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German Pages 319 Year 1999
CHRISTOPH REICHERT
Intersubjektivität durch Strafzumessungsrichtlinien
Strafrechtliche Abhandlungen . Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäuser em. on!. Professor der Rechte an der Universität Hamburg
und Dr. Friedrich-Christian Schroeder on!. Professor der Rechte an der UniveIliität Regensburg
in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten
Band 120
Intersubjektivität durch Strafzumessungsrichtlinien Eine Untersuchung mit Bezug auf die "sentencing guidelines" in den USA
Von
Christoph Reichert
Duncker & Humblot . Berlin
Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Wilfried Bottke, Augsburg
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Eirlheitsaufnahme
Reichert, Christoph: Intersubjektivität durch Strafzumessungsrichtlinien : eine Untersuchung mit Bezug auf die "sentencing guidelines" in den USA I von Christoph Reichert. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Strafrechtliche Abhandlungen; N.F., Bd. 120) Zugl.: Augsburg, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-428-09512-X
Alle Rechte vorbehalten
© 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-09512-X
Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069
Meiner lieben 11ka
Vorwort Diese Arbeit entstand im Rahmen meiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl filr Strafrecht, Stratprozeßrecht und Kriminologie an der Universität Augsburg. Mein Lehrer und Doktorvater, Herr Professor Dr. Wilfried Bottke, hat mir sein Vertrauen entgegengebracht, meine Arbeit kritisch begleitet, war mir ständiger Ansporn und wissenschaftliches Vorbild und gewährte mir vor allem wissenschaftliche Freiheit. Für all dies schulde ich ihm tiefen Dank. Herrn Professor Dr. Joachim Herrmann, der nicht nur die Zweitkorrektur übernommen hat, sondern mir darüber hinaus auch jederzeit Hilfestellung und guten Rat, vor allem in Fragen des amerikanischen Rechts, zuteil werden ließ, bin ich ebenfalls zu Dank verpflichtet. Ganz besonders herzlich möchte ich mich bei Herrn Dr. Nikolaus Bosch bedanken, der es auf sich genommen hat, die Rohfassung der Arbeit peinlich genau durchzulesen, und der mit seiner konstruktiven Kritik viel zu ihrer Verbesserung beigetragen hat. Im Gespräch mit ihm und mit meinem Kollegen am Lehrstuhl, Herrn Dr. Hermann Kühn, konnte ich so manche meiner Ideen testen, schlechte verwerfen und gute verbessern. Beider Anregungen und Kritik sind in vielfliltiger Weise in die Arbeit eingegangen. Schließlich darf in der Reihe der Danksagungen Frau Erni Krebs nicht fehlen, die ebenfalls das gesamte Werk in der ihr eigenen Genauigkeit und Sorgfalt auf Rechtschreibung, aber auch auf Verständlichkeit überprüft hat. Wenn gleichwohl noch Fehler geblieben sind, so gehen diese selbstverständlich zu meinen Lasten. Meinen Eltern, die mir meinen Lebensweg geebnet und es verstanden haben, meine Talente zu wecken, schulde ich mehr als den hier möglichen Dank~ Sie haben zudem die Veröffentlichung des Buches mit ihrer Großzügigkeit ermöglicht. Ohne meine liebe Frau Ilka, die mir Ansporn und Unterstützung zuteil werden ließ, mir aber auch mit viel Liebe, Geduld und Trost über schwierige Phasen hinweghalf, wäre diese Arbeit nie vollendet worden. München, im April 1998
Christoph Reichert
Inhaltsveneichnis Einleitung ............................................................................................................... 15 A. Bedeutung der Entscheidung über das Strafmaß ................................... ....... .... 15 B. Intersubjektivität als Erfordernis der Rechtsstaatlichkeit ................................. 18
C. Demokratische Legitimierung von Wertungsentscheiden ................................. 21 D. Ziel und Gang der Untersuchung ..................................................................... 24
E. BegrifJlichkeit ................................................................................................... 27
Teil 1: Strafzumessungsrecht in Deutschland de lege lata ......................... 30 A. SchuldbegrifJ und Strafzwecke .......................................................................... 31 I.
Schuld als Leitprinzip ................................................................................. 31 1. Verfassungsrechtliche Verankerung ....................................................... 31 2. Schwierigkeit inhaltlicher Konkretisierung ............................................ 35 3. Unschärfe des Schuldbegriffs ................................................................. 37
11. Strafzweckmäßigkeit als Eingriffsvoraussetzung ........................................ 45 III. Verhältnis zwischen Schuldbegriffund Strafzwecken ............................... .48 IV. Re\ationvon 'Schuld' und Nonnstabilisierung .......................................... 57 1. Schuldbegriffund Theorien positiver Generalprllvention ....................... 58 2. Schuldzuweisung als nonnativer Prozeß mit nonnstabilisierendem Effekt ...................................................................................................... 59 3. Verhältnismäßigkeit der Sanktion ...........................................................61 a) Eignung der Strafe zur Nonnstabilisierung........................................ 62 b) Erforderlichkeit der Strafe zur Nonnstabilisierung ........................... 63 c) Angemessenheit der Strafe................................................................. 64 d) Zusammenfassend zur Verhältnismäßigkeit ...................................... 65 4. Tatproportionalität als Gerechtigkeitskriterium ...................................... 66 V. Zwischenergebnis ....................................................................................... 66
B. Strafzumessungsrecht in Rechtsprechung und Literatur ................................... 67
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Inhaltsverzeichnis
I.
Strafzumessung als Rechtsanwendung ........................................................ 68
II. Systematisierung der Strafzumessungsentscheidung .................................. 71 1. Die gerichtliche Praxis ............................................................................ 74 a) Die Spielraumtheorie in der Rechtsprechung .................................... 78 b) Erhöhte Prüfungsdichte bei den Revisionsgerichten ......................... 80 c) Straftaxensysteme .............................................................................. 82 d) Ungleichmäßigkeit im Strafen? ......................................................... 85 aa) Empirisch nachweisbare Varianzen in der Strafzumessung ........ 87 bb) Die Untersuchung von Streng..................................................... 89 cc) Die Untersuchung von HA. Albrecht.. ....................................... 92 dd) Zusammenfassung u. Bewertung der empirischen Ergebnisse ... 95 2. Strafzumessungstheorien in der Literatur ............................................... 97 a) Die Spielraumtheorie in der Literatur ................................................ 97 b) Theorie der Punktstrafe ........ '" ........................................................ 102 c) Theorie des sozialen Gestaltungsaktes .... ,........................................ 103 d) Stufen- oder Stellenwerttheorie ....................................................... 105 e) Theorie der Tatschuldvergeltung ..................................................... 113
f) Positive Generalprävention als Strafzumessungslehre ..................... 117 g) Strafzumessung nach Tatproportionalität ........................................ 121 aa) Prinzipien der Tatproportionalität... .......................................... 122 bb) Konflikt mit der derzeitigen Gesetzeslage ................................ 126 cc) Konkretisierung der Proportionalität im Einzelfall ................... 130 dd) Bewertung der Tatproportionalitätslehre .................................. 131
C. Zwischenergebnis ........................................................................................... 133
Teil 2: Strafzumessungsreform in den USA ................................................. 137 A. Entwicklung der Strafzumessungsreform ........................................................ 138 I.
Paradigmawechse\ von Resozialisierung zu ,just deserts" ....................... 140 1. 'Just deserts' als Tatproportionalitätslehre ........................................... 141 2. 'Just deserts' und Prävention ................................................................ 142
II. Neue Wege in der Strafinaßbestimmung ................................................... 145 1. 'Truth in sentencing' und Voraussehbarkeit der Strafdauer ................. 146 2. Überfilliung der Gefllngnisse ................................................................ 147
Inhaltsverzeichnis
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3. Der Trend zum 'determinate' oder 'guideline sentencing' ................... 150 III. Tatunrechtsbezogene Strafen durch 'sentencing guidelines'? .................. 153 I. Vorstrafen belastung und Strafhöhe....................................................... 153 a) Renitenz des Normbrechers ............................................................. 154 b) 'Strafrabatt' rur den Ersttäter ........................................................... 155 c) Straf(un)empfindlichkeit des Wiederholungstäters .......................... 158 d) Rechtsgutsfeindliche Gesinnung ..................................................... 159 e) Widerspruch zum 'Gesamtstrafenrabatt' .......................................... 159 2. Objektivierte Strafzumessung und Einzelfallgerechtigkeit ................... 160 3. Teilbarkeit der Sanktionsentscheidung ................................................. 163 B. Lösungswege ................................................................................................... 165 I.
Die kalifornische Lösung .......................................................................... 166 I. Die gesetzliche Regelung ...................................................................... 167 2. Analyse der Regelung ........................................................................... 170 3. Bewährung in der Praxis ....................................................................... 171 4. Bewertung ............................................................................................. 174
11. Das Richtlinienmodell Minnesotas ........................................................... 175 I. Die gesetzliche Regelung ...................................................................... 176 a) Grundentscheidungen der Richtlinienkommission .......................... 177 b) Die Strafzumessungsmatrix ............................................................. 178 c) Abweichungen ('departures') .......................................................... 181 d) Gesetzliche Grenzstrafinaße ............................................................ 182 e) Mehrere Taten .................................................................................. 183 f) Weitere Regelungen ......................................................................... 184
2. Analyse der Regelung ........................................................................... 184 3. Bewährung in der Praxis ....................................................................... 188 a) Resozialisierungs(un)flIhigkeit als Abweichungsgrund ................... 189 b) 'Verzicht' des Angeklagten auf Anwendung der Richtlinien .......... 191 c) Empirische Untersuchungen zur Wirksamkeit.. ............................... 195 4. Bewertung ............................................................................................. 198 III. Das System der Federal Sentencing Guidelines ........................................ 199 1. Die gesetzliche Regelung ...................................................................... 200 a) Verfahren zur Erstellung der 'guidelines' ........................................ 200
Inhaltsverzeichnis
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aa) Zusammensetzung, Ernennung und Aufgaben der Strafzumessungskommission ............................................................ 200 bb) Einfluß der Legislative ............................................................. 202 b) Materielle Struktur der Richtlinien .................................................. 204 aa) Strafzumessungsrelevante Umstände ........................................ 206 bb) 'Real offense' oder 'charge offense'? ....................................... 210 cc) System der 'offense levels' ....................................................... 214 dd) System der 'criminal history points' ......................................... 216 ee) Strafzumessungsmatrix ............................................................. 217 ff) Abweichung von den 'guidelines' ............................................. 220
2. Analyse der Regelung ........................................................................... 221 3. Reaktionen und Umsetzung .................................................................. 224 a) Grundsätzliche Kritik ....................................................................... 224 b) Verfassungsrechtliche Zweifel ........................................................ 229 c) Revisionsrechtlicher Kontrollmaßstab bei 'departures' ................... 234 aa) Koon v. U.S. - Fakten und Prozeßgeschichte ......................... 234 bb) Koon v. U.S. - Entscheidung und BegrUndung ...................... 236 cc) Die Bedeutung von Koon v. U.S ............................................... 239 d) Erhöhung der Gleichmäßigkeit der Strafzumessung? ...................... 240 e) 'Plea agreements' -
Stärkung der Staatsanwaltschaft? .................. 242
4. Bewertung ............................................................................................. 245
C. Zwischenergebnis ........................................................................................... 246
Teil 3: Übertragbarkeit des amerikanischen Lösungsansatzes ............... 249 A. Folgerungen aus dem Systemvergleich ........................................................... 250 I. Vereinigungstheorie und 'Strafzweckneutralität' ..................................... 251
11. Schuldbegriffund 'just deserts' ................................................................ 253 III. Theorie der tatproportionalen Normstabilisierung .................................... 255 IV. Intersubjektivität und demokratische Legitimierung................................. 257 B. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit ........................... ,..................................... 26 I I.
Materiell-inhaltliche Vorgaben ................................................................. 262
11. Verfassungsgemäßes Verfahren ................................................................ 267 I. Überantwortung der Richtlinienerstellung an die Exekutive ................ 268
Inhaltsverzeichnis
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2. Überantwortung der Richtlinienerstellung an eine unabhängige Kommission .......................................................................................... 271 C. Eckpunkte eines deutschen Richtlinienmodells ............................................... 273
I.
Verfahren .................................................................................................. 273 1. Der gesetzliche Auftrag ........................................................................ 274 2. Die Richtlinienkommission .................................................................. 275 3. Revisionsrechtliche Änderungen .......................................................... 276
11. Materielle Struktur .................................................................................... 277 1. Grundstruktur........................................................................................ 277 a) Vorstrafenbelastung ......................................................................... 277 b) Zwei Stufen der Strafzumessung ..................................................... 280 2. Tatbestandsorientierte Tatschwerepunkte ............................................. 281 3. Allgemeine Milderungs- und SchärfungsgrUnde .................................. 282 4. Sonstige Abweichungen ....................................................................... 283 5. Konkurrenzen ....................................................................................... 284 6. Geständnisse und Absprachen .............................................................. 287 a) Geständnisse .................................................................................... 288 b) Absprachen ...................................................................................... 291 7. Zusammengefaßt ................................................................................... 294
Fazit ....................................................................................................................... 297 A. Mangelhaftigkeit des Bestehenden .................................................................. 298 B. Prävention durch tatproportionale Strafe ...................................................... 299
Literaturverzeichnis .......................................................................................... 303 Sachregister ......................................................................................................... 315
Einleitung A. Bedeutung der Entscheidung über das Strafmaß Während die Strafrechtswissenschaft sich im Bereich des materiellen Strafrechts besonders intensiv mit Fragen der Begründung der Stratbarkeit beschäftigt, bleibt das Feld der Strafzumessung in der Regel einigen wenigen Spezialisten in Forschung und Lehre vorbehalten. Demgemäß ist selbst der auf Strafrecht spezialisierte Jurist zunächst weitgehend unflihig, Strafzumessungsentscheidungen in konkreten Fällen vor konkreten Gerichten vorherzusagen. Nur die langjährige Erfahrung und die Unterstützung durch altgediente Kollegen wird dem Stratjuristen einen Blick rur die in Betracht kommende Strafhöhe bei bestimmten Fallgestaltungen verleihen). Im Laufe seines Berufslebens wird er dann feststellen müssen, daß filr die Höhe der jeweils zu erwartenden Strafe auch tatbestands- und sachverhaltsunabhängige Faktoren relevant sind2 , wie etwa die regionale Lage des Gerichtsorts (Nord- oder Süddeutschland), die Bevölkeiungsstruktur (Stadt oder Land), die Persönlichkeiten der Richter (milde oder streng), die regionaltypische Häufigkeit der Deliktsbegehung sowie allgemeine Schwankungen des Bedrohungsbewußtseins in der Bevölkerung. Doch selbst der erfahrenste Stratjurist wird immer wieder von einzelnen Strafzumessungsentscheidungen überrascht werden, die rur das entscheidende Gericht in vergleichbaren Fällen - sofern es solche gibt - untypisch sind. Gleichzeitig besteht jedoch kein Zweifel daran, daß gerade die Strafhöhe filr den Angeklagten3, aber auch fiir die prozeßbeobachtende Öffentlichkeit\ von
) Diese Problematik spricht schon Schoene, Umwelt und Recht, in: NJW 1967, S. 1118 ff., mit Blick auf die nach Studium und Referendariat doch in Bezug auf die Strafzumessungspraxis recht ahnungslosen jungen Staatsanwälte und Richter an. V gl. auch Mösl, Tendenzen der Strafzumessung in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in: DRiZ 1979, S. 165 ff. (165). 2 Von der Dominanz regionaler und personaler Ungleichheit und Unberechenbarkeit spricht Schünemann, Summum ius = summa iniuria in der Strafzumessung, in: pönometrie. Rationalität oder Irrationalität der Strafzumessung, 1977, S. 73 ff. (76). 3 So schon Lucas/Dürr, Anleitung zur strafrechtlichen Praxis. Erster Teil: Das formelle Strafrecht, 5. Autl. 1931, S. 193. Vgl. auch Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Autl. 1974, S. 3; KroscheIlMeyer-Goßner, Die Urteile in Strafsachen, 26. Autl. 1994, S. 147. Auch W Hassemer, Die Formalisierung der Strafzumessungsentscheidung, in: ZStW 90
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Einleitung
vorrangigem Interesse ist. Den Angeklagten wird es wenig kümmern, ob sein "Trickdiebstahl" nun als Betrug nach § 263 StGB oder als Diebstahl nach § 242 StGB abgeurteilt wird, sofern nur die Strathöhe gleich ist. Auch die Öffentlichkeit wird eher registrieren, daß eine Verurteilung erfolgt und wie hoch die ausgeworfene Strafe ist; welcher Delikte im einzelnen der Angeklagte schuldig gesprochen wurde, wird in der Regel nur beiläufig, oftmals auch ungenau, berichtet und von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Dagegen liegt das Augenmerk der wissenschaftlich tätigen Juristen vornehmlich auf den Fragen der StrafbarkeitsbegrUndung und der ordnungsgemäßen Verfahrensfilhrung. Was dann letztlich ,,herauskommt" ist sekundär. Vielleicht auch gerade deshalb, weil dies weniger eine juristisch-dogmatische Fragestellung ist oder von den Wissenschaftlern nicht als solche eingeschätzt wird. Es besteht eine Diskrepanz zwischen der Vorhersehbarkeit der Strafzumessungsentscheidung einerseits und ihrer Bedeutung filr den Angeklagten 5 und die Öffentlichkeit andererseits. Der eigentliche Akt der Strafzumessung bleibt ein 'Mysterium'. Beim Strafrichter läuft er ohnehin im Verborgenen ab, bei den Schöffen- und Kammergerichten verhindert das Beratungsgeheimnis (§§ 43, 45 12 DRiG), daß wenigstens Anhaltspunkte fiir die bei der Entscheidungsfindung maßgeblichen Gesichtspunkte an die Öffentlichkeit dringen6 • Aus der späteren (1978), S. 64 ff. (92), erkennt, daß die Bedeutung der Strafhöhenentscheidung rur den Angeklagten besonders intensiv ist. 4 Vgl. Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 6 f. Die Bedeutung der Strafrechtspflege und gerade der Strafzumessung rur die Öffentlichkeit sowie die Wechselwirkungen zwischen Öffentlichkeit und Strafrechtspflege werden anschaulich in der Forderung von Lucas/Dürr, Anleitung zur strafrechtlichen Praxis. Erster Teil: Das formelle Strafrecht, 5. Aufl. 1931, S. 195, der strafzumessenden Richter solle sich mit dem einfachen Volk etwas näher zu beschäftigen und - soweit es die "Stellung" erlaube sich auch unter dasselbe zu mischen: "Er muß empfinden, was es rur einen arbeitsamen Taglöhner bedeutet, wenn er in der besten Arbeitszeit auf drei Monate in das Geflingnis geschickt wird, und was die gleiche Strafe dem liederlichen Tagedieb ist, oder was sich ein wüster Rowdy und Messerheld aus drei Monaten Geflingnis rur einen Niedergestochenen macht. Um das zu wissen, muß er die Bevölkerung seines Bezirks kennen, ja, um auch nur das Maß der moralischen Schuld, das ja die Höhe der Strafe hauptsächlich bedingt, richtig würdigen zu können, muß er wissen, wie das Volk denkt, empfindet, arbeitet, genießt, überhaupt lebt. [... ] Auf die Notwendigkeit einer volkstümlichen Strafrechtspflege wird ja in unserer Zeit immer und immer wieder hingewiesen. Trotzdem ist in dieser Hinsicht noch manches zu bessern." Eine derartig weitgehende Verwurzelung der Strafrechtspflege im "volkstümlichen" scheint allerdings heute nicht mehr anstrebenswert. Expertokratisch verlassen wir uns lieber auf die "Wissenden" und glauben dadurch der Gerechtigkeit näher zu kommen. 5 Siehe S. 15, Fn. 3. 6 Es dürfte schon aus diesem Grund (neben § 268 I StPO) nicht zulässig sein, daß - wie berichtet wird - der Vorsitzende eines Schöffengerichts die Urteilsverkündung mit den Worten einleitete: "Im Namen der Schöffen verkünde ich folgendes Urteil". Diese - leider nicht belegbare - Anekdote wirft aber ein bezeichnendes Licht auf die
A. Bedeutung der Entscheidung über das Strafmaß
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Begründung der Strafzumessung im Urteil lassen sie sich nicht immer herleiten 7 • Der eigentliche Strafzumessungsvorgang bleibt im Dunklen8 • Es spricht sogar einiges dafiir, daß er selbst rur den Zumessenden häufig oder gar immer ein rational nicht vollständig erklärbarer psychologischer Prozeß ist. Wohl auch deshalb gibt es Stimmen, die dieses Phänomen als unabänderbare Gegebenheit akzeptieren und die Funktion wissenschaftlicher StrafbegrUndungs- und Strafzwecktheorien in der "nachträglichen Rechtfertigung [der gefundenen Strafzumessungsentscheidung] in der Sprache juristischer Dogmatik" sehen9 • Träfe dies zu, so leisteten die wissenschaftlichen Bemühungen auf diesem Feld lediglich Hilfe zur Verbrämung der tatsächlich maßgeblichen Entscheidungskriterien und trügen allenfalls dazu bei, die vordergrUndige Akzeptabilität der Entscheidungsergebnisse in der Gesellschaft zu erhöhen. Gleichzeitig dürfte es keine reTatsache, daß das Zustandekommen eines Urteils von vielen Faktoren abhängt, von denen nur einige juristischer Natur sein mögen. 7 Daß zwischen der Rechtfertigung der Strafzumessungsentscheidung, also der Darstellung der ihr zugrunde liegenden Erwägungen im Urteil, und ihrer 'Herstellung' durch den eigentlichen Strafzumessungsvorgang unterschieden werden muß, ist von anderer Seite bereits hervorgehoben worden, vgl. W Hassemer, Die Formalisierung der Strafzumessungsentscheidung, in: ZStW 90 (1978), S. 64 ff. (90 ff.); R. Hassemer, Einige empirische Ergebnisse zum Unterschied zwischen der Herstellung und der Darstellung richterlicher Sanktionsentscheidungen, in: MschrKrim 1983, S. 26 ff.; Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit, 1984, S. 209 f. (287). 8 In der Literatur zum Strafzumessungsrecht finden sich zuhauf Äußerungen, welche die richterliche Strafzumessung als "Griff ins Dunkle" (v. Liszt, Kriminalpolitische Aufgaben, in: v. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, 1. Band, 1905, S. 290 ff. [393]) oder als "Willkür, Laune, Zufall", abhängig von "den subjektiven Anschauungen und Anregungen des Richters, seinem Geblüt und seiner Verdauung" (Wach, Die Reform der Freiheitsstrafe. Ein Beitrag zur Kritik der bedingten und der unbestimmten Verurteilung, 1890, S. 41) bezeichnen. Ungleichmäßigkeit in der Strafzumessung wird allerorten beklagt (vgl. mit weiteren Nachweisen H.-J. Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, 1994, S. 2 ff.; Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit, 1984, S. I ff.) und zuweilen resignierend konstatiert, es sei "Schicksalsfrage, vor welchen Richter der Angeklagte kommt." (v. Weber, Die richterliche Strafzumessung, 1956, S. 19). Horn sieht mit einigem Realismus, daß es auch heute noch unter Tatrichtern weitgehend üblich sei, nach ihrem Gesamteindruck "von der Tat, dem Tatopfer und dem Täter" eine gerechte, die Rechtsordnung verteidigende und spezialpräventiv auf den Täter einwirkende Sanktion auszusuchen - und erst dann zu prüfen, "ob das Gesetz sie auch erlaubt; andernfalls werden die Ingredienzien neu gemischt". Die schriftliche Urteilsbegründung erschöpfe sich dann meist nur noch in dem Versuch, das "nicht weiter rationalisierbare Rechtsgefllhl zu verbalisieren", Horn, in: SKlStGB, vor § 46, Rn. 2. 9 BrusteniPeters, in: KrimJ 2 (1969), S. 36 ff. (50). Ansatzweise mag auch Frischs Vorwurf an die Strafzumessungswissenschaft in diese Richtung gehen, wenn er ihr vorwirft, zu einer Art "BegrUndungswissenschaft" erstarrt zu sein, Frisch, Gegenwllrtiger Stand und Zukunftsperspektiven der Strafzumessungsdogmatik, in: ZStW 99 (1987), S. 349 ff., 751 ff. (793). 2 Reichert
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Einleitung
visionsgerichtliche Kontrolle auf Rechtsfehler mehr geben; denn es lägen dann keine Rechtsfehler, sondern lediglich Kommunikationsmängel lO einer schlecht begründeten Entscheidung vor. Es soll hier nicht in Abrede gestellt werden, daß in der Praxis der erstinstanzlichen Rechtsprechung sich vielfach gerade jener Eindruck der bloß sprachlichen Verpackung von in Wirklichkeit primär a-rational bestimmten Strafzumessungen aufdrängt. Dies gilt um so mehr dann, wenn die Urteilsbegründungen von erstinstanzlichen Gerichten dazu neigen, die revisionsfeste Begründung ihrer Strafzumessungsentscheidung durch plakative Feststellungen von strafzumessungsrelevanten Umständen zu erleichtern, obwohl die Hauptverhandlung an sich keine derart eindeutigen Aussagen erlaubte". Auch die verbreitet anzutreffenden Leerformeln, mit denen Tatgerichte ihre Strafzumessung zusammenfassen 12 , tragen nicht gerade dazu bei, den Strafzumessungsvorgang transparenter und nachvollziehbarer zu machen.
B. Intersubjektivität als Erfordernis der Rechtsstaatlichkeit Eine demokratischen und rechtsstaatlichen Verfassungsentscheiden verpflichtete Strafrechtswissenschaft kann und darf sich aber mit einer dergestalt eingeschränkten Funktion der Strafzweck- und Strafzumessungslehre nicht zufrieden geben. Dem Richter hat sie nicht BegrUndungshilfen rur in Wahrheit a-rational getroffene Entscheidungen an die Hand zu geben, sondern es muß ihr
10 Wenn vielfach dennoch tatgerichtliche Strafzumessungsentscheidungen von Revisionsgerichten aufgehoben werden, weil das erkennende Gericht die fiir seine Entscheidung relevanten Gründe nicht oder nicht ausreichend mitgeteilt hat, so ist dies nur oberflächlich gesehen ein bloßer Kornrnunikationsmangel. Dahinter steht die Befiirchtung, es könnten sachfremde Umstände fiir die Entscheidung des Gerichts maßgeblich gewesen sein. Umgekehrt schließt die Revisionsinstanz aus einer hinreichenden und alle wesentlichen Umstände mitteilenden Kommunikation der Strafzumessungsentscheidung - in Ermangelung anderer Anhaltspunkte - auf eine sachgemäße Strafzumessungsentscheidung. Zweifel an der Tragfähigkeit dieses Umkehrschlusses fiihren zu einer grundsätzlichen Kritik arn derzeitigen System der Strafzumessung, wie sie auch in dieser Arbeit anklingen wird. II Freilich ist der Nachweis solcher Vorgänge in concreto durch den Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO) der revisionsgerichtlichen Nachprüfung entzogen. Aber auch der wissenschaftlichen oder sonstigen öffentlichen Kontrolle kann ein Nachweis nicht gelingen, solange das Protokoll der Hauptverhandlung sich auf die Aufzeichnung der wesentlichen Förmlichkeiten des Verfahrens beschränkt, anstatt - wie beispielsweise in den USA - jedes während der Verhandlung gesprochene Wort zu dokumentieren. 12 Eine typische Formulierung wäre etwa: "In erneuter Abwägung aller fiir und gegen den Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte erachtet die Kammer daher eine Freiheitsstrafe von [... ] für tat- und schuldangemessen."
B. Intersubjektivität als Erfordernis der Rechtsstaatlichkeit
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Bemühen sein, die IntersubjektivierunglJseines Entscheidungsprozesses durch die wissenschaftliche Analyse der Strafzwecke und die an diesen orientierte Destillation der strafzumessungsrelevanten Faktoren zu ermöglichen. Indes, nicht nur der richtige Weg zu solcher Intersubjektivierung ist umstreitbar und umstritten. Auch die Frage, inwieweit die letztlich getroffene Entscheidung einer Kontrolle zugänglich sein soll, bedarf der Erörterung und der Abwägung. Will man einerseits die Überprüfbarkeit der Zumessungsentscheidung zugunsten des freien und durch höhere Instanzen nicht ersetzbaren Ermessensspielraumes des Tatrichters einschränken, fordert man andererseits aber normativ die rationale Untergründung der Strafzumessungsentscheidung, so bleibt es bei einem zwar verbindlichen, gleichwohl bei Nichtbeachtung sanktions losen Appell an den Richter. Sanktioniert wird - durch Aufhebung seiner Entscheidung - allenfalls derjenige a-rational Strafzumessende, dem es nicht gelingt, mit dem sprachlichen Instrumentarium der Begründungs- und Zwecktheorien seine irrational getroffene Entscheidung rechtsprechungskonform darzustellen. Aus dieser Erkenntnis folgt nicht, daß wissenschaftliche Bemühungen um eine Intersubjektivierung des Strafzumessungsvorganges ihr Ziel verfehlen müssen, wenn ein unüberprütbarer Ermessensspielraum des Richters verbleibt. Vielmehr können sie gleichwohl den normativ Ansprechbaren unter den Strafzurnessenden 14 eine Richtschnur rur die eigene Entscheidung und die kritische Hinterfragung innerer Überzeugungen bieten. Sie können es auch durch die engmaschige Knüpfung eines rationalen Überprüfungsnetzes erschweren, a-rational getroffene Entscheidungen in einen rationalen Mantel zu kleiden. Eine Zielkontrolle, d.h. also Erkenntnis darüber, ob die normativen Forderungen im
IJ "Intersubjektivierung" soll hier und fortan anstelle des Begriffes der "Rationalität" verwandt werden, um zu präzisieren, welche Funktion von Rationalität hier gemeint ist. Um "Intersubjektivität" zu besitzen sei eine Entscheidung intersubjektiver Einigung in dem jeweiligen Fachkreisen fllhig und grUnde auf sachlich-logische Kriterien unter Offenlegung einfließender Wertungen. Vgl. hierzu auch Haag, Rationale Strafzumessung. Ein entscheidungstheoretisches Modell der strafrichterlichen Entscheidung, 1970, S. 41 und 84. Kritisch und ausruhrlich zur geforderten Rationalität in der Strafzumessung W. Hassemer, Die Formalisierung der Strafzumessungsentscheidung, in: ZStW 90 (1978), S. 69 ff. Allgemein zum rationalen Handeln Gäfgen, Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung. Untersuchungen zur Logik und Bedeutung des rationalen Handeins, 3. Aufl. 1974, insbes. S. 18 ff.; Höffe, Rationalität, Dezision oder praktische Vernunft. Zur Diskussion des Entscheidungsbegriffs in der Bundesrepublik. in: Philosophisches Jahrbuch 90 (1983), S. 340 ff.; Popper, Logik der Forschung, 8. Aufl. 1984, S. 65 f.; Priester, Rationalität und funktionale Analyse, in: Lautmann (Hrsg.), Die Funktion des Rechts in der modernen Gesellschaft. Jahrbuch rur Rechtssoziologie und Rechtstheorie I, 1970, S. 457 ff. (479 ff. - rur eine funktionale Betrachtung der Rationalität). 14 Normativ ansprechbar sind diejenigen Richter, die auch ohne drohende Sanktion (durch Urteilsaufhebung) allein wegen der Existenz der normativen Vorgaben, wie die Strafzumessung ablaufen sollte, diesen folgen.
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Einleitung
Einzelfall eingehalten wurden, kann jedoch bei Beibehaltung des unüberprufbaren Ennessens qua conceptione nicht erfolgen. Intersubjektive Nachvollziehbarkeit ist bei staatlichen Eingriffen in die Rechte des Betroffenen gleichzeitig ein fundamentales Gerechtigkeitserfordernis l5 • Nicht nur der Schuldspruch, sondern auch die Zumessung eines Strafquantums ist eine staatliche Entscheidung über einen Eingriff in elementare Freiheitsrechte des vom Strafverfahren Betroffenen. Überließe man eine solche Entscheidung der Willkür eines oder mehrerer Richter, die diese vor niemandem zu rechtfertigen hätten, so verlöre sie an Akzeptabilität in einem Gemeinwesen, das Staatsgewalt vom Volke ausgehen läßt (Art. 20 11 1 GG). In ihm ist staatliche Macht zwar an einzelne Organe delegiert, aber nur unter der Voraussetzung der Bindung an die Grundlagen der staatlichen Verfassung, insbesondere an die Grundrechte der von dieser Staatsgewalt Betroffenen. Unter dem Schleier der Unwissenheit von eigener Betroffenheit 16 wUrde vernünftigerweise kein BUrger Strafgewalt an unabhängige und niemandem sonst rechenschaftspflichtige Richter delegieren, wenn diese ihre Entscheidung willkürlich treffen könnten und sie nicht einmal durch ihre Begründung der öffentlichen Überprüfung aussetzen müßten. Zu groß wäre die Gefahr, bei eigener Betroffenheit von solchen Entscheidungen Freiheitseinbußen erleiden zu müssen, deren Maß von sachfremden und damit ungerechten Erwägungen diktiert wUrde. Im Gegensatz zu einem Staatswesen, in dem Macht und Staatsgewalt von einer Person oder Gruppe von Personen abgeleitet wird, die damit auch Entscheidungsmacht über die Gewährung und Einschränkung von Rechten reklamieren kann, verpflichtet ein demokratisch verfaßtes Gemeinwesen zur Offenlegung von Entscheidungskriterien, zur Kommunikation von EntscheidungsgrUnden und zur Verantwortung von Eingriffsentscheidungen. Dadurch wird sichergestellt, daß delegierte Staatsrnacht nur im Rahmen ihrer Delegation und im Sinne der Delegierenden ausgeübt wird. Entscheidungsheimlichkeit ist dort, wo sie zu Lasten und ohne Zustimmung des Eingriffsbetroffenen geübt wird, dem Verdacht der Überschreitung delegierter Befugnisse ausgesetzt. Mechanismen zur VerbUrgung der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit von Rechtsentscheiden sind damit Voraussetzung von Rechtsstaatlichkeit (Art. 1 III, 20 III GG), denn nur bei Offenlegung von Entscheidung und BegrUndung ist eine Machtmißbrauchskontrolle möglich. Intersubjektive Nachvollziehbarkeit 15 Das Transparenzgebot ist abzuleiten aus dem Demokratieprinzip, vgl. Velten, Transparenz staatlichen Handeins und Demokratie, 1996, S. 91 ff. Die Forderung nach mehr Transparenz im Prozess des Strafens wurde 1990 auf der Tagung der Evangelischen Akademie Loccum erhoben, vgl. Pfeiffer, "Glasnost" in der Strafjustiz?, in: Greive (Hrsg.), Mehr Transparenz in der Strafjustiz, 1991, S. 8 ff. 16 Vgl. zum "veil of ignorance" als Gerechtigkeitskriterium Rawls, A Theory of Justice, 1971, S. 136 ff.
C. Demokratische Legitimierung von Wertungsentscheiden
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bedeutet bei systemgebundenen Entscheidungen auch - zu einem gewissen Grad - ihre intersubjektive Vorhersehbarkeit. Wenn die filr eine rechtmäßige Entscheidung relevanten Kriterien bekannt sind und ihr eingriffsrechtfertigender Gehalt in Art und Ausmaß feststeht, ist auch schon vor Erlaß der Entscheidung vorhersehbar, ob und wenn ja, inwieweit ein Rechtseingriff erfolgen kann. Freilich bleiben Einschränkungen: Zum einen ist gerade in Rechtsprozessen oft nicht im vorhinein abschätzbar, welche tatsächlichen Umstände durch den Prozeß die Dignität prozessualer Wahrheit erlangen werden. Zum anderen ist immer dann, wenn dem Entscheidenden ein Ermessensspielraum verbleibt, die Entscheidung innerhalb dieses Ermessensspielraums, abgesehen von den Fällen seiner "Reduzierung aufNull"l7, nicht vorhersehbar. Gleichwohl wird durch ein hohes Maß an intersubjektiver Nachvollziehbarkeit auch ein relativ hohes Maß an Vorhersehbarkeit der Rechtsentscheidung und damit an Rechtssicherheit erlangt. Gerade diese Intersubjektivität erreicht - wie diese Arbeit aufzuzeigen versucht - die heutige Strafzumessungspraxis in der Bundesrepublik Deutschland nicht. Trotz gewaltiger wissenschaftlicher Anstrengungen und erheblichen Fortschritts in der Schematisierung und Strukturierung der Strafzumessungsentscheidung, bleibt jegliches Bemühen um größere Intersubjektivität der Strafzumessungsentscheidung zum Scheitern verurteilt, solange keine verbindlichen Maßfaktoren fiir einzelne strafzumessungsrelevante Umstände existieren, ja nicht einmal Einigkeit über die Maßgeblichkeit oder das Gewicht von Strafzwecken besteht, die ihrerseits die Relevanz tatsächlicher Umstände filr die Strafzumessungsentscheidung bestimmen.
C. Demokratische Legitimierung von Wertungsentscheiden Die Bestimmung der gerechten Strathöhe ist immer Resultat eines Wertungsaktes. Es kommt dabei gar nicht darauf an, ob das hierfilr maßgebliche Prinzip in einem moralisierenden oder einem rationalen Schuldbegriff verankert ist. Selbst eine rein an präventiven Zwecken orientierte Festlegung des zweckrational angemessenen Schuldmaßes ist - solange gesicherte empirische Erkenntnisse über die Wirksamkeit bestimmter Strafinaße in konkreten Fällen nicht vorliegen - letztlich auf eine an Plausibilitätserwägungen angelehnte (Be-) Wertung angewiesen. Die Strathöhenbemessung verliert ihren Wertungscharakter auch nicht dadurch, daß die Entscheidung vom Tatrichter auf das Revisionsgericht oder gar von der Judikative auf die Exekutive oder auf die Le-
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Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 1995, § 7 Rn. 24 f.
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Einleitung
gislative übertragen wird. Auch die Setzung bestimmter Strafrahmen ist schließlich das Resultat einer Bewertung der durch die jeweiligen Straftatbestände geschützten Rechtsgutsinteressen. Wenn Mord mit lebenslanger Freiheitsstrafe, ein einfacher Diebstahl aber maximal mit 5 Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden kann, so ist damit das Wertungsverhältnis zwischen den geschützten Rechtsgütern Leben und Eigentum in gewissem Umfang definiert. Die Bestimmung des Verhältnisses verschiedener Rechtsgutsinteressen zueinander, vor allem aber die Festlegung konkreter Entsprechungen von Normbrüchen und Strafquanten, sind Wertungsakte, unabhängig von ihrem Autor. In einem demokratisch verfaßten Staatswesen 18 muß sich jegliche Befugnis des Staates, in die Rechte seiner Bürger einzugreifen, vom Volk ableiten lassen l9 • Das Volk ist der Souverän und es hat dem Staat das Gewaltmonopol nur verliehen, nicht aber unwiderruflich abgetreten. Wenn die amerikanische Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 proklamiert, daß es das Recht eines jeden Volkes sei, sich von tyrannischer Herrschaft zu befreien und ein selbstbestimmtes Regierungssystem zu wählen20, so drückt sich hierin genau dieser Gedanke des nur auf Zeit und nur zu bestimmten Bedingungen gewährten Unterwerfungsanspruchs des Staates aus. Es ist freilich dabei nicht so, daß allein eine unmittelbare Ableitung in der Form der Wahl von Volksrepräsentanten in ein Parlament demokratische Legitimation vermitteln kann 21 • Schon aus praktischen Erwägungen heraus muß eine Legitimationskette möglich sein, die auch eine mehrfach vermittelte demokratische Legitimation einer Person oder eines Gremiums zur rechtseingreiflichen hoheitlichen Betätigung anerkennt. Beachtung verdient in diesem Zusammenhang allerdings der mit steigender Anzahl ver18 Vgl. zu den Grundlagen unseres heutigen demokratischen Staatsverständnisses, dessen Wurzeln schon in der Antike verankert sind, aber erst durch Rousseau, Montesquieu und schließlich Kant zum modemen Verständnis vom Beziehungsgeflecht zwischen staatlicher Herrschaft (res publica) und Souveränität des Volkes (demokratia) wachsen konnte Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in: Bendal MaihoferNogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, S. 428 ff. 19 Art. 20 11 1 GO. Vgl. hierzu auch Herzog, in: MaunzIDürig, GG, Art. 20, 11. Abschn. Rn. 33 ff.; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GO, 4. Aufl. 1997, Art. 20 Rn. 4. 20 "We hold these truths to be self-evident that [... ] to secure [the unalienable rights of the people], govemments are instituted among men, deriving their just powers from the consent ofthe govemed. That when any form of govemment becomes destructive of these ends, it is the right of the people to alter or to abolish it and to institute new govemment laying its foundation on such principles and organizing its powers in such form as to them shall seem most likely to effect their safety and happiness.", The unanimous Declaration of the thirteen united States of America (Dec1aration of Independence), 1776. 21 So spricht Art. 2011 2 GO ausdrücklich davon, daß die Staatsgewalt "vom Volke [...] durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt" würden.
c. Demokratische Legitimierung von Wertungsentscheiden
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mittelnder Legitimierungsakte sich vergrößernde Abstand zur ursprünglichen Legitimation durch das Volk selbst und damit die Schwächung der legitimierenden Wirkung22 • Der deutsche Richter am Amts- oder Landgericht, der die Strafzumessung im Einzelfall vornimmt, ist nur durch eine Vielzahl vermittelnder Akte vom Volk legitimiert: Die direkt gewählten Landtagsmitglieder haben einen Ministerpräsidenten gewählt, der einen Justizminister ernannt hat, der wiederum den Richter durch einen Beauftragten ernennen ließ. Hinzu kommt, daß die Richter aufgrund ihrer Unabhängigkeit nicht in hierarchischer Verantwortungskette nach oben stehen, die gleichsam eine ständige Rückkoppelung zum Willen der Volksvertreter gewährleisten würde. Sie sind vielmehr ab ihrer Ernennung nur Recht und Gesetz unterworfen. Ihre Entscheidungen werden allenfalls im Wege prozessualer Rechtsbehelfe kontrolliert. Bis zur Grenze der Rechtsbeugung sind sie letztlich nur ihrem Gewissen verantwortlich. Die Legitimierungswirkung ist daher doch recht eingeschränkt. Dieser Umstand betrifft weniger die rein subsumierende Tätigkeit des Richters, bei der er das vom Gesetzgeber vorgezeichnete Recht auf die von ihm eruierten Sachverhalte anwendet. Sobald er aber einen nicht kontrollierten 'Spielraum' hat, in dem er originäre Werteinschätzung betreibt, die sich allenfalls an groben Wertvorgaben des Gesetzgebers orientiert, schlägt die Schwäche der Legitimierung voll auf seine Eingriffsentscheidung durch. Besonders die ftlr die richterliche Tätigkeit unabdingbare sachliche und persönliche Unabhängigkeit der Judikative kann zu einer Loslösung vom gesellschaftlichen Wertesystem ftlhren23 • Gerade bei der Ausftlllung eines Ermessensspielraumes, durch die das Maß des staatlichen Freiheitseingriffs konkretisiert wird, besteht ein besonders hohes Bedürfnis ftlr möglichst unmittelbare Legitimation. Während bei Ermessensentscheidungen der Exekutive nicht nur die Kontrolle durch die Judikative, sondern auch noch die hierarchische Rückkoppelung an die politisch Verantwortlichen besteht, fehlen diese Kontrollmechanismen bei richterlichen 'Spie!räumen'. Je größer der Spielraum und je intensiver der hiermit verbundene Eingriff, desto schwerer sind die Folgen einer Wertungsentscheidung, die sich vom gesellschaftlichen Konsens entfernt. Nichts ist schädlicher ftlr die Stabilität eines demokratischen Normensystems als ein sich schleichend durchsetzendes Herzog, in: MaunzlDürig, GG, Art. 20, 11. Abschn. Rn. 75. Dabei ist die Gefahr in beide Richtungen zu sehen: Nicht nur der sehr konservative Richter, der längst überholten Wertvorstellungen und Wertordnungen anhängt, sondern auch der progressive Richter, der meint, gesellschaftliche Entwicklungen selbst durch bahnbrechende Entscheidungen vorantreiben zu müssen, überschreitet die ihm von der Verfassung zugewiesene Kompetenz. Besonders im Hinblick auf die Veränderung bisher allgemein anerkannter und tradierter Anschauungen ist schon deshalb größte Zurückhaltung angebracht, weil es grundsätzlich Sache des Parlamentes, allenfalls des Verfassungsorgans Bundesverfassungsgericht, ist, neue gesellschaftliche Strömungen in rechtliche Regeln umzusetzen. 22 23
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Einleitung
Gefilhl unter den Nonnadressaten, daß die Durchsetzung der Nonnen nicht mehr dem gemeinsamen Wertesystem entspricht und sich unkontrollierbar abgesetzt hat. Die Vorhersehbarkeit und intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Strafzumessungsentscheidung muß daher einhergehen mit einem möglichst hohen Grad an demokratischer Legitimation. Anders gewendet: Die Beseitigung eines Defizits an Vorhersehbarkeit durch die Schaffung von festen Bewertungsmaßstäben durch ein nicht hierzu legitimiertes Organ 24 treibt den Teufel nur durch den Beelzebub aus. Gesucht ist ein Weg, der die Strafzumessungsentscheidung berechenbar und kontrollierbar macht und gleichzeitig die Wertungsentscheidung in demokratisch legitimierte Hände zurUcklegt.
D. Ziel und Gang der Untersuchung Diese Arbeit zeigt deshalb einen Weg der Intersubjektivierung von Strafzumessungsentscheidungen durch die Aufstellung verbindlicher Strafzumessungsrichtlinien auf. Diese schränken den bisherigen Ennessensspielraum des richterlich Strafzumessenden erheblich ein und ennöglichen somit eine Überprüfung seiner Entscheidung. Sie {l)rdern hierdurch die Einhaltung der nonnativen Vorgaben. Im ersten Teil der Arbeit wird das Strafzumessungsrecht in Deutschland in seinem Ist-Zustand dargestellt und kritisch beleuchtet. Zentraler Topos im deutschen Strafzumessungsrecht ist die Schuld. Die Orientierung der Strafzumessung am Maß der Schuld ist verfassungsrechtlich vorgegeben. Was aber "Schuld" im Sinne der Strafzumessungsrelevanz nun ist, wie sie zu quantifizieren ist und welchen Platz sie in der Systematik der Strafzumessung einnimmt, sind lang umstrittene und letztlich auch nicht allgemeingültig lösbare Fragen. Daß aber in einem Rechtsstaat, der seinen Bürgern nur Grundrechtseingriffe zumutet, wenn sie in einem angemessenen Verhältnis zu den mit diesem Eingriff verfolgten Zwecken stehen, die Strafzweckmäßigkeit des strafenden Eingriffs Voraussetzung filr seine Verfassungsmäßigkeit ist, wird zu zeigen sein. Die sich mithin stellende Frage nach dem Verhältnis von Schuldprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz läßt sich nur bei Entscheidung filr einen bestimmten Schuldbegriff und filr ein bestimmtes Strafzweckverständnis beantworten. Unter Verwendung eines "entmythisierten", systemtheoretisch fundierten Schuldbegriffs und einer positiv-generalpräventiv begründeten, weil auf 24 Etwa im Wege der Schaffung lokal unterschiedlicher Straftaxen durch Staatsanwaltschaften oder Gerichte.
D. Ziel und Gang der Untersuchung
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Nonnbekräftigung abstellenden Strafzwecklehre behauptet diese Arbeit eine weitgehende Kongruenz und damit Systemstimmigkeit von Schuldbegriff und Strafzwecklehre. Nach dieser abstrakten Analyse des ftir die Strafzumessung zentralen Schuldbegriffs folgt die Darstellung des Strafzumessungsrechts in der Praxis der Rechtsprechung und den Theorien der Literatur. Die Untersuchung beginnt mit der Frage, ob trotz der richterlichen Ennessensausübung bei der Strafzumessung von Rechtsanwendung zu sprechen ist. Sie referiert die Bemühungen von Bruns und anderen, die Strafzumessung vom "Chaos"25 in ein System zu überfUhren, die Entscheidungsfindung des Richters zu strukturieren und Begründungsanforderungen aufzustellen. Sie zeigt auf, daß hinsichtlich der Strafzumessungsentscheidungen der Tatgerichte eine zunehmende Kontrolldichte durch die Revisionsgerichte zu verzeichnen ist, die auf einen Vereinbeitlichungsbedarf hinweist. Die Existenz von Straftaxensystemen innerhalb einzelner Gerichtsbezirke und Staatsanwaltschaften wird hinsichtlich ihrer Systemund Demokratieverträglichkeit hinterfragt. Inwieweit die Praxis der Strafzumessung empirisch nachweisbare Ungleichmäßigkeit erzeugt und welche Faktoren in der Realität des gerichtlichen Alltags die dominierende Rolle spielen, wird anband der Untersuchungen von Streng und H.-J. Albrecht berichtet. Im Anschluß hieran werden die in Rechtsprechung und Literatur vorherrschenden Theorien zum Strafzumessungsrecht dargestellt und daraufhin überprüft, ob sie die Voraussehbarkeit und die intersubjektive Nachvollziehbarkeit des im Einzelfall zu erwartenden bzw. verhängten Strafmaßes gewährleisten. Allen Bemühungen um ein systematischeres und dogmatisch durchdrungenen Rechts der Strafzumessung zum Trotz, so wird ein erstes Zwischenergebnis konstatieren, bleiben nicht nur bei Zugrundelegung eines dunklen, 'metaphysischen' Schuldbegriffs, sondern auch bei seiner 'Entmystifizierung' und systemtheoretischen Fundierung systembedingte Abwägungs- und Wertungsfragen. Die Umsetzung des Schuldmaßes in Strafquanten ist auch dann ein weder vorhersehbarer noch intersubjektiv nachvollziehbarer Entscheidungsprozeß. Mit der Maßgeblichkeit richterlicher (Be-) Wertungen ist zwingend eine Einbuße an Intersubjektivität wie auch an demokratischer Legitimität der Strafmaßbestimmung verbunden. Im zweiten Teil der Arbeit wird daher ein Lösungsansatz vorgestellt, der die Intersubjektivität in der Rechtsanwendung herzustellen versucht und dabei die Wertungsentscheidungen auf den direkt demokratisch legitimierten und verantwortlichen Gesetzgeber überträgt. Nachdem in den USA der bis zu den siebziger Jahren vorherrschende Resozialisierungsgedanke wegen seiner Untauglich25 v. Weber, Die richterliche Strafzumessung, 1956, S. 19.
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Einleitung
keit zur Begründung von Strafe vielfach kritisiert und ein Schwenk in der Strafzwecklehre hin zum tatunrechtorientierten 'just deserts' vollzogen wurde, entschied man sich auch auf Bundesebene, das bereits in einigen Einzelstaaten bestehende System der 'sentencing guidelines' einzufilhren. Auf den kurzen Abriß der Geschichte der Strafzumessungsreform wird eine exemplarische Schilderung dreier Lösungsansätze folgen, welche auf unterschiedliche Weise die Reformziele zu verwirklichen suchten: Das kalifornische Modell des 'determinate sentencing' sowie die 'sentencing guidelines' Minnesotas und ihr Pendant auf Bundesebene werden jeweils in der gesetzlichen Regelung dargestellt, analysiert, auf ihre Bewährung in der Praxis hin kontrolliert und schließlich abschließend bewertet. Kritische Stellungnahmen und die Auseinandersetzung mit den in der amerikanischen Literatur zu den jeweiligen Reformwerken geäußerten Bedenken werden jeweils an den neuralgischen Punkten der Regelungen zu finden sein. Ein zweites Zwischenergebnis wird diesen Teil abschließen und feststellen, daß zwar auch die amerikanischen Reformansätze nicht das perfekte Strafzumessungssystem gefunden haben, daß sie aber nach den in dieser Arbeit zentralen Kriterien der Intersubjektivität und der demokratischen Legitimierung den deutschen Strafzumessungstheorien überlegen sind und eine an die deutschen Verhältnisse angepaßte Übernahme nahelegen. Im dritten und letzten Teil der Arbeit wird schließlich die Übertragbarkeit des amerikanischen Ansatzes auf das deutsche Strafrecht untersucht. Die Gegenüberstellung zentraler Topoi beider Systeme weist Parallelen auf, die zur Übernahme der Richtlinienidee ermutigen. Sie mündet in die Formulierung der Theorie tatproportionaler Normstabilisierung, die den dogmatischen Unterbau eines Richtlinienmodells bilden kann. Nach der Feststellung der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer solchen, die Verantwortung auf den Gesetzgeber ZUTÜcktransferierenden Ausgestaltung des Strafzumessungsrechts, wagt die Arbeit den Vorschlag von Eckpunkten filr ein Modell deutscher Richtlinien filr die Strafzumessung. Sie nimmt dabei sowohl hinsichtlich des Verfahrens als auch der materiellen Ausgestaltung Stellung zu wichtigen Fragen einer de-Iege-ferenda-Lösung und versucht, jeweils mit der Theorie tatproportionaler Normstabilisierung konsistente Regelungsinhalte festzulegen. Die vorliegende Arbeit versucht, einen Beitrag zur Intersubjektivität und demokratischen Legitimation der Strafzumessung zu leisten. Sie riskiert dabei den Blick in ein anderes Rechtssystem, ohne die Problematik der Übertragung von systemfremden Lösungen zu übersehen. Sie plädiert filr ein neues Denken in diesem Bereich, das überkommene Aufgabenzuweisungen und Kompetenzverteilung in Frage stellt und die Konsequenz einer veränderten Strafzweckauffassung im Bereich der Strafzumessung einfordert.
E. Begrifflichkeit
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E. Begrifflichkeit Jurisprudenz lebt - so mag man wissenschaftszynisch einwerfen - von der Vieldeutigkeit der Begriffe. So mancher Gelehrtenstreit ließe sich schon dadurch auflösen, daß man sich auf einheitliche Begriffe einigte. Oft schwingt im Klang eines Fachwortes, eines Schlagwortes oder einer Theoriebezeichnung Unausgesprochenes mit, das fiir die verschiedenen Beteiligten am wissenschaftlichen Diskurs unterschiedliche Konnotationen in sich trägt. Die Kategorisierung von Meinungen und Standpunkten ermöglicht es, einen Überblick über den Stand der Wissenschaft zu wahren. Sie birgt jedoch auch die Gefahr des Mißverständnisses, des 'Nicht-mehr-Hinhörens', der Ablage eines Gedankens oder einer Theorie in einer Schublade, die sich hierrur nicht eignet. Begriffe sind notwendig, um Gedanken zu begreifen, greifbar und damit handhabbar zu machen. Sie verfUhren aber auch zum Wortspiel um seiner selbst willen, zum Versteckspiel hinter der Vielschichtigkeit von Begriffen. Die Voranstellung von Begriffsdefinitionen soll einerseits die Arbeit zur begrifflichen Selbstdisziplin zwingen, andererseits die Bedeutungsvielfalt 'definieren', also eingrenzen. Die Schaffung neuer Begriffe ist in dem Umfange notwendig, in dem bisherige Fachsprache entweder keinen adäquaten Ausdruck zur VerfUgung stellt oder sich zu sehr im Netz der Mißverständlichkeiten verfangen hat. So wie es gute Gesetzestechnik ist, dem besonderen Teil einen allgemeinen Teil voranzustellen, der Wiederholungen vermeidet und Struktur scham, soll auch hier ein 'allgemeiner Teil' der Begrifflichkeiten den eigentlichen Hauptteil der Arbeit vorbereiten. Zentraler Begriff der Strafzumessung ist die 'Schuld'. Ohne nun bereits inhaltlich vorgreifen zu wollen, sei jedoch festgestellt, daß häufig von der Verschiedenheit des strafbegründungsrechtlichen und des strafzumessungsrechtlichen Schuldbegriffs ausgegangen wird. Weil aber der in diesem Zusammenhang geprägte Begriff von der 'Strafzumessungsschuld' ein mißglückter, weil Schuld durch Strafzumessung implizierender Begriff ist, sei im folgenden von straftumessungsrelevanter Schuld gesprochen. Strafzumessungsrelevanz bedeutet nicht notwendig die inhaltliche Trennung von strafbegründungsrelevanter und strafzumessungsrelevanter Schuld. Sie gibt nur an, auf welchen Teilbereich des Strafrechts sich die Schuld bezieht und auswirkt. Systemtheoretisch gesprochen ist die Handlung eines Menschen nichts anderes als die Organisation eines sozialen Kontaktes durch ein in der Gesellschaft mit Persönlichkeit ausgestattetes System26 • Dies bedeutet, daß das System sich 26 Bottke, Assoziationsprävention, 1995, S. 62 f.; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 1. Abschn. Rn. 7.Welche Wesen schon vorrechtlich mit (Rechts-) Persönlichkeit
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Einleitung
selbst so organisiert, daß eS zu in der Außenwelt wahrnehmbaren (und daher: sozialen) Effekten kommt. Organisation ist in diesem Zusammenhang als Sammelbegriff fiir die innerhalb des Systems ablaufenden Prozesse zu sehen, die verschiedenster Art sein können. Strafe ist die kontrafaktische Deliktsreaktion der Gesellschaft durch die hierzu bevollmächtigten Organe auf die Enttäuschung erwarteter Kontaktorganisation27 • Sie ist Deliktsreaktion, weil sie nicht schon im Vorfeld eines zu erwartenden Normbruchs geschieht, sondern erst nach und aufgrund eines solchen. Sie ist kontrafaktisch, weil sie gegen die im Faktum der Tat liegende Schändung der Norm demonstriert und deren Verbindlichkeit kommuniziert. Strafe ist ihrer Bestimmung nach retributiv, denn sie produziert dem Tatzuständigen Kosten, die über das hinausgehen, was er an Vorteilen aus der Tat gezogen hat oder hätte ziehen können28 • Retributive Kostenproduktion geht damit über reine Vorteilskondiktion oder Schadensrestitution hinaus. Der Vorteil dieser Terminologie liegt in der Loslösung von althergebrachten Denkschemata und der mit ihnen verbundenen Vorstellungen. Nur so wird beispielsweise der Weg frei zu einer Betrachtung wirtschaftlicher Unternehmen als mögliche Subjekte des Strafrechts29 , die aufgrund ihrer Kontaktorganisation die in strafrechtlichen Kontaktnormen aufgestellten Erwartungen der Gesellschaft enttäuscht haben. Diese Terminologie begünstigt aber auch die zweckorientierte Betrachtung von Strafe. In den Begriffen des Strafrechts schwingt doch zuweilen noch das moralisierende Element mit. Metaphysische Vorstellungen von 'Gut' und 'Böse' und der 'gerechten Strafe' fiir den 'Verbrecher' beeinflussen, wenn auch möglicherweise nur unbewußt, die emotionale Haltung zu dem untersuchten Tatgeschehen . .Sprach- und Denkbarrieren tun sich auf und erschweren den Blick hinter das Überkommene, die vorurteilslose und kritische Überprüfung dessen, was 'schon immer so gemacht' wurde. Aus diesem Grund wird im Folgenden soweit nötig von der Organisation sozialer Kontakte gesprochen, von der Enttäuschung rechtlich gehegter Erwartungen und von der kontrafaktischen Deliktsreaktion, welcher die Revalidierung der enttäuschten Norm durch demonstrative Geltungsbehauptung als überzufällig
ausgestattet sind, ist abhängig von der vorrechtlichen Qualifikation als "Ko-Subjekt" unter den das Gesamtsystem (hier: die Gesellschaft) bildenden Entitäten. (vgl. dazu Hruschka, Der Gegenstand der Debatte über die Abtreibung, in: BottkelLampertJRauscher Q-Irsg.), Schutz des menschlichen Lebens, S. 97 t1 (108). Jedenfalls kann aber durch Ubereinkunft zwischen den 'rechtsurspTÜnglichen' Personen auch anderen Wesen und Gebilden Rechtspersönlichkeit verliehen werden. 27 Vgl. Bottke, Assoziationsprävention, 1995, S. 66 f.; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 1. Abschn. Rn. 11. 28 Bottke, Assoziationsprävention, 1995, S. 78 ff. 29 Bot/ke, Standortvorteil Wirtschaftskriminalrecht, in: wistra 1997, S. 241 ff. (246 f.).
E. Begrifflichkeit
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häufig zu erwartender, erwünschter Sekundäreffekt und damit als Zweck gesetzt wird30 • Die Revalidierung der Norm fUhrt zur Normstabilisierung, zur Sicherung der Geltung der Norm und ihrer Anerkenntnis unter den Normadressaten. Ist sie darüber hinaus tatproportional, entsprechen die Reaktionen auf die einzelnen Delikte also dem jeweils in der Tat verwirklichten Unrechtsgehalt und stehen daher im entsprechenden Verhältnis zueinander, so ist hierin ein Prinzip distributiver Gerechtigkeit geschaffen. Im Gegensatz zur iustitia commutativa, deren Augenmerk auf Gleichgewichtigkeit und gleichmäßiger Austeilung beruht, verlangt distributive Gerechtigkeit nicht die Verteilung gleich großer Stücke eines Kuchens, sondern richtet sich auf die Durchsetzung eines Maßstabes, der sich gerade nicht durch die Gleichheit, sondern vielmehr durch die maßstäbliche Verschiedenheit der zu verteilenden Stücke auszeichnet.
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Bottke, Assoziationsprävention, 1995, 118 ff.
Teil 1: Strafzumessungsrecht in Deutschland de lege lata Während die gesetzliche Nonnierung der Strafzumessung in Deutschland sich quantitativ mit zehn Paragraphen (§§ 46-55 StGB) noch in Grenzen hält, wovon vier nur die Frage der Konkurrenzen betreffen (§§ 52-55 StGB) und einer sich auf die Anrechnung bereits erlittener Freiheitseinbußen bezieht (§ 51 StGB), ist die Literatur zum Strafzumessungsrecht - wie dies in nahezu allen Rechtsbereichen konstatiert wird - nahezu unübersehbar. Gewisse Zweifel an der wissenschaftlichen Notwendigkeit mögen daher angebracht sein, wenn hier in Angriff genommen werden soll, den gegenwärtigen Stand des Strafzumessungsrechts in Deutschland darzustellen. Nachfolgend wird deswegen das gegenwärtige Strafzumessungsrecht von einer bestimmten Perspektive her betrachtet, den Blick gerichtet auf die Fragen der Legitimität und der Intersubjektivitäti. Einen vollständigen Überblick über das Strafzumessungsrecht in Deutschland geben zu wollen, hieße den Rahmen dieser Arbeit zu sprengen und den bereits existierenden umfassenden Darstellungen2 überflüssigerweise eine weitere hinzuzurugen. Die inhaltliche Konkretisierung der strafzumessungsrelevanten Schuld und der maßgeblichen Strafzwecke sowie die Frage, wie Schuld und Strafzwecke zueinander stehen, sich einander beeinflussen und gegebenenfalls zum Ausgleich zu bringen sind, sind entscheidend fUr die Beantwortung der Frage nach der 'richtigen' Strafe. Die daraus abgeleiteten Folgerungen spiegeln sich auch in den verschiedenen Auffassungen wider, die in einem kurzen Abriß über den Stand des Strafzumessungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland anschließend referiert und diskutiert werden.
Zum Erfordernis der intersubjektiven Nachprütbarkeit vgl. oben, S. 20 f. Zu nennen sind hier neben Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Autl 1974, aus neuerer Zeit insbesondere H.-J. Albrecht, Strafzumessung bei schwerer Kriminalität, 1994; Schäfer, Praxis der Strafzumessung, 2. Aufl. 1995; Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit, 1984. I
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A. Schuldbegriff und Strafzwecke
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A. Schuldbegriff und Strafzwecke I. Schuld als Leitprinzip
Das Strafgesetzbuch gibt dem Strafzumessenden eine wenig detaillierte Anweisung, wie er die Bemessung der Strathöhe innerhalb des gefundenen Strafrahmens vorzunehmen hat. § 46 I I StGB spricht zunächst den Grundsatz aus, ,,[ d]ie Schuld des Täters [sei] Grundlage ftlr die Zumessung der Strafe", überläßt seine Konkretisierung aber im wesentlichen dem Rechtsanwender. Weder wird näher ausgefUhrt, was die Rede von der "Grundlage" bedeuten soll, noch geben die in § 46 11 2 StGB aufgefiihrten Umstände ein klareres Bild dessen, was sich der Gesetzgeber mit diesem Satz gedacht haben mag. 1. Verfassungsrechtliche Verankerung
Die überwiegende Ansicht in Rechtsprechung 3 und Lehre 4 geht davon aus, daß das Erfordernis der Schuldorientierung der Strafe nicht nur einfachgesetzlich vorgegeben ist (§ 46 I 1 StGB), sondern auch aus den Prinzipien der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen (Art. 1 I und 2 I GG) sowie dem Rechtsstaatsprinzip5 fließt. Hiervon gehe ebenso der in der Verfassung in Art. 103 11 GG verankerte Grundsatz des "nulla poena sine lege" aus, den das Bundesverfassungsgericht gleichermaßen rur die Bestimmtheit der maximalen Höhe der Strafe herangezogen hat6 • Dabei bedeute "Schuldorientierung" nicht nur, daß Strafbarkeit nur bei schuldhaftem Handeln begründet sein könne, sondern auch, daß die Strafzumessung sich nach dem Maß der Schuld des Täters richten müsse. 3 Der Schuldgrundsatz (nulla poena sine culpa) als verfassungsrechtlich verankertes Prinzip liegt der ständigen Rechtsprechung zugrunde, daß die Strafe nur bei schuldhaftern Verhalten und im Maße dieser Schuld verhängt werden dürfe, vgl. BVerfGE 6,389 (439); 9, 167 (169); 20, 323 (331); 25, 269 (285 f.); 41, 121 (125); 45, 187 (259 f.); 50, 205 (214); 80, 244 (255); 86, 288 (313); RGSt 58, 106 (109); BGHSt 2, 194 (200 f.); 7, 214 (216); 13, 190 (192); 20, 264 (266 f.). 4 Benda, in: BendalMaihoferNogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 6 Rn. 22; Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 317 f.; Horn, in: SKiStGB, § 46 Rn. 11; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 17. Abschn. Rn. 29; JescheckiWeigend, Lehrbuch des Strafrechts AT, 5. Aufl. 1996, S.404; Lackner, StGB, 22. Aufl. 1997, § 46 Rn. 1; SchTrJidt-Aßmann, in: MaunzfDürig, GG, Art. 103 Rn. 170; Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, vor §§ 38 ff. Rn. 6; TrändIe, StGB, 48. Aufl. 1997, § 46 Rn. 4. 5 BVerfGE 20, 323 (331); 25, 269 (285 f.); 45, 187 (259 f.). 6 BVerfGE 25, 269 (285 f.). Vgl. auch Schmidt-Aßmann, in: MaunzfDürig, GG, Art. 103 Rn. 165 und Rn. 170.
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Teil 1: Strafzumessungsrecht in Deutschland de lege lata
Mit der Feststellung, die Schuld sei zentraler Strafzumessungsgesichtspunkt, ist bereits die erste große Hürde auf dem Weg zur Erkenntnis des richtigen Strafmaßes aufgestellt, die es zu überwinden gilt, bevor irgendeine Aussage zur Höhe der Strafe erfolgen kann. Denn wenn die Schuld des Täters filr die Bestimmung der Stratböhe zentral ist, bleibt die Notwendigkeit der inhaltlichen Ausfilllung des Begriffs der strafzumessungsrelevanten Schuld, will man intersubjektiv nachvollziehbare Strafzumessungsentscheidungen ermöglichen. Wer sich um diese inhaltliche Spezifizierung drückt, kann auch trotz noch so detaillierter und strenger Vorgaben filr den Zumessungsprozeß und die Begründungslast letztlich keine vorhersehbaren oder nachvollziehbaren Strafzumessungsentscheidungen erhoffen. Ohne inhaltliche Konkretisierung bleibt die Ausgangsgröße unbekannt und es ist selbst bei Vorgabe aller notwendigen Rechenschritte und einzubeziehender Faktoren nur wenig gewonnen. Was aber ist Schuld im Sinne des verfassungsrechtlichen Schuldprinzips? Was ist sie im Sinne des § 46 I 1 StGB 7? Ist 'Strafzumessungsschuld' nur Tatschuld? Ist allgemeine LebensfUhrungsschuld8 überhaupt in den Strafzumessungsvorgang einzubeziehen und, wenn ja, inwieweit9? Welche Persönlichkeitsmerkmale des Täters dürfen oder müssen in welchem Maße in die Strafzumessungsentscheidung einfließen? Wie wird das Maß der strafzumessungsrelevanten Schuld festgestellt? Das Bundesverfassungsgericht spricht davon, die Strafe habe "in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Maß der Schuld des Täters zu stehen" 10. Zwei Faktoren der Strafmaßbildung sind damit genannt. Diese Diffe7 Eine ausftihrliche Darstellung der verschiedenen Schuldbegriffe, sowohl der früher vertretenen, als auch der heute dominierenden, findet sich bei Erhard, Strafzumessung bei Vorbestraften unter dem Gesichtspunkt der Strafzumessungsschuld, 1992, S. 87 ff. 8 Geprägt hat diesen Begriff Mezger, Die Straftat als Ganzes, in: ZStW 57 (1938), S. 675 ff. (688 ff.), der im Rahmen eines Aufsatzes ein ganzheitliches, geschlossenes Bild von der Straftatsystematik vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Zwecksetzung des Strafrechts zu entwerfen versuchte. 9 Vgl. zum Problem der Lebensfilhrungsschuld Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 482; Erhard, Strafzumessung bei Vorbestraften unter dem Gesichtspunkt der Strafzumessungsschuld, 1992, S. 104 ff.; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991,17. Abschn., Rn. 34 ff.; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts AT, 5. Aufl. 1996, S. 891 f.; A. Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Aufl. 1976, S. 187 ff., insbes. S. 189; Roxin, Strafrecht AT, 3. Aufl. 1997, § 6, Rn. 9; Schäfer, Praxis der Strafzumessung, 2. Aufl. 1995, Rn. 272. Jüngst erst bekräftigte der BGH seine Ansicht, außerhalb der Tat liegendes Verhalten und Lebensfiihrung dürften nur dann (aber eben dann schon!) strafschärfend berücksichtigt werden, wenn eine Beziehung zur Tat bestehe (BGH bei Detter, Zum Strafzumessungs- und Maßregelrecht, in: NStZ 1997, 174 ff. [176], Urt. v. 17.07.1996 - 5 StR 121/96). 10 BVerfGE 45, 187 (260).
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renzierung legt auf den ersten Blick eine begriffliche Trennung nahe zwischen Gesichtspunkten objektiver Tatschwere und solchen subjektiver Schuld. Das würde bedeuten, daß mit "Schuld des Täters" nur subjektive Umstände gekennzeichnet wären. Versteht man die strafzumessungsrelevante Schuld dagegen in herkömmlicher Diktion als quantitative Erfassung von Handlungs- und Erfolgskomponenten vorwerfbaren Verhaltens 11, so schließt 'Schuld' sowohl die objektiven Momente, zusammenfaßt im Begriff der 'Schwere des Unrechts', als auch die subjektiven, täterbezogenen Faktoren mit ein. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dürfte nicht anders zu verstehen sein, als daß das Schuldprinzip die Einbeziehung sowohl der objektiven wie auch der subjektiven Faktoren gestattet und sogar fordert. Die besondere Gewichtung der 'Schuld des Täters' als subjektives Merkmal rührt wohl vor allem daher, daß einerseits die Vertypung objektiven Unrechts in den gesetzlichen Tatbeständen, andererseits die ohnehin durch die Gerichte stattfindende Berücksichtigung der Schwere des zuzurechnenden Unrechtserfolges eine Betonung des subjektiven Faktors notwendig machte. Die Ableitung des Schuldprinzips aus der verfassungsrechtlich verankerten Würde des Menschen, insbesondere seiner Eigenverantwortlichkeit, löst sich vom Determinismusstreitl2 • Das Bundesverfassungsgericht spricht aus, daß das Menschenbild des Grundgesetzes vom eigenverantwortlichen - und das heißt: filr seine Handlungen verantwortlich zu machenden - Menschen ausgeht. Es ist damit nicht gesagt, daß der Mensch sich völlig unabhängig von äußeren Einflüssen filr eine bestimmte Organisation seiner sozialen Kontakte entscheidet. Abgelehnt ist allerdings eine Position, die dem Menschen in seiner rechtlichen Beziehung zu seiner Umwelt und zur Gesellschaft nur eine determinierte Rolle zumißt. Das grundgesetzliche Menschenbild abstrahiert vom Determinismusstreit und weist normativ (und damit unabhängig von psychologisch-naturwissenschaftlichen Gegebenheiten) dem Menschen Eigenverantwortlichkeit zu. Eine Gesellschaft, die ihre Mitglieder als frei begreift und ihnen das Recht der allgemeinen Handlungsfreiheit einräumt, kann auch nicht anders, als normativ von der Eigenverantwortung des Menschen auszugehen. Freiheit zum Handeln und Venintwortung fllr das Handeln sind ohne einander nicht sinnvoll denkbar. Freiheit ohne Verantwortung würde zum Mißbrauch einladen und zum Chaos filhren. Verantwortung ohne Freiheit würde dem zur Verantwortung Gezogenen Vgl. unten S. 37 und Fn. 23. Ho/zhauer, Willensfreiheit und Strafrecht, 1970 gibt einen historischen Überblick über den Detenninismusstreit. Für einen völligen Indetenninismus Wegner, Strafrecht AT, 1951, S. 69 ff. Zum Ganzen instruktiv Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts AT, 5. Aufl. 1996, S. 408 ff.; Roxin, Strafrecht AT, 3. Aufl. 1997, § 19 Rn. 1 ff. Vgl. auch Schreiber, Was heißt heute strafrechtliche Schuld und wie kann der Psychiater bei ihrer Feststellung mitwirken?, in: Der Nervenarzt 48 (1977), S. 242 ff. 11
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Handlungen zurechnen, die dieser nicht venneiden konnte. Die Zurechnung wäre abhängig von naturwissenschaftlicher Kausalität und beliebigen Adäquanzfaktoren. Sie wäre ungerecht, weil nicht sachgerecht. Während WUrde (Art. 1 GG) und allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) die subjektive Verantwortlichkeit des Menschen betreffen und dem Bundesverfassungsgericht Ansatzpunkte für das Maß subjektiver Täterschuld geben, bleibt für das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) nur die Einbeziehung des objektiven Unrechts, der 'Schwere der Tat', in die strafzumessungsrelevante Schuld. Dem Rechtsstaatsprinzip ist in diesem Zusammenhang zum einen das Element materieller Gerechtigkeit zu entnehmen, zum anderen das Verhältnismäßigkeitsprinzip, weIches das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur lebenslänglichen Haftstrafe auch ausdrücklich als Maßprinzip für schuldangemessenes Strafen heranzieht 13 • Materielle Gerechtigkeit umfaßt mehr als nur die der persönlichen Verantwortung angemessene Zurechnung im Sinne der subjektiven 'Täterschuld'. Sie verlangt darüber hinaus die Verwirklichung von iustitia distributiva, also von proportionaler Austeilung der Strafe unter den von ihr Betroffenen l4 • Sie betrifft damit ein objektives Moment - nämlich die Schwere der Tat - weIche von der Rechtsgemeinschaft als quantitative Kategorie wahrgenommen wird. Wie schwer eine Tat beurteilt wird, hängt von der Wertigkeit der beeinträchtigten Rechtsgüter ab. Je nachdem, wie hoch die Gesellschaft - in durchaus Wandlungen unterliegender Weise - die Bedeutung des Rechtsguts einschätzt, umso schwerer oder minder schwerer wird auch der diesbezügliche Nonnbruch empfunden. Das Rechtsstaatsprinzip fordert also die Berücksichtigung des objektiven Schweregrades der Tat als Ausdruck distributiver Gerechtigkeit. Sodann muß die Strafe, welche der Staat verhängt und die immer einen Eingriff in die Freiheitsrechte des vom strafenden Eingriff Betroffenen bedeutet, in BVerfGE 45, 187 (260 f.). Vgl. hierzu insbesondere Kriele, Kriterien der Gerechtigkeit, 1963, S. 52 ff., der lediglich Strafe ohne (Strafbegründungs-?) Schuld aus allgemeinsprachlicher Sicht als "negatives Kriterium der Gerechtigkeit" klassifiziert, die Frage des Strafinaßes jedoch nicht als Fall der distributiven Gerechtigkeit nennt (Kriele, a.a.O., S. 57 ff.). Es läge aber nach Krieles Ausftlhrungen nahe, die Schuld- und Strafinaßbestimmung hypothetischen Kriterien ftlr gerechtes Verteilen zu unterwerfen. Gegen die Annahme, iustitia commutativa sei das richtige Maßprinzip wendet sich Bottke, Assoziationsprävention, 1995, S. 166 ff. Er stellt die Problematik der commutativen Gerechtigkeit und ihrer Ausdeutung im Sinne des kantianisch inspirierten Vergeltungsstrafrechts in ihrer Beziehung zu einer zweckorientierten Theorie der Strafe ausftlhrlich dar. Er zeigt unter Hinweis auf Beccaria auf, daß in diesem Sinne 'gerechte' Strafe in einer gesellschaftsvertraglieh fundierten Straftheorie nicht Vergeltung gleichen Übels mit gleicher Strafe bedeuten müsse, sondern es auf die Zweckrationalität der Sanktion ankomme. 'Gelindigkeit' wie es Beccaria ausdrückte - sei daher nach einem gesellschaftsvertraglichen Staatsverständnis das maßgeblich Prinzip ftlr die Strafbemessung (Bottke, a.a.O., S. 173). 13
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einem angemessenen Verhältnis zu den objektiven und den subjektiven Faktoren der Strafzumessung stehen. Die hierzu erforderliche Schwereabschätzung der Sanktion wird allerdings durch deren numerische Abstufung in Anzahl von Tagessätzen oder Dauer von Freiheitsstrafe nur scheinbar erleichtert. Zum einen mag bei verschiedenen Tätern die unterschiedliche Strafempfindlichkeit ein relevantes Kriterium darstellen l5 , zum anderen handelt es sich bei der Skala der Strafmaße lediglich um eine sog. 'Ordinalskala', die nur etwas über die Rangfolge der einzelnen Werte, nicht aber über ihr mathematisches Verhältnis zueinander aussagtl6, so daß eine Zuordnung eines einmal festgestellten Schweregrades der Täterschuld (sofern er denn irgendwie anders numerisch auszudrücken wäre als durch die Angabe bestimmter Strafmaße l7) zu einem bestimmten Strafmaß problematisch ist.
2. Schwierigkeit inhaltlicher Konkretisierung Was sich abstrakt noch recht einfach darstellen läßt, fUhrt in der konkreten Umsetzung im Einzelfall zu größten Schwierigkeiten. Schon bei der Bestimmung des objektiven Schweregradeseines Normbruchs steht der strafzumessende Richter in dem Konflikt, von den eigenen Vorstellungen über die Schwere des Deliktes abstrahieren und eine - fiktive? - gesamtgesellschaftli-
15 So Schünemann, Plädoyer filr eine neue Theorie der Strafzumessung, in: Eser/Comils (Hrsg.), Neuere Tendenzen der Kriminalpolitik, 1987, S. 209 ff. (226). In diese Richtung zielt auch die Rechtsprechung, wenn sie etwa todkranken oder alten Tätern besondere Strafrabatte einräumt, vgl. BGH 1987, 345; OLG Köln StV 1988, 67; BOH StV 1988,296; NStZ 1991,527; BOHR StOB § 46 I Schuldausgleich 7,13. 16 Vgl. hierzu ausfilhrlich und überzeugend Köberer, Iudex non calculat, 1996, S. 81 ff., insbes. S. 126. Denn weder läßt sich sagen, daß eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren eine doppelt so schwere Sanktion darstellt wie eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr und eine halb so schwere Sanktion wie eine Freiheitsstrafe von 4 Jahren. Noch ist es sinnvoll davon zu sprechen, daß die Intervalle jeweils eine gleich große Steigerung bringen, also die Erhöhung einer Freiheitsstrafe von 6 Monate um einen weiteren Monat genauso schwer wiegt wie die Erhöhung einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren um einen Monat. Die Skala der Strafen hat mithin weder Rationalskalenformat noch Intervallskalenformat, so daß sinnvolle mathematische Operationen (mit Ausnahme der Bestimmung des Median) schwerlich durchgefilhrt werden können. Die Strafenskala gleicht damit der BeaufortSkala der Windstärken: Windstärke 3 bezeichnet "diejenige Windstärke, an der ein Fischkutter unter dem Winddruck zu krängen beginnt", "Windstärke 5 diejenige Windstärke, bei der Fischkutter die Segel reffen müssen" und Windstärke 8 "einen Wind, bei dem Fischkutter im Hafen Schutz suchen müssen. Danach läßt sich sinnvoll sagen, daß 'Windstärke 8' stärker ist als 'Windstärke 5' und diese wiederum stärker als 'Windstärke 3' ist, es hat aber augenscheinlich keinen empirischen Sinn zu sagen, 'Windstärke 8' sei so stark wie 'Windstärke 3' und 'Windstärke 5' zusammen oder etwa doppelt so stark wie 'Windstärke 4'." (Köberer, a.a.0., S. 92 f.). 17 Dies bestreitet mit Recht Horn, in: SKIStOB, § 46 Rn. 34. 3*
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che Schwereeinschätzung nachzeichnen zu müssen. Wenn gelegentlich gefordert wurde, es müsse eine größere Transparenz der Strafzumessungspraxis durch die Schaffung eines möglicherweise EDV -gestützten Berichtssystems erzeugt werden l8 , so steht dahinter das Bemühen, wenigstens aus der Masse der in der Praxis entschiedenen Fälle auf bestimmte gesamtgesellschaftliche Wertvorstellungen schließen zu können. Während sich etwa leicht ein Konsens herstellen ließe über die Bedeutung des durch Normbruch betroffenen Rechtsgutes 'Leben' im Vergleich zum Rechtsgut 'Eigentum', so ist doch selbst unter verschiedenen quantifizierbaren Rechtsgutsobjekten eines bestimmten Rechtsgutes nicht immer eine eindeutige Schwerezuordnung möglich l9 • Noch gravierender sind die Schwierigkeiten der Bewertung subjektiver Faktoren, welche das Bundesverfassungsgericht mit "Schuld des Täters" benannt hat. Die Spanne der in die Bemessung einzubeziehenden Umstände reicht von noch relativ handhabbaren Abstufungen, wie etwa des Grades des Vorsatzes, über schon schwierigere Fragen, etwa der Stufe der Fahrlässigkeit, zu gänzlich individuelle Bewertung erfordernden Komponenten, wie etwa der "persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters" (§ 46 11 2 StGB). Welches sind also die konkreten Folgerungen, die sich aus dem verfassungsrechtlich verankerten Schuldprinzips ziehen lassen? Sicherlich sind rur den Einzelfall kaum Aussagen zur verfassungsrechtlichen Schuldangemessenheit der Strafe möglich. Hierzu ist das Prinzip zu abstrakt und die Umwertung im Einzelfall zu unbestimmt. Es lassen sich lediglich gesetzliche Regelungen oder die richterliche Praxis im Allgemeinen am verfassungsrechtlichen Schuldprinzip messen. Zu folgern ist daher lediglich, daß Tatschwere und persönliche Schuld des Täters im Strafzumessungssystem Berücksichtigung fmden müssen und dort ihren Platz haben. Das verfassungsrechtlich vorgegebene Schuldprinzip ist also Streng, Strafzumessung und relative Gerechtigkeit, 1984, S. 309 ff. Wer etwa vermag eindeutig zu sagen; daß der Betrug zu Lasten einer alten Rentnerin, durch den dem Opfer ein Schaden von DM 2.000,- entstand, objektiv schwerer oder weniger schwer wiegt als der Betrug zu Lasten einer Großbank in Höhe von DM 1O.000,-? Noch deutlicher wird dies bei Rechtsgutsobjekten, die nur fUr den Eigentümer einen besonders hohen weil immateriellen Wert besitzen, materiell aber vergleichsweise wenig wert sind. Bezieht man nämlich die Opferinteressen und die Wertigkeit, die das betroffene Rechtsgutsobjekt filr das Normbruchsopfer hat, in die Schwerebeurteilung ein, so verlieren selbst augenscheinlich quantifizierbare Rechtsgutsobjekte ihre Vergleichbarkeit. Das Dilemma laßt sich auch nicht dadurch lösen, daß man nur auf den Nutzen filr den Normbrecher abstellt, um ihm jeweils nutzenübersteigende Kosten durch die strafrechtliche Reaktion zu produzieren. Denn auch auf seiten des Täters mag ein bestimmtes Rechtsgutsobjekt einen viel höheren Wert besitzen, als den leicht quantifizierbaren Verkehrswert. Es bliebe die Alternative der Nivellierung der objektiven Zumessungsaspekte durch Ausschaltung solcher individueller Quantifizierungen. Doch steht dann eine Verschiebung der Problematik in das Feld der subjektiven "TIlterschuld" zu erwarten, wodurch das Problem auch nicht gelöst, sondern allenfalls verlagert würde. 18 19
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aus objektiven und subjektiven Komponenten zusammengesetzt. Die Konkretisierung dessen, welche Umstände im einzelnen strafzumessungsrelevant sind, wie die Gewichtung der verschiedenen Faktoren auszufallen hat und wie die Entscheidung über die Strafzumessung zu treffen ist, kann es nicht leisten. 3. Unschärfe des SchuldbegrifJs Wie Achenbach20 vertreten heute viele21 , daß - nicht nur begrifflich, sondern auch inhaltlich - ein Unterschied bestehe zwischen der Schuld im systematischen Verbrechensautbau und der sogenannten "Strafzumessungsschuld"22. Der dogmatische Schuldbegriff hinterfrage das "ob" der individuellen Vorwerfbarkeit des tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen Verhaltens, während der Begriff der Schuld im Strafzumessungsrecht quantitativ "Handlungs- und Erfolgskomponenten"23 zu erfassen suche. In einer Formel zusammengefaßt: Wer in vorwertbarer Weise tatbestandsmäßig und rechtswidrig gehandelt habe, werde in dem Maße bestraft, das dem Handlungs- und dem Erfolgsunwert seiner Tat entspreche. Mit dem Begriff der Strafzumessungsschuld werde, so eine andere Definition, der "gesamte Umfang dessen gekennzeichnet, was dem Täter in bezug auf die begangene Tat, einschließlich des insoweit relevanten Vor- und Nachtatverhaltens, subjektiv zuzurechnen und dementsprechend vorzuwerfen" 20 Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen der strafi'echtssystematisehen Schuldlehre, 1974, S. 3 ff. 21 Bottke, Probleme einer gesamten Strafrechtswissenschaft, JA 1979, 435 ff. (437); Bruns, Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 145; Erhard, Strafzumessung bei Vorbestraften unter dem Gesichtspunkt der Strafzumessungsschuld, 1992, S. 92; Gössel, Rezension von Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, in: JA 1974, S. 220 f. (221); JescheckIWeigend, Lehrbuch des Strafrechts AT, 5. Aufl. 1996, S. 887 (nicht mehr so dezidiert wie noch in der Vorauflage); Lackner, StGB, 22. Aufl. 1997, § 46 Rn. 23; Naucke, Strafrecht, Eine EinfUhrung, 7. Aufl. 1995, § 7 Rn. 46 ff. und Rn. 313 ff.; Roxin, Strafrecht AT, 3. Aufl. 1997, § 19 Rn. 50; ders., Zur jüngsten Diskussion über Schuld, Prävention und Verantwortlichkeit im Strafrecht, in: Festschrift fUr Bockelmann, S. 279 ff. (282 und 304); Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Autl 1997, § 46 Rn.9a; Zipf, Die Strafzumessung, 1977, S.28. Anderer Auffassung sind etwa Hettinger, Das Doppelverwertungsverbot bei strafrahmenbildenden Umständen, 1982, S. 119; Frisch, Gegenwärtiger Stand und Zukunftsperspektiven der Strafzumessungsdogmatik, in: ZStW 99 (1987), S. 349 ff. (386); Horn, in: SKiStGB, § 46 Rn. 42. 22 Im folgenden wird der Begriff "Strafzumessungsschuld" vermieden, da er semantisch eine "Schuld durch Strafzumessung" impliziert. Statt dessen werde ich von strafzumessungsrelevanter Schuld sprechen. 23 Diese Formulierung stammt von Zipf, Die Strafzumessung, 1977, S. 28, der diese Terminologie den Begriffen "Handlungs- und Erfolgsunrecht" vorzieht, die aus der dogmatischen Verbrechenslehre stammten und nicht identisch mit den gleichnamigen Komponenten in der Strafzumessung seien.
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seF4 • Am Begriff der "Rechtsfriedensstörung" versucht hingegen Frisch die strafzumessungsbezogene Schuld festzumachen: "Schuld im Sinne des Strafzumessungsrechts ist [... ] die der Tat entsprechende, graduell steigerungsflihige Rechtsfriedensstörung (im Sinne einer Erschütterung der Erwartung der Unverbrüchlichkeit der im entsprechenden Sanktionstatbestand je vorausgesetzten Verhaltensnormen), die dem Täter nach den der Rechtsordnung immanenten Maßstäben angelastet und zu deren Behebung er daher legitimerweise herangezogen werden kann. ,,25 Diese modemen Definitionen des Begriffs der strafzumessungsrelevanten Schuld spiegeln die grundsätzliche Tatbezogenheit heutiger Strafzumessungsdogmatik wider. Auch eine konkrete Tatbezogenheit des Begriffs der strafzumessungsrelevanten Schuld im Sinne einer nur auf Handlungs- und Erfolgsunwert beruhenden Schuld nennt jedoch lediglich andere Meßeinheiten ftlr den Umfang der Schuld. Wie der Unwert des Handeins und der Unwert des in der Lebenswirklichkeit verursachten Erfolges nun im Verhältnis zu bestimmten Strafquanten stehe, kann auch diese Formel nicht angeben. Auch sagt sie nicht, wie überhaupt ein Maß des Unwertes hinsichtlich Handlung und Erfolg festzustellen sei. Sie beantwortet nicht die Frage nach dem Meßinstrument und somit nach der Strafhöhe. Wann ist Handlungsunwert höher, weniger hoch, gering? Ist der Erfolgsunwert nur am tatbestandsmäßigen Verhalten zu messen, oder sind darüber hinausgehende 'Gesamtumstände' maßgeblich ftlr seine Bewertung? Gibt es einen Durchschnitts- oder Regelfall, von dem der Gesetzgeber bei der Schaffung der Strafrahmen ausgegangen ist und von dem je nach Handlungsund Erfolgsunwert nach oben oder unten abzuweichen ist? Wie weit ist gegebenenfalls abzuweichen? Umstritten ist etwa die Frage, wie weit sich die ftlr die Bemessung der Strafe heranzuziehenden Kriterien von der 'Tat' als solche entfernen dürfen oder gar müssen: Inwieweit darf oder muß das Vor- und Nachtatverhalten des Täters miteinbezogen werden? Dürfen oder müssen Präventionsgesichtspunkte eine Rolle spielen? Früher noch häufiger als heute vertretene Schuldbegriffe, die die Lebensfiihrungsschuld26 oder die Charakterschuld27 des Täters in die Strafzumessung einStree, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 46 Rn. 9a Frisch, Gegenwärtiger Stand und Zukunftsperspektiven der Strafzumessungsdogmatik, in: ZStW 99 (1987), S. 349 ff. (388). 26 Vgl. Bockelmann, Studien zum Täterstrafrecht, 2. Teil, 1940, S. 145 ff.; Mezger, Die Straftat als Ganzes, in: ZStW 57 (1938), S. 675 ff. (688 ff.); ders., Tatstrafe und Täterstrafe, insbesondere im Kriegsstrafrecht, in: ZStW 60 (1941), S. 353 ff. (370 ff.); ders., Deutsches Strafrecht. Ein Grundriß, 3. Aufl. 1943, S. 84 f.; Welzel, Persönlichkeit und Schuld, in: ZStW 60 (1941), S. 428 ff. (459 ff.). 27 V gl. Engisch, Bietet die Entwicklung der dogmatischen Strafrechtswissenschaft seit 1930 Veranlassung, in der Reform des Allgemeinen Teils des Strafrechts neue Wege 24
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fließen lassen, sind zwar meist ebenfalls tatbezogen in dem Sinne, daß sie Umstände der Lebensfilhrung oder des Charakters nur dann filr die Strafzumessung verwerten wollen, wenn sie sich in der Tat in irgendeiner Weise niedergeschlagen haben. Dennoch erweitern sie den Kreis der strafzumessungsrelevanten Tatsachen erheblich und gehen über das sich in der Tat äußernde Verhalten und das mit der Tat verwirklichte Unrecht hinaus. Abgesehen von der forensischen Schwierigkeit der Feststellung jener Persönlichkeitsmerkmale und ihrer Gewichtung28 ist dieser Ansatz auch im Hinblick auf die RechtsgUterschutzorientierung des Strafrechts zweifelhaft29 • Das Strafrecht hat nicht die Aufgabe, anläßlich einer bemerkten Tat die Persönlichkeitsbildung und die Lebenswegentscheidungen des Angeklagten einem Urteil zu unterziehen. Mit gutem Grund sind die Tatbestände des Besonderen Teils auf bestimmte Verhaltensweisen beschränkt. Das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 II GG) verbietet die Ausdehnung strafrechtlicher Haftung auf nicht mehr faßbare und vorhersehbare Bereiche der Organisation sozialer Kontakte30 durch die Gesellschaftsmitglieder. Aus weIchem Grund sollten dann Umstände, die sich nicht unmittelbar in einer Rechtsgutsbeeinträchtigung niedergeschlagen haben, zu einem gesteigerten Freiheitseingriff durch höhere Strafe berechtigen? Auch wenn man anerkennt, daß die letztlich zur Tat - und damit zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit filhrende Entscheidung in einer langen Reihe schuldhafter Fehlentscheidungen steht, die alle mitursächlich ftlr die Verfehlung sein mögen, so fUhrt die notwendige Positivierung zu einer unausweichlichen und dem Recht "immanenten Grenze [... ], die der Verwirklichung des Schuldprinzips gesetzt ist."3! Es ist daher ein prinzipieller Zusammenhang zwischen der "Positivierung sittlicher Grundprinzipien des Rechts" und der Limitierung dessen, was Gegenstand eines strafrechtlichen Vorwurfs sein kann, erkennbar. Eine Loslösung von der durch die Tatschuld gesetzten Begrenzung dessen, was zur Feststellung der strafzumessungsrelevanten Schuld herangezogen werden darf, bedeutet die Loslösung von faßbaren und damit einer rechtlichen Beurteilung zugänglichen Faktoren. Dies wiederum bedeutet eine Überforderung des Richters und damit die Gefahr willkürlicher Entscheidung32 • zu gehen?, in: ZStW 66 (1954), S. 339 ff. (359 ff.); Heinitz, Strafzumessung und Persönlichkeit, in: ZStW 63 (1951), S. 57 ff. (74 ff.); Eh. Schmidt, Kriminalpolitische und strafrechtsdogmatische Probleme in der deutschen Strafrechtsreform, in: ZStW 69 (1957), S. 359 ff. (387 f.). 28 Vgl. nur A. Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Aufl. 1976, S. 190. 29 So auch Erhard, Strafzumessung bei Vorbestraften unter dem Gesichtspunkt der Strafzumessungsschuld, 1992, S. 106 f. 30 Zum Begriff der Organisation sozialer Kontakte vgl. Bottke, Assoziationsprävention, 1995, S. 62 f. 3! A. Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Aufl. 1976, S. 195. 32 A. Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Aufl. 1976, S. 195.
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Der Bundesgerichtshof läßt auch heute noch die strafschärfende Berücksichtigung von Umständen außerhalb der Tat ZU33. Einen Ansatzpunkt hierzu bietet ihm § 46 11 2 StGB, der Vorleben und persönliche Verhältnisse wie auch Nachtatverhalten des Täters als bei der Zumessung der Strafe in Betracht zu ziehende Umstände nennt. Gleichzeitig betont er jedoch, daß Umstände der 'allgemeinen Lebensftlhrung' nur dann (aber eben doch) berücksichtigt werden dürfen, wenn ein "schuldrelevanter Zusammenhang mit der Tat besteht, der Rückschlüsse auf eine höhere Tatschuld zuläßt"34. Entweder ein Umstand betrifft die allgemeine und nicht die konkrete (in der Tat sich äußernde) Lebensftlhrung, dann ist er eben nicht tatbezogen. Oder er kennzeichnet die besondere, in der Tat liegende Vorwerfbarkeit, dann ist er kein Umstand der 'allgemeinen Lebensftlhrung'. Bei Vermischung von allgemeiner und besonderer Lebensfilhrung wird das Kriterium der 'Tatbezogenheit' völlig beliebig. Auch und gerade die Belastung mit - nicht unbedingt einschlägigen35 Vorstrafen wird als möglicherweise strafschärfender Umstand angesehen36, obwohl die gesetzliche Vorschrift ftlr die Berücksichtigung des Rückfalls (§ 48 StGB a.F.) durch das 23. StrÄndG vom 13.04.198631 gestrichen wurde38 . Worin nun der schulderhöhende Gesichtspunkt der Vorstrafen zu sehen sei, bleibt weiterhin unklar. Die von der Rechtsprechung zur Rechtfertigung ihres Vorgehens herangezogene Begründung, die erhöhte Tatschuld des Täters liege darin, daß er "sich die früheren Verurteilungen nicht hat zur Warnung dienen lassen", erscheint nicht einsichtig. Warum soll denn die Warnung, die von einer früheren 33 BGH bei Detter, Zum Strafzumessungs- und Maßregelrecht, in: NStZ 1997, S. 174 tf. (176), Urt. v. 17.07.1996 - 5 StR 121196. 34 So BGH 3 StR 18/86 bei Theune, Zum Strafzumessungsrecht, in: NStZ 1986, S. 493 tf. (494); NStZ 1988, 125 f. (126). Vg\. auch BGH NStZ 1984, 259 f. (259); NJW 1990,489 f. (490); BGH 2 StR 361/88 bei Theune, Zum Strafzumessungsrecht, in: NStZ 1989, S. 173 tf. (175); BGH 3 StR 315/89 bei Detter, Zum Strafzumessungs- und Maßregelrecht, in: NStZ 1990,221 ff. (221); BGH 3 StR 73/90 bei Detter, Zum Strafzumessungs- und Maßrege\recht, in: NStZ 1990,483 tf. (485 f.); BGH 4 StR 548/90 bei Detter, Zum Strafzumessungs- und Maßregelrecht, in: NStZ 1991,475 tf. (477); BGH 2 StR 702/93 bei Detter, Zum Strafzumessungs- und Maßregelrecht, in: NStZ 1994, 474 tf. (475) ("enge Beziehung zur Tat"). 35 BGHSt 24, 198 tf. (199). 36 Vg\. nur Gribbohm, in: LKiStGB, 11. Aufl. 1995, § 46, Rn. 158; Tröndle, StGB, 48. Aufl. 1997, § 46 Rn. 24a; BGH bei Detter, Zum Strafzumessungs- und Maßregelrecht, in: NStZ 1991, S. 475 tf. (477). 37 BGB\. 1986 I, S. 393. 38 Vg\. hierzu ausfllhrlich Erhard, Strafzumessung bei Vorbestraften unter dem Gesichtspunkt der Strafzumessungsschuld, 1992, S. 34 tf., der allerdings mit Bezug auf die Gesetzesmaterialien darlegt, daß der Gesetzgeber nur den Schematismus der erhöhten Mindeststrafe zugunsten einer höheren Flexibilisierung bei Bagatellstraftaten beseitigen wollte, a.a.O., S. 41.
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Verurteilung ausgeht, eine Erhöhung der Tatschuld bedeuten? Was hat dieser Umstand mit der jetzt zu beurteilenden Tat zu tun?39 Ein neuerer Erklärungsansatz interpretiert die herrschende Praxis der Rechtsprechung so, daß sie dem Vorbestraften und also 'Vorgewarnten' eine höhere Pflicht zur Rechtstreue auferlegt40. Denn weder liege in der Rückfalltat gesteigertes Erfolgsunrecht, noch lasse sich hierin per se eine besonders unrechtssteigernde Handlungsmodalität erblicken. Komme die 'Beharrlichkeit' oder die 'Professionalität' des Rückfalltäters schon in der besonders planmäßigen oder versierten Tat zum Ausdruck, dann sei ein solcher schulderhöhender Aspekt zwar gegeben. Er lasse sich aber aus der Tat selbst ablesen und liege nicht bei allen (wohl nicht einmal bei den meisten) Rückfalltaten vor. Es bleibe dann also eine Interpretation des Rückfalls als objektiv-täterschaftliches Merkmal, das strukturell vergleichbar ist mit einer gesteigerten Rechtspflicht wie etwa bei Amtsträgern oder Garanten41 . Amtsträger oder Garanten trifft aber nur deswegen eine gesteigerte Pflicht zur Rechtstreue, weil ihnen besondere Rechtsgutsobjekte zum Schutz zugewiesen wurden. Die Verletzung ihrer Pflichten geflilirdet die Rechtsgutsobjekte in größerem Maße und hat somit eine nachvollziehbare Unrechtssteigerung zur Folge. Anders hingegen bei Vorbestraften: Von ihnen wird niemand größeren Schutz ft1r bestimmte Rechtsgüter erwarten können. Ihre Hemmschwelle, weitere Straftaten zu begehen, dürfte eher gesunken als gestiegen sein. Ihre - insbesondere mit freiheitsentziehender Vorstrafe geilirderte - Entsozialisierung und Einbindung in kriminelle Kreise wirkt normbruchbegünstigend. Die von der Praxis angenommene Steigerung der Schuld durch den Rückfall des Vorbestraften weckt auch Bedenken aus dem Gesichtspunkt des Verbots der Doppelbestrafung ('ne bis in idem')42, da allein durch die Wiederholung das objektive Unrecht der zweiten Tat nicht gesteigert wird. Sie ist letztlich wohl doch eng verwoben mit dem Gedanken der Lebensftlhrungs- oder Charakterschuld43 , die vom Standpunkt eines an der Tatschuld orientierten Schuldbegriffs nicht als relevant angesehen werden kann44 • Die allgemeine Geflihrlichkeit des Täters ft1r 39 Vgl. umfassend zu dieser Problematik Erhard, Strafzumessung bei Vorbestraften unter dem Gesichtspunkt der Strafzumessungsschuld, 1992, der zu dem Ergebnis gelangt, daß ein modemes tatschuldorientiertes Strafrecht nur in seltenen Fällen zu einer schulderhöhenden Berücksichtigung der Vorstrafen gelangen sollte, aa.O., S. 338 f. 40 Erhard, Strafzumessung bei Vorbestraften unter dem Gesichtspunkt der Strafzumessungsschuld, 1992, S. 264 ff. 41 Erhard, Strafzumessung bei Vorbestraften unter dem Gesichtspunkt der Strafzumessungsschuld, 1992, S. 264 f. 42 Erhard, Strafzumessung bei Vorbestraften unter dem Gesichtspunkt der Strafzumessungsschuld, 1992, S. 267. 43 Erhard, Strafzumessung bei Vorbestraften unter dem Gesichtspunkt der Strafzumessungsschuld, 1992, S. 270. 44 Aber auch mit der gesetzgeberischen Intention dürfte die Rede von der Lebensfilhrungsschuld schwerlich in Einklang zu bringen sein, vgl. Bottke, Strafrechtswissen-
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die geschützten Rechtsgüter, die dieser durch seinen Rückfall demonstriert, seine mangelnde Rechtstreue, die zu der Befürchtung Anlaß gibt, er werde auch in Zukunft Normen verletzen, dies sind die eigentlichen Beweggründe rur eine Strafschärfung. Es sind mithin allenfalls präventive45 Gesichtspunkte, ansonsten maßregelrelevante Faktoren, die aber mit der Schuld im eigentlichen Sinne nichts zu tun haben. Auch sonstiges Nachtatverhalten kann in der Praxis Einfluß auf die Strafzumessung haben46 , selbst wenn nicht - wie etwa bei der Wiedergutmachung durch (teilweise) Restitution47 - das Erfolgsunrecht gemildert wird. Die Rechtsprechung48 wie die Literatur49 gehen überwiegend von der möglichen Strafzumessungsrelevanz von außerhalb der Tat liegenden Umständen aus. Wenn etwa ein Geständnis strafinildernd berücksichtigt wird 50, so stellt sich die Frage, inwieweit dies mit dem Schuldbegriff zu vereinbaren ist oder ob ein anderer Aspekt der Strafzumessung die Milderung zuläßt oder gar gebietet. Man mag aus einem Geständnis nicht nur positive Schlüsse auf die Täterpersönlichkeit ziehen können (im Sinne der Indiztheorie51 ), sondern in dem Bekenntnis zum schaftliehe Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden und strafmildernden Täterverhalten, 1979, S. 681. 45 Präventiv sei hier im Sinne von "spezialpräventiv", zur Einwirkung auf die zukünftige Rechtstreue des Täters verstanden. 46 Grundlegend Beling, Die Lehre vom Vebrechen, 1906, S. 245 ff. Differenzierend Lang-Hinrichsen, Bemerkungen zum Begriff der "Tat" im Strafrecht, in: Festschrift für Engisch, 1969, S. 353 ff. Weiterführend Battke, Strafrechtswissenschaftliche Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden und strafmildernden Täterverhalten, 1979, S. 680 ff. 47 Daß das Ausmaß des durch die Tat verursachten Unrechts in dem Moment der Tatbeendigung feststehe und durch Nachtatverhalten des Täters nicht veränderlich sei (so aber etwa Harn, in: SK/StGB, § 46 Rn. 132), ist eine dem Unterschied zwischen Strafzumessung und Strafbegründung nicht gerecht werdende und durch nichts gebotene Behauptung. Sie widerstreitet auch der gesetzlich geforderten strafmildernden Berücksichtigung der Wiedergutmachung in §§ 46 II 2, 46a StGB. Vgl. hierzu schon Battke, Strafrechtswissenschaftliche Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden und strafmildernden Täterverhalten, 1979, S. 682 f. 48 BGHSt 42, 43 f.; BGHR StGB § 46 II Nachtatverhalten 9, 17; BGHR StPO § 273 III 1 Strafzumessung 10; BGH NStZ-RR 1997, 196; BGH NStZ 1991, 181 (182), 1991,182; 1985,21; BGH StV 1995, 131 (132); 1990,259 (260); 1989, 12; 1982,20. 49 JescheckiWeigend, Lehrbuch des Strafrechts AT, 5. Aufl. 1996, S. 893. 50 Allgemein zur Praxis vgl. Schäfer, Praxis der Strafzumessung, 2. Aufl. 1995, Rn. 290. Auch in neuerer Zeit hat der BGH dies wieder hervorgehoben und sogar das Fehlen von Ausführungen zur strafmildernden Relevanz eines vorliegenden Geständnisses als rechtsfehlerhaft bewertet, BGH StV 1991, S. 106 ff. (108); NJW 1996,3018 f. (3018). Grundlegend zur Wirkung des Geständnisses Dencker, Zum Geständnis im Straf- und Strafprozeßrecht, in: ZStW 102 (1990), S. 51 ff. 51 Vgl. zu den verschiedenen Spielarten der Indiztheorie Battke, Strafrechtswissenschaftliche Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden und strafmil-
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Unrecht sogar eine teilweise Rückgängigmachung des Unrechts sehen 52 . Die Rechtsprechung hat darüber hinaus zuweilen in problematischer Weise aus dem Prozeßverhalten des Angeklagten auf das Maß seiner Schuld geschlossen, wenn sie etwa "freches Leugnen"53 als Umstand wertete, der Rückschlüsse auf die persönliche Schuld des Angeklagten zulassen sollte. "Fehlende Unrechtseinsicht und Reue" kann nach Ansicht der Rechtsprechung dann zu Lasten des Angeklagten zu Buche schlagen, wenn dieses Verhalten nach Art der Tat und Persönlichkeit des Täters auf "Rechtsfeindschaft, Geflihrlichkeit und die Gefahr künftiger Rechtsbrüche schließen läßt"54. Während Geflihrlichkeit und die Gefahr künftiger Rechtsbrüche unproblematisch als präventive Aspekte eingeordnet werden können und damit zur Konkretisierung des Schuldbegriffs nichts beizutragen vermögen, ist die rechtsfeindliche Gesinnung55 als schulderhöhender Umstand zu verstehen. Dem entspricht es, wenn umgekehrt ein Geständnis als Ausdruck der Reue und der Rückkehr des Täters zur Normtreue gewertet wird56 . Sind Rechtsfeindlichkeit auf der einen und Rechtstreue auf der anderen Seite (tat-) schuldrelevante Umstände? Oder sind sie vielmehr Faktoren der hiervon zu unterscheidenden57 Präventionszwecke58, welche allenfalls ein Ab-
dernden Täterverhalten, 1979, S. 666 ff. Siehe auch Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 575 ff. 52 Schäfer, Praxis der Strafzumessung, 2. Aufl. 1995, Rn. 296. In der Konsequenz bedeutet dies allerdings, daß dann die Strafe vor allem die rechtsbrecherische Gesinnung des Täters ahnden soll, denn nur diese wird durch ein Geständnis in irgendeiner Weise rückgängig gemacht. Die Tat selbst ist geschehen und wird durch ein Geständnis allein nicht beseitigt oder in ihren Auswirkungen gemildert. Das ist allenfalls dann der Fall, wenn der Täter aktive Wiedergutmachung leistet (soweit dies möglich ist). 53 BGHSt 1, 105 ff. (106). 54 BGH NStZ 1983,453; BGHSt 32, 165 ff. (182). Vgl. m.w.N. Bottke, Strafrechtswissenschaftliche Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden und strafmildernden Täterverhalten, 1979, S. 669. 55 Vgl. Gribbohm, in: LKiStGB, 11. Aufl. 1995, § 46 Rn. 186. 56 So auch Bottke, Strafrechtswissenschaftliche Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden und strafmildernden Täterverhalten, 1979, S. 686. 57 Die Frage, ob der Strafzweck der positiven Generalprävention und strafzumessungsrelevante Schuld trennbare Begriffe sind oder, wie Jakobs meint, die Schuld sich nur general präventiv erklären läßt, sei hier noch nicht näher untersucht (vgl. aber unten, S. 58). Es soll hier nur ein Schlaglicht darauf geworfen werden, daß der Schuldbegriff in der Praxis äußerst schillernd und interpretationsflihig zu sein scheint. 58 Bottke, Strafrechtswissenschaftliche Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden und strafmildernden Täterverhalten, 1979, S. 686, tritt rur eine strafmildernde Berücksichtigung des Geständnisses dann ein, wenn in dem Verhalten des Angeklagten eine spezialpräventiv bedeutsame "Umkehr zur Legalität" zu sehen ist. Dagegen meint Frisch, Gegenwärtiger Stand und Zukunftsperspektiven d.~r Strafzumessungsdogmatik, in: ZStW 99 (1987), S. 349 ff., 751 ff. (781 f.), in der Ubernahme der Verantwortung rur die Tat eine Reduzierung des "Geltungsschadens" der Norm zu er-
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weichen der Strafe nach oben oder unten innerhalb eines bestehenden Schuldrahmens erlauben? Oder ist es nicht vielleicht in Wahrheit doch so, daß allein die Prozeßökonomie, welche durch ein Geständnis - sei es vor, sei es in der Hauptverhandlung - gefbrdert wird, die Praxis zur Belohnung des Geständnisses motiviert und damit materielle Gesichtspunkte in den Hintergrund treten läßt, obwohl allgemein davon ausgegangen wird, daß den Angeklagten keine Prozeßfbrderungspflicht triffi:59? Dieser kleine Ausflug in zwei Aspekte der StrafzumessungsbegrUndung zeigt, daß der Schuldbegriff gerade aufgrund seiner Unschärfe dazu verleitet, alle möglichen Strafschärfungs- oder auch StrafmilderungsgrUnde in ihn hineinzuinterpretieren, obwohl ihre Einordnung als präventive oder gar prozeßökonomische Faktoren überzeugender wäre. Die Suche nach Kriterien fiIr eine intersubjektiv nachprüfbare und vorhersehbare Strafzumessungsentscheidung wird, soviel deutet sich jetzt schon an, auf eine Einengung des Begriffs der strafzumessungsrelevanten Schuld und auf eine Trennung von den sonst fiIr die Strafzumessung als bedeutsam angesehenen Faktoren hinauslaufen.
kennen, wodurch gleichzeitig das positiv-generalpräventive Bedürfnis rur eine strafrechtliche Reaktion sinke. Dencker, Zum Geständnis im Straf- und Strafprozeßrecht, in: ZStW 102 (1990), S. 51 ff. (63 ff.), diskutiert auf der Suche nach einem materiell-rechtlichen Grund rur Strafmilderung die Unterwerfung des geständigen Angeklagten unter die Norm und damit ihre Anerkennung als Minderung der Sanktionsbedürftigkeit. Er kommt jedoch mit beachtlichen Argumenten zu dem Schluß, daß dieser Grund nicht tragfllhig ist, weil auch der nicht geständige Angeklagte wenigstens implizit ebenfalls die Geltung der Norm anerkennt (sonst könnte er sich ja offen zu seinem Verhalten bekennen, weil die Norm nicht gelte oder bestehe). Und ist es nicht so, daß gerade derjenige Angeklagte, der sich seiner Tat vor Gericht brüstet oder sich wenigstens gleichgUltig gegenüber seinem Normbruch zeigt, noch viel eher ein Bedürfnis rur die Revalidierung der Norm schafft? Man sieht also, es kommt nicht auf die Tatsache eines Geständnisses an, sondern allenfalls darauf, ob der Täter wegen seiner Einsicht in das begangene Unrecht und seiner Entschlossenheit, künftig straffreien zu leben, weniger resozialisierungsbedürftig ist. Nur wenn solche "echte Reue" von bloßer Prozeßtaktik zu unterscheiden ist, kann ein Geständnis im Rahmen der Strafzumessung Berücksichtigung finden. Dies allerdings nur, soweit die Resozialisierungsbedürftigkeit auf das Maß oder die' Art der Deliktsreaktion Einfluß haben darf. 59 Vgl. nur Meyer-Goßner, in: KleinknechtlMeyer-Goßner, StPO, 43. Aufl. 1997, Einl. Rn. 29a. Man mag rechtsironisch anrugen, es bestehe zwar keine Prozeßllirderungspflicht des Angeklagten, wohl aber eine diesbezügliche Obliegenheit, deren Verletzung dazu ruhrt, daß er die Nachteile hieraus tragen muß. Nirgends wird dies deutlicher als in großen Wirtschaftsstrafverfahren, welche geradezu darauf angewiesen sind, daß alle "Parteien" kooperieren. Verweigert sich der Beschuldigte schon im Ermittlungsverfahren einer solchen Zusammenarbeit, so wird er zwar möglicherweise wegen einer geringeren Anzahl von Delikten angeklagt werden; seine unterbliebene Mithilfe bei der Autkllirung wird ihm aber mit großer Sicherheit als mangelnde Unrechtseinsicht vorgehalten und bei der Herstellung der Strafzumessungsentscheidung zu seinen Lasten verwertet werden.
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11. Strafzweckmäßigkeit als Eingriffsvoraussetzung
Die Frage nach dem richtigen Maßstab rur die Zumessung der Strafe kann nicht ohne Berücksichtigung des Strafzwecks60 beantwortet werden61 • Eine Bestrafung, die sich von ihrem Zweck löste, verlöre ihre Rechtfertigungsfllhigkeit in einer freiheitlich organisierten Gesellschaft, die ihren Mitgliedern nur dann Freiheitseingriffe zumutet, wenn diese geeignet, erforderlich und angemessen zur Erreichung eines verfassungsmäßig anerkannten Zwecks sind62 • Es kommt dabei nicht nur fiir das "ob", sondern auch filr das "wieviel" von Strafe an, welche Zwecke bei deren Festlegung zu berücksichtigen sind. Denn die Intensität des Eingriffs ist filr den Verurteilten mindestens ebenso entscheidend wie die Frage, ob überhaupt ein Eingriff vorgenommen wird. Verhältnismäßig im verfassungsrechtlichen Sinne kann nur eine Strafhöhe sein, die geeignet ist, den Strafzweck zu erreichen. Weiterhin muß sie erforderlich hierzu sein. Schließlich muß sie in Abwägung einerseits der Freiheitsinteressen des Angeklagten und andererseits der durch die Strafzwecke vorgegebenen Interessen des Staates auch im engeren Sinne verhältnismäßig sein. Dabei ist je nach der Strafart und auch der Strafhöhe ihre Empfindlichkeit filr den Verurteilten zu berücksichtigen
60 Die Frage nach dem Strafzweck ist nicht zu vermischen mit der Frage nach dem Ziel des Strafrechts als solchem (so werden etwa die Strafzwecke zuweilen auch als "Strafziele" bezeichnet, vgl. z.B. W Hasserner, Die Formalisierung der Strafzumessungsentscheidung, ZStW 90 (1978) S. 64 ff [84]). Der Zweck gibt die Begründung und Rechtfertigung für ein bestimmtes Handeln an. Das Ziel dagegen beschreibt einen anzustrebenden Zustand oder ein wünschenswertes Ergebnis einer Gesamtheit von Handlungen. Selbst wenn es nie erreicht wird, kann es die Marschrichtung vorgeben und als unerreichbares Ideal wenigstens die Annäherung, die Optimierung des Ist-Zustandes auf den Soll-Zustand hin aufgeben. Der Zweck dagegen muß durch das Handeln erreichbar sein und in der Regel auch erreicht werden (vgl. Bottke, Assoziationsprävention, 1995, S. 85 f.). Das Ziel des Strafrechtes liegt im Rechtsgüterschutz. Es ist dem Strafzweck übergeordnet. Ein Zweck, der dem ihm übergeordneten Ziel nicht dient, ist ziellos und ungeeignet, Grundrechtseingriffe zu rechtfertigen. Auch wenn es Zweifel geben mag, ob das Strafrecht überhaupt geeignet ist, das Ziel des Rechtsgüterschutzes zu befördern (vgl. abolitionistische Vorschläge wie von Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, 1974; Ostermeyer, Strafrecht und Psychoanalyse, 1972, insbes. S. 109 ff), so soll diese Grundsatzfrage hier ausgespart bleiben und von der Unverzichtbarkeit strafrechtlicher Normbruchsreaktion ausgegangen werden. 61 Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, weist nach, daß selbst eine Bestimmung der Schuld nicht ohne eine Antwort auf die Zweckfrage des Strafens zu beantworten ist. 62 Grundsätzlich zum Erfordernis der Verhältnismäßigkeit bei allen Freiheitseingriffen des Staates Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Autl 1995, Rn. 185 u. 317 ff.; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 4. Autl 1997, Art. 20 Rn. 56. Zur Verhältnismäßigkeit der Strafe E/lscheid/W. Hasserner, Strafe ohne Vorwurf, in: Civitas. Jahrbuch für Sozialwissenschaften, Bd. IX., 1970, S. 27 ff. (41 ff).
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und mit steigender Eingriffsintensität auch eine steigende Strafzweckbefriedigung zu verlangen. Es werden jedoch Zweifel an diesem Axiom angemeldet63 • Es sei notwendig zu unterscheiden zwischen der Rechtfertigung der Strafe als Institution und der Rechtfertigung einer bestimmten Strafe im Einzelfall. Deshalb könnte zwar etwa der Zweck des Strafens insgesamt ein präventiver sein; es sei aber im konkret zu entscheidenden Fall weder möglich noch notwendig, die Verhängung der jeweiligen Strafe von der Zweckerreichung abhängig zu machen bzw. sie danach zu bemessen. Während fiir die prinzipielle Frage, ob Strafe gerechtfertigt sei, ein Systemzweck maßgeblich sein könne, müsse die Frage, wer weIche Lasten unter dem Strafrechtssystem trage, nach einem (von dem Zweck verschiedenen) gerechten Verteilungsprinzip entschieden werden64 • Allerdings dürfte auch mit dieser Ansicht die Forderung vereinbar sein, daß das Verteilungsprinzip dem allgemeinen Zweck nicht zuwiderlaufen darf, etwas anderes wäre unsinnig. So bedeutet die Konkretisierung eines gerechten Verteilungsprinzips nichts anderes als die Suche nach einem Gerechtigkeitskriterium, das einerseits die Zweckerreichung fördert und andererseits die Kosten der Zweckverfolgung so verteilt, daß dem Anlaß fiir die Kostenproduktion Rechnung getragen wird6s • 63 So Fleteher, Rethinking Criminal Law, 1978, S. 418 f., in Anlehnung an H.L.A. Hart, Prolegomenon to the Principles of Punishment, in: H.L.A. Hart (Hrsg.), Punishment and Responsibility, 1968, S. I ff. 64 Fleteher, Rethinking Criminal Law, 1978, S. 418 f. 6S Fleteher, Rethinking Criminal Law, 1978, S. 419, führt hier eine Analogie aus dem Steuerrecht ein: Auch hier sei zu unterscheiden zwischen dem Zweck der Steuer als Institution und der Auferlegung bestimmter Lasten auf bestimmte Steuerzahler. Der Zweck der Institution sei die Beschaffung von Mitteln für den Staatshaushalt, die Rechtfertigung einzelner Steuerlasten, (in etwa) die gleichmäßige Verteilung von Steuern nach der Leistungsfllhigkeit der einzelnen. Es sei unzulässig, diese beiden Rechtfertigungsebenen zu vermischen und etwa bei der Entscheidung, ob eine Absetzung für karitative Ausgaben gewährt werde, die Leistungsfllhigkeit des Antragstellers entscheiden zu lassen. Das Beispiel ist nicht ganz treffend, weil es sich hier in beiden Fällen um die konkrete Verteilungsebene handelt, nämlich zunächst um die Auswahl derjenigen, die von einem Eingriff betroffen werden sollen, und dann um die Frage der Schwere des Eingriffs. Das Beispiel ist doppelt unglücklich, weil gerade die Frage der Gewährung von Steuerermäßigungen für bestimmte gesellschaftsnützliche Verhaltensweisen einen außerhalb des Steuersystems selbst liegenden Zweck verfolgt, der dem Zweck des Steuerrechts zuwiderläuft. Ein analoges Beispiel aus dem Strafrecht wäre eine (teilweise) Befreiung von strafrechtlicher Haftung, etwa weil der Normbruch zwar aus strafrechtlicher Sicht schädlich und normdestabilisierend gewirkt hat, der Gewinn aus der Tat aber tatplangemäß einer karitativen Einrichtung zugute kam. In beiden Fällen läuft die Gewährung der Ausnahme dem Zweck des Systems entgegen. Die Sache wird klarer, wenn auf den steuerrechtlichen Normalfall abgestellt wird: Der Bürger, der im Inland sich überwiegend aufhält, genießt die Leistungen des Staates. Diese Leistungen sind nur möglich, wenn dem Staat Gelder zur Verftlgung stehen. Das Verteilungs-
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Für das Verständnis dieser Zusammenhänge ist die Unterscheidung von Primämorm und Sekundämorm wichtig66 : Primärnorm wäre derjenige Rechtssatz, der ein Gebot oder Verbot aufstellt, das die Zielerreichung sicherstellen soll. Im Falle des Strafrechts also etwa eine Norm des Inhalts: "Du sollst nicht töten!". Sekundärnorm ist dann derjenige Rechtssatz, welcher mit dem Verstoß gegen die Primämorm eine bestimmte Rechtsfolge verknüpft. Er lautet dann zum Beispiel: "Wer einen anderen tötet, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter 5 Jahren bestraft." Wer also gegen die Primärnorm verstößt, erfiillt die Sekundärnorm. Welches Ereignis die Distribution von Lasten auslöst, bestimmt im Strafrecht eine Sekundärnorm, die von einem Primämormverstoß abhängt. Anders ausgedrückt: Die Auswahl derjenigen, denen Lasten auferlegt werden, richtet sich danach, ob sie flir ein bestimmtes, wahrnehmbares und wahrgenommenes Ereignis zuständig waren, welches eine Primämorm verletzt und eine Sekundärnorm erflillt hat. Welche Lasten und wieviel hiervon den Normbruchszuständigen auferlegt werden, hängt ebenfalls von der jeweiligen Sekundämorm ab. Weil die Qualität und Quantität der Lasten aber in direktem Zusammenhang mit der Primämorm stehen und sich wie abhängige Variablen nach ihr richten, sind sie notwendig proportional zum Wert des verletzten Interesses, welches von der Primärnorm geschützt wird67 • In herkömmlicher Diktion wird dieses komplexe
prinzip ist darum von seinem Grundsatz her einfach: Jeder, der Leistungen des Staates in Anspruch nimmt oder nehmen könnte, muß seinen Teil zum Steueraufkommen beitragen. Die Leistungsilihigkeit spielt aber nicht immer eine Rolle: Auch der unter dem Existenzminimum lebende Bürger muß beispielsweise Mehrwertsteuer zahlen, und zwar genau denselben Satz wie ein Millionär. Anders dagegen die Einkommensteuer, die auf die Leistungsilihigkeit der Steuerbürger Rücksicht nimmt und Ermäßigungen rur nicht leistungsilihige Bürger vorsieht, einkommenslose Personen sogar völlig von der Leistungspflicht ausnimmt. Durch die jeweilige Steuerart wird der steuerbare Vorgang definiert, der Anlaß rur die Steuererhebung ist. Die Auswahl der leistungspflichtigen Personen richtet sich demgemäß danach, wer einen solchen steuerbaren Vorgang auslöst. So ist es auch im Strafrecht: Die Definition des mit Kosten zu belastenden Vorgangs ist der Tatbestand, bei dessen Erfiillung die Kostentragungspflicht ausgelöst wird. Die Frage, welche Kontaktorganisationen inkriminiert werden oder welche Vorgänge besteuert werden, richtet sich nach dem Ziel (das dem Zweck übergeordnete Ziel im Steuerrecht wäre die Erhaltung der Leistungsilihigkeit des Staates, im Strafrecht ist es die Erhaltung von essentiellen Rechtsgütern). Die Festlegung der einzelnen Ziele, ihrer Wertigkeit und der zu ihrer Erreichung eingesetzten Mittel ist eine politische, in demokratisch verfaßten Gesellschaften der Volksvertretung obliegende Aufgabe. Dabei wird bestimmt, welche Ereignisse, insbesondere welche Kontaktorganisationen die Auferlegung einer Last auslösen soll. 66 Vgl. hierzu H.L.A. Hart, Prolegomenon to the Principles of Punishment, in: HLA. Hart (Hrsg.), Punishment and Responsibility, 1968, S. 1 ff. (7). 67 Weil die Logik bei Proportionalität auch den Schluß von dem Gewicht der verhängten Sanktion auf den Wert des durch die Tat beeinträchtigten Interesses zuläßt, das Strafmaß also Indikator rur den vom Normgeber dem Rechtsgut beigemessenen Wert ist, kann dieses Prinzip ebenso rur die Erstellung von Sekundärnormen wegweisend sein.
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Wertungsergebnis als Schuldmaß bezeichnet. Nach diesem Schuldmaß richtet sich dann die Art und die Höhe der Strafe. Es stellt so gesehen ein Verteilungsprinzip dar, welches mit dem Zweck der Strafe als Institution jedoch harmonisieren muß, widrigenfalls es ein zweckschädliches und damit den Eingriff nicht rechtfertigendes Prinzip wäre. Auch diese Art der Bestimmung der Strafhöhe geht in einem Abwägungsvorgang auf, der letztlich intersubjektiver Überprüfung nicht zugänglich ist. Darin unterscheidet sich dieser Ansatz zunächst nicht von der herkömmlichen Bestimmung des Strafinaßes. Denn auch wenn der Richter das Maß der Schuld und hieraus das Strafinaß zu bestimmen versucht, wägt er schulderhöhende gegen schuldreduzierende Gesichtspunkte ab und überträgt in einem - insoweit allerdings nicht mehr intersubjektiv nachvollziehbaren - Prozeß die aus der Gesamtschau der schuldrelevanten Gesichtspunkte gewonnene Schuldhöhe in ein konkret ausgesprochenes Strafinaß. Anders als bei der Bestimmung einer abstrakten Schuldhöhe aber werden durch die Analyse der entscheidungsrelevanten Strafzwecke und der Eingriffswirkungen beim Verurteilten wenigstens konkrete, miteinander im Widerstreit stehende Interessen angegeben und die mit der Festsetzung des Strafinaßes verbundene Abwägung offengelegt. Dieser Vorgang ist damit zumindest tendenziell besser geeignet als die im Dunklen verlaufende Schuldmaßfeststellung, den Zusammenhang zwischen den strafzumessungsrelevanten Tatsachen einerseits und der konkret erreichten Eingriffsintensität andererseits nachvollziehbar und nachprüfbar zu machen. Es bedarf aber weiter der Antwort auf die Frage, welche Strafzwecke nun zu berücksichtigen sind und ob sie eine begründende und/oder limitierende Funktion hinsichtlich der Strafhöhe haben. III. Verhältnis zwischen Schuld begriff und Strafzwecken
Die Frage, die sich anschließt, betrifft die Kompatibilität der Strafzweckorientierung der Strafhöhe mit dem gesetzlich aufgestellten Erfordernis ihrer Ausrichtung am Maß der Schuld. Ein Strafzweck, der eine von der strafzumessungsrelevanten Schuld losgelöste Strafinaßbestimmung ermöglichte, widerspräche geltendem Recht. Eine Schuldorientierung, die zu einer nicht mehr durch verfassungsrechtlich anerkannte Strafzwecke gerechtfertigten Strafhöhe filhrte, wäre verfassungswidrig. Aber auch die völlige inhaltliche Gleichsetzung von Schuld und Strafzweck, also ein Modell, das in der Schuldvergeltung den einzigen Strafzweck sieht, muß erklären können, weshalb dann der Gesetzgeber die Schuld nur zur 'Grundlage' der Strafzumessung gemacht hat und offensichtlich andere, präventive Umstände, ebenfalls als ft1r die Strafzumessungsentscheidung bedeutsam angesehen hat.
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Traditionell finden verschiedene Strafzwecke Anerkennung im deutschen und ausländischen68 Strafrecht. Zu nennen wäre hier als erstes die Repression69 oder Retribution, welche einerseits dem Sühnegedanken Rechnung trägt und somit die Katharsis des Normbrechers verfolgt und/oder andererseits den Unrechtsausgleich durch Vergeltung der Tat, ein (metaphysisches?) Element der Befriedigung von Strafbedürfnissen der Opfer und der Gesellschaft70 als allgemein durch den Normbruch Geschädigte in sich tragen kann. Defmiert man Strafzumessungsschuld als Maß des Handlungs- und Erfolgsunwertes des vorwerfbaren Verhaltens, so ist die klassische Retribution geradezu das Spiegelbild der Vorwerfbarkeit des zu beurteilenden Verhaltens. Die 'innere Reinigung' des Täters ist danach in dem Maße erforderlich, in dem er sich durch das strafbare Verhalten 'befleckt' hat. Das deliktischeVerhalten läßt auch das Vergeltungsbedürfnis entstehen. Kann dem Täter der Vorwurf nicht gemacht werden, er hätte sich anders verhalten müssen und können, etwa weil er geisteskrank ist oder sein Entwicklungsstand dies aus anderen Gründen noch nicht zuläßt, entsteht schon gar kein Sühnebedümis ihm gegenüber71 • Die Tatschuldvergeltung als 'Strafzweck' zu bezeichnen, mag auf den ersten Blick nicht zu der Etikettierung solcher Lehren als 'absolute' Straftheorien passen. Kant, der immer wieder als einer der Hauptvertreter absoluter Straftheorie genannt wird72 , soll die Strafe um der Gerechtigkeit willen gefordert und sich einer außerhalb des Täters selbst oder der Gerechtigkeit liegenden Zwecksetzung des Strafens verschlossen haben 73 • Auch in neuerer Zeit hat die Tatschuldvergeltung - vielleicht auch ein 68 Vgl. für den anglo-amerikanischen Rechtskreis die zusammenfassende Übersicht bei Fleteher, Rethinking Criminal Law, 1978, S. 414 ff. 69 Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 199 ff. 70 Ostermeyer sieht in seinem psychoanalytischen Ansatz das Strafrecht primär als Vehikel der Projektion verdrängter oder sonst unbewußter Schuldgeruhle der "strafenden Gesellschaft" auf den Kriminellen, den mythologischen Sündenbock. Er schließt dabei von dem Projektionsmechanismus des einzelnen "Ichs" auf einen solchen des "Kollektiv-Ichs". Psychologisch gesehen diene die Bestrafung Krimineller daher der "Unterstützung des individuellen sozialen Ich im Kampf gegen persönlichkeitseigene asoziale Triebe", der Ausübung direkter Aggression zur Befriedigung von Rachebedürfnissen, der Bestätigung der Zusammengehörigkeit der "sozialen" Gesellschaftsmitglieder durch Ausgliederung der "asozialen" sowie der "Entlastung von eigenen Schuldgeruhlen" und Aggressionsableitung durch Schuldprojektion, Ostermeyer, Strafrecht und Psychoanalyse, 1972, S. 32 ff. 71 Wohl aber evt. gegenüber denjenigen, denen sein Verhalten etwa kraft Überwachungsgarantenstellung oder wegen ihrer Benutzung des Schuldunfllhigen als Werkzeug zugerechnet wird. 72 Vgl. die Nachweise bei Byrd, Kant's Theory ofPunishment, in: Law and Philosophy 8 (1989), S. 151 ff. (152). 73 Diese Kant immer wieder untergeschobene Aussage ist allerdings so wohl nicht zutreffend. Sie basiert hauptsächlich auf einem Zitat aus der Metaphysik der Sitten: "Selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflösete
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Teil I: Strafzumessungsrecht in Deutschland de lege lata
Stück weit wegen der Erfolglosigkeit spezialpräventiver Ansätze - wieder Verfechter gefunden 74 • Die Lehre von der Tatschuldvergeltung geht von einem freien, selbstbestimmten Menschen aus und stellt dessen Würde in ihr Zentrum. Sie sieht in der Präventionsstrafe eine Instrumentalisierung des Bestraften zu einem utilitaristisch begründeten Fremdzweck. Sie kritisiert dies vor allem deshalb, weil sie darin die Verletzung der Subjektsstellung des Täters als freies GeseIlschaftsmitglied erblicke5 • Kants Vorstellungen von der gleichen Freiheit der Menschen und von der in der Reziprozität der Freiheitsansprüche wurzelnden gleichgewichtszerstörenden Wirkung eines Normbruchs 76 , fUhren zur Strafe allein um der "Wiederherstellung des Rechtsgleichheitsverhältnisses"77 willen. Insofern ist also Strafe durchaus nicht 'losgelöst' von jeder Zweckhaftigkeit. Der Zweck ist aber dem Selbstverständnis dieser Lehre nach eine allein aus der Vernunft abgeleitete Gerechtigkeitsbedingung. Es findet sich im Chor der Straftheorien sodann die Stimme der Spezialprävention78 , die jedoch ganz unterschiedliche Zielrichtungen unter einem Begriff vereint: Die Gesellschaft wird durch die Inhaftierung des Straftäters vor diesem geschützt (Sicherungsspezialprävention). Es wird sichergestellt, daß dieser Täter, zumindest fiir die Dauer eines Freiheitsentzuges, eventuell auch während
(z.B. das eine Insel bewohnende Vorlk beschlösse auseinander zu gehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im im Geflingniß befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Thaten werth sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat; weil es als Theilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann.", (Kant, Die Metaphysik der Sitten, 333, zit. nach Preußische Akademie der Wissenschaften [Hrsg.], Kant's gesammelte Schriften). Es läßt sich vielmehr nachweisen, daß er einen Unterschied zwischen der (zweckhaften) Androhung von Strafe und der (nur der Gerechtigkeit dienenden und daher durch sie begrenzte) Verhängung von Strafe im Einzelfall sieht. Vgl. hierzu ausfilhrlich Byrd, Kant's Theory of Punishment, in: Lawand Philosophy 8 (1989), S. 151 ff., insbes. S. 184 f. 74 M Köhler, Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung, 1983; H. Morris, Persons and Punishment, in: Morris (Hrsg.), On Guilt and Innocence, 1976, S. 31 ff. (mit besonderer Betonung des "Rechts auf Strafe"); Woljf, Das neuere Verständnis von Generalprävention, in: ZStW 97 (1985), S. 786 ff. Aus früherer Zeit vgl. A. Köhler, Der Vergeltungsgedanke und seine praktische Bedeutung, 1909. Zum Talionsprinzip vgl. Ebert, Talion und Vergeltung im Strafrecht, in: JunglMüllerDietzlNeumann, Recht und Moral, Band 1, 1991, S. 249 ff. 75 M Köhler, Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung, 1983, S. 30. 76 Kant, Metaphysik der Sitten, 332. Vgl. hierzu auch Kershnar, Kant on Freedom and the Appropriate Punishment, in: Jahrbuch rur Recht und Ethik 3 (1995), S. 309 ff. (317 ff.). 77 M Köhler, Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung, 1983, S. 39. 78 Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Auf}. 1974, S. 203 ff.
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der Dauer einer Bewährungszeit (wenngleich nicht ebenso effektiv), weitere NormbTÜche und Rechtsgutsverletzungen unterläßt. Auf die Besserung des straffällig gewordenen Individuums zielt der zweite Aspekt der Spezialprävention, die Resozialisierung, welcher die Wiedereingliederung des Straftäters in den Vordergrund stellt, der durch sein deviantes Verhalten die Normen der Gesellschaft sichtbar gebrochen und damit seine 'entsozialisierte' Stellung unter Beweis gestellt hat. Er soll umerzogen, 'behandelt' werden, damit er wieder reintegriert werden kann. Abgesehen davon, daß schon der Ansatz, die inneren Einstellungen und den Selbstentwurf eines Menschen in Mißachtung seiner Autonomie von staatlicher Seite her zu diktieren, ihn dem staatlichen 'Ideal' eines 'guten Bürgers' anzunähern, fragwürdig erscheint, hat die Resozialisierungsidee wegen ihrer mangelnden Realisierbarkeit Schiffbruch erlitten79 • Schließlich kann Spezialprävention auch die Abschreckung des individuellen Normbrechers bedeuten. Das Erleiden von Strafe und sonstiger Kosten, die dem Täter auferlegt werden 80 , soll ihm vor Augen filhren, daß das Verbrechen sich nicht lohne und mit unangenehmen Folgen verbunden ist. Dadurch soll er von künftigen Straftaten abgehalten werden. Auch d~m Gedanken der Abschreckung verbunden ist die negative Genera/prävention, welche jedoch durch die Verhängung der Strafe nicht den Täter, sondern vielmehr die Gesamtheit potentieller künftiger Täter von der Begehung weiterer Straftaten abschrecken will. Diese Theorie geht auf Feuerbachs Lehre vom "psychologischen Zwang" ZUTÜck81 • Die Kommunikation der negativen Folgen, die dem Normbrecher drohen, soll Motivation filr die Normeinhaltung bieten. Dabei reicht die bloße Androhung der Strafen nicht aus. Erst ihre hinreichend häufige und erwartbare Verhängung und Durchsetzung kann ein ernstzunehmender Faktor in einer - sei es auch unbewußt ablaufenden - Folgenabwägung vor dem Entschluß zu einer bestimmten Handlung sein. Feuerbach selbst war allerdings Kantianer und wollte seine Theorie keineswegs in einem den Täter instrumentalisierenden Sinne verstanden wissen82 • Insofern hat sich die negative Generalprävention, nicht zuletzt in ihrer Interpretation und Anwendung durch die Rechtsprechung, von ihren ursprünglichen Prämissen gelöst. Neben empirischer Widerlegung der These, man könne durch schärfere Strafen potentielle Straftäter von der Begehung weiterer Strafen abschrecken83 , wird auf 79 Das Stichwort des "nothing works" ist schon zur Platitüde geworden, vgl. hierzu auch unten S. 139 f. 80 V gl. zum Begriff der Kostenproduktion im System der strafrechtlichen Deliktsreaktionen Bottke, Assoziationsprävention, 1995, S 15 ff. 81 P. J. A. Feuerbach/Mittermaier, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden peinlichen Rechts, 14. Aufl. 1847, § 16. 82 Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991,1 . Abschn. Rn. 27 f. 83 V gl. hierzu Kürzinger, Kriminologie, 2. Aufl. 1996, Rn. 495 ff.
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ein strukturelles Defizit der negativen Generalprävention hingewiesen84 : Will· man auf die Motivation eines potentiellen Täters dergestalt einwirken, daß man ihm filr den Fall der Verurteilung höhere Kosten androht als er durch den Normbruch an Vorteilen gewinnen könnte, so ist nur bei Rechtsgütern wirtschaftlich quantifizierbarer Art ein gemeinsamer Vergleichsmaßstab rur verschiedene Fälle denkbar. Begeht der Täter dagegen beispielsweise einen Meineid, um seine berufliche Karriere zu sichern, so wäre eine besonders hohe Strafe erforderlich, um ihn hiervon wirksam abzuschrecken. Begeht er den Meineid dagegen, um einen geringen Geldbetrag von dem Begünstigten zu erhalten, wäre nur eine diesen Geldbetrag empfindlich überschreitende, dennoch vergleichsweise harmlose Strafe erforderlich85 • Folgendes Beispiel ist noch krasser: Der Raubmord um einiger hundert Mark Beute willen mag - hundertprozentige Aufdeckungschancen vorausgesetzt - bereits durch Androhung einer die Beute um das zehnfache (oder meinetwegen auch um das hundertfache) übersteigenden Geldstrafe effektiv verhindert werden. Interessant wäre die Konsequenz filr die Abfassung von Tatbeständen: Diese müßten sich jeweils nach dem Vorteil des Täters (eventuell zusätzlich noch nach der Verurteilungswahrscheinlichkeit) richten, nicht dagegen nach dem verletzten Rechtsgut86 • Daraus wird deutlich, daß die negative Generalprävention jedenfalls nicht den beherrschenden Grundsatz des deutschen Strafrechts darstellen kann. Im Gegensatz hierzu stellt die positive Genera/prävention nicht den Abschreckungseffekt, sondern die Normbekräftigung in den Vordergrund. Dieser Strafzweck wird auch zum Teil als Integrationsprävention bezeichnet87 , weil durch die Steigerung der Normenverbindlichkeit auch ein die so in ihrem Normvertrauen bestärkten Mitglieder der Gesellschaft integrierendes Moment Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 1. Abschn. Rn. 29 ff. Man könnte hier einwenden, daß die Effektivität der Abschreckung durch eine den Wert des durch die Tat Erlangten weit übersteigende Sanktion nicht beeinträchtigt werde. Dann aber verläßt man den Boden der verfassungsrechtlich abgesicherten Forderung nach der Verhältnismäßigkeit zwischen der Schwere des strafenden Freiheitseingriffs und dem Wert des geschützten Interesses. Läßt man diesen Einwand nicht gelten, so kennt die negative Generalprävention gar keine Begrenzung der Strafintensität nach oben, eine Folge, welche die Eignung des Strafzwecks als Instrument zur Bestimmung eines konkreten Strafinaßes noch fragwürdiger erscheinen läßt. 86 Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 1. Abschn. Rn. 30. 87 Roxin, Zur jüngsten Diskussion über Schuld, Prävention und Verantwortlichkeit im Strafrecht, in: Festschrift filr Bockelmann, 1979, S. 279 ff. (306); ders., Strafrecht AT, 3. Aufl. 1997, § 3 Rn. 27; Müller-Dietz, Integrationsprävention und Strafrecht, in: Festschrift filr Jescheck, Bd. 2, 1985, S. 813; Moos, Positive Generalprävention und Vergeltung, in: Festschrift fllr Pallin, 1989, S. 283 ff. (300 ff.); Zipf, Die Integrationsprävention (positive Generalprävention), in: Festschrift ftlr Pallin, 1989, S. 479 ff.; Mir Puig, Die begründende und die begrenzende Funktion der positiven Generalprävention, in: ZStW 102 (1990), 914 ff. (925). 84
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geschaffen werde. Die Gesellschaft kommuniziere durch kontrafaktische Deliktsreaktion 88 all ihren Mitgliedern die Geltung der Normen gegen den Normbruch89 • Normbruch bedeute die Enttäuschung erwarteter Normtreue. Legt man ein gesellschaftsvertragliches Modell zugrunde, wie dies die Theorie der Assoziationsprävention90 in Weiterentwicklung der Integrationsprävention und Abkehr von einem 'integristischen' zu einem 'freien' Modell der Gesellschaft tut, so erwarten die Mitglieder eines solchen Zusammenschlusses zunächst gleichberechtigter Partner, daß sich die einzelnen "Vertragsparteien" auch "vertragstreu" verhalten 91 • Hegten sie diese Erwartung nicht, wäre auch ein Zusammen schluß nicht sinnvoll, denn nur die Präsumtion der Vertragstreue der Vertragspartner gibt dem Vertrag seine Normwirkung. Anders ausgedrückt: Die von einem Vertrag ausgehende Bindung werde ich nur ft1r mich selbst akzeptieren, wenn ich grundsätzlich mit der Bindung der anderen Vertragsschließenden rechne. Ständiger Normbruch aber schädigt das Ansehen der Norm, wenn die Gesellschaft ihn hinnimmt. Eine Norm verliert ihren Verbindlichkeitscharakter, wenn ihre Übertretung keine revalidierende Reaktion nach sich zieht. Denn die Norm nährt sich allein von der Bedeutung, die ihr eine Gesellschaft zumißt. Norm ist vom Souverän einer Gesellschaft erwartetes und gegen Enttäuschung bewehrtes Verhalten. In einer Demokratie ist Norm die vom Volk getragene und von seinen Beauftragten durchgesetzte Erwartung, die einzelnen Individuen würden sich auf bestimmte Art und Weise verhalten. Fehlt das Element der Sanktionierung und Bewehrung der Verhahenserwartung, so verliert sie ihren vorschreibenden Charakter. Sie wird zur bloßen Empfehlung. Lediglich verbale Aufrechterhaltung einer Sanktionierungsdrohung ohne deren tatsächliche Durchsetzung kann bei Kommunikation des Mangels der Effektuierung92 keine 88 V gl. Battke, Assoziationsprävention, 1995, S. 66 f.; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 1. Abschn. Rn. 11. 89 Vgl. auch W. Hassemer, Warum und zu welchem Ende strafen wir?, in: ZRP 1997, S. 316 ff. (318 f.). 90 Die Theorie der Assoziationsprävention als nicht nur das materielle, sondern auch das fonnelle Strafrecht in systembildender Weise erfassende Straftheorie wurde von Battke, Assoziationsprävention, 1995, entwickelt. Sie begreift sich einerseits als Fortentwicklung und Prazisierung der Theorien der Integrationsprävention und der positiven Generalprävention Jakobs' unter Heranziehung des Rawlschen Modells des Gesellschaftsvertrags. Andererseits verwendet Battke wie schon vor ihm Jakobs Elemente von Luhmanns Systemtheorie, um die Wechselwirkungen innerhalb des Strafrechtssystems zu erklären und Folgerungen hieraus abzuleiten. 91 Battke, Assoziationsprllvention, 1995, S. 178. 92 Interessant wäre es zu untersuchen, ob durch die bloße Vorspiegelung der Sanktionierung eines in Wirklichkeit nicht mit negativen Deliktsreaktionen belegten Ge- oder Verbotes ebenfalls signifikant häufige Nonnbeachtung zu erzielen ist. Damit wäre belegbar (oder auch falsifizierbar), daß die Bewehrung einer Nonn fnr ihre Effektuierung bedeutsam ist.
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andere Folge haben als den Wegfall des konstituierenden Elementes der Sanktionierung und Bewehrung. Die Theorie der Assoziationsprävention sieht die Aufgabe des Staates in der Sicherung der gleichen Freiheiten aller Gesellschaftsmitglieder, die sie als der Gesellschaft und ihren Subsystemen übergeordnete "rechtsursprUngliche Entitäten" begreift93 . Der Staat hat daher diese Freiheiten sowie die essentiellen Funktionsbedingungen der Gesellschaft und die zur Freiheitsausübung notwendigen Subsysteme zu schützen94 • Als Subsysteme sind unter anderem von GeseIlschaftsmitgliedern errichtete Institutionen und Zusammenschlüsse bezeichnet, insbesonder,e solche mit rechtlich anerkannter Persönlichkeit (also juristische Personen). Auch ein Marktsystem, das es den einzelnen ermöglicht, Güter auszutauschen, um hierdurch Gebrauch von ihren Freiheiten und Dispositionshoheiten zu machen, ist ein solches Subsystem der Gesellschaft. Sofern es zur Sicherung der Freiheiten seiner Mitglieder und zum Erhalt der essentiellen95 Funktionsbedingungen und der Subsysteme der Gesellschaft notwendig ist, das Kriminalrecht einzusetzen, werden die (imaginären) Vertragsschließenden des Gesellschaftsvertrages auch dies vorsehen, um das Ziel des Zusammenschlusses nicht zu geflihrden 96. Weil kriminalrechtliche Reaktion auf NormbrUche aber auch immer - schon durch die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens - einen Rechtseingriff und ftI.r die hiervon Betroffenen dissoziierende Wirkungen zeitigt97, werden die Vertragsschließenden "unter dem Schleier des Nichtwissens von eigener Betroffenheit"98 vernünftigerweise danach streben, nur ein solches Maß an Rechtseingriffen zuzulassen, das geeignet, gerade noch notwendig zur Erreichung des assoziationspräventiven Zwecks und vertragswertkonform (i.e.: verhältnismäßig im engeren Sinne) ist99 • Sind diese Strafzwecke mit der Schuldorientierung staatlichen Strafens, die das Bundesverfassungsgericht zu den verfassungsrechtlichen Grundsätzen zählt lOO , kompatibel?
Bottke, Standortvorteil Wirtschaftskriminalrecht, in: wistra 1997, S. 241 ff. (244). Bottke, Assoziationsprävention, 1995, S. 179. 95 Welche konkreten Funktionsbedingungen in diesem Sinne 'essentiell' sind, ist nur empirisch, nicht aber allein theoretisch ableitbar, vgl. Bottke, Standortvorteil Wirtschaftskriminalrecht, in: wistra 1997, S. 241 ff. (244). 96 Bottke, Assoziationsprävention, 1995, S. 179 f. 97 Bottke, Assoziationsprävention, 1995, S. 181 ff. 98 Siehe zu dieser von Rawls entwickelten und von Bottke rur die Herleitung der Grundprinzipien assoziationspräventiven Strafrechts nutzbar gemachten Figur Bottke, Assoziationsprävention, 1995, S. 175 ff. 99 Bottke, Assoziationsprävention, 1995, S. 180. 100 Siehe oben S. 32 und Fn. 5. 93
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Soweit die Spezialprävention darauf abzielt, den Verurteilten intra muros zu halten und so die anderen Mitglieder der Gesellschaft vor ihm zu schützen, ist das Maß der Schuld lediglich im Rahmen der vermuteten Gefährlichkeit relevant: Hat der Täter besonders großes Unrecht angerichtet, steigt die Dringlichkeit des Bedürfuisses, weiteres von ihm möglicherweise in Zukunft zu begehendes Unrecht vergleichbarer Größe durch seine Inhaftierung zu verhindern. Die Dauer der Einwirkung ist damit weitgehend unabhängig vom Maß der Schuld. Solange der Täter aus der Gesellschaft herausgenommen wird, begeht er außerhalb der Mauem seines Gefiingnisses mit großer Sicherheit keine ähnlichen Rechtsgutsverletzungen. Aus dieser Sichtweise böte der lebenslängliche Freiheitsentzug oder gar die Todesstrafe die sicherste Verhinderung künftiger Straftaten. Beim Resozialisierungszweck steht dagegen die Wiedereingliederung des Täters im Vordergrund. Eine Schuldmaßbeziehung besteht allenfalls darin, daß der Grad der Schuld indikatorisch ist filr das Maß der Entfernung des Täters von den gesellschaftlichen Normen, von dem Grad seiner Devianz also. Wie lange es dauert, welche Maßnahmen angezeigt sind, um den aus der gesellschaftlichen Ordnung Ausgebrochenen wieder zurückzufilhren, ist abhängig von individuell völlig verschiedenen Faktoren, wie etwa der Persönlichkeit und Kooperationsbereitschaft des Delinquenten, der Qualität der auf ihn angewandten Resozialisierungsmaßnahmen und dem Vorhandensein von familiären und beruflichen Strukturen, die ihm die Rückkehr zu normgemäßem Verhalten erleichtern. Diesem Strafzweck wären am angemessensten Strafen unbestimmter Länge, die je nach Besserungsfortschritten des zu Resozialisierenden beendet werden könnten oder andauern müßten lol • Soweit es der Spezialprävention um die Abschreckung des konkret straffiillig gewordenen Mitbürgers vor weiteren Straftaten geht, dürfte der Eindruck von der Höhe der zu erwartenden Kosten filr einen etwaigen Normbruch mit der Dauer einer Freiheitsentziehung oder der Höhe der Geldstrafe steigen. Eine gewisse Beziehung zwischen der Schwere der verhängten Strafe und der Schwere der Schuld müßte schon deswegen bestehen, um nicht den ohnehin Tatgeneigten zur Gewinnmaximierung bei gleichbleibendem Risiko zu verleiten. Wie bereits oben 102 filr die negative Generalprävention aufgezeigt, besteht ein proportionales Verhältnis zwischen Unrecht und notwendiger Abschreckungsintensität aber allenfalls bei Delikten mit wirtschaftlich quantifizierbarem Rechtsgut l03 • So 101 Weil der Resozialisierungsgedanke in den USA seit den siebziger Jahren bis zum Wiedererwachen des ,just deserts" maßgeblich war, wurden dort konsequenter Weise auch zu einem Großteil Strafen unbestimmter Dauer ausgeworfen, vgl. unten S. 138. 102 Vgl. oben S. 52. 103 Nicht nur die Tatsache verschieden empfundener ,,zeitlange", sondern auch die verschiedene "Strafempfindlichkeit" geben Anlaß, an einer solchen Proportionalität je-
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hängt es etwa von der jeweiligen Täter-Opfer-Beziehung oder den Beweggründen des Täters fiir seine Tat ab, ob überhaupt eine mehr oder weniger große Gefahr fiir eine erneute Tatbegehung besteht. Demgemäß wäre etwa der "Schwiegermuttermörder" aufgrund der Einmaligkeit der zur Tötung filhrenden Beziehung unter Umständen geringer abschreckungsbedürftig als der gewohnheitsmäßige Dieb, der seinen Lebensunterhalt durch mehr oder minder regelmäßige Diebestouren sichert lO4 • Die Frage der Abschreckungsbedürftigkeit des einzelnen Straftäters im Sinne der Spezialprävention ist mithin nicht direkt, sondern nur indiziell an die Schwere der Schuld gekoppelt. Die negative Genera/prävention instrumentalisiert den Verurteilten und statuiert an ihm ein Exempel. Je schlimmer die ihm auferlegte Strafe, desto größer - so jedenfalls die TheorielOs - die abschreckende Wirkung derselben. Auch die Höhe der Entdeckungs- und Verfolgungswahrscheinlichkeit spielt eine Rolle in der abschreckenden Wirkung der Bestrafung. Hingegen ist das Maß der Schuld des Täters hier irrelevant. Im Gegenteil: Würde fiir einen Parkverstoß die Todesstrafe angedroht oder ftlr das Wegwerfen eines Kaugummis eine hohe Geldstrafe in Aussicht gestellt, erhöhte sich sicherlich die abschreckende Wirkung, weil die Vorteile der Tat völlig außer Verhältnis zu den möglichen Folgen stünden und daher eine signifikant große Anzahl von potentiellen Normbrechern erhöhte Vermeidungsaktivität entfalten ließe. Auf die strukturellen Defizite des Abschreckungsgedankens sei verwiesen lO6 • Weil positive Genera/prävention wie auch Assoziationsprävention Normstabilisierung durch kontrafaktische Deliktsreaktion zu erreichen suchen, kommt dem Maß der strafzumessungsrelevanten Schuld in diesen Strafzwecktheorien Bedeutung zu. Einerseits kann es einer weit unter dem Schuldmaß bleibenden Strafe an stabilisierender Effektivität mangeln. Andererseits kann eine 'ungerechte', weit überhöhte Strafe durch Mitleids- und Solidarisierungseffekte ihren Stabilisierungszweck verfehlen l07 • Für eine Konkretisierung der normstabilisiedenfalls im Hinblick auf Freiheitsstrafen zu zweifeln. Vgl. hierzu mit einer umfassenden Darstellung empirischer Untersuchungen Köberer, Iudex non caIculat, 1996, S. 139 ff. 104 Vgl. zum "Schwiegermuttermörder" als Prototyp des Straftäters Bottke, Schwiegermuttermörder und Unternehmen, in: Schlosser (Hrsg.), Bürgerliches Gesetzbuch 1896-1996,1997, S. 133 ff.
105 Dies bezweifelt mit Hinweis auf die schon fragwürdigen methodischen Instrumente zur Feststellung eines solchen Zusammenhangs W Hassemer, Die Formalisierung der Strafzumessungsentscheidung, in: ZStW 90 (1978) S. 64 ff. (96 f.). 106 Vgl. oben S. 52. 107 Vgl. auch Bottke, Assoziationsprävention, 1995, S. 159, der aber gleichzeitig in Fußn. 549 darauf hinweist, daß die Tatschuldmaßlimitierung im präventiv orientierten Modell dann nicht mehr aus der positiven GeneraIprllvention selbst heraus begrUndbar sei, wenn die erhofften generaIpräventiven Effekte die beftlrchteten Solidarisierungseffekte überstiegen. Hier erscheint Bottke der Rekurs auf die Gerechtigkeit der verhängten
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rungseffektiven Strathöhe innerhalb der durch diese Extrema markierten Bandbreite ist jedoch das Maß der strafzumessungsrelevanten Schuld auf den ersten Blick unergiebig. Eine weitergehende Bedeutung des Schuldprinzips ftlr die Strathöhe unter einer Doktrin der positiven Generalprävention könnte sich allerdings aus dem Wesen des Schuldbegriffs selbst ergeben: Wenn sich erweisen würde, daß diejenigen Faktoren, die fiir unseren Begriff von 'Schuld' bestimmend sind, gleichzeitig eine konstituierende Rolle im Normbekräftigungsmodell spielen, wäre eine direkte, strathöhenrelevante Beziehung zwischen dem Maß der Schuld und der von einer Strafe ausgehenden Normbekräftigung aufgezeigt. Es erwiese sich dann die herkömmliche Trennung von Schuldausgleich und den anderen Strafzwecken, namentlich der positiven Generalprävention, als überflüssig. IV. Relation von 'Schuld' und Normstabilisierung Alltagssprachlich bedeutet im Deutschen die Zuweisung von Schuld die Zuweisung von Verantwortlichkeit. Wer an etwas schuld ist, dem wird es zugerechnet. Wer dagegen unschuldig ist, der wird ftlr das Geschehene nicht verantwortlich gemacht, selbst wenn er es verursacht hat. Im Englischen wäre das entsprechende Wort "blame". "The offender is blamed for his offense." Die Schuld wird dort entweder mit dem Fremdwort "culpability", was sich mehr auf die Schuldflihigkeit bezieht, oder, illustrativer, mit "blameworthiness" bezeichnet. Wer des Tadels würdig ist, verdient Tadel. Daher rührt dann auch eine Bewegung in der amerikanischen Strafrechtswissenschaft, die hierzulande zuweilen verkürzt als Rückfall in das Vergeltungsstrafrecht apostrophiert wird: 'Just deserts' meint letztlich nichts anderes als eine Orientierung der Strafzumessung an der Tatschuld, also an dem, was die Gesellschaft dem Täter an Verantwortlichkeit rur sein Handeln zuschreibt lO8 •
Strafe im Sinne der das Maß des Vorwerfbaren nicht übersteigenden Deliktsreaktion als notwendig. Damit stellt sich freilich die Frage, ob die 'Solidarisierungsgrenze' als Kriterium dann überhaupt noch sinnvoll als Verbürgung der 'Tatschuldlimitierung' angesehen werden kann. Es bleibt also festzuhalten, daß auch die assoziationspräventive Strafzwecklehre eines außerhalb ihrer selbst liegenden Gerechtigkeitskriteriums zur Strafhöhenbestimmung bedarf. 108 Weigend, Sentencing in West Germany, in: Md. L. Rev. 41 (1983), S. 37 ff. (50). Die Lehre von der Tatproportionalität hat sich aus dieser Einsicht entwickelt, vgl. v. HirschiJareborg, Strafmaß und Strafgerechtigkeit, 1991, S. 11 ff. Näher zur Theorie des 'just deserts' siehe unten, S. 140 ff.
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Als Hypothese sei fonnuliert: Mit dem Schuldrnaß wird die Wertigkeit bezeichnet, die dem durch die Tat ausgelösten Bedürfnis nach Nonnstabilisierung entspricht. Bilden positiv-generalpräventive Theorien 109 hierzu einen Gegensatz oder lassen sie sich mit dieser Hypothese vereinbaren? 1. Schuldbegriff und Theorien positiver Generalprävention
Allen positiv-generalpräventiven Theorien ist zu eigen, daß sie den Zweck des Strafrechts in der Stabilisierung des Nonnvertrauens und der Nonngeltung durch kontrafaktischel 10 Deliktsreaktion auf die Enttäuschung der Erwartung normkonfonnen Verhaltens sehen. Stellt eine Gesellschaft Nonnen auf, so erwartet sie ihre Befolgung. Wird die Norm gebrochen, so geht von diesem Nonnbruch eine zunächst nur potentielle Gefahr fiir ihren weiteren Bestand aus. Im Unterschied etwa zu Naturgesetzen, deren Bruch durch reproduzierbar beobachtetes Geschehen ihre Ungültigkeit zur Folge hatl 11, resultiert die Invalidierung einer Rechtsnonn nicht automatisch aus dem Rechtsbruch. Nur wenn die mit der Aufrechterhaltung der Normgeltung betrauten Organe es unterlassen, entgegen dem Normbruch die Geltung der Nonn zu behaupten, wirkt die Enttäuschung erwarteter Normtreue bei hinreichend häufiger Verletzung schädigend auf die Verbindlichkeit der Norm ein. Denn jede einzelne Verletzung einer Nonn kommuniziert die Behauptung des Nonnbrechers, die Nonn sei jedenfalls fiir ihn - nicht gültig. In einer Gesellschaft, die von der (rechtlichen) Gleichheit aller Rechtsunterworfenen ausgeht, wird damit gleichzeitig die generelle Unverbindlichkeit der Nonn reklamiert. Diesem Akt, den man wegen seines die Nonn selbst angreifenden Charakters auch als "Nonnschändung" bezeichnet 112, muß nun die Gesellschaft die Gültigkeitsbehauptung entgegensetzen, sie muß gegenkommunikativ handeln. Solche kontrafaktische Deliktsreaktion geht in der personalen Zurechnung von Verantwortlichkeit auf. Strafe ist in diesem Sinne "Affinnation der Zurechnung des fehlerhaften Verhaltens"ll3. Indem der Tatzuständige durch Ausermittlung seiner Tatzuständigkeit markiert wird und ihm die Tat verantwortlich
109 Es sei noch einmal klargestellt, daß es sich bei der Assoziationsprävention (vgl. hierzu näher oben S. 54) um eine Weiterentwicklung der Integrationsprävention handelt, die wiederum zu den Theorien der positiven Genera/prävention gehört. 110 "Normen sind [... ] kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen" (Luhmann, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1983, S. 43) 111 Bottke, Schwiegermuttermörder und Unternehmen, in: Schlosser (Hrsg.), Bürgerliches Gesetzbuch 1896-1996, 1997, S. 133 ff. (135 und Grafik aufS. 151). 112 Bottke, Assoziationsprävention, 1995, S. 113 f. 113 Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, S. 10.
A. Schuldbegritfund Strafzwecke
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zugeschrieben wird, kommuniziert das Strafverfolgungsorgan die Gültigkeit der Nonn gegen ihren Bruch. Systemtheoretisch gesprochen bedeutet Schuld nichts anderes als die "Verteilung der Verantwortungsbereiche zwischen (Sub-) Systemen, d.h. das Schuldurteil ist die immer wieder neue Festschreibung des Beitrags, der von den einzelnen (Sub-)Systemen zur Erhaltung der Ordnung geleistet werden muß [... I4 •
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Schuldstrafrecht ist also bei richtiger Analyse des Schuldbegriffes Zurechnungsstrafrecht, das in der Zurechnung von Verantwortlichkeit den Zweck der Nonnstabilisierung verwirklicht. Der Schuldbegriff ist immanent zweckgerichtet auf die Verwirklichung von positiver Generalprävention. Der Gegensatz zum althergebrachten Vergeltungsgedanken oder zu den venneintlich absoluten Straftheorien besteht nur scheinbar. Vielmehr enthüllt sich der metaphysische, emotional besetzte Begriff von Schuld, wie er diesen Theorien zugrunde liegt, bei sachgerechter und vemunftbezogener Analyse als nichts anderes als ein Zurechnungsmechanismus, der Nonnbrüche personaler Verantwortung zufUhrt. Wer "Schuld auf sich geladen" hat, dem wird kraft dieser Aussage die Verantwortlichkeit filr die Nichtbeachtung einer Nonn zugewiesen. 2. Schuldzuweisung als normativer Prozeß mit normstabilisierendem Effekt
Damit ist jedoch nicht gesagt, daß ohne weiteres auch der ethische Vorwurf der "bösen" Tat dem Täter gemacht werden könne. Es handelt sich bei der Zuweisung von Verantwortlichkeit um einen nonnativen Prozeß, der weder einer psychologisch- oder soziologisch-empirischen Überprüfung zugänglich ist, noch hierauf angewiesen ist ll5 • Zwar wird behauptet, Strafe setze "keine Vorwerfbarkeit im ethischen oder strafrechtsphilosophischen Sinn" voraus und es müsse "ihr deshalb jeglicher Tadelscharakter abgesprochen werden"ll6. Diese Aussage ist jedoch mit der hier vertretenen Ansicht kompatibel, die Verantwortungszuweisung, die in der 'Schuldigsprechung' des Angeklagten liege, sei systemtheoretisch gesprochen Betadelung des Nonnbruchs, die zur Revalidierung der Nonn eingesetzt wird. Denn Tadel in diesem Sinne ist kein ethischmoralischer Vorwurf. Darum geht es dem Strafrecht nicht. Zweck des Strafrechts ist Nonnstabilisierung, nicht das Fällen moralischer Urteile der VerwerfJakobs, Schuld und Prävention, 1976, S. 29. EllscheidiW. Hassemer, Strafe ohne Vorwurf. Bemerkungen zum Grund rechtlicher Haftung, in: Civitas. Jahrbuch rur Sozialwissenschaften, Bd. IX, S. 27 ff. 116 EllscheidiW. Hassemer, Strafe ohne Vorwurf. Bemerkungen zum Grund rechtlicher Haftung, in: Civitas. Jahrbuch rur Sozialwissenschaften, Bd. IX, S. 27 tf. (36). 114
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straf1970, straf1970,
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lichkeit über das Handeln der Nonnbrecher. In vielen, vielleicht sogar den meisten Fällen mag rechtliche Vorwerfbarkeit mit moralischer Verwerflichkeit zusammenfallen. Eine notwendige Bedingung filr den rechtlichen Vorwurf ist aber das negative Moralurteil gerade nicht l17 • Die Leistung der Theorie von der präventiven Zwecksetzung der Nonn besteht nun darin, die Wirkung der Zurechnung im System beobachtet und hieraus auf ihren Grund geschlossen zu haben. Nonnstabilisierung ist nicht modellabhängig, sondern geschieht beobachtbar, ohne daß es eines empirischen Nachweises hierdurch verringerter Kriminalität bedürfe. Wenn Zuweisung von Verantwortlichkeit überzufiillig häufig den - erwünschten, weil systemstabilisierenden - Effekt der Nonnstabilisierung in der Lebenswirklichkeit zeitigt, so kann von einem Zweck gesprochen werden l\8. Mithin: Die Zurechnung personaler Verantwortung (Schuld) filr begangenes Unrecht (Nonnverletzung) ist ihrem Wesen nach zweckgerichtei. Daß solche Zweckrichtung nicht erkannt wurde und wird, hindert nicht den Eintritt der nonnstabilisierenden Effekte. Mit anderen Worten: Auch wenn der Schuldbegriffmetaphysisch besetzt wird, wenn emotionale Beziehungen zur Schuldzuweisung sowohl seitens der Zuweisenden als auch seitens des als tatzuständig Ausgemachten bestehen und wenn psychoanalytisch erklärbare l19 Strafbedürfnisse in der Bevölkerung mit solcher Markierung der Tat befriedigt werden, bleibt der nonnstabilisierende Effekt bestehen. Vernunftorientierter Umgang mit dem Schuldbegriff, insbesondere die Rechtfertigung von Freiheitseingriffen in einem Rechtsstaat, verlangt die Erkenntnis und Anerkenntnis der nonnstabilisierenden Zweckrichtung der Schuld. Es bleibt jedoch zu klären, ob und gegebenenfalls wie dieser Schuldbegriff in die Strafzumessung zu übertragen ist. Wenn das, was wir als Schuld bezeichnen, seinen metaphysischen Charakter verloren hat, kann auch dem Maß der Schuld nichts Metaphysisches mehr anhaften. Die Zweckhaftigkeit des Schuldkonzepts bedingt Zweckrationalität in einer um Rationalität bemühten Strafzumessungstheorie. Daß das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zwischen Rechtseingriff und Zweckerreichung im jeweiligen Einzelfall eine Antwort auf die Frage bieten könnte, welches Strafmaß angemessen ist l20 , liegt nahe. 117 Beispielsweise zeigt sich gerade in Fällen des zivilen Ungehorsams, daß der bewußte Verstoß gegen Strafgesetze aus "höheren" moralischen Motiven heraus nur dann seinen plakativen und demonstrativen Wert behält, wenn der Staat zunächst mit Repression und strafrechtlichem Vorwurf reagiert. Damit wird das Verhalten und sein Anliegen in die öffentliche Diskussion gebracht und möglicherweise eine bisher unreflektierte Ansichts- oder Handlungsweise neu überdacht, im günstigsten Fall gar revidiert. 118 Bottke, Assoziationsprävention, 1995, S. 85 f. 119 HajJke, Tiefenpsychologie und Generalprävention, 1976, S. 162 ff. 120 Bedingung ist freilich, daß eine Quantifizierung des Wertes des zu erreichenden Zwecks möglich ist - ein Grundproblem der schuldorientierten Strafzumessung.
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3. Verhältnismäßigkeit der Sanktion
Verhältnismäßigkeit bedeutet offene Gegenüberstellung widerstreitender Interessen. Normstabilisierungsinteressen der Gesellschaft stehen gegen Freiheitsinteressen des einzelnen. Wenn Schuld wie nach dem hier vertretenen Begriff ihre metaphysische Komponente verliert, erübrigt sich auch die These von der durch die Tat selbst zumindest teilweise (und meßbar!) verlorengegangenen Rechtspersönlichkeit des Täters 121. Das metaphysische Talionsprinzip sah durch die Tat bereits eine Verwirkung der Rechte des Täters eingetreten, bildlich mit einem vom Täter selbst verursachten Wassereinbruch in das Gebäude seiner Rechtspersönlichkeit vergleichbar, der durch die Strafe gleichsam nur noch ausgeschöpft werden mußte. Die Verhältnismäßigkeitstheorie dagegen erkennt an, daß die Rechtsinteressen des Täters fortbestehen, daß er weiterhin der Gesellschaft assoziiert bleibt. Lediglich wenn und soweit durch die ihm zurechenbare Normschändung ein Bedürfnis nach deren Stabilisierung ausgelöst wurde, ist ein Eingriff unter Beachtung seiner Rechte und unter einer dem Gesichtspunkt der praktischen Konkordanz 122 folgenden Abwägung möglich. Die Kritik an der Verhältnismäßigkeitstheorie als Maßprinzip in der Strafzumessung richtet sich gegen zwei ihrer denkbaren Ausprägungen: Werde Verhältnismäßigkeit als Proportionalität zwischen Präventionszweck und Strafhöhe gesehen, so löse sich die Strafe von der Tat, welche so vom Strafgrund zum bloßen Symptom mutiere. Werde die Strafe dagegen in Relation zur Tat (und dabei zu mehr als nur den gesetzlichen Tatbestandsmerkmalen) gesetzt, so verberge sich dahinter entweder nur der alte Schuldbegriff in neuem Gewand oder die Prüfung der Verhältnismäßigkeit müsse gerade die Zurechnungsumstände außer Acht lassen, die erst Unverhältnismäßiges verhältnismäßig werden ließen 123. Dieser Kritik ist zuzugeben, daß es vom anerkannten und verfolgten Strafzweck abhängt, ob sich das strafmaßlimitierende Prinzip von der Tat abstrahiert und die Strafe nur noch tatanläßlich, nicht mehr aber tatbegründet begrenzt wird. Daß in einer Limitierung durch tatabstrakte Strafzwecke ein Verstoß gegen den Grundsatz der gesetzlich bestimmten Strafe liege 124, erscheint aber wenig plausibel. Selbst wenn man der Ansicht folgt, der nulla poena sine 121 Vgl. ElIscheidlW Hassemer, Strafe ohne Vorwurf. Bemerkungen zum Grund strafrechtlicher Haftung, in: Civitas. Jahrbuch rur Sozialwissenschaften, Bd. IX, 1970, S. 27 ff. (43). 122 ElIscheidlW Hassemer, Strafe ohne Vorwurf. Bemerkungen zum Grund strafrechtlicher Haftung, in: Civitas. Jahrbuch rur Sozialwissenschaften, Bd. IX, 1970, S. 27 ff. (45). Zur "praktischen Konkordanz" vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 317 ff. 123 Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, S. 6 ff. 124 Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, S. 6.
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lege Grundsatz schreibe die Tatbezogenheit der Strafe fest 12S, ist diese durch ihre Stratbegründungskomponente schon in der Tat verankert und die maximale Strathöhe durch den Strafrahmen gesetzlich defmiert. Wenn dann eine - sozusagen von außen oktroyierte - Limitierung das tatbegründet Mögliche begrenzt auf das Strafzweckangemessene, dann liegt hierin kein Verstoß gegen den nulla poena Grundsatz.
Eher problematisch ist das Verständnis der Verhältnismäßigkeit als Relation von Tatschuld und Strafe. Ein Tatschuldbegriff, der sich nur an den Tatbestandsmerkmalen orientiert, ist in der Tat mangels Differenzierungspotential ungeeignet zur Bereitstellung von Abwägungsmaterial. Bezieht er dagegen die Gesamtumstände der Tat in ihren quantifizierbaren und nicht quantifizierbaren Momenten mit ein, gerät er aufgrund seiner Weite und Unbestimmtheit zum Sammelbecken filr alle möglichen, auch moralisierenden Erwägungen. Gleichwohl ist es mehr als nur der alte Begriff im neuen Gewand, weil durch die Offenlegung der widerstreitenden Interessen und die Bereitstellung eines im Recht der Grundrechtseingriffe bewährten Prüfungsinstrumentariums doch ein höheres Maß an intersubjektiver Nachvollziehbarkeit möglich erscheint. Im übrigen ist die Verhältnismäßigkeitsprüfung aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht verzichtbar. Erwiese sich der mit der Strafe verfolgte Strafzweck der Normstabilisierung als nicht erreichbar, so fehlte dem Rechtseingriff schon die Eignung und damit die verfassungsrechtliche Rechtfertigung. Wann also ist ein strafverhängender Eingriff in die Freiheitsinteressen eines Straftäters verhältnismäßig? a) Eignung der Strafe zur Normstabilisierung Der Eingriff muß zunächst geeignet sein, den Normstabilisierungseffekt zu erreichen. Diese Feststellung bereitet in der allgemeinen Aussage, Strafe sei geeignet, Normstabilisierung herbeizufilhren, nach dem oben Gesagten keine Schwierigkeiten. Im Einzelfall könnte jedoch geltend gemacht werden, daß etwa die Heimlichkeit einer konkreten Strafverhängung (etwa durch Strafbefehl) schon die Eignung zur Normstabilisierung verhindere. Ist also in einem solchen Fall die Verhängung von Strafe mangels Eignung zur Zweckerreichung schon unzulässig? Hiergegen greift das Argument der Generalisierung: Um Normstabilisierung erreichen zu können, ist gerade die Demonstration der Verbindlichkeit der Norm gegenüber allen ermittelten Normbruchszuständigen essentiell. Das Vertrauen in die Allgemeinverbindlichkeit der Norm, welches durch den Normbruch gerade erschüttert wurde, kann nur bei strikter Normbruchsmarkie125
Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, S. 6.
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rung und Verantwortungszuweisung in allen ausermittelten Fällen gesichert werden. Deshalb läßt sich auch schlecht behaupten, nur weil eine Tat weitgehend heimlich stattgefunden habe und ausermittelt worden sei, habe der Täter keine Schuld auf sich geladen. Zugestanden, solange nicht einmal der Normbruch selbst von irgend jemandem bemerkt wurde, gibt es keine gesellschaftlich relevante Schuld, sondern allenfalls Schuldgefühle innerhalb des autopoietischen Systems "normbrecherischer Mensch", die durch die innere Kontrolle der eigenen Handlungen ausgelöst wurden. Tritt die Tat aber nach außen und kann der Tatzuständige ermittelt werden, so erfolgt bei Verantwortlichkeit eine Zuweisung dieses normbrecherischen Verhaltens an diese Person und damit Schuldzuweisung. Um als solche Zuweisung von Verantwortlichkeit ernst genommen zu werden, bedarf es de principio bei festgestellter Schuld auch einer Reaktion des Staates, die dem Tatzuständigen in irgendeiner Weise Kosten produziert 126 • Die Eignung des konkreten Freiheitseingriffs zur Normstabilisierung kann danach selten verneint werden. Lediglich dann, wenn die Kosten so hoch sind, daß Solidarisierungseffekte zu befilrchten wären oder durch die Schwere der Eindruck entstünde, der Normbruch selbst sei gar nicht mehr der Grund, sondern nur noch der Anlaß zum anderweitig motivierten Freiheitseingriff, wäre eine Eignung zu verneinen. b) Erforderlichkeit der Strafe zur Normstabilisierung Sodann ist auch die Erforderlichkeit des konkret vorzunehmenden Eingriffs festzustellen. Erforderlich ist ein Eingriff dann nicht mehr, wenn ein milderes Mittel (seil.: eine mildere Strafe) gleich geeignet wäre, den Normstabilisierungseffekt zu erreichen. Hierbei erweist sich nun der Rekurs auf die Intensität der Normerschütterung durch die Tat als notwendig und hilfreich. Indikatoren fiir die Schwere des Erfolgsunrechts sind neben den Strafrahmenvorgaben 127 die Intensität der Rechtsgutsverletzung, sowohl in quantitativer als auch, insbesondere wo meßbare Einheiten nicht existieren, in qualitativer Hinsicht. Das Handlungsunrecht dagegen nimmt weniger tat- als täterbezogene Gesichtspunkte in Bedacht. Die persönliche Situation des Täters bei der Tat, seine Motive, die äußeren und inneren Zwänge, die ihn zur Tat veranIaßt haben, seine Lebensgeschichte (soweit sie seine Fähigkeit berührt, sich in der Tatsituation normgerecht zu verhalten), seine emotionale Verfassung zur Zeit der Tat und der Grad der Rücksichtslosigkeit, des Vorsatzes und der Gleichgültigkeit hin-
126
BoUke, Assoziationsprävention, 1995, S. 15.
Die Strafrahmen konkretisieren den Wert, den die Gesellschaft den Rechtsgütern, die durch die jeweiligen Tatbestände geschützt werden sollen, zuordnet. Diese Werteinschätzung erfolgt durch das Volk, vertreten durch den Gesetzgeber. 127
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sichtlich der verletzten oder gefiihrdeten Rechtsgüter sind Mosaiksteine, aus denen sich der dem Täter zuteil werdende persönliche Vorwurf des 'Anders-Handeln-Könnens' zusammensetzt. Hat man aber die relevanten Faktoren gesammelt und stellt man sie einer Skala möglicher Strafen gegenüber, so stößt man auf ein Bewertungsproblem: Wann ist eine bestimmte Strafhöhe gerade noch, wann nicht mehr erforderlich, um dem Interesse der Normstabilisierung gerecht zu werden? c) Angemessenheit der Strafe Schließlich, und damit erreichen wir den schwierigsten Punkt in der Verhältnismäßigkeitsprüfung, muß die freiheitseingreitliche Deliktsreaktion des Staates in einem angemessenen Verhältnis zum Normstabilisierungszweck stehen 128 • Dabei müssen sowohl der Normstabilisierungszweck als staatliches und gesellschaftliches Interesse am Funktionieren des Normsystems als auch das trotz seiner Tat bestehen bleibende Freiheitsinteresse des Straftäters als sein Interesse an Assoziation und Partizipation an der Gesellschaft gegeneinander so abgewogen werden, daß beiden im Sinne der praktischen Konkordanz möglichst weitestgehend Rechnung getragen wird. Spätestens an diesem Punkt wird offenbar, daß durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip wenig an intersubjektiver Vorhersehbarkeit und Nachvollziehbarkeit gewonnen ist. Denn die FrUchte einer ausfiihrlichen Gegenüberstellung von Normstabilisierungsinteressen der Gesellschaft einerseits und Freiheitsinteressen des Angeklagten andererseits erschöpfen sich in der Bereitstellung eines Argumentationsmusters, das die Nennung und Einordnung strafzumessungsrelevanter Faktoren erlaubt. Was dem Richter fehlt, ist der Umrechnungsmaßstab, das Programm filr die Umsetzung von relevanten Faktoren und Interessen in quantifizierbare Einheiten. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten des bestehenden Strafzumessungssystems, daß genau dieser Vorgang der Bewertung in der Festlegung des Strafmaßes aufgeht. Indem der Richter ein bestimmtes Strafmaß festsetzt, quantifiziert er die relevanten Faktoren. Mit anderen Worten: Wenn das Interesse der Gesellschaft an Normstabilisierung wegen einer konkreten Tat so groß ist, daß demgegenüber eine Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit des Angeklagten durch deren Entziehung fiir zwei Jahre nicht schwerer wiegt - ein längerer Freiheitsentzug jedoch unangemessen wäre - , so ist eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren zu verhängen. Die Zirkelschlüssigkeit dieses Entscheidungsprogramms wird klar: Ohne Maßstab ist nichts gewonnen.
128
So auch schon das Bundesverfassungsgericht, vgl. oben S. 32 f.
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d) Zusammenfassend zur Verhältnismäßigkeit Auf allen drei Ebenen der Verhältnismäßigkeitsprüfung, und sogar mit zunehmender Prüfungsstufe auch jeweils verschärft, stellt sich weiterhin die Problematik der intersubjektiv nachvollziehbaren Bewertung und Bemessung. Wenn auch eine positiv-generalpräventiv untergründete Strafzumessungsschuldlehre in Verbindung mit dem Prüfungskorsett der Verhältnismäßigkeitsprüfung filr ein Höchstmaß an Gliederung, Interessenklarheit und -wahrheit sowie Begründungsanforderungen sorgen kann, so verbleiben dennoch Wertungsund vor allem Bewertungsfragen, die ohne gesetzlich vorgegebenes Programm in der Einzelfallentscheidung dem intersubjektiv nachprüfbaren Bereich entzogen bleiben müssen. So kann die Grenze, an der eine Strafe wegen der zu erwartenden Solidarisierungseffekte zu hoch und daher nicht mehr zur Nonnstabilisierung geeignet ist, weder abstrakt noch im Einzelfall genau bezeichnet und etwa in Maßzahlen angegeben werden. Genauso wenig vennag der Richter in Intersubjektivität sichernder Weise anzugeben, ab welcher Untergrenze einer Bestrafung die ihm zur Entscheidung vorliegende Strafnonnverletzung wegen der zu geringen Höhe nicht mehr nonnstabilisierend wirkt. Während tat- und erfolgsunrechtsbezogene Umstände noch zuweilen zahlenmäßig erfaßbar und damit wenigstens auf den ersten Blick meßbar erscheinen, trifft dies filr täterbezogene Umstände schon nicht mehr zu. Noch viel weniger aber läßt sich angeben, welche Strafart und -höhe erforderlich sind, um bei einer bestimmten Kombination von Strafzumessungsfaktoren gerade noch den Nonnstabilisierungszweck zu erreichen. Schließlich ist der Abwägungsvorgang im Rahmen der Angemessenheitsprüfung immer ein subjektiver, der von sachfremden Einflüssen nie völlig abzuschinnen ist, weil zwar die Begründung, nie aber die Herstellung der Abwägungsentscheidung nachprüfbar ist. Auch die Prüfung der Verhältnismäßigkeit in dem eben ausgeftlhrten Sinne bildet damit kein übergeordnetes Prinzip, an dem sich die Strafzumessungsentscheidung im einzelnen messen lassen kann, das sie intersubjektiv vorhersehbar und nachprüfbar macht. Der Nutzen einer solchen Verhältnismäßigkeitsprüfung liegt in der Offenlegung der auszugleichenden Interessen. Ein weiterer Schritt nach vorne wäre getan, wenn auch noch die strafzumessungsrelevanten Umstände eingegrenzt würden und damit der Kreis der in die Abwägung einzufllhrenden Gesichtspunkte verengt würde.
5 Reichert
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4. Tatproportionalität als Gerechtigkeitskriterium
Einen Ansatz hierzu bietet die Tatproportionalitätslehre l29 , die den Kreis der strafzurnessungsrelevanten Umstände auf tatumechtsrelevante Faktoren beschränkt. Wenn die Tatproportionalitätslehre eine Verhältnismäßigkeit der Strafmaße untereinander fordert, so ist hiermit kein strafbegründender Zweck gegeben. Vielmehr kann die Lehre von der Tatproportionalität nur das Element der distributiven Gerechtigkeit in einer Strafzwecklehre bieten, die aufgrund ihrer rein präventiven Ausrichtung ein Gerechtigkeitsmoment außerhalb des Strafzwecks benötigt. Die Lehre von der Tatproportionalität kann daher ausfiilIen, was die Lehre von der positiven Generalprävention an Gerechtigkeitsbedarf offen läßt. Aus ihr wird sich jedoch weder ein strafbegrundendes noch ein strafbegrenzendes Prinzip ableiten lassen. V. Zwischenergebnis
Der Begriff strafzurnessungsrelevanter Schuld ist zu entmystifizieren. Nur ein strafzweckgebundener Schuldbegriff eignet sich fiir die Begründung und die Zumessung von Quanten strafrechtlicher Verantwortlichkeit. Durch die Zuweisung von Verantwortlichkeit fiir ein (kontakt-) normwidriges Verhalten wird Menschen der strafrechtliche Vorwurf des 'Anders-Handeln-Könnens' gemacht. Der Zuweis solcher Verantwortlichkeit fiir Normverletzungen wirkt normstabilisierend, wenn und weil er mit himeichender Häufigkeit erfolgt und durch die Verhängung von freiheitsmindernden 130 Zuständigkeitsannexen die Geltung der Norm den Verletzem und den übrigen Gesellschaftsmitgliedern verdeutlicht. Durch die Zuweisung von Verantwortlichkeit wird Schuld begründet. Durch die Verhängung einer quantifizierten Sanktion wird die Schwere des Vorwurfs markiert, der Grad der Schuld wird zugemessen. Die intersubjektiv vorhersehbare und nachvollziehbare Feststellung der Schwere des Vorwurfs ist ein Problem, das auch eine Verhältnismäßigkeitsprufung nicht lösen kann, die letztlich in die Gegenüberstellung und Abwägung von Strafzweck (Normstabilisierung) Vgt. hierzu näher unten S. 122. Freiheitsmindemd sind auch Sanktionen, die lediglich das Vermögen mindern, wie etwa Geldstrafen. In einem sllkularisierten und marktwirtschaftlieh verfaßten Staat vermittelt allein Geld die Macht, prinzipielt eingeräumte Freiheiten auch wahrzunehmen. Denn das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes (Art. 20 I GG) ist als Ausfluß der Freiheitlichkeit unseres Verfassungssystems begreifbar, weil die Verfassungsväter erkannt haben, daß allein die Gewährung von Freiheitsrechten in einer marktwirtschaftlieh organisierten Geseltschaft die Teilhabe an ihnen nicht sichert. Vgt. Benda, Der soziale Rechtsstaat, in: BendalMaihoferNogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, S. 719 ff., Rn. 89. 129 130
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und Maß des Eingriffs (Sanktions schwere) mündet. Ein formales Prinzip wie das der Tatproportionalität kann durch die Reduzierung der Komplexität der strafzumessungsrelevanten Faktoren und durch die Sicherstellung der Verhältnismäßigkeit der Sanktionen für jeweils verschieden schwere Delikte die Abwägungsentscheidung erleichtern und rationaler gestalten. Die Tatproportionalität schafft jedoch kein materielles Kriterium für die Höhe des allgemeinen Sanktionsniveaus oder für die Gewichtung einzelner strafzumessungsrelevanter Faktoren. Solange diese Gewichtung dem Einzelfall und damit dem Richter vorbehalten bleibt, steht am Ende der Analyse aller strafzumessungsrelevanten Umstände eines Falles die individuelle, abwägende Umsetzung dieser Umstände in Strafquanten und damit die Quantifizierung der zugewiesenen Verantwortlichkeit. Seiner Natur nach ist dieser Prozeß ein subjektiver, der sich der intersubjektiven NachpTÜfbarkeit weitgehend entzieht. Wird er nicht ersetzt durch eine abstrakt-generelle Quantifizierung des Unrechts, ändert sich nichts an dem konstatierten Mangel an Intersubjektivität der Strafzumessungsentscheidung.
B. Strafzumessungsrecht in Rechtsprechung und Literatur Seit das heutige, einheitliche StGB in kodifizierter Form vorliegtl3l, hat es Kritik an den gesetzlichen Vorgaben wie auch der rechtsprechenden Ausgestaltung der Strafzumessung gegeben 132 • Der Gesetzgeber stellt bis heute den strafzumessenden Richter mit der Vorschrift des § 46 StGB vor die Aufgabe, einerseits das Schuldprinzip (§ 46 I I StGB) zur Grundlage seiner Entscheidung zu machen, andererseits aber auch die Wirkungen der Strafe auf das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft, also im weitesten Sinne spezialpräventive Aspekte, zu beachten (§ 46 I 2 StGB). Der Strafzumessungsvorgang soll ein Abwägungsprozeß für und gegen den Täter sprechender tatsächlicher Umstände sein (§ 4611 StGB), von denen das Gesetz einige beispielhaft auffilhrt. Hierunter sind schuldvorwurfsbezogene Umstände wie die Motivation, Gesinnung und das Maß der Pflichtwidrigkeit des Täters, tatunrechtsbezogene Tatsachen wie die Art der AusfUhrung und die Auswirkungen der Tat, aber auch täterbezogene Merkmale wie sein Vorleben, seine wirtschaftlichen Verhältnisse und sein
131 Am 15.05.1871 (RGB!. 1871, S. 195) trat das Strafgesetzbuch fllr das Deutsche Reich in Kraft. 132 V g!. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 317 ff.
S·
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Nachtatverhalten. Nicht genannt, aber nach verbreiteter Auffassung I3J zu Schuldprinzip und Spezialprävention hinzuzudenken, ist die Generalprävention als Gedanke der "Verteidigung der Rechtsordnung". Ob "Schuld" sich rein präventiv herleiten läßt 134, ob sie dagegen eigenständige Bedeutung hat und lediglich durch general- und spezialpräventive Faktoren ergänzt oder begrenzt wird, oder ob Schulderwägungen und präventive Umstände völlig zu trennen sind 13S , all dies ist umstritten. Der Gesetzgeber, so scheint es, hat es der Rechtsprechung und der Wissenschaft überlassen, aus dem Gemenge von verschiedenen in der Strafzumessung zu berücksichtigenden Faktoren ein sinnvolles Gebäude zu errichten. Es liegt aber auch die Vermutung nahe, daß sich weder die eine noch die andere Strömung im Reformprozeß durchsetzen konnte und daher ein Kompromiß konfligierender Zumessungsanweisungen Gesetz wurde, der sich einer in sich widerspruchsfreien Systematisierung verschließt und gegen eventuelle empirische Defizite oder gar Widerlegung der zugrunde liegenden Annahmen präventionstheoretischer Art nicht immun ist. I. Strafzumessung als Rechtsanwendung
Was der Gesetzgeber dem Strafzumessenden nicht mit auf den Weg gegeben hat, ist eine Handlungsanweisung, wie er die verschiedenen Umstände zu gewichten hat und, ganz entscheidend, wie er einzelne Umstände jeweils in Strafquanten umzusetzen und die Strafe im gesetzlich vorgegebenen Strafrahmen anzusiedeln hat. Er hat die Problemlösung bewußt dem Richter überlassen und somit neben der BeweisWÜTdigung einen weiteren Bereich geschaffen, in dem der Tatrichter teilweise der Kontrolle durch die Revisionsgerichte entzogen ist 136 • Zuweilen wird hier auch von richterlichem "Ermessen" gesprochen I37 • Dabei ist Ermessen nicht mißzuverstehen als blinder (oder gefilhlsgeleiteter) Griff in die (dunkle\38) Kiste möglicher Sanktionen im jeweiligen konkret zu \33 Tröndle, StGB, 48. Autl 1997, § 46 Rn. 6; Zipf, Die Strafzumessung, 1977, S. 50 ff.; ders., Die "Verteidigung der Rechtsordnung", in: Frisch/Schmid (Hrsg.), Festschrift rur Bruns, 1978, S. 205 ff. (211 ff.); BGHSt 34, 150 (151); BGH NJW 1990, 194 (195). 134 So Jakobs, Schuld und Prävention, 1976, S. 8 ff. 135 Dies fordert die sogenannte Stufen- oder Stellenwerttheorie, vgl. unten S. 105 f. 136 V gl. hierzu Bottke, Strafrechtswissenschaftliche Methodik und Systematik bei der Lehre vorn strafbefreienden und strafinildemden Täterverhalten, 1979, S. 330. I37 BayOblG JZ 1992,259. Vgl. auch Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 87 ff. Henkel, Die "richtige" Strafe, 1969, S.21; Warda, Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht, 1962. 138 Der "Griff ins Dunkle" als vielzitierter Ausspruch Franz v. Liszts (vgl. S. 17, Fn. 8) dient auch hier zur Bildung einer Metapher filr die willkürliche Zuordnung eines bestimmten Strafinaßes aus dem anzuwendenden Strafrahmen.
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entscheidenden Fall, so wenig wie auch die Beweiswürdigung sich Uber die Kriterien der inneren Widerspruchsfreiheit und der vollständigen Ennittlung relevanter Tatsachen oder Uber allgemein bekannte Sachzusammenhänge hinwegsetzen darf 39. In diesem Sinne wird aber die von den Revisionsgerichten immer wieder bemUhte Rede von den durch das tatrichterliche Ennessen bei der Strafzumessung gezogenen Grenzen der Rechtskontrolle zuweilen interpretiert l40 • Nicht anders ist zu erklären, daß ein Gegensatz gesehen wird zwischen der Zubilligung von tatrichterlichem Ennessen einerseits und der mit Beifall 141 bedachten Aussage, Strafzumessung sei Rechtsanwendung l42 , andererseits. Das BemUhen, den Begriff des tatrichterlichen Ennessens als irrefllhrend auszumerzen und den Tatrichtern vor Augen zu halten, daß sie statt dessen Rechtsanwendung oder, besser noch: Rechtsherstellung 143 zu betreiben haben, fUhrt jedoch nicht etwa, wie man vielleicht erwarten könnte, zu einer vollständigen Rechtskontrolle des tatrichterlichen Strafzumessungsaktes. Vielmehr gibt es auch nach dieser Ansichtl 44 einen Spielraum, innerhalb dessen es mehrere "richtige" Strafmaße im Einzelfall gebe. Um zu einem dieser schuldadäquaten Strafquanten zu gelangen, bedUrfe es "strafzumessungsrechtlicher Argumentation,,145 gemäß einer ausgearbeiteten und alle relevanten Topoi berUcksichtigenden Theorie der Strafzumessung. Bruns wendet sich ebenfalls gegen den Begriff des Ermessens und bevorzugt die Rede vom 'unbestimmten Rechtsbegriff'I46. Dabei 139 So auch Bottke, Strafrechtswissenschaftliche Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden und strafmildernden TäterverhaIten, 1979, S. 333 f. 140 Grasnick, Anm. zu BayOblG JZ 1992, 259, in: JZ 1992, S. 260 ff. Eine solche Vorstellung mag allenfalls früher vorgeherrscht haben, wenn etwa Lucas/Dürr, Anleitung zur strafrechtlichen Praxis. Erster Teil: Das formelle StrafrecJtt, 5. Aufl. 1931, S. 194, feststellen: "Bestimmte Regeln lassen sich ftlr die Strafzumessung natürlich nicht geben. Sie ist ihrer Natur nach völlig Ermessenssache." Vgl. auch Heinitz, Strafzumessung und Persönlichkeit, in: ZStW 63 (1951), S. 57 ff.; Henkel, Die "richtige" Strafe, 1969, S. 34 ff.; Stree, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 46 Rn. 7; v. Weber, Die richterliche Strafzumessung, 1956, S. 13. Wer vom "schöpferischen sozialen Gestaltungsakt" spricht, billigt dem Richter nicht nur ein ausftlllendes, abgeleitetes, sondern sogar ein - wenigstens teilweise - originäres Ermessen zu, vgl. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts AT, 4. Aufl. 1988, S. 780 und 786 (anders nunmehr in der von Weigend im Strafzumessungsteil bearbeiteten 5. Aufl. 1996, S. 871 ff.); Würtenberger, Kriminalpolitik im sozialen Rechtsstaat, 1970, S. 175 ff. 141 Grasnick, Anm. zu BayOblG JZ 1992,259, in: JZ 1992, S. 260. 142 So maßgeblich Bruns in seinen verschiedenen Monographien zum Strafzumessungsrecht, nämlich schon in Strafzumessungsrecht, 1967, S. 19 ff., fortgesetzt in der 2. Aufl. 1974, S. 25, und zuletzt in Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 2. Vgl. auch Gribbohm, in: LKiStGB, 11. Aufl. 1994, vor § 46 ff., Rn. 5. 143 Grasnick, Anm. zu BayOblG JZ 1992,259, in: JZ 1992, S. 260 ff. (261). 144 Grasnick, Anm. zu BayOblG JZ 1992,259, in: JZ 1992, S. 260 ff. (261), Fn. 12. 145 Grasnick, Anm. zu BayOblG JZ 1992,259, in: JZ 1992, S. 260 ff. (261). 146 Bruns, Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 29.
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mißversteht er augenscheinlich den verwaltungsrechtlichen Ermessensbegriff, den er mit 'freiem Ermessen' verbindet. Denn auch im Verwaltungsrecht ist der Entscheider an die Beachtung der rechtlichen Rahmenvorgaben, der gesetzlichen Wertungen, des Gebots der Sachgerechtigkeit und des Verbots der Willkür gebunden l47 . Nichts anderes kann vom strafzumessenden Richter verlangt werden, der einen weiten Strafrahmen anband genereller und einander auch teilweise widersprechender Strafzumessungsrichtlinien auszufilllen hat. Seine 'Ermessensausübung' ist deswegen nicht frei oder unkontrollierbar l48 . Solange die Entscheidung nur an einige Parameter gebunden ist, nicht aber zur bloßen Subsumtion tatsächlicher Umstände unter eine ein bestimmtes Strafinaß vorschreibende Norm gerät, ist die Entscheidung mehr als nur Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffs. Richtig verstanden ist auch die richterliche Ermessensausübung Rechtsanwendung. Der Gesetzgeber selbst beauftragt den Strafzumessenden in § 46 11 1 StGB, die filr und gegen den Täter sprechenden Umstände "abzuwägen". Der Abwägungsvorgang ist ebenfalls Rechtsanwendung und erschöpft sich nicht etwa in der bloßen Gegenüberstellung von Umständen 149 ohne deren argumentativ unterstützte Gewichtung und Einordnung. Gerade weil das Gesetz es vermeidet, abgesehen von den Strafrahmen und gelegentlichen Konkretisierungen in Regelbeispielen oder benannten Schärfungs- oder Milderungsgründen selbst eine Rangfolge der Wertigkeiten aufzustellen und Gewichtungen vorzugeben, verbleibt dem Tatrichter ein Raum, den er selbst ausfiUlen muß. Nicht gemeint ist mit Ermessen dagegen die freie Bestimmung irgend eines Ergebnisses ohne rechtliche Kriterien, ohne rechtliche Argumentation und ohne den Rückhalt in einer gesamtkonzeptionellen Strafzumessungstheorie JSO • Grasnicks und Bruns' Kritik entpuppt sich daher als ein bloßer Streit um Worte, der inhaltlich nicht weiterftlhrtl51. Denn auch wenn der strafzurnessende Richter Grasnicks Empfehlung des neunstufigen Wertungsmodells 152 folgt 147 Auf diese bedeutsame Einschränkung hat gerade im Hinblick auf die Verwendung des Ermessensbegriffs in der strafzumessungsrechtlichen Dogmatik schon Bottke, Strafrechtswissenschaftliche Methodik und Systematik bei der Lehre vom strafbefreienden und strafinildemden Täterverhalten, 1979, S. 333 f., hingewiesen. 148 In diesem Sinne auch Zipf, Die Strafzumessung, 1977, S. 76, den aber Bruns als Beleg rur die Berechtigung seiner Kritik am Ermessensbegriff nennt (Bruns, Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 62, Fußn. 73). Dieses Beispiel zeigt, daß eigentlich alle das Gleiche meinen und es sich nur um einen Streit um die Auslegung des Begriffs "Ermessen" handelt. 149 Vgl. m.w.Nachw. KroscheIIMeyer-Goßner, Die Urteile in Strafsachen, 26. Aufl. 1994, S. 148.
150 So auch Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 91. 151 In diesem Sinne äußerte sich auch schon v. Ohlshausen, Besprechung von H.-J. Koch, Unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessensermächtigungen im Verwaltungsrecht, in: NJW 1980, S. 113 f. (114). 152 Grasnick, Anm. zu BayOblG JZ 1992,259, in: JZ 1992, S. 260 ff. (262).
B. Strafzumessungsrecht in Rechtsprechung und Literatur
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und sich hierin argumentativ bewegt, verbleibt doch ihm zunächst die Aufgabe, den vorliegenden Fall in die jeweilige Schwereskala einzuordnen. Ob dieser Fall nun als minder schwer, mittelschwer oder besonders schwer einzustufen ist, mag aber gerade die Frage sein, zu der verschiedene Verfahrensbeteiligte unterschiedliche, argumentativ unterstützte Ansichten hegen mögen. Das gegenwärtige Gesetzesrecht gibt da - von den genannten Ausnahmen abgesehen - keine Hilfestellung. Ohne detaillierte Richtlinien oder faIlvertypte Wertungsvorgaben ist der Richter gezwungen, (Rechtsfolge-) Ennessen auszuüben. Ferner muß er schließlich in dem Spielraum, der ihm nach seiner Einordnung in eine der Stufen verbleibt, die Strafe festlegen. Auch hier gibt es keine Leitlinien und keine den konkreten Fall festschreibenden Vorgaben. Die Strategie, die Rede vom "Ennessen" zu venneiden und statt dessen von der "Rechtsanwendung" zu sprechen, dient eher dazu, vorhandene Defizite zu verdecken und falsche Erwartungen an die Vorhersehbarkeit und NachpTÜfbarkeit der Strafzumessungsentscheidung zu wecken. Auch Ennessensausübung ist ein Akt der Rechtsanwendung, weil sie R~geln gehorcht, Grenzen hat und rechtsargumentativ untennauert werden muß. Die Ennessensausübung nicht beim Namen zu nennen, leistet jedoch keinen positiven Beitrag zur Konkretisierung gesetzgeberischer Wertungen, sondern verschleiert, daß keine noch so ausgefeilte Theorie der Strafzumessung in der Lage ist, filr den Einzelfall maßgebliche Bewertungs- und Umrechnungskriterien anzugeben. 11. Systematisierung der Strafzumessungsentscheidung Noch als Bruns im Jahre 1974 die zweite und stark überarbeitete Auflage seiner auch heute noch als Standardwerk zu bezeichnenden GesamtdarsteIlung zum Strafzumessungsrechtl53 vorlegte, konstatierte er, daß zwar die Zeiten vorbei seien, in denen man die Strafzumessung als ein "unbeackertes Feld" bezeichnet habe und das Fehlen einer Wissenschaft vom Strafinaß beklagt habe, "allzu weit" sei man aber "seitdem nicht vorwärts gekommen."154 In der Tat sind in der Wissenschaft vielflUtige Anstrengungen zur Klärung einzelner Fragen oder zur Beilirderung der Systematik des Strafzumessungsrechts unter153 Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974. Als eine der hundert "wichtigsten Monographien der deutschen Strafrechtswissenschaft aus dem 20. Jahrhundert" und als "Standardwerk" hat sie in einer Besprechung BottJre, in: MschrKrim 63 (1980), S. 310 ff. bezeichnet. 154 Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 11. Schon zwanzig Jahre früher hatte Spendei, Zur Lehre vom Strafmaß, 1954, festgestellt, daß es eine "eigentliche Lehre von der (richterlichen) Strafzumessung im rechtsdogmatischen Sinne als Theorie der innerhalb der gesetzlichen Strafrahmen zu fixierenden angemessenen StrafgrOße, von gewissen Ansätzen abgesehen, nicht gibt." (S. 20).
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Teil 1: Strafzumessungsrecht in Deutschland de lege lata
nommen worden. Allerdings haben sich bestimmte Fehler der Gerichte bei der Strafzumessung "geradezu als unausrottbar"155 erwiesen. Durch die vennehrte und intensivere wissenschaftliche Durchdringung der Materie erschlossen sich zudem weitere offene Fragen und erzeugten neuen Klärungsbedarf. Daher sprach Bruns jedenfalls 1974 noch von der ,,Rückständigkeit