carroll 2002, 15. Vgl. Nussbaum 1990.

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von einem guten Leben zu entwickeln, wobei sie uns auf diesem Weg eine moralische Orientierung bietet. Fiktionale Literatur kann auf sehr vielfältige Weise moralisches Wissen fördern: erstens, indem sie uns die Möglichkeit verschafft, uns in die Situation der Figuren hineinzuversetzen, deren Erfahrungen zu empfinden und dadurch unsere Empathiefähigkeit und unser Verständnis zu entwickeln; zweitens, indem sie eine emotiv-kognitive Funktion erfüllt und beim Fällen moralischer Entscheidungen hilft, uns lehrt unter Berücksichtigung des konkreten Kontextes Prinzipien anzuwenden und drittens, unseren Charakter schult, unsere moralischen Werte und Ideale formt und uns eine moralische Orientierung verschafft. Bei allen moralischen Funktionen dieser fiktionalen Texte spielt das Vorstellungsvermögen eine große Rolle. Wir haben gesehen, dass das Vorstellen sich bei Weitem nicht nur auf die experientielle Imagination beschränkt, die zwar sehr wichtig für die Entwicklung von Empathiefähigkeit und Verständnis ist, jedoch nicht die einzige moralisch relevante Art der Vorstellung ist. Auch die propositionale Vorstellung, die die Grundlage für Reflexion und Nachdenken bildet, ist sehr wichtig, da sie unsere Fähigkeit stärkt, ethische Entscheidungen zu treffen und ein gutes Leben zu leben. Übersetzung aus dem Estnischen von Axel Jagau Literaturverzeichnis

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Kunst als kognitive Expression

1.

Einleitung

Wie im Titel angekündigt, werde ich in diesem Aufsatz die expressive oder Ausdrucksfunktion der Kunst diskutieren. Dies wirft unmittelbar die Frage auf, was durch Kunstwerke ausgedrückt wird. Im Einklang mit einer weit verbreiteten Auffassung werde ich hier vorschlagen, dass Kunstwerke Gefühle ausdrücken, und zwar die Gefühle des Künstlers.1 Das mag deshalb überraschen, weil im Titel Kunstwerke ja als kognitive Expressionen ausgewiesen werden: Wie aber sollen Kunstwerke kognitiv sein, d. h. die Welt repräsentieren können, wenn sie die Gefühle des Künstlers ausdrücken? Mein Versuch, diese Frage zu beantworten, ist (zumindest vorläufig) nicht als Vorschlag für eine Definition von Kunst zu verstehen, geschweige denn als Vorschlag für eine Definition von guter Kunst. Hier geht es (zunächst) lediglich darum, die expressive Funktion zu erklären, die zumindest einige Kunstwerke offensichtlich haben. Unterscheiden wir zunächst zwischen dem intentionalen Ausdruck von Gefühlen und dem emotionalen Ausdruckswert. Nach der hier vorzuschlagenden Theorie sind zumindest einige Kunstwerke intentionale Ausdrucksformen, unabhängig davon, welchen Ausdruckswert sie formal haben mögen. Zu differenzieren ist fernerhin zwischen dem Ausdruck von Gefühlen und ihrer Beschreibung. Zu sagen, dass Kunstwerke die Gefühle des Künstlers ausdrücken bedeutet nicht, dass sie diese Gefühle zum Gegenstand haben, dass sie also mentale Zustände beschreiben. Doch selbst, wenn man diese Unterscheidung berücksichtigt, mag man immer noch geneigt sein, Franz von Kutscheras Kritik zuzustimmen. In seiner Ästhetik stellt von Kutschera heraus, dass etwa in Goyas Erschießungen des 3. Mai zwar die emotionale Anteilnahme des Malers am Geschehen deutlich werde, dass man aber dennoch nicht sagen könne, das Bild „drücke Goyas Entsetzen aus“; vielmehr lasse Goya den Betrachter den Vorgang 1

Diese These wird z. B. von Leo Tolstoi, Robin George Collingwood und Benedetto Croce vertreten, vgl. Tolstoi 1898, Collingwood 1938, Croce 1902.

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in seiner, Goyas, Interpretation erleben.2 Demnach geht es in Kunstwerken bestenfalls partiell um den Ausdruck der Gefühle des Künstlers. In erster Linie handle Kunst von der Welt. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist das ein falscher Gegensatz. Es lässt sich nämlich zeigen, dass die Erschießungen des 3. Mai, gerade indem sie Goyas Entsetzen ausdrücken, den Betrachter das Geschehen aus Goyas Sicht erleben lassen. Diese Möglichkeit setzt allerdings eine bestimmte Analyse von Gefühlen voraus, nach der diese weder reine feelings, d. h. das Bewusstsein körperlicher Vorgänge sind (James-Lange-Theorie), noch auch Emotionen im Sinne des Standardkognitivismus (Urteils- oder Wahrnehmungstheorie).3 Obwohl ich selbst an anderem Orte für eine Wahrnehmungstheorie eingetreten bin, werde ich hier eine adverbiale Theorie der Emotionen vorstellen. Bislang liegt lediglich der Anstoß dazu vor, diese Theorieoption zu berücksichtigen:4 Ihre abschließende Bewertung ist Forschungsdesiderat. Ich selbst werde hier die Emotionstheorie Robert Musils zugrundelegen, da dieser erstens einen in sich geschlossenen adverbialen Ansatz vorlegt und zweitens diesen Ansatz auch unmittelbar für die Kunsttheorie und Ästhetik fruchtbar macht.5 Offenkundige Affinitäten bestehen auch zu Peter Goldies Emotionstheorie, der Musils Konzeption in seinem Buch The Emotions zu weiten Teilen übernimmt.6 Jedoch ist Musil der einzige, der Emotionen als Gestaltqualitäten einer spezifischen Art versteht, d. h. als dynamische Phänomene höherer Ordnung, die zeitlich ausgedehnt und nach bestimmten Gestaltprinzipien strukturiert sind. Bei Goldie findet sich stattdessen die Konzeption einer Emotion als Narration. Auch wenn ich im Folgenden mit Musils Emotionstheorie operiere, lege ich mich auf die Wahrheit dieser Theorie hier nicht fest, ja noch nicht einmal auf die Wahrheit der adverbialen Emotionstheorie überhaupt. Insofern ist dieser Aufsatz gleichsam ein Experiment und seine Kernthese ist eine konditionale: Wenn die hier vorgestellte adverbiale Emotionstheorie wahr ist, dann lässt sich die Ausdrucksfunktion, die einige Kunstwerke offensichtlich haben, in der skizzierten Weise verstehen. Insofern Emotionen nach Musil als Komponenten erster Ordnung intentionale mentale Zustände wie Gedanken oder Wahrnehmungen integrieren, weicht Musils Ansatz von der James-Lange-Theorie dadurch wesentlich ab, dass seine Gefühle weltgerichtete Emotionen sind und die Welt als in bestimmter Weise seiend repräsentieren. Musils Emotionen sind damit kognitiv, d. h. haben (über ihre Komponenten erster Ordnung) einen repräsentationalen Inhalt. Anders als im Standardkognitivismus enthält dieser Inhalt 2 3

4 5

6

Vgl. von Kutschera 1989, 191. Zur Urteilstheorie der Emotionen vgl. Solomon 1977 und Nussbaum 2001. Wahrnehmungstheoretiker sind demgegenüber Tappolet 2000, Roberts 2003 und Döring 2003, 214–230, dies. 2007, 363–394. Vgl. Berninger 2010 (unveröffentlichtes Vortragsmanuskript). Vgl. Döring (im Erscheinen); Musil entwickelt seine Theorie in der so genannten „Gefühlspsychologie“, wie sie im Mann ohne Eigenschaften enthalten ist und die Kapitel 50, 52, 54, 55, 57 und 58 der Korrekturfahnen von 1938 umfasst. Nun sind diese Kapitel Teil eines Romans und werden vom Protagonisten Ulrich verfasst, so dass ihr Inhalt selbstverständlich nicht einfach Musil selbst zugeschrieben werden darf. Andernorts habe ich aber ausführlich begründet, warum die dargelegte Theorie auch Musils eigener entspricht. Vgl. Döring 1999, Kap. 1. Goldie 2000, insb. Kap. 6.

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aber nicht die mit einer Emotion jeweils assoziierte evaluative Eigenschaft: sich vor etwas zu fürchten heißt nicht, diesem Etwas die Eigenschaft zuzuschreiben, furchterregend zu sein. Denn nach Musil werden evaluative Eigenschaften wie das Furchterregende oder auch das Entsetzliche oder Grauenvolle nicht durch die Objekte der jeweiligen Emotionen instantiiert; vielmehr ist es die gestalthafte Organisation der Komponenten erster Ordnung einer Emotion, die diese Eigenschaften instantiiert. Hier besteht eine Analogie zur adverbialen Theorie der Wahrnehmung.7 Analog zu Sinnesqualitäten in der adverbialen Theorie der Wahrnehmung, fungieren evaluative Qualitäten in Musils adverbialer Theorie der Emotionen als Adverbien: Furcht zu empfinden, bedeutet, die Welt fürchterlich anzusehen; Ärger zu empfinden, heißt die Welt ärgerlich anzusehen, und Freude dementsprechend, die Welt erfreulich anzusehen. Die Adverbien charakterisieren dabei die Gestalt sowie die damit zugleich gegebene distinkte Phänomenologie der Weltsicht des Subjekts im emotionalen Zustand. Kunstwerke nun, so die These, die ich hier erörtern werde, drücken mit dem Gefühl und genauer der Emotion des Künstlers das der Emotion entsprechende Welterleben aus. Dieses erschöpft sich nicht in der distinkten Phänomenologie der Emotion, vielmehr ist diese Phänomenologie überhaupt erst mit der Gestaltung der Welt durch die Emotion gegeben. Das Kunstwerk muss also primär ausdrücken, wie sich die Welt unter dem Einfluss der Emotion gestaltet. In eben diesem Sinne ist das Kunstwerk als Gefühlsausdruck kognitiv.

2.

Vom expressiven Handeln zum Emotionsausdruck in der Kunst

In diesem ersten Anschnitt möchte ich zunächst zeigen, dass Gefühlsausdruck in der Kunst ein Spezialfall expressiven Handelns ist. Diese These legt den Einwand nahe, dass damit Gefühlsausdruck in der Kunst nicht mehr von anderen Formen emotionalen Ausdrucks unterschieden werden könne. Und welche Rolle spielt dann noch das Kunstwerk? Wenn auch andere Handlungen Gefühle ausdrücken können, scheinen Kunstwerke ersetzbar zu sein. Aber warum schätzen wir sie dann? Um diese Frage beantworten zu können, muss man sich vor Augen führen, dass nach Auffassung der hier vorzustellenden Emotionstheorie eine Emotion nicht vollständig ist, bevor sie ausgedrückt wird. Demnach „kopiert“ der Künstler, wenn er ein Kunstwerk schafft, nicht von einer zuvor bereits unabhängig existierenden Emotion, sondern „klärt“ seine Emotion, die er gar nicht kennt, bevor sie ausgedrückt ist. Nach meiner Hypothese schätzen wir den Gefühlsausdruck in der Kunst eben deshalb, weil er diese Art von (Selbst-)Erkenntnis erlaubt und selbst für solche Emotionen erlaubt, die komplex und sehr schwierig auszudrücken sind. Im Einklang damit will ich hier auch nicht leugnen, dass sich Gefühlsausdruck in der Kunst von anderen Arten expressiven Handeln immer noch unterscheiden läßt. Insbesondere ist Gefühlsausdruck in der Kunst ein systematischer Versuch, Erkenntnis der beschriebenen Art zu erlangen: Der Künstler versucht systematisch, den exakt richtigen Ausdruck seiner Gefühle durch das Schaffen von Kunstwerken zu finden. Ein weiterer 7

Vertreten u. a. von Ducasse 1942, 223–52 und Chisholm, 1957.

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Unterschied ist, dass dazu die Emotion nicht mehr notwendigerweise präsent sein muss, während expressive Handlungen im engeren Sinne ebendies erfordern. Gleichwohl meine ich, dass Kunstwerke ein Spezialfall expressiver Handlungen sind und dass sich die Entstehung von Kunst im Ausgang von expressiven Handlungen im engeren Sinne analysieren läßt. Was nun sind expressive Handlungen? In der Handlungstheorie sind Handlungen dieses Typs dergestalt definiert, dass sie nicht als Mittel zu einem von der Handlung selbst verschiedenen Zweck vollzogen werden. Aus Sehnsucht das Bild einer in der Ferne weilenden geliebten Person zu küssen, aus Wut über die letzte Steuererklärung gegen das Tischbein zu treten oder hasserfüllt die Augen auf dem Foto einer Rivalin auszukratzen – all dies sind typische Beispiele expressiver Handlungen. Expressive Handlungen stellen damit das Standardmodell der Handlungserklärung, das Belief -Desire-Modell, in Frage, das Handlungen grundsätzlich als Mittel zu dem Zweck erklärt, gegebene „Wünsche“ des Akteurs zu erfüllen.8 Die damit gegebene Erklärung ist eine rationale Erklärung oder, wie Donald Davidson sagt, eine „Rationalisierung“ der Handlung: wir erfahren, was aus der Perspektive des Akteurs für die Handlung sprach. Expressive Handlungen nun scheinen sich nicht in der geforderten Weise rationalisieren zu lassen. Dementsprechend ersinnen Vertreter des Standardmodells Strategien, um die Existenz expressiver Handlungen bestreiten bzw. sie „wegerklären“ zu können. Eine Alternative zu dieser „rationalistischen“ Strategie besteht darin, die Intentionalität expressiver Handlungen schlichtweg zu leugnen; eine weitere Alternative ist, wie Rosalind Hursthouse, zu bestreiten, dass expressive Handlungen rationales Überlegen auf der Seite des Akteurs beinhalten. Ich selbst habe in Explaining Action by Emotion eine vierte Strategie gewählt, wie ich es auch hier tun werde.9 Demnach lassen sich expressive Handlungen rational erklären, aber nicht durch Mittel-Zweck-Überlegungen des Akteurs. Mittel-Zweck-Überlegungen sind lediglich eine, aber nicht die einzige Art, intentionale Handlungen zu rationalisieren. Dabei gehe ich davon aus, dass zur Natur von Emotionen gehört, dass sie ausgedrückt werden. Schon die so genannten „Basisemotionen“ sollen ja über ein kulturübergreifendes, universelles mimetisches Ausdrucksverhalten identifizierbar sein.10 In diesem Fall handelt es sich allerdings um nichtintentionalen Emotionsausdruck, wohingegen expressive Handlungen intentional sind. Dies setze ich hier voraus. Wie Peter Goldie bin ich ferner der Auffassung, dass der Übergang vom nichtintentionalen hin zum intentionalen Emotionsausdruck graduell ist.11 Expressive Handlungen im engeren Sinne bilden die Verbindung von nichtintentionalem zu intentionalem Emotionsausdruck, wie es auch beim Emotionsausdruck in der Kunst ist. Wie dargelegt, ist Emotionsausdruck in der Kunst nach meinem Dafürhalten ein Spezialfall expressiven Handelns. Das bedeutet, 8

9 10 11

Vgl. Davidson 1963, 685–700, und die Kritik an diesem Modell bei Hursthouse 1991, 57–68. Vgl. auch Goldie 2000, 125f. und Goldie 2000, 25–38, hier 26. Da es sich bei dem Aufsatz im Wesentlichen um ein Exzerpt aus dem Buch handelt, werde ich im folgenden nurmehr das Buch zitieren. Vgl. Döring 2003. Vgl. Darwin 1872 und Ekman 1999, 45–60. Vgl. Goldie 2000, 125.

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dass dieser Ausdruck grundsätzlich eine physische Form annimmt, ohne aber reduzierbar sein. Ich kann hier nicht auf ontologische Fragen eingehen, aber nach dieser Auffassung ist das Kunstwerk, insoweit es eine expressive Handlung ist, weder rein physisch noch rein mental, eben weil der physische Ausdruck nicht von der Emotion getrennt werden kann, die auch ein mentaler Zustand ist. Betrachten wir aussagekräftige Versuche, expressive Handlungen „in den Griff zu bekommen“. Eine Strategie des Standardtheoretikers läuft darauf hinaus, die Intentionalität expressiver Handlungen zu leugnen. Das kann schwerlich überzeugen. Betrachten wir zur Illustration ein oben bereits aufgeführtes Beispiel von Rosalind Hursthouse: Jane stürzt sich hasserfüllt auf ein Foto von Joan und kratzt der Rivalin darauf die Augen aus. In diesem Beispiel muss Jane offensichtlich die Absicht unterstellt werden, Joan auf dem Foto die Augen auszukratzen. Nehmen wir einmal an, Jane hätte irrtümlich die Augen Junes auf einem Foto ausgekratzt, weil sie fälschlicherweise meinte, es handle sich um ein Foto von Joan: vermutlich wäre die Akteurin entsetzt, weil sie eben die Absicht hatte, Joan und nicht June auf einem Foto die Augen auszukratzen. Darüber hinaus lässt eine jeweilige Emotion immer nur spezifische Ausdrucksformen zu: Es wäre kein Ausdruck von Hass, würde Jane Joan auf dem Foto küssen; sie wählt also gezielt eine Ausdrucksform, die ihrem Hass (und nicht Liebe oder Sehnsucht) entspricht. Rationalisten konzedieren aus solchen Gründen die Intentionalität expressiver Handlungen und versuchen, dem Akteur doch noch Zweck-Mittel-Überlegungen zu unterstellen. Mit dem Rationalisten teile ich die Auffassungen a) dass expressive Handlungen intentional sind, und b) dass sie rationales Überlegen auf der Seite des Akteurs voraussetzen. Das Problem aller rationalistischen Ansätze besteht jedoch darin, dass sie, indem sie expressive Handlungen in das Standardmodell zu pressen versuchen, letztlich nicht erklären können, was es heißt, seine Emotion „auszudrücken“. Eine erste rationalistische Strategie besteht darin, der handelnden Person doch noch einen von der Handlung selbst verschiedenen Zweck zu unterstellen: die Person wolle „Dampf ablassen“. Es ist aber nicht klar, welchen Erklärungswert diese Handlungsbeschreibung hat, zumal völlig offen bleibt, inwiefern eine jeweilige expressive Handlung Ausdruck einer Emotion und einer spezifischen Emotion (etwa von Sehnsucht, Wut oder Hass) ist. Mit der Behauptung, eine expressive Handlung erfülle den Wunsch des Akteurs, „Dampf abzulassen“, ist weder der Ausdruckscharakter der Handlung noch ihre Funktion als Ausdruck einer spezifischen Emotion überhaupt schon berührt. Eine zweite Strategie wählt Michael Smith als einer der Hauptvertreter des Standardmodells.12 Smith versucht, expressive Handlungen dergestalt zu rationalisieren, dass er in ihrem Fall Mittel und Zweck miteinander identifiziert: Jane wünscht, Joan auf dem Foto die Augen auszukratzen, und meint, dies genau dadurch tun zu können. Wie Smith einräumt, ist diese Erklärung für sich genommen äußerst unbefriedigend. Daher schlägt er vor, sie durch den rein kausalen Bezug auf eine Emotion – Hass in diesem Fall – zu ergänzen, die Jane zu der zu erklärenden Handlung disponiert. Damit ist aber wiederum nicht erklärt, inwiefern die Handlung Janes Ausdruck ihres Hasses auf Joan ist. Diesen Einwand erhebt auch Goldie. Er knüpft stattdessen an Richard Wollheim an und argumentiert, dass Janes Hass auf Joan eigentlich den Wunsch – oder vielmehr den 12

Smith 1998, 17–41.

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tierhaften Trieb – beinhaltet, der wirklichen Joan die Augen auszukratzen. Weil sich Jane aber dessen bewusst ist, dass diese Handlung im Rahmen einer zivilisierten Gesellschaft keine Option darstellt, sublimiert sie nach Goldie ihren Wunsch, indem sie ihn symbolisch erfüllt: Lediglich in ihrer Imagination kratzt sie Joan die Augen aus, die ja auf dem Foto abgebildet ist. Damit verfolgt Jane allerdings, so hebt Goldie hervor, keineswegs den Zweck, der wirklichen Joan die Augen auszukratzen: Im Gegenteil schreckte sie höchstwahrscheinlich vor der Handlung zurück, führte diese tatsächlich zu Joans Erblindung. Demnach ist Janes expressive Handlung nicht Mittel zu dem Zweck, Janes Wunsch zu erfüllen, der wirklichen Joan die Augen auszukratzen. Vielmehr haben expressive Handlungen unter Goldies Interpretation die Funktion, Wünsche symbolisch zu erfüllen, die Relikte aus einer früheren, weniger zivilisierten Stufe der menschlichen Entwicklung sind und derer wir uns nicht erwehren können, auch wenn wir sie nicht wirklich erfüllt sehen wollen. Das kann allerdings nicht heißen, dass die expressive Handlung damit Janes Wunsch erfüllt, ihren eigentlichen Wunsch symbolisch zu erfüllen. Dazu müsste Jane der Wunsch, Joan die Augen auszukratzen, in Verbindung mit den folgenden beiden Meinungen zugeschrieben werden: Jane müsste erstens meinen, dass sie ihren Hass auf Joan, indem sie sich an deren Foto vergreift, wenigstens an einem Ersatzobjekt auslassen kann, weil sie zweitens meint, dass es sich bei dem Foto um eine Darstellung Joans handelt. Unter dieser Beschreibung scheint jedoch Janes Handlung überintellektualisiert, zumal die erste der beiden angeführten Meinungen sogar einer relativ komplexen Meta-Überlegung entspricht. Vor allem aber wäre Janes Handlung wiederum nicht mehr Ausdruck ihrer Emotion, sondern ein Mittel zu dem Zweck, „Dampf abzulassen“. Insofern damit die von Goldie vorgeschlagene Erklärung nicht als Instantiierung des Belief -Desire-Modells gelten kann, steht er vor dem Problem, eine alternative Erklärung anzubieten. Allerdings ist sein Erklärungsvorschlag von vornherein empirisch kaum plausibel. Meines Wissens kratzen in keiner Tierart Artgenossen einander die Augen aus. Das macht es von vornherein unplausibel, Jane den tierhaften Trieb zu unterstellen, ihrer Rivalin Joan die Augen auszukratzen. Viel plausibler scheint mir, dass es sich bei dem symbolischen Auskratzen der Augen einer Rivalin um eine spezifische soziale Konstruktion von Weiblichkeit handelt, im Rahmen derer die Augen ganz klassisch als „Spiegel der Seele“ und Frauen als Katzen mit langen Krallen symbolisiert werden (wobei wohlgemerkt wirkliche Katzen einander nicht die Augen auskratzen!). Diese Annahme wird dadurch gestützt, dass Janes Verhalten nur für Frauen eine Option ist: Männer kratzen ihren Rivalen nicht die Augen aus, sondern brechen ihnen vielleicht „alle Knochen im Leib“. Wenn das zutrifft, lässt sich Janes Handlung immer noch als eine symbolische Handlung verstehen, nicht aber als eine Ersatzhandlung: Um ihrem Hass Ausdruck zu verleihen, wählt Jane ein sozial konstruiertes und innerhalb ihrer Gesellschaft und Kultur akzeptiertes Symbol. Warum aber tut sie das, so wird der Standardtheoretiker an dieser Stelle fragen und damit meinen: Welcher Wunsch motiviert sie zu diesem Verhalten? Meines Erachtens ist das „eine Frage zu viel“, die sich derjenige stellt, der sich im Bann des Standardmodells befindet. Wie Thomas Nagel darlegt, lässt sich letztlich natürlich jede Handlung auf einen Wunsch zurückführen, was aber einfach daran liegt, dass Handlungen als in-

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tentionales Verhalten definiert sind: „The claim that a desire underlies every act [...] is true only in the sense that whatever may be the motivation for someone’s intentional pursuit of a goal, it becomes in virtue of his pursuit ipso facto appropriate to ascribe to him a desire for that goal”.13 Angewandt auf unser Beispiel bedeutet das, dass, wenn Jane die Augen auf einem Foto von Joan auskratzt, sich trivialerweise behaupten lässt, dass sie das tun wollte. Dieses Wollen ist nach Nagel aber kein über die bloße Handlungsintention hinausgehender Wunsch und erklärt die Handlung auch gar nicht. Denn man erfährt aus der Feststellung, dass Jane die Handlung gewollt hat, nichts darüber, warum sie die Handlung und warum sie ebendiese Handlung ausgeführt hat. Vielmehr wird lediglich spezifiziert, was Jane tut. Erklärt würde die Handlung erst, wenn mit der ausgeführten Handlung zugleich die ihr zugrundeliegende Absicht verständlich gemacht würde. Dazu reicht es aber, wie gezeigt, einerseits nicht aus, einfach zu sagen, dass Jane „Dampf ablassen“ wollte; andererseits steht kein geeigneterer Wunsch zur Verfügung. Überzeugender scheint mir die Annahme, dass es in der Natur von Emotionen liegt, dass sie ausgedrückt werden und dass sie auf jeweils spezifische Weise ausgedrückt werden. Emotionsausdruck in spezifischer Art und Weise beginnt (vermutlich) mit den Basisemotionen, und der Übergang vom nichtintentionalen hin zum intentionalen Emotionsausdruck ist graduell. Für den intentionalen Ausdruck von Emotionen muss mithin nicht plötzlich ein Wunsch postuliert werden, der ihn in Verbindung mit einer passenden Meinung rationalisiert, also auch nicht etwa der Wunsch, seine Emotionen auszudrücken. Wie der Wunsch, „Dampf abzulassen“, hätte auch dieser Wunsch keinerlei Erklärungswert. Was allerdings intentionalen Emotionsausdruck vom nichtintentionalen Ausdruck von Basisemotionen grundsätzlich unterscheidet, ist, dass im ersten Fall die jeweiligen Ausdrucksformen nicht genetisch festgelegt sind, sondern kulturell konstruiert werden. Ein Beispiel ist genau das symbolische Augenauskratzen als sozial konstruiertes Bild für weibliche Rivalität. Nicht immer haben wie in diesem Beispiel die Ausdrucksformen Symbolcharakter. Denn offensichtlich findet nicht bei jeder expressiven Handlung eine symbolische Übertragung in dem beschriebenen Sinne statt. Wenn Jane dem Küchentisch aus Wut einen Tritt versetzt, nachdem sie von den Unterhaltszahlungen erfahren hat, die sie ihrem Exmann nach der Scheidung zahlen muss, ist es kaum sinnvoll zu behaupten, der Küchentisch sei ein Symbol für ihren Exmann (oder für irgend etwas anderes). Jedoch sind die symbolischen Formen intentionalen Emotionsausdrucks hier von besonderem Interesse, weil sie verdeutlichen, worauf dieser Ausdruck zielt: Es geht darum, auszudrücken, wie sich die Welt dem Träger der Emotion im aktualen, bewussten Zustand der Emotion darstellt. In der Kunst geht es dann spezifischer und systematisch darum, genau den richtigen Ausdruck für seine Emotion zu finden. Denn der Künstler gibt sich nicht mit kulturell etablierten Ausdrucksformen zufrieden, sondern versucht, immer neue und bessere Ausdrucksformen zu finden mit dem Effekt, dass er unsere gewöhnliche Weltsicht „entautomatisiert“. Damit sind wir beim Übergang zur Kunst angekommen. Nach der hier vertretenen Auffassung sind Kunstwerke, insofern sie Ausdruck von Emotionen sind, ebenso wie expressive Handlungen intentionaler Ausdruck dessen, wie sich die Welt dem Autor der Handlung oder des Kunstwerks unter dem Einfluss der Emotion darstellt. Das setzt 13

Nagel 1970, 29.

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voraus, dass Emotionen weltrepräsentierend bzw. kognitiv sind. Hierfür werde ich im folgenden Abschnitt argumentieren. Hervorzuheben ist nochmals, dass intentionaler Emotionsausdruck unter dieser Voraussetzung nicht arational ist. Expressive Handlungen werden häufig als arational klassifiziert, insofern sie kein Mittel zur Realisierung eines Zwecks sind. Das heißt aber nicht mehr, als dass expressive Handlungen nicht instrumentell rational sind. Gleichwohl lassen sie sich offensichtlich auf ihre Rationalität hin beurteilen: Wollte Jane die Augen auf Joans Foto auskratzen, um damit ihre Zuneigung zu Joan auszudrücken, handelte sie irrational, insofern ihre Handlung kein angemessener Ausdruck von Zuneigung ist. Es lassen sich demnach angemessene von unangemessenen emotionalen Ausdrucksformen unterscheiden, und eine expressive Handlung ist rational in dem Maße, wie sie ein angemessener Ausdruck der zugrundeliegenden Emotion ist. Bereits in meinem Aufsatz Explaining Action by Emotion habe ich die These vertreten, dass die Rationalität expressiver Handlungen keine instrumentelle Rationalität ist und dass sich diese Differenz zur Rationalität von Handlungen in der Interpretation des Standardmodells auch an den gegensätzlichen „Passensrichtungen“ der zugrundeliegenden mentalen Zustände festmachen lässt.14 Diese These wurde jüngst von Christopher Bennett aufgegriffen und unterstützt.15 Im Standardmodell wird (jedenfalls in dessen Humescher Lesart) Wünschen – verstanden als die Gesamtheit aller motivierenden Einstellungen und technisch auch als „Pro-Einstellungen“ bezeichnet16 – eine „Welt-zuGeist-Passensrichtung“ attribuiert, während Meinungen sich durch die entgegengesetzte „Geist-zu-Welt-Passensrichtung“ auszeichnen sollen.17 Im Gegensatz zu Meinungen, die auf Wahrheit zielten, also gleichsam darauf, zur Welt zu passen, seien Wünsche darauf gerichtet, bestimmte Ziele oder Zwecke zu realisieren, und somit umgekehrt darauf, die Welt dergestalt zu verändern, dass sie zum Wunsch passe. Demnach geben Wünsche Handlungszwecke vor und die Rationalität einer Handlung bemisst sich daran, ob sie zur Realisierung des Zwecks geeignet ist oder nicht. Versteht man nun Emotionen als kognitive Zustände, haben sie wie Meinungen (oder auch sinnliche Wahrnehmungen) eine „Geist-zu-Welt-Passensrichtung“ und zielen darauf, sich der Welt anzupassen. Emotionen geben damit keine Handlungszwecke vor oder tun jedenfalls mehr als das: Sie repräsentieren die Welt als in bestimmter Weise seiend. Folglich sind sie einem Korrektheitsstandard unterworfen, insofern ihr repräsentationaler Inhalt korrekt oder inkorrekt sein kann – so wie der propositionale Inhalt einer Meinung wahr oder falsch sein kann. Und so wie ein Behauptungssatz den propositionalen Inhalt einer Meinung ausdrückt, sind expressive Handlungen intentionaler Ausdruck des repräsentationalen Inhalts einer Emotion. Als solche können sie erstens angemessene oder unangemessene Ausdrucksformen sein. Sofern sie Symbole sind, lassen sie sich wie der repräsentationale Inhalt der Emotion selbst zweitens auch darauf hin beurteilen, ob sie der Welt angemessen sind – so wie nicht nur der propositionale Inhalt einer Meinung selbst, sondern auch der ihn ausdrückende Behauptungssatz wahr oder falsch 14 15 16 17

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Döring 2003, 220ff. Bennett 2012 (unveröffentlichtes Manuskript). Davidson 1963, 3–19. Smith 1994, Kap. 4; vgl. auch Anscombe 1957, 56.

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sein kann. Wie sich im Folgenden erweisen wird, ist allerdings der Inhalt einer Emotion vom Inhalt einer Meinung wesentlich verschieden – und prädestiniert für künstlerischen Ausdruck.

3.

Eine adverbiale Theorie der Emotionen

Prädestiniert für künstlerischen Ausdruck ist der repräsentationale Inhalt einer Emotion jedenfalls unter Voraussetzung der adverbialen Emotionstheorie, die ich in diesem Abschnitt vorstellen möchte. Wie eingangs dargelegt, ist „vorstellen“ hier in dem schwachen Sinne zu verstehen, dass ich mich nicht auf die Wahrheit dieser Theorie festlege, deren vollständige Einordnung in die gegenwärtige Theorielandschaft und vor allem abschließende Bewertung erst die Aufgabe zukünftiger Forschung ist. Falls sich der Adverbialismus aber als wahr erweisen sollte, dann ließe Kunst sich, sofern sie Gefühlsausdruck ist, als kognitive Expression in dem hier erörterten Sinne verstehen. Pate für die hier erörterte adverbiale Theorie steht Musil. In seiner Gefühlspsychologie (1938) findet sich zunächst das Credo aller kognitiven Emotionstheoretiker: die James-Lange-Theorie scheitere daran, die Unterschiede zwischen einzelnen Emotionen zu erklären und könne somit keine Typologie der Emotionen liefern. In seinem einflussreichen Aufsatz What Is an Emotion? von 1884 bestimmte der Psychologe William James eine Emotion als das Bewusstsein bestimmter körperlicher Veränderungen wie im Fall der Furcht etwa eines erhöhten Pulsschlags oder zitternder Knie, die durch die Wahrnehmung von gegenwärtigen oder vorausgeahnten Gefahren für das eigene Selbst automatisch hervorgerufen würden. Dabei ist diese Wahrnehmung nicht Teil der Emotion selbst, sondern das Gefühl tritt als (kausale) Wirkung der Wahrnehmung und der durch sie verursachten körperlichen Veränderungen auf, nämlich als Bewusstsein dieser Veränderungen. So erklärt sich die provokative Formel, die James wählte, um seine Lehre auf den Punkt zu bringen: „Wir weinen nicht, weil wir traurig sind, sondern wir sind traurig, weil wir weinen“. Während wir im Alltag davon ausgehen, dass es die Gefühle sind, die bestimmte körperliche Veränderungen erst hervorrufen, stellt James diese Auffassung gleichsam auf den Kopf, indem er postuliert, dass die körperlichen Veränderungen den Gefühlen vorangehen und dass Gefühle nichts anderes als die Empfindungen dieser Veränderungen sind: Gefühle sind damit feelings. Da der dänische Physiologe Carl Lange in seinem Buch Ueber Gemüthsbewegungen (1885) fast zeitgleich, aber unabhängig von James, Gefühle auf analoge Art und Weise fasste, ist diese Feeling-Theorie in die Literatur als „James-Lange-Theorie“ eingegangen. Unter Bezugnahme auf verschiedene Typen der Liebe hält Musil dieser Theorie entgegen, dass sich durch sie verschiedene Emotionen oder gar verschiedene Typen derselben Emotionen nicht voneinander differenzieren ließen. Selbst zwei so unterschiedliche Typen der Liebe wie die zu Gott und die zum Fischen ließen sich nicht dadurch voneinander unterscheiden, dass sie sich in der Selbstwahrnehmung vermeintlich jeweils spezifisch anfühlten. Statt auf das Fühlen führt Musil den Unterschied auf den Gegenstand zurück, auf den sich die Liebe jeweils bezieht: „Was in die Beziehung ,Etwas lieben‘ so ungeheure Unterschiede trägt wie den zwischen Gottesliebe und Liebe zum

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Fischen, ist nicht die Liebe, sondern das ,Etwas‘.“18 Indem er Gefühle demnach als intentional (auf Gegenstände gerichtet) begreift und erklärt, dass sie sich nur aufgrund ihrer Intentionalität typisieren ließen, stimmt Musil mit der Kernthese des Kognitivismus der Gegenwart überein. Hier hören die Übereinstimmungen aber auch schon auf. Denn anders als klassische Kognitivisten meint Musil nicht, dass die verschiedenen Emotionstypen dadurch definiert seien, dass sie jeweils eine bestimmte Bewertung notwendigerweise (begrifflich) beinhalten. Das heißt: Musil behauptet nicht, dass eine jeweilige Emotion, um sich etwa als Furcht zu qualifizieren, notwendigerweise die Bewertung beinhalten muss, dass ihr Gegenstand furchterregend oder gefährlich sei. Bei der Unterscheidung verschiedener Typen derselben Emotion kämen wir auf diesem Wege ohnehin nicht weiter, doch entscheidend ist, dass nach Musil Emotionen keine Intentionalität sui generis haben, sondern diese Intentionalität sozusagen von ihren Komponenten „borgen“, die die Emotion selbst als eine Gestaltqualität konstituieren. Diese Komponenten sollen dabei intentionale mentale Zustände verschiedenster Art umfassen und jeweils so individuell strukturiert sein, dass Musil skeptisch bezüglich der Emotionstypen ist, die er im Alltag, aber auch in der traditionellen Psychologie vorfindet. Statt die existierenden Emotionskategorien in Stein zu meißeln, fordert Musil die empirische Untersuchung realer konkreter individueller Emotionen, die nach seiner Auffassung letztlich immer einmalig und einzigartig sind: „Es bezeichnen die Namen der einzelnen Gefühle also bloß Typen, denen die wirklichen Erlebnisse nahekommen, ohne dass sie aber mit ihnen ganz übereinfielen [...].“19 Während sich Musils wissenschaftstheoretische Kritik an unseren alltäglichen Emotionskategorien Paul Griffiths’ Position in seinem Buch What Emotions Really Are (1997) deckt, erinnert die Annahme der Einmaligkeit und Einzigartigkeit einer jeweiligen Emotion an Wittgensteins Idee bloßer Familienähnlichkeiten,20 insbesondere weil Musil jeglichen Essentialismus ausdrücklich zurückweist: Die Frage, wie es kommt, dass so ganz Verschiedenes mit dem einen Wort Liebe bezeichnet wird, hat die gleiche Antwort wie die Frage, warum wir unbedenklich von Eß-, Mist-, Ast-, Gewehr-, Weg- und anderen Gabeln reden! Allen diesen Gabeleindrücken liegt ein gemeinsames „Gabeligsein“ zugrunde; aber es steckt nicht als ein gemeinsamer Kern in ihnen [...]. Wollten wir [...] die zwischen allen Lieben bestehende Ähnlichkeit für ihre Ähnlichkeit mit einer Art von ,Urliebe‘ ansehen, die gleichsam ohne Arme und Beine in ihrer Mitte säße, wäre es der gleiche Fehler wie der Glaube an eine ,Urgabel‘.21 Jedoch sind, wie ich hier lediglich behaupten kann, die eigentliche Quelle sowohl der Wissenschaftsauffassung als auch des Anti-Essentialismus der Gefühlspsychologie Kurt Lewins Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie (1926).22 Wie ich andernorts umfassend dargelegt habe, sieht Musil seine Emotionstheorie durch Lewins 18 19 20 21 22

Musil 1978, Bd. IV, 1172. Ebd., 1169. Wittgenstein 1984 (zuerst 1953), 225–580, hier 278, I, § 67. Musil 1978, Bd. IV, 1173f. Vgl. Lewin 1926, 294–385.

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Ansatz wissenschaftlich gedeckt und finden sich denn auch die Hauptgedanken dieser Emotionstheorie in Lewins Untersuchungen.23 Hier geht es mir nun nicht mehr darum, den Einfluss Lewins nachzuweisen, sondern ausschließlich um die systematische Relevanz der Emotionstheorie Musils. Gleichwohl sei darauf hingewiesen, dass der überindividuelle Gestaltbegriff, mit dem Musil operiert, derjenige ist, der Lewin über seine „Feldtheorie“ berühmt gemacht hat. Nach Lewin wird Verhalten nicht nur durch die internen, sondern wesentlichen auch externen Aspekte der Situation des Individuums bestimmt: In ihrer Gesamtheit legen diese Aspekte die Situation des Individuums fest und fungieren dabei als die einander wechselseitig bedingenden Komponenten einer Gestalt. Zentral unter diesen Komponenten sind für Musil wie für Lewin die Bedürfnisse des Individuums. Musil fasst Bedürfnisse und andere zielgerichte mentale Zustände – z. B. Wünsche oder Absichten – als Komponenten erster Ordnung einer Emotion auf. So werden Emotionen begrifflich mit Handlungen verknüpft. Wie Aristoteles meint Musil, dass „Zorn [...] immer schon den Gegenangriff in sich [trage]“, und entsprechend das „Verlangen die Annäherung, die Furcht den Übergang in Flucht, in Erstarren oder zwischen beiden in den Schrei“.24 Sofern eine Emotion tatsächlich eine Handlung nach sich zieht, ist diese nach Musil nicht bloß die kausale Folge der Emotion, sondern Teil der Emotion selbst, also Teil der die Emotion konstituierenden Gestaltqualität. Um dies zu unterstreichen, zitiert Musil James’ Formel „Wir weinen nicht, weil wir traurig sind, sondern sind traurig, weil wir weinen“, die er dahingehend interpretiert, dass die emotionale Handlung eine (kausale) Rückwirkung hat, die die emotionale Gestaltqualität wesentlich mitbestimmt.25 Gemeinsam mit anderen internen und externen Komponenten erster Ordnung konstituiert demnach die emotionale Handlung die Emotion, die Musil ihrerseits als ein Phänomen zweiter Ordnung im Sinne einer Gestaltqualität auffasst.26 Zu den Komponenten erster Ordnung einer Emotion zählt Musil auch den Stimulus. Zu Stimuli von Emotionen werden nach Musil Gegenstände der äußeren Welt, insofern sie „Aufforderungscharakter“ haben – der heute gängige, das Gemeinte jedoch nicht ganz treffende Terminus ist Valenz. Musil macht sich hier Lewins These zunutze, „dass die Dinge und Ereignisse der Umwelt sich für uns auch in unserer Eigenschaft als handelnde Wesen keineswegs neutral verhalten [...], sondern uns gegenüber einen mehr oder weniger bestimmten Willen [zeigen]; sie fordern uns zu bestimmten Handlungen auf “.27 Über die in einer Emotion enthaltenen Bedürfnisse (und anderen zielgerichteten Zustände) erklärt Musil auf diese Weise mit dem Handlungsbezug einer Emotion zugleich ihren Gegenstandsbezug: Nicht alles sei gleichermaßen geeignet, ein Bedürfnis zu befriedigen. Schließlich sei „einem Hungernden [...] nicht mit einer Sonate geholfen, sondern

23

24 25 26 27

Vgl. ausführlich Döring 1999, Kap. 2. Gleichwohl lassen sich neben Arbeiten Lewins weitere Quellen der Gefühlspsychologie identifizieren. Vgl. von Heydebrand 1966, von Büren 1970, Mulligan 1995, 87–110, Bonacchi 1998, Vatan 2000. Musil 1978, Bd. IV, 1157. Ebd. Ebd., 1163ff. Lewin 1926, 350.

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mit Nahrung, das heißt mit etwas, das einer mehr oder minder bestimmten Gruppe von Dingen und Geschehnissen angehört“.28 Bis hierhin scheint es, als werde durch Musils Emotionstheorie nicht der repräsentationale, kognitive Charakter von Emotionen eingefangen, sondern stattdessen ihre handlungsmotivierende Rolle. Tatsächlich stimmt Musil mit jenen Emotionstheoretikern der Gegenwart überein, die zielgerichte Wünsche (oder „Pro-Einstellungen“) zu den konstitutiven Komponenten einer Emotion zählen. Es wäre jedoch verfehlt anzunehmen, dass Musils Emotionen damit ausschließlich die „Welt-zu-Geist-Passensrichtung“ von Wünschen haben. Eine der größten Herausforderungen an den Kognitivisten besteht darin zu erklären, wie kognitive Emotionen ihre motivierende Rolle gleichwohl bewahren können. Dazu scheinen sie beide Passensrichtungen haben zu müssen. Wie aber ist das möglich, wenn sich doch „Welt-zu-Geist-Passensrichtung“ und „Geist-zu-Welt-Passensrichtung“ gegenseitig ausschließen? Wie kann ein mentaler Zustand gleichzeitig darauf zielen, zur Welt zu passen, und darauf, sich die Welt anzupassen? Musil löst dieses Rätsel, indem seine Emotionen neben Wünschen mit einer „Welt-zu-Geist-Passensrichtung“ auch Komponenten erster Ordnung mit der entgegengesetzten „Geist-zu-Welt-Passensrichtung“ beinhalten wie etwa Meinungen oder Wahrnehmungen. Damit ist die „geborgte“ Intentionalität einer Emotion sowohl zielgerichtet als auch wahrheitsgerichtet. Diese Auffassung ist jener Goldies in dessen Buch The Emotions (2000) eng verwandt. Auch Goldie versteht Emotionen als relativ komplexe mentale Zustände, die vergangene und zukünftige Gedanken, Wahrnehmungen, Wünsche, Empfindungen und körperliche Veränderungen integrieren. Der Hauptunterschied zwischen beiden Theorien besteht darin, dass nach Goldie die Komponenten einer Emotion narrativ verknüpft werden, wohingegen Musil diese Synthese gemäß den Prinzipien einer Lewin’schen Gestaltqualität fasst. Sofern man die Analyse von Emotionen als Phänomene höherer Ordnung grundsätzlich teilt, ist es eine interessante Frage zukünftiger Forschung, welche dieser beiden Erklärungen überlegen ist. Immerhin spielt nicht nur der Begriff der Narration, sondern auch der der Gestalt eine wichtige Rolle in der gegenwärtigen Theoriebildung über mentale Phänomene.29 Nach Musil sind Emotionen über Bedürfnisse und andere zielgerichtete Komponenten erster Ordnung mit Handlungen und Gegenständen verknüpft. Diese Verknüpfung bestimmt die „Ausgestaltung und Verfestigung“ der Emotion.30 Wie Musil feststellt, ist die Anlage zu einer Emotion nicht beliebig, insofern die in ihr enthaltenen Bedürfnisse nicht durch beliebige Gegenstände und Handlungen befriedigt werden können. Gleichwohl sei die Beziehung zwischen einer Emotion, ihrem Gegenstand und der beide verbindenden Handlung nicht von vornherein festgelegt und lasse selbst dann, wenn sie festgelegt sei, immer noch beträchlichen Spielraum für den Prozess der Ausgestaltung und Verfestigung offen. Erst im Verlauf dieses dynamischen Prozesses werde die Emotion zu einer bestimmten Emotion, d. h. zu einer Gestalt, die sich einem bestimmten Emotionstyp zuordnen lässt. Nach Musil entwickelt sich also eine Emotion aus einer noch weitgehend unbestimmten Anlage hin zu einer bestimmten Emotion: Die Emotion wird erst 28 29 30

Musil 1978, Bd. IV, 1167. Vgl. Spelke 1995, 297–330. Musil 1978, Bd. IV, 1165ff.

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im Prozess ihrer Ausgestaltung und Verfestigung zu einer einheitlichen, von anderem abgrenzbaren Gestalt und liegt nie von Anfang an als solche vor. „Darum“, so folgert Musil, „kennen wir [eine Emotion] in Wahrheit erst, nachdem [sie] in die Welt gewirkt und sich an ihr ausgestaltet hat; wir wissen nicht, was wir fühlen, ehe nicht unser Handeln darüber entschieden hat“.31 Dabei kommt es nach Musil im Verlauf der ontogenetischen Entwicklung zur Fixierung der Emotionen auf ganz bestimmte Gegenstände und Handlungen. Wenn einer Emotion ein junges, noch nicht wiederholt auf bestimmte Weise befriedigtes Bedürfnis zugrundeliege, sei sie noch nicht auf bestimmte Dinge fixiert, sondern spreche auf einen relativ weiten und unbestimmten Umkreis möglicher Aufforderungscharaktere an. Im Vergleich dazu zeige sich der Bereich der Aufforderungscharaktere beim Erwachsenen, sofern dieser, wie es dem Normalfall entspreche, seine Bedürfnisse immer auf ähnliche Weise befriedigt habe, gegenüber den an sich in Frage kommenden Dingen unverhältnismäßig verengt. Das menschliche Individuum durchlaufe also eine Entwicklung von einem Stadium relativ diffuser Emotionalität hin zu einem differenzierten und präzisierten Stadium, in welchem die verschiedenen Emotionen weitgehend gegeneinander abgeschlossen und auf spezifische Aufforderungscharaktere festgelegt seien. Erst dadurch ist es nach Musil möglich, verschiedene Emotionstypen als unterschiedliche Gestaltqualitäten voneinander abzugrenzen. Jedoch sei diese Typisierung, wie Musil am Beispiel der Liebe illustriert (s. o.), vergleichsweise beliebig und kontingent: Der Prozess der Fixierung hätte unter anderen Umweltbedingungen auch ganz anders verlaufen können, und andere Emotionstypen hätten sich herausbilden können. Insbesondere hält Musil bestehende Fixierungen für grundsätzlich auflösbar, was für seine Kunsttheorie von außerordentlicher Wichtigkeit ist. Mit Lewin, von dem er die These der ontogenetischen Fixierung übernimmt,32 stimmt Musil darin überein, dass die Fixierung unserer Emotionen einen klar erkennbaren biologischen Nutzen habe: sie verleihe dem Menschen die sein Überleben gewährleistende Fähigkeit zum geordneten Handeln. Emotionen sprächen automatisch auf bestimmte Aufforderungscharaktere an, durch die sie in der Vergangenheit Befriedigung erfahren haben, und leiteten so das Handlungsgeschehen rasch und selbständig in die Wege. Der Mensch vermöge somit schnell, ohne lange überlegen zu müssen, auf die von seiner Umwelt an ihn gestellten Anforderungen zu reagieren. Demnach nehmen wir, indem wir uns etwa fürchten, bestimmte Aspekte unserer Umwelt unmittelbar als Indikatoren von Gefahr wahr und unsere Furcht bereitet uns unmittelbar auf protektives Verhalten vor, ohne dass wir dazu erst lange nachdenken müssten. Dadurch ist es endlichen Körperwesen wie uns möglich, auf unsere komplexe und risikoreiche Umwelt in einer Geschwindigkeit zu reagieren, die wir ohne Emotionen nicht erreichen könnten. Fixierung bestimmt nach Musil aber nicht nur unser Handeln, sondern auch unsere Weltsicht, indem nämlich unsere Emotionen unseren Blick auf diejenigen Dinge fokussieren, die Aufforderungscharakter für uns haben:

31 32

Ebd., 1172. Lewin 1926, 357ff.

276

S A. D Der Traurige sieht schwarz und straft mit Nichtachtung, was es aufhellen könnte; dem Heiteren leuchtet die Welt, und er ist nicht imstande, etwas wahrzunehmen, wovon das gestört werden könnte; dem Liebenden begegnen die bösesten Wesen mit Vertrauen; und der Argwöhnische findet nicht nur sein Mißtrauen allerorten bestätigt, sondern die Bestätigungen suchen ihn geradezu heim [...]. Auf diese Art schafft sich jedes Gefühl, wenn es eine gewisse Stärke und Dauer erlangt, eine ausgewählte und anzügliche, seine eigene kleine Welt, was keine kleine Rolle in den menschlichen Verhältnissen spielt.33

Emotionen gestalten nach Musil die Welt in dem wörtlichen Sinne, dass unter dem Einfluss einer Emotion die Gesamtheit der subjektiv relevanten Person-Umwelt-Aspekte in eine spezifische Gestalt integriert werden. Identifiziert Musil diese Gestalt einerseits mit der Emotion selbst, geht er andererseits offensichtlich davon aus, dass sie zugleich die mit einer Emotion jeweils assoziierte evaluative Eigenschaft instantiiert. So erklärt er, dass wir, indem wir uns fürchten, „unmittelbar am Ganzen [...] die Fürchterlichkeit selbst [erleben]“.34 Dies legt nahe, dass er die mit einer Emotion assoziierte evaluative Eigenschaft – neben dem Fürchterlichen bzw. Furchterregenden nennt er das Entzückende, das Beschämende, das Ekelerregende und das Schöne (!) – als die spezifische gestalthafte Organisation der Komponenten erster Ordnung einer Emotion versteht. Nach dieser adverbialen Theorie bedeutet, Furcht zu empfinden, die Welt fürchterlich anzusehen. Das soll selbstverständlich nicht heißen, dass die Weltsicht der Person fürchterlich ist, sondern dass ihre Gedanken, Wahrnehmungen usw. erster Ordnung die Gestalt bilden, die die Emotion zweiter Ordnung konstituiert, und dabei die Weltsicht der Person gemäß den Aufforderungscharakteren strukturieren, die die Dinge für sie haben – und das wiederum heißt, dass der Blick der Person auf diejenigen Aspekte der Welt fokussiert werden, die im Ganzen zusammengenommen die Dinge für sie furchterregend, beschämend, ekelhaft usw. erscheinen lassen. Ihrerseits haben diese unterschiedlichen Erscheinungsformen der Welt auch eine distinkte Phänomenologie. Wie Wittgenstein feststellt, ist schließlich die „Welt des Glücklichen […] eine andere als die des Unglücklichen“35 . Diese Phänomenologie wiederum lässt sich schwerlich auf die der Komponenten erster Ordnung (etwa die bestimmter Empfindungen) reduzieren. Sie muss vielmehr mit deren spezifischer gestalthafter Organisation gegeben sein. Da diese Organisation die mit der Emotion assoziierte evaluative Eigenschaft ist, sind solche Eigenschaften somit auch phänomenale Eigenschaften: Indem wir Furcht erleben, werden unsere Gedanken, Wahrnehmungen, Bedürfnisse, Wünsche, Empfindungen usw. zu einer spezifischen Gestalt organisiert, und die Art und Weise, wie dies geschieht, bestimmt die distinkte Phänomenologie der Emotion. Wie klar geworden sein sollte, kann das nicht bedeuten, dass sich nach Musil verschiedene Emotionstypen anhand ihrer jeweiligen Phänomenologie unterscheiden lassen. Das stünde in offenem Widerspruch zu seiner oben zitierten These, dass dies gerade nicht 33 34 35

Musil 1978, Bd. IV, 1159. Ebd., 1162. Wittgenstein 1984, Bd. I, 7–85, hier 83, Satz 6.43.

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möglich sei. Wie dargelegt, meint Musil stattdessen, dass die Art und Weise, in der die Komponenten einer Emotion jeweils eine spezifische Gestalt bilden, letztlich immer einmalig und einzigartig sei und folglich auch die Phänomenologie der Emotion. Im Rahmen seines Lewin’schen Ansatzes ist die Typologie erst durch die Fixierung der Emotionen auf bestimmte Gegenstände und Handlungen möglich und erfordert notwendigerweise die Bezugnahme auf diese Gegenstände und Handlungen als Bestandteile der emotionalen Gestaltqualität. Musils adverbiale Theorie ist weder eine Feeling-Theorie noch eine kognitive Theorie der Emotionen im Standardsinne. Im Gegensatz zur Letzteren leugnet Musil, dass Emotionen insofern notwendig mit bestimmten Objekten verbunden sind, als dass das Subjekt dem Objekt seiner Emotion die mit dieser Emotion assoziierte evaluative Eigenschaft zuschreiben muss. Nur diejenigen Gegenstände, die furchterregend, beschämend, ekelhaft usw. sind oder jedenfalls vom Subjekt so betrachtet werden, qualifizieren sich demnach als mögliche intentionale Objekte von Furcht, Scham, Ekel usw. Mit Emotionen assoziierte evaluative Eigenschaften werden nach Musil von vornherein nicht durch Objekte instantiiert, und die Beziehung von Emotionen lediglich zu bestimmten Objekten ist nach seinem Dafürhalten relativ beliebig und kontingent. Musil hält diese über Fixierung erst entstandene Beziehung sogar für grundsätzlich auflösbar – wie es typischerweise dann geschehe, wenn eine Emotion sich nicht zu einer bestimmten hin entwickle, sondern zu einer unbestimmten Stimmung. Bevor ich nun diese adverbiale Emotionstheorie für die These, Kunstwerke seien, insofern sie Ausdruck von Gefühlen sind, kognitive Expressionen, fruchtbar zu machen versuche, sei noch ein Charakteristikum des Adverbialismus hervorgehoben, das, neben der Versöhnung der handlungsmotivierenden Rolle von Emotionen mit ihrer kognitiven Funktion, als ein Vorzug angesehen werden könnte: Musils adverbiale Theorie scheint sehr viel besser als der Standardkognitivismus imstande, der Dynamik von Emotionen Rechnung zu tragen. Denn eine Emotion wird nicht länger als ein statisches Urteil oder eine statische Wahrnehmung aufgefasst, sondern als ein Phänomen höherer Ordnung analysiert, das sich durch dynamisch miteinander verbundene Episoden des Denkens, Wahrnehmens, Fühlens, Wünschens usw. kontinuierlich über die Zeit hinweg entwickelt. Auf diese Weise könnte sogar dem Phänomen der so genannten „gemischten Gefühle“ Rechnung getragen werden: In diesem Fall ist die Entwicklung einer Emotion von der Art, dass sie sich (noch) nicht einem Emotionstyp eher als einem anderen zuordnen lässt. Damit will ich keineswegs ausschließen, dass sich nicht auch die Wahrnehmungstheorie als fähig erweisen könnte, die Dynamik der Emotionen einzufangen. Aber das wäre erst zu erweisen, und mindestens macht Musils adverbiale Emotionstheorie auf dieses Desiderat aufmerksam.

4.

Kognitiver Emotionsausdruck in der Kunst

Oben wurde argumentiert, dass es zur Natur unserer Emotionen gehört, dass wir sie ausdrücken und dass sich diesbezüglich ein Kontinuum vom nichtintentionalen Ausdruck von Basisemotionen hin zum intentionalen Emotionsausdruck durch expressive Handlungen feststellen lässt. Dabei hat sich gezeigt, dass bereits im Bereich der expressiven

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Handlungen symbolische Ausdrucksformen ins Spiel kommen: Lässt sich intentionales Emotionsausdrucksverhalten wie das wuterfüllte Treten gegen das Tischbein oder auch das Werfen einer Tasse an die Wand noch nicht als symbolische Ausdrucksform verstehen, agieren Hursthouses Protagonistin Jane, wenn sie hasserfüllt die Augen auf einem Foto von Joan auskratzt, oder auch eine Frau, die sehnsuchtsvoll das Bild ihres in der Ferne weilenden Geliebten küsst, im Rahmen symbolischer Ausdrucksformen für ihren Hass bzw. ihre Sehnsucht. Die adverbiale Emotionstheorie nun bietet eine Erklärung dafür an, warum wir unsere Emotionen symbolisch ausdrücken: Im Erleben der Emotion präsentiert sich uns die Welt in einer bestimmten Gestalt, die daraus resultiert, dass die Emotion als ein Phänomen höherer Ordnung unser Denken und Wahrnehmen erster Ordnung in bestimmter Weise organisiert. Hier lässt sich eine Analogie zum Aspekt-Sehen ziehen: So wie wir etwa Wittgensteins berühmte Hasen-Ente einerseits als Hasen und andererseits als Ente sehen können, je nachdem, auf welche Aspekte der Figur unser Blick fokussiert, „sieht“, wie Musil sagt, der „Traurige […] schwarz und straft mit Nichtachtung, was es aufhellen könnte“, wohingegen „dem Heiteren […] die Welt [leuchtet], und er […] nicht imstande [ist], etwas wahrzunehmen, wovon das gestört werden könnte“36 . Die Analogie macht zugleich deutlich, dass sich gestalthafte Weltsicht nicht diskursiv, d. h. auf dem Weg über Propositionen ausdrückende Behauptungssätze vermitteln lässt. Charakteristisch für Propositionen als die Inhalte von Meinungen ist, dass sie in inferentielle Relationen eintreten (wie z. B. den Modus ponens). Gestalthafte Inhalte lassen sich demgegenüber gerade nicht inferentiell erschließen. Wenn jemand in Wittgensteins Figur allein den Hasen zu sehen imstande ist, kann man ihm nicht beweisen, dass die Figur zugleich eine Ente darstellt. Um dies erkennen zu können, muss er die Ente selbst sehen. Dazu kann man ihm verhelfen, indem man ihn auf die Aspekte aufmerksam macht, die die Figur eine Ente darstellen lassen. Analog lässt sich auch die gestalthafte Weltsicht unter dem Einfluss einer Emotion nur auf diesem Wege vermitteln. Dazu ist Kunst prädestiniert, insofern sie nicht Propositionen inferentiell miteinander verknüpft, sondern diejenigen Aspekte hervorhebt und zu einer Ganzheit organisiert, die jemanden oder etwas furchterregend, beschämend, ekelerregend, hassenswert, bewundernswert, entzückend usw. und in letzter Instanz schön machen. Wie hierin bereits anklingt, geht das emotionale Welterleben über das reine AspektSehen wesentlich dadurch hinaus, dass es grundsätzlich eine Bewertung der Welt impliziert, wie sie durch die gestalthafte Organisation der Komponenten erster Ordnung der Emotion instantiiert wird. Wenn Jane Joan hasserfüllt die Augen auf einem Foto auskratzt, bringt sie dadurch zum Ausdruck, dass ihre Rivalin ihr als eine zutiefst hassenswerte Person erscheint, die sie am liebsten auslöschen würde. Und wenn eine Frau sehnsuchtsvoll das Bild ihres in der Ferne weilenden Geliebten küsst, dann drückt sie damit aus, wie sehr ihr der Geliebte fehlt, und dass sie ihn viel lieber bei sich hätte. In beiden Beispielen verstehen wir ohne weiteres, was damit ausgedrückt wird, weil es sich um vergleichsweise konventionelle Ausdrucksformen handelt, man möchte sagen: um 36

Vgl. Wittgenstein 1984, 519f., II, xi. Die ambige Figur ist im Kontext der Kunsttheorie intensiv diskutiert worden. Vgl. exemplarisch Gombrich 1960, Lycan/Gombrich 1971, 229–237, Mitchell 1994, Kap. 2.

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„Klischees“. Folgt man Musil und anderen Künstlern, die als ein Wesensmerkmal von Kunst gerade die Durchbrechung solcher Klischees durch neue Ausdrucksformen sehen, muss es in der Kunst demgegenüber darum gehen, die Welt stets auf neue Weise sehen und erleben zu lassen. Den biologischen Nutzen der ontogenetischen Fixierung unserer Emotionen anerkennend, bemängelt Musil dennoch die Einschränkung des menschlichen Weltbildes, die mit diesem Prozess unmittelbar einhergehe. Hierin folgt er ein weiteres Mal Lewin, der trotz allen biologischen Nutzens auch auf die Gefahren hinweist, die mit der zunehmenden Fixierung auf bestimmte Aufforderungscharaktere einhergehen. Solche Fixierung könne nämlich die Vielfalt der Handlungsoptionen und damit die Anpassungsfähigkeit des Menschen an modifizierte Umweltbedingungen erheblich einschränken und ihn zu einem „verknöcher[ten]“ Organismus werden lassen, der in seinen Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten erheblich eingeschränkt ist.37 Psychologistisch gesprochen, ist nach Musil die Kunst gegen die Fixierung unserer Emotionen und die hieraus resultierende „Formelhaftigkeit“ unseres Welterlebens gerichtet, was für ihn um so wichtiger ist, als er diese Formelhaftigkeit als verantwortlich für die nach seinem Urteil eingeschränkten Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten der gesamten westlichen Zivilisation ansieht.38 Selbst wenn man diese weitreichende zivilisationskritische These nicht unterschreibt, bleibt festzuhalten, dass sich unter Voraussetzung der im vorangegangenen Abschnitt vorgestellten adverbialen Theorie unsere Emotionen durch Lebensverlauf und kontingente Umweltbedingungen auf bestimmte Gegenstände und Handlungen fixieren und dass dadurch unser Blick für mögliche andere Aspekte der Welt verstellt wird. Werden solche Aspekte dennoch sichtbar, so geschieht dies gemäß der adverbialen Theorie auf dem Weg über Stimmungen. Es ist ein weiterer Vorzug von Musils adverbialer Theorie, dass sie Emotionen und Stimmungen als verschiedene Ausgestaltungen begreiflich macht, die ein und dieselbe Emotion annehmen kann. Der Standardkognitivismus hat mit Stimmungen offensichtlich Probleme, da Stimmungen definitionsgemäß nicht auf etwas Bestimmtes gerichtet sind, sondern sehr viel unspezifischer in ihrer Intentionalität, wenn nicht nicht-intentional. Einige Kognitivisten nehmen daher Stimmungen von den genuinen Emotionen aus.39 Im Gegensatz dazu argumentiert Musil, dass eine Emotion immer dann zu einer Stimmung werde, wenn sie sich zwar ausgestalte, aber nicht verfestige, also nicht auf einen bestimmten Gegenstand fixiere. Emotion und Stimmung markieren bei Musil idealtypische Ausgestaltungen der Anlage zu einer Emotion, kommen aber in Reinform nicht vor. Musil betrachtet sie vielmehr als die entgegengesetzten Pole auf einer Skala gradueller Übergänge. Demnach kann sich z. B. eine unbestimmte Gereiztheit schließlich in einem Wutanfall über die Unpünktlichkeit des Gatten entladen. Hier wird eine Stimmung zur Emotion. Umgekehrt kann die unterdrückte Wut auf den permanent unpünktlichen Gatten in einen unbestimmten Zustand der Gereiztheit münden. Selbst die Liebe zu einer Person, die prima facie als ein typisches Beispiel für eine bestimmte Emotion erscheinen mag, weist immer schon Stimmungsqualitäten auf, denn 37 38 39

Lewin 1926, 359. Musil 1978, Bd. VIII, 1152. Vgl. exemplarisch de Sousa 1987.

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der Liebende sieht normalerweise nicht nur die auserwählte Person, sondern auch weite Teile der übrigen Welt mit anderen Augen. Für die Kunst sind Stimmungen besonders wichtig, weil durch sie andere Dinge in den Blick gerückt werden als die, auf die eine Emotion als eine bestimmte normalerweise fixiert ist. Wenn die unterdrückte Wut auf den permanent unpünktlichen Gatten sich zu einer unbestimmten Gereiztheit hin entwickelt, wird sie auch weitere Teile der Welt, ja schließlich die ganze Welt in ihrem Sinne färben. Und ebendies kann auch die Liebe einer Person auf ihre Weise tun. Grundsätzlich können durch Stimmungen bestehende Fixierungen aufgelöst und Dinge anders – neu – gesehen und bewertet werden. Mit Musil könnte man Kunst, insoweit sie Gefühlsausdruck ist, als Ausdruck solcher neuer Sichtweisen der Welt verstehen und Kunst dementsprechend wesentlich eine kognitive Funktion zuschreiben. Kunst ist demnach intentionaler Ausdruck der Emotionen des Künstlers, wobei diese Emotionen nicht den gewöhnlichen, sondern außergewöhnlichen, neuen Gestaltqualitäten entsprechen, so dass sich die ausgedrückte Weltsicht unmittelbar „gegen den Kitsch sowohl wie die moralische Engstirnigkeit als eine formelhafte Verkürzung des Gefühls“ richtet.40 „Entformelter“ Emotionsausdruck lässt sich allerorts in Musils Werk nachweisen, wenn er etwa im Fliegenpapier die festklebenden Fliegen in einem Atemzug mit „klapprige[n] alten Militärs“ und mit „Tabiker[n]“ vergleicht, „die sich nichts anmerken lassen wollen“;41 oder wenn er in den Vereinigungen Claudine die „Vollendung der Liebe“ zu ihrem Mann im Geschlechtsakt mit einem anderen finden lässt;42 oder wenn er in dem Essay Das Unanständige und Kranke in der Kunst zum Vergleich für eine Operationswunde einen Mund heranzieht, den man küssen möchte, „die wehrlose Haut der Lippen daraufpressen“.43 Es ist nicht das Ziel dieses Aufsatzes, die Frage zu diskutieren, ob Kunst über ihre kognitive Funktion hinaus weitere Funktionen erfüllt (z. B. eine moralische, wie sie ihr Musil ebenfalls zusprechen würde). Eine weitere potentielle Funktion sei gleichwohl diskutiert, zumal sie mit der expressiven vermutlich unmittelbar gegeben ist. Oben wurden expressive Handlungen als Handlungen definiert, die nicht Mittel zu einem von ihnen selbst verschiedenen Zweck sind. Hat aber Kunst nicht in jedem Falle eine über die bloß expressive hinausgehende kommunikative Funktion? Ja, geht es nicht überhaupt, um den eingangs angeführten Einwand von Kutscheras wiederaufzugreifen, weniger darum, das Welterleben des Künstlers auszudrücken, als vielmehr darum, den Betrachter die Welt in bestimmter Weise erleben zu lassen? Meines Erachtens lassen sich diese beiden Funktionen nur schwer trennen. Bereits auf basaler Ebene ist das Ausdruck von Emotionen immer zugleich Kommunikation: stereotype Gesichtsausdrücke haben zugleich eine signalisierende und insofern eine kommunikative Funktion. Ebenso haben expressive Handlungen und hat Emotionsausdruck in der Kunst vermutlich immer schon 40 41 42 43

Musil Musil Musil Musil

1978, 1978, 1978, 1978,

Bd. Bd. Bd. Bd.

VIII, 1152. VII, 476. VI, 156ff. VIII, 978.

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eine kommunikative Funktion, wobei hier nicht beschrieben oder „gesagt“, sondern „gezeigt“ wird. Das heißt gerade nicht, dass sich intentionaler Emotionsausdruck dadurch rationalisieren läßt, dass der Akteur bzw. Künstler mit der Handlung bzw. dem Werk kommunikative Absichten verfolgt. Damit will ich nicht ausschließen, dass ein Künstler mit einem Werk auch kommunikative und vielleicht auch noch ganz andere (wie etwa finanzielle) Absichten verfolgen. Diese sind jedoch für den Status des Werkes als kognitive Expression irrelevant. Analog kann das Werfen einer Tasse an die Wand immer noch eine expressive Handlung sein, wenn ich mit dieser Expression zusätzlich die Absicht verfolge, meinem Partner mitzuteilen, dass ich mich über seine permanente Unpünktlichkeit ärgere. Eine Handlung oder ein Kunstwerk können expressiv sein und zugleich kommunikativ. Kommunikation ist dabei unabhängig von Expression, wie sich darin zeigt, dass, wenn ich mit dem Werfen der Tasse an die Wand eine rein kommunikative Absicht verfolgte und lediglich so täte, als sei ich wütend, sich meine Handlung nicht mehr als Expression qualifizierte. Schließlich brauche ich dazu gar nicht wütend auf meinen Partner zu sein und auch nie gewesen zu sein: vielleicht will ich bloß dazu bringen, etwas für mich zu tun. Als Expression ist eine Handlung nicht Mittel zu einem von ihr unabhängigen Zweck. Ist aber Emotionsausdruck in der Kunst wirklich kognitiv? Wie eingangs dargelegt, bedeutet „kognitiv“ hier zunächst, dass Kunst die Welt repräsentiert. Hat aber Kunst dabei eine welterschließende, epistemische Funktion? Man mag hier versucht sein anzunehmen, dass Kunst unter der hier vorschlagenen Lesart immer nur subjektive Projektionen des Künstlers ausdrückt. Schließlich werden ja evaluative Eigenschaften wie das Furchterregende, das Beschämende, das Ekelhafte, das Bewundernswerte, das Entzückende und schließlich das Schöne von vornherein nicht durch Objekte instantiiert. Dieser Einwand scheint mir verfehlt. Richtig ist, dass gemäß der hier vorgestellten adverbialen Theorie evaluative Eigenschaften keine Eigenschaften einer metaphysisch robusten Außenwelt sind. Sie sind vielmehr Eigenschaften, die dadurch instantiiert werden, dass sich die Welt im menschlichen Erleben auf bestimmte Weise präsentiert, indem bestimmte ihrer Aspekte in den Fokus gerückt und zu einer Gestalt organisiert werden. Damit sind erstens die dargestellten Aspekte immer noch Aspekte der Welt. Zweitens ist der Aufbau einer Gestaltqualität keineswegs beliebig, sondern muss bestimmten Gestaltprinzipien folgen. Und drittens schließlich beinhaltet die emotionale Gestaltqualität als Komponenten erster Ordnung kognitive Zustände wie Meinungen, die auf ihre Wahrheit hin bewertet werden können. Mit anderen Worten ist die gestalthafte Organisation im emotionalen Erleben keineswegs beliebig – und ebensowenig ist es ihr Ausdruck in der Kunst. Literaturverzeichnis

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Literatur, Aufmerksamkeit und epistemische Emotionen1

1.

Einleitung

Einige Philosophen halten Skepsis gegenüber der Annahme für angebracht, dass Literatur (d. h. literarische Fiktion) für die Wahrheit der darin vorgebrachten Behauptungen von sich aus Evidenz liefern kann. Bisweilen wurde sogar bestritten, dass Literatur überhaupt Behauptungen enthält, die wahr oder falsch sein können, womit ihr Erkenntniswert bescheiden ausfiele oder gar nichtig wäre. Mit anderen Worten, diese Philosophen vertreten die Auffassung, dass literarische Werke mit Wissen und Erkenntnis nichts zu tun haben.2 Fairerweise muss man anmerken, dass die Mehrheit der Philosophen, die über dieses Thema schreibt, den Erkenntniswert literarischer Fiktion zu verteidigen versucht.3 Es lassen sich zwei grundsätzliche Strategien ausmachen, mit Hilfe derer dieses Ziel verfolgt wird. Erstens: Selbst wenn Literatur von sich aus kein propositionales Wissen im engeren Sinne zu vermitteln vermag, wie einige bereit sind einzuräumen, so kann man durch sie doch Wissen in einem weiter gefassten Sinn erlangen, welches mit Begriffen wie „Wissen-wie“, „Verstehen“ oder „Einsicht“ zu erfassen versucht wird. Zweitens: Andere richteten ihren Blick auf die spezifischen Wissensgebiete, zu welchen Literatur mutmaßlich einen Beitrag leisten kann. Die Gebiete der Moral und der Moralpsychologie wurden in diesem Zusammenhang vornehmlich diskutiert. Einige Philosophen gingen indes darüber hinaus und stellten die Behauptung auf, dass Literatur zum Beispiel neue Sichtweisen auf die Welt im Allgemeinen anzuregen und unsere

1

2 3

Dieser Aufsatz wurde im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes geschrieben, der vom SNF finanziert wurde. Ich möchte Franziska Müller für ihre phantastische Hilfe bei der Übersetzung sowie den Herausgebern dieses Bandes für ihre hervorragenden und aufschlussreichen Kommentare bedanken. Alle Zitate aus englischsprachigen Texten wurden vom Verf. ins Deutsche übertragen. Vgl. Lamarque/Olsen 1996. Vgl. Nussbaum 1992, Gaut 2006, Gibson 2012.

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verschiedenen diesbezüglichen Gedanken, Einstellungen und emotionalen Reaktionen nachhaltig zu beeinflussen vermag.4 Es ist nicht das Ziel dieses Aufsatzes einen Beitrag zur Debatte zu leisten, ob die Literatur einen Erkenntniswert haben kann oder nicht. Vielmehr möchte ich davon ausgehen, dass die Verfechter eines solchen Werts mit ihren Behauptungen Recht haben. Allerdings bedürfen ihre Darstellungen einer Ergänzung, damit im Einzelnen erkenntlich wird, wie es sein kann, dass Literatur diesen Wert hat, der ihr zugeschrieben wird. Um dies zu erreichen, müssen wir untersuchen, und zwar präziser als dies Philosophen bislang getan haben, wie die Literatur diesen Wissenserwerb begünstigt – in Anbetracht der Rolle, die Emotion, Aufmerksamkeit und Vorstellungsvermögen bei ihrer Beurteilung spielen. Ich werde den Fokus insbesondere auf die kognitiv-affektiven Mechanismen legen, die der imaginativen Auseinandersetzung mit Fiktion zugrunde liegen, sowie auf die epistemischen Funktionen, welche die daher rührenden emotionalen Reaktionen haben können. Der Aufbau des Beitrags gestaltet sich folgendermaßen. Im ersten Teil liefere ich eine allgemeine Darstellung unserer emotionalen Reaktionen auf Fiktion. Dies ist ein notwendiger erster Schritt zum Verständnis des komplexen Wechselspiels von Aufmerksamkeit und Vorstellungsvermögen, welches bei der Erzeugung und Prägung unserer fiktionsbezogenen emotionalen Reaktionen zum Tragen kommt. Wir werden sehen, dass diese Reaktionen insofern eine epistemische Funktion aufweisen, als die Emotionen an unsere Fähigkeit des praktischen Schließens anknüpfen. Im zweiten Teil beleuchte ich eine neuere Diskussion in der Psychologie, in welcher diese Zustände – zusammengefasst unter dem Sammelbegriff ästhetische Emotionen – der Kategorie der verfeinerten Emotionen5 zugeordnet werden, wobei der Begriff einer involvierten Distanziertheit eine Rolle spielen wird. Diese Vorstellung fügt sich, behaupte ich, zwanglos in das im ersten Teil skizzierte Bild ein und dient dazu, die epistemische Natur von fiktionsbezogenen Emotionen weiter zu erhellen. Ihre typischen Merkmale ermöglichen es diesen emotionalen Zuständen in ihrer Qualität als Reaktionen auf Literatur eine doppelte epistemische Rolle zu spielen. Auf der einen Seite laden uns unsere emotionalen Reaktionen auf literarische Fiktion dazu ein, und versetzen uns gleichzeitig dazu in die Lage, uns näher mit der Natur unserer eigenen emotionalen Erfahrungen und Perspektiven zu befassen. Auf der anderen Seite schließen die Natur und die Typen von Emotionen, die durch solche Werke erweckt werden, üblicherweise die Fähigkeit mit ein, diejenigen feinkörnigen, nuancierten und imaginativ-perzeptuellen Unterscheidungen vorzunehmen, die für moralische Erkenntnis ebenso erforderlich sind wie für die spezielle Art von Einsicht und Verstehen, die manche Philosophen (e. g. John Gibson, Richard Shusterman, Martha Nussbaum, Greg Currie) mit Nachdruck als einen eigentümlichen Wert der literarischen Wertschätzung bezeichneten.

4 5

Vgl. Gibson 2012. Verfeinern ist, wie wir sehen werden, ein Modus, Emotionen zu qualifizieren (anstatt des Abgrenzens einer Klasse von Emotionen), für den Selbstreflexion, besonnener Genuss, Verhaltensbeschränkung u. a. charakteristisch sind.

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2.

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Fiktionsbezogene Emotionen

Was gemeinhin als das Paradox der Fiktion bekannt ist, ist das prima facie verwirrende Phänomen, dass wir gegenüber fiktionalen Figuren, Ereignissen und Situationen emotionale Reaktionen zeigen, obwohl verschiedene Eigenschaften, die für unsere gewöhnlichen emotionalen Reaktionen bezeichnend sind, deren Auftreten im Zusammenhang mit Fiktion auszuschließen scheinen. Zwei dieser Eigenschaften werden gemeinhin angeführt, nämlich (a) existenzbezogene Überzeugungen über die betreffenden Objekte und deren Eigenschaften sowie (b) Verbindungen zu Verhalten und Handlungen. Ich werde dafür argumentieren, dass wir die Rolle, die das Vorstellungsvermögen in unserer Auseinandersetzung mit Fiktion spielt, als funktional äquivalent betrachten sollten zu derjenigen, die sie (d. h. das Vorstellungsvermögen) in Gestalt der Akzeptanz beim praktischen Schließen spielt.6 Dabei möchte ich nahe legen, dass beiden Tätigkeiten die gleichen kognitiv-affektiven Mechanismen zugrunde liegen. So gesehen scheint unsere imaginative Auseinandersetzung mit Fiktion auf unproblematische Weise Emotionen auszulösen, allerdings nur insofern als wir nicht zeitgleich auf unsere epistemische Relation zur Fiktion achten, sprich der Tatsache umfassende Beachtung schenken, dass das Objekt unserer Reaktion lediglich fiktional ist. Unsere Fähigkeit, Fiktionalität sozusagen einzuklammern ermöglicht es uns, in der Vorstellung praktische Schlüsse durchzuführen. Sie ist damit ein grundlegendes Element unserer kognitiven Architektur und als solches mitnichten verwirrend. Dass wir uns jedoch (im normalen, rationalen Fall) in einem gewissen Sinne der Fiktionalität der Objekte bewusst sind, auf die wir emotional reagieren, zeigt sich anhand der Tatsache, dass unser Reaktionsverhalten gegenüber fiktionalen Szenarien markant abweicht von dem durch nicht-fiktionale Szenarien verursachten: Wir springen nicht auf die Bühne, um die Heldin zu retten, wenngleich wir möglicherweise Tränen vergießen ob ihrer Notlage. Dies zeigt sich auch anhand der augenscheinlichen Tatsache, dass das phänomenologische Profil unserer affektiven Reaktionen auf Fiktion zwar ähnlich ist, aber nicht identisch mit demjenigen unserer Reaktionen auf Nicht-Fiktion: Wir sind bestürzt über Anna Kareninas Schicksal, aber wahrscheinlich „weniger“ bestürzt (oder vielleicht auf eine andere Art bestürzt), als wir es wären, wenn wir eine solche Anna aus Fleisch und Blut persönlich gekannt hätten. Jede Theorie über die Natur fiktionaler Emotionen muss diese beiden Besonderheiten erklären.7 Eine solche Erklärung hängt meines Erachtens vorrangig an der Rolle, die unser Gewahrsein dessen, was ich Form (oder formale Merkmale) nennen werde, bei der Beurteilung von Fiktion und fiktionsbezogenen Emotionen spielt. Dieses Gewahrsein lässt sich ebenfalls mittels der gewöhnlichen kognitiv-affektiven Mechanismen erklären, die unsere alltäglichen emotionalen Reaktionen auf das Nicht-Fiktionale ausmachen. Die populärste Lösung des Paradoxes der Fiktion besteht darin, die angeblich engmaschige Verknüpfung von emotionalen Reaktionen einerseits sowie Überzeugungen und Handlungen andererseits zu lockern und zuzulassen, dass echte Emotionen auch durch 6 7

Ich werde deshalb ebenfalls dafür argumentieren, dass der Zustand der Akzeptanz im praktischen Schließen ein Zustand des Vorstellens ist. Schroeder/Matheson 2006, 19–40.

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solche nicht behauptete, zum Schein behauptete Gedanken verursacht werden können, wie sie für die Phantasie oder das So-tun-als-ob charakteristisch sind, und dass sich die Emotionen dabei auf den Gehalt solcher Gedanken beziehen.8 Zusätzlich zur intuitiven Plausibilität dieser Lösung mehren sich die empirischen Belege dafür, dass sich gewisse originäre emotionale Reaktionen und einige der damit verbundenen Handlungstendenzen gleichermaßen durch imaginierte wie durch wirkliche Objekte und Situationen hervorrufen lassen.9 Ferner argumentieren prominente philosophische Theorien jüngeren Datums, die sich ebenfalls auf psychologische und neurowissenschaftliche Forschung stützen, in dieselbe Richtung.10 So verficht Tamar Gendler mit Verweis auf einige empirische Studien beispielsweise die Ansicht, dass unsere Fähigkeit auf bloß vorgestellte Stimuli mit originären Emotionen zu reagieren, grundlegender Bestandteil unserer kognitiven Architektur ist.11 Sie hebt insbesondere Antonio Damasios Forschung hervor, die zu zeigen scheint, dass wir Aufgaben im praktischem Schließen, welche vorgestellte Szenarien bezüglich unserer zukünftigen Entscheidungen und Handlungen betreffen, nur lösen können, wenn somatisch kodierte emotionale Reaktionen mit einbezogen werden.12 Der Zusammenhang von Vorstellungsvermögen und praktischem Schließen legt nahe, dass unsere Fähigkeit zur emotionalen Auseinandersetzung mit Fiktion ein grundlegender Bestandteil unserer kognitiven Architektur ist. Wir glauben oft aus Fiktion Lehren zu ziehen, oder dass guter Fiktion ein Erkenntniswert zukommt, und viele Philosophen vertraten den Standpunkt, dass insbesondere die Erzählliteratur moralische Erkenntnis vermittelt, unsere Emotionen kultiviert und sogar unsere allgemeinen Werte und Weltanschauungen beeinflussen kann.13 Fiktionen lassen sich sonach als Gedankenexperimente betrachten, welche den Gedankenexperimenten des praktischen Schließens in einem gewissen Sinne entsprechen, und die in manchen Fällen vielleicht sogar zu Handlungen führen können. Wir würden zum Beispiel eher geneigt sein, nach der Lektüre von 1984 gegen staatliche Überwachungsmaßnahmen zu stimmen, den Vegetarismus ernst zu nehmen oder Geld zu spenden für Tierschutzorganisationen, nachdem wir Schande gelesen haben, oder dem Verbrechen zu verfallen, nachdem wir in Ocean’s Eleven gesehen haben, wie leicht es ist, Kasinos auszurauben.14 Ferner lässt sich eine plausible evolutionspsychologische Geschichte erzählen über die Natur und den Wert der Auseinandersetzung mit Fiktion, wenn davon ausgegangen wird, dass das Vorstellungsvermögen und Emotionen in dieser Art zum Einsatz kommen. So argumentiert beispielsweise Paul Harris: „Hätten wir nicht ein System der Entscheidungsfindung herausgebildet, welches unsere Emotionen auf der somatischen Ebene in die Abwägung möglicher Leben und möglicher Zukunftsszenarien einbezieht, 8 9 10 11 12 13 14

Vgl Moran 1994, 75–106, Neill 1993, 1–13, Lamarque 1996, Currie 1995, 250–259, Currie 1997, 63–77, Gaut 2003, 15–34, Brock 2007, 211–242. Damasio 1995, Gendler/Kovakovich 2005, 241–253, Schroeder/Matheson 2006. Choi 2003, 149–157, Prinz 2004, Robinson 2005. Gendler 2006, 125–142, Gendler/Kovakovich 2005. Gendler 2006, 136. Nussbaum 1992, Kieran 1996, 337–351. Vgl. Gendler 2006 für eine weitere Diskussion von Fällen, die sie als „affektive Übertragung“ bezeichnet.

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dann wären wir weniger dazu geneigt, so viele Stunden in fiktionalen Welten zu verbringen, wie wir das tun.“15 Die Wertschätzung von Fiktion hängt damit nicht nur ab vom Gebrauch kognitiver Ressourcen, die für das menschliche Verhalten und Wohlbefinden entscheidend sind, sondern bietet darüber hinaus den idealen Anlass, um diese Fähigkeiten auszubilden und zu trainieren. Demnach möchte ich behaupten, dass bei beiden Tätigkeiten die gleichen grundlegenden kognitiv-affektiven Mechanismen beteiligt sind und dass es für die Existenz solcher Mechanismen gute evolutionäre Gründe gibt. Um genauer zu sehen, was für eine Art imaginativer Verbindlichkeit hier gemeint ist und wie sie unsere emotionalen Reaktionen hervorruft, wollen wir uns für einen Moment dem Begriff der Akzeptanz zuwenden, dem einige Philosophen (e. g. Jonathan Cohen, Michael Bratman, David Velleman) eine zentrale Rolle für das praktische Schließen zugeschrieben haben. Ich schlage vor, die Rolle des Vorstellungsvermögens bei unserer Auseinandersetzung mit Fiktion und beim praktischen Schließen als äquivalent zu betrachten. Jonathan Cohen und Michael Bratman zufolge können praktische Zwänge dazu führen, dass eine Proposition im Interesse der praktischen Abwägung akzeptiert wird, wobei diese Proposition nicht geglaubt werden muss und sogar bezweifelt werden kann.16 Um ein prosaisches Beispiel zu nehmen: Ich mag aus prudentiellen Gründen davon ausgehen, dass es heute Abend regnen wird, in dem Sinne, dass ich dies bei meiner Abwägung voraussetze und einen Schirm einpacke, obwohl ich nicht darauf wetten würde und sogar gute Gründe habe zu glauben, dass es nicht regnen wird. Akzeptieren in diesem Sinne spielt somit eine zentrale Rolle beim praktischen Schließen und unterscheidet sich von Überzeugungen in mehreren wichtigen Hinsichten. Cohen behauptet zum Beispiel, dass Überzeugungen passive Dispositionen sind, p für wahr zu halten, während Akzeptieren ein kontextbedingter und willentlicher mentaler Akt ist: „Zu akzeptieren, dass p, heißt nichts anderes als die Strategie zu haben oder sich anzueignen, dass p zu meinen, setzen oder postulieren – das heißt, diese Proposition im Weiteren mit sich zu führen […] als eine Prämisse in einigen oder allen Kontexten, welche die eigenen oder fremde Beweise, Argumente, Schlüsse, Abwägungen betreffen […].“17 Bratman stellt die Akzeptanz ebenfalls der Überzeugung gegenüber. Erstere, im Unterschied zur zweiten, sei kontextunabhängig und willentlich, nicht wesenhaft auf Wahrheit abzielend und unterliege keinem „Ideal der Integration“, müsse also mit den restlichen eigenen Überzeugungen nicht kohärent oder konsistent sein. Können wir Akzeptanz in diesem Sinne mit einer Ausübung des Vorstellungsvermögens gleichsetzen? Es scheint klar, dass diese Dinge vorgestellt sind, soweit praktisches Schließen das Ausmalen hypothetischer und zukünftiger Szenarien beinhaltet,. Das Vorstellen, dass p, gilt gemeinhin als willentlicher Akt, als dem Willen bis zu einem gewissen Grad zugänglich, und ferner kann das, was wir uns vorstellen, von Kontext zu Kontext variieren. Verschiedene Philosophen haben ferner angemerkt, dass wir, wenn wir uns mit solchen Unterfangen der Vorstellung im Zusammenhang mit praktischem Schließen oder mit Fiktion beschäftigen, fähig sind (und in letzterem Falle geradezu da15 16 17

Harris 2000, 88. Cohen 1989, 367–389, Cohen 1992, Bratman 1992, 1–15. Cohen 1989, 368.

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zu angehalten, wenn wir uns angemessen damit auseinandersetzen wollen), dieselben Inferenzmuster einzuhalten wie bei den äquivalenten Überzeugungen.18 Am wichtigsten aber ist die Feststellung, dass gewisse Typen imaginativer Tätigkeit weitaus „vollblütiger“ sind als bloße Vermutungen und zudem eine enge Verbindung haben zu Emotionen, Handlungen und zum praktischem Schließen. Wie bereits erwähnt gibt es gute Gründe dafür anzunehmen, dass echte emotionale Reaktionen und einige der damit verbundenen Handlungstendenzen sowohl durch bloß vorgestellte wie auch durch reale Objekte und Situationen hervorgerufen werden können. Angesichts von Damasios Forschung ist es überdies plausibel davon auszugehen, dass im Kontext des praktischen Schließens Akzeptanz vielfach solche emotionalen Zustände erzeugt, erfordern es solche Schlussfolgerungen doch oftmals, dass die möglichen Konsequenzen, die unsere Handlungen für unser Wohlbefinden haben, vorhergesehen werden. Die effizienteste Art dafür ist sicherlich die Erregung autonomer, somatischer Reaktionen, die mit emotionalen Zuständen gekoppelt sind (oder diese konstituieren). In der Tat hängt praktisches Schließen zum Teil davon ab, dass wir wissen, wie wir uns in Bezug auf gewisse Entscheidungen fühlen würden oder aber was das bestmögliche Gefühl im Bezug darauf wäre. Praktisches Schließen kann demnach oft auf unsere emotionalen Reaktionen gerichtet sein, sofern wir diese als rational und gestaltbar annehmen. Wie viele betont haben, spielt die Fähigkeit, uns selbst und andere in verschiedenen imaginären Situation vorzustellen, somit nicht nur in abstrakten Erwägungen dessen, was zu tun ist, eine wichtige Rolle, sondern auch darauf bezogen, wie es sich anfühlen würde, wenn wir es tatsächlich tun würden.19 Angesichts dieser Überlegungen scheint es plausibel anzunehmen, dass, was das praktische Schließen betrifft, Akzeptanz ein Akt des Vorstellens ist, oder zumindest an zentraler Stelle einen solchen beinhaltet.20 Fiktion kann ebenfalls in Konflikt stehen mit dem, was wir glauben, und zwar genau in derselben Art und Weise wie das, was wir im Interesse der Abwägung akzeptieren, in Konflikt stehen kann mit dem, was wir glauben. Bratman legt nahe, dass wir im zweiten Fall die relevanten Überzeugungen „einklammern“ können, um so den Konflikt aus dem bewussten Bereich zu verbannen.21 Um erklären zu können, wie es möglich ist, dass wir einerseits die Fiktionalität nie außer Acht lassen – wir springen nie auf die Bühne –, wir uns andererseits jedoch auf eine Art in der imaginativen Auseinandersetzung „verlieren“, die ihrerseits eine notwendige Grundlage für fiktionsbezogene Emotionen ist, stelle ich die Behauptung auf, dass die Überzeugung, welche wir einklammern müssen, um uns auf der Vorstellungsebene vollumfänglich auf das Werk einzulassen, die Überzeugung hinsichtlich der Fiktionalität des Werkes ist. Über den Begriff der Aufmerksamkeit können wir eine erste Annäherung an diesen Begriff des Einklammerns erreichen. Es sollte kaum erstaunen, dass unsere emotionale Auseinandersetzung mit fiktionalen Begebenheiten normalerweise gestört, geschwächt oder gelegentlich sogar verhindert wird, wenn wir zeitgleich unsere volle aktive Auf18 19 20 21

Vgl. beispielsweise Currie 2002, Meskin/Weinberg 2003, 18–34. Currie 1995, Walton 1997, 37–49, Currie/Ravenscroft 2002. Siehe Velleman 2000 für eine stärkere Lesart. Bratman 1992, 10–11.

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merksamkeit auf ihre Fiktionalität richten. Was bedeutet es jedoch, die gegenwärtige aktive Aufmerksamkeit vollständig auf die Fiktionalität eines Objekts eigener Emotionen zu richten? In psychologischer Hinsicht sind die Dinge vertrackt. Die Tätigkeit des Einklammerns, die Art der Aufmerksamkeit, unser Gewahrsein hervorstechender Merkmale lässt offensichtlich Grade zu, und kann mehr oder weniger erfolgreich sein. Wir können den Fokus willentlich auf ein Merkmal richten zu Lasten eines anderen; wir können möglicherweise zwei Dinge zugleich wahrnehmen; wir können zwischen Objekten der Aufmerksamkeit hin und her schwanken; unsere Aufmerksamkeit kann auch, sei es aus Zufall oder mit Absicht, auf zuvor unbemerkte Merkmale gelenkt werden. Es ist für gewöhnlich nicht so, dass wir gleichsam schwanken zwischen einem SichVerlieren in der Geschichte und einem In-Erinnerung-Rufen, dass es nur eine Geschichte ist. Wenn dies tatsächlich einmal geschieht, erachten wir es eher als einen suboptimalen Zustand der Auseinandersetzung, womöglich bedingt durch Mängel in der Erzählweise oder weil wir uns aus irgendeinem Grund um emotionale Unberührtheit bemühen. Warum sonst würden wir, wenn wir uns auf Fiktion einzulassen versuchen, so energisch all die Vorkehrungen treffen, die uns dabei helfen sollen, die Außen-Welt – die Fiktionalität der Fiktion – an den Rand zu drängen? Wir klammern also (oder versuchen das, so gut es geht) den nicht zur Geschichte gehörigen Kontext, die bloße Fiktionalität des Werks aus, während wir seinen Gehalt imaginativ akzeptieren, und in der Vorstellung die im Werk ausgedrückten Propositionen für verbindlich erklären. Und hier kommt uns natürlich häufig Hilfe zu, zumindest im Falle visueller Fiktion, nämlich durch die verschiedenen Rezeptionsumstände wie gedämpftes Licht, Stille, verstärkte Akustik und anderes mehr. Im Lichte dieser kurzen Bemerkungen können wir hier eine nützliche, wenn auch grobe Unterscheidung treffen zwischen einem eher passiven und dispositionalen Begriff des bloßen „Gewahrseins“ und einem aktiveren und gegenwärtigen Bewusstseinszustand, den wir „Aufmerksamkeit“, „Fokussieren“ oder „[als fiktional] Repräsentieren“ nennen können. Was den ersteren, passiven Begriff betrifft, so möchte ich festhalten, dass wir das Gewahrsein der Fiktionalität des Objekts niemals ganz ablegen können, in dem Sinne, dass unser Zustand einer der willentlichen Akzeptanz wäre, denn wir können uns stets in Erinnerung rufen, dass es nur eine Geschichte ist, und wir eilen der bedrängten Heldin auf der Bühne nicht zu Hilfe. Wenn wir uns imaginativ und emotional auf eine Fiktion einlassen, ist unsere Überzeugung nichtsdestoweniger bezüglich der Fiktionalität insofern auf angemessene Weise eingeklammert und an den Rand gedrängt, als wir unsere Aufmerksamkeit weder aktiv noch vollständig auf die Tatsache richten, dass es nur eine Fiktion ist. Dieser Begriff des Einklammerns von Überzeugungen über Fiktionalität lässt sich durch eine plausible Darstellung des propositionalen Vorstellens von Brian O’Shaughnessy verdeutlichen: Wenn man sich vorstellt, dass p, so hat man den Fokus der geistigen Aufmerksamkeit alleine auf den Sachverhalt gerichtet, der durch ,p‘ bezeichnet wird. Daraus folgt unter anderem, dass die geistige Aufmerksamkeit für die Dauer des Vorstellens nicht auf die eigene epistemische Relation zu ,p‘ gerichtet sein kann. Während des gegenwärtigen Vorstellens, dass p, denkt man sonach nicht

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C T gleichzeitig an die Tatsache, dass man sich nur vorstellt, dass p, oder dass man nicht glaubt, dass p, oder dass ,p‘ nicht wahr ist.22

Dies erläutert trefflich, wieso es in der Tat verwirrend oder unmöglich wäre, würden fiktionsbezogene Emotionen dort auftreten, wo wir die Aufmerksamkeit vollumfänglich und gegenwärtig auf das Werk als Fiktion gerichtet haben, während wir gleichzeitig von der Geschichte gefangen genommen sind; denn die Aufmerksamkeit auf den Umstand der Fiktionalität zu richten heißt ganz einfach die Aufmerksamkeit auf die eigene epistemische Relation zu p zu richten. Es ist die Überzeugung bezüglich dieser Tatsache, die wir einklammern, wenn wir uns auf die Art und zu dem Grad imaginativ auf Fiktion einlassen, die als Grundlage für fiktionsbezogene Emotionen erforderlich sind. Wenn wir also eine Einklammerung vornehmen, dann können wir für gewöhnlich der Fiktionalität des Werkes, auf welches wir uns imaginativ und emotional einlassen, als solcher keine vollständige Aufmerksamkeit zollen. Im Normalfall „weiß“ man also nicht, dass das Objekt, mit dem man sich gerade auseinandersetzt, nur fiktional ist, man hat seine Aufmerksamkeit nicht vollständig, gegenwärtig und aktiv auf die Fiktionalität des Objekts seiner Emotionen als solche (und damit auf die eigene epistemische Relation zu diesem Objekt) gerichtet. Dies ist jedoch durchaus verträglich mit einem passiven Gewahrsein von p-als-Fiktion, zumal es nur verlangt, dass man dieser Tatsache keine aktive und vollständige Beachtung schenkt, währenddessen man sich die entsprechende Proposition vorstellt. Ein Aspekt der Fiktionalität hingegen spielt eine zentrale Rolle bei unserer imaginativen Auseinandersetzung mit Fiktion sowie beim Zustandekommen und der Natur unserer fiktionsbezogenen Emotionen. Dies ist nicht die rein epistemische Verbindung zur Fiktionalität, die oben vorgeschlagen wurde, sondern vielmehr unser Bewusstsein der formalen Eigenschaften des fiktionalen Werkes; grob gesagt diejenigen Eigenschaften, die sozusagen das Vehikel für den Gehalt darstellen, auf den wir emotional reagieren.23 Die speziell abgeklärte und trostlose Art und Weise, in welcher Coetzee Michaels Reise in Leben und Zeit des Michael K. beschreibt, beeinflusst unsere emotionalen Reaktionen auf K. und unsere Auseinandersetzung mit der Erzählung.24 In dieser Hinsicht unterscheidet sich die fiktionale Akzeptanz entscheidend von der Akzeptanz, wie sie im alltäglichen praktischen Schließen vorkommt. Die Erläuterung dieses Unterschieds wird es uns erlauben darauf einzugehen, warum sich, was Verhalten 22 23

24

O’Shaughnessy 2000, 362. Für weitere Diskussionen siehe: Stock 2006, 37–58. Schroeder/ Matheson 2006, 24. Eine beachtenswerte Ausnahme ist Robinson 2005, die argumentiert, dass formale Eigenschaften die Rolle von „Vermittlungselementen“ spielen bei der Bewältigung unserer emotionalen Reaktionen auf Fiktion. Ich werde diesen Ansatz hier nicht besprechen, zum Einen weil er auf negative Emotionen beschränkt ist und zum Anderen weil er es verfehlt anzuerkennen, dass die formalen Eigenschaften schlichtweg nicht immer die Rolle einer Bewältigungsstrategie spielen, zumal unsere Beurteilung negativer Emotionen und Situationen oftmals nicht von einer Bewältigung in dem Sinn herrührt, wie sie behauptet, sondern von der direkten Konfrontation mit solchen Emotionen. Ich erachte dies als hinreichend offensichtlich, so dass es keine längere Erläuterung der konkreten Beispiele erfordert. Dieser Ansatz setzt hingegen offensichtlich eine gewisse Verzahnung von Form und Gehalt voraus, die hier nicht vollständig dargelegt werden kann. Siehe Thomson-Jones 2005 für eine ausführlichere Darstellung.

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und Phänomenologie betrifft, unsere emotionalen Reaktionen auf Fiktion von unseren nicht-fiktionsbezogenen Emotionen unterscheiden. Außer wenn wir unter einer Art von Illusion oder Irrationalität leiden, ignorieren wir formale Eigenschaften niemals ganz. Und auch wenn es offensichtlich erscheinen mag, dass wir formale Eigenschaften oder den Gehalt, welchen diese vermitteln, wahlweise mehr oder weniger beachten können, ist es wohl ein sine qua non normalen fiktionalen Erlebens, dass wir zugleich sowohl die Form als auch den Gehalt in gewisser Weise nicht ganz außer Acht lassen. Wir erleben normalerweise etwas wie die „Verdoppelung“ (twofoldness), die gemäß Wollheim für unser Erleben von bildlicher Darstellung charakteristisch ist. Darüber hinaus determiniert die Form teilweise die Natur dieses Gehalts und ein Teil dessen, was wir an Fiktion und an der Kunst im Allgemeinen schätzen, ist genau diese Verbindung zwischen Form und Gehalt.25 Kurz gesagt scheint es, als ob jede mögliche Darstellung von fiktionalem Erleben bedingt, dass unser Erleben von Form und Gehalt nicht so einfach getrennt werden kann. Zumindest in normalen Fällen liegt es an den Fertigkeiten des Künstlers/Autors/ Regisseurs Form und Gehalt so zu kombinieren, dass unsere Aufmerksamkeit nicht in unerwünschter Weise und gänzlich auf Kosten des emotional relevanten Gehalts hin auf die Art und Weise gerichtet wird, in welcher die fiktionale Welt dargestellt ist. Dies bedeutet, dass wir in normalen Fällen den formalen Eigenschaften nicht um ihrer selbst willen volle Aufmerksamkeit schenken, und sofern wir es tun, werden unsere fiktionsbezogenen Emotionen für gewöhnlich nicht entfacht. Wo dies so geschieht, beurteilen wir die Fiktion tatsächlich oftmals als mangelhaft, wohingegen wir es für ein Qualitätsmerkmal guter Fiktion halten, wenn sie durch geschickte Kombination von Form und Gehalt diese unvorteilhafte Lenkung unserer Aufmerksamkeit auf formale Eigenschaften vermeiden kann.26 Diese Rolle, welche das Bewusstsein der Form in unserem emotionalen Erleben spielt, fügt sich zudem in den generellen kognitiven Theorierahmen ein, den ich zu skizzieren versucht habe. In bemerkenswerter Hinsicht nähern wir uns den Kunstwerken ähnlich wie den Menschen, welche sie kreiert haben. Wir betrachten, schätzen und erleben sie mit einer (zumindest) impliziten Hintergrundüberzeugung bezüglich ihrer Gemachtheit, die es uns erlaubt, die formalen Eigenschaften der Werke als Produkte eines kreativen Prozesses zu sehen, die sich aus einem bestimmten Grund dort finden. Das heißt, ein Teil des standardmäßigen kognitiven Hintergrunds einer solchen Auseinandersetzung mit Kunst besteht im Akzeptieren ihrer Gemachtheit, wobei die formalen Eigenschaften als bedeutsam und als Ausdruck einer solchen Fertigung wahrgenommen werden. 25

26

Vgl. Meskin/Weinberg 2003, 32, welche hinweisen auf „die Leichtigkeit, mit welcher wir uns auf Fiktion einlassen können und von ihr bewegt werden, während wir gleichzeitig darüber als eine Fiktion mit verschiedenen kunstvollen Eigenschaften nachdenken“. Offensichtlich gibt es fiktionale Werke, bei denen es die Absicht ist, dass die Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt wird, dass es sich um eine Fiktion handelt. Obwohl mein Ansatz solche Fälle nicht zu erfassen beabsichtigt, schlage ich vor, dass in diesen Fällen als Reaktion auf den fiktionalen Gehalt entweder keine fiktionsgerichteten Emotionen entfacht werden, oder aber andere Arten von emotionalen Reaktionen hervorgerufen werden, welche gänzlich von den spezifischen Zuständen der Auseinandersetzung und Wertschätzung abhängen, welche solche Fiktionen hervorrufen wollen.

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Ferner haben empirische Studien gezeigt, dass menschliche Wesen eine angeborene Tendenz dazu haben, die Welt um sie herum als belebt wahrzunehmen, und Anzeichen von Expressivität auch in empfindungsunfähigen Wesen auszumachen. Wir sind schlicht so verfasst, dass wir auf die Welt um uns herum affektiv reagieren, und zwar vermöge der Merkmale in der Welt, die wir als expressive Zeichen einer Fertigung wahrnehmen. Mit anderen Worten schlage ich vor, dass die formalen Eigenschaften von Kunstwerken auf eine analoge Weise aufgefasst werden sollten wie das expressive Verhalten von menschlichen Wesen, auf die wir emotional reagieren. Und wie im letzteren Fall können wir uns auch im ersteren den verschiedenen Eigenschaften, kraft derer wir menschliche Wesen als expressiv wahrnehmen und kraft derer wir emotional reagieren, mehr oder weniger bewusst sein, und ihnen mehr oder weniger Aufmerksamkeit zukommen lassen.27 Entsprechend beinhalten sowohl fiktionsbezogene als auch „normale“ Emotionen das Gewahrsein formaler Eigenschaften, und dieses Gewahrsein ist schlicht Teil unserer kognitiv-affektiven Architektur. Darüber hinaus haben diese emotionalen Reaktionen klarerweise eine kognitive Funktion, denn insofern als sie uns auf expressive Eigenschaften aufmerksam machen, bringen sie uns auch markante Eigenschaften der Welt zu Bewusstsein, wie namentlich Werte, Ziele und Absichten von Handelnden. Um diesen Teil abzuschließen, sollten wir einen weiteren entscheidenden Unterschied festhalten zwischen Emotionen, die auf Fiktion und solchen die auf Nicht-Fiktion bezogen sind, der uns helfen wird, die relevanten Unterschiede in Bezug auf Verhalten und Phänomenologie zu erklären, von denen zu Beginn dieses Aufsatzes die Rede war. Fiktionsbezogene Emotionen, auch solche der erstaunlichen tragischen Sorte, sind immer positiv gewertet in dem Sinn, dass wir es genießen, sie zu erleben, ja wir uns überhaupt erst wegen ihnen auf Fiktion einlassen. Dieses Genießen rührt zum Teil von unserem Bewusstsein her, dass unsere Reaktionen durch die relevanten außerfiktionalen Eigenschaften von Werken geleitet und beschränkt werden, welches uns an sich eine spezielle Art von ästhetischem Wohlgefallen vermittelt. Dieses Wohlgefallen beinhaltet unter anderem die Wertschätzung des geschickten und kognitiv befriedigenden Zusammenspiels von Form und Gehalt, die Erleichterung der Last der Verantwortung bezüglich unserer Emotionen, die unser echtes Leben schwer macht, und eine Dimension des Entdeckens und der Befriedigung angesichts der Einheit und Kohärenz, welche fiktionale Narrative, im Gegensatz zu Narrativen aus dem echten Leben, leicht vermitteln können. Als solches beinhaltet das Wohlgefallen, was Frijda und Sundararajan eine Art von „involvierter Distanziertheit“ genannt haben, welche es uns erlaubt, unsere Aufmerksamkeit auf diese Emotionen zu richten und sie um ihrer selbst willen zu genießen. Diesen sollten wir uns nun zuwenden.

3.

Ästhetische Emotionen und involvierte Distanziertheit

Frijda und Sundararajan haben kürzlich, aufbauend auf William James‘ Diskussion des Unterschieds zwischen grobkörnigen und nicht-grobkörnigen Emotionen sowie auf der 27

Für weitere faszinierende Auseinandersetzungen mit diesen Themen siehe: Noordhof 2008, 329– 358, Walton 1999, 407–440, Cochrane 2010, 1–17.

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Beobachtung gewisser emotionaler Erlebnisse, wie sie in der chinesischen Dichtkunst und Philosophie beschrieben werden, eine Kategorie untersucht, die sie „verfeinerte Emotionen“ nennen. Diese Emotionen scheinen verschiedene Charakteristika aufzuweisen, welche von den normalen, alltäglichen emotionalen Erlebnissen abweichen, mit welchen sich Psychologen und Philosophen bisher hauptsächlich beschäftigt haben. Ferner umfassen diese „verfeinerten Emotionen“ die fiktionsbezogenen Emotionen, die im vorhergehenden Kapitel behandelt wurden, sowie eine weitere Klasse, die ich ästhetische Emotionen nennen möchte. Verfeinerte Emotionen weisen oftmals keine handlungswirksame Tendenz auf, wie es für normalische Emotionen typisch ist, und sie scheinen einen höheren Grad an Selbstbewusstsein, Aufmerksamkeit und sogar Würdigung des Erlebens an sich zu beinhalten. Darüber hinaus scheinen sie in Reaktion auf gewisse komplexe und subtile Aspekte von Ereignissen aufzutreten, und eine gewisse Distanziertheit und Zurückhaltung einzuschließen: Sie treten in einer Einstellung von Distanziertheit und Zurückhaltung auf, ihr Erleben schließt reflexives Bewusstsein zweiten Grades ein, sie haben zum Bestandteil und zur Ursache eine umfangreiche Darstellung der Wertschätzung der sie veranlassenden Ereignisse, welche die Ereignisse mit einer Bedeutung versehen können, die weit über die unmittelbar gegebenen Aspekte hinaus reicht, und sie beinhalten eher virtuelle Zustände der Handlungsbereitschaft als Zustände, die in offenkundigen Handlungen manifest oder in Handlungsimpulsen unterdrückt werden.28 James selber verwendete kunstbezogene Emotionen als Paradigmen für das Verstehen dieser Klasse von Reaktionen. Dies unter der Behauptung, dass sie die spezifische körperliche Unruhe, offenkundige Handlungsmanifestation und lebhaften Zeitabläufe vermissen ließen, wie sie charakteristisch und allenfalls auch essentiell sind für unsere „normalen“ emotionalen Reaktionen auf alltägliche Situationen, die ihrerseits direkten Einfluss haben auf unser Wohlergehen, unsere Fürsorge und unser Interesse. Frijda und Sundararajan wählen als Ausgangspunkt ebenfalls diejenigen Emotionen, die Teil ästhetischer Auseinandersetzungen sind, und fokussieren ihre Diskussion auf gewisse Begriffe des chinesischen Gedankenguts, insbesondere auf denjenigen der Harmonie. Harmonie wird dabei als eine Art von holistischer Wahrnehmung aufgefasst, die aus einer abstrakten ganzheitlichen Ordnung der vielfältigen Elemente besteht, die ein gewisses Objekt der Wertschätzung ausmachen. Sie beinhaltet weiter ein angemessenes Verhältnis zwischen diesen Elementen, welches seinerseits Beschränkung und Zurückhaltung bedingt – etwas, was der aristotelischen Lehre von der Mesotes nahe kommt: Harmonie wurzelt in den Ereignissen, die, wie es sich trifft, aus mehreren, zueinander in einem angemessenen Verhältnis stehenden Elementen zusammengesetzt sind. So aufgefasst erzeugt sie innere Seelenruhe oder Entspannung im Verhalten. Sie kann hingegen ebenso die Aufmerksamkeit auf sich selber ziehen und somit explizites Bewusstsein der Harmonie hervorrufen. 28

Frijda/Sundararajan 2007, 227.

296

C T Dies wiederum kann zu weiterem Verhalten anspornen, welches der Harmonie nachspürt und sie hervorbringt. Die geistige Handlung oder Einstellung der Empfänglichkeit für Harmonie sowie die Suche nach ihr wird Genießen genannt.29

Ich werde auf manche dieser eher verworrenen Themen weiter unten zurückkommen. Zunächst ist es jedoch wichtig festzuhalten, dass Frijda und Sundararajan trotz dieser Verwurzelung im ästhetischen Erleben darauf insistieren, dass verfeinerte Emotionen nicht als eine eigenständige Kategorie zu betrachten sind, ebenso wenig wie sie sich ausschließlich mit einer bestimmten Menge von Objekten, wie zum Beispiel Kunstwerke, befassen. Stattdessen sollte die Verfeinerung als ein Modus verstanden werden, der im Prinzip jegliche emotionale Reaktion auch außerhalb von ästhetischen Kontexten qualifizieren kann, wo immer solche Reaktionen durch die relevanten Charakteristika ausgezeichnet sind: eine gewisse Distanziertheit, Selbstbewusstsein, gedämpfte physiologische Erregung und Verhaltenshemmung. Das folgende Beispiel zeigt, was sie im Sinne haben. Man stelle sich vor, man sei in einem Zustand der Angst, weil sich ein Löwe nähert. Nun muss man sich vorstellen, dass die Aufmerksamkeit plötzlich auf den kraftvollen und eleganten Gang des Tieres gelenkt wird und dass man zeitgleich beginnt sich für seinen eigenen Zustand der Erregung zu interessieren, wobei man darauf fokussiert, wie er sich körperlich manifestiert. Zu einem gewissen Grad wird man so abgelenkt von der schieren Lebensgefahr der Situation. Falls dieses Beispiel zu weit hergeholt scheint, kann man sich stattdessen die Art von Angstgemischt-mit-Freude beim Hochgebirgsklettern oder die Traurigkeit beim Anschauen einer guten Tragödie vorstellen. Hier ist der gefährliche oder traurige Aspekt zwar in einer gewissen Art und Weise präsent, aber abgekoppelt genug, damit das Erleben selber entsprechend abgekoppelt ist. Das sind die Arten von Erleben, die als verfeinert in dem Sinne gelten können, der auf dem Spiel steht. Solche Erlebnisse beinhalten darüber hinaus eine Art von Genießen, bei welchem man gleichermaßen beim Objekt des Erlebens (beziehungsweise gewissen Aspekten davon) als auch beim Erleben selber aufmerksam verweilt. Die pragmatischen, handlungsorientierten Aspekte der Situation sind, um an unsere vorangehende Diskussion zu erinnern, „eingeklammert“ und die Aufmerksamkeit ist auf gewisse intrinsische Qualitäten des gefühlten Erlebens fokussiert, einschließlich seiner Temporalität und allenfalls sogar des Vergnügens anlässlich genau dieses Zustands der Aufmerksamkeit selbst. Das heißt, diese Art des Gewahrseins erleichtert Meta-Zustände der Kontemplation und der Wertschätzung, wie zum Beispiel die eigene Fähigkeit zu solchen Erlebnissen und die Fähigkeit, dies zu schätzen. Diese Beobachtungen, so vage sie auch vorläufig daher kommen, scheinen mir im Bezug auf die Selbstbewusstsein, auf einer Metaebene anzusiedelnden emotionalen Erfahrungen, zu denen wir in der Tat fähig sind, phänomenologisch nichtsdestoweniger zutreffend. Diese weisen darüber hinaus eine bemerkenswerte Ähnlichkeit auf zu einigen der augenfälligen Merkmale, die nach Ansicht vieler Philosophen ästhetische Erfahrungen deutlich umgrenzen. Man könnte sogar so weit gehen zu behaupten, dass wir 29

Ebd., 228–229.

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außerhalb solcher Kontexte berechtigterweise von einer „Ästhetisierung“ unserer Emotionen und Einstellungen sprechen würden; man denke beispielsweise an Fälle, wo es uns gelingt, aus einem Zustand der emotionalen Vertiefung eine distanzierte Haltung einzunehmen und unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte der Erfahrung an sich umzulenken und diese zu genießen. Diese Sichtweise findet sich in Deweys Darstellung ästhetischer Erfahrung und sie hat offensichtlich Wurzeln in Kants Begriff des interesselosen Wohlgefallens. Für den Moment ergeben sich zwei wichtige Konsequenzen aus dieser Fähigkeit zur verfeinerten Erfahrung: Erstens gibt die Fähigkeit zu solchen Betrachtungen Anlass zu Gedanken über die Bedeutsamkeit der Erfahrung sowie über ihre Angemessenheit hinsichtlich der relevanten Objekte oder Sachverhalte. Zweitens sollte das fragliche Genießen in einem weiten Sinn verstanden werden, gerade weil es sich mit Bezug auf pragmatische Überlegungen wie auch auf Handlungsfolgen durch einen gewissen Grad an Distanziertheit auszeichnet, und gewisse Aspekte der Erfahrung oder der Situation zum Gegenstand haben kann, die unangenehm sind, weil sie beispielsweise Schmerz, Trauer oder ein Gefühl des Verlusts beinhalten. In normalen, unverfeinerten Fällen emotionaler Erfahrung taucht man mehr oder weniger in die Situation ein und ist, was die eigenen emotionalen Zustände betrifft, passiv erleidend. Die eigenen Emotionen haben zu Recht die Auswirkung, dass sie uns zum Handeln zwingen. Dahingegen bringen verfeinerte Emotionen, wie erwähnt, einen beachtlichen Grad an Distanziertheit bezüglich des sie unmittelbar veranlassenden Sachverhalts mit sich. Allerdings bedeutet diese Art der Distanziertheit nicht zwingend, dass unser Gefühl beziehungsweise die Intensität des emotionalen Zustands vollkommen abgeschwächt wäre. Sie vermag sogar zu einem vertieften und gesteigerten Gefühlsempfinden zu führen, welches das natürliche Ergebnis einer gleichzeitig verlängerten Aufmerksamkeit sowie eines Genießens ist, die in einen solchen Zustand involviert sind. Das ist der Grund, weshalb Frijda und Sundararajan glauben, dass ein wesentlicher Teil solcher Emotionen durch dasjenige charakterisiert werden kann, was sie „involvierte Distanziertheit“ nennen: Bei der involvierten Distanziertheit tritt man auf der Gefühlsebene in eine Auseinandersetzung mit dem Ereignis, nicht aber auf der Handlungsebene. Beim genießerischen Essen und Trinken zögert man das Schlucken hinaus. Wenn man den Schauspielern eines Theaterstücks zusieht, ist man nicht versucht, auf die Bühne zu springen, um einzugreifen oder mitzuwirken. Gleichzeitig ist es nicht dieselbe Distanziertheit, die wir von der Gleichgültigkeit oder der Verachtung her kennen. Es ist eine Distanziertheit, die aus der Kontemplation hervorgeht. Man ist in den Bann geschlagen. Bei der Degustation erschmeckt man die genaue Note und ihre subtilen Schattierungen (,Veuve Cliquot!‘). Beim Theaterabend verfolgt man das Geschehen mit Anteilnahme. Bei der Lektüre von Poesie wird man Zeuge der Szenerien, welche die Gedichte beschwören und die eigene Vorstellung entstehen lässt […]. Der Kern der Distanziertheit scheint darin zu bestehen, die aktive Interaktion mit dem Objekt oder dem Ereignis zu unterbinden. Die Vorgabe, sich emotional von der Erfahrung zu distanzieren, vermindert in der

298

C T Tat die automatische Erregung (Koriat, Melkman, Averill & Lazarus 1972). Dagegen scheint es bei der in die Erfahrung involvierten Distanziertheit so zu sein, dass die verminderte Erregung zustande kommt, indem diejenige übergeordnete Handlungsbereitschaft eingenommen wird, welche für rezeptive Beobachtung und unfokussierte Aufmerksamkeit kennzeichnend ist, (Sundararajan 2004), was wiederum Informationen erlaubt, von außen herein zu gelangen, und desgleichen ermöglicht, dass Bedeutungsassoziationen von innen her entstehen. Dies tritt mithin an die Stelle der Bereitschaft zur aktiven Interaktion, die bei grobkörnigen Emotionen verstärkt auftritt […].30

Ein solches Genießen geht zudem natürlicherweise einher mit der für die involvierte Distanziertheit typischen Zurückhaltung, welche aus dem inhärenten Ausbleiben von Handlungen hervorgeht und einen „gehaltvollen Bearbeitungsprozess“ beinhaltet, eine „inhärent konstruktive, generative Strategie“, die es dem Affekt erlaubt, „einen selektiven Zugang zu, und Gebrauch von damit verbundenen Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen und Interpretation“ zu prägen. [I]nvolvierte Distanziertheit vertieft das Gefühlsempfinden eher, als dass sie es verflachte. Direkte Interaktion durch Handlung oder expressives Verhalten scheint den Prozess zu umgehen, der zu einer vollständigen Auseinandersetzung mit der Bedeutung des emotionalen Ereignisses führen würde. Vieles spricht für eine negative Abhängigkeit zwischen Handeln und dem subjektiven Erleben der Handlungsveranlassung. Fühlen und Tun scheinen sich wechselseitig zu hemmen – eine Feststellung, die neben manch anderen auch von Murphy und Zajonc (1993) gemacht wurde. Handlungshemmende Mechanismen scheinen die bildhafte Vorstellung und das Gewahrsein zu befördern (Jeannerod 1997).31 Was hat dies alles mit der epistemischen Funktion fiktionsbezogener Emotionen und mit dem Erkenntniswert von Literatur zu tun? Mir scheint, diese psychologischen und phänomenologischen Beobachtungen beinhalten einige wichtige Einsichten, die sich nahtlos in die Schlussfolgerungen einfügen, die ich im vorderen Abschnitt gezogen habe. Erstens haben diese verfeinerten Emotionen, welche Frijda und Sundararajan besprechen, deutliche Erkenntnisvorteile, insofern als sie eine Einstellung der Kontemplation, des Selbst-Bewusstseins, der Zurückhaltung, sowie feinmaschige Muster aus Neugierde, Aufmerksamkeit und Genuss fördern. Dies sind alles Charakteristika, welche wir als epistemisch tugendhaft bezeichnen können. Das heißt, sie sind für uns von elementarer Wichtigkeit, indem sie Wissenserwerb ermöglichen. Die emotionalen Zustände, welche die genannten Charakteristika aufweisen (als so etwas wie Erkenntnisbestandteile) können dadurch verschiedene epistemische Rollen spielen. Diese Einstellungen und die emotionalen Zustände, zu welchen sie beitragen, sind beide sowohl auf die Ursachen und Gegenstände der emotionalen Reaktionen als auch auf die Emotionen selber ausgerichtet, und helfen insofern eine Einsicht zu gewinnen in das Wesen der Welt, in 30 31

Ebd., 231. Ebd., 232.

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dasjenige unserer selbst (vielleicht vordringlich in unser eigenes emotionales und erlebnisbezogenes Leben) und in das Verhältnis zwischen diesen beiden Elementen. Zweitens: Obwohl die Verfeinerung generell als eine Modifikation von Emotionen zu betrachten ist und demnach auch außerhalb ästhetischer Kontexte auftreten kann, stellen diese Kontexte im Bezug auf die Auslösung solcher Reaktionen klarerweise die Vorzeigefälle dar. Die notwendige Distanziertheit – der Aufmerksamkeitsfokus und das Einklammern – ist, wie wir gesehen haben, bereits eingebaut in die Natur der literarischen Fiktion wie in unsere Beschäftigung damit. Konkret widerspiegelt sich der chinesische Begriff der Harmonie, welcher oben besprochen wurde, im Wechselspiel von Form und Gehalt, welches die Beschäftigung mit literarischen Werken als ausdrucksvolle und bedeutsame Produkte beherrscht. Dies ist es auch, was unsere verfeinerten Emotionen erweckt und was umgekehrt solche Emotionen uns zu verstehen erlauben. Drittens sollte eine weitere Charakteristik der verfeinerten Emotionen Beachtung finden, namentlich die Zurückhaltung, welche diese Emotionen angeblich auszeichnet und welche die involvierte Distanziertheit natürlicherweise begleitet. Das Ausbleiben von Handlungen bei verfeinerten Emotionen – eine unvermeidbare Konsequenz ästhetischer Kontexte – ist ein perfektes Vehikel für Kontrolle, Regulierung und Ausbildung unserer Emotionen: „Zurückhaltung erlaubt es Empfindungen, Gefühlen und Wünschen deutlicher hervorzutreten und erlaubt es einem, sich seines Genusses als Genuss bewusst zu werden.“32 Erinnern wir uns, dass ich im ersten Teil dieses Beitrags argumentiert habe, dass unsere emotionalen Reaktionen auf literarische Fiktion durch imaginative Prozesse und Aufmerksamkeitsmuster begründet sind, die von gewissen kognitiv-affektiven Fähigkeiten herrühren, welche eine zentrale epistemische Rolle spielen im Kontext praktischen Schließens, und dass die Natur unserer Emotionen teilweise durch diese Prozesse determiniert wird. Wie wir nun in diesem Teil gesehen haben, besitzt die konkrete involvierte Distanziertheit, wie sie charakteristisch ist für solche Emotionen, insofern eine wichtige epistemische Funktion, als sie eine Reihe von kognitiv wertvollen Einstellungen und Zuständen begründet und ihre Entwicklung fördert, unter welchen wir manche Begabungen der Vorstellung und Aufmerksamkeit finden, so wie die Fähigkeiten, auf den nuancierten Details von Objekten und Erlebnissen zu verweilen, sie zu genießen und über deren Natur und Angemessenheit zu reflektieren. Klarerweise nehmen die ästhetischen Kontexte, in welchen solche Zustände paradigmatischerweise stattfinden, eine entscheidende kognitive Funktion ein bei der Ausbildung unserer Emotionen, wie Philosophen, welche den kognitiven Wert von Literatur verteidigen, oftmals betont haben, jedoch ohne einen angemessenen Ansatz zu liefern bezüglich der Natur der Emotionen selber, welche in solchen Kontexten erwachsen. Übersetzung aus dem Englischen von Franziska Müller Literaturverzeichnis

Bratman, Michael (1992), „Practical Reasoning and Acceptance in a Context“, in: Mind 101, 1–15. Brock, Stuart (2007), „Fictions, Feelings, and Emotions“, in: Philosophical Studies 132, 211–242. 32

Ebd., 232.

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Die Kunst der Übertreibung Über den emotional überzeugenden Charakter

Die folgenden Überlegungen widmen sich der Frage, wie es möglich ist, dass fiktionale Figuren, die häufig überzeichnete und über das Ziel hinausschießende Charaktereigenschaften besitzen, emotional überzeugend sein können. Insbesondere literarische Klassiker, etwa die Romane von Charles Dickens, besitzen Merkmale und erwecken Emotionen, die an Gefühlsduselei grenzen. Einer meiner Lieblingsromane ist Tolstois Anna Karenina, deren Hauptfigur zu meinen Lieblingscharakteren gehört und die ich als Beispiel verwenden möchte. Anna Karenina hat als Roman und als fiktionale Figur zweifelsohne melodramatische Züge. Die Frage, die ich in diesem Aufsatz diskutieren möchte, lässt sich wie folgt formulieren: Anlässlich vieler Gelegenheiten verhält sich Anna auf eine Weise, die im wirklichen Leben keine Sympathien erwecken, sondern im Gegenteil als geschmacklos oder schlicht als dumm beurteilt werden würde. Aber bei der Beurteilung von fiktionalen Charakteren, wie sie in Tolstois Roman vorkommen, sind wir für gewöhnlich viel toleranter und unsere Akzeptanz für derartige Eigenschaften scheint größer zu sein als im wirklichen Leben. Warum ist das so? Warum finden wir an fiktionalen Charakteren leichter Gefallen als an unseren Mitmenschen im realen Leben? Ist es für eine fiktionale Figur einfacher, emotional überzeugend zu wirken als für eine reale Person? Melodramatisches Betragen ist ein sehr schönes Beispiel, an dem die Asymmetrie zwischen fiktionalen Charakteren und realen Personen sichtbar wird. Ich werde meine Überlegungen mit einigen Bemerkungen zu diesem Phänomen einleiten.

1.

Melodrama, Posse, Sentimentalität

Im Oxford Advanced Learner’s Dictionary finden wir folgende Definition des Begriffs des Melodramatischen: Melodrama (a) Ein an aufregenden Ereignissen und übertrieben dargestellten Charakteren reiches Drama [...]. (b) Ein Ereignis, Verhalten oder eine Art zu sprechen, die der o. g. Art des Dramas entspricht [...]. melodramatisch: von

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A H einem Melodrama stammend, ihm gemäß: ein(e) melodramatische(r) Geste, Wutausbruch, Geschichte oder Art des Handelns.1

Der Kerngedanke dieses Begriffs des Melodramatischen, den ich in den vorliegenden Ausführungen nutzen möchte, ist durch die Konfrontation mit einem Überfluss von etwas bestimmt. Überfluss bedeutet hier, dass mehr von etwas existiert, als gemeinhin erwartet wird – in diesem Fall geht es um einen Überfluss zur Schau gestellter Emotionen. Ein Drama ist melodramatisch, wenn es „an aufregenden Ereignissen […] reich“ ist, also mehr aufregende Ereignisse enthält als eigentlich nötig wären, um das Stück interessant und aufregend zu machen. Dass ein Charakter übertrieben ist, heißt, dass er gleich in verschiedenen Hinsichten nicht den Erwartungen entspricht. Meistens sind es seine emotionalen Qualitäten, die übertrieben werden – ein Charakter ist nicht schlicht traurig, sondern besonders traurig und macht dies auf eine übertriebene Weise erkennbar. Auch die Ereignisse in einem Drama sind nicht einfach nur überraschend und aufregend, sondern geschehen vollkommen unerwartet und sind über alle Maßen spannend. Diese Merkmale des Melodramatischen besitzen zwar keine allgemeine Gültigkeit, denn sie treffen nicht unbedingt auf alle Melodramen zu, aber es lässt sich wohl behaupten, dass Melodramen in der Tendenz solche Merkmale aufweisen. Die Eigenschaft des Überflusses oder der Übertreibung rückt das Melodrama in die Nähe einer anderen Gattung bzw. eines Phänomens, das wir als Posse oder Farce bzw. possenhaft bezeichnen. Ich möchte zunächst bei der enzyklopädischen Definition des Oxford Advanced Learner’s Dictionary bleiben. Die Farce oder Posse wird dort als „ein erheiterndes Theaterstück, das von irrwitzigen und unwahrscheinlichen Situationen und Ereignissen geprägt ist“2 , bezeichnet; das Possenhafte als „absurd, irrwitzig“. Die Farce oder Posse3 handelt also auch von übertriebenen Charakteren aber im Vergleich mit dem Melodrama aus einer anderen Perspektive. Die Posse ist komisch, das Melodrama für gewöhnlich tragisch. Es ist beinahe so, als wären Posse und Melodrama verschiedene Seiten derselben Medaille: Sie basieren auf derselben Technik, verfolgen aber gegensätzliche Absichten. Die Posse bringt uns zum Lachen, das Melodrama bringt uns zum Weinen. Bevor ich nun das Thema des emotional überzeugenden Charakters detaillierter diskutiere, muss ich auf einen bislang unbeachteten Aspekt hinweisen: Nicht alle Melodramen bzw. melodramatischen Charaktere üben ihre Übertreibungskunst erfolgreich aus. Was sind die Folgen dieses melodramatischen Versäumnisses? Wie lassen sich ein nicht überzeugender, melodramatischer Charakter oder eine wenig überzeugende melodramatische Attitüde beschreiben? Meines Erachtens ist an dieser Stelle der Begriff des Sentimentalen bedeutsam. Zwar sind nicht alle misslungenen Melodramen als „sentimental“ zu 1

2 3

[Anm. des Übersetzers: Wörterbuchfragen sind subtile Fragen. Im Original lautet die Stelle: „melodrama (a) drama full of exciting events and exaggerated characters: a gripping melodrama about mistaken identity. (b) events, behaviour or language resembling drama of this kind: all the melodrama of a major murder trial. melodramatic of, like or suitable for melodrama: a melodramatic gesture/outburst/story/style of acting“ (Crowther 1995, 729).] „[...] a funny play for the theatre based on ridiculous and unlikely situations and events“ (Crowther 1995, 421) [Anm. des Übers.]. Im Folgenden nur „Posse“ bzw. „possenhaft“ [Anm. des Übers.].

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bezeichnen, aber doch die meisten. Die Kunst der Übertreibung besteht gerade darin, so zu übertreiben, dass die Grenze zum Bereich des Sentimentalen nicht überschritten wird. Ich werde am Ende dieses Aufsatzes auf das Thema der Sentimentalität zurückkommen, möchte aber zunächst bei der Definition des Oxford Advanced Learner’s Dictionary bleiben. sentimental: 1) emotional bzw. die Emotionen und nicht den Verstand betreffend 2) (manchmal abfällig) a) (in Bezug auf Gegenstände): zärtliche Gefühle ausdrückend, die auch übertrieben wirken oder fehlgeleitet sein können, z. B. Mitleid, romantische Liebe oder Nostalgie; b) (in Bezug auf jemanden/andere Personen): solche Emotionen haben.4 Sentimentalität ist in den meisten Fällen negativ konnotiert. Es wird als künstlerisches Versagen angesehen, das dadurch gekennzeichnet ist, dass zu viele oder unangemessene Emotionen in die Darstellung eingeflossen sind. Im Verlauf der Argumentation werde ich dagegen die These vertreten, dass Sentimentalität in bestimmten ästhetischen Kontexten akzeptierbar sein kann. Meines Erachtens sollten wir Sentimentalität also als Bestandteil unserer Erfahrung zulassen. Weil aber die Grenze zwischen einem akzeptablen und einem inakzeptablen Maß an Sentimentalität schwer zu ziehen ist, ist bei dieser Gratwanderung stets Vorsicht geboten.

2.

Gefühle und das Paradox der Fiktion

Ich möchte mich nun dem eigentlichen Gegenstand dieses Aufsatzes zuwenden und zunächst diskutieren, was einen emotional überzeugenden Charakter auszeichnet. Doch zu Beginn sollte etwas über die Phänomene der Fiktion und des fiktionalen Charakters gesagt werden, denn es hat unter Philosophen für erhebliche Irritationen gesorgt, dass wir emotional auf etwas reagieren, von dem wir wissen, dass es nicht existiert. Ich fahre daraufhin mit einer Analyse des Phänomens der emotionalen Verstrickung in ein literarisches Geschehen fort. Danach wende ich mich dem Thema emotionaler Überzeugungen zu und werde abschließend auf meine anfänglichen Bemerkungen zum Thema Sentimentalität zurückkommen. Das Paradox der Fiktion besteht darin, dass wir emotional auf etwas reagieren, ohne dass unsere Reaktion als irrational angesehen wird, obwohl wir wissen, dass das, worauf wir reagieren, nicht existiert. Diese Beobachtung stellt ein altes Problem in der Philosophie dar, dessen Anfang bis auf Aristoteles und seinen in der philosophischen Ästhetik bis heute ausführlich diskutierten Begriff der Katharsis zurückgeht. Ich kann in der hier gebotenen Kürze weder detailliert auf die aktuelle Debatte eingehen noch die theoriegeschichtlichen Aspekte dieses Themas erläutern, aber die besagte Diskussion ist sehr gut dokumentiert und ich setze sie als bekannt voraus.5 Stattdessen werde ich eine 4

5

Im Original lautet die Stelle: „Sentimental 1 of or concerning the emotions, rather than reason […] 2 (sometimes derog) (a) (of things) expressing or causing tender emotions, eg pity, romantic love or nostalgia, which may be exaggerated or wrongly directed […] (b) (about sb/sth) (of people) having such emotions“ (Crowther 1995, 1071) [Anmerkung des Übersetzers]. Vgl. Yanal 1999 und Lamarque 2003, 386–389; ferner: Neill 2008, 272–288.

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Konzeption erläutern, die ich bereits an anderer Stelle entwickelt habe6 und versuche den Nachweis zu führen, dass sie das „Paradox der Übertreibung“ ebenfalls gut erklären kann. Phänomenologisch, d. h. auf der Ebene des Erlebens, halte ich es für fraglich, ob sich eine Unterscheidung zwischen einem Gefühl treffen lässt, das von einer realen Person bzw. einem realen Ereignis verursacht wird, und einem Gefühl, das von einem fiktionalen Charakter bzw. Ereignis hervorgerufen wird. Nicht selten verursachen Fiktionen intensivere Gefühle als Menschen, die in unserer unmittelbaren Umgebung leben, ganz zu schweigen von den Menschen, die am anderen Ende der Welt leben und zu denen wir von vornherein keinerlei Beziehung pflegen. Hinzu kommt, dass unsere emotionale Verstrickung für die Erfahrung und das Verständnis einer fiktiven Darstellung wichtig ist. Die körperlichen Reaktionen, die wir gegenüber einem Buch oder einem Film an den Tag legen, unterscheiden sich oftmals nicht von denen, zu denen wir in der Realität tendieren: Wir lachen oder weinen, wenn wir eine berührende Geschichte lesen oder einen Film sehen. Daher bin ich wenig geneigt, eine für die Kunst spezifische Emotion zu postulieren.7 Sowohl Ereignisse im realen Leben als auch Fiktionen können Gefühle ganz unterschiedlicher Art und Intensität erwecken. Es gibt allerdings eine charakteristische Eigenschaft, durch die sich für gewöhnlich in fiktionalen Kontexten empfundene Gefühle von denen unterscheiden, die durch Ereignisse des realen Lebens hervorgerufen werden. In diesem Zusammenhang ist Edith Steins klassische Analyse der Empathie hilfreich: [Und] indem ich in jener Freude des anderen lebe, fühle ich keine originäre Freude, sie entquillt nicht lebendig meinem Ich, sie trägt auch nicht den Charakter des Einst-Lebendiggewesenseins wie die erinnerte Freude, noch viel weniger aber ist sie bloß phantasierte ohne wirkliches Leben, sondern jenes andere Subjekt hat Originarität, obwohl ich diese Originarität nicht erlebe, seine ihm entquellende Freude ist originäre Freude, obwohl ich sie nicht als originäre erlebe. In meinem nicht-originären Erleben fühle ich mich gleichsam geleitet von einem originären, das nicht von mir erlebt und doch da ist, sich in meinem nicht-originären bekundet. So haben wir in der Einfühlung eine Art erfahrender Akte sui generis.8 Stein unterscheidet zwischen einer originären Weise, Freude zu empfinden, und einer nicht-originären Form derselben Empfindung. Sie selbst ist an diesem Punkt zwar nicht immer präzise, aber dessen ungeachtet besitzt ihre Unterscheidung eine gewisse Plausibilität, die – so würde ich sagen – in unseren eigenen Erfahrungen gründet. R. K. Elliott nimmt Steins Überlegung in seinem 1966 erschienenen Artikel Aesthetic Theory and the Experience of Art auf, aus dem ich ein paar aufschlussreiche Passagen zitieren möchte: Im Lysis unterscheidet Platon zwischen einem Unwissen, das jemand besitzt, der als unwissend bezeichnet werden kann und dem Unwissen, dass jemand 6 7 8

Vgl. Haapala 1996. Vgl. Carroll 1990, 27–35. Stein 1980 (zuerst 1917), 10.

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besitzt, obwohl er nicht als unwissend bezeichnet werden kann. Das Gefühl ist einer ähnlichen Unterscheidung unterworfen: Das Gefühl, das ich erlebe, indem ich ein Kunstwerk von innen her erfahre […], könnte eines sein, das ich habe, ohne dass es mir zugesprochen werden kann. Es ist in mir präsent, weil ich nicht lediglich erkenne, dass der Dichter zum Beispiel Traurigkeit ausdrückt, sondern wirklich diese Traurigkeit fühle. Dennoch kann mir das Gefühl, das ich erlebe, nicht zugeschrieben werden, d. h. es wäre falsch, zu sagen, dass ich traurig bin oder sogar, ohne Eigenschaftszuschreibung, dass ich trauere.9 Elliott verbindet seine Überlegungen mit denen von Stein wie folgt: Edith Stein beschreibt auf diese Weise durch Mitgefühl erfahrene Emotionen als ,originär‘ für das andere Subjekt und ,nicht-originär‘ für mich. Sie existieren ,nur in ihnen10 für mich‘. Die Emotion, die in einem Gedicht zum Ausdruck kommt, mag dementsprechend ,im Erzähler des Gedichtes‘ sein, selbst wenn der Erzähler eine Fiktion ist und nie vom Autor des Gedichtes wirklich empfunden wurde.11 Wie wir schon gesehen haben, erläutert Stein den Begriff der Empathie durch den Begriff einer nicht-originären Gefühlsempfindung. Dabei handelt es sich um eine bestimmte Form der Erfahrung, eine „Art erfahrender Akte sui generis“. Folglich sprechen wir hier über eine grundlegende menschliche Fähigkeit, die in verschiedenen Kontexten ausgeübt werden kann – im Kontext einer reinen Fiktion aber auch im Zusammenhang mit einem Ereignis im realen Leben. Elliott erklärt diese grundlegende menschliche Fähigkeit mit Hilfe des Begriffs der Imagination. Die Fähigkeit, eine Emotion in uns selbst zu erwecken, üben wir mittels eines Aktes der Imagination aus. Durch diese Imagination kann sowohl im Falle eines fiktionalen als auch im Falle eines realen Ereignisses eine beliebige Emotion in uns hervorgerufen werden. Bei der Lektüre eines Gedichtes können wir mit dem lyrischen Ich mitfühlen – dem Sprecher des Gedichtes, der auf eine „originäre“ Weise verzweifelt ist – und auf diese Weise seine Qualen auf eine nicht-originäre Weise empfinden. Meiner Ansicht nach haben Elliott und Stein eine wichtige Art und Weise beschrieben, auf die wir uns selbst ins Verhältnis zu unseren Gefühlen setzen können: Ich kann Traurigkeit fühlen ohne wirklich traurig zu sein. Diese Beziehung zu unseren Gefühlen geht über das schlichte Erkennen einer Emotion hinaus, denn offensichtlich kann ich ein Musikstück, ein Gedicht oder meinen Mitmenschen als traurig erkennen, ohne davon bewegt zu werden oder etwas Analoges zu fühlen. Aber im Falle einer nicht-originär empfundenen Emotion befindet sich das Gefühl gewissermaßen in uns wobei zugleich eine Distanz zwischen mir und der Emotion, die ich durch Mitgefühl und Empathie in 9 10 11

Elliott 1966/67, 113. [„in ihnen“, d. h. in den Ausdrücken eines anderen Subjektes, in das sich jemand einfühlt, Anm. des Übers.] Elliott 1966/67, 113. [Erstes eingebundene Zitat aus Stein 1980, 17. Das zweite eingebundene Zitat ist eine Abwandlung des ersten, Anm. des Übers.].

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mir erzeuge, bestehen bleibt. Dabei kann das Objekt der Empathie sowohl real als auch fiktional sein. Im Verlauf dieser Untersuchung werden wir der Intuition folgen, dass es keine qualitative Differenz zwischen Emotionen in fiktionalen und realen Kontexten gibt. Der Unterschied besteht lediglich in der Art und Weise, in der wir uns zu unseren Emotionen ins Verhältnis setzen. Vor dem Hintergrund dieses Ansatzes ist es keinesfalls als paradox anzusehen, emotional in etwas involviert sein zu können, das nicht existiert. Weder habe ich Angst vor einem fiktionalen Monster in dem Sinne, dass ich ängstlich bin, noch bin ich eifersüchtig auf eine fiktionale Figur und werde von dieser Emotion überwältigt, wie es möglicherweise im realen Leben geschehen kann. Dennoch kann ich die Eifersucht des Protagonisten einer Geschichte spüren, ich kann seine Ängste und Qualen lebendig erfahren und zwar nicht nur deshalb, weil ich verstehe, dass der Held Qualen erleidet, sondern auch in dem überaus realen Sinne eines eigenen Gefühlserlebnisses. Diese nicht-originäre Empfindung einer Emotion in einem fiktionalen Kontext stellt kein Paradox dar. Der Begriff einer kunstspezifischen Emotion oder der QuasiEmotion kann also verworfen werden.12

3.

Ästhetische Akrasie

Man könnte mir vielleicht vorwerfen, dass mein Ansatz die nicht-originäre Emotion idealisiert, indem er nachdrücklich diejenigen Fälle in den Vordergrund stellt, in denen wir in eine fiktionale Darstellung oder in ein Musikstück versinken und infolgedessen eine starke emotionale Erfahrung machen. Dies ist unter Idealbedingungen auch der Fall, wenngleich die Wirklichkeit oft anders aussieht. Häufig werden wir während der Rezeption abgelenkt, sind nicht in der richtigen Stimmung für das Kunstwerk oder schaffen es einfach nicht, einen geeigneten Zugang zu finden. Manchmal empfinden wir auch eine völlig andere Emotion als jene, die im Kunstwerk dargestellt oder deren Darstellung vom Künstler intendiert wurde. Ronald Hepburn hat hierfür ein schönes Beispiel: Ich kann die emotionale Qualität des Pathos in einem Bild erkennen aber dennoch aus bestimmten Gründen anstatt Pathos oder einer vergleichbaren Emotion Missfallen empfinden – etwa weil die Darstellung durchschaubar, schwülstig und sentimental ist oder zu direkt auf eine emotionale Wirkung zielt.13 Auch bei der Lektüre von Anna Karenina kann dieser Fall eintreffen. Gelegentlich kommen ihr Verhalten und die Art, in der Tolstoi dieses beschreibt, einem schwülstigen Pathos sehr nahe. Wenn der Leser das Geschehen in einer zynischen Perspektive auf sich wirken lässt, erscheinen ihm plötzlich viele Passagen unglaubwürdig und sentimental. 12 13

Der Begriff der Quasi-Emotion wird von Kendall L. Walton als Lösung für das Paradox der Fiktion vorgeschlagen. Vgl. Walton 1990, 241–255. Hepburn 1965, 195.

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Es kann unterschiedliche Gründe dafür geben, dass jemand nicht dazu in der Lage ist, diejenige emotionale Reaktion zu zeigen, die der Autor oder ein anderer Künstler erzielen wollte. Wenn jemandem ein Kunstwerk nicht gefällt, das andere für ästhetisch und künstlerisch besonders wertvoll halten, könnten wir es aber auch mit einem Fall ästhetischer Akrasie zu tun haben. Anita Silvers hat sich diesem Phänomen gewidmet und geltend gemacht, dass ästhetische Akrasie weniger Schaden anrichtet als moralische Akrasie, weil „in den meisten sozialen Verhältnissen ästhetische Entscheidungen keinen so wirksamen intersubjektiven Einfluss haben wie moralische Entscheidungen.14 Eine für unsere Zwecke nützliche Definition ästhetischer Akrasie findet sich bei Ronald de Sousa: Genauso wie die gewöhnliche Akrasie als Unfähigkeit bezeichnet werden kann, den allgemeinen Erwartungen gemäß zu agieren, kann die ästhetische Akrasie als Unfähigkeit bezeichnet werden, mit den allgemein erwarteten Emotionen auf einen ästhetischen Reiz zu reagieren. In typischen Fällen, aber nicht immer, ist ästhetische Akrasie mit einer Unfähigkeit zum Genuss verbunden und sie kann sich in zwei Weisen äußern: Jemand mag etwas, was für gewöhnlich als ästhetisch minderwertig angesehen wird oder jemand ist angesichts dessen, was gemeinhin als große Kunst bezeichnet wird, zu keiner Reaktion fähig.15 Dem ließe sich hinzufügen, dass die Gefühle, die wir beim Lesen eines fiktiven Textes empfinden, manchmal nur einen Aspekt der zum Ausdruck gebrachten Emotion umfassen. Die gefühlte Emotion kann viel komplexer als diejenige sein, die zum Ausdruck gebracht wird und in vielen Fällen ist sie dies auch. Hepburn meint hierzu: Ein Musikstück kann die emotionale Qualität von Verzweiflung und Trauer besitzen, aber ich als genießender Zuhörer bin keineswegs in Trauer oder verzweifelt. Ich kann diese Gefühle genießen und sie verbinden sich dabei mit Freude. Die von mir empfundene Emotion ist häufig eine radikal transformierte Version der emotionalen Qualität, die der Musik selbst zukommt. Sie ist nicht identisch mit ihr.16 Obwohl Anna Karenina tiefes Leid empfindet, müssen wir als Leser nicht unbedingt Leid empfinden. Unser Empathievermögen verbindet uns mit dem Leid Anna Kareninas, indem es uns befähigt, die Emotion des Leids (in uns) selbst zu erzeugen, aber diese Emotion kann sich daraufhin mit anderen emotionalen Qualitäten verbinden. So können in der Erfahrung einer Fiktion oder im Genuss von Musik die Empfindung von Leid und Freude ineinander verschränkt sein – beispielsweise dann, wenn wir Freude daran empfinden, eine einnehmende Geschichte zu lesen.

14 15 16

Vgl. Silvers 1972, 234. Vgl. auch Herzog 2000, 37–49, der sich mit Wagners Opern, ihrer politischen Dimension und ihren antisemitischen Implikationen beschäftigt. de Sousa 1997, 178. Hepburn 1965, 188–189.

310

4.

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Übertreibung und Distanziertheit

Ich hoffe, das Problem der emotionalen Verstrickung in fiktionale Geschichten und ihre Charaktere hinreichend geklärt zu haben. Mit der Frage nach dem ontologischen Status fiktionaler Entitäten habe ich mich bereits an anderer Stelle beschäftigt. Ohne dies erneut zu vertiefen, möchte ich dazu lediglich eine These formulieren: Klassische Charaktere wie Anna Karenina können den ontologischen Status einer kulturellen Entität erreichen und zu Figuren werden, die Institutionen ähneln. Das Erreichen eines solchen Status ist aber nicht allen Charakteren vergönnt und stellt keineswegs eine Bedingung dafür dar, sich emotional in Fiktionen oder fiktionale Charaktere einfühlen zu können.17 Es bleibt die Frage, warum in fiktionalen Texten präsentierte, übertriebene Charaktereigenschaften und Emotionen akzeptabel zu sein scheinen. Wenn ich recht sehe, ist die Antwort in Bezug auf die Posse, die oben dem Melodrama gegenübergestellt wurde, ziemlich offensichtlich. In die Posse sind wir nicht in demselben Maße emotional verstrickt, wie es die lachhaften Charaktere der Geschichte selbst sind. Wir befinden uns auf einer Ebene, von der aus gesehen wir über ihre Dummheit lachen können, sympathisieren aber nicht mit ihnen und sind daher emotional distanziert von den Emotionen der Charaktere. Wenn ein lachhafter Charakter Schaden erleidet oder in eine Bredouille gerät, leidet kaum jemand mit ihm. Wir mögen manchmal eine emotionale Verbindung zu ihm haben – möglicherweise tut er uns hier und da ein wenig leid – aber unsere Gefühle unterscheiden sich in der Regel doch qualitativ erheblich von denen des dargestellten Charakters. Im Melodrama ist das Verhältnis zwischen Rezipient und Charakter jedoch ein anderes. Wie ich versucht habe zu zeigen, sind wir emotional involviert und erfahren die Emotion des Charakters nicht-originär. Die Idee einer nicht-originären Erfahrung von Emotionen ist auch im Hinblick auf das Problem emotionalen Überzeugtseins aufschlussreich. Eigentlich denke ich nicht, dass Melodramen emotional überzeugend sind, aber der entscheidende Faktor ist, dass sie es auch nicht zu sein brauchen. Das Melodrama bietet wahrscheinlich mehr als jede andere Kunstgattung die Möglichkeit, intensive Gefühle zu erleben, ohne dass die Gefahr besteht, selbst emotional verletzt zu werden. Zusammen mit Charakteren wie Anna Karenina kann die tiefste Trauer und Verzweiflung empfunden und bis zur kathartischen Reinigung gesteigert werden. Dieses Phänomen ist auch in Hinblick auf den ästhetischen Genuss bedeutsam. Denn aufgrund der Distanz zwischen uns und den Gefühlen der Charaktere, sind wir fähig, selbst negative Gefühle zu genießen, obwohl ihre Erfahrung im realen Leben schmerzhaft sein kann.

5.

Sentimentalität und Rationalität

Ich möchte mit einigen Bemerkungen zum Thema Sentimentalität schließen. Sentimentalität als Form der Gefühlsduselei gilt für gewöhnlich sowohl in der Kunst als auch im realen Leben als eine schlechte und entbehrliche Haltung. Die verbreitete philosophische 17

Vgl. Foster/Haapala 2001, 5–26. Einen allgemeineren Ansatz zur Ontologie fiktionaler Figuren entwirft Thomassons 1999.

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Ansicht, der zufolge Sentimentalität zu verurteilen ist, ist mit verschiedenen Argumenten verteidigt worden, aber alle fußen auf derselben Voraussetzung. Deborah Knight fasst sie wie folgt zusammen: Der Standardauffassung zufolge hält uns Sentimentalität von einer aktiven, kognitiven Auseinandersetzung mit der Ambiguität und Komplexität der Wirklichkeit ab (wobei ,Wirklichkeit‘ hier so weit gefasst wird, dass sie sowohl die repräsentationalen Gehalte von Kunst und Literatur als auch andere Personen und die mit ihnen geteilte Welt umfasst), und führt uns zu einer stark vereinfachten, verzerrten, phantastischen und fiktionalen Sicht auf die Dinge.18 Knight, die an Robert Solomon anschließt, ist der Meinung, dass die kritische Haltung gegenüber der Sentimentalität ein philosophisches Dogma darstellt. Die Betonung der Rationalität und die Vernachlässigung der Auseinandersetzung mit Emotionen hat zu der Auffassung geführt, dass Empfindungen und Sentimentalität bereits per definitionem etwas sind, das es zu vermeiden gilt. Solomon zieht den Schluss: Unsere Geringschätzung der Sentimentalität ist auf das rationalistische Unbehagen angesichts jeder gerechtfertigt oder ungerechtfertigt, angemessen oder unangemessen zur Schau gestellten Emotion zurückführbar. Es scheint, als sei das Wort Sentimentalität mit der Konnotation des ,zu viel‘ behaftet; zu viel Gefühl und zu wenig gesunder Menschenverstand und Rationalität: als handele es sich hier um Gegensatzpaare und nicht um Korrelate.19 Wie ich schon zu Beginn dieses Beitrags gesagt habe, ist die Grenze zwischen emotionaler und sentimentaler Verstricktheit unscharf und veränderlich. Für einen zynischen Rationalisten kann einfach alles, was zu einer emotionalen Verstrickung führt, sentimental sein. Es ist ziemlich einfach, diese zynische Haltung einzunehmen und sich daraufhin auch von einem Roman emotional zu distanzieren. Emotionen zum Ausdruck zu bringen, kann dann ziemlich schnell albern aussehen. Knight kommentiert in Bezug auf Solomon: „die Avantgarde einer Generation kann zweifelsohne zum Kitsch der nachfolgenden werden“.20 Ich möchte hier jedoch nicht behaupten, dass wir alle emotionalen Reaktionen fraglos akzeptieren und im selben Maße anerkennen sollten, weder in der Kunst noch im realen Leben, weder ästhetisch, noch moralisch. Es mag Fälle der Distanzunterschreitung geben, um einen Begriff von Edward Bullough aufzugreifen, genauso wie es Fälle der Distanzüberschreitung gibt.21 Es wäre nicht richtig und angemessen, sich von den Ereignissen einer fiktionalen Geschichte vollkommen in Beschlag nehmen zu lassen. Dies würde bedeuten, alle dargestellten Emotionen originär zu erfahren, etwa anlässlich einer fiktiven Darstellung zu weinen, als sei etwas Schreckliches in der Wirklichkeit passiert. 18 19 20 21

Knight 1999, 417. Solomon 1997, 226. Knight 1999, 415. Bullough 1989 (zuerst 1912). Ich habe in diesem Zusammenhang das Konzept ästhetischer Vertrautheit [„aesthetic intimacy“] entwickelt, dem zufolge eine angemessene, also weder zu kleine noch zu große Distanz zu einem Kunstwerk entscheidend ist. Vgl. Haapala 2006, 139–151.

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Aber eine ähnlich unangemessene Reaktion wäre, eine zynische Distanz zur Geschichte einzunehmen, überhaupt nicht emotional in eine Geschichte involviert zu sein und die Emotionen nicht zu fühlen, von denen erwartet wird, dass sie in Anbetracht der Geschichte in nicht-originärer Form empfunden werden. Ich denke, dass Solomon, Knight und Newman22 mit ihren Bemühungen, zumindest bestimmte Spielarten der Sentimentalität zu verteidigen, auf dem richtigen Weg sind. Emotionale Reaktionen auf tragische Ereignisse in Fiktionen oder in der Realität können auch dann vorbildlich sein, wenn sie ein wenig übertrieben sein mögen. Sie deuten darauf hin, dass eine Person Anteil nimmt und mitfühlend ist. Sie implizieren aber nicht notwendig, dass diese Person Emotionen auf irgendeine Art verfälscht oder unaufrichtig gegenüber sich selbst oder der Welt ist. Newmann fasst dies wie folgt zusammen: Zwar sind manche sentimentale Personen unaufrichtig sich selbst gegenüber (und überlassen sich dabei abwegigen Illusionen) aber dasselbe kann nicht von denjenigen behauptet werden, die mit sentimentalen Neigungen ausgestattet sind und im Umgang mit dem Schmerz Anderer personale Tugenden wie Loyalität und Geduld an den Tag legen. Letztendlich lässt sich sagen, dass Sentimentalität ebenso sehr löblich wie tadelnswert sein kann.23 Warum aber sind wir fiktionalen Charakteren gegenüber nachsichtiger als Personen aus dem realen Leben, wenn sie Emotionen zeigen und sich melodramatisch verhalten? Fiktionen geben uns die Möglichkeit einer intensiven emotionalen Erfahrung, ohne dass wir psychisch oder körperlich verletzt werden. Wir können aufgrund der sekundären oder nicht-originären Art des Fühlens unsere emotionalen Kompetenzen sehr viel freier erproben als im realen Leben. Es kann reizend und unterhaltsam sein, in eine Geschichte oder einen Film einzutauchen, mit den Charakteren mitzufühlen und ihre Schicksale zu durchleben, ohne dass wir Leid, Schrecken oder eine andere Emotion ähnlicher Art durchleben müssen. Wie ich bereits herausgestellt habe, kann diese Art der emotionalen Erfahrung auch eine wichtige Rolle im realen Leben spielen; aber es ist sicherlich einfacher, diese Erfahrung in der Kunst zu machen. Im Übrigen kann es in einigen Fällen moralisch zweifelhaft sein, eine Emotion im realen Leben nicht-originär wahrzunehmen: Jemand, der nicht besorgt und traurig ist, weil einem guten Freund etwas Schlimmes geschehen ist, fällt schnell in Missgunst. Die intensive nicht-originäre Erfahrung von Emotionen kann zudem sehr lehrreich sein, weil sie uns auf Ereignisse des realen Lebens vorbereitet. Wir begeben uns imaginativ in eine schreckliche oder vergnügliche Situation und fühlen daraufhin die entsprechenden Emotionen. Ich möchte mit der Bemerkung schließen, dass melodramatische Charaktere nicht in höherem Maße überzeugend sind als melodramatische Menschen im realen Leben. Der Grund dafür, dass wir Zustände in Fiktionen leichter zu akzeptieren geneigt sind als in der Realität, liegt in dem Verhältnis, dass wir zu unseren Emotionen ausbilden. Wenn wir Emotionen nicht-originär erfahren, können wir sie genießen. Meistens ist es ein sine qua non für das Verständnis des fiktionalen Kunstwerkes oder Musikstückes, emotional 22 23

Newman 2008, 342–353. Newman 2008, 350.

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Anteil zu nehmen. Der Trick liegt schlicht darin, die richtige Balance zwischen Nähe und Distanz zu finden. Unsere Kompetenz, Emotionen nicht-originär zu erfahren, ist der Schlüssel zum Verständnis des Phänomens der ästhetischen Erfahrung. Übersetzung aus dem Englischen von Malte Dreyer Literaturverzeichnis

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Narrative Identitäten Zur Konzeption einer textuellen Konstitution des Selbst1

Die Rede von einer narrativen Identität stößt bei Philosophen oft auf Ablehnung. Diese Ablehnung ist häufig durch zwei Meinungen bedingt. Zum einen sind die Redeweisen über narrative Identität in der Philosophie, in den Literatur-, Sozial- und Kulturwissenschaften unübersichtlich, sie haben keinen deutlich erkennbaren begrifflichen Zusammenhang und sie beziehen sich bei ihren unterschiedlichen Fragestellungen auf keinen gemeinsamen Rahmen. Die Konzeption narrativer Identität wird daher oft von vornherein als philosophisch irrelevant abgetan. Die genannten Symptome sind allerdings keineswegs nur im Zusammenhang mit dem Thema narrativer Identität anzutreffen, sie sind geradezu allgegenwärtig. Insgesamt ist die ablehnende Haltung von daher zwar verständlich, aber wie ich zeigen werde, der Sache nach nicht hinsichtlich aller Modelle narrativer Identität berechtigt. Der zweite Grund der Ablehnung ist dagegen themenspezifisch: Die Formel ‚narrative Identität‘ legt die Vermutung nahe, dass Individuen nur aufgrund von Erzählungen eine Identität oder ein Selbst besitzen. Das wirkt zunächst abwegig. Die in Frage kommenden Erzählungen müssen zwar nicht ausschließlich Erzählungen des Individuums über sich selbst sein, aber selbstbezügliche Erzählungen scheinen doch zumeist eine zentrale Rolle zu spielen. Identität des Individuums oder der Person wird damit an eine kulturelle und linguistische Kompetenz gebunden, nämlich an die Beherrschung des Sprechhandlungsmusters „x erzählt y eine Geschichte“. Dies ist eine vergleichsweise hochstufige Anforderung. In den Fällen, in denen es sich bei den identitätsrelevanten Erzählungen um Schrifttexte handeln sollte, bezögen sich die Theorien narrativer Identität ausschließlich auf die Teilnehmer von Schriftkulturen. Wenn nur diejenigen, die dieser Anforderung genügen, eine Identität haben, was ist dann mit den Menschen, die diese Kompetenz nicht haben? Selbst wenn man das Kriterium der Schriftlichkeit nicht als entscheidend erachtet, bleiben hinreichend viele Problemfälle übrig: Wie steht es um Kleinkinder oder Menschen, die aufgrund von Erkrankungen die entsprechenden 1

Für Anregungen, Kommentare und Kritik danke ich Christiane Schildknecht (Luzern) und NilsFrederic Wagner (Ottawa).

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Fähigkeiten verloren haben, haben sie keine Identität, haben sie kein Selbst? Das Unbehagen vieler verstärkt sich darüber hinaus noch in den Fällen, in denen das Selbst zu einer Entität erklärt wird, die ausschließlich durch diskursive oder linguistische Praktiken konstruiert wird. Solche Konzeptionen oraler oder literaler Textualität verschrecken den common sense. Die folgenden Überlegungen formulieren einige grundlegende Unterscheidungen im Problembereich narrativer Identität. Es kommt darauf an, unterschiedliche Konzeptionen nicht miteinander zu vermengen, sondern die jeweils leitenden Fragestellungen auseinander zu halten und zu überlegen, welche dieser Fragestellungen philosophisch einschlägig und ergiebig sind. Die Leitfragen meiner Ausführungen lauten: (1.) Welches sind die wesentlichen Versionen des Konzepts narrativer Identität? (2.) Kommt das Konzept narrativer Identität mit einem alltäglichen Narrations-Begriff aus oder spielen literarische und fiktionale Narrationen eine Rolle in Hinblick auf die narrative Identität? Falls ja, um welche Rolle handelt es sich?

1.

Identität

Der Identitätsbegriff ist ein fundamentaler logischer Begriff. Identität wird als Selbigkeit oder als eine Art der Gleichheit, nämlich als absolute oder vollkommene Gleichheit bestimmt. Identität bezeichnet die Relation, in der jede Entität zu sich selbst steht. Der umgangssprachlichen Feststellung, dass Identität jedem Einzelding als solchem zukommt, entsprechen in logischer Terminologie die Eigenschaften der Reflexivität, der Symmetrie und der Transitivität (aus ,a ist identisch mit b‘ und ,b ist identisch mit c‘ folgt ,a ist identisch mit c‘). Transitivität unterscheidet sich logisch von der intransitiven Ähnlichkeit. Es ist daher problematisch, Identität durch Verweis auf Ähnlichkeit, beispielsweise als maximale Ähnlichkeit, zu explizieren. Ein weiteres Merkmal der logischen Identität ist Substitutivität. Damit ist gesagt, dass die Ausdrücke ‚a‘ und ‚b‘ in extensionalen Kontexten ohne Veränderung der Wahrheit der Aussage wechselseitig ausgetauscht werden können. Identität als logischer Grundbegriff unterhält naturgemäß keinerlei bevorzugte Beziehungen zu irgendeinem Gegenstandsbereich. Identität bezieht sich auf beliebige Gegenstände und Gegenstandsarten, auf Kieselsteine, Moleküle, Gene ebenso wie auf Menschen oder Kunstwerke: „no entity without identity“.2 Neben den grundlegenden logischen Eigenschaften der Identität werden weitere Unterscheidungen gebraucht. Qualitative Identität bezieht sich auf Qualitäten wie etwa die Materialeigenschaften von Objekten. Man kann etwa sagen, dass zwei unterschiedliche Dinge qualitativ identische Eigenschaften haben: Ein Tisch und ein Stuhl können hinsichtlich des Holzes, aus dem sie gefertigt sind, qualitativ identisch sein. Numerische Identität bezieht sich auf die Zählbarkeit von Einzeldingen: Qualitativ Identisches kann numerisch verschieden sein: ein Holzstuhl und ein Holztisch sind qualitativ identisch und numerisch nicht-identisch. Transtemporale oder diachrone Identität bezieht sich auf unterschiedliche Zeitpunkte und auf die Frage, ob zu zwei Zeitpunkten derselbe Gegenstand vorhanden ist oder nicht. Es ist leicht erkennbar, dass es dieses letzte Konzept ist, 2

Quine 1969, 23.

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das im Zusammenhang mit individueller oder personaler Identität von herausragender Bedeutung ist. Erst seit John Locke wird der Identitätsbegriff als ein wichtiger Begriff für die Reflexion über menschliche Individuen und Personen gebraucht. In dieser Phase der Begriffsbildung spielt das reflexive Bewusstsein der Person eine entscheidende Rolle. Lockes prägnante Definition der Person macht das zeitlich ausgedehnte (diachrone) Selbstbewusstsein zu einer notwendigen Voraussetzung für Personalität. Kein Wesen, das diese Form des Bewusstseins nicht besitzt, kann für Locke als Person betrachtet werden.3 Sprachfähigkeit, Rationalität, Reflexion und Selbstbewusstsein sind zusammen mit der Handlungsfähigkeit seit Locke Kernkompetenzen der Person und des menschlichen Individuums als sozialem Wesen. Die Identität der Person wird nicht fixiert durch eine Menge objektiv beobachtbarer Eigenschaften. Die Identität der Person wird gebildet durch eine psychische Kontinuität des Bewusstseins, durch eine diachrone Verbindung von Zuständen eines reflexiven Bewusstseins. Ein wesentliches Element der Überlegungen Lockes, das gerade mit Blick auf die Konzeption narrativer Identität einschlägig ist, bezieht sich auf den Umstand, dass Personen sich im Verlauf ihres Lebens entwickeln und verändern. Personales Leben ist ein Leben in der Zeit und das Leben eines sich im Kontinuum der Zeit verändernden Wesens. Anders als solche in der Zeit veränderliche Entitäten wie schmelzende Polarkappen, erodierende Gebirge, wachsende Bäume, alternde Gazellen verändern sich Personen nicht nur, sondern sie erleben die Veränderungen ihrer selbst in Form von expliziten, reflexiv erfassten Erfahrungen: Personen können diese Veränderungen bewusst erleben und sie erkennen. Der Identitätsbegriff muss diesem Umstand, der Dynamik und Veränderlichkeit des Individuums oder der Person, gerecht werden. Personale Identität ist eine Identität unter Bedingungen permanenten Wandelns der physischen, psychischen und mentalen Zustände. Lockes Verdienst ist es, eine Frage aufgeworfen und klar formuliert zu haben, die bis heute kontrovers debattiert wird: Auf welche Weise wird diese Permanenz der Veränderung in den Fällen verarbeitet und geformt, in denen man von einer personalen oder individuellen Identität spricht? Lockes Konzeption wurde in der zeitgenössischen analytischen Philosophie aufgegriffen und weiter entwickelt. Dabei ist die Intuition leitend, dass Personen in wesentlicher Hinsicht selbstbewusste Wesen sind und Erfahrungen in einer Ersten-Person-Perspektive machen. Gleichzeitig wird eine weitere entscheidende Voraussetzung gemacht: Das diachron ausgedehnte Selbstbewusstsein und die Erfahrungen in der Perspektive der ersten Person können – zumindest im Prinzip – in hinreichend präziser Form erfasst werden. ‚Hinreichend präzise‘ meint hier: ‚so feinkörnig, dass Fälle ausgeschlossen werden können, in denen ungewiss ist, ob eine Bewusstseinsepisode einem Individuum oder einem anderen zuzuordnen ist‘. Nur auf der Basis dieser außerordentlich weit reichenden Voraussetzungen scheint immer eine begründete, informative und Wahrheit garantierende Entscheidung der Fragen möglich, ob es sich bei einem Individuum gestern und einem Individuum heute um dieselbe Person handelt oder nicht. 3

Locke 1975 (zuerst 1690), 335; zu Lockes Theorie im zeitgenössischen Kontext und zu ihrer Rezeption in den Identitätstheorien der analytischen Philosophie vgl. Teichert 2000a, 130–206.

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2.

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Selbst

Eine Möglichkeit der Erläuterung des Begriffs ‚Selbst‘ besteht darin, das Selbst als das reflektierte Ich zu bestimmen. Das Selbst setzt das Ich voraus oder ist gleichursprünglich mit ihm. Spekulative und metaphysische Modelle schlagen mitunter eine konträre Sichtweise vor: Das Ich ist die empirische Manifestation eines vorgängigen, empirisch nicht zur vollen Erscheinung gelangenden Selbst. In vielen Diskursen werden unterschiedliche Kreuzungen zwischen diesen beiden Konzeptionen gebraucht. Bei den Autoren, die im Folgenden als zentrale Bezugspunkte gewählt werden, wird keine explizit metaphysische Selbst-Konzeption vertreten, insofern erscheint die erstgenannte Bedeutung des Selbst als reflektiertes Ich maßgeblich. Wie wird im Rahmen dieser Auffassungen das Selbst konstituiert? Die kurze Antwort lautet: Durch die Reflexion des Ich. Indem ich beispielsweise etwas Wahres über mich aussage, trage ich zur Konstitution meiner selbst im Denken bei. Die Reflexion verläuft in diesem Fall im Medium des Begriffs. Die Konstitution des Selbst vollzieht sich nicht nur in dieser ‚Cartesianischen‘, begrifflichen Weise: Die Interaktionen mit Anderen, die mich durch ihre Aktionen und Reaktionen auch mit mir selbst konfrontieren, spielen bei der Konstitution meines Selbst eine maßgebliche Rolle. Der soziale Raum, die Sprache, die Lebensform, die mein Leben tragen, es ermöglichen und beschränken, sind Medien der Reflexion und tragen als solche zur Konstitution des Selbst bei. Die These der narrativen Identität als einer Theorie der Konstitution des Selbst besagt: Erzählungen sind Medien der Reflexion des Ich. Sie leisten einen Beitrag zur Konstitution des Selbst. Von dieser These unterscheidet sich der starke Narrativismus, der wesentlich stärkere Geltungsansprüche erhebt. Der starke Narrativist sagt: Das Selbst wird in und durch Narrationen konstruiert (vgl. dazu unten Abschnitt 5).

3.

Epistemische Objektivisten und Anti-Objektivisten

Für eine Orientierung hinsichtlich der großen Vielfalt unterschiedlicher Redeweisen von personaler Identität ist es wichtig im Auge zu behalten, dass sich grundsätzlich zwei Lager einander gegenüberstehen: einerseits diejenigen, die personale oder individuelle Identität als einen Begriff betrachten, der mit einem spezifischen Kriterium angewendet wird, welches sich auf objektiv erfassbare, überprüfbare Tatsachen bezieht und wahre Identitätsaussagen ermöglicht. Anhänger sehr unterschiedlicher Positionen im Bereich der Philosophie des Geistes – Materialisten und Anti-Materialisten gleichermaßen – stimmen in diesem Punkt überein. Das Individuum wird als ein Träger von Eigenschaften bestimmt und die mentalen Erfahrungen des Individuums werden als eine Serie von Bewusstseinszuständen fixiert. Die Zustände des Bewusstseins sind wiederum jeweils als Komplexe von Ideen, Repräsentationen oder Verarbeitungen von Begriffen und Anschauungen beschrieben. Diese Bewusstseinszustände, auch und gerade insofern es sich um Bewusstseinszustände mit einer Ersten-Person-Perspektive handelt, sind jeweils objektive Gegebenheiten. Einer neurowissenschaftlich orientierten Philosophie des Geistes sind diese Konzeptionen auch heute vertraut und werden in ihren Grundzügen weithin als selbstverständlich akzeptiert. Der entscheidende Unterschied zu den nachfolgend charakterisierten Konzeptionen besteht darin, dass grundsätzlich keine Schwierigkeit

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darin gesehen wird, die in der Perspektive der ersten Person gemachten Erfahrungen insgesamt zum Objekt einer neutralen Beschreibung zu machen. Ich werde diejenigen Konzeptionen, die die Identität des Individuums oder der Person in dieser Weise als eine feststellbare Tatsache zu denken erlauben, als epistemisch objektivistische Identitätskonzeptionen bezeichnen. Identität ist eine Frage der Erkenntnis und des Wissens, wobei es keine grundsätzliche Divergenz zwischen der Erkenntnis der Identität in der Ich-Perspektive oder in der Beobachterperspektive gibt. Im Gegenteil, die Übereinstimmung beider Perspektiven hinsichtlich der zu gewinnenden Erkenntnis ist das Entscheidende. Identitätsrelevante Fragen sind nicht zu beantworten, wenn die erstpersönliche und die drittpersönliche Perspektive nicht zusammenstimmen. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die diese Voraussetzungen einer objektiven Erkennbarkeit der Identität nur innerhalb eines eingeschränkten Bereichs für maßgeblich halten und nicht glauben, dass ein Gesamtmodell personaler Identität in diesem Rahmen sinnvoll ist. Autoren, die der phänomenologischen und hermeneutischen Tradition zuzurechnen sind, gehören in dieses Lager. Wie bereits gesagt, spielt hier die Überzeugung eine wichtige Rolle, der zufolge es nicht möglich ist, das diachron ausgedehnte Bewusstsein einer Person oder eines Individuums vollständig zu beschreiben oder die in einer Perspektive der Ersten Person gegebenen Erfahrungen und Erlebnisse restlos als objektive Tatsachen zu fixieren. Aber diese epistemische Problematik ist nicht allein ausschlaggebend. Der Anti-Objektivismus ist dadurch kategorial von der Gegenposition unterschieden, dass Identität nicht (oder nicht nur) als ein metaphysisches oder epistemologisches Problem betrachtet wird, sondern als eine Angelegenheit der praktischen Selbstbeziehung und des sich im Verhalten äußernden Selbstverständnisses. Ich werde abgekürzt vom phänomenologisch-hermeneutischen Identitätsbegriff sprechen, ohne damit zu behaupten, dass ausschließlich Phänomenologen und Hermeneutiker diese Auffassungen vertreten. Die Unterschiede zwischen der epistemisch objektivistischen und der phänomenologisch-hermeneutischen Perspektive sind groß. Ein Blick auf Husserls Arbeit und die Rezeption seiner Phänomenologie ist in diesem Kontext aufschlussreich. Husserl hatte danach gefragt, wo die Objekte gegeben sind. Seine Antwort lautete: im Bewusstsein. Die Aufgabe einer als Transzendentalphilosophie konzipierten Phänomenologie war es, das Bewusstsein als Feld der Ermöglichung der Gegebenheit von Objektivität in seinen Formen und Konstitutionsschichten zu analysieren. Dabei blieb die seit Kant begrifflich artikulierte Unterscheidung eines transzendentalen Ich und eines empirischen Ich virulent. Die Phänomenologie führte diese kantische Unterscheidung weiter. Sie untersuchte die Konstitution von Objektivität und der Konstitution des Ich auf der Basis fundamentaler Bewusstseinsakte. Das Projekt der Phänomenologie geriet dabei in Begründungsprobleme. Bei der Analyse des Zeitbewusstseins kollabierte Husserls Grundlegungsversuch.4 Eine nicht-zirkuläre Darstellung des Aufbaus eines Zeitbewusstseins war nicht erreichbar. Die Ableitung der Grundform eines Zeitbewusstseins 4

Husserl 1980 (zuerst 1928), Husserl 1985. Die Rede von Kollaps und Scheitern ist nicht als Abwertung zu verstehen. Husserls Arbeiten zum Zeitbewusstsein gehören fraglos zum Eindrucksvollsten, was die Phänomenologie geleistet hat. Die Vorbildlichkeit Husserls liegt auch in der Klarheit und intellektuellen Redlichkeit seiner eigenen Diagnosen dieser Schwierigkeiten.

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aus einem nicht-zeitlichen Bewusstsein wurde nicht gefunden. In seinen späten Arbeiten gelangte Husserl dann zu einer gewissen Erweiterung des egologischen Modells des Bewusstseins, indem er die Lebenswelt und die wechselseitigen Bezugnahmen der Bewusstseinssubjekte aufeinander untersuchte. Wesentliche Formen des Sinns und der Bedeutung sind nach Auffassung des späten Husserl nur innerhalb des Horizontes einer intersubjektiven Welt anzutreffen.5 Die an Husserl anschließende Fundamentalontologie Heideggers entfernt sich von der Fundierung der Objektivität in einem Subjektbewusstsein. An die Stelle der Analyse des Bewusstseins tritt die Fundamentalontologie. Diese wird in Form einer „Analytik des Daseins“ ausgearbeitet. Es ist alles andere als ein Zufall, sondern eine Weiterentwicklung der husserlschen Überlegungen und ihrer Schwierigkeiten, wenn bei Heidegger die Zeit und die Geschichtlichkeit zentrale Momente dieser „Analytik des Daseins“ sind. Heidegger arbeitet zunächst ebenfalls in transzendentalphilosophischem Stil. Das Dasein ist kein Gegenstand, kein Objekt und es nicht identisch mit dem Menschen.6 Das Dasein ist eine Seinsweise, die Seinsweise der Menschen. Heidegger akzentuiert die Differenz zwischen einem Objektbegriff Mensch und dem Begriff einer Seinsweise Dasein. Diese Differenz ist kategorialer Art. Dasein ist die Bezeichnung für eine Form des Lebensvollzugs und kein Name für eine Gegenstandsart. Elementare Schichten und praktische Formen dieses Lebensvollzugs werden von Heidegger beschrieben. Dabei wird deutlich, dass die Seinsweise des Menschen nicht primär oder ausschließlich durch Reflexion, nicht durch Selbstbewusstsein bestimmt ist. Das Dasein ist in einer durchaus alltäglichen Weise als „In-der-Welt-sein“ und „Sorge“ bestimmt. Vollkommen unabhängig von hochstufigen Reflexionsakten versteht sich der Mensch in der Weise des Daseins immer schon selbst als ein Wesen, das inmitten konkreter Situationen mit spezifischen Bedeutungen, Interessen, Bedürfnissen lebt. Dieses Verstehen ist nicht ausschließlich und nicht primär ein epistemisches, begrifflich strukturiertes Erfassen von Sachverhalten. Es ist fundiert (i) in einer alltäglichen Weise des praktischen Verhaltens, teilweise in vor-begrifflichen Formen des Hantierens mit Zuhandenem, (ii) in emotional-affektiven Dimensionen (Stimmungen) des Lebensvollzugs. Sehr charakteristisch ist Heideggers Abwehr der Meinung, das Verstehen sei eine Form des Wissens oder habe etwas mit Intentionalität zu tun.7 5 6

7

Zu den wichtigen Auseinandersetzungen mit diesem Arbeitsbereich Husserls gehören die jetzt gut zugänglichen Texte von Alfred Schütz in Schütz 2009. „Fernzuhalten ist das Schema: Es gibt Subjekte und Objekte, Bewußtsein und Sein; das Sein ist Objekt der Erkenntnis; das eigentliche Sein ist das Sein der Natur; das Bewußtsein ist ,ich denke‘, also ichlich, Ichpol, Aktzentrum, Person; Iche (Personen) haben sich gegenüber: Seiendes Objekte, Naturdinge, Wertdinge, Güter“ (Heidegger 1988, 81). „[E]s ist überhaupt kein Sichverhalten zu ... (Intentionalität), sondern ein Wie des Daseins selbst […]“ (Heidegger 1988, 15). Die Verneinung von Intentionalität ist natürlich als Reaktion auf die Strategie Husserls zu verstehen, der das Bewusstsein wesentlich als intentionales Bewusstsein konzipiert. Es ist aber vielleicht nicht unnötig, daran zu erinnern, dass die häufig zu hörende Meinung, Husserl habe gelehrt, alles Bewusstsein sei intentional, falsch ist. „Daß nicht alle Erlebnisse intentionale sind, zeigen die Empfindungen […] “ (Husserl 1992a (zuerst 1900/1901), 382f., vgl. auch 387, 409f.). Primär ist das Selbst für Heidegger weder als Reflexion des Ich noch als vorgängige metaphysische Entität zu denken. Es handelt sich um ein präreflexives, alltägliches Selbstsein; vgl.

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Zu orthodoxen Konzeptionen des Verstehens als Erfassen der Bedeutung von Zeichen und Wörtern und ihren Bedeutungen steht diese Konzeption in einer äußerst kritischen Spannung. Das Wissen von einer Zeichenbedeutung ist durchaus eine Form von Verstehen. Aber Heideggers Absicht besteht darin, das Verstehen tiefer anzusetzen. Für ihn ist Verstehen bereits in einem vor-sprachlichen, vor-begrifflichen Verhalten gegeben. Bereits auf dieser elementaren Stufe wird die Welt und damit Bedeutung zugänglich. Diese Erschlossenheit der Welt nennt Heidegger Verstehen. Das erfolgreiche praktische Hantieren in einer konkreten Situation ist kein blindes Geschehen, sondern in diesen Lebensvollzügen wird bereits Welt in einem bestimmten Sinn erfahren. Der Heidegger-Leser G. Ryle hat mit seiner berühmten Unterscheidung von knowing how und knowing that, die mit der erkenntnistheoretischen Dichotomie nicht-propositionaler und propositionaler Formen des Wissens verbunden werden kann, diese Überlegungen weiter entwickelt.8 Heidegger sagt, dass das fundamentale Verstehen die Basis für die abgeleiteten, höheren Formen des Verstehens etwa der Zeichenbedeutungen ist, und er betont, dass Verstehen zugleich Verstehen des je eigenen In-der-Welt-Seins und folglich Selbstverstehen ist. Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Zu dieser Seinsverfassung des Daseins gehört aber dann, daß es in seinem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis hat. [...] Das Dasein versteht sich in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein. Diesem Seienden eignet, daß mit und durch sein Sein dieses ihm selbst erschlossen ist. Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbestimmtheit des Daseins.9 Verstehen ist das existenziale Sein des eigenen Seinkönnens des Daseins selbst, so zwar, daß dieses an ihm selbst das Woran des mit ihm selbst Seins erschließt.10 Die Motivation für diese Erinnerungen an Heidegger wird im obigen Zitat deutlich. Das Verstehen ist immer ein als existenziale praktische Sorge selbstbezogenes Verstehen. Verstehen ist immer ein Seinsverständnis und damit auch ein Selbstverständnis. Menschen sind Wesen, deren spezifische Seinsweise dadurch bestimmt ist, dass sie ein Seins- und Selbstverständnis haben. Eine These der Fundamentalontologie besagt: Das Seins- und das Selbstverständnis sind nicht nur und nicht primär hochstufige kognitive und epistemische Leistungen, die jenseits der alltäglichen Bedürfnisse des Menschen entstehen. Es handelt sich um die basalen Verhältnisse, innerhalb derer Menschen jeweils ihr eigenes Leben vollziehen. Der Mensch ist ein verstehendes und ein sich selbst verstehendes, interpretierendes und evaluierendes Lebewesen.11 Die Frage „Wer bin ich?“ wird demzufolge nicht oder nicht primär durch eine objektiv nachprüfbare Tatsachenliste oder mittels einer Identifizierung aufgrund objektiv

8 9 10 11

Heidegger 2006 (zuerst 1927), § 27, 126–130. Für den Hinweis auf diese Stelle danke ich Andris Breitling (Rostock). Vgl. Schmid 2003, 457. Heidegger 2006, § 4, 12. Heidegger 2006, § 31, 144 (im Original kursiv). Vgl. Taylor 1985.

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vorliegender Eigenschaften beantwortet. Sie findet eine Antwort bereits auf der Ebene dieses primären Selbstverständnisses. Dieses Selbstverhältnis lässt sich nicht ausschließlich objektivistisch bestimmen, weil es in Lebensvollzügen besteht, die als solche ohne eine begriffliche Fixierung aktualisiert werden können. Die epistemische Dimension der Identitätsproblematik wird damit nicht negiert, aber sie wird eingebettet in ein umfassendes Modell eines praktischen Selbstverständnisses und einer praktischen Selbstbeziehung. Die vorangehenden Erläuterungen lassen sich zusammenfassen, indem man zwei unterschiedliche Weisen unterscheidet, die Frage „Wer bin ich?“ zu beantworten. (i) Der epistemische Objektivist benennt nach Maßgabe eines Identitätskriteriums die einschlägigen Tatsachen. Er identifiziert einen bestimmten Organismus aufgrund körperlicher Eigenschaften. Oder er identifiziert ein bestimmtes psychisches oder mentales Wesen aufgrund einschlägiger psychischer oder mentaler Tatsachen. Oder er identifiziert im Rahmen praktischer, ethischer und juristischer Überlegungen eine bestimmte Person als handelnde Akteurin. Es handelt sich hier jeweils um unterschiedliche Beschreibungsvokabularien und unterschiedliche Kriterien. Aber auf jeder Ebene geht der Objektivist jeweils davon aus, dass eine klare Regelung der Begriffsverwendung erfolgt und eine wahre faktenbezogene Identitätsaussage möglich ist. Zudem wird oft davon ausgegangen, dass die unterschiedlichen Ebenen in verständlichen und einheitlichen Abhängigkeitsbeziehungen zueinander stehen. Ein menschlicher Organismus ist als solcher kein Handlungssubjekt, aber unter spezifischen Bedingungen wird das menschliche Lebewesen als ethisch oder juristisch zurechnungsfähige Person anerkannt. Im Zentrum des objektivistischen Identitätskonzepts steht die „Wer bin ich?“-Frage als eine Re-Identifikationsfrage „Bin ich dieselbe Person/dasselbe Individuum wie damals?“. Und wie mit Blick auf beliebige andere Gegenstände wird diese Frage kriteriengeleitet, unter Bezug auf die einschlägigen Tatsachen beantwortet. (ii) Der Anti-Objektivist bestreitet nicht die Kohärenz der objektivistischen Option, er wendet sich gegen die Auffassung, dass die objektivistische Konzeption ausreicht, um die Identität von Personen und Individuen zu bestimmen. Die Frage „Wer bin ich?“ kann ich in einigen Fällen durch faktenbezogene Aussagen beantworten. Bei Re-Identifikationsproblemen oder in administrativen Kontexten ist dies erforderlich. Wesentlich ist allerdings für den Anti-Objektivisten, dass die Frage „Wer bin ich?“ als Frage nach dem Selbstverhältnis gestellt werden kann. Bei der Personenkontrolle durch einen Polizisten wird der Anti-Objektivist auf die Frage „Wer sind Sie?“ nicht mit dem Hinweis antworten „Ich bin kein objektiv eindeutig identifizierbares Individuum“. Aber die Anerkennung von Routinen der Identifizierung und der Re-Identifikation bedeutet nicht, dass personale und individuelle Identität insgesamt durch diese Routinen erschöpfend erläutert wären. Die Frage „Wer bin ich?“ kann in vielen Kontexten nicht durch Informationen über objektive Eigenschaften und Tatsachen beantwortet werden, weil sie nicht als faktenbezogene Informationsfrage gestellt ist, sondern innerhalb einer Klärung des Selbstverständnisses und des Selbstbezugs auftritt. In diesen Fällen wird die Frage durch die Artikulation eines Selbstverständnisses beantwortet. Dabei sind die qualitativen und evaluativen Dimensionen personaler Identität maßgeblich. Ein solches Selbstverständ-

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nis ist auch wesentlich durch Tatsachen bestimmt. Denn das Selbstverständnis eines rationalen Individuums ist der Wahrheit verpflichtet. Ein Individuum, das an der Wahrheit eigener Überzeugungen über die eigene Geschichte im Sinn der res gestae nicht interessiert wäre, wäre ein sich selbst täuschendes Individuum. Erinnerungsaussagen beispielsweise legen uns auf den Glauben an die erinnerten Tatsachen fest. Man weiß nicht, was man vom Geist eines Sprechers halten sollte, der sagen würde: Ich erinnere mich an das Ereignis E, aber ich bin überzeugt, dass E niemals stattgefunden hat. Dennoch sind der Wahrheitsbezug und die Beachtung der individualhistorischen Faktizität nicht hinreichend für ein Selbstverständnis. In hermeneutischer Perspektive ist entscheidend, dass der Einzelne zu den Tatsachen unterschiedliche Einstellungen einnehmen kann, diese in unterschiedlicher Weise verstehen, gewichten, ihnen in verschiedenen Formen Sinn geben kann. Zudem ist wichtig, dass diese Einstellungen und die mit ihnen verbundenen Bedeutungszuschreibungen nicht unwiderruflich fixiert sind, sondern im Prozess der fortschreitenden Erfahrung prinzipiell immer wieder modifiziert werden können. Hinsichtlich der Wahrheitsfrage ist aus ethischer und psychologischer Perspektive nicht nur von Belang, ob ein Individuum wahrhaftige und wahre Überzeugungen über die eigene Vergangenheit hat und gegebenenfalls äußert, sondern, wie das Individuum diese Überzeugungen gewichtet. Der Charakter einer Person ist in erheblichem Maße daran erkennbar, wie sie mit eigenen Fehlern oder Defiziten und mit eigenen Stärken und Vorzügen umgeht. Werden diese als solche gesehen? Werden Fehler zum Anlass für Veränderungsversuche genommen oder werden sie bagatellisiert, verdrängt, vergessen? Werden ausschließlich Stärken oder ausschließlich Schwächen stark betont oder gibt es eine Balance zwischen beiden? Und wie verhält sich die Artikulation des Selbstverständnisses des Einzelnen zu der Sichtweise der Anderen? Ist mein Selbstverständnis die bloße Reproduktion dessen, was Andere über mich denken? Wie wichtig ist mir die Meinung der Anderen und wie stark bestimmt sie mein Leben? Die Interpretation der Tatsachen erfolgt teilweise in Form von expliziten reflexionsgestützten, urteilsförmigen Bedeutungszuschreibungen, teilweise vollziehen sich diese Formen der Sinnbildung in nicht-propositionalen Formen. Mit der heideggerschen Tieferlegung des Verstehens auf die Ebene vor-begrifflichen und vor-sprachlichen Verhaltens ist eine Sichtweise verbunden, in der Sinn bereits erschlossen ist, bevor intentionale, objektbezogene Akte auftreten. So gesehen wird Sinn nicht (nur) durch epistemische Subjekte aktiv gebildet, sondern er wird als Gegebenheit erfahren. Sinn hat auch Widerfahrnischarakter. Es gibt Situationen, die ich in einer bestimmten Weise erfahre und der Sinn, der mir begegnet, stößt mir zu, er drängt sich unabweislich auf, selbst wenn ich mich dagegen wehren wollte. Die These der narrativen Identität besagt, dass das Sprachhandlungsmuster des Erzählens die zentrale Form der Sinnbildung und des Selbstverstehens ist. Dabei nimmt das Erzählen ausdrücklich auch alle die Erfahrungen auf, in denen der in der Erfahrung gegebene Sinn die Intentionen und Bedeutungszuschreibungen des Individuums durchkreuzt oder negiert. Die Frage „Wer bin ich?“ wird wesentlich durch die Erzählungen beantwortet, in denen das Selbst- und Weltverständnis eines Individuums artikuliert werden kann. Die Artikulation leistet somit einen Beitrag zur Konstitution des Selbst.

324

4.

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Konstruktion der Identität?

Die bisherigen Erörterungen lassen vieles offen und bieten einer Vielzahl von unterschiedlichsten Konzeptionen narrativer Identität Raum. Tatsächlich wird narrative Identität in der psychologischen, sozial- und kulturwissenschaftlichen Literatur oft als Konstruktion bestimmt.12 Den epistemischen Objektivisten provoziert diese Redeweise unter anderem deshalb, weil Konstruktionen weder wahr noch falsch, sondern allenfalls funktionstüchtig oder funktionslos, relevant oder irrelevant oder in andersartiger Weise qualifiziert oder disqualifiziert sein können. Man gewinnt den Eindruck, dass in weiten Teilen der Literatur die traditionelle Konzeption der Konstitution von Subjektivität durch Modelle ersetzt werden, in denen die Individuen ihren Selbstbezug durch Bezugnahme auf sprachliche und kulturelle Muster herstellen und sich dadurch eine Identität konstruieren. Offensichtlich wird hier ein Begriff der Identität gebraucht, der keine metaphysischen oder ontologischen Geltungsansprüche formulieren will. Das wird häufig als Vorteil begrüßt, der es erlaubt zeitdiagnostisch aktuelle Befunde zu sammeln und empirisch angereicherte Überlegungen zu formulieren. Unter den Bedingungen der Spät- oder Postmoderne, im Zeichen der Philosophien der Differenz und der Dekonstruktion halten viele das Selbst für ein Relikt der Tradition, an dessen Stelle die multiplen Identitätskonstruktionen der Mitglieder einer sich nach wie vor ständig beschleunigenden Kultur treten. Den Hinweis auf Heideggers Verortung des primären Verstehens auf einer elementaren Ebene vor-begrifflicher und vor-sprachlicher Situiertheit in der Welt kann als Argument gegen die exklusiv sprachliche und semiotische Konzeption der Identitätskonstruktion angeführt werden. Heideggers Sichtweise ist an diesem Punkt sinnvoller Weise zu ergänzen durch Merleau-Pontys Betonung der Leiberfahrung als grundlegendem Zugang zur Welt.13 Die Entwürfe oder Konstruktionen der eigenen Identität sind abhängig von einer vorgegebenen Situiertheit in der Welt, von Widerfahrnissen und von einer leiblichen Basis der Welterfahrung, die sprachlichen und semiotischen Praktiken vorausliegen. Insofern ist das Ich nicht ausschließlich auf der Ebene der Sprach- und Zeichenpraxis zu verorten.14 Um den Abstand zu den radikalen Konstruktionstheorien zu markieren, werde ich im Folgenden auf den Terminus ‚Konstruktion‘ verzichten. Die Identität des Individuums ist sinnvollerweise nicht als reine Konstruktion im Sinn 12 13

14

Einen Einblick bietet Keupp 1999; aus philosophischer Perspektive wurde eine kritische Analyse des Problembereichs von Hacking 2002 (engl. zuerst 1999) erarbeitet. Die Phänomenologie Merleau-Pontys betont die bei Heidegger periphere Leiblichkeit und die durch sie ermöglichte Situiertheit, zeitliche und räumliche Orientiertheit. Vgl. Merleau-Ponty 1945 und 1964, vgl. in diesem Zusammenhang auch Husserl 1992b (zuerst 1950), 99f., 126. „[W]ir wissen, daß […] [‚Ich‘] ein Wort ist, und zwar ein Wort, mit dem der jeweilige Redende sich selbst bezeichnet. Aber die so angeregte begriffliche Vorstellung ist nicht die Bedeutung des Wortes ich. Sonst dürften wir ja für ich einfach substituieren der jeweilig Redende, der sich selbst bezeichnet. Offenbar würde die Substitution nicht bloß zu ungewohnten, sondern zu bedeutungsverschiedenen Ausdrücken führen. Z. B. wenn wir anstatt ich bin erfreut sagen wollten der jeweilig sich selbst bezeichnende Redende ist erfreut“ (Husserl 1992a (zuerst 1900/1901), 88). Damit bringt Husserl eine Einsicht zur Geltung, die später in den Debatten der analytischen Sprachphilosophie erneut formuliert wird, wenn ‚ich‘ als indexikalischer Ausdruck analysiert wird.

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einer linguistischen und semiotischen Operation aufzufassen, sondern als das Resultat einer Artikulation des Selbstverständnisses, die durchaus als Gestaltungs- und Formgebungsprozess zu bestimmen ist. In dieser Gestaltung bleibt ein Bezug zur Wahrheit der dieses Selbstverständnis bildenden Überzeugungen erhalten. Eine wesentliche Form der Artikulation des Selbstverständnisses ist das Erzählen.

5.

Narration und Handlung

A. MacIntyre behandelt den Begriff der Narration im Rahmen einer moralphilosophischen Untersuchung.15 Er ist der Auffassung, dass der Begriff des Erzählens ebenso fundamental ist wie der der Handlung. Er behauptet, dass man auf eine Erzählung zurückgreifen muss, um eine Handlung zu verstehen. Denn eine Ordnung von Handlungen und Intentionen herzustellen sei gleichbedeutend mit der Konstruktion eines narrativen Zusammenhangs. Das Verhalten wird also nur dann adäquat beschrieben, wenn wir wissen, welches die angeführten länger- und langfristigen Intentionen sind, und in welchem Verhältnis die kürzerfristigen zu den längerfristigen Intentionen stehen. […] [W]ir sind damit befaßt eine narrative Geschichte zu schreiben.16 – [A]lle Versuche, den Begriff der persönlichen Identität unabhängig und isoliert von den Begriffen Erzählung, Verstehbarkeit und Verantwortbarkeit zu erhellen, scheitern […].17 Das Erzählen wird von MacIntyre nicht als (nachträgliche) Wiedergabe oder Darstellung des Handelns erläutert. Es gibt keine klare Trennung der Ebene des Handelns und der Ebene des Erzählens. Es gibt kein Handeln ohne Erzählung. Das Handeln ist nicht vorgängig und wird erst nachträglich im Erzählen dargestellt. Im Gegenteil: Das Handeln ist eine ausgeführte Erzählung: „Weil wir alle in unserem Leben Erzählungen ausleben und unser Leben mit Hilfe der Erzählungen, die wir ausleben, verstehen, eignet sich die Form der Erzählung dazu, die Handlungen anderer zu verstehen. Geschichten werden gelebt, bevor sie erzählt werden – außer in Romanen.“18 In diesem Modell kommt der narrativen Identität eine außerordentlich große Bedeutung zu: Sie liegt dem Handeln des Individuums zugrunde, ist ihm inhärent. Die Formel vom Ausleben der Erzählungen weist auf diesen speziellen Status hin. Narrationen bilden die Matrix auf deren Grundlagen das Verhalten und Handeln des Einzelnen aktualisiert wird. 15

16 17 18

MacIntyre 1987, auch Taylor 1989 behandelt den Narrationsbegriff im Rahmen einer breit angelegten moralphilosophischen Untersuchung: „Now we see that this sense of the good has to be woven into my understanding of my life as an unfolding story“ (ebd., 47). „My self-understanding necessarily has a temporal depth and incorporates narrative“ (ebd., 50). „[W]e understand ourselves inescapably in narrative“ (ebd., 51). MacIntyre 1987, 278. Ebd., 291f. Für MacIntyres Handlungsbegriff ist wesentlich, dass er den Begriff der verständlichen Handlung für fundamentaler hält als den einer Handlung an sich. Ebd., 283

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Eine Gegenposition wird von L. O. Mink formuliert: „[S]tories are not lived but told. Life has no beginnings, middles and ends. […]. Narrative qualities are transferred from art to life.“19 Minks Hinweis ist sicherlich relevant. Ohne Einschränkung und Spezifizierung ist MacIntyres These nicht haltbar. Handeln ist nicht immer und nicht in elementaren Fällen abhängig von einer Narration oder einem narrativen Schema.20 Aber komplexe Handlungen oder Lebensverläufe sind verständlich nur im Rahmen von Narrationen. Die Spannung zwischen den beiden genannten Positionen wird in den Arbeiten Paul Ricœurs aufgelöst. Ricœur diskutiert die Thesen MacIntyres und Minks und integriert sie in ein Konzept narrativer Identität, das maßgeblich auf literarische Texte und fiktionale Erzählungen bezogen ist.21 Um den Zusammenhang von Handlung und Erzählung mit Blick auf die Ausbildung einer narrativen Identität zu erläutern, unterscheidet Ricœur drei Ebenen: Präfiguration, Konfiguration und Refiguration. Mit dem Terminus Präfiguration bezieht sich Ricœur auf den Umstand, dass bereits auf der Ebene der alltäglichen Erfahrung Vorformen der Erzählung anzutreffen sind. Die Menschen erfahren die Handlungswelt nicht als ein Feld einer Menge von isolierten, ungeordneten Einzelereignissen, sondern als einen Bereich, in dem bestimmte Formen des Verhaltens als Handeln interpretiert werden. Ein Verhalten als Handeln zu interpretieren heißt, mehrere Ereignisse zusammenzufassen und als Einheit zu begreifen. Eine bestimmte Art des Hebens der Hand, anschließender Bewegungen der Hand, eine gleichzeitige spezifische Veränderung des Gesichtsausdrucks werden in bestimmten Kulturen als Elemente der Aktualisierung eines Handlungsmusters „Begrüßen“ verstanden. Dass diese Einzelereignisse in dem Zusammenhang stehen, den der Teilnehmer einer bestimmten Lebensform routinemäßig erkennt, ist keine natürliche Tatsache, sondern ergibt sich aus einer kulturellen Semantik der Handlung, die in vielen Fällen quasi-narrative Strukturen der Kohärenzbildung in Anspruch nimmt. Ein Verhalten als Handlung aufzufassen bedeutet nämlich, es im Zusammenhang mit Zielen, Motiven, Absichten, Rahmenbedingungen und Folgen zu bestimmen und einzelnen Subjekten als Urhebern der Handlung zuzurechnen. Dieses Begriffsnetz geht als strukturelle Voraussetzung auf einer späteren Stufe in die Bildung expliziter Narrationen ein. Handlungen können als „Quasi-Texte“ bestimmt werden, „sofern die […] Symbole die Bedeutungsregeln liefern, nach denen ein bestimmtes Verhalten interpretiert werden kann“.22 An diesem Punkt ist eine partielle Übereinstimmung mit MacIntyre auszumachen. Bereits auf der prä-narrativen Stufe des alltäglichen Handelns werden bestimmte Bedeutungen zugeschrieben, die aufgrund kultureller, lebensformspezifischer Regeln erkennbar sind. Damit werden Einzelereignisse miteinander in verständliche Verbindungen 19 20 21

22

Mink 1970, 557f., vgl. auch Mink 1978. Ein Argument gegen die These des starken Narrativismus, dass Handeln grundsätzlich von narrativen Konzepten abhängig ist, formuliere ich in Teichert 2013. Ricœur 1988 (franz. zuerst 1983), Ricœur 1989 (franz. zuerst 1984), Ricœur 1991 (franz. zuerst 1985). Die Konzeption narrativer Identität in Ricœur 1996 (franz. zuerst 1990) unterscheidet sich von den früheren Überlegungen. Die beiden Modelle der Identität die Ricœur 1996 mit den Ausdrücken „mêmeté“ und „ipseité“ bezeichnet, werden behandelt in Breitling 2007, Teichert 1999, Teichert 2004. Ricœur 1988, 96.

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gebracht. Es findet eine Strukturierung und Einheitsbildung statt. Eine bestimmte Folge von Ereignissen, Widerfahrnissen, Unterlassungen oder aktiven Handlungen zu erleben, impliziert demnach die Herstellung bestimmter Zusammenhänge zwischen den Elementen und die Zuschreibungen von Bedeutungen zu ihnen. In der Alltagswelt werden Ereignisse narrativ „präfiguriert“, indem die für die Narration grundlegende Struktur des diachronen Erzählzusammenhangs, das Schema Anfang-Mitte-Ende eingesetzt wird. Ricœur untersucht unter detaillierter Bezugnahme auf die Aristotelische Poetik dieses Schema und seinen Zusammenhang mit der Handlungstheorie. Und er gebraucht es auch für die Zwecke seiner Überlegungen zu den expliziten literarischen Narrationen und ihrer Bedeutung für die Identität des Einzelnen. Damit ist die Stufe der Konfiguration erreicht. Dank der Trias Anfang-Mitte-Ende wird in der Erzählung als Text eine Ganzheit und Abgeschlossenheit gestaltet, die es erlaubt, Handlungszusammenhänge in einer auf der Ebene der alltäglichen Handlungen so nicht erkennbaren Sinngestalt anzutreffen. Eine möglicherweise amorphe Fülle von Ereignissen, die diachron unabgeschlossen weiterläuft, wird geordnet, gestaltet und zu einem Ganzen zusammengefasst. Auch im Alltag werden Einheiten gebildet, aber immer in vorläufiger Form, da die Alltagserfahrung nicht zum Stillstand kommt, sondern sich stetig fortsetzt. Die narrative Konfiguration – der Text als fixiertes Gebilde – basiert auf den Präfigurationen der alltäglichen Handlungswelt mitsamt ihrer lebensformspezifischen Deutungsmuster. Das Schreiben bildet aber nicht einfach etwas Vorgegebenes ab. Das Schreiben erarbeitet eine Konfiguration, die nicht als Abbild einer vorgegebenen Handlungswelt zu verstehen ist, sondern als kreative Gestaltung, als Synthese, die in einer Darstellung der Welt des Textes resultiert. Diese Welt des Textes ist mit den Präfigurationen der Alltagswelt verbunden. Sie geht aber nicht in ihr auf. Das im Detail nachzuweisen, ist Aufgabe einer Auseinandersetzung mit der literaturwissenschaftlichen Narratologie, die Ricœur in großer Ausführlichkeit diskutiert. Dabei werden alle maßgeblichen Schulrichtungen der Theoriebildung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts behandelt, von der strukturalen Analyse der Erzählung bis zur Rezeptionstheorie der Konstanzer Schule. Die literarische Konfiguration unterscheidet sich unter anderem durch die Divergenz der Funktionen des den Text produzierenden Autors und der dem Text immanenten Instanz des Erzählers und durch die im Medium des Textes gegebenen Formen der Modellierung von Zeiterfahrung. Und sie ist durch die Funktion der produktiven Einbildungskraft bestimmt, die die Einzelereignisse der Textwelt in eine bestimmte Form bringt. Den formalen Eigenschaften der Erzählperspektive, des Verhältnisses von Erzählzeit und erzählter Zeit, der Strukturierung des Verhältnisses der kalendarischen, chronometrischen Zeit und des Zeiterlebens der einzelnen Figuren des Textes kommt dabei zentrale Bedeutung zu. Die Refiguration bezieht sich auf das Lesen des Textes, die Rezeption. Mit dem Konzept der Refiguration greift Ricœur auch das in der Hermeneutik thematisierte Moment der Applikation auf.23 Die Welt des Textes ist kein Abbild der Alltagswelt, sie ist eine mögliche Welt, in der Ereignisse und Formen der Erfahrung zur Sprache kommen, die vom Leser auf seine Lebenswelt bezogen werden können. Der Text kann in die Lebenswelt des Lesers einwirken, etwa in Form der Veränderung von Einstellungen, normativen 23

Ricœur bezieht sich ausdrücklich auf H.-G. Gadamer, vgl. Ricœur 1991, 254.

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Unterscheidungen oder umfassenden Orientierungen. Dieses Moment ist von entscheidender Bedeutung für die narrative Identität. Die Fiktion hat eine Funktion, „die man in eins aufzeigend und verwandelnd hinsichtlich der Alltagspraxis nennen kann; aufzeigend in dem Sinne, daß sie Züge ans Licht bringt, die zwar verborgen, aber gleichwohl in unserer praktischen Erfahrung bereits angelegt sind; verwandelnd in dem Sinne, daß ein so durchleuchtetes Leben ein verändertes, ein anderes Leben ist“.24 Dass wir selbst unsere Erfahrungen erzählen, und die Art und Weise, wie wir autobiographische Erlebnisse erzählen, kann demnach unsere Sicht auf die Erfahrungen und somit uns selbst verändern.

6.

Kollektive und personale Identität

Die Konzeption narrativer Identität kann den Narrationsbegriff sowohl im Sinn des alltäglichen, meist mündlichen Erzählens verwenden als auch im Sinn der verschriftlichten Erzählungen, wobei die historische Erzählung oder die literarische (fiktionale) Erzählung gemeint sein können. Im Rahmen der Erläuterung der kollektiven Identität etwa von religiösen Gruppen wie derjenigen der Juden oder Christen ist die Bedeutung von narrativen Texten offensichtlich: Es sind bestimmte ‚heilige‘ Texte, die den Bezugspunkt einer religiösen Praxis und die maßgebliche Orientierung für die Identität der Angehörigen der Gruppe bilden: Man kann sagen, „daß das biblische Israel erst dadurch, daß es sich Geschichten erzählte, die als das Zeugnis seiner eigenen Gründungsgeschichte galten, zu jener historischen Gemeinschaft wurde, die diesen Namen trägt“.25 Ricœurs Strategie zielt insgesamt darauf ab, das Gewicht in Form verschrifteter Erzählungen überlieferten kulturellen Sinns hervorzuheben. Erzählungen generell, aber insbesondere bestimmte schriftlich fixierte Erzählungen, sind dieser Auffassung zufolge zentrale Medien der Übermittlung kulturellen Sinns.26 Dabei ist an ein sehr weites Spektrum von Texten zu denken, das religiöse, philosophische,27 historische und literarische Texte umfasst. Ricœur betont die Zugehörigkeit des Einzelnen zu bestimmten Institutionen des kollektiven Lebens und er hebt hervor, dass diese Institutionen und Gruppen oft 24 25 26

27

Ebd. Ebd., 398. „Über Erzählungen vollzieht sich die Überlieferung kulturellen Sinns und ethischer Wertsetzungen. Das aber geschieht, wie Ricœur herausstellt, insbesondere im Fall der Erzählung von Gründungsereignissen, in denen der Leser die Wurzeln seiner eigenen politischen, sozialen oder kulturellen Herkunft erkennt. In ihre Erzählungen verständigen sich Individuen wie Kollektive, Völker und Nationen über sich selbst, indem sie prägenden Ereignissen ihrer Geschichte die Bedeutung eines Ursprungs zuschreiben, der der Ursprung ihrer Identität ist“ (Breitling 2007, 165). Im Hinblick auf das Corpus philosophischer Texte könnte der Einwand begegnen, die Narration sei eine unzuständige Gattung. Das ist sicherlich hinsichtlich des Selbstverständnisses der westlichen Tradition über weite Strecken zutreffend, kann aber keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass wichtige Texte der Philosophie narrative Dimensionen haben. Diese kann nicht als bloßes Epiphänomen abgetan werden. Man denke an die Gleichnisse in Platons Politeia, die erzählenden Partien des Sokratischen Dialoge Platons oder Descartes‘ Discours de la méthode. Vgl. die Beiträge in Gabriel/Schildknecht 1990, Schildknecht/Teichert 1996; ferner: Schildknecht 1990.

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durch Erzählungen über Ursprünge und Anfänge ihre Einheit gewinnen.28 Ich bin der, der ich bin, maßgeblich dadurch, dass ich bestimmten Gruppen und Institutionen zugehöre: Familie, ethnische Gruppe, Sprachgemeinschaft, gender, Glaubensgemeinschaft, Berufsgruppe, Nation, Staat sind die wichtigsten Bestimmungsmomente. Die Zugehörigkeiten zu den einzelnen Gruppierungen können sich ergänzen oder in Konflikt geraten. Teilweise wird die Zugehörigkeit vom Individuum gewählt (Berufsgruppe), teilweise ist sie vorgegeben (Familie, ethnische Gruppe). Die Relevanzen der unterschiedlichen Zugehörigkeiten können sich im Lebensverlauf verändern. Zugehörigkeiten können verstärkt und teilweise gelöst werden. Ricœurs Modell erscheint allerdings etwas einseitig zu sein. Mögliche Spannungen zwischen einzelnen Zugehörigkeiten werden nicht wirklich in ihrer Brisanz erfasst und die Bedeutung der Kritik am übermittelten kulturellen Sinn, die man als Kritik der Identitäten bezeichnen kann, wird nicht deutlich.29 Es sind gerade die Konflikte zwischen Zugehörigkeiten, die den Einzelnen oft dazu bringen, sich die Fragen zu stellen „Wer bin ich eigentlich?“ und „Wer will ich eigentlich sein?“. Das Selbstverständnis des Einzelnen ist wesentlich durch seine Zugehörigkeit oder seinen Ausschluss aus bestimmten Kollektiven bestimmt. Dabei spielt die Art der Aneignung der für die jeweilige Gruppe maßgeblichen Erzählung eine wichtige Rolle. Die Aneignung kann sich als Identifikation oder als identifikationsverweigernde Stellungnahme vollziehen. Hier ist neben der imaginativen Identifikation mit den gruppenkonstitutiven Narrationen die Fähigkeit zur Kritik und Distanznahme verlangt. Diese muss sich nicht ausschließlich als rational-diskursive Kritik manifestieren. Sie kann auch als Versuch der Durchsetzung einer Neu-Erzählung, als Transformation der gruppenkonstitutiven Narration erfolgen.

7.

Zeit

Die literarischen (fiktionalen) Erzählungen können nach Ricœurs Auffassung bedeutsam werden, wenn das Individuum sie sich in identifikatorischer Einstellung aneignet und aus ihnen Orientierung für das eigene Leben gewinnt. Bisher war von der Orientierungsleistung und der Vermittlung normativer Unterscheidungen die Rede. Ricœurs Überlegungen stellen aber eine weitere Leistung der literarischen Erzählung als zentral dar. Drei Romanen widmet er besondere Aufmerksamkeit: V. Woolfs Mrs Dalloway, Th. Manns Der Zauberberg, M. Prousts A la recherche du temps perdu. Ricœur sagt, dass die literarische Narration einen spezifischen Beitrag im Hinblick auf die menschliche 28

29

Einschlägige Beispiele sind Religionsgemeinschaften, insbesondere das Judentum und das Christentum. Durch lange Perioden hindurch war im christlich geprägten Kulturraum die ‚imitatio christi‘ das für die gläubigen Menschen maßgebliche Orientierungs- und Selbstdeutungsmuster. Das heutige, von diesem Gedanke fern gerückte Religionsverständnis hat zu weiten Zonen der kulturellen Überlieferung einen unmittelbaren Zugang verloren. Dank der Vermittlung der kultur- und geisteswissenschaftlichen Arbeit gelingt es immer wieder, eine Annäherung zu ermöglichen. Bewundernswert und exemplarisch zeigen dies die Analysen der Bildsprache des 17. Jahrhunderts von Marc Fumaroli, vgl. Fumaroli 1998. Den Ausdruck „Kritik der Identitäten“ übernehme ich von Breitling 2007, 173.

330

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Zeiterfahrung erbringt. Er behauptet, „daß die Zeit in dem Maße zur menschlichen wird, in dem sie sich nach einem Modus des Narrativen gestaltet“.30 Die Rede von menschlicher Zeiterfahrung bezieht sich auf die seit Husserl bekannte Unterscheidung zwischen Weltzeit und Zeitbewusstsein. Der entscheidende Punkt dieser weitverzweigten Problematik ist erkennbar, wenn man an McTaggarts klassischen Aufsatz denkt: Die menschliche Zeiterfahrung, in der Zukunft beständig zu Gegenwart und Gegenwart unaufhörlich zu Vergangenheit wird, ist mit den Mitteln einer Serie von Einzelereignissen, die mittels der früher-später-Unterscheidung geordnet sind, nicht adäquat darstellbar.31 Menschliches Zeitbewusstsein ist wesentlich eine Erfahrung von Dynamik. Zeiterfahrung ist Erfahrung des Fließens der Zeit. Aus einem zukünftigen, einem erwarteten Ereignis, wird ein gegenwärtiges Ereignis und aus dem gegenwärtigen Ereignis wird ein vergangenes, erinnertes Ereignis. In der menschlichen Zeiterfahrung verändert sich der Status der Ereignisse hinsichtlich der Modi vergangen, gegenwärtig, zukünftig und innerhalb der einzelnen Modi erfolgen Veränderungen hinsichtlich der Entfernung zu den jeweiligen Gehalten. Auf der Ebene der entsubjektivierten Weltzeit gibt es datierte Ereignisse, aber keine flüchtige Gegenwart. Die Weltzeit und die chronometrisch datierten, im Rahmen kultureller Konventionen kalendarisch eingeordneten Ereignisse haben keine Dynamik, wie das Zeitbewusstsein sie permanent erfährt. Der 14. Juli 1789 verändert seine Position nicht. Was sich verändert ist allenfalls die Bedeutung dieses Datums für eine bestimmte kulturelle Praxis und Gesellschaft. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stehen in wechselseitigen Bezügen. Erinnern, Wahrnehmen, Erwarten sind nicht angemessen als statische Bezugnahmen auf isolierte datierte Einzelereignisse innerhalb einer diachronen Ereignisserie zu beschreiben. Es handelt sich um Synthesen, in denen Einzelnes aufgenommen und zu Einheiten zusammengefasst wird, und die ihrerseits einer beständigen Modifikation durch das Fortschreiten der Zeit unterliegen.32 Ricœur denkt, dass Narrationen die für Menschen beste Weise der Darstellung der eigentümlichen menschlichen Erfahrung der Zeit als komplexem Zusammenspiel der Weltzeit und des Zeitbewusstseins geben. Mit dieser Einschätzung ist eine Absage an die Leistungsfähigkeit der begrifflichen Arbeit der Philosophie verbunden. Ricœur zieht damit die Konsequenzen aus der Einsicht Husserls in das Scheitern einer nicht-zirkulären Theorie der Konstitution des Zeitbewusstseins, die nach einem detaillierten Durchgang durch die philosophischen Theorien der Zeit von Aristoteles bis Heidegger formuliert werden. Die Analyse dieses Anspruchs seiner Ausführungen ist hier nicht möglich und nicht erforderlich. Gezeigt werden sollte, welche Rolle literarische (fiktive) Erzählungen für die narrative Identität spielen können. Die literarische Erzählung exemplifiziert in fiktiven Textwelten die Vielfalt und Mehrdimensionalität der Zeitform des Erlebens. Die Fiktion, die Textwelt, wird teilweise als Gedankenexperiment, als Phantasievariation einer Alltagswelt verstanden. Die Lektüre macht den Leser mit einer möglichen, 30 31

32

Ricœur 1988, 87. McTaggart 1993 (engl. zuerst 1908), 67–86. Dieser sehr summarische Hinweis auf McTaggart kann nicht auf seine These von der Irrealität der Zeit eingehen; vgl. zum Problemkomplex nach wie vor Bieri 1972. Husserls Schema der sich beständig anreichernden Retentionen ist der Versuch einer Darstellung eines wichtigen Aspekts dieses Phänomens; vgl. Husserl 1980, 23 und 79.

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vorstellbaren Welt vertraut. Der Leser kann durch die Lektüre sein Vorstellungsvermögen, das Repertoire deskriptiver und normativer Unterscheidungen modifizieren, erweitern oder revidieren (indem er beispielsweise bestimmte normative Unterscheidungen aufgibt). Diese Erweiterung des Vorstellbaren und Denkbaren kann auf das Selbstverständnis des Lesers einwirken, indem er seine eigenen Erfahrungen in einer veränderten Einstellung betrachtet, die eigene Lebensgeschichte neu formuliert. „So kann der Nachvollzug narrativer Konfiguration unter Umständen zu einer grundlegenden Refiguration des ‚Wirklichkeitssinns‘ des Lesers führen, und korrelativ dazu zu einer Sinnumwandlung seiner wirklichen Erfahrungswelt.“33 Die narrative Identität bezieht sich auf das Selbstverständnis des Einzelnen, das durch die Erzählungen bestimmt ist, die er sich identifikatorisch aneignet. Dazu gehören gleichermaßen die für bestimmte Kollektive konstitutiven Erzählungen wie auch die literarischen Erzählungen, durch die der Einzelne sein Selbst- und Weltverständnis verändert und bestimmen lässt. Die narrative Identität wird durch die faktischen und potentiellen Erzählungen gebildet, die der Einzelne über sich selbst erzählen kann. Wichtig ist hier das Moment der Virtualität der für das Selbstverständnis wesentlichen Erzählungen. Der Einzelne hat eine narrative Identität nicht deshalb, weil er seine eigene Autobiographie faktisch niedergeschrieben hätte oder weil er Teile seiner Lebensgeschichte tatsächlich erzählt. Das faktische Erzählen der eigenen Erfahrungen ist vielmehr eine explizite Artikulation eines grundlegenden Selbstverständnisses und einer Fähigkeit, das eigene Handeln und die Widerfahrnisse des eigenen Lebens in einen verständlichen Zusammenhang zu bringen. Die Erzählung ist das Medium einer Reflexion des Ich, das sich in dem mehr oder weniger kohärenten Rahmen der Narration wiedererkennt. Dass die narrative Identität keine endgültige, abschließende Form findet, sondern immer vorläufig und veränderlich ist, ergibt sich bereits aus der Form des Zeitbewusstseins und der Dynamik der Zeiterfahrung. Die narrative Identität bleibt somit immer zukunftsoffen und instabil, sie ist in „ständiger Bildung und Auflösung“34 begriffen. Niemand erzählt sein eigenes Ende, niemand erzählt von seinem Tod. Literaturverzeichnis

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33 34

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Teichert, Dieter (2013), „Narration, Ich-Identität, Selbst“, in: Georg Gasser/Martina Schmidhuber (Hg.), Personale Identität, Narrativität und Praktische Rationalität. Die Einheit der Person aus metaphysischer und praktischer Perspektive, Paderborn, 221–238.

Personenregister

Adams, Fred 58 Adorno, Theodor W. 43 Aitmatov, Dschingis 78 Anscombe, Gertrude. E. M. 270 Antonsen, Jan Erik 167 Appel, Markus 79 Aristoteles 26, 32f., 45, 97, 141, 186f., 220f., 225, 247f., 256–258, 273, 305, 330 Austin, John L. 10, 165 Ayer, Alfred J. 235 Bareis, J. Alexander 165 Barsalou, Lawrence W. 224, 227, 230 Baumgarten, Alexander G. 45 Beardsley, Monroe C. 46, 83, 120, 122, 249 Beardsmore, Richard W. 126, 137 Benn, Gottfried 52 Bennett, Christopher 270 Bergson, Henri 177 Berninger, Anja 264 Bertram, Georg W. 150 Birus, Hendrik 169 Bonacchi, Silvia 273 Booth, Wayne C. 254 Borrmann, Mechtild 86, 90 Boyle, Thomas 80–87, 89f. Bratman, Michael 289f. Brecht, Bertold 84, 205f. Brock, Stuart 288 Büchner, Georg 52 Bullough, Edward 311 Bunia, Remigius 164 Büren, Erhard v. 273 Burge, Tyler 198, 208–210 Burri, Alex 15, 126, 184 Buwalda, Peter 143

Caldéron de la Barca, Pedro 42, 164 Carroll, Lewis 42, 164 Carroll, Noël 46, 57, 78, 93, 107, 112, 114f., 150, 190, 243f., 260, 306 Chalmers, David 49f. Churchland, Paul 35–37 Cebik, Leroy B. 75f. Cervantes, Miguel de 42, 164 Chisholm, Roderick 265 Choi, Jinhee 288 Cochrane, Thomas 294 Coetzee, John M. 151, 292 Cohen, Jonathan 289 Cohnitz, Daniel 150, 243 Collingwood, Robin G. 263 Cooper, James F. 144 Croce, Benedetto 263 Culler, Jonathan 43, 164 Currie, Gregory 10, 20, 46, 82, 100, 107, 110f., 130f., 133f., 141, 181, 206, 243, 249, 251– 254, 286, 288, 290 Damasio, Antonio 109, 288, 290 Danto, Arthur 41, 125, 220 Darwin, Charles 34, 266 Davenport, Edward A. 150 Davidson, Donald 15, 36–38, 150, 266, 270 Dazzani, Machado M. V. 256 Debus, Friedhelm 169 Deines, Stefan 181 Demmerling, Christoph 18, 157, 174, 219 Derrida, Jacques 43 Descartes, René 15, 26–34, 37, 328 Dewey, John 258f., 297 de Sousa, Ronald 256, 279, 309 Diamond, Cora 137

336 Dickens, Charles 52, 100, 303 Dickie, George 220 Diffey, Terry J. 76, 79f., 91, 198 Döblin, Alexander 144 Doderer, Heimito von 25, 144 Döring, Sabine A. 21, 75, 127, 184, 264, 266, 270, 273 Dostojewski, Fjodor M. 52, 151, 252f. Doyle, Arthur C. 63, 206 Ducasse, Curt J. 265 Eco, Umberto 213f., 255 Ekman, Paul 266 Eldridge, Richard 57 Elgin, Catherine Z. 75, 115, 147–150, 157, 191 Eliot, George 188 Elliott, Ray K. 97, 306f. Farrell, Frank 59 Feagin, Susan 127, 135, 256 Filho, Silva W. J. 256 Flaubert, Gustave 55, 105f., 143, 149 Fodor, Jerry 224, 227–229, 233f. Fontane, Theodor 149, 182 Foster, Cheryl 310 Franzen, Jonathan 143 Frege, Gottlob 35, 43f., 165, 167, 175, 233, 251 Fricke, Harald 165 Frijda, Nico 294–298 Frisch, Max 52 Fuller, Gary 58 Gabriel, Gottfried 75–77, 82, 87, 120, 124f., 127f., 130, 135, 137, 141, 143f., 146, 148, 157, 165, 172, 177, 181–184, 219, 237, 243, 249, 328 Gale, Richard M. 249 Gans, Carl 63 Gaut, Berys 46, 74–76, 97f., 107, 119f., 124, 133f., 136f., 143, 285, 288 Gendler, Tamar 288 Gibson, John 57, 75, 120, 184, 192, 285f. Goethe, Johann W. 9, 13, 42, 45, 163, 169–171 Goetz, Rainald 52 Goldie, Peter 264, 266–268, 274 Goldman, Alvin 132 Gombrich, Ernst H. 278 Goodman, Nelson 157

Personenregister Graham, Gordon 75 Griffiths, Paul 272 Grundmann, Thomas 184 Gumbrecht, Hans U. 164, 173 Haapala, Arto 21f., 306, 310f. Hacking, Ian 149, 324 Hagberg, Garry 57 Hamburger, Käte 168 Harris, Paul 288 Heidegger, Martin 22, 43, 177, 320f., 324, 330 Heimrich, Bernhard 164 Herzog, Patricia 309 Hepburn, Ronald 308f. Heydebrand, Renate von 273 Hobbes, Thomas 150 Hoffmann, E. T. A. 52, 169 Hofmannsthal, Hugo von 16, 48f., 55, 164 Hölderlin, Friedrich 186 Hooft, Stan van 259 Hursthouse, Rosalind 266f., 278 Huemer, Wolfgang 16, 58, 60, 62f., 75, 120, 152, 185 Husserl, Edmund 319f., 324, 330 Hustvedt, Siri 52 Illouz, Eva 148 Ingarden, Roman 93, 245f. Iser, Wolfgang 245–247, 255f. Jackson, Frank 183 Jacobson, Daniel 76 Jäger, Christoph 75, 173, 185 James, Henry 151 James, William 264, 271, 273, 294f. Janich, Peter 149 John, Eileen 114 Jones, Lisa 17, 120, 141 Jost, Walter 57 Joyce, James 46, 52, 167, 172, 248 Jung, Eva-Maria 146 Kafka, Franz 51, 65, 173 Kant, Immanuel 37, 45f., 186f., 297, 319 Keller, Gottfried 170–172 Kieran, Matthew 98, 107, 288 Kivy, Peter 103, 192f., 194 Klein, Yves 176

Personenregister Klemperer, Victor 175 Klimek, Sonja 164 Knight, Deborah 311f. Koepsell, Kilian 173 Köppe, Tilmann 41, 53, 84, 141, 177f., 181, 201f., 204f., 207f. Kovakovich, Karson 288 Krausz, Michael 189 Kutschera, Franz von 75f., 263f., 280 Lackey, Jennifer 183 Lamarque, Peter 9, 13f., 19f., 43, 57, 62, 92, 98f., 102–104, 120, 124–126, 141–145, 155, 157, 184f., 188–193, 206, 219–223, 237, 248, 285, 288, 305 Langer, Susanne 129 Lauer, Gerhard 173 Leibniz, Gottfried W. 9, 31, 150, 205f. Lenz, Karl 148 Lenzen, Wolfgang 148 LePore, Ernest 224 Lessing, Gotthold E. 52, 198 Levinson, Jerrold 46, 220 Lewin, Kurt 272–275, 277, 279 Lewis, David 58, 97 Locke, John 28, 224, 228, 317 Lopes, Dominic McIver 57 Lycan, William G. 278 Lyotard, Jean-François 43 MacIntyre, Alasdair 325f. Mann, Thomas 42, 55, 145, 175, 185, 214, 329 Marsh, Elizabeth 79 Matheson, Carl 287f., 292 Mauthner, Fritz 42, 177 Meade, Michelle L. 79 Melville, Herman 17, 100, 207 Merleau-Ponty, Maurice 324 Mervis, Eleanor 226 Meskin, Aaron 290, 293 Miller, Arthur 52 Mink, Louis O. 326 Misselhorn, Catrin 20, 122, 145f., 151, 172, 183, 222f. Mitchell, William. J. T. 278 Mittelstraß, Jürgen 174 Moran, Richard 288 Mulligan, Kevin 273

337 Musil, Robert 9, 20f., 151, 219f., 231–234, 264f, 271–280 Nagel, Thomas 34, 126, 155, 183, 268f. Neill, Alex 288, 305 Newman, Barnett 176 Newman, Ira 312 Nietzsche, Friedrich 42f., 49, 164 Noordhof, Paul 294 Novitz, David 75f., 107, 110, 112f., 249 Nussbaum, Martha C. 107f., 137, 151, 173, 243f., 258–260, 264, 285f., 288 Ohmann, Richard 249 Olsen, Stein H. 9, 19f., 43, 99, 102f., 120, 124, 126, 141, 143–145, 155, 157, 184f., 188–190, 192f., 206, 219–223, 237, 248, 285 O’Shaughnessey, Brian 291f. Peacocke, Christopher 251 Platon 7, 45, 47, 73, 97, 141, 165–167, 243, 258, 306, 328 Porter, Katherine A. 147, 155 Prinz, Jesse 220, 224–230, 233f., 236f., 288 Pritchard, Duncan 121 Proust, Marcel 42, 51f., 54f., 122, 151, 204– 206, 329 Putnam, Hilary 108, 137, 150, 198 Radford, Colin 7f., 46, 57, 257 Ravenscroft, Ian 130, 133, 290 Reicher, Maria E. 16f., 73, 75f., 127f., 141, 143, 146, 155, 167, 171, 176, 181f., 184f., 198, 202–204, 207f., 211f., 213, 216 Ricks, Christopher 63 Ricœur, Paul 22, 326–331 Rilke, Rainer M. 42, 187 Roberts, Robert C. 264 Robinson, Jenefer 137, 288, 292 Roediger III, Henry L. 79 Rorty, Richard 174 Rösler, Wolfgang 247 Rosch, Carolyn B. 226 Russell, Bertrand 50, 53, 56, 63, 127f., 155 Ryle, Gilbert 126, 321 Sartre, Jean-Paul 42

338 Schildknecht, Christiane 15f., 127f., 146, 176, 183f., 219, 237, 315, 328 Schlaffer, Heinz 169 Schlick, Moritz 152 Schmidt, Arno 167, 170, 213f. Scholz, Oliver 76, 124, 127f., 137, 185 Schopenhauer, Arthur 46 Schreier, Margrit 79 Schroeder, Timothy 287f., 292 Scruton, Roger 251 Searle, John R. 10, 53, 58, 62, 82, 100, 163, 165, 167, 181, 194, 200, 206–208, 249f. Seel, Martin 175, 181 Shakespeare, William 38, 42, 52, 122 Sidney, Philip 167 Silvers, Anita 309 Sinclair, Upton 155 Smith, Edward E. 236 Smith, Michael 267, 270 Solomon, Robert 264, 311f. Sophokles 186 Spelke, Elizabeth S. 274 Spoerhase, Carlos 173 Stecker, Robert 58 Stein, Edith 306f. Steinbeck, John 78 Sterne, Laurence 42 Steuer, Daniel 57 Stock, Kathleen 292 Stolnitz, Jerome 57, 77, 104, 123–126 Strange, Jeffrey J. 79 Stroud, Scott R. 134 Sundararajan, Louise 294–298 Sutrop, Margit 20, 167, 173, 249f., 254 Tappolet, Christine 264 Teichert, Dieter 22, 41, 174, 256f., 317, 326, 328 Tellkamp, Uwe 172

Personenregister Thomasson, Amie L. 310 Thomson-Jones, Katherine 292 Thürnau, Donatus 157 Tolstoi, Leo 101, 104, 122, 149, 173, 186, 206f., 255, 263, 303, 308 Tugendhat, Ernst 257 Urmson, James O. 249 Vatan, Florence 273 Vendler, Zeno 254f. Vendrell Ferran, Íngrid 17, 64, 77, 135, 173f., 219 Vesper, Achim 19, 141 Voland, Eckart 148 Voltaire 122, 205f. Walsh, Dorothy 17, 127–130, 132 Walton, Kendall L. 11, 46, 99, 104, 134, 141, 173, 206, 249, 290, 294, 308 Weinberg, Jonathan 290, 293 Weitz, Morris 120–122, 219 Werfel, Franz 78, 84 Werhane, Patricia H. 259 Wetz, Franz J. 148 White, Hayden 248 Wieland, Christoph M. 164, 172, 174, 186 Wille, Katrin 64 Wilson, Catherine 75, 104, 112, 127, 184, 257 Wittgenstein, Ludwig 35, 38, 43, 46, 55, 58f., 113, 120, 163, 226, 235, 272, 276, 278 Wollheim, Richard 104, 130, 133, 267, 293 Wright, Richard 121 Yanal, Robert 305 Zipfel, Frank 165 Zola, Emile 52

Sachregister

Adverbialismus (adverbiale Theorie der Emotionen) 21, 264, 265, 271, 276, 277, 278, 279, 281 Akrasie, ästhetische 308f. Akt, illokutionärer 10, 58, 81–83, 88, 167, 178, 249, 250 Akzeptanz 287, 289–292 Akzeptanzprinzip 19, 209f., 215 Allgemeines 19, 45f., 48, 49, 137, 157, 174, 181, 185f., 188, 190, 193, 222, Anti-Kognitivismus 65f., 74–76, 79f. Asymmetrische Dependenzthese 228 Ausdrucksfunktion 21, 263f. Ausdruckswert 263 Äußerung 17, 80–89, 91f., 99–103, 181–183, 185f., 189–200, 202f., 208, 210, 213, 216, 249, 250 Aussage 13, 16, 19, 41, 45, 52, 60f., 64–66, 83, 102, 121f., 132, 145, 163, 164, 167f., 170, 175, 181f., 185f., 188–194, 208, 210–216, 222, 249–251, 267, 316, 318, 322f. – explizite 185 – generell 186, 194 – implizite 186 – singuläre 167 – vertrauenswürdige 214 Aufmerksamkeit 21, 67, 107, 152–154, 234, 285f., 290–292, 294–299 Bedeutung 13f., 50, 59–65, 99, 103–106, 112f., 121f., 132, 136f., 150, 168f., 171, 186–190, 222, 224, 244f., 249–251, 253, 258, 321, 323, 326f. Begriffe 15f., 41–54, 75, 112–118, 120, 145, 150f., 154, 156, 163, 184, 186, 219–238, 317–330

– Artbegriffe 228f. – Erscheinungsbegriffe 228f. Begriffsanalyse 113f., 235–237 Begriffsempirismus 225, 229 Begriffsrationalismus 227 Behauptung 10, 12, 17, 19f., 83, 87–92, 101f., 108, 144f., 164, 166, 170, 181–185, 187f., 190f., 197, 200f., 203–210, 215f., 249f., 267, 270, 278, 285f., 290, 295 Bekanntschaft 16–18, 50, 51, 53f., 127–129, 146, 155, 173, 176, 178, 184 Bekanntschaftswissen (knowledge-byacquaintance) 18, 50f., 53, 127–129, 176 Beschreibungswissen (knowledge by description) 50f., 53, 127 Besonderes 45f., 48, 55, 137, 168, 172, 174 Bewusstsein, phänomenales 16, 48f., 51, 54 Charakter 11, 14, 101, 104, 107, 109, 112, 114–116, 122, 143, 149, 154, 157, 253–256, 260, 303–306, 310–312, 318, 320 Dichtung 7, 43, 45, 97, 141f., 163–165, 167f., 171, 174f., 178, 186f., 248 Distanz (auch Distanziertheit) 21, 176, 286, 294–299, 307, 310f., 313, 329 Einbildungskraft 11, 46, 147, 176, 327 Einfühlung 18, 130, 135, 154, 174, 306 Einfühlung, kognitive 130, 174 Einzelnes 185 Emotion 16, 21, 51, 57, 109, 152, 253, 256–258, 264–281, 285–288, 290–299, 303–313 – originäre/nicht-originäre 288, 306–308, 310–313

340 – verfeinerte 286, 295–299 Empathie 93, 176, 253, 254, 261, 306–309 Enactment Imagination 132 Erfahrung 16–18, 20, 29, 43, 49–51, 54, 76, 92, 97, 105–107, 109–116, 119, 121, 126–133, 135–137, 152, 154–157, 167, 171–173, 183, 193, 223, 232, 234, 237f., 244, 251–256, 259–261, 286, 296f., 305–310, 312f., 317– 319, 323f., 326–328, 330 – ästhetische 116, 223, 234, 238, 297, 313 – virtuelle 18, 128–130, 132, 135–138 Erkennen 51, 61, 99, 127, 176, 177, 307 Erkennen-wie-es-ist 176f. Erkenntnis 7, 12, 14–16, 18–20, 22, 26f., 41–48, 52f., 68, 75–77, 79, 123, 125, 141–145, 147f., 154–156, 163–169, 172, 175–178, 183–185, 188f., 191, 193f., 219, 235, 243f., 252–254, 260, 265, 285f., 288, 319 Erzählung 22, 34, 38, 110, 144, 152, 169, 244, 248–250, 252, 255–257, 315, 318, 323, 325–331 Exemplifikation 137, 157, 168 Experiment 141, 149–151, 156f., 288, 330 Explorationsthese 137 Familienähnlichkeit 9, 64, 163, 226, 272 Figur, literarische 135, 186 Fiktion 7, 10–14, 17, 19–21, 46, 57, 59, 73, 79, 90, 97–116, 131, 133–136, 163–178, 181, 187, 197, 243f., 246–250, 252–256, 260, 285–299, 305–310, 312, 328, 330 – und Fakten 19, 81, 89, 101, 164f., 170f., 174f., 210, 213, 259, 322 Fiktionalität 74, 79, 81, 84, 91, 165–168, 174, 247–249, 287, 290–292 Form – des Wissens 13, 155, 320, – literarische 44, 125, Fundamentalontologie 320f. Funktionen der Literatur 120, 124, 127f., 137, 163 Gattung 13, 44, 164f., 187, 304, 310 Gedankenexperiment 18, 111, 114f., 150f., 156f., 330 Gefühl 15, 19, 21, 27, 31, 35, 51f., 54, 58, 75, 106, 120, 128, 130, 133f., 149, 164, 173f., 176f., 229, 232, 251, 253–258, 260, 263–265,

Sachregister 271–273, 277, 280, 290, 297, 299, 303, 305–311 Gehalt (siehe auch Inhalt) 13, 16, 20, 44, 47–49, 51, 53f., 57, 65–67, 79, 97, 98, 100, 123, 132, 144f., 156f., 167, 186, 210, 219, 221–224, 228, 230, 232–234, 237, 248, 288, 291–294, 299, 330 – höherer Ordnung/höherstufiger Gehalt 221– 223, 230, 232, 237 – kognitiver 57, 65–67, 79, 98, 219 – propositionaler 97, 100 – repräsentationaler 53f., 223 – semantischer 144, 221f., 228 – thematischer 13, 20, 144f., 219, 221f. Genre 62f., 85, 87, 89f., 185, 187, 215 Gestaltqualitäten 21, 264, 272–275, 277, 280f. Glaubwürdigkeit 170, 172, 183 Hermeneutik 22, 164, 189, 319, 323, 327, 335, 338 Idee, ästhetische 46 Identität 15, 20, 22, 34, 315–319, 322–331 Identitätskriterium 322 Imagination 17f., 53, 98, 104, 119, 124, 128– 138, 176, 247, 249–255, 258f., 261, 268, 307 – aperspektivische/perspektivische 130 – experientielle 132f., 251, 261 – nicht-propositionale 53 – propositionale 132f., 251, 253 Imaginationisten 133, 135 Inhalt (siehe auch Gehalt) 17, 19, 26f., 37, 42, 47, 64, 79, 98–106, 108, 110–112, 116, 131, 136, 145–147, 150f., 153, 168, 172, 185, 188, 200, 209, 222, 247, 250f., 264, 270f., 278 Informationsvermittlung 61 Innenperspektive 49, 152 Interpretation 13f., 17, 19, 22, 50, 53, 78, 90, 102f., 114f., 121–123, 136, 144, 146, 187, 189, 191, 194, 210, 223, 231, 237, 254, 264, 268, 270, 298, 323 I-Überzeugung 131 I-Wunsch 131 Keine-Wahrheit-Theorie (Keine-Wahrheit-These, no-truth thesis) 103, 124f. Kennen 127, 178

Sachregister Knowledge-by-acquaintance (siehe Bekanntschaftswissen) Knowledge-by-description (siehe Beschreibungswissen) Kognitivismus 17, 74f., 77, 78, 91f., 119–124, 126, 136, 174, 264, 272, 277, 279 – ästhetischer 74f., 77f., 91f., 119 – literarischer 17, 119–124, 126, 136 Komplementarismus der Erkenntnisformen 45, 117, 146, 165, 177, 183 Komplementaritätsthese (siehe Komplementarismus der Erkenntnisformen) Kompositionalität 233f. Konversationsregeln 82f. Kraft, epistemische 119, 138, 211 Kunstwerk 16, 21, 59, 67, 74–76, 79, 92f., 114, 186, 192f., 219, 221, 243, 245f., 263–265, 269, 281, 293f., 296, 307–309, 312, 316 Lehrbuch 44, 62, 66, 83 Lesekonvention 210, 212 Leser, hypothetischer 131, 134 Leserhaltung 153 Liebe 20, 148, 149, 157, 219f., 230–234, 237, 267, 271f., 275f., 278–280, 305 Literatur, fiktionale 20f., 41, 75, 78, 134, 142, 156, 163, 165f., 171, 175, 181–183, 194, 244, 248, 261 Literatur, institutionelle Definition 9f., 20, 219–221, 234 Literaturrezeption 223, 238 Lyrik, hermetische 192 Make-Believe 99, 134, 173 Meinung (siehe auch Überzeugung) 17, 47, 120, 124, 138, 156, 182f., 189, 193, 198, 201, 202, 209f., 215, 235, 270f., 274, 278, 281, 320 Melodrama 22, 303f., 310, 312 Metaphysik 15, 28, 31f., 57 Methode, wissenschaftliche 26 Mitgefühl 21, 307 Moral 79, 108, 136, 222, 243f., 252, 259, 285 Mythos 27, 34, 38 Mutual-belief-principle 213 Nachahmung 165, 173f., 253 Narration 22, 38, 164, 274, 316, 318, 325–331 Nicht-Begrifflichkeit 15, 42, 46, 48f., 51–54, 237

341 Nomologische Kovarianz 228 No-truth-theory (siehe Keine-Wahrheit-Theorie) Offline Modus 131, 134 Paradox der Fiktion 7, 46, 57, 287, 305 Paradox der Tragödie 47 Phantasie 89, 130, 147, 152, 154, 174, 194, 288, 330 Posse 303f., 310 Präfiguration 326f. Präsenz 50, 129, 164f., 173, 178 Propositionalismus, literarischer (PropositionenTheorie) 97, 104, 121–124, 126 Propositionen-Theorie (siehe Propositionalismus, literarischer) Prototypen 225f., 237 Proxytypen 20, 219f., 223, 226f., 229–233, 236f. Psychologie, literarische 132 Qualitäten, sekundäre 28, 35f. Quasi-Emotion (Quasi-Gefühle) 134, 308 Quasi-Gefühle (siehe Quasi-Emotion) Reality-principle 213 Rechtfertigung, epistemische 87f., 91 Rede, fiktionale 10, 53, 82, 165, 183, 201, 206f., 209f., 249f. Referenz 17, 43, 53, 60, 65, 74, 77, 79, 85, 87, 91, 164–168, 170–172, 226 – referentielles Modell der Sprache 16, 60, 65 Reflexionsebene 64 Repräsentation 21, 46, 53f., 58, 98, 101, 106f., 223–230, 232, 236, 250, 318 Roman 7, 10, 14, 62f., 65–67, 78, 80f., 84–86, 89f., 99, 100–107, 113, 116, 121f., 142–145, 147–152, 155, 163, 167, 169–173, 175, 185, 187, 199, 207, 211, 213, 221, 237, 253, 255, 303 – historischer 63, 84, 89f., 213 Schließen, praktisches 289f. Selbst 14f., 22, 32, 34–38, 185, 271, 315f., 318f., 321–327, 329, 331 Selbstbewusstsein 295f., 317, 320 Semantik 46, 99f., 226, 326 Sensibilisierung 137, 173f.

342 Sentimentalität 303, 305, 310–312 Sich-hineinversetzen 130f. Simulation 18, 130f., 133–135, 230, 232, 251–253 Spiegelneuronen 173f. Sprachphilosophie 7, 57, 60, 165 Sprachspiel 64 Sprechakt 10f., 53, 58, 165f., 181, 194, 199, 200–208, 243, 249f. Sprechen-als-ob 167 Supposition-Imagination 132 Teilnahme, imaginative 130, 173 Textgegenstand 13, 221 Thema 13, 102, 107, 122, 144f., 185–187, 189f., 222 These 13, 122, 144f. Theorie der Emotionen, adverbiale (siehe Adverbialismus) Theorie-Theorie 133–135 Trivialitätseinwand (Verdoppelungseinwand) 17, 77–79, 91, 123f., 167 Übertreibung 22, 303–305, 310, 312 Überzeugung (siehe auch Meinung) 8, 12, 15, 17, 19, 34–38, 47, 49, 74, 77, 83, 87–92, 99, 106, 113, 121, 123, 125–127, 130f., 133f., 142, 145, 147–151, 182, 184–194, 205, 208, 243, 248f. Überzeugungswissen 19, 183f. Unsagbarkeit 16, 49 Veränderungsthese 137 Verdoppelungseinwand (siehe Trivialitätseinwand) Vergegenwärtigung 18, 51, 76, 126–130, 144, 153, 163f., 168, 170, 172–178, 243 Verstärkung, kognitive 120 Verstehen 14, 17, 59, 97f., 104, 107, 132, 134, 173, 176, 187, 190, 244, 285f., 320–325, 327 Volkspsychologie 35–37 Vorstellungsvermögen 21, 152, 154, 244, 254, 258, 261, 286–289, 331 Wahrhaftigkeit 143 Wahrheitsanspruch 12, 86, 90, 141, 147, 166, 170, 181, 190, 191

Sachregister Wahrheitsthese 142 Weltbezug 61, 63 Weltbild 15, 25, 28, 31f., 34, 36, 279 Wert 7f., 10, 14–20, 31, 57, 64–67, 73-81, 84, 92f., 97f., 106, 108, 111f., 116, 119–125, 128f., 132, 135, 137f., 141–143, 146–148, 151–153, 156f., 163–168, 183f., 188, 191– 194, 221, 243f., 252, 256f., 259–261, 263, 285f., 288, 294, 298f. – ästhetischer 14, 17, 31, 74, 92f., 119, 121– 125, 142f., 153 – kognitiver 15–20, 57, 64–67, 74f., 92f., 97f., 100f., 103f., 116, 119–125, 128f., 132, 135, 141f., 146–148, 151–153, 156f., 183f., 188, 191f., 299 – literarischer 97f., 191–194 Wissen 8, 12–22, 27, 35, 41f., 44f., 47–49, 51– 53, 57, 65f., 68, 73–79, 86, 88, 91–93, 97f., 102, 104, 108–113, 115f., 119–121, 123–133, 136–138, 141–143, 145–148, 150–156, 164, 170f., 175–178, 181–185, 191–194, 197–204, 206–212, 219, 226, 232, 234f., 243f., 255, 260, 261, 285f., 298, 319–321 – erlebnishaftes 127f. – modales 76 – moralisches 16, 21, 76, 97, 244, 261 – nicht-propositionales 13–16, 41, 44–48, 52f., 97, 107, 120f., 124, 126f., 132, 136, 145f., 156, 172f., 175, 177, 184, 219, 243, 321, 323 – phänomenales 13, 51, 76, 146, 155 – praktisches 19, 75, 108, 126, 184 – propositionales 13, 16, 18f., 42, 45, 47f., 52f., 68, 73, 75f., 91, 121, 123, 127f., 142, 145f., 164, 171, 175, 178, 184, 191, 194, 285 – subjektives 127, 184 – theoretisches 47, 126 Wissensbegriff 8, 14, 17, 19, 42, 45, 48, 53, 119–121, 124, 126f., 154, 156, 183 Wissenschaft 19, 24–28, 32, 34–38, 41f., 44f., 50, 52f., 58, 60, 62, 65f., 73, 77f., 89, 97, 109, 123, 125, 143, 146–152, 156f., 164–168, 173, 175, 182–184, 191, 193f., 198, 214, 235, 272f. Wissenskonzeption 119, 121 Wissensquelle 19, 107, 124, 197–202, 204, 207–210, 215f.

Sachregister Wissen vom Hörensagen 19, 197, 200–204, 207f., 216 Wissen-wie-es-ist 51, 76, 97, 127, 175–177, 183f. Wissen-wie-es-sich-anfühlt 49, 76, 109, 121, 127, 183

343 Zeugnis 17, 19f., 26f., 74, 88f., 91f., 116, 124, 128f., 183, 197, 201, 203f., 207f., 212, 215f. – un-/zuverlässiges 88f., 92 – Zeugnisstrategie (Zeugnis-Strategie) 19f., 197, 201, 203f., 208, 212, 215f. Zeugnisgeber 91

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

Alex Burri ist Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Erfurt. Seine Schwerpunkte liegen in den Bereichen der Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie und Metaphysik. Aufsatzpublikationen im Umfeld der Philosophie der Literatur: Facts and Fiction. Reflections on the Tractatus (2004); Art and the View from Nowhere (2007); Kunst und Erkenntnis (2007); er ist Mitherausgeber des Buches Kunst denken (2007, mit Wolfgang Huemer). Christoph Demmerling, geb. 1963, hat Philosophie, deutsche Literaturwissenschaft und theoretische Linguistik in Konstanz und Florenz studiert; 1992 Promotion Konstanz; 1998 Habilitation Dresden; seit 2008 Professor für Philosophie in Marburg. Hauptarbeitsgebiete sind: Sprachphilosophie, Hermeneutik, Anthropologie, Kultur- und Wissenschaftsphilosophie, theoretische Grundlagen der praktischen Philosophie. Buchveröffentlichungen: Sprache und Verdinglichung (1994); Grundprobleme der analytischen Sprachphilosophie (1998, zusammen mit Thomas Blume); Sinn, Bedeutung, Verstehen (2002); Philosophie der Gefühle (2007, zusammen mit Hilge Landweer). Sabine A. Döring ist Professorin für Praktische Philosophie an der Eberhard Karls Universität Tübingen sowie Principal Investigator und Vorstandsmitglied des Centre for Integrative Neuroscience (CIN). Ihre Hauptarbeitsgebiete sind (Meta-)Ethik, Theorie der Rationalität, Philosophie des Geistes sowie Ästhetik und Kunstphilosophie mit einem Schwerpunkt in der Philosophie der Gefühle. Buchveröffentlichungen: Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen: Die Kunsttheorie Robert Musils und die analytische Philosophie (1999); Gründe und Gefühle: Zur Lösung „des“ Problems der Moral (2013, im Erscheinen); als Herausgeberin Philosophie der Gefühle (2009); Die Moralität der Gefühle (2002, zusammen mit Verena Mayer); Neueste Aufsatzpublikationen sind Being Worthy of Happiness (2013, mit Eva-Maria Düringer); In Need of Simple Desire (2014); Normative Perception in Fitting Attitude Theories (erscheint 2014). Gottfried Gabriel, geb. 1943, Studium der Philosophie, Germanistik und Allgemeinen Sprachwissenschaft an den Universitäten Münster und Konstanz. Promotion 1972 an der Universität Konstanz, Habilitation 1976. Von 1968 bis 1992 Lehr- und Forschungstätigkeit in der Fachgruppe Philosophie der Universität Konstanz. 1992 Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum, ab 1995 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Lehrstuhl für Logik und Wissenschaftstheorie); seit April 2009 im Ruhestand. Haupthe-

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

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rausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie (ab Band 11). Arbeitsgebiete: Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Logik, Sprachphilosophie, Ästhetik, Politische Ikonographie. Buchveröffentlichungen u. a.: Fiktion und Wahrheit (1975); Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft (1991); Logik und Rhetorik der Erkenntnis (1997); Ästhetik und Rhetorik des Geldes (2002). Arto Haapala, geb. 1959, promovierte nach einem M.A. in Ästhetik an der Universität Helsinki 1988 am Birkbeck College (London). Seit 1995 ist er Professor für Ästhetik am Department für Philosophy, History, Culture and Art Studies an der Universität Helsinki. Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte führten ihn nach Philadelphia, Lancaster, Freiburg und Bochum. Sein Hauptarbeitsgebiet ist die Ästhetik, gegenwärtig beschäftigt er sich v.a. mit der Ästhetik alltäglicher Umgebungen. Zu seinen Veröffentlichungen zählen u. a. What Is a Work of Literature? (1988) sowie als Mitherausgeber u. a. The End of Art and Beyond (1997, mit Levinson/Rantala); Aesthetics in the Human Environment (1999, mit von Bonsdorff); Aesthetic Experience and the Ethical Dimension: Essays on Moral Problems in Aesthetics (2003, mit Kuisma); 2010 hat er zusammen mit Gerald Cipriani die Zeitschrift Aesthetic Pathways gegründet. Wolfgang Huemer hat Philosophie und Germanistik in Salzburg, Freiburg (Schweiz), Bern und Toronto studiert; 2000 Promotion in Toronto, ab 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Erfurt, seit 2006 Ricercatore di Filosofia Teoretica an der Universität Parma. Zu seinen Interessensgebieten zählen, neben der Philosophie der Literatur, die Philosophie des Geistes, die Erkenntnistheorie, die Ästhetik sowie die Philosophie des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, sowohl in der analytischen wie in der phänomenologischen Tradition. Er ist Autor von The Constitution of Consciousness. A Study in Analytic Phenomenology (2005), Mitherausgeber von Sammelbänden wie The Literary Wittgenstein (2004; übers. auf deutsch und chinesisch); A Sense of the World. Essays in Fiction, Narrative and Knowledge (2007, mit Gibson/Pocci); Kunst denken (2007, mit Burri) und Wittgenstein Reading (2013, mit Bru/Steuer) sowie zahlreicher Artikel zu Themen in seinen Interessensgebieten. Lisa Jones, geb. 1970, hat Philosophie und Englische Literatur an der Universität Liverpool studiert und wurde dort 2004 promoviert. Im selben Jahr nahm sie eine Stelle als Teaching Fellow in Philosophie an der Universität St. Andrews (Schottland) an, wo sie mittlerweile Principal Teaching Fellow ist. Ihre Hauptarbeitsgebiete sind Ästhetik und Ethik, wobei sie sich vor allem für fiktionale literarische Werke interessiert. Sie publizierte im Themenfeld u. a. die Aufsätze Contemporary Debates in Aesthetics and the Philosophy of Art (2006); Power and Violence by Paul Ricœur (2010); Oneself as an Author (2010). Tobias Klauk hat Philosophie, Germanistik und Wissenschaftsgeschichte in Göttingen und Los Angeles studiert; 2008 Promotion Göttingen; 2009 Lehrbeauftragter am philosophischen Seminar Göttingen, seit 2010 Mitarbeiter in der Nachwuchsgruppe Analytische Literaturwissenschaft am Courant Forschungszentrum Textstrukturen in Göttingen.

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Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

Hauptarbeitsgebiete sind Ästhetik, Sprachphilosophie, Narratologie und Metaphilosophie. Veröffentlichungen u. a.: Gedankenexperimente in der Philosophie (2008), Aufsatzpublikationen zu Literatur und Möglichkeiten (2010, mit Köppe), Can Unreliable Narration Be Analyzed in Terms of Testimony (2011), Internally Focalized Narration From a Linguistic Point of View (2012, mit Köppe/Onea). Catrin Misselhorn hat Philosophie, Germanistik und Politikwissenschaft in Tübingen und Chapel Hill (USA) studiert; 2003 Promotion und 2010 Habilitation in Tübingen. 2001– 2011 zunächst wissenschaftliche Mitarbeiterin, dann wissenschaftliche Assistentin in Tübingen. 2007–2008 Feodor-Lynen-Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung am Center of Affective Sciences in Genf sowie am Collège de France und am Institut Nicod in Paris. Seit 2012 Lehrstuhl für Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie in Stuttgart. Hauptarbeitsgebiete: Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Technikphilosophie, Philosophie des Geistes, der Sprache und der Kultur, Ethik und Ästhetik. Ausgewählte Publikationen: Wirkliche Möglichkeiten – Mögliche Wirklichkeiten. Grundriss einer Theorie modaler Rechtfertigung (2005); Aufsätze u. a. Empathy with Inanimate Objects and the Uncanny Valley (2009); Gibt es eine ästhetische Emotion? (2013); Der neue Moralismus: Begriffe – Thesen – Argumente (erscheint 2013); Musils Meta-Philosophical View in Between Philosophical Naturalism and Philosophy as Literature (erscheint 2014). Maria Elisabeth Reicher, geb. 1966, studierte Philosophie an der Universität Graz; 1998 Promotion in Graz; 2004 Habilitation in Graz; Lehr- und Forschungstätigkeit in Graz, Maribor, Tucson (Arizona), Salzburg, Belgrad, Minneapolis, Genf, Bern, Greifswald; seit 2009 Professorin für Philosophie der Kulturellen Welt an der RWTH Aachen. Hauptarbeitsgebiete sind: Metaphysik und Ontologie, Sprachphilosophie und Philosophie der Logik, Erkenntnistheorie, Ästhetik, Werttheorie, Geschichte der analytischen Philosophie. Veröffentlichungen u. a.: Zur Metaphysik der Kunst. Eine logisch-ontologische Untersuchung des Werkbegriffs (1998); Referenz, Quantifikation und ontologische Festlegung (2005); Einführung in die Philosophische Ästhetik (2010); Herausgeberin von Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie (2007). Christiane Schildknecht ist Professorin für Theoretische Philosophie an der Universität Luzern. Sie hat Philosophie, Literaturwissenschaft und Linguistik an der Universität Konstanz und am University College in London studiert; 1989 Promotion in Konstanz; 1999 Habilitation in Konstanz; Gastprofessuren in den USA, Neuseeland und Australien; von 2000–2007 Professorin für Philosophie in Bonn. Hauptarbeitsgebiete sind: Sprachphilosophie, Philosophie des Geistes, Erkenntnistheorie, Philosophie und Literatur. Veröffentlichungen u. a.: Philosophische Masken. Studien zur literarischen Form der Philosophie bei Platon, Descartes, Wolff und Lichtenberg (1990); Sense and Self. Perspectives on Nonpropositionality (2002); Mitherausgeberin von Literarische Formen der Philosophie (1990, mit Gottfried Gabriel); Philosophie in Literatur (1996, mit Dieter Teichert).

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

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Margit Sutrop, geb. 1963, hat Philosophie, Literaturwissenschaft in Tartu, Oxford, Oslo und Konstanz studiert; 1997 Promotion in Konstanz. Sie ist zur Zeit Professorin für Praktische Philosophie, Dekanin der Philosophischen Fakultät, sowie Gründungsdirektorin des interdisziplinären Zentrums für Ethik an der Universität von Tartu (Estland). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Ethik, Ästhetik und der Philosophie der Erziehung. Ihre Buchpublikationen umfassen u. a. als Autorin Fiction and Imagination. The Anthropological Function of Literature (2000); als Mitherausgeberin Wissenschaft und wissensbasierte Gesellschaft (2005, hrsg. mit U. Sutrop); Haunted Narratives in the Age of Trauma (2013, hrsg. mit G. Rippl/P. Schweighauser/T. Kirss/T. Steffen). Sie ist Autorin zahlreicher Aufsatzpublikationen. Dieter Teichert hat Philosophie, Literaturwissenschaft und Linguistik in Tübingen, Paris und Konstanz studiert; 1990 Promotion in Konstanz; 1997 Habilitation in Konstanz, 2004 apl. Prof. in Konstanz, seit 2008 Lehre an der Universität Luzern. Hauptarbeitsgebiete sind: Philosophische Hermeneutik, Theorie der Geistes- und Kulturwissenschaften, Sprachphilosophie, Philosophie des Geistes, Ästhetik. Buchveröffentlichungen: Erfahrung, Erinnerung, Erkenntnis – Untersuchungen zum Wahrheitsbegriff der Hermeneutik Gadamers (1991); Immanuel Kant ‚Kritik der Urteilskraft‘ – Ein einführender Kommentar (1992); Personen und Identitäten (1999); Verstehen und Wirkungsgeschichte (2000); Einführung in die Philosophie des Geistes (2006); als Mitherausgeber Philosophie in Literatur (1996, mit Christiane Schildknecht); Genese und Geltung (2008, mit Christiane Schildknecht/Temilo van Zantwijk). Cain Todd ist Lecturer für Philosophie an der Lancaster University (England) und Postdoctoral Research Fellow an der Universität Fribourg (Schweiz). Seine Arbeitsgebiete sind Ästhetik, Philosophie des Geistes und Wertphilosophie. Er beschäftigt sich insbesondere mit dem Problem ästhetischer Werte, der Frage nach der Objektivität ästhetischer Urteile und der Eigenart unserer Reaktionen auf fiktionale Werke. Zu diesen Themen hat er eine Reihe von Aufsätzen publiziert, zuletzt Fitting Emotions and Relative Values (im Erscheinen); Negative Valence, and Tragic Emotions (im Erscheinen); er ist Autor des Buches The Philosophy of Wine: a Case of Truth, Beauty, and Intoxication (2010). Íngrid Vendrell Ferran, geb. 1976, studierte Philosophie, Politikwissenschaften und Soziologie in Barcelona und Madrid. Sie promovierte 2007 im Fach Philosophie an der Freien Universität Berlin. Nach ihrer Dissertation war sie in Berlin, Madrid, Genf, Helsinki und Luzern als wissenschaftliche Mitarbeiterin, Lehrbeauftragte und Gastdozentin tätig. Seit 2011 ist sie Akademische Rätin a. Z. am Institut für Philosophie der Philipps-Universität Marburg. Hauptarbeitsgebiete sind: Philosophie der Gefühle, ästhetische Fiktionstheorien und Wertphilosophie. Vendrell Ferran ist Autorin der Monographie Die Emotionen. Gefühle in der realistischen Phänomenologie (2008) sowie zahlreicher Aufsätze zur Philosophie der Gefühle, der Ästhetik und der Geschichte der Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert u. a.: Emotion, Reason and Truth in Literature (2009); Ästhetische Erfahrung und Quasi-Gefühl (2010) und Can Literature Be Moralphilosophy? A Sceptical View on the Ethics of Literary Empathy (2011).

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Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

Achim Vesper, geb. 1972, studierte Philosophie und deutsche Literaturwissenschaft in Tübingen und Berlin; 2003–2006 Stipendiat im DFG-Graduiertenkolleg Klassizismus und Romantik im europäischen Kontext in Gießen; 2008 Promotion in Frankfurt; 2007–2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster Die Herausbildung normativer Ordnungen der Universität Frankfurt; seit 2011 Akademischer Rat a.Z. im Institut für Philosophie, Frankfurt. Hauptarbeitsgebiete sind: Theorie praktischer Normativität, Ästhetik, Europäische Aufklärung, insb. Kant. Buchveröffentlichungen: Kant über Schönheit und Erkenntnis (in Vorbereitung); als Mitherausgeber: Kunst und Wissen (2009, mit Astrid Bauereisen/Stephan Pabst), Moral und Sanktion (2013, mit Eva Buddeberg).