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German Pages 280 Year 2014
Sabine Hess, Nikola Langreiter, Elisabeth Timm (Hg.) Intersektionalität revisited
Kultur und soziale Praxis
Sabine Hess, Nikola Langreiter, Elisabeth Timm (Hg.)
Intersektionalität revisited Empirische, theoretische und methodische Erkundungen
Mit freundlicher Unterstützung von:
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Satz: Natalie Bayer Lektorat: Sabina Auckenthaler Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1437-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
EINFÜHRUNG Editorial: Tagung Macht Thema
Nikola Langreiter und Elisabeth Timm | 9 Intersektionalität aus der Perspektive der Europäischen Ethnologie
Beate Binder und Sabine Hess | 15
INTERSEKTIONALITÄT IN DER D ISKUSSION Intersektionalität als kritisches Werkzeug der Gesellschaftsanalyse. Ein E-Mail-Interview mit Nina Degele und Gabriele Winker
Nikola Langreiter und Elisabeth Timm | 55 Intersektionalität oder: Wie nicht über Rassismus sprechen?
Encarnación Gutiérrez Rodríguez | 77 Von den Kämpfen aus. Eine Problematisierung grundlegender Kategorien
Isabell Lorey | 101
E MPIRISCHE H ERAUSFORDERUNGEN Hauptschule: Formationen von Klasse, Ethnizität und Geschlecht
Stefan Wellgraf | 119 Intersektionalität, Männlichkeit und Migration – Wege zur Analyse eines komplizierten Verhältnisses
Paul Scheibelhofer | 149
Weiblich, proletarisch, tschechisch: Perspektiven und Probleme intersektionaler Analyse in der Geschichtswissenschaft am Beispiel des Wiener Textilarbeiterinnenstreiks von 1893
Christian Koller | 173 Intersektionalität oder borderland als Methode? Zur Analyse politischer Subjektivitäten in Grenzräumen
Stefanie Kron | 197 »Sitting at a Crossroad« methodisch einholen. Intersektionalität in der Perspektive der Biografieforschung
Elisabeth Tuider | 221
KOMMENTAR Von Herkünften, Suchbewegungen und Sackgassen: Ein Abschlusskommentar
Gudrun-Axeli Knapp | 249 Autorinnen und Autoren | 273
Einführung
Editorial: Tagung Macht Thema N IKOLA L ANGREITER UND E LISABETH T IMM
Die Frauen- und Geschlechterforschung hat seit den 1970er Jahren mit der Frage nach Erscheinungsformen, Konstruktionen und Politiken von Geschlecht für alle sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen einen neuen Untersuchungsgegenstand sowie eine neue analytische Kategorie entwickelt. Schon bald nach der Etablierung der Kategorie ›Geschlecht‹ allerdings meldeten sich kritische Stimmen dazu, vor allem im angloamerikanischen Raum und überwiegend ausgehend von sozialen Bewegungen. Diese Stimmen warnten zum einen vor einer Homogenisierung und wiesen vehement auf die Heterogenität, Komplexität und Relationalität der soziokulturellen Kategorie Geschlecht in Bezug auf andere Kategorien der Strukturierung und symbolischen Repräsentation hin. Zum anderen wurde der Feststellungseffekt von Kategorien als analytischen Werkzeugen grundsätzlich problematisiert. Unter dem Begriff ›Intersektionalität‹ hat sich in der internationalen Geschlechterforschung infolge eine Perspektive formiert, die insbesondere die Einsicht der Interdependenz der Kategorie Geschlecht zum Programm macht und kritisch erörtert: Ein Gegenstand ist stets auf die Schnittpunkte, auf das je spezifische Verhältnis beziehungsweise die Wechselwirkungen von – insbesondere – Geschlecht, Klasse und Ethnizität hin zu untersuchen. Theorie und Programm von Intersektionalität werden seit längerem intensiv diskutiert – methodologische Fragen und methodische Zugänge werden entworfen; erste empirische Operationalisierungen liegen vor. Eine Auseinandersetzung mit den Einwänden der Blackness/Whiteness Studies wird eingefordert, ebenso wie mit jenen der Disability Studies, mit der Frage nach der Kategorie ›Alter‹ oder mit der Problemstellung der Queer
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Studies nach der Ordnung des Begehrens, die mit bisherigen Konzepten von Geschlecht nicht adäquat zu fassen war. Als die Kommission für Frauenund Geschlechterforschung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde im Jahr 2007 mit den Planungen für ihre 12. Arbeitstagung begann, befand sich die Debatte zur Intersektionalität, genauer: die deutschsprachige Debatte zur Intersektionalität, an einem Punkt, an dem die Schwelle zu Überblicksdarstellungen und Lehrbüchern überschritten wurde.1 Mit der Themenwahl »Intersectionality – Theorien, Methoden, Empirien« stützte die Tagung einerseits diese Entwicklung – etwa mit der Diskussion von Anwendungen und Fallstudien des Konzepts Intersektionalität. Andererseits war es uns ein Anliegen, die Genealogie der Intersektionalität im Blick zu behalten – und zu einer Genealogie zählen nicht nur die als Erfolgsgeschichte geschriebene Entwicklung, die zu dem führt, was gemeinhin als »Kanon« bezeichnet oder mit Thomas Kuhn »normale Wissenschaft« genannt wird, sondern vor allem auch die Auslassungen2 und blinden Flecken und Abdrängungen auf dem Weg zu einer derartigen Etablierung. Solche Auslassungen, blinden Flecken und Abdrängungen und die Kämpfe um deren Sichtbarhalten, um die Reflexion von allzu schnell geschriebener Geschichte fruchtbarer Ansätze verweisen stets darauf, dass Wissen wie Wissenschaft stets aus gesellschaftlicher Situiertheit hervorgehen und mit dieser immer verbunden bleiben.3 So ist ein weiterer – und in den Beiträgen dieses Bandes
1
Nur z.B. Klinger, Cornelia; Knapp, Gudrun-Axeli; Birgit Sauer (Hg.): Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität. Frankfurt a.M. 2007. Walgenbach, Katharina; Dietze, Gabriele; Hornscheidt, Antje; Palm, Kerstin: Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Opladen 2007. Winker, Gabriele; Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld 2009.
2
Kuhn, Thomas: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a.M.
3
Diese Spannung bilden auch die Erscheinungsorte der Tagungsberichte ab: Ell-
1976, S. 18. meier, Andrea: Tagungsbericht Intersectionality. Theorien, Methoden, Empirien. 18.06.2009–20.06.2009, Wien. In: H-Soz-u-Kult, 28.10.2009, unter , Zugriff: 10.2.2011; Yun, Vina: Der Hype um Intersektionalität. In: an.schläge. Das feministische Magazin 10 (2009), S. 39; Hofmann, Natascha: Thinking or Doing Intersectionality? 12. Arbeitstagung der Kommission für Frauen- und Geschlechterforschung der
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präsenter – Hintergrund der aktuellen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Konzept Intersektionalität und seinen Derivaten die gesellschaftliche und sozialpolitische Praxis. Problematisiert wird hier insbesondere, dass die Analyse diverser sozialer Kategorien als in sich homogenen, geschlossenen und separaten Entitäten unzulänglich ist und praktisch in der Marginalisierung ihrer Auswirkungen, in weiteren multiplen Diskriminierungen resultiert.4 Während in den Institutionen und Körperschaften zum Teil noch »analytische Verwirrungen« herrschen, wie Nira Yuval-Davis diagnostiziert,5 streiten (feministische) Wissenschaftlerinnen über Beschaffenheit, Definition und Anzahl der mit einzubeziehenden Kategorien, über die adäquate Metaphorik (Kreuzungen, Verschränkungen, Achsen der Ungleichheit) und allgemeiner über den Wert von Empirie und Theorie oder Reflexion. Das Organisationsteam der Wiener Tagung (Manuela Barth, Sabine Hess, Nikola Langreiter, Elisabeth Timm) hat bei der Konzipierung des Programms keine Notwendigkeit gesehen, die vorgefundene Spaltung zwischen kritische Reflexion und empirisch-analytischer Perspektive von Intersektionalität fortzuführen. Und obwohl es sich um die Arbeitstagung einer Fachkommission der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde handelte, wollten wir diese nicht disziplinär begrenzen, sondern öffnen für einen thematisch fokussierten Austausch zwischen den sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen, in denen sich durchaus unterschiedliche Formen der Auseinandersetzung mit Intersektionalität finden: Von der eher kanonisierend und systematisierend arbeitenden Soziologie (Nina Degele und Gabriele Winker) über die kulturtheoretisch erweiterte Sozialgeschichte (Christian Koller/über einen vor allem von tschechischen Textilarbeiterinnen getragenen Streik in Wien 1893)
Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, Wien, 18.–20. Juni 2009. In: Zeitschrift für Volkskunde 106, 1 (2010), S. 82–86. 4
Vgl. Yuval-Davis, Nira: Intersektionalität und feministische Politik. Aus dem Engl. von Regine Othmer. In: Feministische Studien 1 (2009), S. 51–65; vgl. dazu auch die – in Deutschland heftig diskutierte – 5. Gleichstellungsrichtlinie KOM (2008) 426, die vom EU-Parlament im April 2009 beschlossen wurde und dem Grundsatz der Gleichbehandlung ungeachtet von Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Lebensalters oder der sexuellen Ausrichtung verpflichtet ist, unter: , Zugriff: 10.2.2011.
5
Yuval-Davis: Intersektionalität (wie Anm. 4), S. 64.
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ohne explizit formulierte Methodiken bis hin zur Politikwissenschaft und Philosophie und deren Befragungen nach den ungewollten Effekten des Forschens mit/nach Kategorien (Isabell Lorey). Die methodischen Herausforderungen, die sich in Verbindung mit Intersektionalität stellen, nahmen vor allem Stefan Wellgraf mit einer ethnografischen Untersuchung über Berliner HauptschülerInnen und Elisabeth Tuider mit einer dichten Reflexion über die produktive Verbindung von Intersektionalität und Biografieforschung im Zuge einer Studie zu Transgender-Personen in Mexiko an. Als weitere Schwerpunkte kristallisierten sich nicht nur Themen aus dem Bereich der Biografieforschung, sondern vor allem auch der Migrationsforschung heraus. Zum letztgenannten Feld trugen Stefanie Kron mit einer Arbeit über politische Subjektivitäten in den Grenzräumen der Amerikas, der schon erwähnten Historiker Christian Koller sowie Paul Scheibelhofer bei, der sich mit Möglichkeiten der produktiven (intersektionalen) Analyse von Männlichkeit und Migration anhand des Bildes/Narrativs vom »türkisch-muslimischen Mann« befasst. Auf den call for papers vom Juni 2008 haben wir 30 Einsendungen erhalten und davon 13 Beiträge für die Tagung im Juni 2009 ausgewählt Für den öffentlichen Abendvortrag konnten wir Encarnación Gutiérrez Rodríguez gewinnen; dieser Abend und die Tagung insgesamt wurde von Christa Schnabl, Theologin und Vizerektorin der Universität Wien, engagiert eröffnet. Ebenso wie Gutiérrez Rodríguez sind die Keynote-Sprecherinnen Nina Degele und Gabriele Winker in diesem Band vertreten; Letztere mit einem Interview, in dem sie ihren Zugang einer intersektionalen »Mehrebenenanalyse« zum einen erläutern, zum anderen zu vielen während der Wiener Tagung geäußerten Diskussions- und Kritikpunkten Stellung nehmen. Gudrun-Axeli Knapp reflektiert in ihrem Schlusskommentar zum einen die Intersektionalitätsdebatte eingebettet in die Kontexte feministischer Grundlagenkritik, zum zweiten fasst sie kritisch die Erträge der Wiener Konferenz zusammen.6 Nicht nur die Einsendungen auf den call for papers,7 sondern auch die Resonanz auf die Tagung in Wien mit rund 100 Teilnehmenden und einem vom ersten Abendvortrag bis zu den Schlusskommentaren von Gudrun-
6
Auf eine schriftliche Fassung des abschließenden Kommentars aus europäischethnologischer Perspektive von Michi Knecht mussten wir leider verzichten.
7
Call for papers und Tagungsprogramm unter , Zugriff: 10.2.2011.
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Axeli Knapp und Michi Knecht (Berlin) stets gefüllten Saal und die intensiven Diskussionen dokumentierten das Interesse am Versuch, sowohl nach der Forschungsinspiration der eben zu Theorie, Methode, Empirie gewordenen Intersektionalität zu fragen als auch skeptisch zu thematisieren, zu welch fragwürdigem Rücklauf und zu welchen Effekten solche KonzeptSetzungen führen, indem sie erfundene Kategorien als vorgefundene soziale und kulturelle Ordnungen missdeuten können. Räumliche und personelle Ressourcen für all das haben das Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München und das Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien bereitgestellt. Insbesondere zu danken haben wir Natalie Bayer für die Gestaltung der Tagungsunterlagen und des Bandes; Monika Breit, Karoline Boehm, Laura Hompesch und Corina Lueger für den wohl organisierten Ablauf von Tagung, Verpflegung und Technik; Magdalena Puchberger, Anja Schwanhäusser und Ove Sutter für ihre Unterstützung bei den Vorbereitungen. Finanziell gefördert und damit überhaupt ermöglicht haben die Tagung die Universität Wien – mit Frauenförderung & Gleichstellung und dem Dekanat der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät –, die Abteilung für Wissenschaftsförderung der Stadt Wien und das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Österreich sowie die Münchner Vereinigung für Volkskunde. Dass ausgewählte Beiträge der Tagung nun gedruckt erscheinen können, verdankt sich dem Mentoringprogramm für Frauen an der Universität München im Kontext von »LMUexzellent«. Und schließlich möchten wir Sabina Auckenthaler für das genaue und durchdachte Lektorat danken.
Intersektionalität aus der Perspektive der Europäischen Ethnologie B EATE B INDER UND S ABINE H ESS
I NTERSEKTIONALITÄT –
EINE
E RFOLGSGESCHICHTE !?
Intersektionalität, so lässt sich ohne allzu viel Übertreibung behaupten, ist in den letzten Jahren zu einem dominanten Konzept in der Frauen- und Geschlechterforschung geworden.1 Damit ist eine machtsensible Perspektive in den Gender- wie auch den Queer Studies2 bestimmend, die zum einen aner-
1
Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass keiner der in den letzten Jahren erschienenen Sammelbände zur Geschlechterforschung ohne einen Artikel auskommt, der explizit Intersektionalität thematisiert; vgl. u.a. Kurz-Scherf, Ingrid u.a. (Hrsg.): Feminismus: Kritik und Intervention. Münster 2009; Lutz, Helma (Hrsg.): Gender Mobil. Münster 2009; Reuter, Julia/Villa, Paula-Irene (Hrsg.): Postkoloniale Soziologie. Bielefeld 2010.
2
Wir gehen in unseren Überlegungen nur kursorisch auf die Interventionen der Queer Studies ein, in denen spezifische Anstöße der Intersektionalitätsdebatte weiterentwickelt wurden, wie die grundlegende Infragestellung dichotomer Kategorisierungen, die Zentralität von Sexualität und die grundsätzliche Destabilisierung von Normierungen und Normalisierungen, insbesondere von Heteronormativität. Grundlegend vgl. Dietze, Gabriele/Haschemi Yekani, Elahe/Michaelis, Beatrice: »Checks and Balances«: Zum Verhältnis von Intersektionalität und Queer Theory. In: Walgenbach, Katharina u.a. (Hrsg.): Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Opladen/
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kennt, dass Gender nicht unabhängig von weiteren Herrschaftsverhältnissen und Normierungspraktiken gedacht werden kann, und die zum anderen auf die wirklichkeitsgenerierenden Effekte von Forschungskonzeptionalisierungen mit einer verstärkten Reflexivität antwortet. Intersektionale Ansätze gehen von der Komplexität von Macht- und Herrschaftsverhältnissen aus: Sie fragen programmatisch nach der Simultanität sozial wirksam werdender Kategorisierungen, fokussieren deren Wechselverhältnisse und Überschneidungen. Neben dem Konzept der Intersektionalität, wie es in seiner direkten Begrifflichkeit von der Rechtstheoretikerin Kimberlé Crenshaw3 formuliert worden ist, kursieren eine ganze Reihe weiterer »Durchkreuzungsansätze«4 und analytischer Netz-Metaphoriken, die die Verwobenheit, Verknüpfung, Verquickung und/oder Verschränkung von Kategorisierungen5 betonen. Im Kern ist allen Konzeptionalisierungen gemeinsam, dass sie Kategoriensysteme als sich kreuzende, überschneidende, überlagernde »Linien«, »Achsen« oder »Architekturen« einer komplexen Macht-Matrix6 vorstellen und/oder die in-
Farmington Hills 2007, S. 107–139, die von Konvergenzen und Divergenzen zwischen Queer Theory und Intersektionalität sprechen. 3
Crenshaw, Kimberlé: Mapping the Margins. Intersectionality, Identity Politics and Violence against Women of Colour. In: Stanford Law Review 43 (1991), S. 1241–1299.
4
Brigitte Kossek spricht von »Durchkreuzungsansätzen«, vgl. Kossek, Brigitte: Rassismen & Feminismen. In: Fuchs, Brigitte/Habinger, Gabriele (Hrsg.): Rassismen & Feminismen. Differenzen, Machtverhältnisse und Solidarität zwischen Frauen. Wien 1996, S. 11–22, S. 13f.
5
Hier wären u.a. zu nennen: Encarnación Gutiérrez Rodríguez’ Beitrag für diesen Band oder Hess, Sabine/Linder, Andreas: Antirassistische Identitäten in Bewegung. Tübingen 1997; Lutz, Helma: Die »24-Stunden-Polin« – Eine intersektionelle Analyse transnationaler Dienstleistungen. In: Klinger, Cornelia/Knapp, Gudrun-Axeli/Sauer, Brigitte (Hrsg.): Achsen der Ungleichheit. Frankfurt a.M./ New York 2007, S. 210–235.
6
Aus dem deutschsprachigen Kontext spricht beispielsweise Ilse Lenz von »Achsen der Ungleichheit«, vgl. Lenz, Ilse: Geschlecht, Klasse, Migration und soziale Ungleichheit. In: Lutz: Gender (wie Anm. 1), S. 52–68; Cornelia Klinger und Gudrun-Axeli Knapp kombinieren in ihrem Aufsatz beide Begrifflichkeiten: »Achsen der Ungleichheit – Achsen der Differenz«. In: Transit – Europäische Revue 29 (2005), unter: , Zugriff 7.12.2010; das Autor_innenkollektiv um Katharina Pühl schreibt von »Schnittstellen«, vgl. Pühl, Katharina/Paulitz, Tanja/Marx, Daniela/Helduser, Urte: Under Construction? Konstruktivistische Perspektiven in feministischer Theorie und Forschungspraxis – zur Einführung. In: Dies. (Hrsg.): Under Construction? Konstruktivistische Perspektiven in feministischer Theorie und Forschungspraxis. Frankfurt a.M. 2004, S. 11–30. 7
Walgenbach, Katharina: Gender als interdependente Kategorie. In: Dies. u.a.:
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Brah, Avtar: Difference, Diversity and Differentiation. In: Donald, James/Rattan-
Gender (wie Anm. 2), S. 23–64, S. 59ff. sani, Ali (Hrsg.): »Race«, Culture and Difference. London/New Dehli 1993, S. 126–145. 9
Kossek: Rassismen (wie Anm. 4), S. 13.
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igkeit aus der Welt der feministischen (Selbst)Kritik«.10 Ähnlich argumentieren Ann Phoenix und Pamela Pattynama im Editorial der Ausgabe der »European Journal of Women’s Studies« zu Intersektionalität, wenn sie schreiben: »the concept is popular because it provides a concise shorthand for describing ideas that have, through political struggles, come to be accepted in feminist thinking and women’s studies scholarship [...] Intersectionality is thus useful as a handy catchall phrase that aims to make visible the multiple positioning that constitutes everyday life and the power relations that are central to it.«
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Doch lassen die nicht abflauenden Kontroversen um das Konzept der Intersektionalität auch Zweifel an dessen Erfolgsgeschichte aufkommen. Mit Ann Phoenix und Pamela Pattynama ist daher zu fragen: »Why are so many feminist both attracted to, and repelled by intersectional analyses?«12 So sehen einige Theoretiker_innen die Karriere des Konzepts der Intersektionalität und insbesondere seine Institutionalisierung in Form von »Arbeitsprogrammen«, wie es Nina Degele und Gabriele Winker auch in dem in diesem Band abgedruckten Interview ausführen, skeptisch – als eine Aushöhlung der eigentlich intendierten analytischen Befassung mit der Multiplizität von Machtverhältnissen sowie einer Verdrängung seiner politisch-
10 Knapp, Gudrun-Axeli: Resonanzräume – Räsonierräume. Zur transatlantischen Reise von Race, Class und Gender. In: Lutz Helma (Hrsg.): Gender (wie Anm. 1), S. 215–233, S. 221. 11 Phoenix, Ann/Pattynama, Pamela: Editorial. In: European Journal of Women’s Studies: Intersectionality 13, 3 (2006), S. 187–192. Kimberlé Crenshaw zeigte sich bei ihrem Vortrag »Historicizing Intersectionality: A Disciplinary Tale« im November 2009 im Rahmen der Ringvorlesung »Wissenskulturen. Postkoloniale und queertheoretische Perspektiven« an der Humboldt-Universität zu Berlin verwundert über die Karriere wie auch die Diskussionswege ihres Konzepts und betonte, dass einer Schlüssel für »transformative work« im Verstehen des politischen Gehalts wie der disziplinären Grundlegung bestimmter Ideen liege. 12 Phoenix/Pattynama: Editorial (wie Anm. 11), S. 187.
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widerständigen Implikationen.13 Ein zentrales Argument hebt insbesondere hervor, dass die Bedeutung des Black Feminism und der Kritik von Women of Colour am weißen, bürgerlichen feministischen Projekt für die Formierung des intersektionalen Ansatzes aus den unzähligen Nachfolgestudien herausgeschrieben würde. Damit gehe, so wird ferner befürchtet, ebenso eine Relativierung der Rassismusanalyse einher, worauf auch Encarnación Gutiérrez Rodríguez in ihrem Beitrag in diesem Band eingeht.14 Die Debatte ist inzwischen unübersichtlich und setzt an vielfältigen Punkten an: Angefangen vom Begriff der Intersektionalität selbst15 über die mit dem Konzept verbundenen Epistemologien bis hin zu den empirischmethodologischen Umsetzungsweisen wird die Frage nach der durch Intersektionalität initiierten Wissensproduktion gestellt. Die Diskussion berührt ferner die durch intersektionale Perspektiven privilegierte Fokussierung auf Identitätskonstruktionen sowie umgekehrt den Vorwurf des Unsichtbarmachens von politischen Kämpfen und sozialen Konflikten. Auch wird die intersektionale Perspektive grundsätzlich – trotz gleichzeitiger Anerkennung der grundlegenden Problemstellung – hinsichtlich ihrer Produktivität für die Analyse von Unterdrückungsmechanismen und Herrschaftsverhält-
13 So argumentieren auch Engel, Antke/Schulz, Nina/Weiß, Juliette: Kreuzweise queer. In: feminia politica 1 (2005), Queere Politik: Analysen, Kritik, Perspektiven, S. 9–22. 14 Vgl. u.a. auch: Erel, Umut/Haritaworn, Jinthana/Gutiérrez Rodríguez, Encarnación/Klesse, Christian: Intersektionalität oder Simultanität?! Zur Verschränkung und Gleichzeitigkeit mehrfacher Machtverhältnisse – eine Einführung. In: Hartmann, Jutta u.a. (Hrsg.): Heteronormativität. Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht. Wiesbaden 2007, S. 239–250; Haritaworn, Jinthana: Am Anfang war Audre Lorde. Weißsein und Machtvermeidung in der queeren Ursprungsgeschichte. In: feminia politica 1 (2005), Queere Politik: Analysen, Kritik, Perspektiven, S. 22–35, S. 24ff. 15 Insbesondere der Begriff der Intersektion selbst steht dabei nachhaltig unter Kritik, impliziert doch das Bild der Kreuzung die Annahme eines nur punktuellen Zusammentreffens von Kategorisierungen und vernachlässigt damit die integrale Verwobenheit – hier setzt etwa der Band »Geschlecht als interdependente Kategorie« an; vgl. Walgenbach u.a.: Gender (wie Anm. 2).
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nissen in Frage gestellt, wie es beispielsweise Isabell Lorey in diesem Band ausführt. 16 Der Wunsch nach einer kritischen Bestandsaufnahme von Genese, Kontroversen und Erkenntnismöglichkeiten des Konzepts inspirierte auch die 12. Arbeitstagung der Kommission Frauen- und Geschlechterforschung in der dgv, die 2009 am Institut für Europäische Ethnologie in Wien stattfand. Der Tagungstitel »Intersectionality – Theorien, Methoden, Empirien« deutete jedoch auch auf den Versuch hin, neben der theoretischen wie theoriegeleiteten Auseinandersetzung einen Schwerpunkt auf die Übertragung intersektionaler Perspektiven in empirische Forschungen und methodische Ausarbeitungen zu legen. Auch wenn aus dem engeren Bereich der Volkskunde/Europäischen Ethnologie nur wenige forschungsbasierte Papiere eingereicht wurden, zeugen die nun hier vorliegenden Beiträge von der Produktivität einer intersektionalen Perspektive auch und gerade für ethnografisches Arbeiten. Neben einer fruchtbaren Anwendung und ernst zu nehmenden empirischen Fundierung des Konzepts gehen dabei viele Empirien über das fixe kategoriale Denken von Intersektionalität hinaus und geben offeneren, fluideren Ansätzen den Vorzug, wie in diesem Band die ethnografischen, historischen und biografieorientierten Beiträge von Christian Koller, Elisabeth Tuider, Stefan Wellgraf oder Stefanie Kron. Die gerade in den empirischen – ethnografisch, biografisch oder historisch ausgerichteten – Forschungen deutlich werdenden erkenntnistheoretischen Möglichkeiten des Ansatzes wie die dabei zu Tage tretenden Auslassungen, Engpässe und Re-Fixierungen bilden im Folgenden den Ausgangspunkt für unsere Überlegungen. Uns interessiert dabei zweierlei: Zum einen möchten wir einen genealogisch inspirierten und an zentralen Punkten anknüpfenden Blick auf die interdisziplinäre Debatte um Intersektionalität wagen, um deren Herausforderungen für eine kulturanthropologische/europäisch ethnologische Geschlechterforschung zu skizzieren. Zum anderen wollen wir die intersektionale Analyse aber auch mit kulturanthropologischen Ansätzen konfrontieren. Wir werden darlegen, wie intersektionales Arbeiten durch jene in der internationalen Kulturanthropologie virulenten methodologischen wie theoretischen Diskussionen erweitert und verscho-
16 Vgl. dazu auch z.B. Conaghan, Joanne: Intersectionality and the Feminist Project in Law. In: Grabham, Emily u.a. (Hrsg.): Intersectionality and Beyond. Law, Power and the Politics of Location. Abingdon 2009, S. 21–48.
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ben werden könnte, die ebenfalls die Multiplizität von Positionen und Positionierungen von Akteur_innen in einer sich zunehmend komplexer gestaltenden und/oder in ihrer Komplexität wahrgenommenen Machtmatrix thematisieren. Jene neueren Ansätze wie etwa der der »Assemblage«17 stellen nicht nur einen analytischen Versuch dar, den Herausforderungen der ökonomischen und politischen weltweiten Restrukturierungen durch komplexere Konzeptionalisierungen gerecht zu werden, sondern ermöglichen, die Situativität sowie die Verortung von Phänomenkonstellationen in historisch wie geopolitisch spezifischen Kontexten18 multiskalar zu erfassen.
D AS N ARRATIV
DER
H ERKUNFT
Auch wenn von vielfältigen Begründungen und Genealogien intersektionaler Perspektiven auszugehen ist, wie schon unser Einstieg deutlich machen sollte, ist das Terrain der Historisierung zu einem zentralen Schauplatz geworden, auf dem Kontroversen um Intersektionalität und anverwandte machtanalytische Perspektivierungen ausgetragen werden. Zugleich hat sich inzwischen so etwas wie eine Ursprungserzählung herausgebildet. Wenn wir im Folgenden diese Herkunftsgeschichte reflektieren, dann lehnen wir uns an Michel Foucaults Begriff der Genealogie an. Dieser Perspektive geht es nicht um eine chronologisch ›richtige‹ Herleitung – vielmehr rücken Bruchstellen und Wandlungsprozesse in den Blick, die wir mit Foucault als Folge von Kämpfen in den Feldern von Macht und Wissen verstehen.19 Wir nutzen diesen Ansatz, ohne dem damit verbundenen umfassenden
17 Ong, Aihwa/Collier, Stephen J. (Hrsg.): Global Assemblages: Technology, Politics, and Ethics as Anthropological Problems. Malden/Oxford 2005. 18 Wir beziehen uns auf Encarnación Gutiérrez Rodríguez’ Bezeichnungspraxis der ›Spezifikas‹, die sie in ihrem Beitrag für diesen Band benennt. 19 Vgl. Keller, Reiner: Michel Foucault. Konstanz 2008, S. 71ff.; Foucault, Michel: Was ist Kritik? Berlin 1992. Die Methodik der »Genealogie« entwickelt Foucault in seinen späten Arbeiten und grenzt sie von der »Archäologie« früherer Arbeiten ab. War dort die Suche nach einem Ursprung von Phänomenkonstellationen das Ziel, geht es in Foucaults genealogischen Arbeiten explizit um Wandelprozesse, um die Entstehung und Formierung verschiedenster Problematisierungen (wie etwa dem Wahnsinn oder dem Regieren). Herausgearbeitet
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Forschungsprogramm annähernd gerecht werden zu können. Doch scheint uns gerade das Narrativ, mit dem die intersektionale Perspektive historisiert wird, ein deutliches Beispiel für das Ringen um Deutungsmacht und legitime Sprecher_innen-Positionen im heterogenen Feld der Gender Studies zu sein, die sich anscheinend aus der (Normativität der) ›richtigen Ursprungserzählung‹ ableiten lassen. Deutlich kreisen die Debatten wie bei keinem anderen derzeit virulenten analytischen Konzept insbesondere um die Nicht-/Anerkennung des Beitrag von minorisierten Frauen, seien es Schwarze, Women of Colour oder migrantische Wissenschaftler_innen, und die damit verbundenen epistemologischen wie auch politischen Implikationen des Ansatzes. Die Bezugnahme ist jedoch im Kontext der deutschsprachigen Gender Studies – und nur über ihn können wir sprechen – durch ein Paradox gekennzeichnet: So können offensichtlich sowohl die Nicht-Beachtung, das Beschweigen, wie es Umut Erel, Jinthana Haritaworn, Encarnación Gutiérrez Rodríguez und Christian Kleese skizzieren,20 als auch die gebetsmühlenartige Benennung, wie sie Isabell Lorey in ihrem Beitrag zu diesem Band betont, zu einer Verdrängung und Immunisierung gegenüber den Implikationen der Kritik Schwarzer Frauen, Women of Colour sowie von Migrant_innen am weißen bürgerlichen Mainstream der Frauen- und Geschlechterforschung führen. Dieser Widerspruch wird vornehmlich durch die bis heute ausbleibende (strukturelle) Selbstverständlichung des Beitrags und der Perspektive von minorisierten Subjekt- und Wissenspositionen im Feld wissenschaftlicher Wissensproduktion erzeugt, wie es Gutiérrez Rodríguez in ihrem Beitrag für diesen Band betont. Dabei könnte im deutschsprachigen Kontext die Genese der intersektionalen Perspektive auch ganz anders erzählt werden, indem die Vernachlässigung sozialer Positionierungskämpfe sowie vice versa das Aufbrechen klassenanalytischer Perspektivierungen an den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung um eine komplexe Machtanalytik gestellt werden. So kann Katharina Walgenbach in ihrer historischen Rekonstruktion von Intersektionalitätsansätzen bereits bei Akteurinnen der Ersten Frauenbewegung Anfang des letzten Jahrhunderts auf intersektionale Perspektiven hinweisen. Sie stellt Auszüge aus Texten von Clara Zetkin vor, in de-
wird aber nicht eine historische Kontinuitätslinie, sondern es interessieren Bruchstellen und Verschiebungen. 20 Vgl. Erel u.a.: Intersektionalität (wie Anm. 14), S. 239.
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nen Zetkin etwa die bürgerliche Frauenbewegung dafür kritisiert, dass sie in ihren Theoretisierungen den Zusammenhang von Geschlecht und Klasse negiert. 21 Und auch in der Zweiten Frauenbewegung inspirierte in den 1970er und 1980er Jahren eine ähnliche, wenn auch gewissermaßen umgekehrt wirkende Konfliktlinie die beginnende Frauen- und Geschlechterforschung. 22 Die im Kontext der Studenten- und marxistischen Bewegung dominant werdende klassenanalytische Perspektive auf Gesellschaft stellte – durchaus mit Blick auf weltweit wirksame Ausbeutungsverhältnisse – soziale Differenz- und Ausschlussmechanismen ins Zentrum.23 Die Frauen- und Geschlechterforschung positionierte sich zunächst in diesem Kontext und versuchte, wie beispielsweise Claudia von Werlhof, Frauenarbeit als »blinden Fleck« in der Kritik der politischen Ökonomie sichtbar zu machen, wobei eurozentrische Tendenzen durchaus mitreflektiert wurden. 24 Ziel dieser Ansätze war es, Geschlecht in die Theoriebildung einzuschreiben und Handlungs- und Erfahrungsräume von Frauen (und Männern) im Kontext gesellschaftlicher Dominanzverhältnisse sichtbar zu machen. Dabei wurde zum einen herausgearbeitet, wie die (marxistisch fundierte wie auch andere) Theoriebildung männliche Erfahrungsweisen privilegierte – so konstatierte Carola Lipp auf der zweiten Tagung der Kom-
21 Vgl. Walgenbach: Gender (wie Anm. 7), S. 25; ähnlich argumentiert Rommelspacher, Birgit: Intersektionalität – über die Wechselwirkung von Machtverhältnissen. In: Kurz-Scherf, Ingrid u.a. (Hrsg.): Feminismus: Kritik und Intervention. Münster 2009, S. 81–96, S. 81f. 22 Dies ist insofern interessant, als es historisch auch eine primäre Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus, Rassismus und Nationalsozialismus hätte sein können. 23 Vgl. Werlhof, Claudia von: Frauenarbeit: Der blinde Fleck in der Kritik der politischen Ökonomie. Bielefeld 1978; Beer, Ursula: Theorien geschlechtlicher Arbeitsteilung. Frankfurt a.M./New York 1984; auch in der US-amerikanischen Kulturanthropologie war in Teilen der Versuch, marxistische Ansätze mit patriarchatskritischen zu verbinden, zentral, vgl. Rosaldo, Michelle/Lamphere, Louise (Hrsg.): Woman, Culture and Society. Stanford 1989. 24 Werlhof: Frauenarbeit (wie Anm. 23), z.B. S. 20.
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mission für Frauenforschung in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde25 1986 in Freiburg: »Obwohl viele feministische Forscherinnen, auch ich, partiell mit marxistischen Ansätzen arbeiten, ist diese Theorie mit ihrem überwiegend politökonomisch fundierten Kategorialsystem ein typisches Beispiel dafür, wie Frauen unsichtbar gemacht wer26
den.«
Zum anderen wurden aber gleichzeitig generalisierende Patriarchatskonzepte kritisiert und dekonstruiert: »Wo Männerdominanz absolut gesetzt wird, werden sowohl Handlungsspielräume von Männern und Frauen wie auch strukturelle gesellschaftliche Zusammenhänge ignoriert; Gewaltverhältnisse erscheinen einförmig; es wird nicht mehr differenziert zwischen der gesellschaftlichen Organisation und Institutionalisierung männlicher Vorherrschaft, ihrer kulturellen Modellierung und Legitimation und der alltäglichen 27
Lebenspraxis verschiedener sozialer Gruppen.«
Diese Fragen wurden auch unter den für die empirisch kulturwissenschaftliche Frauen- beziehungsweise Geschlechterforschung wegweisenden Historikerinnen diskutiert, die in Auseinandersetzung mit sozialgeschichtlichen Ansätzen insbesondere soziale Differenzierungen in den Blick nahmen und dabei in ihre Analysen zugleich Geschlechterdifferenzen wie auch Diffe-
25 Die Kommission für Frauenforschung wurde 2001 in Kommission für Frauenund Geschlechterforschung umbenannt. 26 Lipp, Carola: Überlegungen zur Methodendiskussion. Kulturanthropologische, sozialwissenschaftliche und historische Ansätze zur Erforschung der Geschlechterbeziehungen. In: Arbeitsgruppe Volkskundliche Frauenforschung Freiburg (Hrsg.): Frauenalltag – Frauenforschung. Beiträge zur 2. Tagung der Kommission Frauenforschung in der dgv, Freiburg 22.–25.5.1986. Frankfurt a.M. u.a., 1988, S. 29–46, S. 30. 27 Lipp, Überlegungen (wie Anm. 26), S. 35. Umgesetzt wurde dies etwa im Kontext des Studienprojekts »Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen. Frauen in der württembergischen Revolution von 1848« durch eine sozial differenzierte Perspektive auf Handlungs- und Erfahrungsräume von bürgerlichen und Unterschichtfrauen.
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renzen innerhalb der Geschlechter einbezogen. In Gisela Bocks programmatischem Aufsatz »Historische Frauenforschung: Fragestellungen und Perspektiven« (1982) ist zum Verhältnis unterschiedlicher Kategorisierungen zu lesen: »Vor allem läßt sich aus der Perspektive der Beziehungen zwischen Frauen die vieldiskutierte Frage nach dem Verhältnis zwischen Geschlecht, Rasse, Klasse (und anderen Bestimmungen) neu formulieren und jenseits der gängigen Globalformel, sie 28
lägen ›quer‹ zueinander, forschungsstrategisch differenzieren.«
Sie fordert daran anschließend eine Perspektive ein, die die jeweilige Wirkkraft von Kategorien als Ergebnis sozialwissenschaftlicher Bemühungen, Wirklichkeit zu beschreiben, begreift und zugleich die »Hierarchie ihrer wissenschaftlichen ›Realitätsmächtigkeit‹ [...] im Kontext der sozialen Realität von Macht zwischen Geschlechtern, Rassen, Klassen« auszumachen sucht: »Eine solche Perspektive auf deren Verständnis fordert nur, was innerhalb eines nicht euro- oder androzentrisch orientierten Geschichtsverständnisses selbstverständlich werden sollte: daß die Begriffe und Beziehungen von Geschlecht, Rasse, Klasse jeweils historisch konkret und vielleicht neu und unerwartet bestimmt werden.«
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Auch wenn sich Spuren einer intersektionalen Theoriebildung bereits in den frühen Texten der deutschsprachigen Frauen- respektive Geschlechterforschung finden, beginnen die meisten Historisierungen des Ansatzes mit den 1970er und 1980er Jahren und sehen dessen Ursprung insbesondere in den theoretischen und politischen Bewegungen von Schwarzen Frauen und Women of Colour in den USA wie auch hierzulande. Allerdings wird von im deutschsprachigen Raum lebenden Migrantinnen eine doppelte Ex-post-Marginalisierung und Hinausschreibung des Anteils vor allem migrantischer Wissenschaftlerinnen und der feministischen antirassistischen Bewegung an der Formierung der intersektionalen Per-
28 Bock, Gisela: Historische Frauenforschung: Fragestellungen und Perspektiven. In: Hausen, Karin (Hrsg.): Frauen suchen ihre Geschichte. München 1983, S. 22–60, S. 49. 29 Bock: Frauenforschung (wie Anm. 28), S. 50.
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spektive kritisiert. Während viele Rückblicke noch auf den angloamerikanischen Kontext Bezug nehmen würden, drohten, so die Bilanz von Umut Erel, Jinthana Haritaworn, Encarnación Gutiérrez Rodríguez und Christian Klesse, die »im deutschen Feminismus von minorisierten Frauen angeführten Debatten der 1980er und 1990er Jahre« verschwiegen und ihre »Interventionen als politische Auseinandersetzung ohne theoretischen Wert« klassifiziert zu werden.30 Als Auftakt der Wiener Tagung rief Encarnación Gutiérrez Rodríguez daher auch explizit wichtige Autor_innen wie May Ayim, Katharina Oguntoye oder Dagmar Schultz und Diskurskontexte wie die Zeitschrift »Informationsdienst zur Ausländerarbeit« der frühen deutschen antirassistischen Feminismen in Erinnerung (vgl. auch ihren Beitrag in diesem Band). Auch Katharina Walgenbach zeichnet in ihrem Text »Gender als interdependente Kategorie« die deutschen Genealogien in den verschiedenen Bewegungen von Behinderten, Migrant_innen, Schwarzen und jüdischen Frauen nach, welche einen reichen Fundus von Differenzierungsbestrebungen in ihren theoretischen wie praktischen Initiativen aufzuweisen haben. Im US-amerikanischen Kontext wird die Begründung der intersektionalen Perspektive vor allem auf die theoretischen und politischen Bewegungen von Schwarzen Frauen und Women of Colour zurückgeführt, auf die auch Gisela Bock in ihrem programmatischen Text zur »Historischen Frauenforschung« Bezug nimmt.31 Als wichtige Zäsur wird hierfür bis heute die Gründung des Combahee River Collective 1974 in Boston mit ihrer Erklärung »A Black Feminist Statement« (1977) weitergetragen.32 In diesem Statement verorten sich die Autorinnen als Schwarze, lesbische und sozialistische Feministinnen und heben die Bedeutung der Gleichzeitigkeit von Unterdrückungsverhältnissen für ihre Subjektpositionen sowie für ihre politischen Kämpfe hervor. Sie weisen nicht nur den Gleichheitsanspruch vieler (bürgerlicher, weißer, heteronormativer) feministischer Positionen unter dem Motto »Gleichheit unterdrückt« zurück, sondern kämpfen für die An-
30 Erel u.a.: Intersektionalität (wie Anm. 14), S. 239. 31 Bock: Frauenforschung (wie Anm. 28), S. 49. 32 Combahee River Collective: A Black Feminist Statement. In: Hull, T. Gloria/ Scott, Patricia Bell/Smith, Barbara (Hrsg.): All the Women are White, All the Black are Men, But some of us are Brave. New York 1977, S. 13–22; unter: , Zugriff: 12.12.2010.
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erkennung und eine eigenständige Theoretisierung ihrer spezifischen Subjektpositionen, die sich nicht einfach aus der Addition der verschiedenen Unterdrückungsverhältnisse ableiten ließen.33 Sie plädieren vielmehr für eine »integrated analysis and practice based upon the fact that the major systems of oppression are interlocking. The synthesis of these oppressions creates the conditions of our lives.«34 Als weitere politisch aktive Theoretiker_innen und Künstler_innen, die ein Denken und Handeln auf der Grundlage der Multiplizität und Simultanität von Machtverhältnissen weiter formiert haben, gelten im internationalen Kontext insbesondere bell hooks35 und Angela Davis,36 auf die sich Paul Scheibelhofer mit Blick auf eine intersektionale Erweiterung der kritischen Männlichkeitsforschung in seinem Beitrag zum Diskurs über türkische Migranten produktiv bezieht. Genannt werden in der Regel auch Patricia Hill Collins,37 die in den frühen 1980er Jahren bereits von »intersectional approach« sprach, oder Avtar Brah, Floya Anthias und Nira Yuval-Davis.38 Auch die Überlegungen von Gloria Anzaldúa werden in diese Aufzählung eingereiht, die 1987 die Metaphorik der »Mestiza« prägt als eine Figur, die an den »Kreuzungen der borderlands« lebt, auf die Stefanie Kron in ihrem Beitrag näher eingeht.39 Trotz ihrer Unterschiedlichkeit, so das Autor_innen-
33 Vgl. hierzu die Diskussion bei Sabine Hess und Andreas Linder zu additiven Ansätzen wie die der Triple Oppression-Debatte hin zu komplexeren, interdependenter argumentierenden Machtanalysen; vgl. Hess/Linder: Identitäten (wie Anm. 5), S. 44ff. 34 Combahee River Collective: Statement (wie Anm. 32), S. 13. 35 Vgl. etwa hooks, bell: Yearning. Race, Gender and Cultural Politics. Boston 1990; oder dies.: Ain’t I a Woman. Boston 1981. 36 Vgl. Davis, Angela: Women, Race & Class. New York 1981, S. 19. 37 Collins, Patricia Hill: Moving Beyond Gender: Intersectionality and Scientific Knowledge. In: Ferree, Myra Marx/Lorber, Judith/Hess, Beth B. (Hrsg.): Revisioning Gender. Thousand Oaks/London/New Dehli 1998, S. 261–284. 38 Vgl. Anthias, Floya/ Yuval-Davis, Nira: Contextualizing Feminism: Gender, Ethnic and Class Divisions. In: Feminist Review 15 (1983), S. 62–75. 39 Vgl. Anzaldúa, Gloria: The Border/La Frontera. The New Mestiza. San Francisco 1987, S. 79; unsere Hervorhebung. Der sogenannte Borderland Feminism bezieht sich zentral auf diese Denkfigur, wie es Stefanie Kron in ihrem Beitrag
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Kollektiv um Umut Erel in seiner historischen Rückführung des Konzepts, haben sich alle diese »Herangehensweisen in der Überzeugung getroffen, dass es notwendig ist, ein theoretisches Modell zu entwickeln, das die Vielschichtigkeit der gesellschaftlichen Dynamiken der Unterdrückung und Diskriminierung zu fokussieren in der Lage ist.« Und sie fahren fort, indem sie hervorheben: »Für viele lieferte die Metapher der Intersektionalität hier eine wichtige Inspiration.«40 So schreiben beispielsweise auch Floya Anthias und Nira Yuval-Davis: »That is, our approach requires that we look at the intersection between class, ethnicity, race, and gender divisions and processes within the state.«41 Dies war der diskursive, politische Kontext, in dem 1989 die US-amerikanische Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw am Fallbeispiel einer Klage Schwarzer Frauen gegen die diskriminierende Einstellungspraktik der Firma General Motors das Konzept der Intersectionality begrifflich prägte und in seinen Grundpositionen ausformulierte.42 Sie konnte zeigen, wie die Antidiskriminierungsgesetze der US-Regierung entweder zugunsten Schwarzer Männer oder zugunsten Weißer Frauen wirkten, wodurch die spezifische Situation Schwarzer Frauen strukturell übergangen wurde. Katharina Walgenbach beschreibt Crenshaws Ansatz wie folgt: »In ihrer Analyse vergleichbarer Fälle kommt Crenshaw zum Schluss, dass sich die Muster der Subordination (patterns of subordination), gemeint sind hier Rassismus und Sexismus, bei Schwarzen Frauen überkreuzen (intersect). Folglich hätten sie als Gruppe auch spezifische politische Anliegen (intersectional issues bzw. political 43
intersectionality) oder Bedürfnisse (intersectional needs).«
näher ausführt, und zwar als den Intersektionalitätsansatz transzendierendes Konzept. 40 Erel u.a.: Intersektionalität (wie Anm. 14), S. 242f. 41 Anthias, Floya/Yuval-Davis, Nira: Racialized Boundaries. Race, Nation, Gender, Colour and Class. London 1992, S. 20, unsere Hervorhebung. 42 Vgl. Crenshaw, Kimberlé: Demarginalising the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics. In: University Chicago Legal Forum (1989), S. 138–167. 43 Walgenbach: Gender (wie Anm. 7), S. 48f.
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Dabei scheint einerseits Crenshaws spezifische disziplinäre Wissenspraxis der Rechtswissenschaften wie andererseits der politische Kontext der UN, in den hinein sie ihr Konzept vor allem anwendungsorientiert ausformulierte,44 diesem eine starke Fokussierung auf Subjektpositionen und einklagbare (Gruppen-)Rechte sowie eine Zuspitzung auf repräsentations- und identitätspolitische beziehungsweise identitätstheoretische Fragen gegeben zu haben.45 Dass Crenshaw eingeladen war, ihre Überlegungen während des Vorbereitungstreffens in Genf zur »Weltkonferenz gegen Rassismus« 2001 in Durban, Südafrika, vorzustellen, wird sie sicherlich zum Einsatz eher schematischer, geometrischer Metaphoriken bewogen haben, mit deren Hilfe sie ihr Konzept den Auditorien plastisch vor Augen führen und zugleich den Anwendungsbezug plausibel machen konnte. So benutzte sie in Interviews und Präsentationen die Metapher einer Straßenkreuzung sowie das Bild der Race- und der Gender-Ambulance, die sich beide bei Problemen Schwarzer Frauen nicht angesprochen fühlten. Diese Assoziationskette belebte additive Konzeptualisierungen von Machtverhältnissen wieder, wie beispielsweise Nira Yuval-Davis oder Katharina Walgenbach in ihren Betrachtungen problematisieren.46 Dass Crenshaw damit Erfolg hatte, belegt die Einführungsrede von Radhika Coomaraswamy, der Sonderberichterstatterin des UN-Sekretariats Gewalt gegen Frauen, zur Sitzung der NGOs in Durban, in der sie hervorhob, dass »the term intersectionality had become tremendously popular and was used in various UN and NGO forums«.47 Wie Yuval-Davis zeigen kann, lehnten sich in Folge unzählige (UN-)Dokumente direkt an Crenshaws Kreunzungs- und Verkehrsmetaphorik an – so beispielsweise das Dokument der Expertengruppe zu geschlechtlicher und rassistischer Diskriminierung, die in Zagreb ebenfalls in Vorbereitung der »Weltkonferenz gegen Rassismus« zusammenkam:
44 Vgl. Crenshaw: Mapping (wie Anm. 3); zu Crenshaws spezifischem UN-Kontext vgl. Yuval-Davis, Nira: Intersectionality and Feminist Politics. In: European Journal for Women’s Studies 13, 3 (2006), Intersectionality, S. 193–209. 45 Vgl. auch Yuval-Davis: Intersectionality (wie Anm. 44), S. 197. 46 Vgl. Yuval-Davis: Intersectionality (wie Anm. 44), S. 179; auch Walgenbach: Gender (wie Anm. 7), S. 49. 47 Vgl. Yuval-Davis: Intersectionality (wie Anm. 44), S. 194.
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»Intersectionality is what occurs when a woman from a minority group [...] tries to navigate the main crossings in the city [...]. The main highway is ›racism road‹. One cross street can be Colonialism, then Patriarchy Street [...]. She has to deal not only with one form of oppression but with all forms, those named as road signs, which link 48
together to make a double, a triple, multiple, a many layered blanket of oppression.«
Während in der sich anschließenden Debatte das Konzept an sich größtenteils positiv aufgegriffen wurde – und es, wie wir eingangs bemerkten, zu einer bemerkenswerten Karriere befördert wurde –, stand die benutzte Metaphorik von Beginn an in der Kritik. Katharina Walgenbach weist darauf hin, dass derartige Bilder und additive Vorstellungen auch in anderen Durchkreuzungsansätzen (wie in der Rede von Überschneidungen, Achsen, Schnittstellen) und Intersektionalitätskonzepten bestimmend sind. Sie alle teilten das zentrale Problem, dass sie weiterhin suggerierten, dass »die Kategorien Gender and Race vor (und auch nach) dem Zusammentreffen an der Kreuzung von einander getrennt« existierten: »Mit anderen Worten: Gender und Race werden, mit Ausnahme der spezifischen Situation der Straßenkreuzung, immer noch als isolierte Kategorien gefaßt.«49 In der deutschsprachigen Diskussion wird dieses Problem von vielen gleichermaßen gesehen, doch variiert der Umgang mit dem Bild der Kreuzung oder Intersektion. Während Gudrun-Axeli Knapp trotz der Problematik für die Beibehaltung des (inzwischen etablierten) Terminus Intersektionalität plädiert,50 favorisiert das Autorinnenkollektiv um Walgenbach die begriffliche Fassung der »Interdependenz«, da dies die gegenseitige Durchdringung und Abhängigkeit der verschiedenen Kategorien der Positionierung und Normierung deutlicher signalisieren würde. Sie sprechen folglich auch von »Geschlecht als interdependente[r] Kategorie«, wie sie umgekehrt auffordern, auch alle anderen Kategorien als interdependent zu fassen.51 Dass mit
48 Zit. nach Yuval-Davis: Intersectionality (wie Anm. 44), S. 196. 49 Walgenbach: Gender (wie Anm. 7), S. 49. 50 So auch auf der Wiener Tagung, wo sie zugleich dem Begriff Interdependenz eine Engführung des wechselseitigen Verhältnisses vorwarf. 51 Walgenbach: Gender (wie Anm. 7), S. 61. Dies ist jedoch nicht ein absolut neuer Vorschlag, da bereits Brigitte Kossek die Durchkreuzungsansätze Mitte der 1990er Jahre ebenso beschreibt: »Wichtiger Ausgangspunkt der Durchkreuzungsansätze ist die multiplikative, interdependent-integrative Wirkung von
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der Frage nach der richtigen Bezeichnung nicht nur um Begriffe gerungen wird, zeigt sich am weiterführenden Problem der Konzeptionalisierung und Operationalisierung intersektionaler Perspektiven.
C LASS R ACE G ENDER ETC . ODER: I NTERSEKTIONALITÄT ZWISCHEN M ANTRA DIFFERENZIERTER M ACHTANALYSE
UND
Wie auch Ann Phoenix und Pamela Pattynama im Editorial zur Intersektionalitäts-Ausgabe des »European Journal of Women’s Studies«52 hervorheben, beginnt die theoretische Kontroverse erst dort wirklich, wo die Frage nach der Umsetzung gestellt wird. Ein zentraler Punkt ist denn auch, wie viele und welche Kategorien notwendig in Anschlag gebracht werden sollten – eine Debatte, die bis heute (manchmal mit fast mathematisch zu nen-
Rassismus, Sexismus, Klassismus, sexueller Kontrolle usw. [...] Die unterschiedlichen sozialen Kategorien wie Geschlecht, Sexualität, ›Rasse‹, Klasse usw. artikulieren sich in der Dynamik sozialer Prozesse nicht nur miteinander – oft auch in widersprüchlicher Weise – sondern sie durchkreuzen einander wechselseitig und sind daher von einander durchdrungen.« Kossek: Rassismen (wie Anm. 4), S. 14. Zur Kritik an Triple-Oppression-Theorien und additiven Konzeptualisierungen siehe auch Sabine Hess und Andreas Linder, die Ende der 1990er Jahre das Konzept der Dominanzkultur von Birgit Rommelspacher als eine interdependente Machtanalyse stark machen: Hess/Linder: Identitäten (wie Anm. 5). Auch bell hooks betont die (diskursive) Verknüpfung der Kategorien »Rasse« und »Sexualität«, was sie auf Artikulationen und Ideologeme der Sklavenzeit zurückführen kann; vgl. hooks, bell: Sehnsucht und Widerstand. Berlin 1996, S. 87f. Ähnlich theoretisiert Susanne Kappeler Rassismus und Sexismus als voneinander durchdrungen, was spezifische nationale/rassistische Sexismen und umgekehrt spezifische sexistische Rassismen produziere, vgl. Kappeler, Susanne: »Als Frau habe ich kein Land« – aber einen deutschen Paß. In: Uremovic, Olga/Oerter, Gundula (Hrsg.): Frauen zwischen Grenzen. Rassismus und Nationalismus in der feministischen Diskussion. Frankfurt a.M./New York 1994, S. 92–106, S. 15. 52 Phoenix/Pattynama: Editorial (wie Anm. 11), S. 188.
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nender Akribie und Argumentationslogik) geführt wird. Während in vielen Forschungen die Trias von »classracegender« durchbuchstabiert und auf der Zentralität dieser Kategorisierungen für gesellschaftliche Strukturbildung beharrt wird, kommen Helma Lutz und Norbert Wenning auf 14 »Achsen der Differenz« und betonen zugleich, dass die Liste nach oben offen zu halten sei.53 Mit dieser Diskussion verbunden ist auch die Frage nach der Gewichtung und Reihung der verschiedenen Kategorisierungen sowie ex negativo das ›Problem‹ der Ausblendung. Hier setzt dann auch Judith Butlers süffisante Kritik an dem häufig anzutreffenden »etc.« oder »usw.« im Anschluss an die raceclassgendersexualityage…-Aufzählung an.54 Sie interpretiert – aus einer nicht so sehr an Gesellschaftsanalyse, als vielmehr am Prozess der Subjektkonstitution interessierten Perspektive – das »etc.« als paranoide identitätspolitische Angst vor Auslassungen – »as a sign of exhaustion as well as of the illimitable process of signification itself«.55 Handelt es sich doch – so Butler – strukturell um eine endlose Kette von Anrufungspraktiken, die nie vollständig zu erfassen ist. Daher plädiert sie dann auch dafür, prinzipiell Offenheit vorauszusetzen, anstatt ängstlich vorschnell die Liste für abgeschlossen zu erklären.56 Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive scheint sich in der Debatte um das »etc.« aber auch ein Problem solcher quantifizierender beziehungsweise Hypothesen testender Verfahren der Sozialforschung niederzuschlagen, die Kategorien vor Beginn der empirischen Phase bestimmen wollen oder müssen. Gewisserma-
53 Vgl. Lutz, Helma/Wenning, Norbert: Differenzen über Differenz – Einführung in die Debatten. In: Dies. (Hrsg.): Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen 2001, S. 11–24. 54 Vgl. Nira Yuval-Davis Auseinandersetzung mit Butlers Kritik, vgl. YuvalDavis: Intersectionality (wie Anm. 44), S. 201ff. 55 Butler, Judith: Gender Trouble: Feminism an the Subversion of Identity. New York 1990, S. 143. 56 Dieser Einwand Butlers wurde von Klinger und Knapp wiederum als nur gültig problematisiert, wenn man die Aussage auf identitätspolitischem Terrain treffe; vgl. dazu auch Nira Yuval-Davis: »Such a critique is valid only within the discourse of identity politics where there is a correspondence between positionings and and social groupings.« Yuval-Davis: Intersectionality (wie Anm. 44), S. 202; vgl. Knapp/Klinger: Ungleichheit (wie Anm. 6).
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ßen wird an dieser Stelle in verdeckter Weise die methodologische Auseinandersetzung um Forschungskonzepte weiter oder wieder virulent. Neuere und insbesondere ethnografisch orientierte intersektionale Ansätze versuchen daher auch, die starre, mathematisch anmutende Konzeptualisierung der Multiplizität der Kategoriensysteme zu transzendieren und sich stattdessen prozessorientiert den Dynamiken und Lokalisierungspraktiken in konkreten Kontexten zuzuwenden, wie es Floya Anthias 2008 in ihren Überlegungen »Thinking through the lens of translocational positionality: an intersectionality frame for understanding identity and belonging« zum Ausdruck bringt: »As an intersectional frame it moves away from the idea of given ›groups‹ or ›categories‹ of gender, ethnicity and class, which then intersect (a particular concern of some intersectionality frameworks), and instead pays much more attention to social 57
locations and processes which are broader than those signalled by this.«
Über die Frage der Anzahl oder der Aufgabe von Kategorien als Forschungsgrundlage geht allerdings in unseren Augen das Problem der Relevanz und Beziehung unterschiedlicher Kategorisierungs- respektive Machtsysteme in spezifischen Forschungskontexten hinaus. Wie bereits angedeutet, rückte im Verlauf der 1980er Jahre die Auseinandersetzung um die Hierarchisierung von Kategorisierungen oder – wie es Birgit Rommelspacher formulierte – »der Kampf um den ›Hauptwiderspruch‹« in den Hintergrund.58 Tatsächlich wurde ein intersektionales Denken, das die wechselseitige Verschränkung und Durchdringung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen in den Blick nimmt, erst mit dem Infragestellen von Masternarrativen möglich. Letztlich haben die generellen Verschiebungen in den Sozial- und Kulturwissenschaften hin zu poststrukturalistischen Ansätzen zusammen mit der im Zuge des so genannten Cultural Turn zentral gesetzten Perspektive auf Kultur ältere klassenanalytische Forschungskonzepte in der Geschlechterforschung weitgehend
57 Anthias, Floya: Thinking through the Lens of Translocational Positionality: An Intersectionality Frame for Understanding Identity and Belonging. In: Translocations 4, 1 (2008), S. 5–20, S. 5. Sie kritisiert in diesem Papier eine zu stark an Identitätskonzeptionen orientierte Forschung, die sie als eine der Ursachen der Kategorisierungsproblematik ausmacht. 58 Rommelspacher: Intersektionalität (wie Anm. 21), S. 82.
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verdrängt, um damit grundsätzlich den Denkhorizont für intersektionale Perspektiven zu öffnen.59 In diesem Sinn beschreiben Cornelia Klinger und Gudrun-Axeli Knapp die 1970er Jahre als die zentrale Phase der Hervorbringung des intersektionalen Ansatzes, als genau den Zeitpunkt, an dem die Masterkategorie Klasse einem Denken in Differenzen in der Theorie und Praxis der entstehenden Neuen Sozialen Bewegungen und späteren Identitätspolitiken weichen musste: »Das ist genau der Punkt, an dem das Konzept Klasse, das in den Protestbewegungen der sechziger Jahre als zentrale Kategorie gesellschaftlicher Analyse vorübergehend neu belebt worden war, als gesellschaftstheoretischer Zentralbegriff ins Abseits, ja regelrecht in Misskredit gerät. In der Folge wenden sich neu entstehende politische bzw. Neue Soziale Bewegungen ›single issues‹ zu, während die Theoriebildung eine dekonstruktive/postmoderne Wendung nimmt. Sowohl die politische Praxis [...] als auch die (politische) Theorie vollziehen einen signifikanten ›cultural turn‹. Etwas generalisierend lässt sich sagen, dass die Trias race, class, gender also eigentlich auf den [...] Ruinen des Konzepts Klasse aufbaut. Umgekehrt ausgedrückt: Klasse ›überlebt‹ das rasche Ende ihrer kurzen Renaissance bzw. ihren ›Tod‹ in diesem theoretischen Kontext nur als Teil einer Trias, deren beide anderen Komponenten eigentlich erst in und seit dieser Zeit ein eigenes Profil und Gewicht ge60
winnen.«
So problematisch die Dominanz des Klassenkonzepts war, so unbefriedigend ist andererseits die Formelhaftigkeit, mit der gegenwärtig auf soziale Differenzsysteme rekurriert wird. Daher kritisieren Ungleichheitstheoretikerinnen wie Cornelia Klinger, Gudrun-Axeli Knapp61 oder Eleonore Kof-
59 So argumentiert etwa Eleonore Kofman: »Zunächst einmal kamen [Feministinnen] nicht wirklich voran, als sie versuchten, weibliche Erfahrungen in die Klassenanalyse zu integrieren. Auch im Kontext einer postmodernen Sensibilität, in der Identitäten fließend und individualistisch gedacht wurden, wurde der Klassebegriff als unstimmig angesehen«. Kofman, Eleonore: Stratifikation und aktuelle Migrationsbewegungen. Überlegungen zu Geschlechterverhältnis und Klassenzugehörigkeit. In: Berger, Peter A./Weiß, Anja (Hrsg.): Transnationalisierung sozialer Ungleichheit. Wiesbaden 2008, S. 107–135, S. 121. 60 Klinger/Knapp: Achsen (wie Anm. 6), o. S. 61 Klinger/Knapp: Achsen (wie Anm. 6), o. S.
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man die Untertheoretisierung und die damit einhergehende analytische Verdrängung des Klassenkonzepts in der Aufzählung »raceclassgender etc.«. Bereits 1995 schreibt Wendy Brown: »class is invariably named but rarely theorized or developed in the multiculturalist mantra, ›race, class, gender, sexuality‹«.62 Und Kofman konstatiert noch 2009, dass »die Arbeiten zu Intersektionalität dafür kritisiert werden, dass sie die Bedeutung und Konzeptualisierung des Klassenbegriffs unangetastet« ließen.63 Heute versuchen die genannten Theoretikerinnen in Verbund mit feministischen Ökonominnen auch die Klassenanalyse reflektiert neu für intersektionale Machtperspektiven nutzbar zu machen, was nicht zuletzt auch dem empirischen Befund geschuldet ist, dass soziale Unterschiede zwischen Frauen im weltweiten Maßstab, aber auch national entlang nationaler/ethnifizierter Zuschreibungen, Klasse, Alter, körperlicher Verfasstheit etc. wieder zunehmen.64 Doch, so stellt Kofman in ihrem Forschungsüberblick fest, komme bei der Analyse des Zusammenspiels von Geschlecht, Nationalität und Rasse die Auseinandersetzung mit Klasse gewöhnlich meist nachträglich hinzu.65 Zugleich meint Kofman, Filomena Aguilar66 zitierend, dass die Konzepte von Klassenstrukturen »stubbornly ›national‹ in their imagery« verblieben seien.67 Globale und transnationale Klassenbildungsstrukturen und -dynamiken seien bislang, außer in einigen auf Migration bezogenen Studien,68 nur wenig beachtet und theoretisiert worden, was sie für ein gro-
62 Brown, Wendy: States of Injury: Power and Freedom in Late Modernity. Princeton 1995, S. 61. 63 Kofman: Stratifikation (wie Anm. 59), S. 120f. 64 Als ein Hinweis wird hier immer wieder die Kommodifizierung der Hausarbeit und Pflege genannt, siehe Lutz, Helma: Vom Weltmarkt in den Privathaushalt. Die neuen Dienstmädchen im Zeitalter der Globalisierung, Opladen 2007; Hess, Sabine: Globalisierte Hausarbeit. Wiesbaden 2005. 65 Kofman: Stratifikation (wie Anm. 59), S. 122. 66 Aguilar, Filomen: Global Migration, Old Forms of Labor, and New Transborder Class Relations. In: Southwest Asian Studies 41, 2 (2003), S. 137–161. 67 Kofman: Stratifikation (wie Anm. 59), S. 122. 68 Vgl. Lutz: Weltmarkt (wie Anm. 64); Hess: Hausarbeit (wie Anm. 64); Phizacklea, Annie: Transnationalism, Gender and Global Workers. In: MorokvasicMüller, Mirjana/Erel, Umut/Shinozaki, Kyoko (Hrsg.): Crossing Borders and Shifting Boundaries. Opladen 2003, S. 79–100; Salazzar Parrenas spricht bei-
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ßes Forschungsdesiderat zukünftiger intersektionaler Studien zu Globalisierungsdynamiken hält. Bilanzierend lässt sich festhalten, dass es meist bei der Auflistung und/ oder Betonung der Triade von Geschlecht, »Rasse« und Klasse bleibt – häufig angesichts der Unaussprechbarkeit des Wortes »Rasse« im Deutschen ohne Verweise auf dessen Konstruktionscharakter und die mitgedachten Gänsefüßchen im Englischen gehalten als »gender, race, class«.69 Damit wird die Zentralität der mit Klasse, Rasse und Geschlecht verbundenen Herrschaftsverhältnisse betont zuungunsten anderer Kategorisierungssysteme – wie etwa Religion, Sexualität, Alter, Behinderung und so weiter, die Helma Lutz mitthematisiert. Doch als problematischer erachten wir es, dass mittlerweile häufig, statt den erkenntnistheoretischen Wert dieser Triade zu nutzen, allein dessen Nennung in den Gender Studies zu einem symbolischen Akt der Positionierung geworden zu sein scheint. Hiermit verbindet sich eine weitere für die ethnografische Wissensproduktion wichtige Kontroverse: Während ein Teil der Ansätze die »Gemeinsamkeiten« der verschiedenen Machtverhältnisse betonen, insistieren andere Konzepte, wie das von Beverly Skeggs, auf die jeweils eigenen organisierenden Logiken der unterschiedlichen sozialen Differenzsysteme.70 So spricht Nira Yuval-Davis von den verschiedenen »ontologischen« Grundlegungen der
spielsweise von der »widersprüchlichen Klassenmobilität von weiblichen Migrantinnen« zwischen Herkunfts- und Zielland, vgl. Salazar-Parrenas, Rachel: Servants of Globalization. Women, Migration and Domestic Work. Stanford 2001, S. 150ff. 69 Häufig ist es auch ein Mix aus Englisch und Deutsch, etwa wie Geschlecht, Race und Klasse. Siehe hierzu auch Gudrun-Axeli Knapp zur Problematik der Transferierbarkeit der Kategorie »Rasse« aus dem anglo-amerikanischen sozialen und theoretischen Kontext in den deutschen, wobei im erstgenannten race einerseits eine staatsbürgerlich und rechtlich verankerte Klassifizierungskategorie darstellt und andererseits die analytischen Auseinandersetzungen race als Resultat von Rassifizierungsprozessen, also als Produkt der rassistisch konstruierten Ordnung der Welt begründet und dem Rasse-Begriff somit vollständig seine Natürlichkeit genommen hat; vgl. Knapp: Resonanzräume (wie Anm. 10); auch Lutz: 24Stunden-Polin (wie Anm. 5). 70 Vgl. Skeggs, Beverly: Which Bits to Exploit? PHD Course on Intersectional Analysis, Aalborg, 18.–20.1.2006.
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jeweiligen Machtverhältnisse;71 und Umut Erel und Encarnación Gutiérrez Rodríguez plädieren dafür, die Unterschiedlichkeit der Wirkweisen von Machtverhältnissen in den Blick zu nehmen.72 Auch sie kritisieren, dass die gerade gebräuchlichen Anwendungen und die fast schon inflationären Proklamationen in den Gender und Queer Studies, intersektional zu forschen, jede differenzierte Machttheoretisierung zugunsten »einer simplen Auflistung von Differenzen« unterbinden würden. Dies halten sie für »sogar gefährlich«, da es »eine Beliebigkeit sozialer Unterschiede« nahelege. »Stattdessen«, so das Autor_innen-Kollektiv um Umut Erel, »erscheint es uns wichtig, dass Forschung einen herrschaftskritischen analytischen Rahmen entwickelt, der eine klare Analyse spezifischer Unterdrückungsformen mit der Analyse des Ineinandergreifens unterschiedlicher Unterdrückungsverhältnisse verbindet«.73 Nira Yuval-Davis sieht noch ein weiteres Problem der gängigen intersektionalen Ansätze, welches sie insbesondere in der häufig anzutreffenden Vermischung der verschiedenen Analyseebenen begründet sieht: »What is at the heart of the debate is conflation or separation of the different analytic levels in which intersectionality is located«.74 Diese Ungenauigkeit führe vor allem zu einer Vermengung identitätspolitischer Narrative mit analytischen Beschreibungen der Positionalität. Dies trägt auch in unseren Augen zu der allgemeinen Wahrnehmung bei, dass intersektionale Analysen (reifizierend) vor allem auf dem Terrain der Subjektkonstitution und Identitäten abgehandelt werden. Dadurch werden diese nicht nur eher essentialisierend festgeschrieben, sondern vor allem wird auf diese Weise gerade solchen identitäts- und praxistheoretischen Konzepten zu wenig oder kein Raum ge-
71 Vgl. Yuval-Davis: Intersectionality (wie Anm 44), S. 195. Sie betont: »We argued that each social division has a different ontological basis, which is irreducible to other social divisions. However [...] in concrete experiences of oppression, being oppressed, for example, as ›a Black person‹ is always constructed and intermeshed in other social divisions [...].« Ein gemeinsames Element, welches die meisten sozialen Machtverhältnisse kennzeichne, sei das Narrativ der Naturalisierung, wobei auch hierbei Naturalisierungsdiskurse verschieden gestrickt sein können; vgl. ebd., S. 199. 72 Vgl. Erel u.a.: Intersektionalität (wie Anm. 14), S. 245. 73 Erel u.a.: Intersektionalität (wie Anm. 14), S. 245f. 74 Yuval-Davis: Intersectionality (wie Anm. 44), S. 195.
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geben, die den prinzipiellen Konstruktionscharakter, das Bewegliche und Situative von Subjektpositionen wie auch Problemkonstellationen herausstellen. Dass intersektionale Ansätze den Eindruck erweckten, dass sie Identität nur als Effekt von Benennungspraxen und Kategorisierungen betrachteten, halten auch Ann Phoenix und Pamela Pattynama für ein zentrales Problem der gängigen Varianten intersektionaler Analyse.75 Dies führe dann auch dazu, wie es Kum-Kum Bhavnani76 oder auch Umut Erel und Encarnación Gutiérrez Rodríguez problematisieren, dass die starre Konzeptionalisierung von Individuen am Schnittpunkt unterschiedlicher Achsen der Unterdrückung, diese vor allem als Opfer, nicht jedoch als Akteure wahrnimmt. Der forschende Blick sei auf den Schnittpunkt gerichtet, nicht jedoch auf die Akteur_innen, ihre Aushandlungspraktiken und widerständigen Modi der Einschreibung beziehungsweise des Entgehens, wie es Isabell Lorey in ihrem Beitrag für diesen Band herausarbeitet. In diesem Zusammenhang plädiert Nira Yuval-Davis auch für eine differenzierte sozialwissenschaftliche Analyse sozialer Verhältnisse: »Social divisions are about macro axes of social power but involve actual, concrete people. Social divisions have organizational, intersubjective, experiential and representational forms, and this affects the ways we theorize them as well as the ways we 77
theorize the connections between the levels«.
Dabei hebt auch sie noch einmal die Notwendigkeit hervor, spezifische Positionen, Identitäten und politische Werte in spezifischen Lokalisierungen und Kontexten zu untersuchen.78 Keineswegs kann das eine vom anderen abgeleitet werden, sondern vielmehr müssen die politischen Kämpfe um die Grenzziehungen der sozialen Kollektive beziehungsweise (kollektiven) Identitäten sowie die legitimen Repräsentationen (»contested political claims for repre-
75 Phoenix/Pattynama: Editorial (wie Anm. 11). 76 Bhavnani, Kum-Kum: Interconnections and Configurations: Toward a Global Feminist Ethnography. In: Hesse-Biber, Sharlene Nagy (Hrsg.): Handbook of Feminist Research. Theory and Praxis. Thousand Oaks/London/New Delhi 2007, S. 639–649, S. 640f. 77 Yuval-Davis: Intersectionality (wie Anm. 44), S. 198. 78 Vgl. Yuval-Davis: Intersectionality (wie Anm. 44), S. 200.
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sentation«) in den Blick genommen werden,79 was – letztlich – ein ethnografisches Vorgehen in der Forschung nahelegt.80 Aus dieser Perspektive wird Intersektionalität zum Werkzeug, welches das Verständnis von Herrschafts- und Machtverhältnissen zu komplizieren sowie zu differenzieren vermag. Ist doch eine der zentralen Problematisierungen in der Debatte, wie – jenseits einfacher binärer Oppositionen von Opfer/Täter, Privilegierung/Unterlegenheit, Macht/Ohnmacht, Handlungsoption oder -restriktion – Formen von Ungleichheit und Macht, die durch Institutionen, Repräsentationen und Praxen gefügt, gefestigt oder verflüssigt werden, zu beschreiben sind – und in feministisch emanzipativer und/oder queerer normalitätskritischer Weise verschoben werden können.81 Dabei gerät aus der Perspektive der Intersektionalität nicht nur die Komplexität sozialer Prozesse der In- wie Exklusion in den Blick, sondern auch die Wirkmächtigkeit sozial- wie kulturwissenschaftlicher Methodologien und Epistemologien. Denn das, was in Gesellschaften an Praxen und Identitäten, an Differenzsystemen und Herrschaftsmechanismen sichtbar wird, ist durchtränkt von sozial- wie kulturwissenschaftlichen Theoremen, Konzepten und Modellen, die den Blick auf Menschen wie Phänomene orientieren – sei es in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung oder in der politischen Praxis. Es geht also auch um ein avanciertes Modell der Reflexivität, das die Positionalität der Wissensproduktion nicht nur problematisiert, sondern konsequent in die eigene Darstellung einbezieht. Im Folgenden werden wir an einzelnen Beispielen herausarbeiten, welcher Stellenwert intersektionalen Konzepten und Perspektivierungen in der deutschsprachigen volkskundlichen/europäisch ethnologischen Geschlechterforschung zukommt. Dabei lässt sich zeigen, dass in der Volkskunde/Europäischen Ethnologie im Unterschied zu anderen Disziplinen, die in Folge ihrer disziplinären Grundlegungen auf gesellschaftliche Wandelprozesse und
79 Vgl. Yuval-Davis: Intersectionality (wie Anm. 44), S. 204f. 80 Zu dieser Position vgl. auch Bhavnani: Interconnections (wie Anm. 76), deren Plädoyer für ethnografisches Arbeiten im globalen Kontext auf George Marcus’ Formulierung von der »ethnography as midwife« aufbaut. 81 Gerade hier ergeben sich wichtige Synergieeffekte zwischen queeren und intersektionalen Ansätzen, indem Unterbrechungen als Momente des Nachdenkens über Normierungen/Normalisierungen in Forschungsdesign wie -praxis zum Bestandteil des Forschens und der Repräsentation von Forschung werden.
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die industrialisierte Moderne fokussieren, Geschlecht nie gänzlich ausgeblendet wurde – und dass umgekehrt die volkskundliche/europäisch ethnologische Frauen- bzw. Geschlechterforschung Geschlecht nie gänzlich universal gesetzt hat. Darauf aufbauend wollen wir abschließend einige Hinweise darauf geben, wie intersektionale Analysen von den in der internationalen Kulturanthropologie virulenten methodologischen Reflexionen und Weiterentwicklungen profitieren könnten, die wir am Ende des nächsten Abschnitts skizzieren werden.
V OLKSKUNDE /E UROPÄISCHE E THNOLOGIE INTERSEKTIONAL Aus dem Blickwinkel ethnografisch arbeitender Forscherinnen ist die Debatte um Intersektionalität ebenso bereichernd wie irritierend: Sie irritiert uns dort, wo die ›angemessene‹ Anzahl von zu berücksichtigenden Kategorien zur Debatte gestellt wird. Auch sind wir über den ungebrochen hohen Stellenwert verwundert, der in vielen Studien der Frage von Identitäten und Subjektkonstitutionen zugesprochen wird. Gerade weil wir davon ausgehen, dass empirische Forschung von einem induktiven Vorgehen und der Offenheit gegenüber den ›Begegnungen im Feld‹ lebt, eben von den Momenten der Überraschung und des Unvorhersehbaren, gehören für uns die stete Reflexion82 von Forschungspositionen und -perspektiven sowie das stete wechselseitige Infragestellen von Theorie und Empirie ebenso zu den grundlegenden Bestandteilen jeder empirischen Forschung wie das Hinterfragen von a priori gebildeten Kategorisierungssystemen und Konzeptionalisierungen. Dass diese Reflexivität mit bewussten wie unbewussten Auslassungen umgehen muss, wird nicht zuletzt durch die vehemente Debatte
82 Hier wäre auf Bourdieus Ansatz einer wissenschaftlichen Reflexivität zu verweisen, die nicht einfach eine Selbstbefragung meint, sondern ein auf den Forschungsprozess bezogenes Nachdenken, vgl. Bourdieu, Pierre: Narzißtische Reflexivität und wissenschaftliche Reflexivität. In: Berg, Eberhard/Fuchs, Martin (Hrsg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt a.M. 1995, S. 365–374; außerdem: Rose, Gillian: Situating Knowledges: Positionality, Reflexivities and other Tactics. In: Progress in Human Geography 21, 3 (1997), S. 305–320.
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um Kategorisierungssysteme und intersektionale Annäherungen deutlich. Hier liegt sicherlich ein die ethnografische Forschung bereicherndes Moment. Intersektionale Ansätze stellen aus dieser Perspektive Unterbrechungen eingespielter Routinen dar, wie sie Kamala Visweswaran für die feministische Ethnografie fordert.83 Doch Feldforschungen demonstrieren vor allem ein ums andere Mal, wie vor den Augen und in den Ohren der Betrachter_innen sich Kategorien, Zuschreibungen und Konzepte verflüssigen und durch die Komplexität der sozialen Realitäten und angesichts eines strukturellen Handelns in Widersprüchen, das wohl allen Akteur_innen eigen ist, in Frage gestellt werden. Ethnografische Forschung weiß in der Regel auch darum, dass weder Subjekte noch deren Handlungsweisen vollständig in ethnografischen Beschreibungen aufgehen – was gleichermaßen auf das Ungenügen von starren vorgefertigten Kategorisierungssystemen wie auf die Partialität (wissenschaftlicher) Wissensproduktionen verweist.84 Wenn wir auf die Etablierung einer dezidiert geschlechtsspezifischen Perspektive in dem Vielnamenfach Volkskunde zurückschauen, dann werden die Parallelen zu der Entwicklung der Geschlechterforschung in anderen sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen offensichtlich. Einige volkskundliche Institute hatten sich nach der »Falkensteiner Debatte« (1970) in Kritik am disziplinären nationalsozialistischen Erbe und in Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Bedeutung der eigenen Wissensproduktion umbenannt, entlang verschiedener sozial- und kulturwissenschaftlicher Orientierungen etwa in Empirische Kulturwissenschaft oder Kulturanthropologie. Die Fachdebatte stand dabei ganz unter dem zeitgenössischen Eindruck der Studentenbewegung und der Dominanz historischmaterialistischer Modelle der Gesellschaftsanalyse, die in der Volkskunde
83 Visweswaran, Kamala: Fictions of Feminist Ethnography. Minneapolis/London 2003. 84 Vgl. Clifford, James: Halbe Wahrheiten. In: Rippl, Gabriele (Hrsg.): Unbeschreiblich Weiblich. Texte zur Feministischen Anthropologie. Frankfurt a.M. 1993, S. 104–135; Haraway, Donna: Situated Knowledges: The Science Question in Feminism as a Site of Discourse on the Privilege of Partial Perspective. In: Feminist Studies 14, 3 (1988), S. 575–599; Behar, Ruth: Introduction: Out of Exile. In: Behar, Ruth/Gordon, Deborah A. (Hrsg.): Women Writing Culture. Berkeley u.a. 1995, S. 1–29.
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im Kontext der Fachreformen zu einer Soziologisierung weiter Teile der Disziplin beigetragen haben.85 In diesem Zusammenhang begann sich in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren – wie in anderen Disziplinen auch – eine Geschlechterperspektive im Fach zu formieren. Zeichen für den beginnenden Prozess der Institutionalisierung sind die 1983 erfolgte Gründung der Kommission Frauenforschung in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde sowie die Ausrichtung der ersten Tagungen dieser Kommission, die sich der volkskundlichen Frauen- und Geschlechterforschung widmeten.86 Wie Carola Lipp in ihrem bis heute zentralen Beitrag zur Genese und den Fluchtlinien der »Geschlechterforschung – Frauenforschung« in der Volkskunde feststellte, hatte diese Volte zwar dazu beigetragen, »Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse transparent zu machen«, doch gleichzeitig hatte die Übernahme historisch-materialistischer Konzepte zu einer »sukzessiven Ausblendung geschlechtsspezifischer Fragestellungen geführt«. Dabei hatte die disziplinäre Ausrichtung der Volkskunde mit ihrer Fokussierung auf die Erforschung von Alltagswelten – was zu diesem Zeitpunkt insbesondere die »Anderen« der eigenen Gesellschaft meinte, also die »bäuerlichen und proletarischen« Schichten – es nie zugelassen, so Lipp, dass »Frauen ganz ins Abseits« gerieten: »Spätestens beim bäuerlichen Wirtschaften oder im Zusammenhang mit ›traditionalen Gemeinschaftsformen‹ kamen die Standardeinführungen des Faches auf die Kooperation von Mann und Frau und deren Arbeitsteilung zu sprechen.« 87 Doch
85 Die »Falkensteiner Protokolle« zeigen dies deutlich – aber auch die heftigen Kontroversen, die dort bzw. im Vorfeld im Fach geführt wurde, vgl. die Beiträge von Dieter Kramer, Roland Narr und anderen in der »Zeitschrift für Volkskunde« in den Jahren 1970 folgende, sowie Brückner, Wolfgang (Hrsg.): Falkensteiner Protokolle, Frankfurt a.M. 1971. Kultur wurde dabei als »andere Seite der Gesellschaft« verstanden, vgl. Korff, Gottfried: Kultur. In: Bausinger, Hermann u.a. (Hrsg.): Grundzüge der Volkskunde. Darmstadt 1978, S. 17–80. 86 Eine Liste der Tagungen der Kommission Frauen- und Geschlechterforschung findet sich auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, unter: . 87 Lipp, Carola: Geschlechterforschung – Frauenforschung. In: Brednich, Rolf W. (Hrsg.): Grundriß der Volkskunde. Berlin 2001 (3. Aufl.), S. 329–351, S. 335; vgl. dazu auch Langreiter, Nikola/Timm, Elisabeth: 25 Jahre Kommission für Frauenforschung (heute: Kommission für Frauen- und Geschlechterforschung)
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letztlich hatte dies nicht nur den Effekt, dass die Geschlechterverhältnisse vornehmlich im Bereich des Privaten – der Reproduktion – verortet wurden. Vielmehr wurde das Alltagsleben stärker als je zuvor geschlechterdifferent konzeptionalisiert, vor allem »wenn es um den Lebenszusammenhang von Frauen ging. Das Alltagsleben des Mannes galt weiterhin als universell«.88 So resultierten die frühen frauenforschenden Initiativen im Fach, wie es Elisabeth Timm hervorhebt, zunächst aus einer Kritik an der neuerlichen Ausblendung von Frauen und der Degradierung von Geschlechterfragen zu einem »Nebenwiderspruch«.89 Doch war es keinesfalls ein unreflektiert zu Tage tretendes »Feministisches Wir«, das die Forschungsperspektiven bestimmte. Wie Beate Binder vor kurzem herausgearbeitet hat, wurde zwar einerseits das »Frauenspezifische – in Abgrenzung zu männlicher Erfahrung – als gemeinsame Basis aller weiblichen Erfahrung beschrieben«90 und somit auch hier »Gender zur Leitdifferenz« gesetzt. Doch wurden andererseits ›Erfahrungen‹ stets in ihren sozialen und historischen Differenzen diskutiert und reflektiert. Insbesondere die Rezeption der US-amerikanischen kulturanthropologischen Frauenforschung machte dabei bereits in den 1980er Jahren für Differenzen zwischen Frauen und die Komplexität weiblicher Positionierungen sensibel.91 So warnte Carola Lipp in konstruktivistischer Weise vor einer »taxonomischen Deduktion eines allgemeingültigen Frauenschicksals aus übergeordneten
in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde. Ein Gespräch mit Carola Lipp (Göttingen). In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 111, 3 (2008), S. 441–463. 88 Lipp: Geschlechterforschung (wie Anm. 87), S. 340. 89 Timm, Elisabeth: »So kann man ja nur mit einer Frau umgehen«. Wohlfahrtsstaat, Geschlecht und Ökonomie im 20. Jahrhundert. In: Bendix, Regina/Eggeling, Tatjana (Hrsg.): Geschlecht und Ökonomie. Göttingen 2005, S. 15–46, S. 15. 90 Binder, Beate: Feminismus als Denk- und Handlungsraum. Eine Spurensuche. In: Fenske, Michaela (Hrsg.). Alltag als Politik – Politik im Alltag. Dimensionen des Politischen in Vergangenheit und Gegenwart. Ein Lesebuch für Carola Lipp. Berlin 2010, S. 25–43, S. 35f. 91 Hierauf weisen sowohl Gisela Bock als auch Carola Lipp hin. Einige der damals wichtigen Texte liegen inzwischen in deutscher Fassung vor: Rippl, Gabriele (Hrsg.): Unbeschreiblich Weiblich. Texte zur Feministischen Anthropologie. Frankfurt a.M. 1993.
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Kategorien, seien es nun Klassenmodelle oder eine a priori gesetzte einheitliche weibliche Unterdrückungserfahrung«.92 Während »simplifizierende und ahistorische Patriarchalismusvorstellungen den Zugang zur Komplexität weiblicher Lebenszusammenhänge versperrten«, gehe es in der historischen und ethnografischen Forschung um das »sehr viel weitgehendere Ziel der Frauenforschung«, nämlich darum, die »geschlechtsspezifischen Strukturen von Kultur und Gesellschaft« herauszuarbeiten.93 Vereinzelte Artikel beispielsweise aus Anlass des zehnjährigen Bestehens der Kommission für Frauenforschung machen deutlich, dass auch in den 1990er Jahren (noch) um die inhaltliche Ausrichtung der volkskundlichen/europäisch ethnologischen Geschlechterforschung weiter gerungen wurde.94 Diskutiert wurde auch über die Notwendigkeit einer theoretischen Fundierung der Kategorie Geschlecht. Bezeichnend und ein Indiz für das langsame Aufbrechen einer differenztheoretischen Perspektive ist, dass Ute Bechdolf und Sabine Kienitz sich noch 1994 genötigt sahen, eine konstruktivistische Konzeptualisierung betonen zu müssen. Sie plädierten in ihrem Rückblick auf zehn Jahre »institutionalisierte Frauen- und Geschlechterforschung« dafür, die »kulturelle Konstruktion von Geschlecht als einen umfassenden diskursiven Prozeß« anzuerkennen, »an dem wir alle beteiligt sind«.95 Im weiteren Verlauf des
92 Lipp, Carola: Frauenforschung. In: Brednich, Rolf W. (Hrsg.): Grundriß der Volkskunde. Berlin 1988, S. 251–272, S. 9. 93 Lipp: Geschlechterforschung (wie Anm. 87), S. 344. In der ersten Fassung zur »Frauenforschung« von 1988 räsoniert sie jedoch, dass die inhaltliche Ausrichtung der volkskundlichen Frauenforschung bislang durch eine »gewisse Tendenz zur additiv kompensatorischen Forschung« gekennzeichnet sei; vgl. Lipp: Frauenforschung (wie Anm. 92), S. 267. 94 Siehe z.B. die Kontroverse zwischen Blohm, Anne/Gieske, Sabine: Überlegungen zur volkskundlichen Frauenforschung – Etappen und Entwicklungen. In: Zeitschrift für Volkskunde 90 (1994), S. 169–182; und Bechdolf, Ute/Kienitz, Sabine: Visionen und Re-Visionen. Wohin führt der Blick zurück? In: Zeitschrift für Volkskunde 91 (1995), S. 83–84, S. 83. Im weiteren Verlauf haben wir keine nennenswerten Debattenbeiträge mehr gefunden, obgleich sich die Gender-Perspektive nicht nur in Tübingen, Marburg, Freiburg, Göttingen und Berlin relativ etabliert hatte, wie Abschlussarbeiten und Seminarpläne zum Ausdruck bringen. 95 Bechdolf/Kienitz: Visionen (wie Anm. 94), S. 83.
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kurzen Textes beziehen sich Bechdolf und Kienitz zwar mit keiner Silbe auf die damals, wie weiter vorne gezeigt, auch in der deutschen Geschlechterforschung virulent werdende Debatte um Durchkreuzungsansätze. Allerdings wandten sie sich bezogen auf die eigene Wissenschaftspraxis gegen Bestrebungen von Fach-Frauen, »eine verschworene Gemeinschaft von Frauen künstlich herzustellen« und damit inhaltliche Differenzen zu negieren. Sie bezogen sich dabei auf Judith Butlers Aussage, dass »das feministische Wir stets nur eine phantasmatische Konstruktion« ist, »die zwar bestimmten Zwecken dient, aber zugleich die innere Vielschichtigkeit und Unbestimmtheit dieses ›Wir‹ verleugnet«.96 Etwa zeitgleich ist auch in Forschungen – vornehmlich in Abschlussarbeiten – eine Perspektivverschiebung festzustellen von einer eher additiven, Handeln und Selbstverständnisse von Frauen fokussierenden Perspektive, hin zur Erforschung von Geschlechterverhältnissen, deren Symbolisierungen und Repräsentationen wie auch alltagsweltlichen Konkretisierungen.97 Auch wenn der Intersektionalitätsansatz das erste Mal mit der Tagung in Wien 2009 explizit verhandelt wurde, zeigen volkskundliche/europäisch ethnologische Forschungsarbeiten, seien sie historisch oder gegenwartsbezogen-ethnografisch ausgerichtet, eine erhöhte Sensibilität für die Multiplizität und Simultanität der Differenzmarkierungen und Machtverhältnisse in konkreten sozio-historischen Kontexten. 98 Elisabeth Timm kann beispielsweise in ihrer historisch-biografischen Studie »So kann man ja nur mit einer Frau umgehen« die Wechselwirkungen und Relationen zwischen Geschlechter- und Klassenverhältnissen detailliert herausarbeiten, auch wenn in den Dokumenten Aloisia Kuglers, von deren Leben die Studie handelt, selbst Geschlecht als zentrale emische Kategorie benannt wird. 99 Ramona Lenz’ Magisterarbeit über »Migrantische Sexarbeit in Zy-
96 Bechdolf/Kienitz: Visionen (wie Anm. 94), S. 84. 97 Vgl. für einen Überblick Lipp: Geschlechterforschung (wie Anm. 87), S. 342ff. 98 Siehe hierzu u.a. auch Langreiter, Nikola: Einstellungssache. Alltagsstrategien und -praktiken von Tiroler Gastwirtinnen. Wien 2004, oder die Beiträge in Amelang, Katrin u.a. (Hrsg.): Berliner Blätter 54 (2010), gender_queer ethnografisch. Ausschnitte einer Schnittmenge. 99 Timm: Frau (wie Anm. 89), S. 41.
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pern« 100 steht für ethnografisch ausgerichtete Forschungsarbeiten, die sowohl in den Diskursen als auch in den Interaktionen der Akteure feinteilig den Artikulationen und den Praktiken nachgehen, wie verschiedene Kategorisierungen interdependent wirken und zur Wirkung gebracht werden. In diesem Fall untersucht Ramona Lenz geschlechtliche und nationale Konstruktionen am Beispiel des Umgangs mit und des Diskurses über osteuropäische Migrantinnen. Sie macht deutlich, wie Geschlecht nicht nur explizit national(istisch)e Anrufungen und Imaginationen stützt, sondern auch wie umgekehrt Geschlecht immer national konnotiert ist. Für Zypern kann sie demonstrieren, wie diese interdependenten Artikulationen insbesondere zu einer Diskriminierung und Stigmatisierung osteuropäischer Migrantinnen als Bedrohungen der (Generativität und Gesundheit der Mutter) Nation führen. Als Beispiel zu nennen wäre auch Stefan Wellgraf, der in dem Beitrag für diesen Band seine intersektional ausgerichtete Forschung an Berlins Hauptschulen skizziert. Diese Beispiele machen auch deutlich, wie bereits auf der Ebene der Fragestellung und des Forschungsdesigns die ersten Weichen dahingehend gestellt werden, ob es sich um eine »anti-kategoriale, intra-kategoriale oder eine inter-kategoriale Zugangsweise« handelt, wie Leslie McCall die unterschiedlichen Ansätze klassifiziert.101 Während die eben genannten als interkategoriale Forschungen bezeichnet werden können, die die Wechselwirkungen und Interdependenzen zwischen den Kategorien ins Zentrum ihrer Analyse stellen, sind wohl die meisten volkskundlichen/kulturanthropologischen (Gender-)Forschungen als intra-kategorial zu bezeichnen, die entlang einer zentralen Kategorie aufgebaut sind, die ebenfalls (meist implizit) dazu verwendet wird, ›das Feld‹ zu konstruieren und das Sample zu bestimmen. Meist bringt erst im Laufe der Forschung die Komplexität alltagsweltlicher Praktiken die Forschende dazu, weitere und andere Kategorisierungs-
100 Die Magisterarbeit erschien auf Griechisch. Nachzulesen in Hess, Sabine/ Lenz, Ramona: Das Comeback der Dienstmädchen. Zwei ethnographische Fallstudien in Deutschland und Zypern über die neuen Arbeitgeberinnen im Privathaushalt. In: Dies. (Hrsg.): Geschlecht und Globalisierung. Ein kulturwissenschaftlicher Streifzug durch transnationale Räume. Königstein/Tau nus 2001, S. 128–165, S. 150–157. 101 McCall, Leslie: The Complexity of Intersectionality. In: Signs 30, 3 (2005), S. 1771–1800.
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und Zuschreibungssysteme zu berücksichtigen. Doch nicht selten scheint schon vorher klar zu sein, dass beispielsweise migrantische Frauen nach Ethnizität beziehungsweise ihrem doing ethnicity gefragt werden – selten nach sozialen Differenzen oder dem doing class. Das heißt, manche Themen und Akteursgruppen sind in dieser Hinsicht überdeterminiert, entlang zweier Differenzierungskategorien untersucht zu werden, wobei die herausgehobenen Kategorien meist doch deduktiv festgestellt werden. Dabei scheint insbesondere das meist interaktive und dialogische Verfahren der empirischen Alltagsforschung, so temporär Phasen teilnehmender Beobachtung auch sein mögen, erst in der Lage zu sein, die Sensibilität gegenüber dem »vollen Ausmaß der Problematik der Komplexität der Machtverhältnisse« zu generieren, welche sich – so Olivia Reckmann und Vanda Melo in ihrer Arbeit zu Genderkonstruktionen in aktuellen kommunalen Integrationskonzepten – »erst vollständig auf der Ebene der Praxis« offenbaren würde.102 Den prozesshaft angelegten ethnografischen Forschungen geht es aber nicht – wie ein häufig zu hörender Vorwurf lautet – nur um emische Perspektiven der Akteur_innen. Vielmehr kann die theoriegeleitete Kontextualisierung des Alltagshandelns mit Strukturen und Diskursen – also eine mesostrukturelle Perspektivierung – die Virulenz verschiedener Differenzmarkierungen und ›Achsen der Ungleichheit‹ in ihrer dynamischen Artikulation wie Desartikulation sowie in ihrer situativen und lokalisierten Spezifik wie Wandelbarkeit herausarbeiten. Eine derartige intersektionale induktive Forschungsperspektive stellt strukturalistische Intersektionalitätsansätze vom Kopf auf den Fuß. Ausgehend von Artikulationen und Praktiken der Akteur_innen werden dann die Modi der Re-Produktion und Institutionalisierung ebenso wie die des widerständigen Entziehens und der Desartikulation von Kategoriensystemen in den Blick genommen, wie es Kum-Kum Bhavnani wie auch Umut Erel und Encarnación Gutiérrez Rodríguez anmahnen. Deutlich wird dabei, dass Akteur_innen nie nur Opfer respektive Täter im Feld der Machtverhältnisse sind – ein Moment, das schon in der frühen Frau-
102 Reckmann, Olivia/Melo, Vanda: Frauen in der Münchner Integrationspolitik. Zum schwierigen Verhältnis von Gender- und Ethnizitätskonzepten. In: Hess, Sabine/Schwertl, Maria (Hrsg.): München migrantisch – migrantisches München. München 2010, S. 27–50, S. 34.
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enforschung für vielfältige Debatten gesorgt hatte.103 Doch rückt mit einer intersektionalen Perspektive noch konsequenter die Relationalität der Differenzkategorien in das Blickfeld: Kategorisierungen oder Differenzen kommen situativ und interaktiv zum Tragen, sie werden in sozio-historisch und geopolitisch spezifischen lokalen Kontexten ausagiert oder eben auch intentional desartikuliert. Wie Sherry Ortner in ihren praxis-anthropologischen Ausführungen hervorhebt, sind Akteur_innen nie vollständig durch Strukturen erfasst beziehungsweise erfassbar, vielmehr wird im Moment des Handelns immer eine neue Unbestimmtheit, Dynamik, Verschiebung produziert.104 Diese Konzeptualisierungen von Kultur und Gesellschaft als prozesshafte Phänomene sind in vielen Debatten um Intersektionalität bislang wenig ausformuliert. Im Gegenteil scheint insbesondere die in der Geschlechterforschung immer noch im Zentrum stehende Frage nach Identitäten und Subjektkonstitutionen den Blick auf Praktiken, Aushandlungen und Konfliktfelder und deren kulturelle Logiken nachhaltig zu versperren. Hier könnte die Geschlechterforschung von ethnografisch orientierter Forschung profitieren und hier halten gerade neuere kulturanthropologische Ansätze, die sich auf methodisch wie theoretischer Ebene insbesondere den neuen globalisierungsinduzierten Komplexitäten und Dynamiken stellen, wichtige Impulse bereit. Daher wollen wir nun zum Ende gewissermaßen umgekehrt den Blick darauf richten, wie die Geschlechterforschung von Interventionen der Kulturanthropologie profitieren könnte. Denn Konzepte der »multi-sited ethnography«, wie sie Georg Marcus prägte,105 der »global ethnography«, wie sie das Forschungsteam um Michael Burawoy formu-
103 Thürmer-Rohr, Christina: Befreiung im Singular – Zur Kritik am weiblichen Egozentrismus. In: beiträge zur feministischen theorie und praxis 28 (1990), Femina Moralia, S. 9–18; Kossek: Rassismen (wie Anm. 4); Rommelspacher: Intersektionalität (wie Anm. 21). 104 Ortner, Sherry: Anthropolgy and Social Theory. Culture, Power and the Acting Subject. Durham 2008, S. 1ff.; oder dies.: Theory in Anthropology since the Sixties. Comparative Studies in Society and History 26, 1 (1984), S. 126–166. 105 Marcus, George E.: Ethnography in/of the World System. The Emergence of Multi-Sited Ethnography. In: Annual Review of Anthropology 117 (1995), S. 95–117.
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liert,106 oder der »assemblage«, wie es Paul Rabinow oder Aihwa Ong verwenden, stellen auch für eine intersektionale Perspektive neues Anregungspotential bereit. Dabei versuchen all diese Konzepte den neuen Komplexitäten und Dynamiken nicht nur durch eine Öffnung des Forschungszugangs auf multiple Verortungen und auf vielfältigen skalaren Ebenen gerecht zu werden, sondern ihre Perspektive liegt dezidiert auf der Heterogenität und Emergenz, der Brüchigkeit, Dynamik und Flüchtigkeit der anvisierten Machtfigurationen, die im Sinne von konflikthaften Aushandlungsfeldern verstanden werden. So fordern die US-amerikanischen Kulturanthropolog_innen Aihwa Ong und Stephen Collier in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband »Global Assemblages«, dass Ethnografie heute vor allem eine Untersuchung situierter »Problematiken« sein soll.107 Wie Paul Rabinow greifen auch sie auf das Konzept der »Assemblage« – im Sinne »sich ereignender Formen« – zurück,108 um insbesondere das Emergente, Vorübergehende, noch nicht in abgeschlossener Form Bestehende erfassen zu können. »Herausragendes Merkmal« dieser Formen sei, so auch Carlo Caduff und Tobias Rees in der Einleitung zu Rabinows »Anthropologie der Vernunft«, dass sie »sich permanent neu fügen und Neues generieren. Entweder verdichten sie sich zu einem Dispositiv oder sie verschwinden auch wieder«.109 George Marcus und
106 Burawoy, Michael: Introduction: Reaching for the Global. In: Ders. u.a. (Hrsg.): Global Ethnography. Forces, Connections, and Imaginations in a Postmodern World. Berkley u.a. 2000, S. 1–40. 107 Ong u.a.: Global (wie Anm. 17). Die folgenden Ausführungen gehen zurück auf gemeinsame Diskussionen von Sabine Hess mit Vassilis Tsianos, siehe Hess, Sabine/Tsianos, Vassilis: Ethnographische Grenzregimeanalyse. In: Hess, Sabine/Kasparek, Bernd (Hrsg.): Grenzregime. Berlin 2010, S. 243–264. 108 Dieses Konzept verweist wiederum auf die Verwendung des Ausdrucks ›Gefüge‹ (agencement) bei Foucault wie auch bei Gilles Deleuze und Félix Guattari. Deuleuze und Guattari zufolge stellt ein Gefüge eine kontingente Anordnung von radikal heterogenen Praktiken und Dingen dar, vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II. Berlin 1997. 109 Rees, Tobias/Caduff, Carlo: Einleitung: Anthropos plus Logos. Zum Projekt einer Anthropologie der Vernunft. In: Rabinow, Paul (Hrsg.): Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung. Frankfurt a.M. 2004, S. 7–28, S. 25.
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Erkan Saka sehen die Vorzüge des Konzepts der Assemblage darin, dass es zum einen erlaubt, der Instabilität, Brüchigkeit und Flüchtigkeit neuer Konstellationen Rechnung zu tragen. Es erlaube aber zum anderen auch, Einheiten zu bestimmen, die für eine gewisse Zeitspanne eine strukturelle Kohärenz und Konsistenz haben und somit der Forschung zugänglich sind. So ist es auch möglich, den Fallen eines »methodologischen Nationalismus« zu entgehen, der Gesellschaft unreflektiert im Rahmen nationaler Grenzen konzeptionalisiert.110 Eine solche Neuorientierung anthropologischer Forschung in Richtung einer ›globalen Ethnografie‹ abstrakter Phänomene macht dann auch ein anderes Feldforschungsverständnis und eine andere Methodologie nötig.111 Ein Forschungsdesign, das diese theoretischen und methodologischen Einsichten in konkrete Forschungsaktivitäten umzusetzen vermag, ist das von George Marcus entwickelte Konzept der multi-sited ethnography. Zum einen rekurrieren wir dabei auf den geografisch-komparatistischen Aspekt einer an verschiedenen Orten lokalisierten Forschung, durch die Verbindungen und Zusammenhänge, Schnittstellen und Bruchzonen in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses gestellt werden. Marcus bezeichnet als zentrale Forschungspraktiken das tracing im Sinne des Nachspürens und das tracking im Sinne eines Auf-den-Fersen-Bleibens, wobei er beides nicht nur auf Menschen bezieht, sondern als Forschungsgegenstände auch Ideen und Bilder, Konflikte, Geschichten oder Biografien einbezogen wissen möchte. Daher steht zu Beginn auch noch nicht fest, welche ›Grenzen‹ ein Forschungsfeld aufweist, das Feld und der Gegenstand selbst entstehen vielmehr erst im Verlauf der Forschung, entsprechend der sich in der Recherche zeigenden Netzwerke und Figurationen.112 Auf der Seite der Forschungsaktivitäten hebt Georg Marcus mapping als eine zentrale wissensgenerierende Methode hervor.113 Letztlich ist für ihn die multi-sited ethno-
110 Zum Begriff des »methodologischen Nationalismus« vgl. Beck, Ulrich: Der kosmopolitische Blick. Oder: Krieg ist Frieden. Frankfurt a.M. 2004, S. 39ff. 111 Vgl. Burawoy: Introduction (wie Anm. 106); Marcus: Ethnography (wie Anm. 105); Rabinow, Paul/Marcus, Georg/Faubion, James: Designs for an Anthropology of the Contemporary. Durham 2008. 112 Oftmals ist es sehr arbiträr und dem zeitlichen und ökonomischen Budget der Untersuchung geschuldet, wo die Forschung beginnt und aufhört. 113 Marcus: Ethnography (wie Anm. 105), S. 99.
I NTERSEKTIONALITÄT AUS DER P ERSPEKTIVE DER E UROPÄISCHEN E THNOLOGIE
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graphy eine »ausgeklügelte konstruktivistische Praxis«, die sich, wie die Neukonstitution von Macht, an dezentrierten, multipositionalen Orten vollzieht, zwischen Mikro und Makro.114 Eine multi-sited ethnography ist dann auch in der Lage, machtungleich positionierte Akteur_innen als gleichwertig zu analysierende zu fokussieren und den Forschungsprozess selbst auch für die Beforschten als Teil ihrer alltäglichen Aushandlungspraktiken zu begreifen. Gefragt wird genau danach, wie – sozial divers positionierte – Beforschte und Forschende die verschiedenen Kategorisierungen, Zuschreibungen, Subjektivierungsweisen und Positionalitäten aushandeln, in Interaktionen und divergierenden Konstellationen zur Praxis bringen, mit Inhalt beziehungsweise Bedeutung füllen, diese vielleicht auch verschieben und/oder widerständig unterlaufen. Kurz: Forschung wird als Prozess der konstitutiven Aushandlung verstanden.115 Während die intersektionale Perspektive in die ethnografische Praxis eine erhöhte Sensibilität für multipel wirksame Kategorisierungs- und Differenzierungssysteme hineinträgt, kann umgekehrt die Intersektionalitätsdebatte von kulturanthropologischen Konzeptionen profitieren, die in der Exploration normativer Ordnungen der Fluidität sozialer Konstellationen Raum geben. Als ein noch weitgehend offenes und daher weiter zu diskutierendes Problem sehen wir aber nach wie vor die Frage des angemessenen Umgangs mit variierenden Zuschreibungen und komplexen Interaktionen an, die vielortige Forschungspraktiken notwendig mit sich bringen. Diese erfordern einen hohen Grad an reflexiver Positionalität. Eine bekenntnishafte Darlegung der eigenen Positionierung oder gar Positioniertheit in der Einleitung eines
114 Marcus: Ethnography (wie Anm. 105), S. 105. Eine solche Perspektive ähnelt der Debatte um die Reskalierung verschiedener Ebenen, wobei die Feldforschung im Sinne einer multi-sited ethnography an den Schnittstellen, Überschneidungen und Neuzusammensetzungen dieser verschiedenen skalaren Ebenen anzusetzen hätte, vgl. Brenner, Neil: Globalisierung und Reterritorialisierung: Städte, Staaten und die Politik der räumlichen Redimensionierung im heutigen Europa. In: WeltTrends 17 (1997), S. 7–29. 115 Rose, Gillian: Situating Knowledges: Positionality, Reflexivities and other Tactics. In: Progress in Human Geography 21, 3 (1997), S. 305–320, S. 316. Eine solche Perspektive steht zwar im Einklang mit der Vorstellung von Feldforschung als zweite/neuerliche Sozialisation, geht aber darüber hinaus, indem sie auch die Veränderung der Beforschten umfasst.
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Textes – wie es gelegentlich fast ritualartig geschieht – ist hierfür unzureichend, führt sie doch dazu, dass der die Forschung bestimmende Drahtseilakt immer neuer Aushandlungsprozeduren auf der Ebene der textuellen Repräsentation endgültig stillgestellt wird.116 Die Forderung, die multiplen Anrufungen in ethnografischen Forschungen in ihrer Fluidität und in ihren intersektional zu perspektivierenden Bedeutungsschichten sichtbar zu halten, meint einerseits also mehr als die bloße Benennung eigener Privilegierungen respektive Marginalisierungen und die Feststellung einer situierten Wissenspraxis. Andererseits müssen wir als Forscher_innen die Partialität der eigenen Wissensproduktion auch in der Hinsicht anerkennen, dass wir weder die Wirkmacht der Forschungskontexte mit ihren multiplen Machtkonstellationen noch unsere eigene Verwobenheit darin in letzter Konsequenz durchschauen können.117 Die Prozeduren wie Effekte der Wissensproduktion sind unvorhersehbar – Forschung insofern immer ein »messy business«:118 sei es in Hinblick auf den Verlauf des Forschungsprozesses, sei es in Bezug auf die Aneignung durch unterschiedliche Auditorien. Auch eine intersektionale Perspektivierung kann insofern nur bedeuten, dass wir möglichst sensibel möglichst viele Kategorisierungen im Spiel behalten – und dies nicht zuletzt mit Blick auf die politischen Kontexte, in die wir mit unseren Forschungen intervenieren wollen. Damit wollen wir weder für eine normativ organisierte oder durch politische Vorgaben eingeengte Forschung plädieren, noch gegen wissenschaftliche Reflexivität argumentieren – ganz im Gegenteil jedoch für die nahezu grenzenlose Anerkennung der Situiertheit und Partialität unserer Wissensproduktion, für die Unsicherheit unserer Interpretationen und nicht zuletzt für eine grundsätzliche Offenheit gegenüber der Komplexität und Kontingenz gesellschaftlicher Problemlagen eintreten.
116 Ähnlich dem Vorgang des othering, wie ihn Johannes Fabian in »Time and the Other« schilderte, wird das strukturelle Moment der multiplen Positionierung und der relationalen wie situationalen Anrufung und Einschreibung in das Feld der Machtverhältnisse auf der Ebene des Textes eingefroren – auch zugunsten der Stringenz der Argumentation, vgl. Fabian, Johannes: Time and the Other: How Anthropology Makes its Object. London 1983. 117 Vgl. hierzu auch Rose: Knowledges (wie Anm. 115). 118 So Hester Parr, zit. nach Rose: Knowledges (wie Anm. 115), S. 314.
Intersektionalität in der Diskussion
Intersektionalität als kritisches Werkzeug der Gesellschaftsanalyse Ein E-Mail-Interview mit Nina Degele und Gabriele Winker
N IKOLA L ANGREITER UND E LISABETH T IMM
Nach dem einführenden Abendvortrag, in dem Encarnación Gutiérrez Rodríguez eine kritische Genealogie der Intersektionalitätsansätze von deren Entstehung in sozialen Bewegungen bis zu ihrer akademischen Formulierung entwickelte, stellten Nina Degele und Gabriele Winker mit der Keynote »Doing Intersectionality – intersektional analysieren. Vorschläge zu einer gesellschafts- und gendertheoretisch begründeten Methodologie« den von ihnen formulierten methodischen Analyseansatz vor. Ihr Beitrag wurde von den TeilnehmerInnen der Konferenz immer wieder aufgegriffen und evozierte neben vielen Fragen intensive Diskussionen. Nachdem während der Tagung aus Zeitgründen nicht alle Punkte umfassend erläutert und debattiert werden konnten, haben wir die beiden Referentinnen eingeladen, via E-MailInterview nochmals ausführlicher auf die Diskussionspunkte einzugehen. Nina Degele und Gabriele Winker vertreten eine intersektionale Mehrebenenanalyse, die sich auf ein praxeologisches Herangehen stützt. Unmittelbar vor der Tagung im Juni 2009 ist ihr Band »Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten« erschienen.1 Einleitend fragen wir nach der Rezeption und Adaption von Intersektionalität durch die beiden Autorinnen, die anschließend die Eck- und Kernpunkte des von ihnen entwickelten Ansatzes
1
Winker, Gabriele/Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld 2009.
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referieren. Schließlich nehmen die beiden Stellung zur in Wien im Rahmen der Tagung »Intersectionality. Theorien, Methoden, Empirien« geäußerten Kritik und erläutern im Zuge dessen detaillierter Probleme der Kategorienbildung und Kategorisierung, thematisieren die Situiertheit jeglichen Wissens und der eigenen Arbeit. Sie berichten des Weiteren über die Herausforderungen intersektioneller Mehrebenenanalyse in Forschung und Lehre, reflektieren über aktuelle Tendenzen in den Gender- und Queer Studies sowie über die Zusammenhänge von Wissenschaft und Politik beziehungsweise die Differenzen zwischen diesen Feldern.
1. Z UR ( EIGENEN ) R EZEPTION
DES
A NSATZES
Zum Einstieg in die erste Interview-Runde eine biografische Frage: Wie sind Sie (jeweils) zum Ansatz der Intersektionalität gekommen? In welchem Kontext und wann haben Sie begonnen ihn zu rezipieren? Uns fordern seit Jahren soziale Ungleichheiten und damit verbundene Diskriminierungen, Ausgrenzungen entlang unterschiedlicher Differenzkategorien heraus: Die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft sich, Frauen tragen nach wie vor die Hauptlast der Haus- und Sorgearbeit, Menschen mit nichtheterosexueller Orientierung werden immer noch als von der Norm Abweichende stigmatisiert, Kinder mit Migrationshintergrund haben selbst in der dritten Generation deutlich schlechtere Bildungschancen als Einheimische, Alte und Kranke stehen am Rand der Gesellschaft. Diese Reihe ließe sich weiter fortsetzen. Wo immer wir hinschauen, haben wir es mit Abwertungen entlang vielfältiger Differenzierungskategorien zu tun. Als Geschlechterforscherinnen können wir zwar auf ein reichhaltiges Wissen zu diversen Formen der Diskriminierung und Abwertung entlang der Kategorie Geschlecht zurückgreifen und auch auf Wechselwirkungen mit anderen Kategorien verweisen. Allerdings können wir Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen in ihrer Verwobenheit mit anderen Herrschaftsverhältnissen kaum konkret fassen. Nicht umsonst sprechen viele feministische WissenschaftlerInnen in den letzten Jahren von Paradoxien und Ungleichzeitigkeiten und betonten damit die Widersprüchlichkeit gesellschaftlicher Entwicklungen. So ist oft die Rede von einer gleichzeitigen Erodierung und Verfestigung von Geschlechterverhältnissen, was wiederum mit der Wirkung anderer Herrschafts-
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verhältnisse zusammenhängt. Dies ist ja nicht falsch, aber auch nicht sehr hilfreich: Natürlich hängt alles mit allem zusammen, aber wie? Wir wollten jedoch jeweils einzeln einen fundierten Beitrag zur Analyse sozialer Ungleichheiten leisten, um daraus konkrete Handlungsansätze für mögliche Veränderungen abzuleiten. Die Debatte um Intersektionalität schien uns einen Weg zu eröffnen, Zusammenhänge und Wechselwirkungen sozialer Differenzierungen und Ungleichheiten entlang vielfältiger Kategorien zu fassen. Mit dieser Idee haben wir uns 2006 getroffen und sind seither dieser Spur gemeinsam gefolgt. Was hat Ihnen in theoretischer und methodisch-empirischer Hinsicht an den gängigen feministischen Forschungskonzepten gefehlt? Ganz allgemein fehlten uns theoretische und methodische Werkzeuge, um soziale Ungleichheiten und damit verbundene Unterdrückungs- und Diskriminierungsmechanismen in ihrer Verwobenheit zu analysieren und daraus neue Ansatzpunkte für feministisches oder besser queer-feministisches Handeln herauszuarbeiten. Zunächst einmal fokussieren viele feministische Forschungskonzepte zu einseitig auf die Kategorie Geschlecht. Dort wo sie andere Kategorien wie Ethnie oder sexuelle Orientierung mit einbeziehen, erscheint uns dies oft zufällig und zu wenig begründet, warum nun genau diese und nicht andere Kategorien Berücksichtigung finden. Darüber hinaus fehlte uns eine Methodologie, um die Wechselwirkungen in den Griff zu bekommen und zu verstehen. Zwar wird viel über die Verwobenheit von Macht- und Herrschaftsverhältnissen geschrieben, aber es gibt kaum einen methodologischen Forschungsansatz, um die Wechselwirkungen unterschiedlicher Diskriminierungsstrukturen empirisch zu analysieren. Das ist allerdings keine spezifische Schwierigkeit feministischer Forschung, sondern ein generelles sozialwissenschaftliches Problem. Neben der unsystematischen Verwendung anderer Kategorien und dem Fehlen methodologischer Werkzeuge störte uns vor allem, dass selten klar wird, aus welcher Perspektive WissenschaftlerInnen eigentlich argumentieren. Sind gesellschaftliche Strukturen gemeint, wie es die feministische Forderung nach einem social re-turn nahelegt? Oder werden, wie im konstruktivistischen Forschungsfeld zu doing gender und doing difference interaktive Klassifizierungsprozesse und damit Identitätskonstruktionen un-
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tersucht? Oder aber sind Symbolsysteme gemeint, wie sie diskurstheoretische Ansätze aus dem poststrukturalistischen Umfeld analysieren? Vor allem die Schriften von Leslie McCall,2 Barbara Risman,3 Kathy Davis4 und Sylvia Walby5 haben in den letzten Jahren darauf verwiesen, dass Forschende gerade in der Auseinandersetzung mit sozialen Ungleichheiten kenntlich machen müssen, auf welcher Ebene sie argumentieren. Doch auch wenn diese Klarheit besteht, tritt ein weiteres Problem auf: Viele theoretische Ansätze und empirische Untersuchungen in der Frauenund Geschlechterforschung konzipieren Strukturen, Identitäten und Repräsentationen als sich wechselseitig ausschließend und betrachten deshalb jeweils nur eine, maximal zwei dieser Ebenen. Diese Problematik begegnete uns allerdings auch innerhalb der intersektionalen Debatten. So vernachlässigen Judith Butler6 und Anna Bredström7 die Ebene sozialer Strukturen und auch interaktiver Handlungen, die nicht in Sprache aufgehen. Bei den sozialstrukturellen Ansätzen von Leslie McCall,8 Sylvia Walby9 und Joan Acker10 dagegen finden Normen und Ideologien nur unzureichend Berück-
2
McCall, Leslie: The Complexity of Intersectionality. In: Signs. Journal of
3
Risman, Barbara J.: Gender as a Social Structure. Theory Wrestling with Acti-
4
Davis, Kathy: Intersectionality as Buzzword. A Sociology of Science Perspective
Women in Culture and Society 30 (2005), S. 1771–1800. vism. In: Gender & Society 18 (2004), S. 429–450. on what makes a Feminist Theory Successful. In: Feminist Theory 9 (2008), S. 67–85; dies.: Intersectionality in Transatlantic Perspective. In: Knapp, GudrunAxeli /Klinger, Cornelia (Hrsg.): ÜberKreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz. Münster 2008, S. 19–35. 5
Walby, Sylvia: Complexity Theory, Systems Theory, and Multiple Intersecting
6
Butler, Judith: Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. New
Social Inequalities. In: Philosophy of the Social Sciences 37 (2007), S. 449–470. York 1990. 7
Bredström, Anna: A Challenge for Feminist HIV/AIDS Research. In: European
8
McCall: Complexity (wie Anm. 2).
9
Walby: Complexity (wie Anm. 5).
Journal of Women’s Studies 13 (2006), S. 229–243.
10 Acker, Joan: Inequality Regimes. Gender, Class, and Race in Organizations. In: Gender & Society 20 (2006), S. 441–464.
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sichtigung. Barbara Risman 11 plädiert zwar vehement für die Integration dreier Ebenen – neben Identität und Struktur finden bei ihr individuelle Geschlechterunterschiede, die aber aufgrund ihrer individualistischen Verengung nun gerade keinen weiterführenden Erkenntnisgewinn versprechen, Eingang in die Typologie. Die Ebene der symbolischen Repräsentation dagegen fehlt. Lynn Weber schließlich spezifiziert Systeme der Unterdrückung auf der Mikro- und Makroebene sowie im Hinblick auf die Dimensionen Ideologie, Politik und Ökonomie. Dies geschieht über die Kategorien Rasse, Klasse, Geschlecht und Sexualität, die jedoch theoretisch unzureichend konzeptualisiert sind.12 Angesichts dieses Forschungsstands stellt Linda McDowell fast schon verzweifelt die Frage, ob und wie überhaupt über Fallstudien hinauszukommen und die Ableitung theoretischer Schlüsse zu ermöglichen sei. Dabei bleibt allerdings auch sie mit ihrer Forderung nach »theoretical promiscuity« in Absichtserklärungen stecken: »Methodologically, I think we have to work harder to acquire and use multiple approaches.«13 Teamarbeit, wie Sie beide sie betreiben, ist in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften eher selten. Hat diese Arbeitsform etwas mit dem spezifischen Forschungskonzept zu tun, das Sie anwenden? Bedingt Intersectionality gar Arbeiten im Team? Hier ist es sinnvoll, zwischen Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften zu unterscheiden. In den Geistes- und Kulturwissenschaften ist Teamarbeit wahrscheinlich eher die Ausnahme, in den Sozialwissenschaften ist sie dagegen häufiger anzutreffen. Unsere Teamarbeit ist einerseits das Produkt disziplinärer Sozialisation, andererseits ist sie dem Forschungskonzept geschuldet. Letzteres gilt vor allem in Hinblick auf die verschiedenen theoretischen und methodischen Zugänge, die wir zu verbinden beabsichtigten. Sozialstrukturelle Makro-Analysen funktionieren anders als biografische Rekonstruktionen
11 Risman: Gender (wie Anm. 3). 12 Weber, Lynn: Understanding Race, Class, Gender, and Sexuality. A Conceptual Framework. New York 2001. 13 McDowell, Linda: Thinking through Work: Complex Inequalities, Constructions of Difference and Trans-national Migrants. In: Progress in Human Geography 32 (2008), S. 491–507, S. 504.
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von Lebenserfahrungen, die von Menschen erzählen und dann sozialwissenschaftlich ausgewertet werden. Noch einmal anders verhält es sich mit der Analyse von symbolischen Repräsentationen, von Normen, Werten und Ideologien etwa in Werbung, Massenmedien, Literatur oder Filmen, die sehr viel hermeneutisches Geschick verlangt. Aber nicht nur die methodischen Zugänge erfordern ein multiperspektivisches Vorgehen. In den intersektionalen Analysen geht es ja auch und gerade darum, verschiedene Ungleichheitsdimensionen nicht isoliert voneinander, sondern in ihren Wechselwirkungen zu betrachten, sie also aufeinander zu beziehen. Dazu wiederum ist die Kenntnis verschiedener disziplinärer Kontexte wie Gender-, Postcolonial- und Queer Studies sowie der Soziologie sozialer Ungleichheiten erforderlich, was einzelne Forschende sicherlich schnell an den Rand dessen bringt, was alleine zu bewältigen wäre. Teamarbeit macht es möglich, Forschung in einem Umfang durchzuführen, der für Einzelne nicht zu leisten ist. In einem Team können Erfahrungen aus unterschiedlichen Denktraditionen Reflexionsprozesse befruchten und neue Ansätze voranbringen.
2. E CKPUNKTE DES K ONZEPTS NACH N INA D EGELE /G ABRIELE W INKER Könnten Sie bitte nochmals die zentralen Punkte Ihres Konzepts von Intersektionalität darlegen? Wie bereits angesprochen wollen wir mit einer intersektionalen Herangehensweise die Vielschichtigkeit sozialer Ungleichheiten erfassen und damit Ansatzpunkte für politisches Handeln herausarbeiten. Um dieses Ziel zu erreichen, entwickeln wir eine intersektionale Mehrebenenanalyse, die ausgehend von sozialen Praxen die Bedeutung von Differenzierungskategorien auf drei Ebenen – mit Blick auf Gesellschaftsstrukturen, Identitätskonstruktionen und symbolische Repräsentationen – in ihren Wechselwirkungen berücksichtigt. Das Ziel unseres Forschungsansatzes besteht darin, die immer wieder neu mit verschiedenen Differenzkategorien und auf verschiedenen Ebenen konstruierten Hierarchisierungen und Diskriminierungen in ihren Verwobenheiten aufzudecken. Wir wollen dabei erforschen, wie sich die AkteurInnen selbst begreifen, wo sie Hindernisse für die Realisierung ihrer Lebensinteressen sehen, wo sie Unterdrückung und Diskriminierungen er-
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fahren und wo sie auch Widerstandspotenziale erkennen. Das geht nicht ohne die Kategorie Geschlecht, ist aber auch nicht zu realisieren ohne zu erforschen, wie Geschlecht mit vielen anderen Differenzierungskategorien verwoben ist. Um dieses Ziel zu erreichen, benötigen wir zunächst Theorien im Sinne von guten Werkzeugen, mit denen es gelingt, gesellschaftliche Zusammenhänge möglichst umfassend zu analysieren. Die Frauen- und Geschlechterforschung hat in den letzten Jahrzehnten einige hilfreiche und weiterführende theoretische Ansätze entwickelt, auf die wir zurückgreifen. Unsere intersektionale Mehrebenenanalyse ist der Versuch, diese Ansätze zu bündeln und zu verbinden. So greifen wir erstens auf die strukturorientierte Feminismusdebatte der 1970er und 80er Jahre zurück, die in der Debatte um Herrschaftsverhältnisse das Verhältnis von Kapitalismus und Patriarchat im Blick hat. Zweitens nehmen wir die identitätsbezogene ethnomethodologisch orientierte Debatte um doing gender oder doing difference der 1980er Jahre auf und drittens beziehen wir uns auf die repräsentationsorientierte Debatte um das performative Hervorbringen und Verfestigen von Normen und Werten rund um das Werk von Judith Butler seit den 1990er Jahren. Wir bringen diese drei Stränge zusammen und können, indem wir statt aus einer, aus drei feministischen Perspektiven auf gesellschaftliche Konstruktionsprozesse schauen, mehr erkennen. In unserem Buch »Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten« verknüpfen wir unsere theoretische intersektionale Ungleichheitsanalyse mit methodologischen Überlegungen und unterbreiten einen Vorschlag, wie diese in der empirischen Praxis umgesetzt werden können. Damit führen wir nicht nur die genannten drei theoretischen Perspektiven zusammen, sondern zeigen darüber hinaus auf, wie damit soziale Prozesse der Herstellung, Aufrechterhaltung oder auch Verminderung sozialer Ungleichheiten empirisch zu erforschen sind. Wir stellen also nicht nur fest, wie etwas gemacht werden müsste, sondern wir bieten einen theoretisch fundierten Werkzeugkasten, mit dem sich empirische intersektionale Analysen durchführen lassen. Schließlich verbinden wir unsere intersektionalen Ergebnisse mit dem queer-feministischen Anspruch, Handlungsansätze herauszuarbeiten, mit denen sich diejenigen Verhältnisse angreifen und verändern lassen, die Menschen unterdrücken und sie an der Entfaltung ihrer Bedürfnisse und Realisierung ihrer Lebensziele hindern. Konkret haben wir bisher folgende Bausteine zusammengeführt:
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Soziale Praxen: Intersektionale Forschung beginnt, entsprechend der Theorie der Praxis von Pierre Bourdieu,14 bei empirisch erfassbaren sozialen Praxen. Deshalb analysieren wir mit unserem praxeologischen Ansatz das auf Körper, Sprache und Wissen basierte Handeln von Menschen. Drei Perspektiven: Wir blicken aus drei Perspektiven auf soziale Praxen. Entsprechend arbeiten wir empirisch Identitätskonstruktionen und deren Bezüge zu sozialen Strukturen und symbolische Repräsentationen heraus. Wechselwirkungen der Ebenen: Methodologisch zeigen wir die Zusammenhänge und Abhängigkeiten der drei Ebenen – Strukturen, Identitäten, Repräsentationen – auf, indem wir fragen, welche Wechselwirkungen die jeweiligen Konstruktionen auf einer Ebene auf die jeweils anderen beiden Ebenen haben. 8-Schritte-Methode: Methodisch gehen wir in acht Schritten vor. Damit lässt sich der Anspruch, soziale Praxen intersektional zu untersuchen, im empirischen Forschungsprozess sowohl für Einzelfallanalyse als auch für Typenbildungen konkret realisieren. Induktiv und offen: Wir gehen induktiv von einer nach oben offenen Anzahl von Kategorien aus, um verschiedenartige Identitätskonstruktionen und unterschiedliche Normen, Werte und Ideologien und auch Verweise auf Strukturen in ihrer Vielfalt zu berücksichtigen. Genauer gesagt setzen wir an konkreten Phänomenen an und analysieren sie unter anderem in Hinblick auf dabei wirksame Ungleichheitsdimensionen. Deduktive Strukturkategorien: Wir legen auf der theoretischen Strukturebene – und auch nur dort – vier Strukturkategorien deduktiv fest, die wir nicht statisch auf die Auswertung anwenden, sondern die uns ermöglichen, die von Interviewpersonen genannten sozialen Strukturen mit den von uns theoretisch analysierten Klassen-, Geschlechter-, Rassen- und Körperverhältnissen in Beziehung zu setzen. Damit können wir, indem wir Interviews oder anderes empirisches Material miteinander vergleichen, Auslassungen und Leerstellen erkennen. Erweiterung um Körper: Wir erweitern auf der Strukturebene die Triade class, race, und gender um die Kategorie Körper, da wir mit dieser Strukturkategorie neben der kulturellen Leistungsfähigkeit (Bildung, Beruf usw.)
14 Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Aus dem Franz. von Cordula Pialoux. Frankfurt a.M. 2009 (Orig. Paris 1972).
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die körperliche Leistungsfähigkeit als Grundvoraussetzung für das individuelle Reproduktionshandeln und den Verkauf der eigenen Arbeitskraft berücksichtigen können. Geschlecht/Heteronormativität: Wir erfassen mit der Strukturkategorie Geschlecht nicht nur die Frau-Mann-Unterscheidung und damit die Zweigeschlechtlichkeit, sondern auch die eng damit verbundene heterosexuelle Zuordnung und Hierarchisierung. Damit integrieren wir in diese Strukturkategorie Geschlecht die in intersektionalen Zusammenhängen oft vorgeschlagene Kategorie Sexualität und trennen nicht künstlich Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung. Herrschaftsverhältnisse im Plural: Wir setzen Herrschaftsverhältnisse, also Klassismen, Heteronormativismen, Rassismen und Bodyismen explizit in den Plural, um auf ihre Vielfältigkeit, Prozesshaftigkeit und Veränderbarkeit hinzuweisen. Herrschaftsverhältnisse in ihren Wechselwirkungen: Im Unterschied zur Gegenüberstellung von Großsystemen wie etwa von Kapitalismus und Patriarchat sehen wir Klassen-, Geschlechter-, Rassen- und Körperverhältnisse als Herrschaftsverhältnisse, die innerhalb kapitalistischer Gesellschaften in Wechselwirkung stehen. Die Bedeutungen der Herrschaftsverhältnisse können sich in Abhängigkeit von ihrem Kontext verschieben. Wie gehen Sie in Ihrer empirischen Forschung mit der eigenen Situiertheit und mit den damit verbundenen Grenzen der Forschungspraxis um? Grundlage ist die theoretische Berücksichtigung und auch die praktische Anerkennung der eigenen Situiertheit beziehungsweise in der Sprache Karl Mannheims formuliert, die Anerkennung der Relativität und Perspektivität allen Wissens.15 Wir wollen auch die intersektionale Forschung nicht an einem vermeintlichen Objektivitätsideal messen: Forschung ist situiert und perspektivisch und dies gilt es zu akzeptieren. In den Gender- und Queer Studies wird hinsichtlich des situierten Wissens auch immer wieder zu Recht auf die Arbeiten von Donna Haraway16 verwiesen. Die Situiertheit und Perspektivität
15 Vgl. Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie. Frankfurt a.M. 1952 (3. Aufl., Orig. Bonn 1929), S. 227–267. 16 Haraway, Donna: Ein Manifest für Cyborgs. In: Dies.: Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt a.M./New York, 1995, S. 33–72;
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der eigenen Forschungspraxis wird vor allem in der empirischen Forschung virulent. Dort sind Forschende damit konfrontiert, mühsam einen Zugang zum Feld, etwa zu den GesprächspartnerInnen aus einem bestimmten Bereich, zu bekommen. Die Forschungsbeziehung kann distanziert oder sehr vertrauensvoll sein oder auch vollständig fehlschlagen. Konkret kann dies bedeuten, dass eine der Mittelschicht entstammende weiße Professorin mittleren Alters auf größere Schwierigkeiten stößt, wenn sie junge Obdachlose und MigrantInnen zu ihrer Situation als Erwerbslose befragt, als Studierende, die in politischen, gesellschaftlichen oder pädagogischen Zusammenhängen zu verschiedenen Personen bereits ein solches Vertrauen aufgebaut haben, so dass diese sich zu einem Gespräch bereit erklären. Solche Distanzen und Vertrautheiten liefern wichtige Hinweise auf soziale Milieus und Zusammenhänge. Deshalb ist die Teamarbeit ein wichtiges Korrektiv sowohl bei der Erhebung wie auch bei der Auswertung von Daten. Das Forschungsteam bespricht und reflektiert gemeinsam die Möglichkeiten, Befindlichkeiten, Grenzen, Schwierigkeiten, Notwendigkeiten beim Feldzugang wie bei der Datenerhebung. Ebenso sollten auch die Ergebnisse der Auswertung im Team diskutiert und validiert werden. Mehrfach wurde in den Beiträgen und Debatten intersektionellen Arbeiten ein besonderes Reflexionspotenzial zugeschrieben. Wie sehen Sie das? Lässt sich mit Hilfe dieses Ansatzes die Doppelstruktur von Aussage und Aussagebedingungen knacken? Wir wissen nicht, was Sie mit der genannten Doppelstruktur genau meinen. Betrachten wir die Vielfalt von Arbeiten, die mit einem intersektionalen Anspruch auftreten, sehen wir darin nicht per se mehr Reflexionspotenzial als in nicht-intersektionalen Arbeiten. Ein Startvorteil unseres intersektionalen Ansatzes besteht aber sicherlich darin, dass wir einen breiten Fokus auf unterschiedliche Herrschaftsverhältnisse und Ideologien legen. Dies ist anstrengend, verhilft allerdings, so zumindest unsere Hoffnung, zu einem präziseren Blick auf soziale Ungleichheiten und Diskriminierungen. Dies wiederum erweitert die Reflexionsmöglichkeiten in Bezug auf das politische Veränderungspotenzial. Allerdings haben feministische Forschungen, die sich auf Ge-
dies.: Situiertes Wissen: Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive. In: Ebd., S. 73–97.
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schlechterverhältnisse konzentrieren oder die Bedeutung dieser Kategorie genealogisch herausarbeiten, nach wie vor einen wichtigen Stellenwert und ebenfalls ein großes Reflexionspotenzial. Voraussetzung ist allerdings, dass deutlich wird, welches theoretische und/oder empirische Feld aus welcher Perspektive betrachtet wird. Welche Erfahrungen haben Sie mit der Vermittlung von Intersectionality in der Lehre? Welchen Eindruck haben Sie von der Reaktion der Studierenden auf diesen Input? Greifen sie ihn auf, auch in Abschluss-/Qualifikationsarbeiten? Wir haben in der Lehre einige Veranstaltungen und Workshops zu Intersektionalität angeboten und einige Examensarbeiten und Promotionen betreut oder betreuen diese gegenwärtig. Selbstverständlich sind auch bei dieser Thematik die Reaktionen der Studierenden recht unterschiedlich. Einige unserer Studierenden der Gender Studies sind begeistert, dass sie mit einem empirisch orientierten intersektionalen Ansatz die Grenzen der Geschlechterforschung überschreiten können. Andere fühlen sich von der Vielschichtigkeit und Komplexität der Theorie- und Methodenansätze überfordert und wählen lieber ›kleinere‹ Themen, die sie mit herkömmlichen Mitteln bearbeiten. Wieder andere können mit einer praxeologischen Analyse von Ungleichheiten nichts anfangen und lassen die Finger von empirischen Fragen. Auch in der Lehre hat sich die Teamarbeit bewährt. So haben wir beispielsweise ein Seminar parallel in Hamburg und Freiburg abgehalten und die Studierenden dann an einem Wochenende in einem Blockseminar zusammengeführt. Dies hat zwischen den Studierenden, aber auch bei uns als Lehrenden große Synergien freigesetzt. Wir denken, dass es gerade bei vielschichtigen intersektionalen Ansätzen notwendig ist, den Studierenden ein Experimentierfeld zu geben, in dem sie konkrete Unterstützung von Dozierenden, aber auch von KommilitonInnen erhalten. Dazu ist viel Zeit erforderlich. Stimmen die Voraussetzungen, begrüßen viele Studierende die Möglichkeit, auf Grundlage unseres praxeologisch orientierten Intersektionalitätsansatzes eigene empirische Forschungen durchzuführen, die ihnen sonst als ›zu groß‹ im Sinne von nicht zu bewältigen erschienen wären. Sie setzen sich theoriegeleitet mit Herrschaftsverhältnissen und Ungleichheitsdimensionen auseinander und modifizieren diese entsprechend ihren empirischen Untersuchungen.
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In unseren Seminaren und im Rahmen von Qualifizierungsarbeiten haben sich Studierende und Promovierende bisher mit einer Fülle von Themen auseinandergesetzt: Lebensrealitäten lesbischer Migrantinnen, Homophobie im Fußball und beim Militär, Ausgrenzung und gesellschaftliche Teilhabe von Erwerbslosen, Arbeits- und Lebensbedingungen von IngenieurInnen im Vergleich zu Pflegekräften, Situation von SexarbeiterInnen im Kontext der Fußballweltmeisterschaften in Deutschland 2006 und Südafrika 2010, Empowerment im Bereich der Sexarbeit sowie Widerstandsstrategien von NGOAktivistInnen. Die Betreuung und Beurteilung der Forschungsprozesse und -ergebnisse sind nicht grundlegend anders als bei anderen Arbeiten – abgesehen von dem Befund, dass in den entsprechenden Kolloquien ein intensiverer Austausch stattfindet, weil inzwischen immer mehr Studierende mit einem intersektionalen Ansatz arbeiten und damit die Debatten um den Stellenwert von Kategorien ebenso wie zu den theoretischen Perspektiven mit mehr Klarheit geführt werden.
3. K RITIKPUNKTE AM K ONZEPT DER I NTERSEKTIONALITÄT Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen der ›alten‹ US-amerikanischen, genauer afroamerikanischen und Hispanic-American Intersectionality und jener Intersektionalität, die seit einigen Jahren in den deutschsprachigen Gender- und Queer Studies propagiert wird? Die US-amerikanische Intersektionalitätsdiskussion hat als erste Fragen der Ethnizität, der Hautfarbe und rassistischer Diskriminierungen aufgeworfen, was in der spezifischen US-amerikanischen Geschichte begründet ist. Eine deutschsprachige Intersektionalität im Sinne einer geschlossenen Denkrichtung gibt es nicht, dazu sind die Ansätze – sie erstrecken sich von poststrukturalistischen Dekonstruktionen bis zu empirischen Sozialstrukturanalysen – zu unterschiedlich. Aber Encarnación Gutiérrez Rodríguez fragte (sich) im Eröffnungsvortrag, wo das besondere Interesse der deutschsprachigen Geschlechterforschung an Intersektionalität herrühre ...
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Wie bereits gesagt gibt es aus unserer Sicht kein einheitliches Interesse der deutschsprachigen Geschlechterforschung an Intersektionalität. Dazu sind die Ansätze zu breit gefächert. Während sich Helma Lutz und Norbert Wenning beispielsweise bereits verhältnismäßig früh mit der Vielfalt zu berücksichtigender Kategorien auseinandergesetzt haben,17 ging es Gudrun-Axeli Knapp von Beginn an um die Wechselwirkungen struktureller Herrschaftsverhältnisse.18 Andere deutschsprachige poststrukturalistische Ansätze wiederum verweisen darauf, wie vielschichtig die unterschiedlichen symbolischen Repräsentationen mit der Macht verwoben sind. Was wir als Gemeinsamkeit beobachten, allerdings nicht nur in der deutschsprachigen Intersektionalitätsforschung, ist die große Bereitschaft der Gender Studies, sich überhaupt auf intersektionale Ansätze einzulassen. Das ist ja nicht selbstverständlich, denn die eigene Masterkategorie zur Disposition zu stellen, wie es die Geschlechterforschung praktiziert, traut sich kaum eine Disziplin. Die soziologische Ungleichheitsforschung etwa tut sich viel schwerer damit, Klasse als eine Kategorie unter anderen zu betrachten.19 Vielleicht werden wir ja einmal retrospektiv sagen können, dass die Gender Studies einer disziplinenübergreifenden Ungleichheitsforschung den Weg bereitet haben, indem sie sich auf die Intersektionalität einließen. Das wäre ein großer Erfolg! Kategorien als Kritik – oder: Zur Kritik der Kategorisierung Ein weiteres im Rahmen der Tagung intensiv diskutiertes Thema waren die ›Kategorien‹. Hier wurde zum einen gefordert, weiter an den Kategorien prinzipiell zu arbeiten – etwa an deren Genealogien, insbesondere auch zu eruieren, wo möglicherweise Wahrnehmungen von westlichen Perspektiven zugestellt und hergestellt werden.
17 Lutz, Helma/Wenning, Norbert: Differenzen über Differenz – Einführung in die Debatten. In: Dies. (Hrsg.): Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen 2001, S. 11–24. 18 Knapp, Gudrun-Axeli: »Intersectionality« – ein neues Paradigma feministischer Theorie? Zur transatlantischen Reise von »Race, Class, Gender«. In: Feministische Studien 23 (2005), S. 68–81. 19 Ausnahme schon früh: Kreckel, Reinhard: Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit. Frankfurt a.M./New York 1992.
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Dies ist eine gute Idee. Beispielsweise fungiert ›Identität‹ in Ihrem methodischen Modell als feststehende Größe. Wie kann aber eine Idee des Subjekts wie ›Identität‹, die männlich, eurozentristisch und bürgerlich-modern ist, ein Analysewerkzeug sein, das Fragen ermöglicht? Identität ist für uns keineswegs eine feststehende Größe, sondern eine soziale Positionierung, um die in Prozessen sozialer Auseinandersetzungen gerungen wird. Wenn Menschen über sich sprechen, sich vorstellen oder Anderen gegenüber verdeutlichen wollen, wer sie sind, tun sie das mit Hilfe von Differenzierungskategorien. Eine Person kann sich als Deutsche, als Mutter oder als Bildungsbürgerin konstituieren und grenzt sich damit, bewusst oder nicht, von einer Nicht-Deutschen, Nicht-Mutter oder Nicht-Bildungsbürgerin oder sonstigen Anderen ab. Damit können sich Identitäten letztlich nur auf der Grundlage von Differenz konstruieren und nicht jenseits von ihr: »Dies hat die radikale und beunruhigende Erkenntnis zur Folge, dass die ›positive‹ Bedeutung jeder Bezeichnung – und somit ›Identität‹ – nur über die Beziehung zum Anderen, in Beziehung zu dem, was sie nicht ist, zu gerade dem, was von ihr ausgelassen ist, konstruiert werden kann; in Beziehung zu dem, was das konstitutive Außen genannt wurde«.20 Identitäten können nur wirksam werden, weil sie mit Hilfe von Differenzierungen Andere ausschließen. Einfach gesagt: Wir wissen, wer wir sind, wenn wir wissen, von wem wir uns abgrenzen. Dies gilt auch, wenn das Andere gar nicht erwähnt wird, Abgrenzungen können explizit oder implizit sein. Deshalb kann eine Identität nicht ›gefunden‹ werden, sondern sie wird permanent neu konstruiert. Mit einem solchen Konzept, das auch hybride Identitäten einschließt, lassen sich Identitätskonstruktionen (z.B. männlich, eurozentristisch oder bürgerlich-modern) rekonstruieren und auf ihre sozialen Entstehungs- und Persistenzkontexte hin befragen. Wie gehen Sie bei der Anwendung Ihrer Methode mit dem grundlegenden Problem um, dass die Festschreibung von vier Kategorien für die Analyse unumgänglich eine Konstruktion der Kategorien beinhaltet, die doch untersucht werden sollten?
20 Hall, Stuart: Wer braucht »Identität«? In: Ders.: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften, Bd. 4. Hamburg 2004, S. 167–187, S. 171.
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Um das Ziel einer gleichermaßen theoriegeleiteten wie explorativen Sozialforschung zu erreichen, plädieren wir für eine Kombination von ergebnisoffener und theoriegeleiteter Forschung. Konkret meinen wir damit eine Verbindung induktiver und deduktiver Verfahren. Die Untersuchung muss offen sein für Überraschungen, das heißt jedwede Kategorie kann relevant sein oder auch nicht – die Forscherin/der Forscher muss diese Relevanzen aber auch sehen können. Im Anschluss an Immanuel Kant heißt das: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.«21 Die Verbindung zahlenmäßig begrenzter Strukturkategorien mit anzahloffenen Identitäts- und Repräsentationskategorien lässt sich als Wechselspiel deduktiver (theoriegeleiteter) und induktiver (ergebnisoffener) Vorgehensweisen rekonstruieren. Durch theoriegeleitete Vorgaben wird es möglich, unbenannte (weil selbstverständliche und deshalb nicht thematisierte) Positionen aufzuspüren. Dabei handelt es sich meist um weit oben positionierte Identitäten, wie männlich, heterosexuell, nicht-behindert oder Weiß. Gleichzeitig können auf der Identitäts- und Repräsentationsebene vielfältige Differenzkategorien auftauchen, die es bei der Auswertung zu berücksichtigen gilt. Was passiert aber mit den Kategorien in Konfrontation mit empirischem Material. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen vorgegebenen Kategorien eines methodischen Ansatzes, wie Sie ihn formuliert haben, und der Vielfältigkeit und Unvorhersehbarkeit der Komplexität jeden empirischen Materials? Das zentrale Dilemma jeder Forschung besteht ja darin, dass sie empirisch ergebnisoffen praktiziert werden soll, gleichzeitig bringt die eigene wissenschaftliche und politische Situiertheit aber immer schon eine Wertung in die Beschreibung ein, die es zu reflektieren gilt (siehe oben). Es geht also nicht ohne Kategorien. Zunächst einmal gehen wir in der empirischen Forschung von Phänomenen, Problemen und Zusammenhängen aus, nicht von Kategorien. Wir geben für die empirischen Auswertungen also keine Kategorien vor, sondern plädieren im Gegenteil dafür, die Vielfältigkeit des empirischen Materials sprechen zu lassen. Die prinzipielle Offenheit von Kategorien auf der Identitätsebene
21 Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Frankfurt a.M. 1995, S. 95 (B 75, A51).
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und ihre Anbindung an gesellschaftliche Strukturen und symbolische Repräsentationen erlaubt es, methodologisch konstruktiv mit einem zentralen Problem der Gender- und Queer Studies – nämlich der Reifizierung – umzugehen. So setzen wir die zu untersuchenden Kategorien wie Geschlecht, Sexualität oder Generativität nicht einfach als relevant voraus, sondern berücksichtigen, ob und wie die Interviewpersonen diese Kategorien benennen. Mit der Kombination von induktiver und deduktiver Vorgehensweise gelingt es, auch das zu erkennen, was nicht thematisiert wurde. So lässt sich mit dem Blick auf mehrere Ebenen zeigen, dass Schweigen über Geschlecht nicht die gesellschaftliche Bedeutung dieser Kategorie minimiert, sondern die Kategorie – und das ist viel interessanter – oft in Wechselwirkung mit anderen Kategorien wirkt. In einer unserer empirischen Untersuchungen verweben die Interviewpersonen einer bestimmten Gruppe beispielsweise Geschlecht ohne es anzusprechen mit der Identifikation als Migrantinnen, die ausländerfeindlichen Normen und bürokratischen Hürden unterliegen. Erst auf der Repräsentations- und Strukturebene werden die Heteronormativismen überhaupt sichtbar, denn die alleinerziehenden Mütter sind einander widersprechenden normativen Anforderungen unterworfen und unterliegen zugleich ausländerrechtlichen Gesetzen, die Kinder und Mütter diskriminieren. Von Haupt-, Nebenwidersprüchen und neuen Klammersetzungen Ein weiterer Kritikpunkt bei der Tagung lautete, dass das Konzept der Intersektionalität eine komplexe Machtanalyse suggeriere, tatsächlich aber zu einer Relativierung der Analyse von Rassismus führe (im Endeffekt womöglich zur Verschleierung von Rassismus). Wie sehen Sie das? Was heißt »komplexe Machtanalyse«? Wenn damit gemeint ist, dass gesellschaftliche Phänomene in der intersektionalen Betrachtung nicht allein auf den Rassismus reduziert werden, stimmt der Vorwurf einer Relativierung – gegen den wir in diesem Fall nichts einzuwenden hätten. Eine Verschleierung von Rassismus soll durch Intersektionalitätsanalysen gerade erschwert werden, weil Ungleichheitsverhältnisse jeglicher Art immer auch im Hinblick auf manifeste oder latente Rassismen betrachtet werden.
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Sie geben dem Intersektionalitätsansatz dadurch eine Schlagseite, dass Sie »den Kapitalismus vor die Klammer setzen« – alle anderen Strukturierungen und Konstruktionen (gender, race, body in Ihrem Modell) sind also funktional für dieses Ungleichheits- und Strukturverhältnis. Wie begründen Sie diese Entscheidung, die als Rückfall in alte Haupt- und Nebenwiderspruchsmodelle kritisiert wurde. Bei der Aufzählung der Strukturkategorien und Konstruktionen in der obigen Klammer fehlt die Strukturkategorie Klasse. Sie ist für den Kapitalismus notwendig, aber Geschlecht, Rasse und Körper haben ebenfalls eine zentrale Bedeutung. Uns ist wichtig zu betonen, dass Kapitalismus und Klassenverhältnisse nicht das Gleiche sind. Kapitalistische Gesellschaften sind immer Klassengesellschaften, aber nicht alle Klassengesellschaften sind kapitalistische Gesellschaften. Kapitalismus ist nicht auf Klasse reduzierbar, sondern bildet einen gesellschaftlichen Zusammenhang, der auf der Grundlage ökonomischer Profitmaximierung operiert. Voraussetzung für die Aufrechterhaltung kapitalistisch strukturierter Gesellschaften ist neben der Sicherung der sozio-ökonomischen Produktionsverhältnisse und der Wiederherstellung der Produktionsmittel auch die möglichst kostengünstige Reproduktion der Arbeitskräfte. Erforderlich ist dazu der kurzfristige Zugriff auf geeignete, passend qualifizierte und flexible Arbeitskräfte zu möglichst geringen Löhnen, ohne dass für deren Reproduktion und Bereitstellung zu hohe Kosten entstehen. Dies gelingt durch einen flexibilisierten Zugang zum Arbeitsmarkt, durch Lohndifferenzierungen und durch kostengünstige Reproduktionsarbeit. Letzteres erfolgt vor allem über die Zuweisung unbezahlter Reproduktionsarbeit an Frauen in Familien – möglichst zusätzlich zur ihrer Erwerbsarbeit – und damit über die Differenzierungskategorie Geschlecht. Aber auch die Kategorien Klasse, Rasse und – wie wir behaupten – Körper differenzieren und regeln den Zugang zum Erwerbsarbeitsmarkt, die ungleiche Verteilung von Löhnen und Gehältern sowie die Erhaltung und Wiederherstellung der Arbeitskraft. Entlang der vier Strukturkategorien lässt sich also gesellschaftlich notwendige Arbeit sowohl in der Produktions- als auch der Reproduktionssphäre ungleich zuordnen. Gerade die Frauenforschung, die Geschlechterforschung und die feministische Forschung haben doch mühsam daran gearbeitet und erreicht, dass Geschlecht als eigene gesellschaftliche Dynamik aufgefasst wird, die nicht
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aus dem Klassenverhältnis abgeleitet ist. Ebenso gibt es rassistische Strukturen und Praktiken, die nicht der Kapitalakkumulation dienen, deren Ziel und Effekt andere sind. Dass Geschlecht nicht aus dem Klassenverhältnis abgeleitet werden kann, ist auch Grundlage unserer Arbeit. Was aber ist die »eigene gesellschaftliche Dynamik von Geschlecht« – das Patriarchat? Dazu haben wir in unserem Buch zur Intersektionalität ausführlich argumentiert und uns gegen die wissenschaftliche Konstruktion von zwei Großsystemen – Kapitalismus und Patriarchat – ausgesprochen.22 Für die gegenwärtige Gesellschaft steht die Jagd nach Profit nach wie vor im Zentrum der sozio-ökonomischen Entwicklung. Wie schon ausgeführt, sind kapitalistische Gesellschaften durch verschiedene Herrschaftsverhältnisse strukturiert (die schon zitierte britische Soziologin Sylvia Walby spricht in diesem Zusammenhang von unterschiedlichen »regime[s] of inequality«23). Die Kapitalakkumulation wird von den kontextabhängig anders miteinander verwobenen Klassen-, Geschlechter-, Rassen- und Körperverhältnissen unterstützt. Dabei folgen die von uns benannten und konkretisierten vier Herrschaftsverhältnisse unterschiedlichsten Prinzipien, ansonsten wäre es ja unsinnig, sie zu trennen. Geschlecht ist somit nicht aus Klassenverhältnissen abgeleitet, genauso wenig wie Klasse aus den Geschlechterverhältnissen. Hinsichtlich der rassistischen Strukturen und Praktiken wäre zunächst einmal induktiv zu klären, welche Funktionen sie in konkreten gesellschaftlichen Zusammenhängen erfüllen, welchen Zielen und Zwecken sie dienen. Danach wäre zu prüfen, ob und inwiefern sie in Widerspruch zu Profitmaximierung und Kapitalakkumulation stehen. Zur Politik der Intersektionalität – oder: Intersektionalität als Politik Während der Tagung in Wien wurde einerseits einmal mehr eine beobachtete Aneignung/Akademisierung/Stillstellung einer aus politischen Kontexten hervorgegangenen Diskussion zugunsten der eigenen akademischen Etablierung kritisiert. Andererseits wurde auch erörtert, inwiefern die ak-
22 Vgl. Winker/Degele: Intersektionalität (wie Anm. 1), S. 30–37. 23 Walby, Sylvia: Globalization & Inequalities. Complexity and Contested Modernities. London 2010, S. 64–66.
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tuelle Diskussion um Intersektionalität der Geschlechterforschung wieder mehr Aufmerksamkeit auch außerhalb feministischer oder queerer Kontexte bringt. Wie konzipieren Sie das Verhältnis von Geschlechterforschung und politischer Praxis? Wir befinden uns in einem permanenten und hoffentlich produktiven Spannungsverhältnis. In der Politik geht es um Macht und die Durchsetzung von gesellschaftlichen Normen, wofür Mehrheiten zu finden und zu überzeugen sind. In der Wissenschaft geht es um die Bereitstellung von Theorien und Methoden sowie um nachvollziehbare Erkenntnisse bezüglich Wahrnehmungen, Denkweisen und Handlungen. Wissenschaft muss die Politik irritieren, um durch Verunsicherung die Reflexionspotenziale gesellschaftlich produktiv zu machen. Insofern sind auch die beiden skizzierten Positionen nicht zwangsläufig ein Widerspruch – die Geschlechterforschung wird als Geschlechterforschung nie direkt politisch wirksam sein. Sie bedarf immer der Übersetzung in politische Kontexte, was die Geschlechterforschung selbst vermutlich nicht besonders gut leisten kann. Sie kann aber dafür sorgen, dass sie außerhalb des akademischen Kontexts verstanden wird, und genau darin liegt das Potenzial der gegenwärtigen Intersektionalitätsdiskussion. Die wissenschaftlich-akademische Diskussion greift Fragen aus politischen Zusammenhängen auf, beschreibt sie in ihrer wissenschaftlichen Sprache auf Basis von Theorien, die sie in Form von Reflexionen und empirischen Befunden in außerakademische Zusammenhänge zurückspielt. Wenn das gelingt, kann die Geschlechterforschung darauf stolz sein. Inwiefern hat die Tatsache, dass Frauen- und Geschlechterforschung (und auch Intersectionality) aus einer politischen Bewegung heraus entstanden sind, Konsequenzen für die eigene wissenschaftliche Arbeit? Die Tatsache, dass die Entwicklung unserer Wissenschaften und Konzepte – Gender- und Queer Studies ebenso wie Intersectionality – Einfluss auf politische Bewegungen hat, ist für uns selbstverständlich von großer Bedeutung, wir wollen schließlich Widerstandspotenziale sichtbar machen. Wir verbinden das intersektionale wissenschaftliche Arbeiten mit der Suche nach Möglichkeiten für politisches Handeln. Der Ansatz der Intersektionalität als Mehrebenenanalyse geht vom alltäglichen Handeln verschiedener AkteurInnen aus und verknüpft Identitätskonstruktionen mit symbolischen
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Deutungsmustern und strukturellen Bedingungen. Mithilfe einer intersektionalen Methodologie können wir die bestehenden Verhältnisse in ihren diskriminierenden und abwertenden Formen beschreiben, dabei aber auch Widersetzungen der Interviewpersonen gegenüber Ungleichheiten auf der Grundlage unterschiedlicher Differenzkategorien und auf unterschiedlichen Ebenen sichtbar machen. So lassen sich – das ist unsere Hoffnung und unser Ziel – mit intersektionalen Ungleichheitsanalysen und einem damit verbundenen besseren Verständnis der Bedeutung von Differenzkategorien theoretisch fundierte Handlungsmöglichkeiten für unterschiedliche AkteurInnen aufzeigen und Hinweise für soziale Bewegungen, insbesondere für queer-feministische Initiativen geben. Weiter wird aus unseren intersektionalen Analysen deutlich, dass nicht nur die Durchkreuzungen von Kategorien wichtig sind, sondern auch unterschiedliche Angriffsziele auf den von uns benannten drei Materialisierungsebenen. So kritisieren beispielsweise Queer-Bands auf der Bühne die identitären Zwänge einer heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit und verweisen auf Ausgrenzungsmechanismen, durch die das jeweils Andere verworfen und abgewertet wird. Anti-Lookism-Gruppen greifen Schönheitsideale und Körpernormen auf der Ebene der Repräsentationen an und wenden sich gegen die Gewalt, die mit dem Zwang zur Jugendlichkeit, Gesundheit, eindeutigen Geschlechtszugehörigkeit und Attraktivität verbunden ist. Der Widerstand von Lohnabhängigen in typischen Frauenarbeitsbereichen ist vor allem auf der Ebene struktureller Klassenverhältnisse verortet. Gleichzeitig wehren sie sich gegen die Geringschätzung und Abwertung typischer Frauentätigkeiten, ohne die sich eine massive Lohndiskriminierung nicht aufrechterhalten ließe. Ebenfalls primär auf der strukturellen Ebene setzen sich feministische Menschenrechtsorganisationen für Betroffene von Gewalt und Diskriminierung ein, die mit der Verschränkung der Kategorien Geschlecht und Nationalität/Ethnie verbunden sind. Damit geht die Intervention auf der Repräsentationsebene durch das Infragestellen der Reproduktion stereotyper Bilder von Migrantinnen als Opfern einher. Bei all diesen Beispielen wird deutlich, dass die Ebenen und die Differenzkategorien eng miteinander verwoben sind. Ebenso klar ist, dass einzelne feministische oder queerfeministische Gruppen und AkteurInnen nicht alle Diskriminierungs- und
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Herrschaftsformen gleichzeitig angreifen können.24 Es gilt also, wegen der Verzahnung sozialer Ungleichheiten auf verschiedenen Ebenen und entlang unterschiedlicher Kategorien auch die Widerstandsformen zu erweitern. Die gegenseitige Wahrnehmung sowie der inhaltliche Austausch, aber auch die Abgrenzungen voneinander können zu permanenten Reflexionen und Präzisierungen der eigenen Position führen. Der Ansatz der Intersektionalität bleibt damit weiterhin ein wissenschaftliches Projekt, eine soziale Bewegung kann und will er nicht ersetzen. Dennoch hat das Konzept, so wie wir es verstehen, Konsequenzen für das politische Handeln. Aus intersektionaler Perspektive wird nämlich klar, dass Schwerpunkte bezüglich Kategorien und Ebenen gesetzt werden müssen, um erfolgreich politisch agieren zu können. Die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen politischer Initiativen und Organisationen schließen einander nicht aus, sondern lassen sich zu inhaltlich begründeten Allianzen weiterentwickeln. Neue und breitere Bündnisformen, die das Aufbrechen binärer Kategorien unterstützen, sind heutzutage enorm wichtig, da für die Lösung vieler gesellschaftlicher Probleme – wie Kriege, ökologischer Katastrophen oder sozialer Ungleichheiten und Armut – die Solidarität zwischen sehr unterschiedlichen Menschen erforderlich ist. Zur Realisierung solcher Formen der Verbundenheit, über die wir bislang wenig wissen, können und sollen intersektionale Denkweisen inspirieren. Wir danken für das Interview.
24 Vgl. dazu auch: Groß, Melanie: Geschlecht und Widerstand. Post.. | queer.. | linksradikal.. Königstein i.Ts. 2008.
Intersektionalität oder: Wie nicht über Rassismus sprechen? 1 E NCARNACIÓN G UTIÉRREZ R ODRÍGUEZ
Intersektionalität scheint ›en vogue‹ zu sein in den deutschen Gender Studies. Es ist bemerkenswert, dass diese Debatte nach ungefähr 25 Jahren in der deutschen Frauen- und Geschlechterforschung angekommen ist. Interessant auch, dass dabei unerwähnt bleibt, dass diese Debatte von Schwarzen deutschen und diasporischen Feministinnen in den 1980er und 1990er Jahren angetrieben wurde. Dabei ging es diesen Akteurinnen nicht darum, Differenz durchzudeklinieren, sondern eher die Wechselwirkungen und Interdependenzen in heterogenen gesellschaftlichen Verhältnissen zu verstehen. Nicht Differenz stand hier zur Debatte, sondern es ging diesen Theoretikerinnen, wie ich hier ausführen werde, eher um die Relationalität und Prozessualität gesellschaftlicher Verhältnisse. Von Marxistischer und Kritischer Theorie beeinflusst, galt deren Aufmerksamkeit weniger der Durchkreuzung von Kategorien wie Geschlecht, Klasse, ›race‹ und so weiter, sondern sie setzten sich eher mit deren gesellschaftlichen Herstellung durch
1
Dieser Beitrag ist inspiriert von dem Aufsatz, den ich mit Umut Erel, Jin Haritaworn und Christian Klesse geschrieben habe: Erel, Umut/Gutiérrez Rodríguez, Encarnación/Haritaworn, Jin/Klesse, Christian: On the Depoliticisation of Intersectionality Talk. Conceptualising Multiple Oppressions in Critical Sexuality. In: Kuntsman, Adi/Miyake, Esperanza (Hrsg.): Out of Place: Interrogating Silences in Queerness/Raciality. York 2008, S. 265–292. Mein Dank geht auch an Christoph Pilgrim für sein genaues Lesen.
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Technologien und Mechanismen des Regierens, der sozialen Klassifikation und Kontrolle auseinander. Diese kritische Auseinandersetzung mit Politiken der Repräsentation war daher weniger an einer offiziellen Anerkennung multipler Identitäten interessiert, als eher an den gewaltvollen Effekten,2 denen Subjekte ausgesetzt sind, die im Rahmen der noch bestehenden kolonialen Logik der Differenz3 durch unterschiedliche Mechanismen des Regierens, Verwaltens und der wissenschaftlichen Erfassung als »ethnisierte, rassifizierte, sexualisierte und vergeschlechtlichte inferiore Andere« erschaffen werden. In diesem Sinne ging es diesen Feministinnen nicht um die Anerkennung einer Identität im Namen zum Beispiel »der Migrantin«, sondern eher um die Bestimmung der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die Position der »Exteriorität« 4 zum hegemonialen Innen erschaffen wird.5 Zugleich jedoch machten diese Interventionen auch klar, dass das Sprechen zum Beispiel im ›Namen der Migrantin‹ als eine Taktik im strategischen Kampf gegen Rassismus, Heteronormativität und kapitalistischer Ausbeutung zu verstehen ist. Dieser Zugang unterscheidet die Debatte minorisierter Feministinnen in der Bundesrepublik von den Debatten in den USA um Intersektionalität, die mit Kimberlé Crenshaws grundlegenden Artikeln »Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics« (1989)6 und »Mapping the Margins: Intersectionality, Iden-
2
Vgl. FeMigra (Akin, S./Apostolidou, N./Atadiyen, H./Güran, G./Gutiérrez Rodríguez, E./Kanat, A./Kutz, L./Mestre Vives, L.): Wir, die Seiltänzerinnen. In: Eichhorn, Cornelia/Grimm, Sabine (Hrsg.): Gender Killer. Amsterdam/Berlin 1994, S. 49–63.
3
Vgl. Mignolo, Walter: Local Histories, Global Designs. Princeton 2000.
4
Dussel, Enrique: The Invention of the Americas: Eclipse of »the Other« and the Myth of Modernity. London 1995.
5
Vgl. Oguntoye, Katharin/Opitz, May/Schultz, Dagmar: Farbe bekennen. Afro-
6
Crenshaw, Kimberlé W.: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A
deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. Berlin 1986. Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics. In: The University of Chicago Legal Forum (1989), Feminism in the Law: Theory, Practice and Criticism, S. 139–168.
I NTERSEKTIONALITÄT ODER : WIE NICHT ÜBER R ASSISMUS SPRECHEN?
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tity, Politics, and Violence Against Women of Color« (1991)7 initiiert wurden. Mit diesen Beiträgen interveniert Crenshaw in einem juridischen Diskurs, der die Verquickung unterschiedlicher gesellschaftlicher Positionen ignoriert und gesellschaftliche Analysen, die von Schwarzen Feministinnen angetrieben werden, marginalisiert. Ihr Anliegen ist es, einen universalen Rechtsdiskurs zu verkomplizieren, indem sie auf die Interdependenzen zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsverhältnissen verweist. Nicht nur als Theoretikerin, sondern insbesondere auch als Aktivistin geht es ihr darum, komplexe Gesellschaftslagen in der Logik von Rechtsansprüchen fruchtbar zu machen. Sie operiert deshalb auf der Gegebenheit der vorgefundenen Gesellschaftsbedingungen, daher ihr Interesse an der gelebten Erfahrung der Intersektionalität, die eine fundamentale Voraussetzung für die Intervention in juridische Diskurse darstellt. Ein Blick jedoch auf die Genese dieser Verhältnisse setzt nicht nur ein Umgehen mit deren Erscheinungsform voraus, sondern auch mit deren historischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, Machtdynamiken und Herrschaftsmechanismen.8 Der analytische Blick gilt demnach den gesellschaftlichen Strukturen, Verhältnissen, Beziehungen und Logiken. Vor diesem Hintergrund werde ich hier die Debatte um Intersektionalität mit Jasbir Puars Perspektive der »assemblage« (agencement) in Beziehung setzen. 9 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, warum in den letzten Jahren der Debatte um Intersektionalität auf der Ebene von Publikationen und Veranstaltungen hohe Aufmerksamkeit zuteil geworden ist, während die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen ein solches Denken notwendig geworden ist, meist ausgeblendet bleiben. Diesem Gedanken folgend steht daher im Zentrum dieses Beitrages nicht eine Definition von Intersektionali-
7
Crenshaw, Kimberlé W.: Mapping the Margins: Intersectionality, Identity, Politics, and Violence against Women of Color. In: Stanford Law Review 6 (1991), S. 1241–1299.
8
Vgl. Gutiérrez Rodríguez, Encarnación: Intellektuelle Migrantinnen: Subjektivitäten im Zeitalter der Globalisierung. Eine dekonstruktive Analyse von Biographien im Spannungsverhältnis von Ethnisierung und Vergeschlechtlichung. Opladen 1999.
9
Vgl. Puar, Jasbir. Ich wäre lieber eine Cyborg als eine Göttin: Intersektionalität, Assemblage und Affektpolitik. In: Lorey, Isabell/Nigro, Roberto/Raunig, Gerald (Hrsg.): Inventionen. Zürich/Berlin 2011.
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tät, sondern vielmehr die Auseinandersetzung um Rassismus im deutschen Feminismus, die von Schwarzen Deutschen und migrantischen/diasporischen Feministinnen formuliert worden ist. Doch zunächst gilt es, diese Debatte zu kontextualisieren.
G LOBALE D EBATTE –
LOKALE
A KTEUR _ INNEN
Die Debatte um ›Intersektionalität‹ muss im Rahmen der Umwandlung der Sozialwissenschaften, insbesondere der Soziologie, in den letzten Dekaden verstanden werden. Während in den 1970er und 1980er Jahren an einigen deutschen Universitäten Soziologie als Gesellschaftswissenschaft verstanden wurde, ist diese Perspektive nach 1989 allmählich demontiert worden. Soziologie ist zumeist zu einer anwendungsorientierten und an Management-Prinzipien orientierten Disziplin mutiert.10 Gesellschaftskritische Ansätze sind durch sogenannte ›ideologisch unverfängliche‹ Perspektiven ersetzt worden. Das Ergebnis dieses Transformationsprozesses ist der Verlust einer genuinen Tradition kritischen Denkens, die die Hochschule nicht lediglich als Berufsbildungsfabrik betrachtet.11 Die Inkorporation von Postkolonialität oder Intersektionalität in Universitätscurricula und die Schaffung von Professuren unter diesen Labels müssen daher in Beziehung zu ihrer Vermarktungstauglichkeit in einem globalen Hochschulmarkt gesetzt werden. Dieser Prozess vollzieht sich insbesondere durch die Integration von bequemen und für die internationale Ausrichtung der Universität verwertbaren Stimmen. Die anti-rassistische Kritik Schwarzer deutscher Intellektueller und von Intellektuellen mit einem post-/migrantischen und diasporischen Hintergrund ist so zu einer für das Establishment verdaulichen Formel umgewandelt worden. Zugleich haben einige wenige dieser Protagonist_innen Stellen an deutschen Hochschulen erhalten, doch den meisten von ihnen bleiben die Tore zu einer akademischen Laufbahn in Deutschland verschlossen – sie müssen migrieren oder sich einer anderen Tätigkeit
10 Bauer, Christoph u.a.: Hochschule im Neoliberalismus. Kritik der Lehre und des Studiums aus Sicht Frankfurter Studierender und Lehrender. Frankfurt a.M. 2010. 11 Zwar in einem anderen Kontext entwickelt, doch spannend für die Diskussion siehe Adorno, Theodor W.: Question on Intellectual Emigration. In: Social Text 99, 23 (2009), S. 159–164.
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widmen. Die Zahl der Intellektuellen mit diasporischem und migrantischem Hintergrund, die eine Anstellung an US-amerikanischen oder britischen Universitäten gefunden haben, ist bemerkenswert. Während der akademische brain drain deutscher Akademiker_innen von der deutschen Regierung bedauert wird, bleibt die Auswanderung dieser Intellektuellengeneration unkommentiert. Auch in der deutschen Frauen- und Geschlechterforschung bleibt eine Debatte um diejenigen Kolleginnen aus, die die ersten Rassismuskritiken in den 1980er und 1990er Jahren12 geäußert haben und emigriert sind und dies nicht immer mit beruflichem Erfolg. Interessant, dass es diese Generation ist, die das Zusammenwirken und die Interdependenz unterschiedlicher gesellschaftlicher Verhältnisse in Bezug auf die Kategorie Geschlecht in den 1980er und 1990er Jahren stark gemacht hat.
V ON R ASSISMUSKRITIK ZU I NTERSEKTIONALITÄT Wie ich in dem Beitrag »On the Depoliticisation of Intersectionality Talk« zusammen mit Erel, Haritaworn und Klesse nachgewiesen habe, sind die stärksten Impulse zu der Debatte über die Komplexität von Macht und Unterdrückung aus den anti-rassistischen und anti-kolonialen feministischen Bewegungen gekommen. 13 Es ist vor allem eine Auseinandersetzung mit den theoretischen Positionen und politischen Strategien, die in diesen Kontexten entwickelt wurden, die – in vielfältiger und unterschiedlicher Art – unser Denken zu simultan wirkenden und miteinander verzahnten Herrschaftsverhältnissen beeinflusst haben.14 Insbesondere
12 Vgl. z.B. Gelbin, Cathy/Konuk, Kader/Piesche, Peggy: Aufbrüche. Taunusstein 2000. 13 Erel/Gutiérrez Rodríguez/Haritaworn/Klesse: Depoliticisation (wie Anm. 1). 14 Erel, Umut: Migrant Women Transforming Citizenship. Life-Stories from Britain and Germany. Aldershot 2009; dies.: Transnationale Migration, intime Beziehungen und BürgerInnenrechte. In: Hartmann, Jutta u.a. (Hrsg.): Heteronormativität. Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht. Wiesbaden 2007, S. 251–268; Haritaworn, Jin: Shifting Positionalities: Reflections on a »Queer« Methodology. In: Sociological Research Online 13, 1 (2008), Special Issue on LGBT Methodologies, unter: , Zugriff: 6.9.2009; dies.: Queer Mixed Race? Interrogating Homonormativity through Thai
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die Intervention von Schwarzen Feministinnen und anti-rassistischen Feministinnen, wie May Ayim (vormals May Opitz), Katharina Oguntoye, Dagmar Schultz, die angeregt durch Audre Lorde 1986 das Grundlagenwerk »Farbe Bekennen« (1986) veröffentlichten,15 hat fundamental zur Analyse von Rassismus, Kolonialismus und Sexismus im deutschen Kontext beigetragen.16 Das Ineinandergreifen von simultan wirkenden Formen der Unterdrückung und Diskriminierung wird bereits hier thematisiert. Auch die Debatten in den 1980er und 1990er Jahren um Differenzen unter Frauen,17 die unter anderem in Zeitschriften wie »Informationsdienst zur Ausländerarbeit« oder »beiträge zur feministischen theorie und praxis« geführt wurden, haben diese Auseinandersetzung vorangebracht. Vor allem in der Zeitschrift »Informationsdienst zur Ausländerarbeit« wurden Begegnungen zwischen eingewanderten Frauen und Weißen deutschen Frauen in der interkulturellen Arbeit und Frauenbewegung problematisiert. Natascha Apostolidou zum Beispiel schreibt über ihre Erfahrungen mit Rassismus in der deutschen Frauenbewegung. 18 Auch
Interraciality. In: Browne, Kath u.a. (Hrsg.): Geographies of Sexualities. Aldershot 2007, S. 101–112; Klesse, Christian: The Spectre of Promiscuity. Gay Male and Bisexual Non-monogamies and Polyamories. Aldershot 2007; ders.: Heteronormativität und qualitative Forschung. Methodische Überlegungen. In: Hartmann, Jutta u.a. (Hrsg.): Heteronormativität. Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht. Wiesbaden 2007, S. 35–54. 15 Oguntoye/Opitz/Schultz: Farbe bekennen (wie Anm. 5). 16 Vgl. z.B. Gelbin, Cathy/Konuk, Kader/Piesche, Peggy: Aufbrüche. Königstein/ Taunus 1999; Steyerl, Hito/Gutiérrez Rodríguez, Encarnación (Hrsg.): Spricht die Subalterne Deutsch? Migration und Postkoloniale Kritik. Münster 2003; Eggers, Maureen Maisha u.a. (Hrsg.): Mythen, Masken und Subjekte. Münster 2005; Ha, Kien Nghi/Lauré al-Samarai, Nicola/Mysoreka, Sheila (Hrsg.): re/visionen. Münster 2007; Kilomba, Grada: Plantation Memories. Münster 2008; Sow, Noah: Deutschland Schwarz Weiss. Berlin 2009. 17 Vgl. z.B. Hügel, Ika u.a.(Hrsg.): Entfernte Verbindungen. Berlin 1993; Uremovic, Olga/Oerter, Gundula (Hrsg.): Frauen zwischen Grenzen. Frankfurt a.M. 1994; Fuchs, Brigitte/Habinger, Gabriele (Hrsg.): Rassismen & Feminismen. Wien 1996. 18 Apostolidou, Natascha: Für die Frauenbewegung auch wieder nur ›Arbeitsobjekte‹? In: Informationsdienst zur Ausländerarbeit 2 (1980), S. 143–146.
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Deniz Camlikbeli, Anita Kalpaka und Nora Räthzel veröffentlichten vier Jahre später zu diesem Thema.19 Zwar wurde damals in dieser Auseinandersetzung nicht der Begriff Intersektionalität verwendet, doch ging es um die Verschränkung unterschiedlicher Ungleichheitsverhältnisse, die entlang des Zusammenwirkens von Sexismus, Rassismus und Klassenunterdrückung diskutiert wurde. So stellten Kalpaka und Räthzel in ihrem für die deutsche Debatte bahnbrechenden Aufsatz von 1985 »Paternalismus in der Frauenbewegung?! Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen eingewanderten und eingeborenen Frauen« fest, dass »eingewanderte Frauen in einem aus mehreren Widersprüchen geknüpften Netz leben (wie alle Individuen)«.20 Kalpaka und Räthzel sprachen in Anlehnung an die Diskussionen um Rassismus und Sexismus in Großbritannien und den USA von einer Verflechtung und Verzahnung von unterschiedlichen Unterdrückungsformen, die die Beziehung unter Frauen prägten. Die Weiße deutsche feministische Theoriebildung und Frauenforschung nahm kaum Notiz von dieser Debatte. In den 1990er Jahren wurden dann die Stimmen, die sich im Kreis der Zeitschrift »beiträge zur feministischen theorie und praxis« (wie der Band mit dem Titel »Geteilter Feminismus«) bewegten, angesichts des auf deutschen Straßen wütenden rassistischen Mobs lauter. Doch auch zu diesem Zeitpunkt scheint die deutsche feministische Theoriebildung diese Einwürfe, die Feministinnen mit einem Migrations-, Exil- und DiasporaHintergrund formulierten, nicht wahrzunehmen. So schrieben die FeMigras in ihrem Aufsatz »Wir, die Seiltänzerinnen« (1994) in Anlehnung an das Konzept von »interlocking system« des Combahee River Collective (1977) über die »Gleichzeitigkeit von Unterdrückungsverhältnissen«, die ihr Leben und die Gesellschaft strukturiert.21 In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre vermerkt Sedef Gümen jedoch einen Paradigmenwechsel in der Geschlechterforschung. In ihrem Aufsatz von 1998 »Das Soziale des Geschlechts« stellt sie fest, dass ›race‹ nun als
19 Camlikbeli, Deniz: Deutsche Frauen – türkische Frauen. In: Informationsdienst zur Ausländerarbeit 1 (1984), S. 19. 20 Kalpaka, Anita/Räthzel, Nora: Paternalismus in der Frauenbewegung?! In: Informationsdienst zur Ausländerarbeit 3 (1985), S. 21–27, S. 21. 21 FeMigra: Wir (wie Anm. 2).
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»askriptives Merkmal« neben Geschlecht und Klasse auftauche.22 Doch anders als bei der Benennung der Kategorien ›Klasse‹ und ›Geschlecht‹, die von einer strukturellen und gesellschaftskritischen Analyse begleitet seien, bleibe ›race‹ eine leere Worthülse, die nur in der Aufzählung aufgehe. Ähnlich ergehe es der Kategorie ›Ethnizität‹, die zumeist auf einer deskriptiven Ebene bleibe. Die Rolle von staatlichen Institutionen, Interpellationspraktiken und historischen Genealogien bei der strukturellen Verankerung von Differenzen und Hierarchien im Kontext des Nationalstaates bleibe somit ausgeblendet. Parallel jedoch zu den Debatten im Weißen deutschen Feminismus entwickelte sich, wie wir gesehen haben, seit den 1980er Jahren in der Bundesrepublik eine Diskussion um Rassismus, Sexismus und Kapitalismus, die nicht lediglich dem Modell der »Dreifachen Unterdrückung« oder »Dreifachen Vergesellschaftung« folgte, sondern auf die Simultaneität und Wirkungsweise heterogener Formen der Ausbeutung und Diskriminierung verwies.23 Die inner-feministische Auseinandersetzung in der Bundesrepublik war stark beeinflusst von Debatten, die in anderen nationalen Kontexten und auch international geführt wurden, vor allem in den USA und Großbritannien. Die Arbeiten von bell hooks, Patricia Hill Collins, Hazel Carby, Chandra Talpade Mohanty, Avtar Brah, Floya Anthias, Nira Yuval-Davis und vielen anderen sind auf diesem Weg sehr wichtig gewesen. Ihre theoretischen Ansätze sind natürlich sehr unterschiedlich. Während bell hooks beispielsweise eher den Ausschluss von Women of Colour und die Differenzen unter Frauen thematisiert hat, geht es in den Arbeiten von Hill Collins vor allem um eine Standpunkttheorie innerhalb des Schwarzen Feminismus. Mohanty entwickelt eine spezifisch anti-rassistische feministische Analyse der internationalen sexualisierten Arbeitsteilung. Avtar Brah analysiert vor dem Hintergrund poststrukturalistischer theoretischer Annahmen südasiatische Diasporaräume im postkolonialen Großbritannien. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit treffen sich all diese Herangehensweisen in der Überzeugung, dass es notwendig ist, ein theoretisches Modell zu entwickeln, das die Vielschichtigkeit der gesellschaftlichen Dynamiken der Unterdrückung und Diskriminierung zu fokussieren in der Lage ist. In diesem Kontext taucht der von Patricia Hill Collins
22 Gümen, Sedef: Das Soziale des Geschlechts. In: Das Argument 224, 40, 1–2 (1998), S. 187–202, S. 189. 23 Vgl. Mignolo: Local Histories (wie Anm. 3); und Dussel: Invention (wie Anm. 4).
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bezeichnete »intersectional approach« Anfang der 1990er Jahre im US-amerikanischen Kontext auf, um auf die Dynamiken von Herrschaftsverhältnissen hinzuweisen, in denen subordinierte gesellschaftliche Positionen geschaffen werden. In diesem Zusammenhang betont Kimberlé Williams Crenshaw 1995 die Notwendigkeit, den Ansatz der Intersektionalität in Verbindung mit der Analyse von Ungleichheitsbeziehungen zu verstehen. Sie betont die gesellschaftliche Notwendigkeit für subordinierte Gruppen in ihren Widerstandsstrategien an einer »politics of location« festzuhalten: »This is not to deny that the process of categorization is itself an exercise of power; the story is much more complicated and nuanced than that. […] One may only think about the historical subversion of the category ›black‹ or the current transformation of ›queer‹ to understand that categorization is not a one-way street. Clearly, there is unequal power, but there is nonetheless some degree of agency that people can do and exert in the politics of naming. Moreover, it is important to note that identity continues to be a site of resistance for members of different subordinated groups […] At this point in history, a strong case can be made that the most critical resistance strategy for disempowered groups is to occupy and defend a politics of location rather than to vacate and destroy it.«
24
Obwohl Crenshaw hier einen wichtigen Punkt stark macht und Theorieproduktion in Zusammenhang mit Widerstandspraktiken stellt, ist diese Perspektive in der deutschsprachigen Adaption dieses Konzeptes kaum zu bemerken, nicht zuletzt angesichts des bereits erwähnten Verschweigens der feministischen Kritik von Rassismus und Antisemitismus der 1980er und 1990er Jahre. Auch wird der Intersektionalitätsansatz nicht mit einer »politics of location« in Beziehung gesetzt. Der heuristische Bezugspunkt der von der Schwarzen und Women-of-Colour-Bewegung hervorgebrachten Debatte um Intersektionalität in den USA ist in seiner deutschen Rezeption nicht vorhanden, obgleich doch gerade dieser den gesellschaftskritischen Anspruch der Perspektive zeigt. In eben diesem Zusammenhang brachte Collins in den 1990er Jahren die Standpunkt-Theorie in die feministische
24 Crenshaw, Kimberlé W.: Mapping the Margins: Intersectionality, Identity, Politics, and Violence against Women of Color. In: Dies. u.a. (Hrsg.): Critical Race Theory. The Key Writings that Formed the Movement. New York 1995, S. 357– 384, S. 375.
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Debatte ein, um dem Prinzip der ›Objektivität‹ in den etablierten Wissenschaften zu entgegnen. Diese Perspektive ist für mein Argument hier besonders wichtig, da es auf die Beziehung zwischen Theorie und Subjektpositionen aufmerksam macht. Theorie wird demnach nicht losgelöst von geopolitischen, gesellschaftlichen Bedingungen betrachtet und Wissen wird nicht getrennt von den Subjekten gedacht, die dieses Wissens aus der Notwendigkeit heraus erschaffen, mit den vorgefundenen Lebensbedingungen umzugehen. Um daher dem Ausschluss von Schwarzem, diasporischem/migrantischem deutschem Feminismus aus dem etablierten feministischen Wissenschaftskanon zu entgegnen, müssen wir wieder an die Debatte um situiertes Wissen erinnern.
S ITUIERTES W ISSEN Die Standpunkttheorie führt uns die Notwendigkeit vor Augen, Theorie als Produkt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen zu betrachten. In den 1980er Jahren wurde im US-amerikanischen Feminismus das Paradigma der Objektivität aus unterschiedlichen Richtungen hinterfragt. Hinter diesem Anspruch stand ein konkreter historischer und geo-politischer Kontext eines teils offen, teils subtil praktizierten Ausschlusses rassifizierter Subjekte aus Bildung und aus den etablierten universellen Wissensproduktionen. Von diesem Ausschluss waren insbesondere Indigene, Afro-Amerikaner_innen und Bürger_innen lateinamerikanischer und asiatischer Herkunft betroffen. Wie objektiv konnten dann Wissensproduktionen sein, an deren Herstellung nur ein kleiner Teil der Bevölkerung, zumeist weiße Männer aus der Oberoder Mittelschicht, beteiligt waren? Wie Pierre Bourdieu in seiner Studie »Homo Academicus« zeigt, wird die Universität durch die Logik sozialer Distinktionen und symbolischer Gewalt regiert. Der Zugang zu Ressourcen und zu akademischen Netzwerken ist bestimmt durch ein Code-System, das das kulturelle Selbstverständnis einer herrschenden sozialen Gruppe vermittelt. Die soziale Zugehörigkeit eines Individuums ist entscheidend für dessen Aufnahme und Teilhabe an Führungs- und Entscheidungspositionen. Bourdieu stellt fest, dass somit
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nationale Eliten ihre gesellschaftliche Vormachtstellung reproduzieren und sedimentieren.25 Aus einer ähnlichen Sicht, über die Situation afroamerikanischer Wissensproduktionen reflektierend, hat Collins (1992) die gesellschaftliche und historische Verortung von Wissensproduktionen diskutiert. Akademische Wissensproduktionen sind somit, auch wenn sie sich als objektives Wissen präsentieren, Ausdruck von lokalen und globalen Produktionsverhältnissen. Die Wissensproduktionen ihrer Akteur_innen transzendieren auch nicht ihre historische und geopolitische Eingebundenheit, eher sind sie Ausdruck von Aus- und Verhandlungsprozessen, in denen unterschiedliche soziale Gruppen, die in dieses Feld eingelassen sind, ihren Interessen entsprechend um eine hegemoniale Vormachtstellung kämpfen. Die Universität als eine der wichtigsten Schauplätze der Zivilgesellschaft ist maßgeblich an der gesellschaftlichen Konsensbildung beteiligt, ihre Akteur_innen operieren direkt oder indirekt im Rahmen gesellschaftlicher Gruppeninteressen, die in hegemoniale Kämpfe um politische und kulturelle Repräsentation und ökonomische Verteilung eingebunden sind. Konzepte, die in öffentlichen akademischen Auseinandersetzungen verhandelt werden, vermitteln daher keine wertneutrale Aussagen über einen Forschungsgegenstand, sondern sind vielmehr Ausdruck eines komplexen gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses um politische und ökonomische Interessen. Collins macht uns darauf aufmerksam, dass unsere akademischen Perspektiven an einen heuristischen Standpunkt gebunden sind. In ihrer Auseinandersetzung mit der ontologischen Dimension von Epistemologie – in anderen Worten: wie die Logik des Seins die Voraussetzung bildet für die Logik des Wissens – zeigt sie auf, dass Wissen von materiellen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen nicht zu trennen ist. Dies eröffnet den Blick auf die Beziehung zwischen Theorie und Erfahrung. Es zeigt uns, dass Wissen aus einer gesellschaftlichen Notwendigkeit heraus entsteht. Dieses
25 Obwohl Bourdieu eine brillante Analyse sozialer Aushandlungen an französischen Universitäten vornimmt, bleiben die Aspekte der Vergeschlechtlichung oder Rassifizierung von Gesellschaft ausgeblendet. Das ist interessant, da die algerischen Studien Bourdieus im Kontext der anti-kolonialen Kämpfe in Algerien stehen, vgl. Bourdieu, Pierre: Homo Academicus. Stanford 1990; ders.: Distinction. Harvard 1987. Vgl. auch die Kritik von Connell, Raewyn: Southern Theory: Social Sciences and the Global Dynamics of Knowledge. London 1997.
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Wissen, das Patricia Hill Collins als »wisdom« (Weisheit) im Gegensatz zu »knowledge« (Wissen) definiert, repräsentiert eine Existenzform und einen Versuch, die Welt zu verstehen, um sich darin zu bewegen und überleben zu können. Was Schwarze Frauen und Women of Colour angeht, merkt Collins an, dass »die sich überschneidenden Formen der Unterdrückung«, die diese Frauen erfahren, der grundlegenden Unterscheidung zwischen »Wissen« und »Weisheit« unterliegen: »Wissen ohne Weisheit ist ausreichend für die Mächtigen, aber Weisheit ist essenziell für das Überleben der Untergebenen.«26 Auf dieser Basis entwickelt Collins ihren »intersectional approach«.27 Sie zeigt, dass Wissensproduktionen den historisch-sozio-politischen Kontext ihrer Entstehung widerspiegeln. Aus dieser Perspektive heraus wird ein Denken in Relationen und die Wahrnehmung von Simultaneität, der Gleichzeitigkeit von korrelierenden und divergierenden Gesellschaftsverhältnissen, notwendig.
V ERSCHRÄNKUNGEN , S IMULTANEITÄT R ELATIONALITÄT
UND
Bereits in meinem Aufsatz »Eine Frau ist nicht gleich Frau, nicht gleich Frau« (1996) und später in meinem Buch »Intellektuelle Migrantinnen« (1999) habe ich versucht aufzuzeigen, wie in der Verschränkung unterschiedlicher Gesellschaftsverhältnisse komplexe Prozesse der Vergeschlechtlichung, insbesondere im Kontext von Migration verlaufen. Obwohl die staatliche Anrufung zur ›Frau‹ eine Reihe von als weiblich definierten Subjekten erfasst, wird sie je nach historischem, geopolitischem und biografischem Kontext auf unterschiedliche Weise geschaffen. Demzufolge sind Geschlechterverhältnisse nicht allein über ein oder zwei gesellschaftliche Kategorien, wie zum Beispiel ›Klasse‹ und ›race‹ bestimmbar, sondern sind eher als territorialisierte Formen von ineinandergreifenden und überlappenden Ebenen von historisierten und geopolitisch konkreten Macht- und Herrschaftsverhältnissen zu verstehen. Obwohl diese Betrachtung die Perspektive der ›as-
26 Collins, Patricia Hill: Black Feminist Thought. Knowledge, Consciousness and the Politics of Empowerment. London 1992, S. 257. 27 Vgl. auch Collins, Patricia Hill: It’s all in the Family: Intersections of Gender, Race, and Nation. In: Hypatia 13, 3 (1998), S. 62–82.
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semblage‹ einschließt, also eine Perspektive der Überlappung und steten Beweglichkeit, in denen gesellschaftliche Segmente aufeinandertreffen und auseinander gehen,28 betont sie die territorialisierenden Macht- und Herrschaftseffekte, die aus historisch geronnenen und gesellschaftlich institutionalisierten Aushandlungsprozessen erwachsen. Prozesse der Feminisierung oder Maskulinisierung sind demnach einerseits in Zusammenhang mit historischen Ereignissen wie denen des Kolonialismus, Imperialismus und des modernen/kolonialen Weltsystems in Beziehung zu setzen und andererseits mit gesellschaftlichen Verhältnissen und institutionalisierten kulturellen Praktiken, in denen hegemoniale Verständnisse in den Alltagsverstand übertragen und von den Subjekten performativ angeeignet und verkörpert werden. Das beschreibt einerseits einen dynamischen Prozess von hegemonialen Kämpfen und Aushandlungsprozessen; andererseits beschreibt, bildet und formt dies konkret spezifische Lebensbedingungen, subjektive und kollektive Existenzformen und Affekte. Die Repräsentation dieser Lebensformen in offiziellen Diskursen stellt jedoch ein gesellschaftlich umkämpftes Feld dar. Verworfene, marginalisierte und subalterne Subjekte müssen für ihre Analysen von Welt und Gesellschaft, für die offizielle Anerkennung ihrer ethischen Prinzipien, für die offizielle Lesbarkeit und Verstehbarkeit ihrer Existenzbedingungen, für ihre Intelligibilität also, einstehen und kämpfen. In diesem Zusammenhang ist das von dem Combahee River Collective (CRC) 1977 publizierte »Black Feminist Statement« zu verstehen. In Kritik an einem additiven Modell von Unterdrückung, das von einer Rangfolge von Ungleichheitslagen von Klasse, race und Geschlecht ausgeht, gehen sie von einem System von simultan operierenden und ineinandergreifenden Vektoren von Herrschaft aus. Sie schreiben: »We also often find it difficult to separate race from class from sex oppression because in our lives they are most often experienced simultaneously. We know that
28 Wie Deleuze schreibt, ist Macht nicht als pyramidisch zu verstehen, sondern eher als »segmentary and linear, and it proceeds by means of contiguity«. Es ist in diesem Zusammenhang, dass er »assemblage« als korrelierende und divergierende Einlagerungen (Segmente) versteht, siehe Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Kafka: Toward a Minor Literature. Minneapolis/London 1986, S. 56.
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there is such a thing as racial-sexual oppression which is neither solely racial nor solely sexual«.
29
In der Verquickung von Herrschaftsverhältnissen und Machtbeziehungen stellt sich die gesellschaftliche Position von Subjekten her. Dies kann nicht durch ein stufenartiges Modell der Unterdrückung erfasst werden. CRC zeigt an der Situation Schwarzer Arbeiterinnen und einer lesbischen Schwarzen alleinstehenden Mutter, dass diese Diskriminierung nicht erst als Frau, dann als Arbeiterin, als Schwarze und dann als Lesbe erfahren, sondern ihre gesellschaftliche Position durch die komplexe Verschränkung unterschiedlicher Verhältnisse produziert wird. Die Dehumanisierung ihres Daseins und die Degradierung ihrer kreativen und produktiven Potentiale erfolgt durch eine historisch und gesellschaftlich hergestellte Wertkodierung, in der die Korrelation zwischen den Zuschreibungen von ›Weiblichkeit‹, ›Schwarz‹, ›unverheiratet‹ und ›lesbisch‹ den Ort der gesellschaftlich Entwertung konnotieren und setzen. Dies wird nicht nur diskursiv umgesetzt, sondern zeigt sich insbesondere über institutionalisierte Mechanismen des Ausschlusses in allen gesellschaftlichen Bereichen, sei es die Entwertung ihrer Arbeitskraft, die Aberkennung oder Einschränkung der Bürger_innenrechte oder der erschwerte Zugang zu Universitäten als Studierende oder Lehrende.30 Dieses System der Wertkodierung, das entlang von Ketten kultureller Signifikanten von Wertigkeit und Minderwertigkeit operiert, ist ein Ausdruck von historischen Ereignissen der Subalternierung: der rassistischen Unterdrückung und der kapitalistischen Ausbeutung, hervorgerufen nicht nur durch ein patriarchales misogynes System, das Weiblichkeit mit Minderwertigkeit gleichsetzt, sondern auch durch die koloniale Erfindung von ›Rasse‹ als Kategorie eines sozialen Klassifikationssystems. Als Marker des Ein- und Ausschlusses stellen Rassenkonstruktionen, so der peruanische Soziologe Anibal Quijano, eine koloniale Erfindung des 15. Jahrhunderts dar. Durch sie wurde eine pyramidenartige soziale Ordnung geschaffen, in der
29 Combahee River Collective: A Black Feminist Statement. In: Hull, Gloria u.a. (Hrsg.) All the Women Are White, All the Blacks Are Men, But Some of Us Are Brave. New York 1982 (Orig. 1977), S. 13–22, S. 14. 30 Gutiérrez Rodríguez, Encarnación: Decolonizing Postcolonial Rhetoric. In: Gutiérrez Rodríguez, Encarnación/Boatc, Manuela/Costa, Sérgio (Hrsg.): Decolonizing European Sociology. Farnham 2010, S. 49–67.
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die als ›weiß‹ definierte spanische Elite an der Spitze der sozialen Pyramide stand, während die versklavte und indigene Bevölkerung die unterworfenen und rechtlosen Gruppen darstellten. Dieser Prozess der Rassifizierung der Américas vollzog sich nicht nur mittels der territorialen Annexion und der Plünderung von Ressourcen, sondern auch durch Akte der Enteignung, Vernichtung und Entwertung der vorgefundenen kulturellen Errungenschaften und Wissenspraktiken.31 Die vorkoloniale Zeit, ihre Kulturgeschichte, politischen Ideen und Zivilisationsansprüche wurden so begraben und eine neue Geschichtsschreibung initiiert, die als Startpunkt die Ankunft der europäischen Kolonialmächte nimmt. Diese willkürliche Perspektive der Eroberer des amerikanischen Kontinents als tabula rasa blieb kein Einzelfall, sondern bestimmte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert den Blick der modernen Wissenschaften in Europa, insbesondere der Sozialwissenschaften, auf die kolonialisierten Länder.32 Unter der Rubrik ›vormoderne primitive Gesellschaften‹ wurden kolonialisierte Gebiete und ihre Bevölkerung klassifiziert. Ein Topos, der auch für das europäische soziologische Verständnis von Gesellschaft entscheidend ist. Entlang der Dichotomien ›Zivilisation und Barbarei‹ oder ›Moderne und Tradition‹ werden die Gesellschaftsmodelle der USA oder Frankreichs, Deutschlands und Englands als ›modern‹ identifiziert, während andere Länder, insbesondere ehemalige Kolonien und Länder Süd- und Osteuropas als ›vormodern‹ betrachtet werden. Dieser Betrachtungsweise liegt die Annahme zugrunde, wonach der Beginn der Moderne in der Französischen Revolution, dem englischen Merkantilismus und der Industrialisierung und mit den philosophischen Schulen Frankreichs und Deutschlands des 18. und 19. Jahrhunderts anzusetzen sei.33 Basierend auf
31 Vgl. Brotherston, Gordon: America and the Colonizer Question: Two Formative Statements from Early Mexio. In: Moraña, Mabel/Dussel, Enrique/Jáuregui, Carlos A. (Hrsg.): Coloniality at Large. Durham 2008, S. 23–42. 32 Gutiérrez Rodríguez, Encarnación/Boatc, Manuela/Costa, Sérgio (Hrsg.): Decolonizing European Sociology. Farnham 2010. 33 Dussel, Enrique: 1492. El encubrimiento del Otro: Hacia el origen del ›mito del a modernidad‹. La Paz 1994; ders.: The Invention of the Americas: Eclipse of »the Other« and the Myth of Modernity. London 1995; Grosfoguel, Ramón: Colonial Difference, Geopolitics of Knowledge and Global Coloniality in the Modern/Colonial Capitalist World-System. In: Review 25, 3 (2002), S. 203–224; Maldonado-Torres, Nelson: Against War. Durham 2008; Mignolo, Walter: The
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diesem zeitgeschichtlichen Verständnis wird noch heute, obwohl nicht immer explizit, auf der binären Matrix von ›Moderne‹ und ›Vormoderne‹ operiert. Dies ist insbesondere der Fall, wenn Regierungstechniken der Kontrolle, Disziplinierung und Domestizierung der Bevölkerung in der kolonialen Logik der Differenz operieren. Denn wie Quijano anmerkt: »Iberian colonialism involved a new politics of population reorganization«.34 Diese neue Bevölkerungspolitik rassifiziert das Produktionsverhältnis und ist charakteristisch für die Kolonialität der Macht und des Wissens. Ein Zusammenhang auf den Michel Foucault in seiner Analyse der Biomacht des 19. Jahrhunderts eingeht.
B IOMACHT
UND
K OLONIALITÄT
In seiner am 21. Januar 1976 am Collège de France gehaltenen Vorlesung zur Theorie der Souveränität und zu den Herrschaftsoperatoren befasst sich Michel Foucault mit dem Krieg als Schauplatz von Machtbeziehungen,35 an dem durch Diskurse eine Rassifizierung von Gesellschaft und deren Mitgliedern vorgenommen wird. Am Beispiel des Krieges diskutiert Foucault, wie die Rückführung auf »ethnische Differenzen, Sprachdifferenzen; Unterschieden an Stärke, Kraft, Energie und Gewaltsamkeit, Wildheit und Barbarei; Eroberung und Unterwerfung einer Rasse durch eine andere« als Legitimationsgrundlage für die Kriegsführung im 18. und 19. Jahrhundert genutzt wurde. Gerade diesen Kampf beschreibt Foucault mit seinem Begriff der Biomacht, der die Verquickung von Macht- und Wissenssystemen im Feld des Regierens von Lebensprozessen und Lebensformen in den Vordergrund rückt. Der Krieg operiert in diesem Sinne als Form des Regierens der Be-
Darker Side of the Renaissance. Ann Arbor 1995; ders.: Local Histories, Global Designs. Princeton 2000; Quijano, Anibal: Coloniality of Power, Eurocentrism, and Latin America. In: Moraña/ Dussel/ Jáuregui: Coloniality (wie Anm. 31), S. 181–224. 34 Quijano: Coloniality (wie Anm. 33), S. 187. 35 Foucault, Michel: Vorlesungen vom 21. Januar 1976. In: Ders.: In Verteidigung der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1996, S. 58ff. (dort auch das folgende Zitat im Text; Hervorhebung im Orig.).
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völkerung entlang der Konstruktion rassifizierter Differenzen. Dieses Regierungsmodell, das Foucault vornehmlich im 18. und 19. Jahrhundert in Europa verortet, hat seinen Beginn, wie Anibal Quijano aufzeigt, im Spanischen und Portugiesischen Kolonialismus des 15. und 16. Jahrhundert. ›Rasse‹ wie Quijano hervorhebt, wird zum bestimmenden Merkmal eines sozialen Klassifikationssystems, das nicht nur die Bevölkerung in den Kolonien in unterschiedlichen Rassenkonstruktionen unterteilt, sondern auch die Welt in Zonen der Prosperität und der Ausbeutung dividiert.36 Die Logik des Krieges fungiert in diesem Rahmen, so Nelson Maldonado-Torres, nicht nur als Biomacht, sondern als koloniale Macht der Vernichtung, der faktischen Dehumanisierung von Menschen, deren Länder und Ressourcen zur Zielscheibe westlicher imperialer Bestrebungen wurden und werden. Die Ausübung von souveräner Macht im Sinne der Kolonialität drückt sich demnach in dem aus, was Achille Mbembe als »capacity to dictate who may live and who must die« nennt.37 Mbembe erinnert uns mit dieser Behauptung daran, dass souveräne Macht nicht nur auf der Ebene der Biomacht operiert, sondern auf jener der Nekromacht. Folglich »to kill or to allow to live constitute the limits of sovereignty, its fundamental attributes. To exercise sovereignty is to exercise control over mortality and to affirm life as the deployment and manifestation of power.« 38 In dieser Verbindung formiert sich das Konzept des bürgerlichen Subjekts als verzerrte Insignie eines immanenten Widerspruchs zwischen dem liberalen Versprechen von Freiheit und Unantastbarkeit der Würde eines jeden Menschen auf der einen Seite und der kontinuierlichen Kontrolle und gewalttätigen Überschreitung gerade dieser Menschenrechte auf der anderen Seite. Für die Konfiguration unserer aktuellen Gesellschaftsformation ist die koloniale rassifizierende und ethnisierende Logik, gekoppelt an den nekropolitischen Aspekt der Biomacht, weiterhin relevant. Explizit operiert der neoliberale Staat auf dieser Grundlage nicht nur, indem er sich an Kriegen beteiligt, sondern auch durch den legalen Entzug von Bürger_innen- und Menschenrechten. Über Asyl- und Migrationspolitiken wird der juridische Sonderstatus des ›Ausländers‹ mittels einer institutionellen hierarchischen Abstufung in unterschiedliche Entrechtungskategorien wirksam gemacht.
36 Quijano: Coloniality (wie Anm. 33), S. 200ff. 37 Mbembe, Achille: Necropolitics. In: Public Culture 15, 1 (2003), S. 11–40, S. 11. 38 Mbembe: Necropolitics (wie Anm. 37), S. 11f.
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Ein Teil der Bevölkerung wird so entlang von Diskursen und Praktiken zu einer zu erklärenden, zu versorgenden, zu verwaltenden oder zu integrierenden, ethnisch-kulturell differenzierten Bevölkerungsgruppe gemacht. Ein System der Kontrolle, des Überwachens und Verwaltens kreiert so die Migrant_innen in den Worten Jasbir Puars als »data bodies«.39 Dies ist nicht zuletzt in der Debatte um Integration zu bemerken. Die Schaffung einer Integrationsbehörde und die effektive Umsetzung von Integrationsprogrammen zielen darauf ab, die migrierte Bevölkerung in die ›deutsche Gesellschaft‹ hineinzupressen – ohne Garantie auf aktive politische Partizipation. Der Staat setzt so den Verhandlungsrahmen, lädt jedoch die unter diesem Rahmen Bezeichneten zur individuellen Weiterentwicklung ihrer Politik ein. Die Verantwortung des Staates gegenüber seinen ›Minderheitengruppen‹ wird so an die ›Minderheiten-Gemeinschaften‹ weitergegeben, die aufgefordert werden, sich in den dominanten Gesellschaftskonsens einzufügen. An der politischen Partizipation von Migrant_innen ändert sich dabei nichts. Sie sind weiterhin von den fundamentalen Bürger_innenrechten ausgeschlossen. Sie dürfen jedoch bei der Führung ihrer eigenen Gemeinschaft unter der Regie des Staates ›mit-führen‹. Im Rahmen einer solchen Programmatik wird der Diskurs um Ethnizität re-aktiviert und erneut als biopolitisches Regierungs- und Kontrollfeld artikuliert. Durch Asyl- und Migrationspolitiken wird so ein Teil der Bevölkerung unter je nach politischer Konjunktur variierenden Vorzeichen (etwa ›Integration‹ oder ›ökonomischer Verwertbarkeit‹) klassifiziert, verwaltet und kontrolliert. Es ist in diesem Zusammenhang, dass im Zusammenspiel von Institutionslogiken, kulturellen Praktiken und Räumen der Sozialität identitäre vergeschlechtlichte, ethnisierte und rassifizierte Differenzkategorien durch staatliche Anrufungspraktiken produziert werden. Diesen gesellschaftlichen Zuständen und Zurichtungsprozessen mit einem Ansatz der Intersektionalität zu begegnen, der nicht die Aufmerksamkeit auf die Herrschaftsverhältnisse richtet, in denen diese Kategorien geschaffen werden, riskiert es, die herrschende Logik der sozialen Klassifizierung zu reproduzieren. Diese Betrachtungsweise könnte nicht nur neue Ausschlüsse produzieren, insbesondere wenn eine Konzeptionalisierung von Machtverhältnissen zugunsten einer simplen Auflistung von Differenzen aufgegeben wird, son-
39 Puar, Jasbir: Terrorist Assemblages: Homonationalism in Queer Times. Durham 2007.
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dern unterlässt es auch, den Blick auf neue gesellschaftliche Konstellationen zu richten, die nicht in ein kategoriales Denken hineingepresst werden können. Um den dynamischen Charakter und die affektive Dimension von Herrschaftsverhältnissen in den Blick zu bekommen, bedarf es einer Perspektive, die ihr Augenmerk auf fließende und unkonturierte Macht- und Herrschaftskonstellationen legt, wie es das Konzept der »assemblage« (agencement) intendiert, welches ich im Folgenden skizzieren werde.
A SSEMBLAGES Auf die Fluidität von Machtkonstellationen verweist Puar mit ihrem an Gilles Deleuze und Félix Guattari angelehnten Konzept der »terrorist assemblages«. In ihrer Analyse der biopolitischen Logik homonationaler Diskurse – also der Verbindung zwischen liberalen Diskursen um sexuelle Rechte und einer nationalen Kriegsrhetorik in den USA – untersucht sie die Schnittflächen der Diskurse um sexuelle Rechte und dem offiziellen staatlichen Anti-Terror- und Kriegsdiskurs, in dem der Islam als prä-moderner homophober Gegenpol zum sexuell aufgeklärten modernen Westen konstruiert wird. In ihrem 2005 veröffentlichten Aufsatz »Queer Times, Queer Assemblages« spricht Puar von dem »Krieg gegen Terrorismus« als »terrorist assemblage« produziert durch »modernist paradigms (civilizing teleologies, orientalism, xenophobia, militarization, border anxieties) and postmodernist eruptions (suicide bombers, biometric surveillance strategies, emergent corporealities, counterterrorism gone overboard)«.40 Angetrieben von einer kolonialen Logik wird eine spezifische soziale Gruppe, die als ›Muslim_innen‹ konstruiert wird, zur Zielscheibe von staatlichen, medialen und alltäglichen Attacken.41 Die Perspektive der »terrorist assemblages«, die sie in ihrem Buch »Terrorist Assemblages: Homonationalism in Queer Times« weiter ausführt,42 ermöglicht uns ein Feld
40 Puar, Jasbir: Queer Times, Queer Assemblages. In: Social Text 23 (2005), S. 121–139, S. 121. 41 Für eine Kritik am Homonationalismus im britischen und deutschen Kontext siehe Haritaworn: Positionalities (wie Anm. 14); dies.: Wounded Subjects: Sexual Exceptionalism and the Moral Panic on ›Migrant Homophobia‹ in Germany. In: Gutiérrez Rodríguez/Boatc/Costa: Decolonising (wie Anm. 32), S. 135–152. 42 Puar: Queer (wie Anm. 40).
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der Disziplinierung, Domestizierung und Kontrolle auszumachen, in dem Identitäten als Verwaltungseinheiten, als »body as data« entlang von »spatial, temporal and corporeal convergences, implosions, and rearrangements«43 erzeugt werden. »Terrorist assemblages« werden so im Zusammenwirken von unterschiedlichen Praktiken, Ereignissen und Diskursen erzeugt. Wer ausgesondert wird, ist dabei historisch gesehen nicht neu, es sind ehemalige kolonialisierte Subjekte oder Subjekte, die im Rahmen des westlichen Imperialismus oder des modernen/kolonialen Weltsystems als die ›Anderen der Moderne‹ codiert werden, obwohl die Akteur_innen, die zu dieser Kodifizierung beitragen, auf neue Formen der globalen Vernetzung und Virtualisierung medialer Diskurse, politischer Praktiken und ökonomischer Interessen verweisen. Es ist gerade diese ständige Re-Interpretation dieser Diskurse durch eine rasante globale Zirkulation von Bildern und Diskursen, die vom »assemblage«-Ansatz hervorgehoben werden. Ausgehend von Deleuzes and Guattaris Konzept des »agencement« versucht dieser Ansatz gesellschaftliche Phänomene als sich ständig transformierende Gebilde zu verstehen. Denn die Beziehung von unterschiedlichen Elementen und Ebenen zueinander gerinnt nicht in einer einzigen Manifestation ihrer selbst, sondern diese Erscheinung ist ein temporärer und räumlicher Ausdruck gesellschaftlicher Bedingungen (Territorialisierung), die jedoch über diese Beziehungen selbst nicht nur geschaffen, sondern auch transformiert werden (Deterritorialisierung).44 Anstatt von bereits vorgefundenen Gegebenheiten auszugehen, zielt dieser Ansatz auf die Emergenz, Fluidität und Kontingenz, die der temporären Überlappung unterschiedlicher Elemente und Segmente entspringen. Statt also von einer Fixierung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen auszugehen, hebt dieser Ansatz die Beweglichkeit und Flexibilität von gesellschaftlichen Prozessen hervor. Eine Duallogik, die zwischen Materie (Körper) und Kultur (Code) unterscheidet oder von abgeschlossenen Einheiten (Organen) ausgeht, wird mit diesem Ansatz in Frage gestellt. Körper sind kulturell kodifiziert, sie werden zum Beispiel vergeschlechtlicht, rassifiziert – sie sind Objekt, Repräsentation und Manifestation eines hegemonialen Kampfes um gesellschaftlichen Konsens oder marginalisierte Interventionsformen und -praxen. Sie werden über wissenschaftliche
43 Puar: Queer (wie Anm. 40), S. 121. 44 Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Mille Plateaux. Capitalisme et Schizophrénie, Bd. 2. Paris 1980, S. 55ff.
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Diskurse, mediale Repräsentationen und politische Regierungstechnologien zum Beispiel als DNA-Felder, Einwanderungswellen oder Asylbewerber_innen imaginiert und klassifiziert. Diese Formen des Klassifizierens werden jedoch unterlaufen durch Dynamiken, die aus der Beweglichkeit, dem Zusammenkommen und Auseinandergehen unterschiedlicher gesellschaftlicher Ebenen – aus der interdependenten Aktivität der Körper – resultieren. Die Aktivitäten und Bewegung dynamisieren so die Bezeichnungspraktiken, sie durchbrechen, verschieben oder lösen die Grenzen der kognitiven Erfassung auf. Um diese Bewegung zwischen Materie und Kultur zu erfassen, benötigen wir einen analytischen Zugang, der zugleich Fixierung, Verschiebung, Auflösung und Rekreation denkt. Obwohl diese Perspektive uns ermöglicht, auf der einen Seite, einen Blick auf die Energien, Aktivitäten und Beziehungen zu richten, die nicht immer kognitiv registriert werden und auf der anderen, die Formen der Kodierung von Identitäten in Beziehung zu einer kapitalistischen Verwertungslogik zu denken,45 in der gesellschaftlich produzierte Differenzen in offiziellen Bezeichnungen übergeleitet werden, zum Beispiel im Sinne der staatlichen Anrufung zur »Frau« oder »Migrantin«, möchte ich hier die Perspektive von Herrschaft und Dominanz wieder hereinholen. Denn obwohl der Blick auf die Beweglichkeit, Relationalität und Transformierbarkeit von Verhältnissen uns ermöglicht, neue Konstellationen, Elemente und Zusammenhänge wahrzunehmen, finden diese nicht in einem historischen und gesellschaftlichen Vakuum statt. Deren Kontext ist durch vorangegangene Ereignisse, sedimentierte Herrschaftskonstellationen und hegemoniale Diskurse konturiert. Nur unter einer solchen Perspektive können wir die Effekte der Kolonialität in ihrer aktuellen Ausformung erahnen. Erst dann kann die komplexe Verschränkung von staatlichen Anrufungspraktiken, kolonialen Bezeichnungspraktiken, rassistischen Beschreibungsformeln erfasst werden, die in einer kapitalistischen, heteronormativen und biopolitischen Produktions- und Verwertungslogik eingebettet sind. Eine Analyse also, die gesellschaftskritisch verfährt, erscheint mir fundamental, um Wirkungsweise, Relationalität und Interdependenzen im Beziehungsgeflecht von Macht und Herrschaft zu verstehen. Eine solche Perspektive erfordert eine historische und gesellschaftli-
45 Für eine nähere Betrachtung dieser Beobachtung vgl. Gutiérrez-Rodríguez, Encarnación: Migration, Domestic Work and Affect. New York 2010.
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che Kontextualisierung der Diskurse, um sie in Relation zu ihrer geopolitischen Emergenz und ihren epistemologischen Prämissen setzen zu können. In diesem Sinne ist das Aufkommen neuer Begriffe und Konzepte an einen historischen und gesellschaftlichen Rahmen gebunden. Eine Rezeption dieser Begriffe, die das ignoriert, trägt zu einer ahistorischen Sichtweise auf Theoriebildung bei. Demzufolge bleiben nicht nur die Protagonist_innen und ihr geopolitischer Kontext, in dem diese Wissensproduktionen entstanden sind, ausgeblendet, sondern es kommt auch zu einem gesellschaftlich entkoppelten Bezug auf Theorie, der durch die Institutionalisierung dieses Wissens durch Akteur_innen des akademischen Establishments gefördert wird.
S CHLUSS : I NTERSEKTIONALITÄT
DEKOLONIALISIEREN
Die Transformation von gesellschaftskritischem in kanonisiertes institutionalisiertes Wissen führt nicht nur zu einer Depolitisierung von Debatten, die im Rahmen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen entstanden sind, sondern auch zu einer Verflachung ihres radikaldemokratischen transgressiven Anspruches. Denn die politischen Implikationen und historisch gesellschaftsnotwendigen Voraussetzungen, in denen diese Debatten entstanden sind, werden durch eine wissenschaftliche Sprache ausgehebelt, die von in der Wissenschaft ›autorisierten Stimmen‹ vorgetragen wird, um den Standards der akademischen Kanonbildung Genüge zu tun. Die Kanonisierung des Wissens geht somit mit einer Entkoppelung von Gesellschaftskritik einher. Um jedoch wieder radikale Gesellschaftskritik in den Vordergrund unseres wissenschaftlichen Schaffens zu stellen, sollten wir erneut eine Verbindung zwischen Wissensproduktionen und ihren Produktionsbedingungen herstellen. Die Forderungen nach einer gerechten Umverteilung von Ressourcen und der Förderung und Anstellung von Wissenschaftler_innen mit einem Diaspora- oder Migrationshintergrund stellen daher eine Grundvoraussetzung dar, wenn wir von der intersektionalen Dimension von Unterdrückungsverhältnissen ausgehen.
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Wie Paul Wakeling46 zum Beispiel für den britischen Kontext aufzeigt, sind Asian-British und Caribbean-British im Hochschulbetrieb unterrepräsentiert, in der deutschen oder der österreichischen Hochschullandschaft sind minorisierte Akademiker_innen kaum repräsentiert. Auch in anderen Ländern Europas ist die Repräsentation von Mitgliedern aus post-/migrierten oder diasporischen Gruppen kaum vorhanden. In den letzten zwanzig Jahren sind zwar einige Frauen aus der weißen nationalen Elite in die Leitungsebene aufgerückt, doch sind hier immer noch zumeist weiße Männer aus der Ober- oder Mittelschicht vorzufinden. Die wenigen Mitglieder aus minorisierten Gruppen, die Lehr-, Leitungs- und Führungspositionen einnehmen, haben eher eine Vorzeige-Funktion (token) in einem Betrieb, der die Förderung von Mitgliedern aus minorisierten Gruppen nicht vorsieht. Durch die Inkorporierung eines Repräsentanten/einer Repräsentantin dieser Gruppe wird dieses Thema zur Seite gelegt, während der Betrieb wie bisher weiterregiert und verwaltet wird. Solange ein herrschender Status quo reproduziert wird, indem subtil oder explizit weiterhin Ausschließungen praktiziert werden, die der Reproduktion der nationalen Elite dienlich sind, lässt die singuläre Integration von einzelnen Stimmen aus minorisierten Gruppen die strukturelle Ungleichheit unberührt. Des Weiteren wird über die Inkorporierung dieser Stimmen und die Einbindung von Debatten zu Transnationalität, Postkolonialität und Intersektionalität der Anschein der Internationalisierung der deutschen Sozialwissenschaften, insbesondere der Geschlechterforschung, erzeugt. Zusammenfassende, theoretische Begriffe, die im reinen Philosophieren verbleiben und dabei die materiellen Grundlagen unseres Denkens ignorieren, verlieren ihre analytische Brisanz und ihr kritisches Potential für gesellschaftliche Transformation. Daher ist es notwendig, zwischen rhetorischer Kosmetik und gesellschaftskritischen Interventionen zu unterscheiden. Kritik, so Theodor W. Adorno, beginnt dort, wo der Zweifel an der authentischen Repräsentation von Realität aufkommt. Dort, wo das Gegebene seine ideologischen Züge aufscheinen lässt, beziehungsweise dort, wo Repräsentation auf ihren ideologischen Wert hin befragt wird. Gesellschaftskritik ist daher nicht an einer identitären Wiedergabe von Gesellschaft interessiert. Vielmehr zeigt es die Grenzen einer identitären Widerspiegelung von Ge-
46 Wakeling, Paul: White Faces, Black Faces: Is British Sociology a White Discipline? In: Sociology 41 (2007), S. 945–960.
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sellschaft auf. »Wie die Philosophie dem Trug der Erscheinungen mißtraute und auf Deutungen aus war, so mißtraut die Theorie desto gründlicher der Fassade der Gesellschaft, je glatter diese sich darbietet. Theorie will benennen, was insgeheim das Getriebe zusammenhält.«47 In diesem Sinne befindet sich Gesellschaftstheorie immer in Bewegung, denn Gesellschaft ist »weder unmittelbar zu greifen noch, wie naturwissenschaftliche Gesetze, drastisch zu verifizieren«.48 Um soziale Tatsachen erfassen zu können, benötigen wir eine Theorie von Gesellschaft, die die sozialen Zusammenhänge als Widersprüche denkt. Denn Gesellschaftstheorie hat nicht ein hermeneutisches Verständnis von Gesellschaft zum Ziel, sondern »hebt die Reflexion auf Gesellschaft dort an, wo Verstehbarkeit endet«.49
47 Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1995, S. 196. 48 Adorno: Kulturkritik (wie Anm. 47), S. 10. 49 Adorno: Kulturkritik (wie Anm. 47), S. 12.
Von den Kämpfen aus Eine Problematisierung grundlegender Kategorien
I SABELL L OREY
Seit mehr als zwanzig Jahren gehören Auseinandersetzungen um die Bedeutung und Notwendigkeit von Gender als einer grundlegenden Kategorie zum Etablierungsprozess der deutschsprachigen Frauen- und Geschlechterforschung. Auseinandersetzungen dieser Art waren bisher gerade in den Momenten deutlich vernehmbar, in denen es besonders wichtig erschien, diese Forschungsrichtung auf eine Kategorie zu gründen. Seit einigen Jahren besteht immer mehr Einigkeit darin, dass aus dieser einen Kategorie mehrere werden müssen. Doch auch in den einschlägigen Überlegungen zu Intersektionalität oder Interdependenz geht es weiterhin um grundlegende Kategorien.1 Vor allem die 1990er Jahre der deutschsprachigen Frauen- und Geschlechterforschung waren geprägt von heftigen Kontroversen um die Notwendigkeit und die Funktion eines kategorialen Gründungsdenkens. In Erinnerung zu rufen ist in diesem Zusammenhang der »Streit um Differenz«, der
1
Klinger, Cornelia/Knapp, Gudrun-Axeli/Sauer, Birgit (Hrsg.): Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität. Frankfurt a.M./New York 2007; Klinger, Cornelia/Knapp, Gudrun-Axeli (Hrsg.): ÜberKreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz. Münster 2008; Walgenbach, Katharina/Dietze, Gabriele/Hornscheidt, Antje/Palm, Kerstin (Hrsg.): Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Opladen/Farmington Hills 2007; Winker, Gabriele/Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld 2009.
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international im Rahmen eines ›westlich‹ zu nennenden feministischen Diskurses geführt wurde. In dem gleichnamigen Buch2 waren an prominenter Stelle unter anderem Seyla Benhabib und Judith Butler an der Debatte beteiligt, welche sich – vereinfacht gesagt – zwischen deliberativ-demokratischen Positionen auf der einen und radikal demokratischen auf der anderen Seite, zwischen normativer und poststrukturalistischer Theorie entfaltete. Bei dieser Kontroverse um feministische Grundlagen ging es immer auch um Auseinandersetzungen über unterschiedliche Vorstellungen des Politischen. Das alles scheint heute weitgehend vergessen, die unterschiedlichen Fazite aus diesem Streit sind als unterschiedliche Positionen der Geschlechterforschung kanonisiert. Es wird kaum mehr in Frage gestellt, ob es grundlegende Kategorien überhaupt braucht. Im Folgenden werden Argumente aus dem alten »Streit um Differenz« wieder aufgenommen und dieser Konflikt damit aktualisiert, vielleicht auch erneut angeheizt. Die Analyseperspektive meines Beitrags fragt nicht danach, welche Kategorien grundlegend sind, sondern danach, was diesen Kategorien entgeht.3 Damit ist kein Befreiungsakt intendiert, um losgelöst von kategorialen Zwängen die pure Vielfalt zu feiern. Hier soll vielmehr eine Perspektive auf Konflikte und (politische) Kämpfe eingenommen werden, mit der Kategorisierungen daraufhin kritisch befragt werden, welche Herrschaftsverhältnisse sie (re-)produzieren und was grundlegende Kategorien immer wieder scheitern lässt. Dies gelingt nicht durch Forderungen nach kategorialer Inklusion, wodurch Konflikte und Kämpfe tendenziell eher stillgestellt werden und in Vergessenheit geraten. Ich nehme Streit und Konflikt also in mehrfacher Hinsicht zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen. Wenn ich von kategorialem Gründungsdenken spreche, dann meine ich in dem zunächst genannten Zusammenhang einen Begriff von ›gründen‹, der die Grundlagen, das Fundament einer Forschungsrichtung ebenso einschließt wie deren Legitimation durch grundlegende Kategorien. Über den Kontext von Wissenschaft hinaus schwingt hier zugleich eine politische Bedeutung des Gründens mit. In der Staatstheorie und der politischen Theorie entspricht
2
Benhabib, Seyla/Butler, Judith/Cornell, Drucilla/Fraser, Nancy: Der Streit um
3
Vgl. auch Lorey, Isabell: Konstituierende Kritik. Die Kunst, den Kategorien zu
Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart. Frankfurt a.M. 1993. entgehen. In: Mennel, Birgit/Nowotny, Stefan/Raunig, Gerald (Hrsg.): Kunst der Kritik. Wien 2010, S. 47–64.
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das Gründen traditionell der Gestaltung der Konstitution, der grundlegenden Verfassung. Eine solche Verfassungsgebung ist seit der Französischen Revolution mit Selbstgesetzgebung und in diesem Sinne mit bürgerlicher Souveränität verbunden. Ausgehend von dieser Bedeutung des Gründens als kategorialer Grundlage sowie als souveräner Konstitution werde ich im Laufe des Textes auf eine andere, nicht mehr geläufige Bedeutung von ›gründen‹ zu sprechen kommen. Es geht um ein Bedeutungsgefüge, das aus dem entsteht, was der souveränen Konstitution entgeht: Im Fokus dabei stehen Bewegungen nichtsouveräner Konstituierung, Bewegungen des Neu-Gründens, des Neu-Zusammensetzens. Ich möchte zunächst Judith Butlers postfundationalistische4 Kritik an einer grundlegenden Kategorie ›Frauen‹ in Erinnerung rufen. Im Anschluss daran geht es mir um eine Kritik an der gründenden Funktion von Intersektionalität in der aktuellen deutschsprachigen Geschlechterforschung. Denn auch wenn sich die Analyseperspektiven durch die transformierten Kategorien in den vergangenen Jahrzehnten sicherlich erweitert haben, bleibt doch ein Festhalten an großen, grundlegenden Kategorien zu beobachten. Wie ein Schutzschild, wie eine (epistemische) Sicherungstechnik scheint mir dieses Festhalten in weiten Teilen der Geschlechterforschung zu sein, wie eine Immunisierungsstrategie gegen grundlegende Konflikte.5 Ich möchte stattdessen Bewegungen der Konstituierung und des Entgehens betonen, die nicht unabhängig von Auseinandersetzungen und Kämpfen zu verstehen sind.
4
Postfundationalistische Theorien – etwas schwerfällig von der englischen Bezeichnung post-foundationalism als Neologismus ins Deutsche übertragen – betonen die Kontingenz von Grundlagen. Siehe zu solchen theoretischen Ansätzen Oliver Marchart, der den meines Erachtens missverständlichen Begriff des »Postfundamentalismus« vorschlägt; vgl. Marchart, Oliver: Die Politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Frankfurt a.M. 2010.
5
Vgl. Lorey, Isabell: Weißsein und die Auffaltung des Immunen. Zur notwendigen Unterscheidung zwischen Norm und Normalisierung. In: Bock von Wülfingen, Bettina/Frietsch, Ute (Hrsg.): Epistemologie und Differenz. Zur Reproduktion von Wissen in den Wissenschaften. Bielefeld 2010, S. 99–111; dies.: Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie. Zürich 2011.
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K ONTINGENTE G RUNDLAGEN Die Auseinandersetzung um die Kategorie ›Frau/en‹ in den 1990er Jahren gehören zu den paradigmatischen in der Diskursgeschichte der deutschsprachigen Frauen- und Geschlechterforschung und lieferten einige Jahre später, um die Jahrtausendwende, noch immer die zentralen Stichpunkte für die Legitimation der Kategorie ›Gender‹ als Grundlage der sich etablierenden Gender Studies. 6 Judith Butler betont im »Streit um Differenz«, dass normative theoretische Grundlegungen stets durch Ausschließungen abgegrenzt und abgesichert werden müssen.7 Man könnte sagen: Normative Grundlagen, unhinterfragbare kategoriale Setzungen fungieren als Immunisierungsstrategie, als eine Strategie der fundierenden Sicherung und Grenzziehung – die allerdings nie ganz gelingen kann. In ihrem Text »Kontingente Grundlagen« macht Butler deutlich, dass die Fundierung feministischer Theorie und Politik durch eine Kategorie ›Frauen‹ alles andere als einen sicheren Grund, vielmehr ein grundlegendes Risiko bedeutet. Butler argumentiert gegen identitäre Schließungen durch ein kollektives Einheitssubjekt ›Frauen‹, gegen ein homogenes feministisches ›Wir‹. Damit würde kein Kollektiv bezeichnet, sondern ganz im Gegenteil eine »Zersplitterung« hervorgerufen, die durch das gemeinsame »Wir Frauen« eigentlich überwunden werden sollte.8 Die Kategorie ›Frauen‹ spaltet demnach, statt zusammenzufassen – eine wiederholte Kritik von Schwarzen Frauen und Women of Colour seit den frühen 1980er Jahren,9 die allerdings von weißen Mainstream-feministischen Ohren in der Regel nicht
6
Vgl. Stephan, Inge/Braun, Christina von (Hrsg.): Gender Studies. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar 2000.
7
Vgl. Butler, Judith: Für ein sorgfältiges Lesen. In: Benhabib u.a.: Streit (wie
8
Butler, Judith: Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der
Anm. 2), S. 122–132, S. 122. ›Postmoderne‹. In: Benhabib u.a.: Streit (wie Anm. 2), S. 31–58, S. 48. 9
Als eine der ersten Kompilationen im Kontext der USA siehe Moraga, Cherrie/ Anzaldúa, Gloria E. (Hrsg.): This Bridge Called my Back. Writings of Radical Women of Color. New Jersey 1984 (2. Aufl.); für den deutschsprachigen Kontext siehe u.a. Oguntoye, Katharina/Opitz, May/Schultz, Dagmar (Hrsg.): Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. Berlin 1986 (aktualisierte Aufl. Frankfurt a.M. 1992).
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gehört wurde. Das kollektive »Wir Frauen« stellt eine gewaltvolle weiße Konstruktion dar, die nicht nur die Differenzen unter Frauen nicht wahrnimmt, sondern zugleich Herrschaftsverhältnisse zwischen Frauen negiert.10 Was mit der Identitätskategorie ›Frauen‹ zusammengefasst und vereinigt werden soll, wird also gerade durch diese Bezeichnungspraxis von vornherein aufgeteilt und getrennt. Und gerade durch diese Spaltung, durch die damit einhergehenden Ausschlüsse werde offensichtlich, dass die Kategorie ›Frauen‹ ein »unbezeichenbares Feld von Differenzen bezeichnet«.11 Die Kategorie ›Frauen‹, mit der eine gemeinsame Identität als Ausgangspunkt gesetzt werden soll, »kann niemals«, so Butler, »den festigenden Grund einer politischen feministischen Bewegung abgeben«12 und ebenso wenig feministische Theorie begründen. Butler kritisiert das Einsetzen einer vorausgehenden, also grundlegenden Kategorie vor dem Hintergrund postfundationalistischer politischer Theorien.13 Sie plädiert dafür, die »ständige Spaltung«, die durch eine grundlegende identitäre Kategorisierung entsteht, nicht zu betrauern und vermeiden zu wollen, da eine vollständige kategoriale Inklusion nicht möglich ist. Gerade deshalb ginge es umgekehrt darum, die »ständige Spaltung als grundlosen Grund der feministischen Theorie sogar [zu] bejahen«.14 Die Spaltung macht offensichtlich, dass Grundlagen stets kontingent sind. Wenn diese Kontingenz nicht mehr wahrgenommen wird und kategoriale Setzungen als
10 Vgl. Mohanty, Chandra Talpade: Aus westlicher Sicht: feministische Theorie und koloniale Diskurse. In: beiträge zur feministischen theorie und praxis 11, 23 (1988), S. 149–162. 11 Butler: Grundlagen (wie Anm. 8), S. 50. 12 Ebd. 13 Vgl. Butler: Grundlagen (wie Anm. 8), S. 57, Anm. 1. Die unterschiedlichen postfundationalistischen Theoretiker_innen (zu denen u.a. Chantal Mouffe, Ernesto Laclau, Jean-Luc Nancy, Philippe Lacoue-Labarthe, Claude Lefort gehören) kritisieren alle die Annahme eines letzten oder eigentlichen Grundes, von dem aus jedes gesellschaftliche Verhältnis gedacht werden kann. Es geht nicht um die Proklamation der Abwesenheit jeglicher Gründe, sondern um deren Pluralisierung und die daraus erwachsende Kontingenz; zu Butler vgl. Marchart: Differenz (wie Anm. 4), S. 62f. 14 Butler: Grundlagen (wie Anm. 8), S. 50.
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normal und selbstverständlich gelten, wirken diese als »stille Norm«.15 Butler betont in »Kontingente Grundlagen« mehrmals, dass das Infragestellen von grundlegenden Setzungen nicht bedeuten soll, »dass es keine Grundlage gibt«.16 Es geht ihr nicht um die Negation, nicht um das Abschaffen von Grundlagen. In ihrer postfundationalistischen Kritik unterstreicht Butler vielmehr, dass es stets »Protest«17 gegen grundlegende Kategorisierungen geben wird. Der Protest entspricht in ihrem Denken der Praxis der Dekonstruktion: Eine Grundlage existiert nur, um in Frage gestellt zu werden. Proteste lassen sich nicht durch einen »Wunsch nach Grundlagen«18 vermeiden. Ein fundamentaler Schutz, eine kategoriale Absicherung vor Auseinandersetzungen und Streit ist nicht möglich. Und genau diese Unmöglichkeit verweist auf »das ständige Risiko des Demokratisierungsprozesses«. Das Risiko des Protests abzustellen, hieße, »den radikalen, demokratischen Impetus der feministischen Politik [zu] opfern«.19 Was Butler Anfang der 1990er Jahre formulierte, stellt auch gegenwärtig noch eine radikale Position dar. Die Frage nach radikal demokratischer feministischer Politik stand weder damals noch heute im Zentrum der feministischen Diskussionen. Vielmehr haben die feministischen Urteile über Butlers Position in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre gezeigt, dass eine radikale, demokratische Politik, die die (immanenten) Kämpfe in den Blick nimmt, ohnehin nie wirklich zur Debatte stand. Allein das Infragestellen von grundlegenden Kategorien galt dem feministischen universitären Mainstream damals schon als das Ende von Politik.20 Dekonstruktion war für viele Feminis-
15 Dietze führt diesen Begriff im Rahmen ihrer Konzeptualisierung von Okzidentalismuskritik ein; vgl. Dietze, Gabriele: Okzidentalismuskritik. Möglichkeiten und Grenzen einer Forschungsperspektive. In: Dies./Brunner, Claudia/Wenzel, Edith (Hrsg.): Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht. Bielefeld 2009, S. 23–54. 16 Butler: Grundlagen (wie Anm. 8), S. 51. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Vgl. Gerhard, Ute: Frauenbewegung in der Flaute? Zur Rolle sozialer Bewegungen in einem veränderten Europa. In: Transit. Europäische Revue 5, 10 (1995), S. 117–135.
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tinnen überaus angstbesetzt21 – gerade weil damit sicher geglaubte Überzeugungen und Grundlagen erschüttert wurden. So wurden Butlers Intervention und die daran anschließenden Diskurse und Praktiken als Entpolitisierung und bloße Kulturalisierung diffamiert. Anders aber als ihr immer wieder unterstellt wurde, argumentierte Butler zwar gegen vorausgesetzte, nicht hinterfragbare Kategorien, sie wollte allerdings grundlegende Kategorien nicht abschaffen. Vielmehr war es ihr Anliegen, auf die unvermeidbaren Auseinandersetzungen um Kategorisierungen aufmerksam zu machen. Davon ausgehend hieß ihre politische und epistemologische Praxis, Bedeutungen zu verschieben und umzudeuten. Diese Praxis des Umdeutens meint nicht eine Negation oder ein Auflösen von Bedeutungen, wie immer wieder missverstanden wurde, sondern im Gegenteil eine Bedeutungserweiterung. In dem Aufsatz »Die Frage nach der sozialen Veränderung« schreibt Butler 2002, fast zehn Jahre nach dem Text »Kontingente Grundlagen«: »Zum Zweck einer radikal demokratischen Veränderung sollten wir wissen, dass unsere grundlegenden Kategorien erweitert werden können und werden müssen, damit sie integrativer und flexibler werden für das gesamte Spektrum kultureller Bevölkerungsgruppen.«22 Die Kategorien müssten aus »unzähligen Richtungen«23 einer Überarbeitung unterzogen werden, damit aus »Umdeutung als Politik«24 eine – so lässt sich kritisch formulieren – wendige Politik der kategorialen Integration wird. Mit Butlers Plädoyer für diskursive Verschiebungen und Umdeutungen wird allerdings – und das ist meine Kritik auch an Butlers Position – eine Perspektive auf Proteste, Auseinandersetzungen und Kämpfe sogleich wieder entschärft. Zwar hat Butler dazu beigetragen, den Blick auf die Auseinandersetzungen an den Grenzen grundlegender Kategorisierungen zu richten. Doch es reicht nicht aus, auf die Kontingenz fundamentaler Kategorien hinzuwei-
21 Siehe zu den damit verbundenen homophoben und rassistischen Reflexen Hark, Sabine: Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus. Frankfurt a.M. 2005. 22 Butler, Judith: Die Frage nach der sozialen Veränderung. In: Dies.: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt a.M. 2009 (Orig. Barcelona 2002), S. 325–366, S. 354, meine Hervorhebung. 23 Butler: Frage (wie Anm. 22), S. 354. 24 Butler: Frage (wie Anm. 22), S. 353.
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sen, sie zu erweitern und zu verschieben, wenn man die Konstitutionsbedingungen und die Funktionen von Grundlagensetzungen problematisieren will. Die permanenten Spaltungen und Konflikte zum Ausgangspunkt einer kritischen Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse zu nehmen, heißt nicht nur, die Perspektive auf die ständigen Auseinandersetzungen zu richten, sondern ebenso darauf, was ausgeschlossen wird. Daraus muss sich allerdings nicht zwangsläufig und nicht in erster Linie der Impuls entwickeln, das, was nicht erfasst wird, (wieder) in ein Kollektiv, einen Konsens oder ein Schema der Kategorisierung hineinzunehmen, zu integrieren und dadurch zugleich auch in gewisser Weise zu bändigen, zu rastern und zu normalisieren. Durch solche kategorialen Erweiterungsversuche werden Phantasien, eine vollständige kategoriale Erfassung sei möglich, zusätzlich befördert.
I NTERSEKTIONALITÄT Feministische Theorie scheint nicht ohne kategoriale Grundlagen auszukommen, nicht ohne immer umfassendere, komplexere grundlegende Kategorisierungen. Mittlerweile ist es weitgehend Konsens, dass eine Kategorie – gleich wie sie bezeichnet wird – die Vielfältigkeit von Herrschaftsverhältnissen und gesellschaftlichen Positionierungen nicht fassen kann. Dies soll nun durch die Pluralisierung zentraler Kategorien gelingen; dafür stehen vor allem die Ansätze der Intersektionalität.25 Hier ließe sich in Anlehnung an Butler und die postfundationalistische Theoriebildung argumentieren, dass gerade die Pluralisierung von Grundlagen bereits eine Kritik an der Vorstellung eines einzigen ontologischen und identitären Grundes darstellt, die Kontingenz grundlegender Kategorien allein durch die Pluralität offensichtlich wird, die Geschlechterforschung mit den vielfältigen Ansätzen zu Intersektionalität und Interdependenz also tatsächlich etwas aus Butlers Kritik gelernt hat. Und wenn die deutschspra-
25 Zu einer ausführlicheren Kritik an den Ansätzen von Intersektionalität und Interdependenz siehe Lorey: Kritik (wie Anm. 3); siehe auch Puar, Jasbir: »Ich wäre lieber eine Cyborg als eine Göttin«: Intersektionalität, Assemblage und Affektpolitik. In: Lorey, Isabell/Nigro, Roberto/Raunig, Gerald (Hrsg.): Inventionen 1: Gemeinsam, Prekär, Potentia, Dis-/Konjunktion, Ereignis, Transversalität, Queere Assemblagen. Zürich 2011, S. 255–272.
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chige Geschlechterforschung etwas durch die Kritik an den gewaltförmigen Ausschlüssen durch die Kategorie ›Frauen‹ verstanden hat, dann hat sie letztlich etwas aus der Kritik der Schwarzen Feministinnen und der Women of Colour seit den 1980er Jahren sowie der postkolonialen und queeren Kritik gelernt. Nicht umsonst sichern sich viele Überlegungen zu Intersektionalität immer wieder mit dem Argument ab, dass dieses Konzept aus der Schwarzen Anti-Diskriminierungsbewegung der USA stammt. Zwanzig Jahre später in den deutschsprachigen Raum importiert, nach vielen Jahren des Nicht-Zuhörens und Nicht-Wahrnehmens, auf welche Weisen weiße feministische Theorie wie Geschlechterforschung beispielsweise in die Reproduktion von Rassismen verstrickt ist, erscheint mir der Verweis auf die Genese des Intersektionalitätsansatzes, insbesondere auf seine Schwarze Geschichte, wie ein Versuch der Immunisierung gegen grundsätzliche Kritik. Es ist der Verweis auf eine offenbar unverfängliche und entlastende Gründungsgeschichte. Nicht mehr präsent ist dabei, dass die Ausschlüsse, die die weiße Kategorie ›Frauen‹ produziert hat, nicht unbeteiligt daran waren, dass Schwarze Frauen die Gleichzeitigkeit mehrerer Ungleichheitsverhältnisse problematisiert haben. ›Intersektionalität‹ ist historisch ein Konzept des politischen Kampfes. Doch davon ist durch den Import und die allmähliche Implementierung in ein mehrheitlich weißes, hegemonial werdendes Forschungsdesign nicht mehr viel übrig. Das vorrangige Interesse liegt gegenwärtig in der Kategorisierung gesellschaftlicher Positionierungen von Subjekten, verstärkt auch in Selbstpositionierungszwängen26 und kaum noch in der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse. Stattdessen führt die Beschäftigung »mit Intersektionalität im deutschen Kontext zumeist zu einer Relativierung der Rassismusanalyse«.27
26 Vgl. bspw. Nduka-Agwu, Adibeli/Hornscheidt, Antje Lann (Hrsg.): Rassismus auf gut Deutsch. Ein kritisches Nachschlagewerk zu rassistischen Sprachhandlungen. Frankfurt a.M. 2010; kritisch gegenüber Selbstpositionierungen u.a. Arslanog˘lu, Ay¸se: Stolz und Vorurteil. Markierungspolitiken in den Gender Studies und anderswo. In: Outside the Box. Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik 2 (2010) < http://outside.blogsport.de/images/otb2_stolzundvorurteil.pdf >, Zugriff: 7.2.2011; Lorey: Auffaltung (wie Anm. 5). 27 Erel, Umut/Haritaworn, Jinthana/Gutiérrez Rodríguez, Encarnación/Klesse, Christian: Intersektionalität oder Simultaneität?! – Zur Verschränkung und Gleichzeitig-
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Zudem ist es wieder en vogue – als hätte es die poststrukturalistische und postmarxistische Kritik nie gegeben – affirmativ von Identitäten auszugehen 28 und diese als sichere Fundamente zu setzen, als ob Identitäten keine kontingenten Konstruktionen wären. Mit einer solchen Perspektive kann nicht problematisiert werden, dass es gerade auch die vielfältigen sozialen Aufforderungen zur Vereindeutigung sind, die prekarisieren.29 Der
keit mehrfacher Machtverhältnisse – Eine Einführung. In: Hartmann, Jutta/Klesse, Christian/Wagenknecht, Peter/Fritzsche, Bettina/Hackmann, Kristina (Hrsg.): Heteronormativität. Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht. Wiesbaden 2006, S. 239–250, S. 247; auch Bojadijev, Manuela: Postkoloniale Bedingungen. Zum Verhältnis von Migration und Rassismus – und warum uns der Begriff Intersektionalität in die Irre führt, Vortrag gehalten am 18. November 2009 im Rahmen der Ringvorlesung »Geschlecht in Wissenskulturen. Postkoloniale und queer-theoretische Perspektiven«, organisiert vom Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie« der Humboldt-Universität zu Berlin, unveröffentlichtes Manuskript. Zu weiteren ›missing links‹ von Intersektionalitätsansätzen und deren erneuten (kategorialen) Ausschlüssen wie bspw. die untergeordnete Reihung von Sexualität, siehe Erel u.a.: Intersektionalität (wie Anm. 27), S. 243f. Die Autor_innen wenden sich allerdings nicht gänzlich gegen die Konzipierung von Intersektionalität, sie kritisieren lediglich die bisher bestehenden Unzulänglichkeiten. 28 Vgl. u.a. die sogenannte Mehrebenenanalyse von Winker/Degele: Intersektionalität (wie Anm. 1). 29 Der Begriff der Prekarisierung geht hier über die ökonomische Dimension hinaus und meint (auch) die vielfältige Erfahrung, die mit »einer nicht funktionierenden identitären Zuschreibung oder Anrufung und den damit verbundenen Vereindeutigungen zu tun hat, die sich dennoch auf bestimmte Weisen in Subjektivierungsverhältnissen materialisieren«; kpD/Kleines postfordistisches Drama: Prekarisierung von KulturproduzentInnen und das ausbleibende ›gute Leben‹. In: transversal: »Militante Untersuchung« (2004), unter , Zugriff: 15.10.2010 (Orig. Berlin 2005); vgl. Lorenz, Renate/Kuster, Brigitta: Sexuell arbeiten. Eine queere Perspektive auf Arbeit und prekäres Leben. Berlin 2007; Precarias a la deriva: Geld oder Leben. Von der Prekarisierung der Existenz bis zum Sorgestreik. In: Dies.: Was ist dein Streik? Militante Streifzüge durch die Kreisläufe der Prekarität. Wien 2011; Manske, Alexandra/Pühl, Katharina (Hrsg.): Prekarisierung zwischen
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neuerliche Bezug auf Identitäten ist nur ein Symptom für die bereits seit einigen Jahren andauernde Entpolitisierung der Geschlechterforschung. In der Intersektionalitätsforschung wird gegenwärtig die Pluralisierung von Kategorien vorangetrieben, ohne Butlers explizit politisch verstandenen identitätskritischen Einsatz der 1990er Jahre zu aktualisieren. Um das Politische wird nicht mehr gestritten, nicht nur weil es der Negation anheimgefallen ist, sondern zudem in der Kategorisierung eines »cultural« oder »linguistic turn«30 domestiziert wurde. Statt von Kämpfen und Auseinandersetzungen auszugehen, statt die Kämpfe der Ausgegrenzten als Ermächtigung wahrzunehmen, als Verweigerung, sich einfach und umstandslos in die ausschließende Ordnung zu integrieren, konzentrieren sich intersektionale Ansätze immer wieder auf die Frage, welche Kategorien in bestimmten Kontexten als jeweils grundlegende betrachtet werden sollen. Doch auch die Vervielfältigung von fundamentalen Kategorisierungen ist nicht in der Lage, der Reproduktion und Stabilisierung bestehender Herrschaftsverhältnisse zu entgehen. Mit dem ausschließlichen Fokus auf vervielfältigte und erweiterte Kategoriesysteme wird der Blick darauf verstellt, dass es immer etwas gibt, was ihnen entgeht. In Anbetracht dessen gehen auch Butlers radikal demokratischer, postfundationalistischer Ansatz und seine akademischen Nachfolge-Projekte an einigen Punkten nicht weit genug, gerade wenn es von Interesse ist, auch auf der Ebene der Theorie wieder an politische Praxen, Subjektivierungsweisen und Lebensformen anzuschließen, die entstehen, weil sie aus herrschenden Ordnungen – nicht selten gewaltvoll – ausgeschlossen werden. Antke Engel hat darauf verwiesen, dass Butler erst in ihrer Aufsatzsammlung »Undoing Gender«31 Überlegungen bestärkt, die hervorheben, dass auch diejenigen, die gewaltvoll ausgeschlossen werden, diejenigen, die Verwerfungen erfah-
Anomie und Normalisierung. Geschlechtertheoretische Bestimmungen. Münster 2010. 30 Villa nennt Butler »eine der Urheberinnen des ›linguistic turn‹«; Villa, PaulaIrene: (De)Konstruktion und Diskurs-Genealogie: Zur Position und Rezeption von Judith Butler. In: Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung: Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden 2004, S. 141–152, S. 144. 31 Butler, Judith: Undoing Gender. New York/London 2004, S. 224; dies.: Frage (wie Anm. 22), S. 354.
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ren, (nicht konforme) Subjektivierungsweisen erstreiten können. Denn, so Engel, unter den Bedingungen der »zweigeschlechtlichen Zwangsordnung [entfalten sich] Eigensinn und politisches Handlungsvermögen dadurch […], dass jemand eine subjektive Lösung für etwas finden muss, was gesellschaftlich als unlösbar gilt, nämlich ein Leben, das nicht in der zweigeschlechtlich heteronormativen Ordnung aufgeht«.32 Und in einer Formulierung von Butler: »Wir brauchen ein komplexeres Verständnis der Vielgestaltigkeit und der Taktiken der Macht, um jene Formen von Widerstand, Aktion und Gegenmobilisierung zu erfassen, welche sich der staatlichen Macht entziehen oder sie blockieren.«33
B EWEGUNGEN DER K ONSTITUIERUNG UND DES E NTGEHENS Eine analytische Perspektive auf Kämpfe ist darauf bedacht, weder viktimisierte Ausgeschlossene zu produzieren, noch sich auf gewaltförmige gesellschaftliche Ausschlussmechanismen zu beschränken. Ohne letztere zu negieren, geht es zugleich darum, die politische Handlungsfähigkeit derjenigen wahrzunehmen und überhaupt als möglich zu denken, die kategorial erfasst und reguliert werden sollen und die diesen Kategorien entgehen und sich ihnen entziehen. Mit der Bewegung des Entgehens bleibt einerseits das Risiko verbunden, dass soziale und politische Legitimitäten gewaltvoll aberkannt werden, und zugleich entstehen andererseits Möglichkeiten, neue soziale und politische Praxen zu erfinden. Von den Auseinandersetzungen um kategoriale Schließungen auszugehen und die Kämpfe um das Akzeptable virulent zu halten bedeutet, die Verhältnisse verändern zu wollen, nicht einfach nur die Kategorien.34 Mit dem Fokus auf Bewegungen des Entgehens und Sich-Entziehens liefern sowohl nicht heteronormative, aus der Zweigeschlechterordnung her-
32 Engel, Antke: Akzeptanzschwierigkeiten? Dimensionen und Strategien queerer Kritik. In: Mennel, Birgit/Nowotny, Stefan/Raunig, Gerald (Hrsg.): Kunst der Kritik. Wien 2010, S. 65–84, S. 68. 33 Butler, Judith/Spivak, Gayatri Chakravorty: Sprache, Politik, Zugehörigkeit. Zürich/Berlin 2007, S. 31, meine Hervorhebung. 34 Vgl. Foucault, Michel: Was ist Kritik? Berlin 1992.
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ausfallende, erstrittene Subjektivierungen35 als auch migrantische Kämpfe Beispiele für Praxen des Entgehens, wobei beide dies zugleich auf zwei Ebenen vollziehen: auf der Ebene der Kämpfe und sozialen Bewegungen sowie auf der Ebene der politischen Theorie. Die kritische Migrationsforschung schreibt sich in poststrukturalistische und postoperaistische Diskurse ein, in denen Entgehen, Flucht und Exodus nicht als reine Kraft der Negation verstanden werden, sondern als eine positive politische Praxis und zugleich als eine theoretische Figur.36 Die Praxis der transnationalen Migration wird dabei nicht als romantisierte Bewegung verstanden, die einer abstrakten Figur von Flucht und Exodus zugrunde liegt.37 Die in der Figur des Entgehens betonten Aspekte von strategischem
35 Vgl. Genschel, Corinna: Erstrittene Subjektivität: Die Diskurse der Transsexualität. In: Das Argument 43, 6 (2001), S. 821–834. 36 Vgl. bspw. Papadopoulos, Dimitris/Stephenson, Niamh/Tsianos, Vassilis: Escape Routes. Control and Subversion in the 21st Century. London/Ann Arbor 2008. Grundlegend für eine Figur der Flucht sind die Überlegungen von Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin 1992; vgl. auch Deleuze, Gilles/Parnet, Claire: Dialoge. Frankfurt a.M. 1980, S. 48ff. und S. 147; aber auch Foucaults Verständnis von Machtbeziehungen, die stets eine Umkehr dieser und/oder die Flucht aus diesen Beziehungen ermöglichen; vgl. Foucault, Michel: Subjekt und Macht. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits, Bd. IV: 1980–1988. Frankfurt a.M. 2005, S. 269–294, S. 292; ders.: Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit. In: Ebd., S. 875–902, S. 890. Eine weitere wichtige Genealogie dieser Figur der Flucht ist das Exodus-Konzept von Paolo Virno, das er aus der Desertion der Arbeiter_innen aus der Fabrik (u.a. in den 1970er Jahren) entwickelt; vgl. Virno, Paolo: Exodus. Wien 2010; Raunig, Gerald: Fluchtlinien und Exodus. Zu einigen offensiven Figuren des Fliehens. In: Nowotny, Stefan/Raunig, Gerald: Instituierende Praxen. Bruchlinien der Institutionskritik. Wien 2008, S. 209–218. Zu meinem Verständnis von Exodus siehe Lorey, Isabell: Versuch, das Plebejische zu denken. Exodus und Konstituierung als Kritik. In: transversal: »the art of critique« (2008), unter , Zugriff: 15.10.2010; dies.: Kritik (wie Anm. 3); dies.: Figuren (wie Anm. 5). 37 Vgl. Moulier Boutang, Yann: Europa, Autonomie der Migration, Biopolitik. In: Pieper, Marianne/Atzert, Thomas/Karakayalı, Serhat/Tsianos, Vassilis (Hrsg.): Empire und die biopolitische Wende. Die internationale Diskussion im An-
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Abfallen, Kreativität und Invention existieren nicht jenseits von Ausbeutung und Ausschluss. Was hier beschrieben werden soll, ist eine Bewegung des Politischen, die nicht in Kategorien gründet, auch nicht in kontingenten wie im Postfundationalismus, sondern in der politischen Praxis des SichEntziehens, der Verweigerung. Das bedeutet vor allem, andere Fragen zu stellen. Im Fall der kritischen Migrationsforschung etwa: Welche Funktion hat der Glaube an die Evidenz von sozialen Konstruktionen wie Ethnizität und ›Rasse‹? Warum und in welcher Weise rastern und organisieren Menschen ihre sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse danach? Das sind Fragen nach Rassismus, in denen Ethnizität oder ›Rasse‹ weder als Identität noch als intersektionale zentrale analytische Kategorie vorausgesetzt werden. Um unterschiedliche (Re-)Formierungen von Rassismus zu analysieren, untersucht Manuela Bojadijev beispielsweise Formen und Praktiken migrantischen Widerstands, die zu derartigen Neuformierungen beigetragen haben. Dadurch bietet sie ein Verständnis von Rassismus an, das »sich die Kämpfe gegen Rassismus zur Grundlage macht und nicht die durch den Rassismus produzierten Subjekte«. 38 Bojadijev schreibt in ihrem Buch »Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration«: »Im Prozess der Migration entziehen sich Migrantinnen und Migranten bestehenden Formen der Vergesellschaftung.«39 Diese Bewegung des Sich-Entziehens impliziert weder, dass Migration frei wäre von solchen bestehenden Formen der Vergesellschaftung, »noch lässt sie sich vollkommen kanalisiert denken – sie beruht auf einem Kalkül«.40 Die Bewegungen des Entgehens in der Migration werden im Einwanderungsland juristisch gerastert. Es sind die Gesetze, so Bojadijev, die zuallererst »unterschiedliche Kategorien von Ausländern […] konstruieren, differenzieren und hierarchisieren und damit ein System von Bevölkerungs-
schluss an Hardt und Negri. Frankfurt a.M./New York 2007, S. 169–178; Mezzadra, Sandro: Kapitalismus, Migration, soziale Kämpfe. Vorbemerkungen zu einer Theorie der Autonomie der Migration. In: Ebd., S. 179–193. 38 Bojadijev: Bedingungen (wie Anm. 27). 39 Bojadijev, Manuela: Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration. Münster 2008, S. 147. 40 Bojadijev: Internationale (wie Anm. 39), S. 147.
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gruppen etablieren, die unterschiedliche staatliche Maßnahmen erfahren«.41 Diese Rasterung ist allerdings nicht in der Lage, die Bewegungen der Flucht zur Gänze einzufangen. Jenseits staatlicher Kategorisierungen, so die kritische Migrationsforschung, existiert eine »Autonomie der Migration«.42 Diese Autonomie der Migration bedeutet keineswegs – Serhat Karakayalı macht dies in seinem Buch »Gespenster der Migration« deutlich –, »der Wirkungsmacht von Staat und Ökonomie [zu] entgehen«.43 Autonomie meint hier keine vollkommene Unabhängigkeit von Konstitutionsbedingungen, kein Jenseits von Macht und Herrschaft. Entgehen und Flucht müssen vielmehr als Bewegungen verstanden werden, die bestehenden Verhältnissen immanent sind. Migrationen sind deshalb autonom, weil sie »sich transversal dazu bewegen und dabei das staatliche Migrationsregime verändern«.44 Das Entziehen und Entgehen bleibt also immer bezogen auf Konstitutionsbedingungen und verändert in seiner Transversalität wiederum die staatlichen und ökonomischen Rasterungen, denen es entflieht. Aber mehr noch: Die Autonomie der Migration, so Manuela Bojadijev, »entsteht in sozialen Auseinandersetzungen, in denen neue Formen von Kooperation und Kommunikation, neue Formen des Lebens konstituiert werden«.45 Neue Lebensformen, die aus der Bewegung des Entgehens und der Verweigerung in sozialen Kämpfen entstehen, transportieren nicht selten verstärkt Aspekte einer prozesshaften Konstituierung statt einer statischen, festsetzenden Konstitution. Konstituierung meint hier das Vermögen derjenigen, die Ordnungen entgehen, Neues zu gründen, neue soziale Praktiken zu erfinden, sich neu zusammenzusetzen, sich zu einer
41 Bojadijev: Internationale (wie Anm. 39), S. 146. 42 Moulier Boutang: Europa (wie Anm. 37); Mezzadra: Kapitalismus (wie Anm. 37); ders.: Autonomie der Migration – Kritik und Ausblick. Eine Zwischenbilanz. In: Grundrisse. Zeitschrift für linke Theorie & Debatte 34 (2010), S. 22– 29; Transit Migration Forschungsgruppe: Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Bielefeld 2007. 43 Karakayalı, Serhat: Gespenster der Migration. Zur Genealogie illegaler Migration in der Bundesrepublik Deutschland. Bielefeld 2008, S. 256. 44 Karakayalı: Gespenster (wie Anm. 43), S. 256. 45 Bojadijev: Internationale (wie Anm. 39), S. 147, meine Hervorhebung.
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Macht zu konstituieren, um Herrschaftsverhältnisse aufzubrechen und intervenierend zu kämpfen.46 Eine Perspektive auf Bewegungen des Entgehens, sowohl als politische und soziale Praxis als auch als theoretische Figur, kann – anders als die subjektorientierte und subjektivistische Forschungstendenz, die sich in vielen Ansätzen zu Intersektionalität und damit verbundenen Selbstpositionierungspraxen äußert, 47 – zur Weiterentwicklung kritischer Gender Studies beitragen. Nicht nur in der kritischen Migrationsforschung, sondern ebenso in der Queer Theorie und den queer-feministischen Bewegungen48 lassen sich Ansätze finden, die nicht in identitäre Haltungen zurückfallen, die Komplexität der Verhältnisse nicht durch Rasterung reduzieren, sondern erweitern. Zukünftige Forschungen sollten diese und weitere Ansätze zusammenführen und damit die poststrukturalistische queer-feministische Theoriebildung weitertreiben.
46 Vgl. Lorey: Versuch (wie Anm. 36); dies.: Kritik (wie Anm. 3); dies.: Gemeinsam Werden. Prekarisierung als politische Konstituierung. In: Grundrisse. Zeitschrift für linke Theorie & Debatte 35 (2010), S. 19–25. 47 Vgl. Anm. 26. 48 Siehe bspw. Gutiérrez Rodríguez, Encarnación: ›Sexuelle Multitude‹ und prekäre Subjektivitäten – Queers, Prekarisierung und transnationaler Feminismus. In: Pieper u.a.: Empire (wie Anm. 37), S. 125–139; Precarias a la deriva: Projekt und Methode einer ›militanten Untersuchung‹. Das Reflektieren der Multitude in actu. In: Ebd., S. 85–108; Puar, Jasbir: Queere Zeiten, terroristische Assemblagen. In: Dietze, Gabriele/Brunner, Claudia/Wenzel, Edith (Hrsg.): Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht. Bielefeld 2009, S. 271–294.
Empirische Herausforderungen
Hauptschule: Formationen von Klasse, Ethnizität und Geschlecht S TEFAN W ELLGRAF
Intersektionalitätsansätze bieten eine Perspektive auf komplexe Zusammenhänge machtbedingter Ungleichheit. Ethnografische Ungleichheitsforschungen blicken auf die Mikropraktiken des Alltags, um von dort aus die Erfahrungen der jeweils betroffenen Akteure und die Mechanismen von gesellschaftlichen Ausschließungen besser zu verstehen. Aufgrund dieser Ausrichtung lohnt sich die Frage, auf welche Weise ethnografische und intersektionale Forschungen einander bereichern können. Die ethnografische Perspektive ermöglicht einen Zugang zum Verständnis der komplexen Überschneidungen von verschiedenen Ungleichheitsdimensionen in der Alltagswelt, indem sie die Praktiken, Wahrnehmungen und kategorialen Verknüpfungen der jeweiligen Akteure in den Mittelpunkt stellt. Gleichzeitig stellt das intersektionale Forschungsprogramm eine Herausforderung für die Ethnografie dar, denn der Fokus auf verschiedene Formen sozialer Ungleichheit erfordert es, die Selbstbeschreibungen und Alltagspraktiken von Akteuren mit einer selbst wiederum differenzierenden Analyse gesellschaftlicher Machtstrukturen zu verbinden. Die Potenziale einer ethnografischen Intersektionalitätsforschung sollen am Beispiel einer Feldstudie zu HauptschülerInnen in Berlin, unternommen in den Jahren 2008 und 2009, aufgezeigt werden. Berliner HauptschülerInnen werden am Ende ihrer Schulzeit massiv mit Formen gesellschaftlicher Ausgrenzung konfrontiert. Doch wie nehmen die SchülerInnen verschiedene Formen von Ungleichheiten wahr? Um eine ethnografische Perspektive auf Intersektionalität zu entwickeln, gilt es zu fragen, ob sie sich selbst als
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sozial, geschlechtlich oder ethnisch diskriminiert betrachten und welche Verknüpfungen sie zwischen verschiedenen Ungleichheitskategorien herstellen. Gemeint sind hier vor allem SchülerInnen einer Weddinger Hauptschule – ich anonymisiere und nenne sie die Anna-Seghers-Schule – die mir bei meiner Ankunft von den dort arbeitenden LehrerInnen als »Problemschule im Problembezirk« vorgestellt wurde. An dieser Schule, in welcher der Anteil der SchülerInnen nicht-deutscher Herkunft bei deutlich über 80 Prozent liegt, nahm ich ein Jahr am Schulleben teil, indem ich die beiden zehnten Klassen, also die Abschlussklassen, sowohl während des Unterrichts als auch auf dem Schulhof und bei verschiedenen Veranstaltungen begleitete. Zu den Unterrichtsstunden kamen in der Regel etwa 15 bis 20 SchülerInnen, die entweder von einem oder von zwei LehrerInnen betreut wurden. Während des Schuljahres 2008/09 saß ich in den Klassenräumen der 10a und 10b zumeist in der letzten Bankreihe und beobachtete das Geschehen, traf mich jedoch auch außerhalb der Schule mit einigen SchülerInnen. Die Beschreibungen werden an einigen Stellen durch Beobachtungen an anderen Schulen, zwei Hauptschulen in Berlin-Neukölln und BerlinLichtenberg sowie einem Gymnasium in Berlin-Karlshorst, an denen ich jeweils deutlich weniger Forschungszeit verbracht habe, ergänzt oder mit diesen konfrontiert. Mein Ziel ist es, die Diskussionen um soziale, ethnische und geschlechtliche Ausgrenzung um eine ethnografische Perspektive zu bereichern, welche sowohl die Auswirkungen von gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen auf die SchülerInnen, als auch deren aktive Rolle bei der alltäglichen Reproduktion von Ungleichheitsstrukturen im Blick behält. Der Intersektionalitätsansatz bietet, wie eingangs erwähnt, eine Zugangsweise zu den komplexen Zusammenhängen sozialer Ungleichheit und verspricht in seiner von Nina Degele und Gabriele Winker vorgeschlagenen Version die Analyse von Sozialstrukturen, symbolischen Repräsentationen und Identitäten miteinander zu verbinden.1 Das dem Intersektionalitätsmodell, zumindest in seiner frühen Fassung bei Kimberlé Crenshaw,2 zugrunde liegende Kreu-
1
Vgl. Winker, Gabriele/Degele, Nina: Intersektionalität: Zur Analyse sozialer
2
Crenshaw, Kimberlé: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black
Ungleichheiten. Bielefeld 2009, S. 15ff. Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine. In: The University of Chicago Legal Forum (1989), S. 138–167.
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zungsschema führt jedoch tendenziell eher dazu, Klasse, Ethnizität und Geschlecht zunächst als getrennte Einheiten wahrzunehmen. Deshalb wird der Begriff im Folgenden – in Anlehnung an Beverly Skeggs3 – durch den der Formation ersetzt. Nur wenn Ungleichheitskategorien als »interdependente Kategorien« gedacht werden, lässt sich ein Denken in separaten Entitäten vermeiden.4 Dieser Text beruht folglich auf einem Ungleichheitsverständnis, das diese Kategorien bereits selbst als miteinander verwoben betrachtet und daran anschließend nach den Konstruktionsprozessen kategorialer Differenzierung im Alltag fragt. Geschlecht, Ethnizität und Klasse werden zwar nacheinander beleuchtet, nicht aber als sich bündelnde oder einander abschwächende Einzelkräfte, sondern als aufeinander bezogene Dimensionen komplexer Formationen. Das ethnografische Potenzial liegt weniger darin, die getrennten Wirkungsweisen einzelner Ungleichheitsdimensionen zu bestimmen – beispielsweise um nachzuvollziehen, wie soziale Klasse, ethnische Herkunft und Geschlecht jeweils die Chancen von SchulabgängerInnen auf dem Arbeitsmarkt beeinflussen. Auf teilnehmender Beobachtung basierende Feldforschung bietet vielmehr die Chance eines verstehenden Zugangs zu für Außenstehende zunächst kaum sichtbaren Verschränkungen von Klasse, Ethnizität und Geschlecht, zu kategorialen Verknüpfungen, die Akteure selbst im Alltag formulieren oder praktizieren, und somit letztlich zu einer Perspektive, die nicht nur Differenzen ›findet‹, sondern deren Reproduktion im Alltag kenntlich macht.
G ESCHLECHT : A GGRESSIVE M ÄNNLICHKEIT O PPOSITIONSHALTUNG UND M ACHTREGIME
ALS
Wenn ich – wie jeden Montagmorgen – zum gemeinsamen Frühstück der 10b in die Anna-Seghers-Schule kam, setzte ich mich in der Regel an das linke Ende der langen Frühstückstafel, wo die männlichen Schüler ihren Platz hatten. Am rechten Ende der Frühstückstafel saßen die zahlenmäßig etwa gleich stark vertretenen Mädchen sowie die zwei Lehrerinnen. Die Sitzverteilung spiegelte gleichzeitig die Disziplinarverhältnisse wieder: Während die beiden
3
Skeggs, Beverly: Formations of Class and Gender. London 1997.
4
Walgenbach, Katharina/Dietze, Gabriele/Hornscheidt, Antje/Palm, Kerstin: Gender als interdependente Kategorie. Opladen 2007.
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Lehrerinnen und die ›folgsameren‹ Schülerinnen am äußersten rechten Ende platziert waren, trafen sich in der Mitte die eher ›gehorsameren‹ Jungen mit den weniger ›strebsamen‹ jungen Frauen, ganz am linken Ende, in maximaler Distanz zum Lehrpersonal, frühstückte dagegen eine größere Gruppe von ›aufmüpfigen‹ jungen Männern. Zu Beginn meiner Feldforschung platzierte ich mich einige Male auf der Seite der Mädchen und wunderte mich anschließend, dass diese sich kaum mit mir unterhalten wollten, obwohl ich sie bei Einzel-Interviews bereits als durchaus mitteilungsfreudig erlebt hatte. Nach einigen Wochen erkannte ich, dass engere persönliche Kontakte zwischen Jungen und Mädchen in der Hauptschule kaum vorkommen, und dass eine Gruppe von dominant auftretenden jungen Männern diese Geschlechtertrennung äußerst aufmerksam überwacht. Fortan beschränkte ich mich in der Schule auf Smalltalk mit den Mädchen und traf mich lieber außerhalb der Schule mit ihnen zu Interviews. Beim montäglichen Frühstück saß ich nun künftig immer auf der Seite der jungen Männer, wo wir uns viel über Fußball unterhielten. Dort wurde mir meist bereits ein Platz freigehalten, den ich im Verlauf des Schuljahres immer selbstverständlicher einnahm. Aufgrund der auffälligen Sitzordnung stellt sich die Frage nach der Bedeutung des Geschlechterarrangements in der Anna-Seghers-Schule in Berlin Wedding. Warum die Trennung von Jungen und Mädchen? Und welche Rolle spielen die sich betont von dem Lehrpersonal distanzierenden Jungen am linken Ende des Tisches? Die klassische Studie »Learning to Labor« von Paul Willis aus dem Jahr 1977 eröffnet Perspektiven, um diesen Fragen nachzugehen. Der Fokus auf eine Gruppe weißer, männlicher Jugendlicher aus der englischen Arbeiterklasse auf ihrem Weg von der Schule in das Berufsleben ermöglichte Willis eine Perspektive auf die Verschränkungen von Klasse, Ethnizität und Geschlecht. Willis zufolge ist es die oppositionelle Haltung dieser im Englischen als lads bezeichneten Jugendlichen gegenüber den LehrerInnen und dem Ausbildungssystem Schule, dessen Aufstiegsversprechen sie misstrauen, die ihnen den Weg in die Welt der manuellen Arbeit ebnet. Willis beschreibt einen zentralen Mechanismus sozialer Reproduktion, den durch Bildungshierarchien, aber auch durch Selbstpositionierungen der Jugendlichen in Opposition zu geistiger Arbeit vermittelten Weg zu körperbetonten Tätigkeiten, zu ›klassischen Arbeiterjobs‹ in Fabriken oder auf Baustellen.
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Die lads in Willis’ Studie definieren sich selbst nicht nur in Abgrenzung zu staatlichen Autoritäten, sondern auch gegenüber Mädchen und MigrantInnen.5 Ein oft gewalttätiger maskuliner Chauvinismus steht im Zentrum ihres kulturellen Selbstverständnisses. ›Echte Männer‹ wollen sie sein. Frauen betrachten sie als Sexobjekte oder Hausfrauen, Einwanderer als Konformisten oder Idioten. »Learning to Labor« beschreibt damit bereits Konstellationen von Klasse, Ethnizität und Geschlecht, wobei der Autor sich besonders auf die Wechselwirkungen von sozialer Klasse und Geschlecht konzentriert: »to see class categories as always inseparably intertwined with and conditioned by gender and that gender, in turn, is profoundly shaped by class«.6 Praktiken sozialer Klasse sind diesem Verständnis zufolge untrennbar mit Geschlechterrollen und Geschlechterarrangements verwoben. Whiteness und eine demonstrative, körperbetonte Männlichkeit dienen Willis in den 1970er Jahren implizit als traditionelles Signum der britischen Arbeiterklasse, deren Zentrum die Figur des männlichen Arbeiters symbolisiert. MigrantInnen und Frauen grenzt er deshalb »for the sake of clarity« aus seiner Studie aus.7 Diese Beschränkung und der empathische Blick auf männliche MachoJugendliche wurde von feministischer Seite kritisiert,8 dennoch gewährt Willis’ Studie wichtige Einblicke in zentrale Zusammenhänge zwischen maskulinen Lebensformen und sozialer Reproduktion. Da industrielle Arbeit traditionell mit Männlichkeit assoziiert wird, bekommt intellektuelle Arbeit im Selbstverständnis der lads eine genuin feminine und somit auch minderwertige Konnotation. Die Mobilisierung von Männlichkeit, vor allem durch rebellisches und aggressives Verhalten in der Schule, ermöglicht ihnen einerseits die Aufrechterhaltung der männlichen Dominanz gegen-
5
Willis, Paul: Learning to Labor. How Working Class Kids Get Working Class
6
Willis, Paul: Twenty-Five Years On: Old Books, New Times. In: Dolby, Nadi-
Jobs. New York 1977, S. 43ff. ne/Dimitriadis, Greg (Hrsg.): Learning to Labor in New Times. New York 2004, S. 1967–196, S. 181. 7
»… the book presents an ethnography of the male white working class counterschool culture. For the sake of clarity and incision, and in no way implying their lack of importance, other ethnic and gender variants are not examined.« Willis: Learning (wie Anm. 5), S. 2.
8
McRobbie, Angela: Feminism and Youth Culture. Boston 1991, S. 18.
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über den Mädchen, sie reproduziert aber gleichzeitig Klassenstrukturen, denn die ›harten Jungs‹ versperren sich letztlich selbst den Weg in besser bezahlte und sozial angesehenere Berufe. Versucht man die Forschungen von Willis in einer englischen Industriestadt aus den 1970er Jahren auf die Geschlechterordnung in der AnnaSeghers-Schule zu übertragen, lässt sich die Frage nach den alltäglichen Konstruktionsprozessen von Formationen von Klasse, Ethnizität und Geschlecht etwas differenzierter formulieren: Inwieweit kommt in einer demonstrativen Männlichkeit eine oppositionelle Haltung gegenüber der staatlichen Institution Schule, repräsentiert von zumeist weiblichen Lehrkräften, zum Ausdruck? Auf welche Weise dient eine betont aggressive Männlichkeit als Herrschaftsinstrument innerhalb der Schule, beispielsweise gegenüber weiblichen oder weniger aggressiven männlichen Mitschülern? Wie wird von Seiten der Lehrerinnen und der Schülerinnen auf das dominante Verhalten einiger männlicher Schüler reagiert? Während meiner Feldforschung artikulierten männliche Hauptschüler ihre oppositionelle Haltung gegen die Schule so vehement, dass ein Unterricht im Sinne einer kontinuierlichen Vermittlung von Lehrinhalten kaum stattfinden konnte. Aggressiven Schülern gelang es durch gezielte Störversuche immer wieder, die Lehrerinnen so zu provozieren, dass der Unterricht unterbrochen werden musste: Feldtagebuch: Frau Zahn kam heute besonders motiviert in die Klasse, statt nur Arbeitsblätter zu verteilen, wollte sie mit den SchülerInnen im Gespräch den Unterrichtsstoff erarbeiten, doch ihr Vorhaben scheiterte schon bei den ersten Wortwechseln. Als sie gut gemeint zu Sarah sagte: »Ich staune, wie hübsch du heute aussiehst«, springt einer der Schüler auf und antwortet mit einem Freestyle-Rap: »Die Sarah ist hip, ihr Körper ist fit …« Mehr und mehr eskaliert der Unterricht. Sarah selbst schreit schließlich die Jungen an: »Ich habe die Faxen dicke, wo sind wir denn hier gelandet.« »Wir sind nicht auf der Sonderschule, wir müssen etwas lernen«, pflichtet ihr Frau Zahn bei und entscheidet sich, das Gespräch zugunsten einer schriftlichen Übung abzubrechen. Doch auch dies beruhigt die Atmosphäre nicht wirklich. Einige Jungen verweigern das ausgeteilte Arbeitsblatt auszufüllen, stattdessen werden weiterhin ständig Bemerkungen gemacht und mehrere Zettel kursieren im Raum. Einer der Schüler meldet sich und fragt, ob er sich ein Taschentuch holen könne, was anschließend mehrere Minuten in Anspruch nimmt. Als ein anderer Schüler »Du Schlampe« zu einem Mädchen ruft, wird er ermahnt, verteidigt sich
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jedoch damit, er hätte lediglich »Dusch-Lampe« gesagt. Ein Schüler wirft darauf ironisch ein: »Ich bitte euch, ich möchte lernen«, was mit Gelächter quittiert wird.
Die Szene beginnt mit einer gut gemeinten, jedoch ihre intendierte Wirkung verfehlenden geschlechtlichen Rollenzuschreibung der Lehrerin gegenüber Sarah. Eine Gruppe männlicher Schüler reagiert schlagfertig auf die sich bietende Kommunikationssituation, die ihnen sowohl eine Störung des Unterrichts als auch einen Angriff auf Sarah ermöglicht, und weiß sich bei Ermahnungen geschickt zu verteidigen. In einer sexuell aufgeladenen Atmosphäre entladen sich Spannungen nicht nur in Bezug auf die Lehrerin, sondern auch zwischen Jungen und Mädchen. Letztere scheinen deutlich motivierter dem Unterricht zu folgen, werden aber von ihren Mitschülern durch Provokationen und persönliche Beleidigungen (»Du Schlampe«) immer wieder daran gehindert. Schülerinnen beschwerten sich deshalb in Interviews immer wieder, dass sie aufgrund des Verhaltens der männlichen Unruhestifter im Unterricht kaum etwas lernen könnten. Der Wutausbruch eines Mädchens angesichts der ständigen Provokationen findet in dieser Stunde zwar Zustimmung von Seiten der Lehrerin, wird jedoch wenig später von einem männlichen Schüler auf ironische Weise untergraben (»Ich bitte euch, ich möchte lernen«). Die angespannte Atmosphäre an der Schule hatte für Sarah letztlich weitreichende Konsequenzen: Sie musste mehrfach wegen Nervenzusammenbrüchen in ärztliche Behandlung und kam schließlich nur noch selten zum Unterricht. Bei den Abschlussprüfungen am Ende des Schuljahres, den Prüfungen zum »Mittleren Schulabschluss« (MSA), gelang es ihr zwar – als einziger Schülerin ihrer Schule – den Realschulabschluss zu erwerben, dieser wurde ihr aber letztlich aufgrund zu vieler Fehlstunden nicht anerkannt. Die Aufrechterhaltung der Disziplin stand in diesem Fall über den individuellen Leistungen der Schülerin. Letztlich konfrontierte Sarah durch ihren Prüfungserfolg die Anna-Seghers-Schule mit ihrer eigenen Absurdität. Selbst wenn sie öfter zum Unterricht gekommen wäre, hätte sie wohl nur wenig gelernt, denn das Ausfüllen eines einzigen Arbeitsblattes kann unter den geschilderten Umständen eine gesamte Doppelstunde von 90 Minuten in Anspruch nehmen. Die meisten LehrerInnen verwenden deshalb keine Schulbücher mehr, denn das darin vorgesehene Lehrpensum wäre ohnehin kaum zu bewältigen. Eine Gruppe von renitenten Schülern verhindert den Lehrbetrieb und somit sowohl ihren eigenen möglichen Lernerfolg als auch den ihrer Mit-
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schüler und Mitschülerinnen. Die LehrerInnen interpretieren dies in der Regel als »Faulheit« und schreiben den Schülern somit selbst die Schuld an der Misere zu. Während dies aus der Perspektive einer engagierten und immer wieder enttäuschten Lehrkraft durchaus nachvollziehbar erscheint, könnte man mit Paul Willis argumentieren, dass diese Schüler deshalb keine Lernmotivation entwickeln, da ihnen die Hauptschule kein glaubhaftes Aufstiegsversprechen mehr vermitteln kann. Die Schüler in dieser Szene verweigern einfach das Ausfüllen des Arbeitsblattes und stören gezielt auch die anderen dabei, was in der Regel die Androhung der Note Sechs oder eine fünfminütige Strafpause vor dem Klassenraum zur Folge hat. Die trotzige Widerständigkeit einiger Schüler stößt auf eine Lehrerschaft, die im Laufe des letzten Schuljahres strenge Disziplinarregeln durchsetzt, was bis zum endgültigen Schulverweis für besondere Unruhestifter führt. ›Machokult‹ und demonstrative Männlichkeit dienen nicht nur der Provokation des Lehrpersonals innerhalb der Schule, sondern auch der Etablierung eines Machtregimes, in dem vor allem die Mädchen aber auch eher schüchterne und strebsame Jungen unterdrückt werden. Angriffslustige Jungen beherrschen lautstark die Gespräche im Klassenraum und prahlen offen mit ihrer Männlichkeit und ihrer sexuellen Potenz. Mädchen, die verdächtigt werden, einen Freund zu haben, werden selbst im Unterricht mit Bemerkungen wie »schäm Dich« oder »Schlampe« attackiert. Geschlechterarrangements werden durch die Überwachung einer rigiden Sexualmoral kontrolliert. »Unsere Religion verbietet das«, begründete ein Schüler mir gegenüber die Ansicht, der zufolge seine Mitschülerinnen vor vorehelichem Sexualverkehr »beschützt« werden müssten und deutsche Mädchen meist »Schlampen« seien. Alltagsgespräche über Sexualität sind je nach Geschlecht sehr unterschiedlich ausgerichtet: Bei den Jungen dominiert Imponiergehabe, bei den Mädchen eine defensive Haltung. So prahlte ein Schüler mir gegenüber auf dem Schulhof damit, dass er gestern mal wieder »Weiber ficken« war, ein anderer erzählt, dass er jetzt die Fahrerlaubnis habe und natürlich »gleich in den Puff« gefahren sei, um das zu feiern: »Ich hatte eine Polin mit RiesenTitten, für 40 Euro!« Viele Gespräche der Mädchen drehen sich – so lässt sich zumindest aus indirekten Nachfragen und kleinen Andeutungen vermuten – häufig um die für eine spätere Hochzeit möglicherweise bedeutsame Bewahrung ihrer Jungfräulichkeit, beispielsweise um die Angst, das Jungfernhäutchen beim Sportunterricht zu verletzen.
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Die männliche Dominanz umfasst demnach nicht nur den Bereich der Schule, sondern auch das Privatleben der Schüler, was sich durch einen Zwischenfall bei der Abschlussfeier der beiden zehnten Klassen illustrieren lässt. Feldtagebuch: Das Restaurant liegt an einem betonierten Platz mit Springbrunnen, um den herum Familien sitzen und viele Kinder spielen. Es gibt deutsche Bars wie die »Kegler-Klause« und ethnische Restaurants wie das »Dubrovnik«, außerdem zwei große Casinos mit blau-roter Neonbeleuchtung. Als ich am frühen Abend hereinkomme, bin ich von der Kleidung der Schüler überrascht. Die Mädchen tragen auffallende Kleider und eindrucksvolle Frisuren und alle Jungen Anzüge mit Krawatte, auch wenn die Anzüge manchmal ein paar Nummern zu groß gewählt sind, so dass die Hände fast in den Ärmeln verschwinden. Die Stimmung ist ausgelassen und nach dem Essen wird bald getanzt. Ein paar Jungen führen gekonnte Breakdance oder Rap-Performances vor und Mädchen, die das ganze Schuljahr meist stumm in ihrer Bank saßen, präsentieren plötzlich Bauch- und Gruppentänze. Alkohol ist offiziell verboten, manche trinken zwar dennoch ein bisschen, doch niemand ist wirklich betrunken. Im Laufe des Abends tauchen auch einige Schüler auf, welche die Schule verlassen mussten oder freiwillig lange nicht mehr gekommen waren. Unruhe entsteht als der ältere Bruder eines Mädchens hereinkommt und dieses beschuldigt, sie hätte mit einem Jungen getanzt. Die anderen Jungen beruhigen die Situation, indem sie ihm versichern, sie würden jeden zusammenschlagen, der es wage, sie anzufassen. Scheinbar diente der Besuch nur der Einschüchterung, denn als ich den Bruder des Mädchens frage, warum er sich so benehme, obwohl er wisse, dass gar nichts vorgefallen sei, antwortet dieser: »Ich weiß, dass nichts passiert ist, aber sicher ist sicher. Außerdem, wie sie sich angezogen hat, einfach lächerlich. Wenn sie wenigstens das Abitur feiern würde, aber das ist ja nur Hauptschule.«
Die Abschlussfeier war für die Schüler und Schülerinnen der Anna-SeghersSchule, welche diese selbst in einem nahe gelegenen türkischen Restaurant organisiert hatten, der Höhepunkt des Schuljahres. Sie schien ihnen deutlich wichtiger als die Zeugnisvergabe und die offizielle Verabschiedung am folgenden Tag, die sie eher gleichmütig absolvierten. An diesem Abend jedoch wirkten die SchülerInnen wie verwandelt und vor allem so diszipliniert wie das gesamte Schuljahr zuvor nicht. Gegen Ende des Abends überließ der DJ den Schülern mehr und mehr das Mikrofon für spontane Abschiedsworte oder kleine Rap-Performances. Auch die Klassenlehrerin, der Sozialarbeiter
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und ich wurden nacheinander auf die Bühne gerufen, um uns von den SchülerInnen zu verabschieden. Vor allem die Schülerinnen nutzen die neue Situation zu einem deutlich weniger zurückhaltenden Auftreten, ohne dass es dabei jedoch zu engeren Kontakten zwischen Jungen und Mädchen gekommen wäre. Die private Abschlussparty ermöglichte diesen Mädchen zwar der Aufsicht der Lehrpersonen, aber nicht jener ihrer Mitschüler und Familien zu entkommen. Der Einschüchterungsbesuch eines Bruders und die anschließende demonstrative Gewaltandrohung der anwesenden jungen Männer dienten der symbolischen Aufrechterhaltung eines Geschlechterregimes, in welchem eine Gruppe machtvoll auftretender Schüler ihre Mitschülerinnen beherrscht und kontrolliert. Das Missbehagen gegenüber der Kleidung der Schwester ging in diesem Fall mit einer Abwertung ihres Hauptschulabschlusses einher, geschlechtliche Dominanz und soziale Herabsetzung vermischen sich auf diese Weise zu einer demütigenden Geste. Die meisten Schülerinnen verließen wenig später, gegen 23 Uhr, die Party. Einige wurden von Familienangehörigen abgeholt, andere gingen alleine oder in kleinen Gruppen nach Hause. Das Geschlechterregime an der Anna-Seghers-Schule zielt nicht nur auf eine Dominanz der Schüler gegenüber den Schülerinnen, sondern ist auch gegen schüchterner auftretende männliche Schüler gerichtet, was vor allem in Anfeindungen gegen alles vermeintlich »Schwule« zum Ausdruck kommt: Feldtagebuch: Mehmet hat einen Ohrring und wird deshalb von zwei anderen Jungen im Unterricht als »schwul« beschimpft, andere Jungen stimmen mit ein und attackieren Mehmet: »Jetzt mal ehrlich, sag ob du schwul bist?« »Nein!« »Alles klar, er ist schwul. Jeder der einen Ohrring trägt, ist schwul.« Die Lehrerin greift ein, doch ihre Bemerkung: »Bei euch in der Türkei gibt es auch Schwule und selbst wenn er schwul ist, wäre es auch egal«, trägt nicht wirklich zur Beruhigung der Situation bei. Die Jungen sind so aufgebracht, dass sie Mehmet auch in der nächsten Stunde immer wieder attackieren. Bemerkungen wie: »Alle, die Ohrringe tragen, sind schwul« oder: »Geh doch in den Schwulenclub«, werden in die Klasse gerufen. Auch die Kunstlehrerin ist empört. Sie verweist darauf, dass auch männliche »Sinti und Roma oder Zigeuner, wie sie früher hießen« Ohrringe tragen. »Zigeuner sind schwul«, schallt es prompt zurück. Die Anspannung will sich einfach nicht lösen, weshalb sich die Lehrerin schließlich entscheidet, zwei der aggressivsten Jungen nach Hause zu schicken, allerdings ohne einen Eintrag in
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das Klassenbuch, denn offensichtlich schreibt sie deren Schwulenfeindlichkeit weniger ihrer individuellen Verantwortung als ihrem kulturellem Hintergrund zu.
Die Ablehnung alles »Schwulen« durch eine Gruppe dominant auftretender junger Männer veranschaulicht, wie fragil die Geschlechterarrangements und die damit verbundenen Machtverteilungen an der Hauptschule sind. Männliche Herrschaft muss beständig bestätigt und bewacht sowie gegen Lehrerinnen, Schülerinnen und schwächere Mitschüler aggressiv verteidigt werden. Scheinbar »schwules« Verhalten von männlichen Jugendlichen migrantischer Herkunft wird gerade deswegen so vehement attackiert, weil es die behauptete machtvolle Überlegenheit auf der Seite der männlichen Schüler selbst in Frage stellt. Homophobie dient demnach der Betonung und Durchsetzung von männlichen Dominanzansprüchen. Den Opfern solcher Attacken wird kaum eine Möglichkeit der Verteidigung gegeben, da jede Rechtfertigung bereits als heimliches Eingeständnis interpretiert wird. »Schwulenfeindlichkeit« ist gleichzeitig eines der wichtigsten und plakativsten Themen der hier etwas überfordert wirkenden Lehrerinnen, da darin in ihren Augen ethnische Zuschreibungen von zivilisatorischer Rückständigkeit (»bei euch in der Türkei«) ihre quintessentielle Bestätigung finden. Das alltägliche doing gender an einer Hauptschule in Wedding lässt sich nicht mit einem kulturalisierenden Verweis auf den ethnischen Hintergrund der jeweiligen Elternhäusern verstehen, sondern muss vielmehr gerade die Bedeutung dieser kulturellen Zuschreibung für den Verlauf von Identitätsprozessen analysieren. Zudem gilt es, die Logik von Abgrenzungen und Identifikationen nachzuvollziehen, die Identitätsbildungen zugrunde liegen. Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan geht in seinem Text »Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion« davon aus, dass Menschen sich in Bildern als Einheit vorstellen, es sich bei dem auf diese Weise konstruierten imaginären Ich aber stets um eine artifizielle Einheit handelt, welche die Widersprüchlichkeit und Triebhaftigkeit des Subjekts negiert.9 In der beschriebenen rigorosen Abgrenzung von allem »Schwulen« imaginieren sich die migrantischen Jugendlichen als machtvolle heterosexuelle Männer. Der »Schwule« fungiert dabei als das spiegelverkehrte Eigene, über ihn wird
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Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion. In: Ders.: Schriften, Bd. 1. Frankfurt a.M. 1975, S. 61–70.
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versucht eine Geschlossenheit und Festigkeit herzustellen, die in einer Lacanschen Lesart letztlich jedoch eine besondere Fragilität verbirgt. Welches Geschlechtermodell in einer Gesprächssituation artikuliert wird, hängt darüber hinaus stark von den Interaktionsbedingungen und Machtverhältnissen in der Schule selbst ab. So deuten deutsche LehrerInnen im Unterrichtsgespräch gegenüber den Schülerinnen mit Migrationshintergrund immer wieder an, dass diese nach der Schule ohnehin nur ein Schicksal als Hausfrau und Mutter erwarten würde. Während die Jungen dies in Erwartung ihrer künftigen Rolle als Familien-Patriarchen amüsiert und lautstark kommentieren, beispielsweise mit der Bemerkung dass auch Sex zur Hausarbeit gehöre, bleiben die betroffenen jungen Frauen in solchen Situationen in der Regel stumm. Dieses Schweigen ist aber weniger Ausdruck von Einverständnis gegenüber einer kulturellen Zuschreibung, sondern Resultat einer beinahe ausweglosen Kommunikationssituation, in welcher den Schülerinnen gegenüber den dominant auftretenden Lehrkräften und den aggressiven jungen Männern kaum die Möglichkeit gelassen wird, ihre Position differenziert darzustellen. Traf ich die Mädchen dagegen einzeln zu Interviews, artikulierten sie neben dem Familienwunsch auch Wünsche nach beruflichem Erfolg. Sie erzählten einerseits begeistert von den Babys ihrer älteren Schwestern, fragten aber andererseits auch nach Hilfe für laufende Bewerbungen. Während einige bereits ihre Hochzeit planten, wollten andere diese möglichst lange hinauszögern. Obwohl auch das ethnografische Interview kein herrschaftsfreies Gespräch darstellt, sondern sich die Probleme der Machtungleichheit sowie der sozialen Erwünschtheit in Bezug auf den Ethnologen neu stellen, wird dennoch deutlich, dass alltägliche Konstruktionsprozesse von Formationen von Klasse, Ethnizität und Geschlecht nicht nur als Folge von Sozialisationsprozessen, sondern auch in Bezug auf die jeweilige Situation verstanden werden müssen. Wie lokal verschieden diese Formationen selbst innerhalb einer Stadt wie Berlin sein können, lässt sich im Vergleich mit anderen Hauptschulen sowie anderen Schultypen andeuten. An einer Ostberliner Hauptschule in Lichtenberg, in der ethnisch deutsche SchülerInnen deutlich in der Mehrheit waren, begegneten mir Freundeskreise von Mädchen, die sich selbst als die »Pöbelatzen« bezeichneten: »freche Mädchen«, die keine Lust hatten, »mit Schleifchen im Haar« herumzulaufen und die sich von den Jungen in ihrer Klasse keine Vorschriften machen ließen. Im Vergleich mit GymnasiastInnen fällt dagegen die relativ strikte Trennung zwischen den Geschlechtern sowohl in Ost- als auch in Westberliner Hauptschulen auf. Hauptschü-
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lerInnen selbst erkennen Gruppen von GymnasiastInnen unter anderem daran, dass Mädchen und Jungen gemeinsam ungezwungen auf der Straße herumlaufen. »Wenn Mädchen und Jungen aus Hauptschulen oder Realschulen zusammen sind, dann sind sie auch zusammen«, klärte mich ein Hauptschüler auf. Die Freundeskreise von GymnasiastInnen sind geschlechtlich deutlich stärker gemischt als die von HauptschülerInnen. Gymnasiastinnen, die einen Freund haben, können in der Regel weiterhin mit anderen Jungs befreundet sein, Jungs und Mädchen feiern zusammen Geburtstag und sind mitunter sogar beste Freunde. Einige wenige Mädchen pflegen sogar mehr Freundschaften mit Jungen als mit Mädchen, was in der geschlechtlich deutlich stärker segregierten Alltagswelt ›Hauptschule‹ kaum denkbar wäre. Die spezifische Verbindung von Bildungsmilieus mit Geschlechterverhältnissen führt also dazu, dass die strikte Trennung der Geschlechter in der Alltagspraxis zu einem Abgrenzungsmerkmal werden kann, entlang dessen die eigene soziale Position als HauptschülerIn markiert wird. Geschlechtsbezogene Praktiken wie eine betont aggressive Männlichkeit und die Ablehnung alles »Schwulen« dienen sowohl als Oppositionsstrategie gegen die Institution Schule wie auch als Machtressource gegenüber weiblichen und männlichen Mitschülern. Im Schulvergleich zeigt sich, dass lokale Geschlechterformationen bereits ethnisch und sozial gefärbt sind. Dies sollte jedoch nicht zu einer kulturalisierten Wahrnehmung von Geschlechterverhältnissen führen, wie sie von manchen Lehrerinnen als Distinktions- und von einigen Schülern als Legitimationsstrategie verwendet wird, da dies letztlich den Blick auf die ihnen zugrunde liegenden Kommunikations- und Machtverhältnisse innerhalb der Schule versperrt, in welche die entsprechenden Lehrerinnen und Schüler selbst involviert sind.
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Ähnlich wie bei den lads in Paul Willis Studie »Learning to Labor« basiert das Selbstverständnis vieler männlicher Schüler der Anna-Seghers-Schule auf einer aggressiven Männlichkeit, die sowohl als Auflehnung gegen die Institution Schule als auch als Machtinstrument gegenüber männlichen und weiblichen Mitschülern eingesetzt wird. Die Situation dieser Gruppe von Hauptschülern unterscheidet sich jedoch in zwei entscheidenden Aspekten
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von den von Paul Willis beschriebenen englischen Arbeiterjugendlichen aus den 1970er Jahren: Zum einen stammen die Weddinger Hauptschüler mehrheitlich aus Migrantenfamilien und zum anderen stehen diesen Jugendlichen kaum noch relativ gut bezahlte manuelle Arbeitsplätze in der industriellen Produktion zur Verfügung. Zunächst zur veränderten Situation auf dem Arbeitsmarkt: Im Zuge der Deindustrialisierung sowie der Verlagerung vieler Produktionsstätten in sogenannte Billiglohnländer veränderte sich der Arbeitsmarkt in Westeuropa und den USA und mit dem Verlust angesehener und ›klassischer‹ Arbeiterjobs sowie der Ausbreitung eines breiten Billiglohnsektors geriet auch das traditionelle Verständnis einer von männlicher Fabrikarbeit dominierten Arbeiterklasse in die Krise. Eine Reihe von ethnografischen Studien vor allem aus dem anglo-amerikanischen Raum beobachtete in Anschluss an Willis die sich seit den 1970er und 80er Jahren grundlegend wandelnden Konstellationen von Klasse, Ethnizität und Geschlecht. Sherry Ortner10 und Lois Weis11 beispielsweise spürten in lokalen Langzeitstudien den Veränderungen der sogenannten Arbeiterklasse im Kontext einer postfordistischen Regulationsweise der Gesellschaft nach.12 Weis zeigt dabei, wie sich in den unteren sozialen Schichten im Zuge der gestiegenen Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen in der wachsenden Dienstleistungsbranche und dem gleichzeitigen Absinken der Reallöhne ein neues dominantes Geschlechtermodell entwickelt, in dem sowohl Männer als auch Frauen erwerbstätig sind und zum Familieneinkommen beitragen müssen. Beverly Skeggs,13 Simon Winlow14 und Sabine Hess15 beschreiben, wie historische ›Unterschichts‹-Figuren, wie etwa das Hausmädchen, unter den Bedingungen einer postfordistischen Ökonomie
10 Ortner, Sherry: New Jersey Dreaming. Capital, Culture, and the Class of ’58. Durham 2003. 11 Weis, Lois: Class Reunion. New York 2004. 12 Für einen Überblick zu den Diskussionen um Postfordismus siehe Harvey, David: The Condition of Postmodernity. New York 1990; Amin, Ash (Hrsg.): PostFordism. A Reader, Oxford 1994; Häußermann, Hartmut/Läpple, Dieter/Siebel, Walter: Fordismus: Stadtpolitik. Frankfurt a.M. 2008. 13 Skeggs: Formations (wie Anm. 3). 14 Winlow, Simon: Badfellas. Oxford 2001. 15 Hess, Sabine: Globalisierte Hausarbeit. Au-pair als Migrationsstrategie von Frauen aus Osteuropa. Wiesbaden 2005.
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aktualisiert und transformiert werden. Während Skeggs junge britische Frauen in der Ausbildung zu Pflegeberufen begleitet und Hess osteuropäische Arbeitsmigrantinnen im Au-Pair-Bereich, konzentriert sich Winlow auf Türsteher im Nachtclub-Gewerbe, die ihre niedrigen Gehälter in der Regel mit kleinkriminellen Aktivitäten aufbessern und von denen eine Mischung aus aggressiver Männlichkeit und cleverer Geschäftemacherei erwartet wird. Philippe Bourgois16 veranschaulicht am Beispiel von Crackdealern in Harlem, wie deren – aus ethnischen, klassenbedingten und geschlechtsbezogenen Versatzstücken zusammengesetztes – Machoverhalten sie daran hindert im sogenannten FIRE-Sektor (Finance, Insurance, Real Estate) erfolgreich zu sein. Ihre Art zu gehen wird in den Bürotürmen von Downtown New York bereits als Provokation und sexuelle Belästigung empfunden. Umgekehrt sind die jungen Männer irritiert vom informellen Auftreten weiblicher Vorgesetzter. John Jackson17 und John Hartigan18 gelingt es in ihren Studien über Harlem und Detroit aufzudecken, wie stark sowohl die afro-amerikanische Minderheit als auch die weiße Mehrheitsgesellschaft von Klassen- und Statuskämpfen durchzogen sind. Dies führt zu dem scheinbaren Paradoxon, dass erfolgreiche Afro-Amerikaner in Harlem einen – manchmal beneideten, manchmal missachteten – ›weißen‹ Lebensstil führen können, während die von Hartigan beschriebenen Weißen in Detroit als »white trash« von der weißen Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen werden. Der Vergleich mit dem von Kathleen Stewart19 eindrucksvoll beschriebenen »white trash« im ländlichen West-Virginia verdeutlicht wiederum die enorme Variationsbreite innerhalb dieser Gruppe von Marginalisierten. Sicherlich lassen sich die Ergebnisse dieser Arbeiten zu ökonomisch marginalisierten Gruppen vor allem in britischen und amerikanischen Großstädten nur eingeschränkt auf die Lage von HauptschülerInnen in Berlin beziehen, denn unter anderem handelt es sich um unterschiedliche nationale Bildungssysteme, auch die Auswirkungen der aktuellen Wirtschafts-
16 Bourgois, Philippe: In Search of Respect. Selling Crack in El Barrio. Cambridge 1996. 17 Jackson, John: Harlemworld. Chicago 2001. 18 Hartigan, John: Odd Tribes. Toward a Cultural Analysis of White People. Durham 2005. 19 Stewart, Kathleen: A Space on the Side of the Road. Cultural Poetics in an »Other« America. Princeton 1996.
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krise sind noch nicht berücksichtigt. Dennoch liefern die erwähnten Studien wichtige Anregungen, um jene Exklusionsdynamiken zu erfassen, innerhalb derer die hier beschriebenen Jugendlichen agieren. Die postfordistische ökonomische Umstrukturierung bietet diesen Analysen nach tendenziell eher den Schülerinnen neue Beschäftigungsmöglichkeiten, während zumindest einige ihrer männlichen Altersgenossen in die Kleinkriminalität gedrängt werden, in die auch tatsächlich bereits einige der Weddinger Schüler involviert sind. Ähnlich wie die männlich-proletarische Ablehnung geistiger Arbeit durch die lads, versperrt zudem ein ›migrantisches Machoverhalten‹ den Protagonisten mögliche Aufstiegschancen. Verstärkt wird dieser Exklusionseffekt durch die ohnehin massive Benachteiligung von MigrantInnen im deutschen Bildungs- und Ausbildungssystem: So besuchten im Jahr 2000 mehr als 48 Prozent der Jugendlichen türkischer Herkunft, aber nur etwa 16 Prozent der Jugendlichen deutscher Herkunft die Hauptschule, was sich nach Verlassen der Schule in einer eklatanten Ungleichverteilung der Ausbildungschancen fortsetzte.20 Die Frage stellt sich, wie HauptschülerInnen selbst diese Ausschlussmechanismen wahrnehmen und – damit sind wir beim zweiten Unterschied im Vergleich zu den lads – welche Rolle ihr Status als ethnische Minderheit dabei spielt. Neben dem Geschlechterarrangement bildet Ethnizität für die Jugendlichen der Anna-Seghers-Schule eine weitere wichtige Orientierung im Schulalltag. Wenn ich während der Pausen auf dem Schulhof umherlief, wurde ich nicht nur häufig gefragt, ob ich »Schüler oder Lehrer«, sondern auch ob ich »Pole oder Russe« sei. Offensichtlich hatten die SchülerInnen unterer Jahrgänge, die mich nicht persönlich kannten, das Bedürfnis neben meiner Position an der Schule auch meine ethnische Zugehörigkeit einzuordnen. Gleichzeitig wird daran deutlich, dass diese SchülerInnen die Hauptschule als selbstverständlichen Ort für Zugewanderte unterschiedlicher Ethnizitäten wahrnehmen. Die Gruppe ethnisch deutscher SchülerInnen wird von ihnen dagegen scheinbar kaum noch an der eigenen Schule vermutet. Die Freundeskreise innerhalb der Schule spiegeln ebenfalls oft die ethnische Zugehörigkeit der SchülerInnen wider, wobei es häufig zu Spannungen
20 Für einen Überblick über die schichtspezifischen, migrationsbedingten und geschlechtlichen Ungleichheiten im deutschen Bildungssystem siehe Solga, Heike/Dombrowski, Rosine: Soziale Ungleichheit in schulischer und außerschulischer Bildung (= Hans Böckler Stiftung, Arbeitspapier 171). Düsseldorf 2009.
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zwischen Schülern mit kurdischem, türkischem und arabischem Familienhintergrund kommt. »Scheiß Kurden« oder »Scheiß Türken« sind dementsprechend häufig auftauchende Beleidigungen bei Streitigkeiten zwischen den Schülern. Auf dem Schulhof begrüßen sich befreundete arabische Jungen mit vier Wangenküssen, was bei größeren Gruppen zu einer recht langwierigen, aber auch demonstrativen Zeremonie der Zusammengehörigkeit führen kann. Jugendliche aus türkischen oder kurdischen Familien grüßen sich mit zwei Wangenküssen, die übrigen Schüler verzichten dagegen auf derartige Begrüßungsrituale. Die besondere Bedeutung von Ethnizität an der Anna-Seghers-Schule kann man nicht nur sehen, sondern auch hören. Viele SchülerInnen vermischen im alltäglichen Sprachgebrauch deutsche Wörter und grammatikalische Formen mit denen ihrer Herkunftssprache. So ist immer wieder der arabische Ausruf »Wallah« zu hören, der mit »ich schwöre« aber auch mit »bei Gott« übersetzt werden kann, und einer Aussage besonderen Nachdruck verleihen soll. Häufig wechseln SchülerInnen auch komplett für einige Momente die Sprache, beispielsweise wenn sie verhindern wollen, dass Lehrkräfte ihre Gespräche verstehen. Wie bewusst und spielerisch SchülerInnen mit der Vielsprachigkeit an der Anna-Seghers-Schule umgehen, erwies sich in einer Geografie-Stunde, in welcher die Schüler ein Arbeitsblatt mit dem Thema »Ein Überblick über unsere Heimat« ausfüllen sollten. Bei der anschließenden Besprechung machten sich die Schüler über einen Mitschüler lustig, welcher »Bochum« auf der falschen, der zweiten Silbe betont hatte und sprachen die Namen deutscher Städte fortan mit Absicht betont ›falsch‹ aus, etwa indem sie »Schustüffeldorf« statt »Düsseldorf« sagten. Die Lehrerin reagierte auf die Selbstironie ihrer Schüler und deren spielerischen Umgang mit Sprache, indem sie diese auf die besondere Bedeutung einer korrekten deutschen Aussprache bei der ohnehin schwierigen Suche nach einem Arbeitsplatz erinnerte. Sie verdeutlichte damit, dass über Sprachkenntnisse signalisierte ethnische Zugehörigkeiten eine entscheidende Rolle für die spätere Berufskarriere spielen können. Gleichzeitig wird deutlich, dass eine kontrollierte sprachliche Unterkorrektheit im Sprachgebrauch den Hauptschülern nicht als positives Distinktionsmerkmal zugestanden wird, da die Schüler von der die Situation beurteilenden Lehrerin bereits von vornherein negativ klassifiziert werden.21
21 Bourdieu, Pierre: Was heißt Sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien 1990, S. 91.
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In welchen Situationen dies geschehen kann und wie die Jugendlichen selbst ihre Situation auf dem Arbeitsmarkt vor dem Hintergrund einer starken Selbst-Ethnisierung im Schulkontext erleben, zeigt sich beispielhaft in folgendem Unterrichtsgespräch: Frau Schnur: »Ich weiß nicht, wie ihr euch das Leben vorstellt. Wollt ihr nach der Schule immer noch von Mama und Papa ernährt werden?« Ugur zu Marian: »Deine Füße stinken voll.« Marian: »Ich schwöre auf Kuranyi.« Ali: »Wir sind Ausländer.« Frau Schnur: »Das hat damit nichts zu tun, ihr seid lange genug in Deutschland.« Mehmet: »Ich habe heute Morgen wegen Praktikum angerufen und sie haben erzählt, es gibt Praktikumsplätze, aber als sie bemerkt haben, ich bin Ausländer, haben sie gesagt, die sind schon vergeben. Das war nur, weil ich Ausländer bin.« Serda: »Aber alle Betriebe sind nicht so.« Frau Schnur: »So etwas gibt es sicher, aber auch wegen der schlechten Erfahrungen der Betriebe. Sogar manche ausländische Betriebe stellen deswegen keine Ausländer mehr ein. Wenn ihr euch nicht benehmt, müsst ihr eben von Hartz IV leben.« Imad (singt laut): »Haaartzz IV!«
Der Gesprächsrahmen und die provozierende Frage der Klassenlehrerin implizieren bereits, dass sich das Gespräch um die Zukunftsaussichten der SchülerInnen drehen wird. Die Antworten von Ali und Mehmet machen deutlich, dass sie sich als Migranten in der Berufswahl benachteiligt sehen: Das Problem einer ethnischen oder rassistischen Diskriminierung wird von ihnen also selbst in das von der Lehrerin initiierte Gespräch eingeführt, da es anscheinend für die Einschätzung ihrer beruflichen Zukunft von besonderem Gewicht ist. Die Schüler sind wütend, denn sie fühlen sich auf ungerechte Weise benachteiligt. Sie spüren die Wirkungen von Rassismus und
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Ausgrenzung unmittelbar. Gleichzeitig wird deutlich, dass Fragen von Rassismus und ethnischer Diskriminierung im Kontext eines Schulgesprächs parallel zum Problem stinkender Füße und Fußballleidenschaften zur Sprache kommen. Sie werden in der Regel nicht in einem isolierten Rahmen systematisch erörtert, sondern gehören vielmehr zur alltäglichen Erfahrung vieler Hauptschüler und finden deshalb immer wieder Eingang in Gespräche während und außerhalb des Unterrichts. In der Wahrnehmung Mehmets hängt die Ursache für den kürzlich gescheiterten Versuch, einen Praktikumsplatz zu finden, unmittelbar mit seinem Status als »Ausländer« zusammen. Serda entgegnet, dass sich der Rassismus-Verdacht nicht auf alle Betriebe verallgemeinern ließe, und die Lehrerin, die zunächst das Rassismus-Argument zurückgewiesen hatte, räumt zwar schließlich diese Möglichkeit ein (»So etwas gibt es sicher.«), sucht aber die Ursache weniger in der rassistischen Einstellungspraxis der Betriebe, sondern bei den MigrantInnen selbst, die ihren Ruf bei den ArbeitgeberInnen durch ihr Verhalten ruiniert hätten. Ihr Appell an ein disziplinierteres Verhalten ist sofort mit der Drohung »Hartz IV« gekoppelt, das für alle im Raum unmissverständlich für ein Leben in Arbeitslosigkeit und in Abhängigkeit von sozial stigmatisierender staatlicher Überlebenshilfe steht. In einer Mischung aus Galgenhumor und Provokation stimmt Imad daraufhin laut eine Melodie zum Text »Hartz IV« an und zieht dabei das »a« mehrfach in die Länge. Imad wurde wenige Wochen später infolge weiterer als Disziplinlosigkeiten eingestufter Vorfälle der Schule verwiesen. An Mehmets Aussage wird deutlich, dass das Problem einer rassistisch motivierten Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt für HauptschülerInnen mit Migrationshintergrund aufgrund ihres Sprachgebrauchs schon bei der Suche nach einem unbezahlten Praktikum seine Wirkung entfaltet. Die Benachteiligung von HauptschülerInnen wird in diesem Fall durch die Diskriminierung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund verstärkt. Die symbolischen Stigmata »Ausländer« und »Hartz IV« folgen in der Logik des Gesprächs unmittelbar aufeinander und verdeutlichen, wie eng ethnische und soziale Ungleichheit miteinander verwoben sind. In der Regel werden ethnische Ungleichheiten von den Akteuren jedoch direkter und unmittelbarer thematisiert, denn es handelt sich um ein erfahrungsnahes Konzept, das für die SchülerInnen unmittelbar und körperlich spürbar und somit deutlich leichter fassbar ist. HauptschülerInnen verfügen zudem über ein Artikulati-
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ons- und Ausdrucksrepertoire, das es ihnen ermöglicht, rassistische Mechanismen nicht nur wahrzunehmen, sondern sie auch zu kritisieren. Ethnizität ist innerhalb der Anna-Seghers-Schule in doppelter Hinsicht von Bedeutung: Zum einen haben ethnische Zuschreibungen eine Ordnung stiftende Funktion mit deren Hilfe der Alltag strukturiert wird, beispielsweise indem FreundInnen durch Begrüßungszeremonien markiert oder mittels Sprachwechsel unliebsame ZuhörerInnen von Gesprächen ausgegrenzt werden. Die Selbstwahrnehmung als ›AusländerInnen‹ verweist zugleich auf erlebte Formen rassistischer Ausgrenzung in der postfordistischen Arbeitswelt. In beiden Fällen wirkt Ethnizität im Sinne einer Markierung von Identität, nur gibt sie den SchülerInnen auf die Frage »Wer bin ich?« einmal eine positive Antwort im Sinne von Zugehörigkeit und einmal eine negative, ausgrenzende Antwort.
S OZIALE K LASSE : D IE U NSICHTBARKEIT D ISKRIMINIERUNG
SOZIALER
Obwohl eng mit Ethnizität und Geschlecht verbunden, sind klassenbedingte Ausschlussmechanismen für die SchülerInnen deutlich schwerer zu erfassen. Diese erstaunliche Sprachlosigkeit im Angesicht der Allgegenwärtigkeit des Klassengefüges lässt sich nur mit Verweis auf die Verschleierung sozialer Diskriminierungen innerhalb eines Schulsystems begreifen, das selbst systematisch auf Prozessen sozialer Selektion basiert. HauptschülerInnen stammen zu einem großen Teil aus Elternhäusern mit geringem sozioökonomischem Status und diese nachteiligen Herkunftsbedingungen übersetzen sich nach dem Verlassen der Schule in beruflichen Misserfolg und geringere Erwerbschancen.22 Diese Form der Diskriminierung wird den SchülerInnen gegen Ende ihrer Schulzeit, beispielsweise bei Bewerbungsversuchen, immer stärker bewusst. Die ohnehin vorhandene soziale Distanz zwischen HauptschülerInnen und SchülerInnen anderer Schultypen, wie Realschulen oder Gymnasien, wird durch die institutionelle Segregation, deren Logik zufolge die Hauptschule am unteren Ende der Bildungshierarchie verortet ist, weiter ver-
22 Solga, Heike: Ausbildungslose und die Radikalisierung ihrer sozialen Ausgrenzung. In: Bude, Heinz/Willichs, Andreas (Hrsg.): Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige. Hamburg 2006, S. 121–146, S. 141.
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festigt. Zusätzlich verschlechtert werden die Berufschancen von HauptschulabgängerInnen durch den Strukturwandel des Arbeitsmarktes: Manuelle Tätigkeiten in der industriellen Produktion werden immer weniger nachgefragt. Die Gruppe der gering Qualifizierten scheint auf dem einheimischen Arbeitsmarkt ökonomisch zunehmend ›überflüssig‹ zu werden. Der damit verbundene Standpunkt des »Exkludierten«23 ermöglicht jedoch entscheidend weniger Widerstands- oder kritische Artikulationsmöglichkeiten, als sie beispielsweise der Arbeiterbewegung früherer Jahrzehnte in den Kämpfen für ihr zwar ›unten‹ stehendes, aber dennoch für die Gesamtgesellschaft notwendiges Klientel zur Verfügung standen. Mit dem Ende der Arbeiterbewegung ging für die unterbürgerlichen Schichten gleichsam ein Repertoire an Respektabilität und somit Ressourcen eines positiven Selbstbildes verloren. Das deutsche Bildungssystem selbst fördert dabei keineswegs Chancengleichheit, sondern institutionalisiert Selektionsmechanismen. Es produziert durch die frühe und im Alltag nur schwer reversible Trennung zwischen GymnasiastInnen, RealschülerInnen und HauptschülerInnen selbst soziale Ausgrenzung. Schließlich legitimiert es die auf diese Weise reproduzierte Ungleichheit durch die verliehenen Bildungstitel und übersetzt so eine gesellschaftlich konstruierte soziale Hierarchisierung in ein individuelles Leistungsmerkmal mit nachhaltigen Folgen für den späteren Berufsweg. Bildungsabschlüsse und die damit verbundenen Berufschancen gelten als meritokratisch erworben. HauptschülerInnen erscheinen nach diesem Verständnis als faul und defizitär. Auf sozialer Klasse basierende Ungleichheitserfahrungen sind den SchülerInnen jedoch weniger zugänglich als rassistische oder sexistische Diskriminierungen, deren Wirkungen sie bewusster wahrnehmen und entsprechend leichter beschreiben können. Die amerikanische Anthropologin 24 Sherry Ortner spricht deshalb vom »hidden life of class«. Soziale Klasse und die darauf basierenden Ausschlussmechanismen sind demnach zwar äußerst wirkungsmächtig, doch gibt es im Alltag keine adäquate Sprache für diese Mechanismen, weshalb sie häufig eher indirekt artikuliert werden – in der zuletzt beschriebenen Szene etwa über die Wut angesichts von
23 Für eine umfassende Betrachtung des Exklusionsbegriffs siehe Kronauer, Martin: Exklusion. Frankfurt a.M. 2002. 24 Ortner, Sherry: Anthroplogy and Social Theory. Culture, Power, and the Acting Subject. Durham 2006, S. 63.
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scheiternden Bewerbungen oder als Angst vor der dauerhaften Abhängigkeit von staatlichen Sozialleistungen. Die folgende Szene aus dem Büro eines Sozialarbeiters vermittelt einen Eindruck von dem verdeckten Charakter einer mittels Bildungsabschlüssen reproduzierten Form klassenbedingter Ausgrenzung: Feldtagebuch: Herr Lotringer, mit dem ich mich ganz gut verstehe und der sehr an meiner Forschung interessiert zu sein scheint, hat mich nach einem Gespräch heute eingeladen, ihm mal einen Nachmittag bei der Arbeit als Bewerbungshelfer zuzusehen. Eigentlich wollte ich mich eher in eine Ecke des Raumes zurückziehen, doch sein Büro ist ziemlich klein und neben mir sitzt noch eine andere, mir unbekannte junge Sozialarbeiterin, weshalb wir alle ziemlich eng beieinander positioniert sind und uns gegenseitig angucken. Noch bevor wir uns richtig kennen lernen können, kommt Aysel herein, mit der ich mich schon einigen Male getroffen habe und erzählt, dass sie ein Praktikum bei einer Bank absolvieren möchte. Herr Lotringer meint, dies sei ohne Abitur sowieso aussichtslos, doch Aysel möchte es trotzdem probieren und erwähnt, sie habe am Telefon nicht verraten, dass sie auf eine Hauptschule gehe. Ihr wurde gesagt, sie solle ihre Bewerbungsunterlagen schicken, weshalb sie nun gekommen sei. Herr Lotringer interpretiert dies bereits als Absage, was Aysel sichtlich überrascht, willigt dann aber dennoch ein, die Bewerbung für sie zu schreiben. Aysel ist so aufgeregt, dass sie zittert und sich erst nach mehrmaliger Aufforderung hinsetzt. Die Szene ist etwas abstrus, da wir zu dritt um Aysel herumsitzen und keiner sich besonders wohl zu fühlen scheint. Vor allem der jüngeren Sozialarbeiterin scheint meine Präsenz nicht geheuer zu sein. Ich habe den Eindruck, sie befürchte, ich wolle ihr ihren Platz streitig machen. Besonders abstrus wird die Szene beim Schreiben der Bewerbung. Den beiden SozialarbeiterInnen fallen häufig keine passenden Wörter ein. Ich versuche mich zurückzuhalten, schlage dann aber doch gelegentlich ein paar Formulierungen vor, die dann von Herr Lotringer auch immer prompt angenommen werden. Als die beiden zunächst erfolglos ein Äquivalent für »sich auf einer weiterbildenden Schule weiterzubilden« suchen und ich »sich auf einer weiterbildenden Schule zusätzlich zu qualifizieren« empfehle, meint die Sozialarbeiterin, dass man »zusätzlich« nicht nehmen könne, da ja ein Hauptschulabschluss eigentlich »nichts« sei. Bei beiden schwingen immer wieder negative Wertungen in unbedachten Äußerungen mit. So bezeichnet Herr Lotringer den Hauptschulabschluss in Gegenwart der Schülerin als »Schrott« und vergleicht die meisten Bewerbungen mit »Sputniks im Weltall«.
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Neben den komplexen Beziehungen zwischen Forscher und Feld kommt in dieser Episode vor allem eines zum Vorschein: die negative Sichtweise auf die Hauptschule. SozialarbeiterInnen bezeichnen den zu erwartenden Hauptschulabschluss in Gegenwart der Schülerin als »nichts« oder als »Schrott«. Bewerbungsbemühungen scheinen aufgrund der Stigmatisierung der Hauptschule auf dem Arbeitsmarkt kaum Chancen auf Erfolg zu haben, selbst wenn es sich wie in diesem Fall nur um eine Bewerbung für ein unbezahltes Praktikum handelt. Die abfälligen Bemerkungen der Sozialarbeiterin und die Tatsache, dass Aysel im Telefongespräch verschweigt, auf welche Schule sie geht, lassen sich als jene Formen verborgener persönlicher Verletzungen klassenbedingter Ungleichheit verstehen, die Richard Sennett und Jonathan Cobb in ihrem Buch »The Hidden Injuries of Class« am Beispiel US-amerikanischer Arbeiter in Boston zu Beginn der 1970er Jahre beschreiben.25 Der Wunsch nach sozialem Aufstieg stellt diese Arbeiter und ihre Kinder vor das Dilemma, ihre eigene Herkunft und die damit verbundenen Werte verleugnen zu müssen. Die damit verbundenen persönlichen Verwundungen sind Sennett und Cobb zufolge letztlich der alltägliche Ausdruck der Brutalität des Klassensystems. Aysel, die in der Türkei eine erfolgreiche Schülerin war, schämt sich für ihre Schulkarriere und verschweigt diese im Telefongespräch mit einem Angestellten der Bank wohl auch deshalb, weil sie die Benachteiligung von HauptschülerInnen auf dem Arbeitsmarkt bereits erahnt. Ihr ungläubiges Erstaunen auf die Reaktion des Sozialarbeiters, der die Szene bereits als Ablehnung interpretiert und ihr Wunsch sich dennoch zu bewerben, zeigen jedoch, dass sie das Ausmaß ihrer Ausgrenzung eher noch unterschätzt. Ihr Gesprächspartner auf Seiten der Bank fragt nicht nach dem von ihr besuchten Schultyp, sondern ermuntert sie sich schriftlich zu bewerben, was in diesem Fall wenig später zu einer Ablehnung führen wird. Klassenbedingte Ausschlussmechanismen sind offenbar so heikel, dass sie nicht im persönlichen Gespräch diskutiert, sondern bevorzugt indirekt geregelt werden. Dem britischen Sozialtheoretiker Andrew Sayer nach ist soziale Klasse deshalb ein so beunruhigendes und unangenehmes Gesprächsthema, da darin einerseits die Ungerechtigkeit der gesellschaftlichen Chancenverteilung verbor-
25 Sennett, Richard/Cobb, Jonathan: The Hidden Injuries of Class. New York/London 1972.
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gen liegt und klassenbedingte Ausgrenzungen andererseits immer auch die moralische Bewertung einer Person umfassen.26 Auch über diese Episode hinaus kann man immer wieder beobachten, wie das überwältigend negative Bild der Hauptschule und die moralische Abwertung von HauptschülerInnen in alltäglichen, medialen und politischen Diskursen indirekt die Selbsteinschätzungen der SchülerInnen und LehrerInnen sowie die gesamte Atmosphäre innerhalb der Schule prägen. Lehrende betiteln ihre eigene Schule als »Hilfsschule«, »Irrenhaus«, »Idiotenschule« oder »Behindertenschule«, SchülerInnen bezeichnen sich häufig selbst als »zu dumm«. Die Ursachen für das schlechte Bild der Hauptschule liegen in den strukturellen Bedingungen des deutschen Bildungssystems, aber auch in den begleitenden und zumeist legitimierenden Mediendiskursen begründet. HauptschülerInnen gelten medial als Sinnbild für die ›Unterschicht‹ – ein pejorativer Begriff, der nicht nur auf eine unterprivilegierte soziale Lage verweist, sondern auch auf negative Eigenschaften seiner Träger, wie »bildungsresistent«, »dumm« und »moralisch verwahrlost«.27 Selbst wenn die von mir begleiteten HauptschülerInnen die Bezeichnung ›Unterschicht‹ selbst nicht verwenden, so werden sie doch auf vielfältige Weise mit diesen Zuschreibungen konfrontiert. Bildungssoziologische Studien in Deutschland haben in den letzten Jahren nachdrücklich auf die Stigmatisierungserfahrungen von HauptschülerInnen hingewiesen: Michel Knigge28 machte auf eine starke stigmatisierte kollektive Identität von HauptschülerInnen aufmerksam, die sich zudem negativ auf die Motivation im schulischen Bereich auswirke und häufig deviantes Verhalten zur Folge habe. Gisela Unterweger29 und Sabine Mannitz30 haben darüber hinaus die besonders starken Akzeptanzprobleme von SchülerInnen mit Migrationshintergrund im deutschsprachigen Raum herausgearbeitet. Die
26 Sayer, Andrew: The Moral Significance of Class. Cambridge 2005. 27 Lindner, Rolf: »Unterschicht«. Eine Gespensterdebatte. In: Ders./Musner, Lutz (Hrsg.): Unterschicht. Kulturwissenschaftliche Erkundungen der ›Armen‹ in Geschichte und Gegenwart. Berlin/Wien 2008, S. 9–17, S. 15. 28 Knigge, Michel: Hauptschüler als Bildungsverlierer? Münster u.a. 2009. 29 Unterweger, Gisela: Klasse und Kultur. Verhandelte Identitäten in der Schule (= Zürcher Beiträge zur Alltagskultur, Bd. 12). Zürich 2002. 30 Mannitz, Sabine: Die verkannte Integration: Eine Langzeitstudie unter Heranwachsenden aus Immigrantenfamilien. Bielefeld 2006.
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von Andrea Lange-Vester und Miriam Redlich31 interviewten HauptschülerInnen berichteten von Anerkennungsproblemen vor allem in Folge von demütigendem und respektlosem Verhalten der LehrerInnen, so dass es nicht verwundert, dass Matthias Fink32 für HauptschülerInnen generell eine geringere Schulzufriedenheit sowie ein geringeres Selbstwertgefühl im Vergleich zu gleichaltrigen SchülerInnen anderer Schultypen konstatierte. Wie die Mehrzahl der HauptschülerInnen in Deutschland werden auch die SchülerInnen der Anna-Seghers-Schule in Berlin-Wedding massiv mit klassenbedingten Ausschlussmechanismen und den sie begleitenden moralischen Delegitimierungen konfrontiert. Sie sind den negativen Wirkungen sozialer Ausgrenzung ungeschützt ausgeliefert, denn es fehlt ihnen weitgehend die Möglichkeit, ein vages Ungerechtigkeitsgefühl zu artikulieren und ihr Selbstwertgefühl auf diese Weise zu verteidigen. Soziale Herabsetzung wird gleichzeitig gesellschaftlich kaum sanktioniert, so können die beiden SozialarbeiterInnen die Schülerin in deren Gegenwart und bei Präsenz eines Forschers ungehemmt demütigen. Die soziale Akzeptanz moralischer Herabwürdigung und die gleichzeitige Verschleierung ihrer strukturellen Ursachen führen tendenziell zu einer individualisierten Wahrnehmung von Ausgrenzungserfahrungen. Formen klassenbedingter sozialer Ausschließung fließen demnach besonders häufig in die Selbstbeschreibungen der AkteurInnen ein. Einzelne SchülerInnen, wie die zitternd im Büro stehende Aysel, wirken deshalb besonders hilflos und verletzlich.
31 Lange-Vester, Andrea/Redlich, Miriam: Soziale Milieus und Schule. In: Brake, Anna/Bremer, Helmut (Hrsg.): Alltagswelt Schule. Weinheim/München 2010, S. 185–209; vgl. auch: Lange-Vester, Andrea: Teufelskreis der Nichtachtung. In: Schultheis, Franz/Schulz, Kristina (Hrsg.): Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag. Konstanz 2005, S. 298–310. 32 Fink, Matthias: Jugendliche in erschwerten Lebenslagen. In: Duncker, Ludwig (Hrsg.): Konzepte für die Hauptschule. Ein Bildungsgang zwischen Konstruktion und Kritik. Bad Heilbronn 2003, S. 200–211.
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F ORMATIONEN VON K LASSE , E THNIZITÄT G ESCHLECHT – EIN R ESÜMEE
UND
Der Intersektionalitätsansatz ist eine Herausforderung für die Ethnologie, denn er erinnert die teilweise stark auf konkrete Situationen fokussierte ethnografische Forschung an die auch auf der Mikroebene wirksamen Formen von machtbedingter Ungleichheit. Ethnografisch inspirierte Intersektionalitätsforschung bietet gleichzeitig eine Chance für ein besseres Verständnis der Wirkungsweisen sozialer Ungleichheit, denn sie öffnet den Blick für die alltäglichen Überschneidungen, Vermischungen und Neuarrangements von Klasse, Ethnizität und Geschlecht indem sie nach der Bedeutung dieser Ungleichheitsdimensionen für die AkteurInnen selbst fragt. Mit ihrem Fokus auf die Realisierung und Artikulation von Kategorien in Praktiken und Selbstwahrnehmungen bietet Ethnografie eine Möglichkeit die situativen Verwendungen dieser Kategorisierungen genauer zu bestimmen. Die wissenschaftliche sowie die alltagsweltliche und mediale Verwendung von Kategorien wie Klasse, Ethnizität oder Geschlecht sind diskursiv miteinander verbunden. Mediale Beschreibungen von jungen MigrantInnen arabischer, kurdischer oder türkischer Herkunft implizieren beispielsweise in der Regel bereits einen niedrigen Bildungsstand dieser Jugendlichen. Die Verwendung der Kategorie ›Unterschicht‹ enthält häufig eine ethnische Konnotierung, wobei diese – je nach räumlicher Verortung – entweder auf eine weiße, vornehmlich ostdeutsche ›Unterschicht‹ oder eben auf Jugendliche aus migrantischen Familien verweist. Ethnische, soziale und geschlechtliche Kategorien sind von vornherein miteinander verwoben, so dass es wenig sinnvoll erscheint, zu versuchen, diese in ihrer ›reinen‹ Form darzustellen. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, die alltäglichen Konstruktionen und Naturalisierungen von kategorialen Zuschreibungen nachzuvollziehen. Dies gelingt am ehesten, indem man die formativen Praktiken und kategorialen Selbstzuschreibungen der AkteurInnen ernst nimmt und auf diese Weise die Kontingenz und Dynamik von Kategorisierungsprozessen sichtbar macht. Formationen von Klasse, Ethnizität und Geschlecht sind nicht statisch, sondern werden im Alltag beständig produziert und reproduziert. Im Prozess ihrer kontinuierlichen Neuformierung aus kategorialen Zuschreibungen, individuellen Aneignungen und kontextspezifischen Artikulationen ergibt sich, wie die folgende U-Bahn-Szene andeutet, ein Spielraum für Variationen:
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Feldtagebuch: Rückweg vom Olympiastadion – Schülerländerspiel Deutschland gegen Frankreich: Ich fahre mit einer kleinen Gruppe von Jungen zurück. Am überfüllten U-Bahnhof werden andere Schüler permanent ›angemacht‹. Wenn ein Mädchen vorbeikommt wird es mit »Du hast voll schöne Augen« oder »Gib mal deine Nummer« angesprochen, anderen Jungs werden dagegen eher Schläge angeboten. In der U-Bahn übernehmen wir ein eigenes kleines Abteil, die Jugendlichen, die dort vorher saßen, räumen freiwillig und ohne Widerrede ihre Plätze. Die Jungen sind aufgedreht, sie schunkeln Arm in Arm und rufen lautstark »Anna Seghers«. Die anderen Fahrgäste halten trotz des vollen Waggons einen beträchtlichen ›Sicherheitsabstand‹ zu uns, ab und zu werden sie mit Sprüchen wie »Hurensöhne« oder »mach mal den Mund zu, es stinkt« attackiert. Später müssen wir in eine andere U-Bahn in Richtung Wedding umsteigen, die Jungs haben sich mittlerweile etwas beruhigt, doch die übrigen Fahrgäste bevorzugen es nach wie vor zu stehen, anstatt sich neben uns zu setzen. Als ein paar ältere Deutsche einsteigen, rutschen die Schüler zur Seite und bieten mit einer demonstrativen Geste einen Platz an: »Wollen Sie sich nicht setzen?«, doch die Angesprochenen wenden sich erschrocken ab. »Man will ja nur freundlich sein«, rufen ihnen die amüsierten Schüler in gestelztem Deutsch hinterher.
Die Hauptschüler in dieser Szene haben ein Bewusstsein für die ihnen entgegengebrachten Zuschreibungen als männliche Migranten aus der ›Unterschicht‹. Da von ihnen ohnehin kein diszipliniertes Verhalten erwartet wird, nehmen sie das mit männlichen Hauptschülern aus Berlin-Wedding assoziierte Verhalten zunächst an und nutzen ihr körperliches und akustisches Einschüchterungspotenzial, um sich einen Platz in einer überfüllten U-Bahn zu sichern. Sie haben ihren Spaß am Proll- und Machogehabe und vor allem an den erschrockenen Distanzierungsbemühungen der übrigen Fahrgäste. Die Art und Weise, wie sie nur wenige Minuten später älteren Personen einen Platz in der U-Bahn anbieten, demonstriert einen spielerischen und ironischen Umgang mit kategorialen Zuschreibungen, der die übrigen Fahrgäste merklich irritiert. Die Reaktion der älteren Deutschen, die darauf verzichten, sich neben die plötzlich betont freundlich agierenden Jugendlichen zu platzieren, verdeutlicht gleichzeitig, dass ein vorübergehender subversiver Umgang mit Zuschreibungen zwar die Fahrgäste mit deren eigenen Vorurteilen konfrontiert, diese aber keineswegs aufhebt. Formationen von Klasse, Ethnizität und Geschlecht haben eine über den Moment hinausgehende Wirkmächtigkeit, sie werden von den Schülern aber im Verlauf einer U-BahnFahrt sowohl reproduziert als auch konterkariert.
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In diesem Text konzentrierte ich mich darauf, wie die SchülerInnen der Anna-Seghers-Schule, die mit diversen Formen gesellschaftlicher Ausgrenzungen konfrontiert sind, diese wahrnehmen und kritisieren, aber auch wie sie im Umgang miteinander selbst Ungleichheitsstrukturen reproduzieren. Machtbedingte Ungleichheitsverhältnisse haben für die SchülerInnen grundsätzlich brutale Wirkungen, egal auf welchen Ausschlussmechanismen sie beruhen. Ethnische, soziale und geschlechtliche Diskriminierung werden jedoch auf unterschiedliche Weise wahrgenommen: rassistische und sexistische Ausgrenzungen über klar erkennbare körperliche Zuschreibungen, klassenbedingte Benachteiligungen dagegen eher indirekt über Bildungszertifikate. Auch der Bewusstseinsgrad in Bezug auf ihre machtbedingte Fundierung unterscheidet sich, während die HauptschülerInnen im Schulalltag eine Rassismus-kritische Sprache verwenden und zumindest theoretisch auch auf eine Sexismus-kritische Sprache zurückgreifen könnten, fehlt ihnen, wie der gesamten Gesellschaft, derzeit ein entsprechendes kritisches ›Klassismus‹Vokabular. Die Frage drängt sich auf, was diese Verschleierung von sozialstrukturellen Problemlagen bei gleichzeitiger Betonung ethnischer oder geschlechtlicher Fragen zur Folge hat. Auf der individuellen Ebene führt sie tendenziell zu einer verstärkten Selbstzuschreibung von schulischen oder beruflichen Misserfolgen, während sie auf der gesellschaftlichen Ebene eine Privatisierung und Kulturalisierung von sozialer Ungleichheit zur Folge hat. Mein Fokus auf Praktiken und Selbstwahrnehmungen Berliner HauptschülerInnen veranschaulicht die Situativität von Formationen von Klasse, Ethnizität und Geschlecht. Die im Intersektionalitätsansatz von Gabriele Winker und Nina Degele vertretene schematische Trennung von Strukturen, Repräsentationen und Identitäten erweist sich aus dieser Perspektive als wenig fruchtbar, da diese – wie zuletzt die Szene in der U-Bahn verdeutlichte – sich in der Praxis nicht voneinander unterscheiden lassen.33 Selbstwahrnehmung und Identitätszuschreibungen entstehen im alltäglichen Zusammenspiel dieser Ebenen und sollten diesem Prozess daher nicht analytisch vorgelagert werden. Der hier vertretene ethnografische Zugang geht nicht von wechselseitigen Interaktionen zwischen Klasse, Ethnizität und Geschlecht als getrennt gedachten Ungleichheitssträngen aus, sondern favorisiert ein Interdependenzmodell, mit dessen Hilfe das komplexe Zusammenspiel von
33 Winker/Degele: Intersektionalität (wie Anm. 1), S. 18ff.
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Ungleichheitsbeziehungen sowohl zwischen den Kategorien als auch innerhalb dieser Kategorien selbst in den Blick genommen wird.34 Statt einzelne Ungleichheitsstränge isoliert voneinander zu betrachten, begriff ich Klasse, Ethnizität und Geschlecht als zusammenhängende, sowie wiederum intern differenzierte Dimensionen komplexer Formationen. Im Begriff der ›Formation‹ versuchte ich deutlich zu machen, dass HauptschülerInnen nicht nur mit bestehenden Formen klassenbedingter, ethnischer und geschlechtlicher Zuschreibungen konfrontiert werden, sondern selbst an deren Formierung beteiligt sind. In diesen Momenten kultureller Praxis und Selbstverortung verbirgt sich einerseits die machtvolle Existenz dieser Formationen von Klasse, Ethnizität und Geschlecht, im mitunter spielerischen und ironischen Umgang mit komplexen Zuschreibungen liegt jedoch auch die Möglichkeit ihrer allmählichen Transformation verborgen.
34 Walgenbach u.a.: Gender (wie Anm. 4), S. 64.
Intersektionalität, Männlichkeit und Migration – Wege zur Analyse eines komplizierten Verhältnisses P AUL S CHEIBELHOFER
E INLEITUNG Postkoloniale Theoretikerinnen haben die lange europäische Geschichte von vergeschlechtlichten und sexualisierten Fremdkonstruktionen ausführlich analysiert und deren Verzahnung mit ausbeuterischen Machtverhältnissen aufgedeckt.1 Feministische Forscherinnen haben darüber hinaus gezeigt, wie sich heute solche Bilder und Politiken, vor allem in aktuellen Diskursen über muslimische Migrantinnen, reartikulieren.2 Aufbauend auf diesen Erkenntnissen wende ich mich in dem Artikel Konstruktionen männlicher Migranten zu, wie sie aktuell in Deutschland und Österreich vorzufinden sind, und diskutiere in diesem Rahmen die Potentiale einer intersektionellen Perspektive. Ich konzentriere mich dabei auf dominante Konstruktionen »türkischmuslimischer« Männlichkeit in Medien, Politik und Wissenschaft. »Der tür-
1
Vgl. z.B. McClintock, Anne: Imperial Leather: Race, Gender, and Sexuality in the Colonial Contest. New York 1995; Nagel, Joane: Race, Ethnicity, and Sexuality. Intimate Intersections, Forbidden Frontiers. New York/Oxford 2003.
2
Abu-Lughod, Lila: Do Muslim Women Really Need Saving? Anthropological Reflections on Cultural Relativism and Its Others. In: American Anthropologist 104, 3 (2002), S. 783–790; Braun, Christina von/Matthes, Bettina: Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen. Berlin 2007.
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kisch-muslimische Mann« wird dabei als geleitet von Kultur, Tradition und Religion dargestellt und als Träger hypermaskuliner, archaischer, gewalttätiger Männlichkeit problematisiert. Besonders im Zusammenhang mit dem populären Diskurs über die »Krise des Multikulturalismus« und der Warnung vor »Parallelkulturen«, in denen fremde Traditionen wucherten, entfalten die Bilder über »den türkisch-muslimischen Mann« ihre Wirkung. In einem Kontext, der von solchermaßen orientalisierenden Fremdkonstruktionen geprägt ist, stellt sich die Frage, wie kritische Forschung zu Männlichkeiten im Kontext von Migration aussehen kann. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Überlegungen zur Intersektionalität gesellschaftlicher Machtverhältnisse produktiv mit Fragen von Männlichkeitskonstruktionen in Dialog gebracht werden können. »Männlichkeit« wird dabei nicht als essentielle Eigenschaft und handlungsleitende Triebfeder von »den Männern« verstanden, sondern als machtvolle Position und Ausdruck eines patriarchalen Geschlechterverhältnisses. Ein intersektioneller Zugang kann daran anschließend verdeutlichen, welche Rolle Fragen von Rassialisierung, Sexualisierung und sich wandelnden ökonomischen Verhältnissen für Männlichkeitskonstruktionen im Kontext von Migration spielen.
M ÄNNLICHKEIT UND I NTERSEKTIONALITÄT V ERHÄLTNIS
ALS
SOZIALES
Aus eigener Erfahrung im Kontext des hier beschriebenen Forschungsprojekts weiß ich um das große Interesse, das Forschungsprojekten zu männlichen türkisch-muslimischen Migranten aktuell entgegengebracht wird. So positiv dieses Interesse grundsätzlich einzuschätzen ist, konzentriert es sich doch zumeist auf die Frage der Probleme und Gefahren, die von diesen Jungen und Männern ausgehen. Im Sinne eines reflexiven Wissenschaftsverständnisses muss dieser Problemfokus hinterfragt werden. Pierre Bourdieu schlägt im Zusammenhang mit Forschung zu Themen, die aktuell als »soziales Problem« erachtet werden, einen reflexiven soziologischen Zugang vor, um nicht in die Falle der Reproduktion vorgefasster Positionen zu tappen. Statt dekontextualisierter Analysen müsse eine reflexive Forschung die soziale Arbeit, die in die Produktion eines spezifischen »sozialen Problems« investiert wird, herausarbeiten und dabei nicht zuletzt die Rolle der Wissenschaft
I NTERSEKTIONALITÄT, M ÄNNLICHKEIT UND M IGRATION
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in den Blick nehmen.3 Mit ihrem Fokus auf komplexe gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse bieten intersektionelle Zugänge meines Erachtens methodologisches »Rüstzeug« für so eine reflexive, relationale Forschung. Wenden wir uns kurz den Arbeiten der kritischen Männlichkeitsforschung zu, so zeigt sich, dass Überlegungen zu intersektionellen Herrschaftsverhältnissen zwar einen konstitutiven Bestandteil dieser Forschungsperspektive darstellen, jedoch – von Ausnahmen abgesehen4 – selten expliziert wurden und unausgearbeitet blieben. Zur Verdeutlichung ein kurzer Blick auf Raewyn Connells Überlegungen zu »hegemonialer Männlichkeit«,5 die als Startpunkt einer sich als »kritisch« bezeichnenden Männlichkeitsforschung6 gelten können. Connell, die Geschlecht als Konfiguration sozialer Praxis fasst, argumentiert, dass sich männliche Herrschaft nicht allein über Machtrelationen zwischen Männern und Frauen reproduziert (so zentral diese für patriarchale Verhältnisse sind), sondern auch über jene zwischen Männern. Neben der herrschaftsstabilisierenden Funktion rein männlicher Räume und Netzwerke, rücken damit die Machtverhältnisse zwischen hegemonialen und »anderen
3
Vgl. Bourdieu, Pierre: Die Praxis der reflexiven Anthropologie. In: Ders./Wacquant, Loic J. D. (Hrsg.): Reflexive Anthropologie. Frankfurt a.M. 2006, S. 251–295, S. 229.
4
Vgl. etwa Bereswill, Mechthild: Undurchsichtige Verhältnisse. Marginalisierung und Geschlecht im Kontext der Männlichkeitsforschung. In: Klinger, Cornelia/Knapp, Gudrun-Axeli/Sauer, Birgit (Hrsg.): Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität. Frankfurt a.M./New York 2007, S. 84–99; Huxel, Katrin: Männlichkeiten kontextualisieren. Eine intersektionelle Analyse. In: Potts, Lydia/Kühnemund, Jan (Hrsg.): Mann wird Man. Geschlechtliche Identitäten im Spannungsfeld von Migration und Islam. Bielefeld 2008, S. 65–78.
5
Connell, Raewyn W.: Gender and Power. Society, the Person and Sexual Poli-
6
»Kritisch« wurde in diesem Zusammenhang etwa in Abgrenzung zu maskuli-
tics. Cambridge, Mass. 1987; Dies.: Masculinities. Berkeley 1995, S. 183. nistischen Männerbewegungen verstanden, deren Suche nach etwaiger »authentischer Männlichkeit« zumeist mit antifeministischen Positionen einherging. Im Gegensatz dazu versteht sich kritische Männer- oder Männlichkeitsforschung als Teil feministischer, antisexistischer Theoriebildung und Politik; vgl. BauSteine Männer (Hrsg.): Kritische Männerforschung. Neue Ansätze in der Geschlechtertheorie. Hamburg 2001 (3. Aufl.).
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Männlichkeiten« in den Blick. Männliche Herrschaft konstituiert sich demnach auch über Vormachtkämpfe unter Männern, in denen bestimmte Gruppen von Männern marginalisiert und von der umfassenden Teilhabe an männlichen Privilegien im Patriarchat ausgeschlossen werden. Ähnlich wie in Intersektionalitätsdebatten wurden in diesem Rahmen vor allem Machtverhältnisse entlang Klasse, Ethnizität/Rassialisierung und Sexualität als relevant für Dominanz und Marginalisierungsprozesse unter Männern ausgemacht.7 Anknüpfungspunkte für intersektionelle Zugänge in der »kritischen Männlichkeitsforschung« sind also durchaus vorhanden. Für die Überlegungen dieses Artikels, in dem solche intersektionelle Zugänge für die Analyse von Männlichkeitskonstruktionen im Kontext von Migration ausgelotet werden, sollen an dieser Stelle Arbeiten diskutiert werden, die in der (deutschsprachigen) Männlichkeitsforschung zwar kaum Beachtung finden, für die hier angestellten Überlegungen jedoch erkenntnistheoretisch gewinnbringend scheinen. Es handelt sich dabei um die Arbeiten von Schwarzen Feministinnen 8 im US-amerikanischen Kontext, konkret jene von bell hooks und Patricia Hill Collins, die sich auch explizit mit Fragen zu Männlichkeit auseinandergesetzt haben.9 Während ein großer Teil deutschsprachiger Forschung zu migrantischen Männern auf Fragen etwaiger kultureller Differenzen und eigentümlicher
7
Vgl. Demetriou, Demetrakis: Connell’s Concept of Hegemonic Masculinity: A Critique. In: Theory and Society 30 (2001), S. 337–361; Donaldson, Mike: What is Hegemonic Masculinity? In: Theory and Society 22 (1993), S. 643–657.
8
Im Folgenden wird »Schwarz« öfters verwendet. Damit wird nicht auf eine etwaige ›natürliche‹ Kategorie verwiesen, sondern viel eher die Selbstbezeichnung und Schreibweise der AutorInnen aus dem Englischen übernommen. Die Großschreibung soll dabei auf den politischen Charakter der Kategorie verweisen.
9
Vgl. hooks, bell: We Real Cool. Black Men and Masculinity. New York/London 2004; dies.: Black Looks. Race and Representation. Boston, MA 1992; Collins, Patricia Hill: Black Sexual Politics: African Americans, Gender, and the New Racism. New York 2004; dies.: From Black Power to Hip Hop. Racism, Nationalism, and Feminism. Philadelphia 2006. Aufgrund vielschichtiger historischer und aktueller Unterschiede zwischen dem Kontext auf den sich diese Texte beziehen und den in diesem Kapitel fokussierten, ist dabei freilich Vorsicht bei der ›Übersetzung‹ von Erkenntnissen angebracht. Ich hoffe aber, dass die Relevanz in dieser kurzen Darstellung nachvollziehbar wird.
I NTERSEKTIONALITÄT, M ÄNNLICHKEIT UND M IGRATION
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Traditionen fokussieren10 entwickeln diese Autorinnen ihre Analysen zur Situation Schwarzer Männer vor dem Hintergrund (bzw. als Teil von) feministischer, kapitalismuskritischer und antirassistischer Gesellschaftskritik. Dementsprechend vielschichtig sind ihre Analysen und so handelt bell hooks’ »We Real Cool. Black Men and Masculinity«11 etwa von rassialisierter Arbeitsmarktsegregation und Armut, Kriminalisierung und Polizeigewalt sowie von einem Bildungssystem, das Schwarze Kinder strukturell benachteiligt, und populären Medien, in denen sexualisierte Bilder gefährlicher Schwarzer Körper verbreitet und vermarktet werden. Diese Ebenen werden in der Analyse als historisch gewachsene, aufeinander verweisende und sich gegenseitig verstärkende Herrschaftsverhältnisse gefasst, die das Leben Schwarzer Männer maßgeblich strukturieren. So fasst etwa Patricia Hill Collins die dominanten Bilder über hypermaskuline Schwarze Männer als »controlling images«, die ihre Wirkung nicht nur auf der symbolischen Ebene entfalten. Vielmehr tragen sie etwa dazu bei, rassialisierte Klassenverhältnisse und Kriminalisierung zu legitimieren. Darüber hinaus können sie auch ›pädagogisch‹ eingesetzt werden, wenn etwa Bilder von erfolgreichen Schwarzen Sportlern, die »es geschafft« haben, dazu verwendet werden, verarmten Schwarzen Jugendlichen vorzumachen, dass auch sie Erfolg haben können, wenn sie sich nur an »die Regeln« halten, fleißig sind und nicht rebellieren.12 Identifikationsprozesse und (Alltags-)Handeln der Männer werden von den Autorinnen vor dem Hintergrund dieses Kontexts besprochen. Aus fe-
10 Vgl. etwa Toprak, Ahmet: Das schwache Geschlecht – die türkischen Männer. Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Doppelmoral der Ehre. Freiburg 2007; Bohnsack, Ralf: Der Habitus der »Ehre des Mannes«. Geschlechtsspezifische Erfahrungsräume bei Jugendlichen türkischer Herkunft. In: Döge, Peter/Meuser, Michael (Hrsg.): Männlichkeit und Soziale Ordnung. Neue Beiträge zur Geschlechterforschung. Opladen 2001, S. 49–72. Neben diesen kulturalistischen Studien finden sich freilich auch andere, in denen Fragen von Rassismus, Kriminalisierung oder ökonomischer Marginalisierung in die Analyse aufgenommen werden. Auf zwei dieser Studien – Ewing 2008 und Spindler 2006 – wird weiter unten noch explizit Bezug genommen. 11 hooks: Black Men (wie Anm. 9). 12 Collins: Politics (wie Anm. 9), S. 152; vgl. insbes. Kap. 5: Booty Call. Sex, Violence and Images of Black Masculinity, S. 149–180.
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ministischer Perspektive werden dabei auch Themen wie häusliche Gewalt durch Schwarze Männer oder die weiterverbreitete Zelebrierung von gewalttätiger, sexistischer, auf ökonomischen Profit abzielender maskulinistischer Pimp- und Gangsterkultur besprochen und kritisiert. Die vorgenommene Kontextualisierung ermöglicht dabei jedoch Analysen, die nicht in den, im US-amerikanischen Raum populären Problemdiskurs über »die Mängel des Schwarzen Mannes« (fehlender Vater, dominante Mutter etc.) einstimmen und damit schließlich die Norm weißer Männlichkeit bestätigen.13 Die Praktiken der Männer werden viel eher als prekäre Formen der Herstellung von Männlichkeit analysiert, in denen sich Momente des Widerstands gegen Marginalisierung mit solchen des Versuchs gesellschaftlicher Teilhabe durch Übernahme von Stereotypen sowie Machtausübung über Frauen im sozialen Nahbereich manifestieren. Auch wenn sich diese Studien nicht immer explizit auf akademische Diskussionen zu Intersektionalität beziehen, können sie meines Erachtens wichtige Impulse für diese Diskussionen bieten und sie für die Analyse von Männlichkeit im Kontext von Migration öffnen. Die Studien verweisen auf widersprüchliche Effekte des Ineinanderwirkens von Herrschaftsverhältnissen im Leben der Männer und auf die Notwendigkeit, die Gleichzeitigkeit von Marginalisierungs- und Privilegierungsprozessen in den Blick zu nehmen. Den populären kulturalisierenden und essentialisierenden Bildern »fremder Männlichkeit« setzen die Autorinnen eine gesellschaftskritische Kontextualisierung entgegen, die, wie etwa Nira YuvalDavis für intersektionelle Analysen reklamiert, auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen ansetzt.14 Individuelle Praktiken werden dabei nicht losgelöst von Diskursen und institutionellen Arrangements analysiert.15 Das Ineinanderwirken sowohl der unterschiedlichen Ebenen, wie auch der unter-
13 Vgl. Marriott, David: Reading Black Masculinities. In: Mac an Ghaill, Máirtín (Hrsg.): Understanding Masculinities: Social Relations and Cultural Arenas. Buckingham 1996, S. 185–201. 14 Vgl. Yuval-Davis, Nira: Intersectionality and Feminist Politics. In: European Journal of Women’s Studies 13, 3 (2006), S. 193–209. 15 Eine intersektionelle Methodologie, so Yuval-Davis, müsse analysieren, wie sich soziale Differenzen »institutionally, intersubjectively, representationally as well as in the subjective constructions of identities« manifestieren und artikulieren; Yuval-Davis: Intersectionality (wie Anm. 14), S. 205.
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schiedlichen Machtverhältnisse steht in den Analysen im Zentrum und so verweisen sie auf einen Zugang, wie ihn innerhalb der Intersektionalitätsdebatte etwa Katharina Walgenbach mit ihrem Verweis auf den interdependenten Charakter von Herrschaftsverhältnissen stark gemacht hat.16 Geschlecht und Männlichkeit wird in den Analysen nie getrennt von Klassenverhältnissen oder etwa Heteronormativität gesehen. Damit im Zusammenhang steht ein grundsätzlich nicht-essentialistisches Verständnis von sozialen Kategorien und Herrschaftsverhältnissen, das in den Texten über Konstruktionen Schwarzer Männlichkeiten zum Ausdruck kommt. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund eminenter rassistischer Diskurse über »fremde Männer« und den sich darin manifestierenden Essentialisierungen, ist so eine Perspektive notwendig. Vor diesem Hintergrund erscheint mir eine Kritik, wie sie etwa von Isabell Lorey an Re-Essentialisierungstendenzen innerhalb der Intersektionalitätsdebatte erarbeitet wurde, überaus relevant.17 In ihrer Diskussion neuerer deutschsprachiger Arbeiten zu Intersektionalität verdeutlicht Lorey, dass diese keineswegs automatisch vor Naturalisierungen von Kategorien und Identitäten gefeit sind, sondern diese oftmals durch ihren Fokus auf Achsen und Differenzen wiederum festschreiben. Während Lorey der intersektionellen Kategorisierungs- und Ordnungsvision eine poststrukturalistische Kritik an Differenz entgegensetzt, lässt sich in den oben dargestellten Arbeiten von Schwarzen Feministinnen eine andere Strategie der Dekonstruktion finden. So wird Herrschaft in diesen Texten grundsätzlich als soziales Verhältnis gesehen. Etwaige soziale Kategorien werden dabei nicht als vorsoziale Eigenschaften der Personen vorgestellt, sondern als Ausdruck und Effekt von vielfältigen Machtstrukturen. Entgegen eines Verständnisses von Intersektionalität als Verschränkung etwaiger »Achsen« oder »Strukturgeber«, werden hier historisch konkrete soziale Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse analysiert. So eine relationale Per-
16 Vgl. Walgenbach, Katharina: Gender als interdependente Kategorie. In: Dies./ Dietze, Gabriele/Hornscheidt, Antje/Palm, Kerstin (Hrsg.): Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Opladen 2007, S. 23–64. 17 Lorey, Isabell: Kritik und Kategorie. Zur Begrenzung politischer Praxis durch neuere Theoreme der Intersektionalität, Interdependenz und kritischen Weißseinsforschung. In: Demirovic, Alex (Hrsg.): Kritik und Materialität. Münster 2008, S. 132–148; vgl. auch Loreys Beitrag in diesem Band.
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spektive auf soziale Herrschaftsverhältnisse rückt den umkämpften und sich wandelnden Charakter von sozialen Differenzierungen in den Blick.18 Ein derartiger Zugang negiert den gewaltvollen und in Institutionen materialisierten Charakter von Herrschaftsverhältnissen keineswegs. In den Blick rücken damit aber die historisch veränderlichen Artikulationen und Konjunkturen der Herrschaftsverhältnisse, die nicht zuletzt Reaktionen auf die Widerstände darstellen, die den herrschenden Verhältnissen entgegengesetzt werden, wie etwa Manuela Bojadijev im Zusammenhang mit antirassistischen Kämpfen in Deutschland zeigte.19 So eine machttheoretische intersektionelle Sicht kann schließlich aufzeigen, wo dieses Verwobensein die Form von disziplinierender Unterwerfung oder (gleichsam im Sinne Foucaults) produktiver Kooption und Kooperation annimmt. Und schließlich kann mit ihr gefragt werden, wo sich Momente der Emanzipation, Solidarität und des Widerstands gegen Herrschaft finden. Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses von Intersektionalität sollen im Folgenden aktuelle diskursive, mediale und wissenschaftliche Konstruktionen »des türkisch-muslimischen Mannes« analysiert werden. Statt nach etwaigen kulturellen Eigenarten migrantischer Männlichkeiten zu suchen, wird dabei den herrschenden controlling images über diese »fremden Männer« nachgespürt und gefragt, wie dadurch Marginalisierung gestützt und gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse verschleiert werden. Hierbei zeigt sich, dass die dominanten Konstruktionen nicht losgelöst von Konjunkturen rassistischer, patriarchaler und kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse analysiert und kritisiert werden können.20
18 So haben etwa feministische und antirassistische Kämpfe der letzten Dekaden die Ausformungen von modernen Herrschaftsverhältnissen nicht nur aufgedeckt und kritisiert, sondern diese auch angegriffen und verändert (wenn auch freilich nicht beendet). Forschung, die Intersektionalität relational auffasst, kann und muss solche Verschiebungen der Kräfteverhältnisse nicht aus dem Blick lassen. 19 Vgl. Bojadijev, Manuela: Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration. Münster 2008. 20 Die Ausführungen in diesem Artikel basieren auf Überlegungen und Analysen, die ich im Rahmen meiner laufenden Dissertation zu Konstruktionen türkischmigrantischer Männlichkeiten in Österreich entwickelt habe. Im Sinne des Anspruchs einer Mehrebenenanalyse integriere ich im Rahmen dieser Forschung Analysen zu politischen (Integrations-)Programmen und Gesetzesinitiativen mit
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M ULTIKULTURALISMUSKRITIK I NTEGRATIONSIMPERATIV
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UND
»Einer polnischen Krankenschwester oder einer slowakischen Technikerin ist der Vorzug vor ungelernten Hilfskräften zu geben, in deren Kulturkreis es üblich ist, der Ehefrau zu verbieten, arbeiten zu gehen, und die ihren Töchtern Kopftuch statt Bildungschancen geben. Von der zweiten Kategorie haben wir mit Sicherheit zu viele, 21
von der ersten zu wenig.«
Wie schon früher im Rahmen der sogenannten »Gastarbeitspolitik« stehen auch heute national-ökonomische Nutzenkalküle zentral, wenn es um die Regierung von Migration geht. Doch mit der Änderung politischer und ökonomischer Rahmenbedingungen hat sich auch die Frage, wer gebraucht wird, welche Fähigkeiten MigrantInnen mitbringen sollen und welche Eigenschaften nicht tolerierbar sind, verschoben. Erkennen lässt sich dies etwa in dem oben zitierten Ausschnitt aus einem Artikel, der in der österreichischen Tageszeitung »Die Presse«22 erschien. Unter dem sinnfälligen Titel »Holen wir endlich die Richtigen herein« klagt die Autorin Martina Salomon die in ihren Augen zu undifferenzierte Migrationspolitik der Vergangenheit an und plädiert für ein modernes Migrationsmanagement, das »die Richtigen« nicht nur nach ökonomischen, sondern auch kulturellen Ge-
Analysen medialer und sozialwissenschaftlicher Diskurse über Migration und Männlichkeit. Diese Analysen setze ich in Beziehung mit ethnographischer Forschung mit in Wien lebenden Männern mit türkischem Migrationshintergrund, die sich in künstlerisch-politischem Aktivismus in die Auseinandersetzungen um Konstruktionen »des türkische-muslimischen Mannes« einschreiben. Der Fokus des vorliegenden Artikels weicht von dieser Forschung dahingehend ab, als einerseits der deutsche Kontext mit in die Analyse aufgenommen wurde. Andererseits wird im Rahmen dieses Textes auf die Ebene von dominanten Diskursen und Institutionen fokussiert und die Analyse des ethnographisch erhobenen Materials ausgespart. 21 Auszug aus: Salomon, Martina: Holen wir endlich die Richtigen herein. In: Die Presse, 26.1.2009, online unter: , Zugriff: 6.2.2010. 22 Von den ›Qualitätstageszeitungen‹ Österreichs kann »Die Presse« der bürgerlich-konservativen Mitte zugeschrieben werden.
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sichtspunkten selektiert. Kreisten frühe Diskurse über »Gastarbeiter«, die in Deutschland und Österreich temporär unqualifizierte und schlecht bezahlte Arbeit verrichten sollten, noch vor allem um soziale Fragen wie Arbeitsverhältnisse, Wohnsituation oder Gesundheit, verschob sich der Fokus später auf Fragen von Kultur, Differenz und Integration.23 Bilder von ›fremden Geschlechterverhältnissen‹ und Sexualität gewinnen in diesem Zusammenhang an Bedeutung. Die Verschiebungen fanden jedoch nicht nur auf diskursiver Ebene statt, sondern sie waren eingebettet in sich ändernde soziale Verhältnisse und Kämpfe. So hat etwa Manuela Bojadijev gezeigt, wie sich im Deutschland der späten 1970er Jahre der staatliche Imperativ zur Integration (auch) in Reaktion auf migrantische Kämpfe um Rechte und Ressourcen formierte.24 Vor dem Hintergrund eines Gefahrendiskurses über den »sozialen Sprengstoff der Ausländerghettos« wurden im Rahmen des Integrationsimperativs Forderungen der MigrantInnen, wie jene nach guten Wohnverhältnissen oder verbessertem Zugang zu Bildung staatlicherseits aufgegriffen und in Sanktionsmechanismen umgewandelt: So mussten etwa MigrantInnen in Deutschland ab 1975 nachweisen, dass sie über »ordnungsgemäßen« Wohnraum verfügten und wurde in der »Ausländerpädagogik« die Annahme einer grundsätzlichen Bildungsferne der MigrantInnen, die mitunter auch durch Zwang überwunden werden muss, zum Grundstock dieses pädagogischen Programms. »Integration« auf kultureller und sozialer Ebene konnte damit von den MigrantInnen als Vorbedingung für die Gewährung von BürgerInnenrechten eingefordert werden.25 Dabei sind aktuelle Politiken und Diskurse wie etwa das Zitat oben getragen von der allgemein proklamierten »Erkenntnis«, Migrationsrealitäten zu lange missachtet oder unterschätzt zu haben, was zu einem Scheitern von
23 Vgl. Soysal, Levent: Kultur als Fiktion: Forschen über (türkische) Migration nach Berlin, Deutschland, Europa. In: Hauschild, Thomas/Warneken, Bernd (Hrsg.): Inspecting Germany. Internationale Deutschland-Ethnographie der Gegenwart. Münster 2002, S. 340–362. 24 Vgl. Bojadijev, Manuela: Verlorene Gelassenheit. Eine Genealogie der Integration. In: Kurswechsel 2 (2006), S. 79–87; dies.: Internationale (wie Anm. 19), S. 228f. 25 Bojadijev: Internationale (wie Anm. 19), S. 228f; vgl. dies.: Gelassenheit (wie Anm. 24).
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Integration geführt hätte, dem nun durch eine umso »entschlossenere Gestaltung« von Migration entgegengesteuert werden müsse.26 Die faktische jahrzehntelange Verhinderung der gesellschaftlichen Teilhabe der MigrantInnen durch rassistische juridische und politische Regelungen kann dadurch nicht nur verschwiegen, sondern gar zum Ausdruck eines zu großen Maßes an »multikultureller Toleranz« verkehrt werden. Die populäre, und von SprecherInnen verschiedenster gesellschaftlicher Lager geteilte, Multikulturalismuskritik führte zur Suche nach Konzepten des »Diversitätsmanagements«, die die Präsenz von MigrantInnen zwar anerkennen, dabei aber nationale Kohäsion sicherstellen sollen. Heute herrschen schließlich Politiken, die zwischen selektiver Anerkennung und dem Zelebrieren von kultureller Differenz und disziplinierendem Integrationsimperativ oszillieren.27 So können ökonomisch oder anderswie erfolgreiche MigrantInnen als wichtige Bereicherung der sich liberal gebenden Stadt propagiert werden, während breite Bevölkerungsschichten »mit Migrationshintergrund« aufgrund attestierter kulturell-religiöser Andersartigkeit und mangelnder Integration(-sbereitschaft) unter den Verdacht geraten, eine Gefahr für nationalen Wohlstand und Frieden darzustellen.28 In diesem widersprüchlichen Arrangement vermengen sich nationalökonomische Nutzenkalküle mit rassialisierten und vergeschlechtlichten (und sexualisierten)29 Bildern von Eigenem und Fremdem. Und so kann Salomon im oben zitierten Zeitungsartikel nicht nur auf »Kulturkreise« verweisen, die offensichtlich den Bedürfnissen eines modernen Arbeitsmarktes besser entsprechen als andere, sondern kann sich zur Identifikation dieser »Kulturkreise« auch einem geteilten Wissen über fremde Geschlechterver-
26 Amir-Moazami, Schirin: Islam und Geschlecht unter liberal-säkularer Regierungsführung – Die Deutsche Islam Konferenz. In: Brunner, José/Lavi, Shai (Hrsg.): Juden und Muslime in Deutschland. Recht, Religion, Identität. Göttingen 2009, S. 185–208, S. 185. 27 Vgl. Neuhold, Petra/Scheibelhofer, Paul: Provincialising Multiculturalism. Postkoloniale Perspektiven auf Multikulturalismus, Diversität und Emanzipation. In: Prokla 158 (2010), S. 85–100, S. 93. 28 Vgl. Lanz, Stephan: Berlin aufgemischt: abendländisch – multikulturell – kosmopolitisch? Die politische Konstruktion einer Einwanderungsstadt. Bielefeld 2007. 29 Vgl. Engel, Antke: Bilder von Sexualität und Ökonomie. Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus. Bielefeld 2009.
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hältnisse und darin eingebettete Männlichkeit bedienen. Wie in dominanten Imaginationen über »den türkisch-muslimischen Mann« nachvollziehbar wird, haben sich Selbst- und Fremdkonstruktionen dabei zuletzt gleichsam umgekehrt. Hito Steyerl hat darauf hingewiesen, dass »der Fremde« früher vornehmlich als entwurzelt umherschweifend beschrieben wurde, von dem sich ein stabiles und westliches Selbst abheben konnte. Nun ist es ein flexibler, reflektierter, toleranter Westen, der sich fundamentalistischen Fremden gegenüber sieht, die immer noch an so etwas wie »Kultur« oder »Religion« glauben.30 Am deutlichsten zeigen sich diese Fremdkonstruktionen in aktuellen Auseinandersetzungen um »den Islam« und muslimische MigrantInnen.31 Feministische Theoretikerinnen wie Sherene Razakhaben haben dabei
30 Vgl. Steyerl, Hito: Murphy‘s Law. Politik statt Ontologie. In: Vor der Information (2000), Schwerpunktnummer Antirassistische Öffentlichkeiten, Feministische Positionen, S. 18–21, S. 19. 31 An dieser Stelle eine Anmerkung zum Islam in Deutschland und Österreich: Bezüglich der rechtlich-institutionellen Rahmenbedingen gibt es hier Unterschiede. So ist die islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich, im Gegensatz zu Deutschland, bereits seit 1912 staatlich anerkannt und hat etwa Kompetenzen in der Gestaltung des islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen. Mit der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ) gibt es hier auch eine formell anerkannte institutionelle Vertretung der Gemeinschaft. In Fragen der Regulierung des Kopftuchtragens in Ämtern und Schulen hat Österreich dann auch einen liberaleren Umgang als Deutschland; vgl. Berghahn, Sabine: Deutschlands konfrontativer Umgang mit dem Kopftuch der Lehrerin. In: Dies./Rostock, Petra (Hrsg.): Der Stoff, aus dem Konflikte sind. Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Bielefeld 2009, S. 33–72, S. 56. Diese rechtliche Anerkennung führt jedoch nicht zur gleichberechtigten Teilhabe muslimischer MigrantInnen am gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Leben in Österreich. Dies führen etwa Nora Gresch und Leila Hadj-Abdou auf die exklusionistische Migrationspolitik sowie den mangelnden Ausbau antidiskriminatorischer Gesetze zurück. Die Autorinnen verweisen auch auf die Zunahme islamkritischer Positionen in der Politik; vgl. Gresch, Nora/Hadj-Abdou, Leila: Selige Musliminnen oder marginalisierte Migrantinnen? Das österreichische Paradox der geringen Teilhabe von Kopftuchträgerinnen bei ›toleranter‹ Kopftuchpolitik. In: Ebd., S. 73–100, S. 81. Die Tatsache, dass Bunzl Österreich als Beispiel zur Beschreibung des Aufstiegs der
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aufgezeigt, dass spezifische Geschlechterkonstruktionen ein integraler Bestandteil dieser anti-muslimischen Fremdkonstruktionen sind.32 Für den vorliegenden Text ist dabei relevant, dass diesen Diskursen – auch wenn sie meist explizit über »fremde Frauen« sprechen – stets auch spezifische Bilder über »fremde Männer« zugrunde liegen und diese perpetuieren.33 Für die Konstruktion »des türkisch-muslimischen Mannes« werden dabei Bilder archaischer Kultur und gefährlicher Traditionen zu Imaginationen eines patriarchalen Übermannes vermengt. Im Folgenden werde ich die ethnisierenden und maskulinisierenden controlling images herausarbeiten, die den Diskurs über »den türkisch-muslimischen Mann« prägen, und zeigen, wie sich diese Bilder in institutionellen Arrangements materialisieren.
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ANATOLISCHEN
D ÖRFERN …
Kulturalistische Studien über in Deutschland lebende Männer mit türkischem Migrationshintergrund, wie etwa Ahmet Topraks »Das schwache Geschlecht – die türkischen Männer«,34 führen uns die patriarchalen Geschlechtervorstellungen der Interviewpartner vor und zeigen, wie überzeugt diese Männer ihrer Kultur und den damit einhergehenden Männlichkeitsvorstellungen ihrer dörflichen Herkunftswelt anhängen. Was die kulturalistische Analyse jedoch übersieht, sind die sozialen Prozesse, durch die sol-
Islamophobie in Europa heranzieht, verdeutlicht schließlich die Kluft zwischen rechtlicher Gleichstellung und gesellschaftlicher Realität und verweist auf diesbezügliche Parallelen zu anderen europäischen Staaten; vgl. Bunzl, Matti: Between anti-Semitism and Islamophobia: Some Thoughts on the New Europe. In: American Ethnologist 32 (2005), S. 499–508. Mit Blick auf die in diesem Artikel interessierenden Fragen erscheinen Österreich und Deutschland also durchaus vergleichbar. 32 Vgl. Razack, Sherene: Imperilled Muslim Women, Dangerous Muslim Men and Civilized Europeans: Legal and Social Responses to Forced Marriages. In: Feminist Legal Studies 12 (2004), S. 129–174. 33 Vgl. Scheibelhofer, Paul: Die Lokalisierung des Globalen Patriarchen. Zur diskursiven Produktion des »türkisch-muslimischen Mannes« in Deutschland. In: Potts/Kühnemund: Mann (wie Anm. 4), S. 39–52. 34 Toprak: Geschlecht (wie Anm. 10).
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che Konstruktionen »echter türkischer Männlichkeit« in Umlauf gebracht und institutionell verankert werden und damit zu einem Identifikationsangebot für Männlichkeitskonstruktionen unter spezifischen sozialen Bedingungen werden. In diesem Sinne argumentiert die US-amerikanische Kulturanthropologin Katherine Ewing, dass die Männer der ersten und zweiten türkischen Generation, die sie für ihre ethnographische Studie in Berlin interviewt hat, nicht einfach inneren kulturellen Männlichkeitsvorstellungen folgen, sondern sich viel eher einen in Deutschland weit verbreiteten Diskurs strategisch aneignen. Diesem »rural Turkish discourse« zufolge, den Ewing nicht nur in politischen Debatten und populären Medien wiederfand, sondern auch von Jugend- und SozialarbeiterInnen erzählt bekam, hätten türkische Migranten ihre, im emblematischen anatolischen Dorf verankerte, Männlichkeit gleichsam nach Deutschland importiert, hier über die Jahrzehnte konserviert, um sie schließlich ungebrochen an ihre Söhne zu übertragen.35 So stereotypisierend dieser Diskurs ist, wurde er dennoch von einigen Interviewpartnern Ewings angeeignet,36 etwa von eingewanderten Männern der Elterngeneration, die sich mit dem Bild einer stabilen, grundsätzlich von der deutschen zu unterscheidenden Männlichkeit identifizieren konnten, nicht zuletzt, um etwa Macht- und Kontrollansprüche über Familienmitglieder kulturalistisch zu legitimieren. Aber auch Söhne der Migranten griffen diesen Diskurs auf, etwa um sich von ihren Eltern oder den – medial so breit diskutierten – »problematischen Türken« abzuheben. In diesem Sinne wäre es falsch, controlling images, wie sie dem »rural Turkish discourse« eingelagert sind, als rein repressiv wirkende Herrschaftsinstrumente zu verstehen. Die Tatsache, dass diese Bilder auf vielfältige Weise und von unterschiedlichsten AkteurInnen (und nicht zuletzt von denjenigen, deren Ausgrenzung durch diese Bilder legitimiert wird) aufgegriffen werden, hat Patricia Hill Collins etwa im Zusammenhang mit der widersprüchlichen Funktion maskulinistischen Gangster-Images im US-amerikanischen Hip-Hop analysiert.37 Wie sich in Ewings Studie zeigt, konnten die von ihr interviewten Männer verbreitete Bilder türkischer Männlichkeit nut-
35 Ewing, Katherine: Stolen Honor. Stigmatizing Muslim Men in Berlin. Stanford 2008, S. 54. 36 Vgl. Ewing: Honor (wie Anm. 35), S. 94ff. 37 Collins: Politics (wie Anm. 9), S. 160.
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zen, um sich eine vergleichsweise positive Sprecherposition zu sichern. Widersprüchliche Prozesse der Aushandlung und Reproduktion von Stereotypen gehen dabei Hand in Hand.38 Die kulturalistischen Bilder archaischer türkischer Männlichkeit erfüllen unterschiedlichste Funktionen: Sie legitimieren Rassismus, werden aber auch als Identifikationsfolie angeeignet sowie im Sinne eines Distinktionsmittels eingesetzt. Und es ist wohl auch diese vielfältige Anwendbarkeit von controlling images, die ihr produktives Funktionieren ermöglichen.
…
UND KRIMINELLEN
G ANGS
Besonders im Reden über die (Enkel-)Söhne der türkischen Einwanderer erhalten dominante Diskurse oft eine alarmistische Note. Aufbauend auf der These strikter kultureller Differenzen zwischen der eingewanderten Elterngeneration und der Mehrheitsbevölkerung und einem Verständnis von Integration als Prozess einer linear stattfindenden Übernahme von »Normen und Werten« der Mehrheitsgesellschaft, hofft man, dass sich Integrationsprozesse zumindest zwischen den Generationen erkennen lassen.39 In soziologischen Studien werden Einstellungen und »Integrationsbereitschaft« der Jugendlichen der so genannten zweiten und dritten Generation abgetestet,40 in kriminologischen Studien wird das Gefahrenpotential, das von diesen Jugendlichen und »ausländischen Banden« ausgeht, vermessen und bedrohliche Zukunftsszenarien gezeichnet.41 In impressionistisch geschriebenen Bestsellern wie
38 Ewing: Honor (wie Anm. 35), S. 95. 39 Vgl. Scheibelhofer, Paul: Migrant Masculinity beyond Linear Assimilation: Young Turkish Migrant Men negotiate the Meaning of Gender and Generation. In: Kolarova, Katerina/Sokolova, Vera (Hrsg.): Gender & Generation. Prag 2007, S. 76–92. 40 Vgl. etwa Weiss, Hilde (Hrsg.): Leben in zwei Welten. Zur sozialen Integration ausländischer Jugendlicher der zweiten Generation. Wiesbaden 2007. 41 Besonders medienwirksam produzieren etwa die ForscherInnen des Kriminologischen Instituts Niedersachsen regelmäßig Studien, in denen Jugendliche, nach Herkunftsland ihrer Eltern sortiert, auf Gewaltverhalten hin befragt werden. Aus diesen Studien gehen die männlichen »Türken« wiederholt als Gruppe mit dem höchsten Gewaltpotential hervor. Erklärt wird dies von den Forschern vor allem
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Necla Keleks »Die verlorenen Söhne« wird schließlich explizit ausgesprochen: Die jungen Männer sind getrieben von archaischen Ehrvorstellungen, die weder Raum für Reflexion und individuelle Moral, noch für Unrechtsbewusstsein lassen, sodass eine kriminelle Laufbahn für diese Jugendlichen gleichsam vorprogrammiert erscheint.42 Diese Darstellungen müssen jedoch in Frage gestellt werden, wenn der soziale Kontext und die Männlichkeitskonstruktionen, die dieser produziert, in die Analyse miteinbezogen werden. So zeigt etwa Susanne Spindlers Studie über junge inhaftierte migrantische Männer in Deutschland, wie diese von früher Kindheit mit Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen konfrontiert werden, die zu ihrer schrittweisen Desintegration aus gesellschaftlichen Institutionen wie Schule und Arbeitsmarkt führen. Gängige Analysen kritisierend, nach denen etwa die Cliquenbildung der jungen delinquenten Männer durch ihr geteiltes Ehrkonzept zu erklären sei, verweist Spindler auf die komplexen Zusammenhänge, die für diese Zusammenschlüsse relevant sind.43 Rassismuserfahrungen oder Schichtzugehörigkeit spielten etwa ebenso eine Rolle, wie der gemeinsame Kampf um öffentlichen Raum oder der gemeinsame Konsum illegalisierter Drogen. Diese Cliquen, so Spindler, »fungieren überwiegend als männlicher Solidaritätsverbund. Es zeigen sich ähnliche Konsti-
»kulturtheoretisch«: So würden diese Jungen mit Männlichkeitsvorstellungen aufwachsen, deren starke Orientierung am Schutz persönlicher und familiärer Ehre dazu führen, dass in diesen Familien »die Demonstration der eigenen Männlichkeit nicht nur gewaltsam nach außen, sondern auch nach innen, d.h. innerhalb der Familie erfolgt«; Baier, Dirk/Pfeiffer, Christian: Gewalttätigkeit bei deutschen und nichtdeutschen Jugendlichen. Befunde der Schülerbefragung 2005 und Folgerungen für die Prävention. Hannover 2007, S. 4. Diese Orientierung übernehmend, sind diese jungen Männer demnach gleichsam zur Gewalt vorprogrammiert. Ähnliche Ergebnisse und Schlussfolgerungen finden sich auch in Baier, Dirk/Pfeiffer, Christian/Rabold, Susann/Simonson, Julia/Knappes, Cathleen: Kinder und Jugendliche in Deutschland: Gewalterfahrungen, Integration, Medienkonsum. Zweiter Forschungsbericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des KFN. Hannover 2010. 42 Kelek, Necla: Die Verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkischmuslimischen Mannes. Köln 2006. 43 Spindler, Susanne: Corpus Delicti. Männlichkeit, Rassismus und Kriminalisierung im Alltag von jugendlichen Migranten. Münster 2006, S. 250.
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tutionsprinzipien wie in anderen männlichen Seilschaften«44 jedoch mit dem ausschlaggebenden Unterschied, dass sich die Cliquen am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie befinden. In diesem Kontext wird der eigene Körper zu einem der wenigen vorhandenen Ressourcen für die jungen Männer. Und dieser wird nicht nur trainiert, sondern auch eingesetzt, um sich Ressourcen anzueignen und sich in Straßenkämpfen mit anderen Männern zu messen. In diesem Zusammenhang treten männliche Polizisten einerseits als gefährliche Gegner, deren gewalttätiger Rassismus institutionell gedeckt ist, in Erscheinung. Sie werden von den jungen Männern aber auch als »›ebenbürtige‹ Gegner«45 in Straßenkämpfen anerkannt, mit denen es sich zu messen lohnt. In einer Situation, wo den jungen Männern andere Formen der gesellschaftlichen Partizipation als Männer verwehrt bleiben, stellen diese Kämpfe eine Möglichkeit der Teilhabe an den, für männliche Herrschaft konstitutiven, »ernsten Spiele(n) des Wettbewerbs« unter Männern dar.46 In Arbeiten wie Spindlers47 wird deutlich, dass Ethnisierungen von Männlichkeitskonstruktionen in diesem Zusammenhang als dialektischer Prozess erkannt werden muss. So erfahren die Jungen von Kindheit an rassistische Zuschreibungen und Platzzuweisungen. Diese geteilten Rassismuserfahrungen können nicht nur zur Bildung von Cliquen führen, sondern werden mitunter auch als Ausgangspunkt für aggressive und revanchistische Selbstbehauptung übernommen. Diese Zusammenhänge ausblendend, evozieren skandalisierende Medienberichte über »Migrantengangs« controlling images gefährlicher fremder Männer, deren Sozialisation in einer von Ehrvorstellungen geleiteten Männerwelt sie gleichsam zur Delinquenz treibe. Annahmen über gefährlich
44 Spindler: Corpus Delicti (wie Anm. 43), S. 250. 45 Ebd., S. 261. 46 Bourdieu, Pierre: Die Männliche Herrschaft. In: Dölling, Irene/Krais, Beate (Hrsg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis. Frankfurt a.M. 1997, S. 153–217, S. 203. 47 Vgl. auch Weber, Martina: Ethnisierung und Männlichkeitsinszenierungen. Symbolische Kämpfe von Jungen mit türkischem Migrationshintergrund. In: Riegel, Christine/Geisen, Thomas (Hrsg.): Jugend, Zugehörigkeit und Migration. Subjektpositionierungen im Kontext von Jugendkultur, Ethnizitäts- und Geschlechterkonstruktionen. Wiesbaden 2007, S. 307–322; Alexander, Claire: The Asian Gang. Ethnicity, Identity, Masculinity. Oxford 2000.
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fremde Männlichkeit und Sexualität vermengen sich dabei mit einem spezifischen Klassendiskurs: So wird die prekäre soziale Lage vieler MigrantInnen und ihrer Kinder oftmals zwar erwähnt, jedoch nicht um diese Situation zu kritisieren und Strategien der Betroffenen nachvollziehbar zu machen. Vielmehr wird Armut und Prekarität im Sinne des Diskurses um »dangerous classes«48 als zusätzliches Gefahrenpotenzial gesehen, durch das die gefährlichen Eigenschaften fremder Männlichkeit verstärkt würden.49 Während so unangenehme Diskussionen um anhaltende Diskriminierungsstrukturen in der Schule oder am Arbeitsmarkt umgangen werden können, legitimieren die controlling images den Ruf nach härteren Disziplinierungsund Integrationsmaßnahmen für MigrantInnen und ihre Kinder.
V ON LOKALEN
UND GLOBALEN
P ATRIARCHEN
Dass Diskurse um »den türkisch-muslimischen Mann« dabei von der Verknüpfung lokaler und globaler Bezüge leben, kann etwa in Henryk Broders Bestseller »Hurra wir kapitulieren!« nachgelesen werden. Dort klagt Broder die in Europa grassierende multikulturelle Toleranz an, die er messerscharf als feige Angst »des Westens« vor Repressalien »der Muslime« entlarvt. Ebenso hart geht Broder mit den ewig naiven SoziologInnen und SozialarbeiterInnen um, die für mehr Verständnis für die »jungen Männer, die ihre Schwestern umbringen« plädierten.50 Broder beruft sich auch auf Kelek um zu argumentieren, dass diese »Jungs« tatsächlich nur austesten, wie weit sie ihren Hass auf den Westen ausleben können, bis deutsche Autoritäten endlich
48 Vgl. Morris, Lydia: Dangerous Class. The Underclass and Social Citizenship. London 1994, S. 18f. 49 Haritaworn, Jin: Kiss-ins, Demos, Drag: Sexuelle Spektakel von Kiez und Nation. In: AG Queer Studies (Hrsg.): Verqueerte Verhältnisse. Intersektionale, ökonomiekritische und strategische Interventionen. Hamburg 2009, S. 41–65, S. 58. Freerk Huisken zeichnet pointiert nach, wie sich dieser Prozess in den Diskussionen um »Problemschulen« in Deutschland (wie der »Rütli-Schule«) manifestiert; vgl. Huisken, Freerk: Über die Unregierbarkeit des Schulvolks. Rütli-Schulen, Erfurt, Emsdetten, u.s.w. Hamburg 2007. 50 Broder, Henryk: Hurra wir kapitulieren! Von der Lust am Einknicken. Berlin 2006, S. 97.
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aktiv werden. Das eigentliche Problem, so Broder schließlich, sei, dass »eine direkte Linie von der Al Qaida im Irak und der Intifada in Palästina zu den Jugendlichen mit ›Migrationshintergrund‹ in Neukölln« führe.51 Was sich an Broders Text dabei erkennen lässt, ist, dass »der türkisch-muslimische Mann« heute für viel mehr als für sich selbst steht. So negativ Darstellungen wie jene von Broder sind,52 so sind diese doch offensichtlich auch von einer Faszination für den darin konstruierten türkisch-muslimischen »Übermann« getragen. Die Darstellungen weisen dabei jene typische Ambivalenz von Abscheu und Begehren auf, wie sie auch im Zusammenhang mit rassistischen Konstruktionen Schwarzer Männlichkeit beschrieben wurden.53 Während dort jedoch die Topoi von unzivilisierter Wildheit und Hypersexualität zentral stehen, scheint hier die Faszination vor allem von dem Bild ungebrochener männlicher Herrschaft auszugehen und einer Männlichkeit, die nicht nur über die »eigenen Frauen« dominiert, sondern es sogar vermag, die »westliche Welt« zu feminisieren. Vordergründig spricht dieser Diskurs aber nicht von Faszination, sondern von der Notwendigkeit, Souveränität wiederzuerlangen, um wieder »Herr im Haus« zu werden. Sei es im »Kampf der Kulturen« auf globalem Niveau oder im harten integrationspolitischen Durchgreifen gegen Migranten und ihre Söhne in den Straßen Berlins und anderenorts. Ein Blick auf die Migrations- und Integrationsgesetzgebung zeigt, dass derartige Imaginationen Eingang in staatliche Maßnahmen und Gesetzgebungen genommen haben und dort handfeste Effekte zeitigen. Vor dem Hintergrund eines allgemeinen Gefahrendiskurses werden disziplinierende und pädagogisierende Integrationsprogramme entwickelt, die nicht zuletzt auf männliche Migranten abzielen und dabei auf (vermeintlich) feministische
51 Ebd., S. 115. 52 Vgl. etwa auch Hodaie, Nazli: Vom Orientalismus zur Patriarchatskritik. Selbstund Orientwahrnehmung in der deutschen Presse. In: Dietze, Gabriele/Brunner, Claudia/Wenzel, Edith (Hrsg.): Kritik des Okzidentalismus. (Neo-)Orientalismus und Geschlecht. Bielefeld 2009, S. 127–136, für weitere Beispiele in der deutschen Presse. 53 Vgl. Collins: Politics (wie Anm. 9), S. 158; Hall, Stuart: Ideologie, Identität, Repräsentation (= Ausgewählte Schriften, Bd. 4). Hamburg 2004, S. 116; Pinar, William: The Gender of Racial Politics and Violence in America. Lynching, Prison Rape, & the Crisis of Masculinity. New York 2001.
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Diktionen zurückgreifen.54 So werden etwa muslimische Migranten im Baden-Württembergischen Einbürgerungsverfahren gezielt auf ihre Toleranz gegenüber Frauengleichstellung und Homosexualität abgetestet. Ein Antrag auf Einführung des Tatbestands »Kulturdelikt«,55 den die konservative österreichische Innenministerin Maria Fekter im Jahr 2008 vorlegte, war von derselben Rationalität getragen. Mit Blick auf die zuvor beschriebenen Ausführungen Bojadijevs zur Integrationspolitik als staatliches Mittel der Abwehr von Forderungen der MigrantInnen, kann hier von einem aktuellen Prozess der Kooption emanzipatorischer Forderungen gesprochen werden. Staatliche Gesetzgebung bezieht sich dabei explizit auf den Schutz der Rechte der (migrantischen) Frau und greift feministische Diskurse auf, um rassistische Politiken zu legitimieren.56 Die Idee von »Kultur und Tradition«, die sich im Diskurs über »den türkisch muslimischen Mann« etabliert hat, vermag es, die Gewalt der »Anderen« als komplett überdeterminiert von Kultur zu beschreiben, während vergleichbare Praktiken unter unmarkierten »Einheimischen« (etwa das Bedrohen, Schlagen, Einsperren oder Ermorden von (Ex-)Freundinnen und Gattinnen »aus Leidenschaft«) als »tragische Einzelfälle« verkannt bleiben können, die vermeintlich nichts mit patriarchalen, heterosexistischen Strukturen der Mehrheitskultur zu tun haben. Während sich staatliche Politiken damit im Kampf gegen archaische Männlichkeit positionieren können, gerät aus dem Blick, dass es auch staatliche Politiken selbst sind, die Ethnisierung und Maskulinisierung in MigrantInnencommunities vorantreiben. Sei es durch konkrete rechtliche Einschrän-
54 Vgl. Ha, Kien Nghi/Schmitz, Markus: Der nationalpädagogische Impetus der deutschen Integrations(dis)kurse im Spiegel post-/kolonialer Kritik. In: Mecheril, Paul (Hrsg.): Cultural Studies und Pädagogik. Kritische Artikulationen. Bielefeld 2006, S. 225–262. 55 Dadurch sollten in Österreich verbotene Straftaten nochmals explizit verboten werden, da Praktiken wie etwa Ehrenmord, laut Ministerin, besonders von muslimischen Migranten aufgrund ihrer Tradition möglicherweise nicht als Unrecht erkannt würden. 56 Vgl. Erdem, Esra: In der Falle einer Politik des Ressentiments. Feminismus und Anti-Islamismus. In: Hess, Sabine/Binder, Jana/Moser, Johannes (Hrsg.): No Integration?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa. Bielefeld 2009, S. 187–206.
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kungen, wie die Bindung der Aufenthaltserlaubnis von »nachgezogenen« Ehefrauen an eine »aufrechte Ehe«, wodurch eine etwaige Trennung für die Frau einen Verlust des Aufenthaltstitels bedeuten kann,57 oder sei es durch eine allgemeine, von Ethnisierung geprägte Integrationspolitik. So spricht Amir-Moazami von neuen staatlichen Regierungsformen über Religion und »religiösen Dialog« mit muslimischen Gruppen in Deutschland.58 Im Zuge dieses »Dialogs« werden bestimmte muslimische Vereine als Repräsentanten anerkannt und zu Partnern in der Regierung der MigrantInnen gemacht. Auf die kulturalisierenden und maskulinisierenden Effekte so einer Politik haben etwa Uma Narayan59 oder Himani Bannerji hingewiesen. So verweist Bannerji darauf, dass es für Regierungen viel einfacher sei, »to tolerate or recognize cultural nationalism or religious fundamentalism than class based social movements among immigrants«.60 Diese Politik der Anerkennung von kulturellen oder religiösen Communities basiert auf der Annahme gleichsam »natürlicher« sozialer Gruppen, die ihrerseits intern nicht von Differenz oder Ambiguität geprägt sind. Um für diese Form der Anerkennung in Frage zu kommen, wird die Konstruktion und Wahrung kultureller Authentizität zentral für MigrantInnencommunities. Dies befördert einen Prozess, den Narayan als »selective labelling« bezeichnet.61 Bestimmte Praktiken, Gebote und Verbote werden dabei als inhärenter Bestandteil der eigenen Kultur definiert und deren Nichteinhaltung als Illoyalität oder »Verrat an der Gruppe« sanktioniert. Damit rückt die Frage der Definitionsmacht darüber, welche Praktiken und Normen als authentisch gesehen werden, in den Fokus, und hier sind es zumeist konservative, maskulinistische Kräfte, die sich durchsetzen können.62
57 Vgl. für Österreich: Ongan, Gamze: Zuschreiben oder ernsthaftes Bekämpfen. Zwangsverheiratung aus der Perspektive der Bildungs-, Beratungs- und Therapieeinrichtung Peregrina. In: Sauer, Birgit/Strasser, Sabine (Hrsg.): Zwangsfreiheiten. Multikulturalität und Feminismus. Wien 2008, S. 157–171. 58 Amir-Moazami: Islam (wie Anm. 26), S. 199. 59 Narayan, Uma: Undoing the »Package Picture« of Cultures. In: Signs: Journal of Women in Culture and Society 25, 4 (2000), S. 1083–1086. 60 Bannerji, Himani: The Dark Side of the Nation. Essays on Multiculturalism, Nationalism and Gender. Toronto 2000, S. 7. 61 Narayan: Undoing (wie Anm. 59), S. 1085. 62 In den Worten Narayans ist selective labelling ein Prozess »whereby those with social power conveniently designate certain changes in values and practices as
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Das grundlegende Kulturverständnis von konservativen InnenministerInnen und anerkannten SprecherInnen von religiösen oder ethnischen Communities scheint sich dann auch oft kaum zu unterscheiden. Die Interessen von – weiblichen und männlichen – MigrantInnen, die aus dem normativen kulturalistischen Bild herausfallen, werden durch so eine Politik ausgeklammert, was zur Schwächung ihrer Position in Aushandlungskämpfen über die »eigene Kultur« beziehungsweise über politische Forderungen jenseits der Kulturdiktion führt.
F AZIT Sara Ahmed argumentiert, dass es keineswegs selbstverständlich ist, welche Gruppen von Menschen zu einer bestimmten Zeit als Fremde gelten. Vielmehr sind es konkrete politische, sozio-ökonomische und diskursive Formationen, die bestimmte Gruppen zu fetischisierten Fremden machen.63 Mit einer intersektionellen Perspektive, wie sie hier verfolgt wurde, kann diesem fetischisierenden Wissen über den Fremden und den Institutionen, die dieses Wissen perpetuieren, nachgespürt werden. Verlässt man den sicheren Boden kulturalistischer Zuschreibungen, stellen sich Männlichkeitskonstruktionen im Kontext von Migration als kompliziertes Verhältnis dar. Unter Bezugnahme auf Arbeiten zu Konstruktionen Schwarzer Männlichkeit im US-amerikanischen Kontext, wurde in diesem Beitrag der Versuch unternommen, eine intersektionelle Perspektive auf dieses Verhältnis zu entwickeln. Eine derartige Perspektive ermöglicht (und erfordert) eine umfassende Kontextualisierung und Historisierung der Analyse. Eine intersektionelle Forschung verlangt dabei, Männlichkeiten, die als anders markiert sind, nicht als losgelöst von konkreten sozialen Herrschaftsverhältnissen und Machkämpfen zu denken. Das eingangs angesprochene und von Patricia Hill Collins entworfe-
consonant with cultural preservation and others as cultural loss and betrayal. Selective labelling allows changes approved by socially dominant groups to appear consonant with the preservation of essential values or core practices of a culture, while depicting changes that challenge the status quo as threats to that culture.« Narayan: Undoing (wie Anm. 59), S. 1085. 63 Ahmed, Sara: Strange encounters. Embodied Others in Post-Coloniality. London 2000.
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ne Konzept der controlling images konnte für die hier entwickelte Analyse dominanter Konstruktionen »des türkisch-muslimischen Mannes« produktiv gemacht werden. Wie sich zeigte, verschränken sich Annahmen über Ethnizität, Sexualität und Männlichkeit in den controlling images über »den türkisch-muslimischen Mann«. Die Bezeichnung images darf dabei nicht dazu verleiten, diese Konstruktionen lediglich als frei schwebende Zerrbilder zu betrachten. Wie in der intersektionellen Mehrebenenperspektive verdeutlicht werden sollte, entfalten controlling images gerade durch ihre Verankerung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern und Ebenen ihre Wirkung und schaffen damit konkrete soziale Effekte. Um diesem Umstand analytisch Rechnung tragen zu können, muss jedoch der methodische Individualismus, von dem viele soziologische Studien über »den türkisch-muslimischen Mann« getragen sind, überwunden und auch konkrete politische Strategien der Regierung von Differenz in den Blick genommen werden. Eine intersektionelle Perspektive auf Migration und Männlichkeit, die versucht, Effekte solch staatlicher Regierungspraktiken in eine umfassende Analyse komplexer Herrschaftsverhältnisse zu integrieren,64 kann dabei zeigen, inwiefern vergeschlechtlichte Fremdkonstruktionen den dominanten Strategien im Umgang mit Migration und Integration eingelagert sind und diese perpetuieren. Wie gezeigt wurde, greifen ethnisierende und disziplinierende Politiken des neuen Migrations- und Diversitätsmanagements controlling images über »den türkisch-muslimischen Mann« auf und nutzen diese in vielfältiger Weise. Bilder von autark-patriarchaler Kultur und gefährlich-fundamenalistischer Religiosität werden bedient, um die Gruppe der »türkisch-muslimischen Männer« unter Generalverdacht zu stellen und ihnen damit den Zugang zu »patriarchalen Dividenden«65 zu erschweren. Auf Basis der kulturalisierenden Fremdkonstruktion kann über problematische Männlichkeit der Fremden gesprochen werden, ohne dass damit gleichzeitig normative Männlichkeit und die Privilegien, die damit verbunden sind, ebenfalls ins Rampenlicht rücken. Diese Strategie legiti-
64 Vgl. Sauer, Birgit/Wöhl, Stefanie: Governing Intersectionality. Ein kritischer Ansatz zur Analyse von Diversitätspolitiken. In: Klinger, Cornelia/Knapp, Gudrun-Axeli (Hrsg.): ÜberKreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz. Münster 2008, S. 249–273. 65 Vgl. Connell, Raewyn W.: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Wiesbaden 2006, S. 100.
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miert Marginalisierung und immunisiert herrschende Ungleichverhältnisse vor kritischer Reflexion,66 während »türkisch-muslimische Männlichkeit« als dekontextualisiertes Problem thematisiert und regiert werden kann. Controlling images sind den Personen, über die sie sprechen, aber nicht lediglich äußerlich, sondern stellen auch Identifikationsmöglichkeiten dar. Wie in kritischen empirischen Studien gezeigt wurde, wirken die dominanten Diskurse und institutionellen Arrangements strukturell desintegrierend. Vor dem Hintergrund von ökonomischer Prekarisierung und Marginalisierung stellt die Übernahme und Aneignung herrschender Bilder für die betroffenen Männer eine Möglichkeit dar, sich als Männer zu behaupten und – wenn auch mit schlechten Karten – in die ernsten Spiele der Männer einzusteigen. Selbstethnisierung liefert in diesem Zusammenhang Ressourcen für die Rationalisierung und Legitimierung von Machtausübung. Während die intersektionelle Analyse helfen kann, die komplizierten Verhältnisse von Migration und Männlichkeit zu analysieren, sollte sie sich damit nicht begnügen. Verstanden als Teil emanzipativer Gesellschaftskritik, können intersektionelle Analysen dabei helfen, die sozialen und politischen Strukturen aufzudecken, die Herrschaftsverhältnisse entlang Klasse, Geschlecht und Rassialisierung perpetuieren und damit konservativem Maskulinismus Vorschub leisten. In diesem Zusammenhang können aber auch die Momente der Friktion und des Widerspruchs, der Infragestellung und des Widerstands gegen die herrschenden Verhältnisse und darin eingebetteter Bilder eigener und fremder Männlichkeit ausgelotet werden. Wo werden die hegemonialen Bildpolitiken über den »fremden Mann« brüchig und verweisen auf Widersprüche normativer Männlichkeit? In welchen Zusammenhängen entwickeln etwa migrantische Männer Praxen, Texte und Bilder, die sich einfachen Zuschreibungen und Identifikationen versperren und fetischisierende Verobjektivierung in Frage stellen? Wo entstehen Räume, die sich der kulturalistischen Diversitätspolitik entziehen und Koalitionen jenseits ethnisierter, vergeschlechtlichter oder rassialisierter Grenzziehungen geschlossen werden? Diese und ähnlich schwierige Fragen sollte eine kritische Forschung zu Männlichkeit im Kontext von Migration stellen.
66 Ein Prozess, den Sarah Song als »diversionary effect« bezeichnet; Song, Sarah: Majority Norms, Multiculturalism, and Gender Equality. In: American Political Science Review 99 (2005), S. 473–489, S. 476.
Weiblich, proletarisch, tschechisch Perspektiven und Probleme intersektionaler Analyse in der Geschichtswissenschaft am Beispiel des Wiener Textilarbeiterinnenstreiks von 1893
C HRISTIAN K OLLER
A USGANGSLAGE : D ER » ERSTE F RAUENSTREIK « UND SEINE M EMORIA Der Wiener Textilarbeiterinnenstreik von 1893 wurde in der sozialdemokratischen Memoria unter dem Label »Erster Frauenstreik in Wien« rasch zu einem Ursprungsmythos für die Integration der Frauen in die Arbeiterbewegung stilisiert. Der Streik war zwar nicht der erste hauptsächlich von Frauen getragene Arbeitskampf Österreichs – so hatten bereits in der protoindustriellen Zeit 1769 in der Batistmanufaktur Gabriel Metsch in Stockerau 14 Arbeiterinnen gestreikt,1 und 1888 ereignete sich in Linz ein Tabakarbeiterinnen-
1
Vgl. Otruba, Gustav: Industrietopographie Niederösterreichs vom Zeitalter des Merkantilismus bis zum ersten Weltkrieg. Wien 1956, S. 132; ders.: Zur Geschichte der Frauen- und Kinderarbeit in Gewerbe und Manufakturen. In: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich NF 34 (1958/60), S. 143–179, S. 179; Pfeisinger, Gerhard: Arbeitsdisziplinierung und frühe Industrialisierung: 1750–1820. Wien/Köln/Weimar 2006, S. 170.
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streik.2 Der Ausstand der Textilarbeiterinnen von 1893 scheint aber der erste Frauenstreik in der k. u. k. Reichshaupt- und Residenzstadt gewesen zu sein und er sorgte über die Reichsgrenzen hinaus für Aufsehen.3 Auch in der Folgezeit blieben Frauenstreiks in der Donaumonarchie eher eine Seltenheit. Von den cisleithanischen Streiks der Jahre 1894 bis 1902 waren die Ausständigen in 88,9 Prozent der Fälle überwiegend männlich und in nur 11,1 Prozent überwiegend weiblich.4 In der Periode zwischen 1904 und 1913, in der die Streiktätigkeit stark zunahm, waren dann 16,7 Prozent aller Streikenden Frauen. Erst während des Ersten Weltkrieges stieg aufgrund der forcierten Beschäftigung weiblicher Arbeitskräfte in der Kriegsökonomie auch ihr Anteil an den Streikenden an. Im Jahre 1915 waren es 15,8 Prozent, 23,6 Prozent im Jahre 1916 und 23,7 Prozent 1917.5 Ausgangspunkt des Textilarbeiterinnenstreiks von 1893 war die Appreturfabrik Heller & Sohn in Wien/Gumpendorf, die über etwa 300 Angestellte verfügte.6 Am 2. Mai 1893 hielt dort die 17-jährige Packerin Amalie Ryba in der Arbeitspause eine Rede über die Vorteile gewerkschaftlicher Organisation. Sie wurde auch von einem Vorgesetzten mitgehört, was zu Rybas fristloser Entlassung führte. Am nächsten Tag erfolgte die Arbeitsniederlegung, nachdem die Firma die Wiedereinstellung Rybas abgelehnt hatte und eine Arbeitszeitverkürzung von zwölf auf zehn Stunden pro Tag auf die lange Bank schieben wollte.7 Am Nachmittag fand die erste, improvisierte Streikversammlung statt, an der auch die Arbeiterinnen der Appreturfabrik Maier teilnahmen. Tags darauf traten die Arbeiterinnen der Textil-
2
Vgl. Konrad, Helmut: Das Entstehen der Arbeiterklasse in Oberösterreich. Wien
3
Vgl. z.B. Times, 8.5.1893.
4
Die Arbeitseinstellungen und Aussperrungen in Österreich während des Jahres
5
Rigler, Edith: Frauenleitbild und Frauenarbeit in Österreich vom ausgehenden
u.a. 1981, S. 294–296.
1901. Wien 1904, S. 150. 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. München 1976, S. 85. 6
Vgl. dazu auch Pawlik, Gabriele: Amalie Seidl: Die Lysistrate der Arbeiterinnen. In: Prost, Edith (Hrsg.): »Die Partei hat mich nie enttäuscht ...«: Österreichische Sozialdemokratinnen. Wien 1989, S. 223–252, S. 223f.; Koller, Christian: Streikkultur: Performanzen und Diskurse des Arbeitskampfes im schweizerisch-österreichischen Vergleich (1860–1950). Münster/Wien 2009, S. 253–267.
7
Arbeiterinnen-Zeitung, 5.5.1893.
WEIBLICH, PROLETARISCH , TSCHECHISCH
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fabriken Biehler und Gumpinger dem Streik bei, so dass die Gesamtzahl der Streikenden auf rund 700 anstieg.8 Gefordert wurden nebst der Wiedereinstellung Rybas und einer Arbeitszeitverkürzung die Einführung eines Mindestlohns, der arbeitsfreie 1. Mai sowie »eine anständige Behandlung von Seite der Werkführerinnen«,9 die in den Fabriken als einzige mit »Frau« angesprochen werden durften.10 Die vier bestreikten Fabrikinhaber beschlossen nun gemeinsam, den Streikenden die Wiederaufnahme der Arbeit zu den bisherigen Konditionen anzubieten, was diese aber ablehnten. Der Ausstand endete schließlich nach 14 Tagen mit einem durchschlagenden Erfolg für die Arbeiterinnen. Neben der Wiedereinstellung Rybas und der Einführung des Zehnstundentages gewährten die Arbeitgeber auch den arbeitsfreien 1. Mai sowie einen minimalen Wochenlohn von vier Kronen, mehr, als die meisten Arbeiterinnen bislang verdient hatten. Während des Streiks trat eine große Zahl der Textilarbeiterinnen der Gewerkschaft bei, viele verließen diese aber nach kurzer Zeit wieder. Das traditionelle Narrativ sah den Textilarbeiterinnenstreik als wesentlichen Impuls für die Integration der Frauen in die Arbeiterbewegung. Die Memoria wurde dabei insbesondere von Adelheid Popp geprägt, die als Redakteurin der »Arbeiterinnen-Zeitung« selber in den Streik involviert gewesen war und während Jahrzehnten in mehreren Erinnerungsschriften darüber berichtete.11 Sie verklärte den Arbeitskampf zu einem eigentlichen Erweckungserlebnis für die Textilarbeiterinnen. In ihren Memoiren von 1915 beschrieb sie den Streikausbruch folgendermaßen: »Da auf einmal hatte eine der jungen Arbeiterinnen angefangen, eine ganz neue Sprache zu sprechen. Sie war in den Kreis der Arbeiterbewegung gekommen. Sie
8
Arbeiter-Zeitung Wien, 5.5.1893.
9
Arbeiterinnen-Zeitung 19.5.1893.
10 Neues Wiener Tagblatt, 7.5.1893. 11 Popp, Adelheid: Zwanzig Jahre Arbeiterinnenbewegung. In: Dies. (Hrsg.): Gedenkbuch: Zwanzig Jahre Arbeiterinnenbewegung. Wien 1912, S. 6–22, S. 15; dies.: Erinnerungen: Aus meinen Kindheits- und Mädchenjahren – Aus der Agitation und anderes. Stuttgart 1915, S. 46–50; Dies.: Der Weg zur Höhe: Die sozialdemokratische Frauenbewegung Österreichs. Wien 1929, S. 40–43; sowie Seidl, Amalie: Der erste Arbeiterinnenstreik. In: Popp, Adelheid (Hrsg.): Gedenkbuch: Zwanzig Jahre Arbeiterinnenbewegung. Wien 1912, S. 66–69.
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hatte den Arbeiterfeiertag, den ersten Mai mitgemacht. Dort hatte sie vom Achtstundentag reden gehört, und die Worte: ›acht Stunden Arbeit, acht Stunden Ruhe, acht Stunden Schlaf‹ hatten ihr wie ein Evangelium geklungen. Sie wurde eine Jüngerin der neuen Offenbarung, und in beredten Worten verstand sie es, ihre Kolleginnen zu 12
ihrer Anschauung zu bekehren.«
Die geringe Nachhaltigkeit des gewerkschaftlichen Engagements der Textilarbeiterinnen sowie der Umstand, dass es sich dabei zum größten Teil um Migrantinnen handelte, fanden dagegen keinen Eingang in die sozialdemokratische Memoria. Mein Beitrag möchte unter der Perspektive der »Intersectionality« (hier in der ›klassischen‹ Form der »Triple Oppression«) dieses Narrativ einer Überprüfung unterziehen und dabei auf bisher ausgeblendete Aspekte des Zusammenspiels von Geschlecht, Klasse und Ethnizität fokussieren. Ich werde dabei in einem ersten Abschnitt die bislang geringe Resonanz diskutieren, die intersektionale Analyse vor allem in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft erfahren hat und die Möglichkeiten ihrer Nutzbarmachung für die historische Forschung diskutieren. In einem zweiten Abschnitt werde ich auf die Verschränkung der Kategorien ›Klasse‹ und ›Geschlecht‹ im Wiener Textilarbeiterinnenstreik fokussieren, um sodann auf die Rolle der Kategorie ›Ethnizität‹ einzugehen.
I NTERSEKTIONALITÄT UND G ESCHICHTSWISSENSCHAFT Das Intersektionalitätskonzept hat bislang in der Geschichtswissenschaft, zumal derjenigen des deutschsprachigen Raums, eher geringe Beachtung gefunden. Einschlägige theoretische Überblicksdarstellungen und Einführungen jüngeren Datums erwähnen es nicht einmal beiläufig.13 Dieser Befund scheint auf den ersten Blick die viel kritisierte angebliche Theorieferne der Geschichtswissenschaft zu bestätigen. Bei genauerem Hinsehen offen-
12 Popp, Erinnerungen (wie Anm. 11), S. 47. 13 Vgl. z.B. Daniel, Ute: Kompendium Kulturgeschichte: Theorien, Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt a.M. 2004 (4. erg. Aufl.); Tanner, Jakob: Historische Anthropologie zur Einführung. Hamburg 2004.
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bart sich aber, dass er möglicherweise eher das Gegenteil reflektiert: nämlich die zuweilen weniger auf sich zwingend ausschließende theoretische Konzepte als auf Positionskämpfe zwischen durch unterschiedliche Alpha-Tiere und ihre Gefolgschaften geprägte ›Schulen‹ zurückzuführende Debatten zwischen verschiedenen historiografischen Richtungen, insbesondere die in den 1980er und 90er Jahren in der deutschsprachigen – im Unterschied zur angelsächsischen – Geschichtswissenschaft von einigen Exponenten zunächst mit aller polemischen Schärfe14 und zuweilen fragwürdigem Exklusivitätsanspruch geführten Kontroversen zwischen Sozial- und Kulturgeschichte. Während jene, bekannt unter den Labels ›Historische Sozialwissenschaft‹ und ›Bielefelder Schule‹, am Gesellschaftsbegriff als Fokus historischer Analyse und der Verwendung sozial-, wirtschafts- und politikwissenschaftlicher Konzepte insbesondere modernisierungstheoretischer Provenienz festhielt, kritisierte diese, auftretend unter Labels wie ›Neue Kulturgeschichte‹, ›Historische Anthropologie‹ oder ›Alltagsgeschichte‹, in ihrem ›poststrukturalistischen‹ Eifer die sozialhistorischen ›master narratives‹ und suchte die theoretische Nähe zu Kulturanthropologie, Linguistik und Gender Studies. Für die im Zentrum der ›klassischen‹ Intersektionalitätsanalyse stehende Trias ›class‹, ›race‹ und ›gender‹ bedeutete dies, vereinfacht ausgedrückt, dass der Klassenbegriff als Konzept historischer Analyse unter die Deutungshoheit der Sozialgeschichte, sei sie nun weberianisch oder marxistisch ausgerichtet, fiel, während ihn die Kulturgeschichte zusammen mit dem Gesellschaftsbegriff ›dekonstruierte‹. Umgekehrt erschienen der lange Zeit tendenziell geschlechtsblinden und trotz gegenteiliger Beteuerungen nationalgeschichtlich ausgerichteten Historischen Sozialwissenschaft Kategorien wie Geschlecht und Ethnizität (oder auch die sexuelle Orientierung) als gegenüber der soziostrukturellen Schichtung bestenfalls zweitrangig, während kulturhistorische Studien gerade diese Kategorien ins Zentrum ihrer Untersuchungen stellten. Für die Rezeption von Intersektionalitätskonzepten durch die deutschsprachige Historiografie waren die disziplinären Rahmenbedingungen ob dieser Grabenkämpfe also denkbar ungünstig. Das heißt nun allerdings nicht, dass in der historischen Forschung Untersuchungen zur Kombination verschiedener Ungleichheitskategorien gefehlt
14 Vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Die Herausforderung der Kulturgeschichte. München 1998.
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hätten. Die sich in den 1970er Jahren herausbildende Frauengeschichte und ihre anschließende Erweiterung zur Geschlechtergeschichte15 haben auch im deutschsprachigen Raum frühzeitig eine ganze Reihe von Studien zur Geschichte von Arbeiterinnen in westlichen Industriegesellschaften hervorgebracht, die den Zusammenhang von Klasse und Geschlecht thematisierten.16
15 Grundlegende theoretische Texte waren dabei etwa Scott, Joan W.: Gender: A Useful Category of Historical Analysis. In: American Historical Review 91 (1986), S. 1053–1075; Bock, Gisela: Geschichte, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), S. 364–391. 16 Vgl. z.B. Piller, Christian: Die Frauen in der österreichischen Gewerkschaftsbewegung vor dem 1. Weltkrieg. Wien (unveröff. Diplomarb.) 1975; Rigler, Frauenleitbild (wie Anm. 5); Hueller, Alida Mirella: Die Frau in der österreichischen Arbeiterbewegung bis 1919. Linz (unveröff. Diplomarb.) 1976, S. 79–88; Meditz, Johanna: Die »Arbeiterinnen-Zeitung« und die Frauenfrage: Ein Beitrag zur Geschichte der österreichischen sozialistischen Frauenbewegung der Jahre 1890– 1918. Wien (unveröff. Diss.) 1979; Frei, Annette: Rote Patriarchen: Arbeiterbewegung und Frauenemanzipation in der Schweiz um 1900. Zürich 1987; Studer, Brigitte: »... da doch die verheiratete Frau vor allem ins Haus gehört«: Die Stellung der Frauen im SGB und die Gewerkschaftliche Frauenpolitik unter dem Aspekt des Rechts auf Arbeit, 1880–1945. In: Degen, Bernard u.a. (Red.): Arbeitsfrieden – Realität eines Mythos: Gewerkschaftspolitik und Kampf um Arbeit – Geschichte, Krise, Perspektiven. Zürich 1987. S. 37–56; Dies.: »Dispositions naturelles« et organisation sociale: La place des femmes et le rôle de la famille dans le mouvement ouvrier. In: Cahiers d’histoire du mouvement ouvrier 5 (1988), S. 219–245; Pesenti, Yvonne: Beruf: Arbeiterin: Soziale Lage und gewerkschaftliche Organisation der erwerbstätigen Frauen aus der Unterschicht in der Schweiz, 1890–1914. Zürich 1988; Prost, Partei (wie Anm. 6); Daniel, Ute: Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft: Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg. Göttingen 1989; Hagemann, Karen: Frauenalltag und Männerpolitik: Alltagsleben und gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik. Berlin 1990. Grundlegend aus dem angelsächsischen Raum: Canning, Kathleen: Gender and the Politics of Class Formation: Rethinking German Labour History. In: American Historical Review 97 (1992), S. 736–768; Dies.: Languages of Labor and Gender: Female Factory Work in Germany, 1850–1914. Ithaca/London 1996; Frader, Laura L./Rose, Sonya O. (Hrsg.): Gender and Class in Modern Europe. Ithaca 1996.
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Diese Titel, in ihrer überwiegenden Mehrheit von Historikerinnen verfasst, zeichneten sich in der Regel durch einen feministischen Impetus aus und reflektierten nicht zuletzt auch aktuelle Konflikte zwischen der ›neuen‹ Frauenbewegung und den Organisationen der traditionellen Arbeiterbewegung. Die zunehmende Etablierung der Geschlechtergeschichte brachte dann seit den 1990er Jahren auch Untersuchungen zum Zusammenhang von Geschlecht und Ethnizität hervor, etwa in der Kolonialgeschichte17 und der Nationalismusforschung.18 Hier stand indessen die Kategorie ›Klasse‹ zumeist eher im Hintergrund. Der Zusammenhang zwischen Klasse und Ethnizität seinerseits ist in der deutschsprachigen Historiografie bislang tendenziell vernachlässigt worden. Zwar pflegt etwa die historische Migrationsforschung die sozialhistorischen Aspekte durchaus gewissenhaft zu analysieren, eine explizite und schwerpunktmäßige Untersuchung des Zusammenhangs
17 Vgl. z.B. Gouda, Frances: Das »unterlegene« Geschlecht der »überlegenen« Rasse: Kolonialgeschichte und Geschlechterverhältnisse. In: Schissler, Hannah (Hrsg.): Geschlechterverhältnisse im Wandel. Frankfurt a.M./New York 1993, S. 185–203; Koller, Christian: Krieg, Fremdheitserfahrung und Männlichkeit: Alterität und Identität in Feldpostbriefen indischer Soldaten des Ersten Weltkrieges. In: Bos, Marguérite u.a. (Hrsg.): Erfahrung: Alles nur Diskurs? Zur Verwendung des Erfahrungsbegriffes in der Geschlechtergeschichte. Zürich 2004, S. 117–128; Maß, Sandra: Weiße Helden, schwarze Krieger: Zur Geschichte kolonialer Männlichkeit in Deutschland 1918–1964. Köln 2006. 18 Vgl. z.B. Lipp, Carola: Liebe, Krieg und Revolution: Geschlechterbeziehungen und Nationalismus in der Revolution 1848/49. In: Dies. (Hrsg.): Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen: Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848/49. Moos 1986, S. 353–384; Frevert, Ute: Nation, Krieg und Geschlecht im 19. Jahrhundert, in: Hettling, Manfred/Nolte, Paul (Hrsg.): Nation und Gesellschaft in Deutschland: Historische Essays. München 1996, S. 151–170; Reder, Dirk Alexander: Frauenbewegung und Nation: Patriotische Frauenvereine in Deutschland im frühen 19. Jahrhundert (1813–1830). Köln 1998; Planert, Ute (Hrsg.): Nation, Politik und Geschlecht: Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne. Frankfurt a.M./New York 2000; Kemlein, Sophia (Hrsg.): Geschlecht und Nationalismus in Mittel- und Osteuropa, 1814–1918. Osnabrück 2000; Hagemann, Karen: »Mannlicher Muth und Teutsche Ehre«: Nation, Militär und Geschlecht in der Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preussens. Paderborn u.a. 2002.
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zwischen sozialer Schichtung und Ethnizität – auch mit einem Fokus auf Klasse ›für sich‹ – ist aber nach wie vor eher selten.19 Eine naheliegende Ausnahme macht hier die Forschung zur Arbeiterbewegung in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, die sich früh mit den Nationalitätenkonflikten befasst hat, dabei aber häufig stark auf institutionelle Entwicklungen fokussierte.20 Insgesamt zeigt sich in der deutschsprachigen Historiografie also in der Praxis eine weit intensivere, jedoch mehr an der Empirie arbeitende denn von Kategorien ausgehende Beschäftigung mit Intersektionalitätsproblemen als in den Theoriedebatten. Dieser Befund wirft die Frage auf, ob die Geschichtswissenschaft Konzepten wie der Intersektionalität überhaupt bedarf. Die Debatte, inwiefern Geschichtsschreibung ›theoriegeleitet‹ zu sein habe, ist bekanntlich mehrere Jahrzehnte alt. Extrembeispiele einer Diskussion, die sich vernünftigerweise nicht auf ein ›tertium non datur‹ reduzieren lässt, in der Vergangenheit aber häufig gerade dieses Schicksal erlitten hat, sind einerseits Arbeiten, die sich mit Verweis auf das Primat der Quellen jeglicher theoretischer Diskussionen enthalten und scheinbar theoriefrei lediglich dem Rankeschen Postulat genügen wollen, zu »zeigen, wie es eigentlich gewe-
19 Vgl. für ein Beispiel Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter: Politik und Praxis des »Ausländer-Einsatzes« in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches. Berlin/Bonn 1985. Aus dem Bereich der historischen Streikforschung: Spillmann, Moritz: Fremdarbeiter – wilde Streiks – Gewerkschaften: Die wilden Fremdarbeiterstreiks in der Schweiz der frühen 1970er Jahre und ihr Einfluss auf die Gewerkschaftspolitik – oder: vom verlorenen Vertrauen in das helvetische Selbstverständnis. Zürich (unveröff. Lizentiatsarb.) 2005. 20 Vgl. Mommsen, Hans: Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerreich, Bd. 1: Das Ringen um die supranationale Integration der zisleithanischen Arbeiterbewegung (1867–1907). Wien 1963; olle, Zdenk: Die Sozialdemokratie in der Habsburger Monarchie und die tschechische Frage. In: Archiv für Sozialgeschichte 6/7 (1966), S. 315–390; ders.: Die tschechische Sozialdemokratie zwischen Nationalismus und Internationalismus, in: Archiv für Sozialgeschichte 9 (1969), S. 181–266; Konrad, Helmut: Nationalismus und Internationalismus: Die österreichische Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg. Wien 1976; Löw, Raimund: Der Zerfall der »Kleinen Internationale«: Nationalitätenkonflikte in der Arbeiterbewegung des alten Österreich (1889–1914). Wien 1984.
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sen«. Die auch einer solchen Art von Historiografie zugrunde liegenden impliziten theoretischen Prämissen werden dabei geflissentlich verschwiegen. Am anderen Ende des Spektrums stehen nach Eigendefinition ›theoriegeleitete‹ Studien, die zunächst ausführlich momentan prominente sozial- oder kulturwissenschaftliche Theorien resümieren, um sodann mehr oder weniger tiefschürfende Ausführungen zum eigentlichen Thema anzuschließen, die mit dem ausgebreiteten Theoriegebäude in einem bestenfalls lockeren Zusammenhang stehen. Weitere Kennzeichen solcher Arbeiten sind regelmäßig eine ausgeprägte Tendenz zum ›name dropping‹, ein in der Bibliografie abgebildeter Kanon von Geistesgrößen, deren Ideen die Arbeit angeblich beeinflusst haben, eine auf dieser Orthodoxie aufbauende und letztlich innovationshemmende Selbstreferentialität der Argumentationsführung und im Extremfall die Ersetzung quellengestützter durch ›theoriegeleitete‹ Aussagen und die Ausschaltung des »Vetorechts« der Quellen21 durch einen plakativen Antipositivismus. Es liegt auf der Hand, dass keine dieser beiden Extrempositionen als weiterführend gelten kann. Eine fruchtbare und das kritische Potential der historischen Forschung schärfende Rezeption von Konzepten aus Nachbarwissenschaften wird offensichtlich nicht durch deren gebetsmühlenartige Nachbetung erreicht, sondern durch deren reflektierten Einbezug bei der Formulierung von Forschungsstrategien und der Erarbeitung von Fragestellungen, oder anders: Solche Konzepte entfalten eher als – im Verlauf des Forschungsprozesses ständig zu hinterfragendes – Analyseraster denn als Theorienarrative eine produktive Wirkung. Im Falle der Intersektionalität heißt dies, dass das Wissen um die Multiplizität von diskriminatorischen Strukturen und deren vielfältige Kombinierbarkeit und Potenzierbarkeit an Stelle simpler Dichotomien in methodische Überlegungen und das Design von Forschungsprojekten einfließen sollte, ohne dass aber dadurch die verwendeten Kategorien absolut gesetzt 22 und die Er-
21 Koselleck, Reinhart: Standortbildung und Zeitlichkeit: Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt. In: Ders.: Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1989, S. 176–207, S. 206. 22 Vgl. für eine grundsätzliche Kritik am Kategoriegebrauch der ›Intersectionality‹ Soiland, Tove: Die Verhältnisse gingen und die Kategorien kamen: Intersectionality oder Vom Unbehagen an der amerikanischen Theorie. In: querelles-net 26
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gebnisse durch ›Theorieerwartungen‹ bereits vorweggenommen seien. Dies soll im Folgenden am Beispiel des Wiener Textilarbeiterinnenstreiks von 1893 demonstriert werden.
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Dass von den streikenden Textilarbeiterinnen im Mai 1893 bei Streikausbruch mit Ausnahme Amalie Rybas kaum jemand gewerkschaftlich organisiert war, widerspiegelte die allgemeine Situation: Im Jahre 1892 waren nur knapp fünf Prozent der Gewerkschaftsmitglieder Cisleithaniens weiblich, bis 1906 stieg der Anteil auf über zwölf Prozent, stagnierte dann aber in den Jahren bis 1914 bei etwa zehn Prozent.23 Erst in den letzten beiden Jahren des Ersten Weltkrieges kam es zu einer nachhaltigen Zunahme auf etwa 25 Prozent. Der Organisationsgrad der Frauen war damit bis 1914 weniger als halb so hoch wie derjenige der Männer. Dies hing einerseits mit der generellen Dominanz gelernter Arbeiter in den Gewerkschaften und der Nichtexistenz von Gewerkschaften in manchen Bereichen, in denen vor allem Frauen beschäftigt waren, zusammen, andererseits aber auch mit dem männerbündischen Charakter zahlreicher Gewerkschaftsvereine. 1893 musste der erste österreichische Gewerkschaftskongress feststellen, dass sich rund ein Drittel aller Gewerkschaftsvereine weigerte, weibliche Mitglieder aufzunehmen.
(2008), unter: , Zugriff: 17.1.2011. 23 Grandner, Margarete: Die Entwicklung der Gewerkschaften Österreichs vor 1914. In: Maderthaner, Wolfgang (Hrsg.): Arbeiterbewegung in Österreich und Ungarn bis 1914: Referate des österreichisch-ungarischen Historikersymposiums in Graz vom 5. bis 9. September 1986. Wien 1986, S. 195–215, S. 201. Allgemein dazu: Piller, Frauen (wie Anm. 16); Retz, Roberta Till: Austrian Trade Unions and the »Woman Question«: Socialist and catholic approaches, 1890–1914. Eugene (unveröff. Diss.) 1976; Hueller, Frau (wie Anm. 16), S. 79–88; Hauch, Gabriella: »Arbeite Frau! Die Gleichberechtigung kommt von selbst?« Anmerkungen zu Frauen und Gewerkschaften in Österreich vor 1914. In: Konrad, Helmut (Hrsg.): »Dass unsre Greise nicht mehr betteln gehn!« Sozialdemokratie und Sozialpolitik im Deutschen Reich und in Österreich-Ungarn 1880 bis 1914. Wien/Zürich 1991, S. 62–86.
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Auf Antrag einer der drei teilnehmenden Frauen beschloss der Kongress, in alle Gewerkschaften Frauen aufzunehmen und ihnen die gleichen Rechte wie den männlichen Mitgliedern zuzugestehen. Mit Anna Boschek wurde im folgenden Jahr die erste Frau in der Gewerkschaftskommission angestellt – sie sollte bis 1928 die einzige Frau im Leitungsgremium der Freien Gewerkschaften bleiben.24 Die streikenden Wiener Textilarbeiterinnen von 1893 delegierten die Verhandlungen mit den Arbeitgebern denn auch nicht an männliche Gewerkschaftsfunktionäre, sondern wählten die Verhandlungsdelegation aus ihrer Mitte.25 Seitens der organisierten Arbeiterbewegung trat als erste Akteurin die von Ryba mobilisierte26 Adelheid Dworschak (nachmals Popp) in Erscheinung. Die Redakteurin der »Arbeiterinnen-Zeitung« erschien schon kurz nach Streikausbruch vor Ort und lenkte die Ausstandsbewegung in die durch die rechtlichen Rahmenbedingungen vorgegebenen und durch die sozialdemokratische Streikkultur nahegelegten Bahnen. Im Anschluss daran traten dann auch männliche Exponenten der Bewegung als Versammlungsredner auf. Eine Analyse der Rednerinnen und Redner an den Streikversammlungen zeigt eine weibliche Dominanz, wenngleich auch die sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Männerprominenz nicht zu kurz kam.27 An fünf der sechs Versammlungen referierte eine Sprecherin des Lohnkomitees, an zwei Versammlungen schilderte je eine Arbeiterin von Heller, Maier und Gumpinger die Arbeitsverhältnisse in der jeweiligen Fabrik, auf einer Versammlung sprach zusätzlich auch eine Arbeiterin von Biehler. Weitere Rednerinnen aus dem Kreise der Streikenden waren Amalie Ryba, die zweimal auftrat, und eine Arbeiterin namens Wiledal. Seitens der Arbeiterorganisationen gab es an vier Versammlungen Referate von Adelheid Dworschak,
24 Hauch, Frau (wie Anm. 23), S. 69f.; Bourdet, Yvon u.a.: Dictionnaire biographique du mouvement ouvrier international, Bd. 1: Autriche. Paris 1971, S. 54. 25 Neues Wiener Tagblatt, 8. 5. 1893 und 10.5.1893. 26 Popp, Erinnerungen (wie Anm. 11), S. 47f.; Seidl, Arbeiterinnenstreik (wie Anm. 11), S. 67; Meditz, Arbeiterinnen-Zeitung (wie Anm. 16), S. 72–75; Gruppe ArbeiterInnenstandpunkt: 1892 – die erste »Arbeiterinnen-Zeitung«: 100 Jahre proletarische Frauenpresse in Österreich. Wien o. J. [1992], S. 19–28. 27 Vgl. Neues Wiener Tagblatt, 7.5.1893; 8.5.1893; 10.5.1893; Neue Freie Presse, 10.5.1893; 18.5.1893; Arbeiterinnen-Zeitung 19.5.1893; Popp, Arbeiterinnenbewegung (wie Anm. 11), S. 15.
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dreimal sprach Victor Adler, zweimal Anton Schrammel und je einmal traten Jakob Reumann, Wilhelm Ellenbogen und der Arbeiter Berck auf. Die Sitzungsleitung lag aber mehrheitlich in männlichen Händen. Das »Neue Wiener Tagblatt« beobachtete dementsprechend bei der Leitung der Debatten »die stramme Hand der sozialdemokratischen Partei«.28 Die Performanz der Textilarbeiterinnen als Frauen wurde vor allem vermittels Thematisierung des weiblichen Körpers repräsentiert. Wie Kathleen Canning am Beispiel der deutschen Textilindustrie gezeigt hat, bildete der Arbeiterinnen-Körper im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zunehmend einen Fokus regulierender und disziplinierender Interventionen seitens des Staates, paternalistischer Unternehmer und sozialreformerischer Bewegungen. Zugleich wurden die »embodied experiences« der Arbeiterinnen zu einem »formative part of work cultures and work identities, of their encounters with employers’ regimes of discipline and tutelage«. 29 Dies zeigte sich auch beim Wiener Textilarbeiterinnenstreik. Schon an der ersten Streikversammlung deduzierte ein Mitglied der Verhandlungsdelegation die Streikforderungen direkt aus der Notwendigkeit des Schutzes des weiblichen Körpers: »›Schaut mich an‹, sagte sie, ›ich bin 26 Jahre alt und schaue aus, als ob ich 40 Jahre alt wäre. Ist es so?‹ Chorus der ganzen Versammlung: Ja! Rednerin (fortfahrend): Und was hat mich so frühzeitig alt gemacht? Der schlechte Lohn und die schlechte Behandlung! Ist es so? Alle (unisono): Ja. […] Dieses traurige Frage- und Antwortspiel währte eine geraume Weile. Die Rednerin stellte Fragen über die Arbeitsverhältnisse und unisono ertheilten 500 Stimmen die Antwort.«30 Diese körperpolitische Steilvorlage wurde von den Exponenten der Arbeiterbewegung sofort angenommen. Noch auf derselben Versammlung schloss Victor Adler die Verhandlungen mit der Bemerkung, er würde am liebsten alle Streikenden, »wie Sie hier sitzen, mit den bleichen Gesichtern photographieren. Wenn dann dieses Bild nach hundert Jahren einem Menschenfreunde in die Hände geriethe, dann müsste er unsere Zustände als der ganzen menschlichen Kultur unwürdig brandmarken!«31 Diese Verknüpfung der scheinbaren Fähigkeit moderner Visualisierungstechniken zur Objektivierung mit dem fortschrittsorientierten
28 Neues Wiener Tagblatt, 7.5.1893. 29 Canning, Languages (wie Anm. 16), S. 14ff. 30 Neues Wiener Tagblatt, 7.5.1893. 31 Neues Wiener Tagblatt, 7.5.1893.
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sozialdemokratischen Erwartungshorizont einer zwangsläufigen Verbesserung der Zustände wurde seitens der Versammlung mit Beifall quittiert. Auf der folgenden Versammlung replizierte Adler auf einen Ordnungsruf des aufgrund des österreichischen Versammlungsgesetzes obligatorisch anwesenden Regierungsvertreters, er solle nicht auf politisches Gebiet abschweifen, mit der rhetorischen Frage, ob das etwa Politik sei, »wenn ich sage, dass schwache Weiber bei 40 und 50 Grad elf Stunden lang arbeiten«.32 Der gleichsam vorpolitische Status des geschlechterpolarisierten Körpers erschien offensichtlich als prästabiliertes Faktum. Auch die den Streikenden wohlgesinnte Presse griff das Körperargument auf. Das »Neue Wiener Tagblatt« berichtete von einer Streikversammlung, »jugendlich frische, volle Gesichter« habe man unter den Versammelten nicht gesehen.33 Auch die »Arbeiterinnen-Zeitung« konstatierte das ausgemergelte Aussehen der Streikenden und passte es in die zeitgenössischen Reproduktionsdiskurse ein. Die »bis auf’s Mark ausgesogenen« Textilarbeiterinnen hätten in der Fabrik »die Rosen ihrer Wangen eingebüßt«: »Wir sehen Frauen und Mädchen unter ihnen, blass, mit tief eingesunkenen Augen; wir suchen vergebens nach einem frischen gesunden Aussehen. Schwangere Frauen, erbarmungswürdige Gestalten, die andächtig mit angehaltenem Athem den Worten lauschen, die von der Tribüne herab zu ihnen gesprochen werden.« Dieser Punkt wurde durch das Argument verstärkt, dass durch die Ausbeutung nicht nur der individuelle Arbeiterinnenkörper ruiniert werde, sondern mit ihm auch die Nachkommenschaft und damit letztlich Staat und Gesellschaft: »Und von diesen Frauen fordert die Gesellschaft, dass sie ihr Söhne liefern, gesunde Jünglinge, die sie zu Soldaten, zu Landesvertheidigern verwenden will.« Die Haltung zu den bürgerlichen Geschlechtermustern war dabei ambivalent. Zwar kritisierte die »Arbeiterinnen-Zeitung« die Geschlechterdiskurse der »bürgerlichen Dichter«, nicht jedoch, weil sie deren Inhalte ablehnte, sondern weil diese für die proletarischen Frauen nicht erreichbar waren. Dass grundsätzlich die Sorge für das Heim und die Kinder Aufgabe der Frau sei, stand auch für die »Arbeiterinnen-Zeitung« außer Frage. Die geschlechterpolitische Stoßrichtung zielte nicht auf eine Überwindung der bürgerlichen Muster der Geschlechterpolarität ab, sondern darauf, es den Arbeiterinnen durch Verbesserungen der Arbeitsbedingungen zu ermög-
32 Neue Freie Presse, 10.5.1893. 33 Neues Wiener Tagblatt, 7.5.1893.
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lichen, diesen Rollenerwartungen entsprechen zu können.34 Den wesentlichen Punkt des Textilarbeiterinnenstreiks sah die »Arbeiterinnen-Zeitung« denn auch darin, dass die Front der – bislang rein männlichen – Arbeiterschaft geschlossen worden sei. Indem die Textilarbeiterinnen »instinktiv« gefühlt hätten, »dass Solidarität noth thut«, hätten sie »ehe der Streik noch zu Ende ist, für sich und ihre arbeitenden Brüder einen Sieg errungen«.35 Der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen für Arbeiterinnen erschien aus dieser Perspektive komplementär und in gewissem Sinne auch subsidiär zu den Bestrebungen der männlichen Arbeiterschaft. Kämen, so die »Arbeiterinnen-Zeitung«, die Frauen zur Erkenntnis, »dass nur die ›heilige Ordnung‹ von heute die Frau zur billigen Arbeitskraft bestimmt hat«, würden sie erkennen, »dass, indem sie aufhört eine billigere Arbeitskraft abzugeben, sie gleichzeitig das Hindernis entfernt, das ihr, sowie ihren arbeitenden Brüdern bisher im Wege gestanden, wenn es galt, ihre Lage zu verbessern«.36 Damit verschränkten sich sozial- und geschlechterpolitische Argumentationsmuster in eigentümlicher Weise. Grundsätzlich wurde zur Unterstützung der Streikforderungen die Geschlechterdifferenz nicht nur in biologischer Hinsicht betont, sondern auch bezüglich der Rollenerwartungen im ›privaten‹ Bereich. Hingegen sollten punkto Arbeitsbedingungen dieselben Konditionen für beide Geschlechter gelten, dies nicht nur zum Schutz der Frauen, sondern gerade auch der Männer. Geschlechtergleichstellung erschien dadurch tendenziell nicht als ein Wert an sich, sondern den sozialpolitischen Bestrebungen der männlich dominierten Arbeiterbewegung untergeordnet. Auch bei den straßenpolitischen Aktionen37 vermengten sich die Performanzen der Streikenden als Arbeiterinnen und als Frauen. Charakteris-
34 Vgl. allgemein zu diesem Problemkreis Hausen, Karin: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«: Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Conze, Werner (Hrsg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas: Neue Forschungen. Stuttgart 1977, S. 363–393; Rosenbaum, Heidi: Proletarische Familien: Arbeiterfamilien und Arbeiterväter im frühen 20. Jahrhundert zwischen traditioneller, sozialdemokratischer und kleinbürgerlicher Orientierung. Frankfurt a.M. 1992. 35 Arbeiterinnen-Zeitung, 19.5.1893. 36 Arbeiterinnen-Zeitung, 19.5.1893; vgl. auch Neues Wiener Tagblatt, 10.5.1893. 37 Vgl. zum Konzept der »Straßenpolitik« Lindenberger, Thomas: Straßenpolitik: Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung in Berlin 1900–1914. Bonn 1995.
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tisch für diese Aktionsformen war ein Wechselspiel zwischen der Militanz der Streikenden und Disziplinierungsbemühungen seitens der Exponenten der Arbeiterorganisationen. Das Bestreben, den Protest auf die Straßen zu tragen, ging eindeutig von den Textilarbeiterinnen aus, während die gewerkschaftlichen Eliten diese Formen der Performanz offensichtlich als etwas Männern vorzubehaltendes betrachteten und die Frauen auf andere Artikulationsformen festzuschreiben suchten. Zur ersten straßenpolitischen Aktion wurde der kollektive Auszug aus der Fabrik Heller am 3. Mai, dem ein großes Maß an Spontaneität eignete.38 Schon am folgenden Tag erfolgte die nächste straßenpolitische Handlung, die sich als äußerst medienwirksam erweisen sollte. Im Anschluss an die erste offizielle Streikversammlung formierte sich ein Zug von etwa 400 Arbeiterinnen zur Fabrik Biehler. 39 Dort versuchten die Demonstrantinnen die noch arbeitenden Frauen für den Streik zu gewinnen. Daraufhin ereigneten sich Zusammenstöße mit der Polizei, bei denen es auch zu Verhaftungen kam und die in der Presse sehr divergent geschildert wurden.40 In der Folge waren die Exponenten der organisierten Arbeiterbewegung bemüht, ähnliche Vorkommnisse zu verhindern. Am Ende der Streikversammlung vom 6. Mai forderte Adler dazu auf, »sich vollkommen ruhig zu verhalten, in kleinen Gruppen zu marschieren und allen Befehlen der Sicherheitswache blindlings zu folgen«.41 An der nächsten Versammlung warnte Berck davor, sich vor der Fabrik Biehler, wo Streikbrucharbeit verrichtet wurde, zu versammeln.42 Gleichwohl schmähte am 12. Mai eine Gruppe von Streikenden bei Arbeitsschluss vor dieser Fabrik die herauskommenden Streikbrecherinnen.43 Die Bestrebungen der Streikenden nach Aneignung öffentlichen Raums beschränkten sich nicht auf die Straßen um die in der städtischen Peripherie gelegenen bestreikten Fabriken. Rasch tauchte auch der Wunsch auf, den Protest ins Stadtzentrum zu tragen. Dieses Begehren, den Frauenstreik in den vom Zentrum-Peripherie-Gegensatz geprägten und latent gewalttätigen
38 Seidl, Arbeiterinnenstreik (wie Anm. 11), S. 67. 39 Arbeiterinnen-Zeitung, 19.5.1893. 40 Vgl. Arbeiter-Zeitung Wien, 5.5.1893; Das interessante Blatt, 11.5.1893; Arbeiterinnen-Zeitung, 19.5.1893. 41 Neues Wiener Tagblatt, 7.5.1893. 42 Neues Wiener Tagblatt, 10.5.1893; Neue Freie Presse 10.5.1893. 43 Arbeiterinnen-Zeitung, 19.5.1893.
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Kampf um die Besetzung des Wiener Stadtraums mit Bedeutungen und Wertigkeiten44 zu involvieren, stieß bei den Exponenten der organisierten Arbeiterbewegung auf kategorische Ablehnung. Als an der Streikversammlung vom 9. Mai verschiedene Rufe nach einem Marsch über die Ringstraße laut wurden, setzte Dworschak stattdessen einen Ausflug ins Grüne durch.45 Solche Ausflüge erschienen ganz offensichtlich als probates Alternativkonzept sowohl zum spontanen Protest vor den bestreikten Fabriken als auch zum disziplinierten Aufmarsch an symbolträchtiger Stelle, der den Männern vorbehalten bleiben sollte. Anstatt kämpferisch den öffentlichen Raum zu besetzen, sollten die streikenden Frauen, wie sich Dworschak ausdrückte, »friedlich und nur um uns zu erholen, spazieren gehen«,46 der temporäre Ausbruch aus den Arbeiterquartieren sollte also nicht nach innen, zum sozialtopographischen Zentrum der Stadt hin erfolgen, sondern in genau entgegengesetzter Richtung nach außen, zu den Naherholungsräumen an der Stadtgrenze. So gab es am 10. Mai einen Ausflug zum Galitzinberg und am 15. Mai auf die Ramschwiese in Hütteldorf.47 An die Stelle der von den Streikenden gewünschten Militanz setzten die Arbeiterorganisationen ein rekreatives ›emotion work‹,48 das dem weiblichen Körper und Geist angemessener erschien. So war es für die »Arbeiterinnen-Zeitung« denn »ergreifend zu sehen, wie sich die Mädchen und Frauen, von denen viele ihre Kin-
44 Vgl. dazu Maderthaner, Wolfgang/Musner, Lutz: Die Anarchie der Vorstadt: Das andere Wien um 1900. Frankfurt a.M./New York 1999, S. 34ff. 45 Neue Freie Presse, 10.5.1893; Neues Wiener Tagblatt, 10.5.1893. 46 Zit. Neue Freie Presse, 10.5.1893. 47 Vgl. dazu Neues Wiener Tagblatt, 11.5.1893; Arbeiterinnen-Zeitung, 19.5.1893; Popp, Erinnerungen (wie Anm. 11), S. 48; dies., Weg (wie Anm. 11), S. 42. 48 Vgl. zum Konzept des ›emotion work‹ und zu emotionshistorischen Ansätzen der Protestforschung Emirbayer, Mustafa/Goldberg, Chad Alan: Pragmatism, Bourdieu, and Collective Emotions in Contentious Politics. In: Theory and Society 34 (2005), S. 469–518; Young, Glennys: Emotions, Contentious Politics and Empire: Some Thoughts about the Soviet Case. In: Ab Imperio 8/2 (2007), S. 113–151; Koller, Christian: »Es ist zum Heulen«: Emotionshistorische Zugänge zur Kulturgeschichte des Streikens. In: Geschichte und Gesellschaft 36, 1 (2010), S. 66–92; ders.: Soziale Bewegungen: Emotion und Solidarität. In: Stadtland, Heike/Mittag, Jürgen (Hrsg.): Theoretische Ansätze und Konzepte der Forschung über soziale Bewegungen in der Geschichtswissenschaft. Essen 2011 (im Druck).
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der mitnahmen, erlaben an der freien Natur«.49 Im Rückblick sprach Adelheid Popp dann sogar von einem »Wunder«: »Die Frauen und ihre Kinder blühten auf wie noch nie.«50 Der Streik wurde damit in der Retrospektive nicht nur zu einem materiellen Erfolg, sondern auch zu einem Zeitfenster, das der weibliche Körper seiner Konstitution entsprechend verleben konnte – dies nicht am Ort der politischen Auseinandersetzung, dem Stadtzentrum, sondern in der – ebenso wie der weibliche Körper – ›präpolitischen‹ Natur.
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Die vollgültige Integration der Streikenden in die österreichische Arbeiterbewegung wurde nicht nur als Resultat des beschriebenen Frauenverständnisses in den Arbeiterorganisationen behindert, sondern auch durch deren Umgang mit dem Umstand, dass es sich dabei mehrheitlich um Migrantinnen handelte. Die meisten der etwa 700 streikenden Arbeiterinnen waren Tschechinnen und entstammten jener Schicht von Migrantinnen aus den kaum industrialisierten Gebieten Südböhmens und Südmährens, die aufgrund fehlender Berufsqualifikationen in der Kapitale fast ausschließlich nur in privaten Haushalten und in hausrechtlich verfassten Berufen Beschäftigung finden konnten.51 Der Zeitpunkt ihrer Immigration nach Wien lag allerdings unterschiedlich weit zurück. Während ein Teil der Arbeiterinnen die Volljährigkeit noch nicht erreicht hatte, standen andere bereits seit 20 Jahren im Dienst derselben Fabrik.52 Der Zusammenhang zwischen der multinationalen Struktur der Habsburgermonarchie und den industriellen Beziehungen hat bereits die Aufmerksamkeit einiger Klassiker der Nationalismusforschung auf sich gezogen. Der Austromarxist Otto Bauer interpretierte in seiner Abhandlung »Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie« (1907) nationale Gegensätze als Wider-
49 Arbeiterinnen-Zeitung, 19.5.1893. 50 Popp, Weg (wie Anm. 11), S. 42. 51 Neue Freie Presse, 6.5.1893; Times, 8.5.1893; vgl. Maderthaner/Musner, Anarchie (wie Anm. 44), S. 41f. 52 Neue Freie Presse, 6.5.1893.
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spiegelung von Klassengegensätzen.53 Seines Erachtens war zwar »die national-staatliche Revolution zunächst […] eine Rebellion der Herrenklasse der unterdrückten Nation […], nicht aber die Bewegung der breiten, arbeitenden Massen, deren Lage im Nationalstaate nicht besser, vielleicht sogar schlechter gewesen wäre als unter der Fremdherrschaft«.54 Die Popularität des Nationalismus bei den unteren Schichten deutete er indessen als ein noch unreifes Bewusstsein von der Ausbeutung, der sie im Kapitalismus unterworfen waren: »Kleinbürger, Bauern, Arbeiter stehen in jedem Staate, auch im Nationalstaate unter einer Fremdherrschaft, werden ausgebeutet von Gutsherren, Kapitalisten, Bürokraten. Aber diese Fremdherrschaft lässt sich verhüllen, sie ist nicht anschaulich, sondern muss begriffen werden. Die nationale Fremdherrschaft dagegen ist anschaulich, unmittelbar sichtbar. […] Das ist die große Bedeutung der Fremdherrschaft: dass sie alle Ausbeutung und Unterdrückung, die sonst begriffen werden will, unmittelbar 55
anschaulich, sichtbar und dadurch unerträglich macht.«
Bauers Analyse der Verhältnisse, die auch dem hier betrachteten Fall zugrunde liegen, war also explizit nicht intersektional. Während er die Kategorie Geschlecht ganz ausblendete, erschien ihm die Kategorie Ethnizität lediglich als Manifestation einer Spezialform des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit. Ernest Gellner erzählte in seiner Abhandlung »Nations and Nationalism« (1983), einem der grundlegenden Werke der konstruktivistischen Nationalismusforschung, die Geschichte vom Aufkommen des ruritanischen Nationalismus in einem unschwer als Habsburgermonarchie erkennbaren
53 Bauer, Otto: Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie (1907). In: Ders.: Werkausgabe, Bd. 1. Wien 1975, S. 49–622. Vgl. dazu. z.B. Brenner, Christiane: Integrations- und Desintegrationsprozesse in multinationalen Gesellschaften: Einige Überlegungen zu den Theorien Otto Bauers und Karl W. Deutschs. In: Schmidt-Hartmann, Eva (Hrsg.): Formen des nationalen Bewusstseins im Lichte zeitgenössischer Nationalismustheorien: Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 31. Oktober bis 3. November 1991. München 1994, S. 113–125; Koller, Christian: Fremdherrschaft: Ein politischer Kampfbegriff im Zeitalter des Nationalismus. Frankfurt a.M./New York 2005, S. 312–314. 54 Bauer, Nationalitätenfrage (wie Anm. 53), S. 232. 55 Bauer, Nationalitätenfrage (wie Anm. 53), S. 233; ähnlich: ebd., S. 259, 340, 591.
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multinationalen Großreich namens Megalomania. 56 Ruritanische Arbeitsmigranten in den industrialisierten Regionen des Reiches, die aufgrund ihrer familiären und kulturellen Entwurzelung und ökonomischen Ausbeutung die Nähe zu Sprechern verwandter Dialekte suchen, spielen dabei die Rolle der Gefolgschaft eines zunächst durch Intellektuelle propagierten Nationalismus, werden damit also gleichsam zur Massenbasis in der Hrochschen Phase C der Entwicklung nationalistischer Bewegungen.57 Auch Gellners Analyse war nicht intersektional, indem sie ähnlich wie Bauer die Kategorie ›Ethnizität‹ auf die Kategorie ›Klasse‹ zurückführte, den daraus resultierenden Nationalismus aber im Unterschied zu Bauer nicht lediglich als ein Durchgangsstadium auf dem Weg zum (internationalistischen) proletarischen Klassenbewusstsein betrachtete. Die Kategorie ›Geschlecht‹ schließlich blieb auch bei Gellner außen vor. Die Nationalitätenkonflikte in der cisleithanischen Arbeiterbewegung sind, wie bereits erwähnt, von der Arbeitergeschichte schon vor geraumer Zeit untersucht worden. Sie eskalierten gegen Ende des 19. Jahrhunderts. 1897 erfolgte die Gründung einer eigenen tschechoslowakischen Gewerkschaftskommission, womit es innerhalb der Freien Gewerkschaften zwei national definierte Dachorganisationen gab. Die Einzelgewerkschaften blieben dagegen zunächst einheitlich. Erst ab 1906 kam es zunächst in Böhmen, dann aber auch in anderen Teilen Cisleithaniens, zur Gründung nationaler Verbände.58 In jüngerer Zeit haben Impulse aus dem Feld der Postcolonial Studies verstärkt dazu angeregt, die k. u. k. Doppelmonarchie als »quasikolonialen Herrschaftskomplex«59 zu analysieren, in dem Prozesse der Iden-
56 Gellner, Ernest: Nations and Nationalism. Oxford 1983, S. 58–62. 57 Vgl. Hroch, Miroslav: Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas: Eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Schichtung der patriotischen Gruppen. Prag 1968. 58 Konrad, Nationalismus (wie Anm. 20), S. 105–203; Löw, Zerfall (wie Anm. 20), S. 67–96; Klenner, Fritz: Die österreichischen Gewerkschaften: Eine Monographie. Wien 1967, S. 40, 48f., 52f.; Deutsch, Julius: Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 2. Wien 1932, S. 341–354 und 413– 427; Mesch, Michael: Arbeiterexistenz in der Spätgründerzeit: Gewerkschaften und Lohnentwicklung in Österreich 1890–1914. Wien 1984, S. 39–42. 59 Müller-Funk, Wolfgang: Kakanien revisited: Über das Verhältnis von Herrschaft und Kultur. In: Ders. u.a. (Hrsg.): Kakanien revisited: Das Eigene und das Frem-
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titätsbildung und -zuschreibung stets von enormer herrschaftspolitischer Relevanz waren. Der ›quasi-koloniale‹ Charakter der Habsburgermonarchie zeigte sich bei Arbeitskämpfen des späten 19. Jahrhunderts immer wieder. Beim Reichenberger Textilarbeiterstreik von 1870 etwa wurde ein Ausstand mehrheitlich tschechischsprachiger Männer und Frauen gegen einen deutschböhmischen Unternehmer von der Armee blutig niedergeschlagen,60 wobei der Einfluss der jungtschechischen Bewegung bei den nachfolgenden Protesten in der Forschung umstritten ist.61 Der Wiener Tramwaykutscherstreik von 1889 zeichnete sich nicht nur dadurch aus, dass die Streikenden
de (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie. Tübingen/Basel 2002, S. 14– 32, S. 19f.; vgl. auch Feichtinger, Johannes: Habsburg (post)-colonial: Anmerkungen zur inneren Kolonisierung in Zentraleuropa. In: Ders. u.a. (Hrsg.): Habsburg postcolonial: Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck u.a. 2003, S. 13–31: Ruthner, Clemens: K. u. k. Kolonialismus als Befund, Befindlichkeit und Metapher: Versuch einer weiteren Klärung. In: Ebd., S. 111–128. 60 Vgl. Beránek, Jan: Svárovská stávka 1870. Prag 1951; Strauss, Emil: Die Entstehung der deutschböhmischen Arbeiterbewegung (Geschichte der deutschen Sozialdemokratie Böhmens bis 1888). Prag 1925, S. 98–101 und 111f.; Ko alka, Ji í: Vznik socialistického d lnického hnutí na Liberecku. Liberec 1956, S. 180– 185; Koller, Streikkultur (wie Anm. 6), S. 209–226. 61 Einen starken Einfluss der Jungtschechen betonen: Mommsen, Sozialdemokratie (wie Anm. 20), S. 79f.; und Bachstein, Martin K.: Die Sozialdemokratie in den böhmischen Ländern bis zum Jahre 1938. In: Die Erste Tschechoslowakische Republik als multinationaler Parteienstaat: Vorträge der Tagungen des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 24. bis 27. November 1977 und vom 20. bis 23. April 1978. München/Wien 1979, S. 79–100, S. 80. Gegenpositionen vertreten: Obermann, Karl: Zur Geschichte der deutschen und der tschechischen Sozialdemokratie und ihren freundschaftlichen Beziehungen im 19. Jahrhundert. In: Ders./Poliensk, Josef (Hrsg.): Aus 500 Jahren deutsch-tschechoslowakischer Geschichte. Berlin (Ost) 1958, S. 331–370, S. 333–336; Steiner, Herbert: Die Arbeiterbewegung Österreichs 1867–1889: Beiträge zu ihrer Geschichte von der Gründung des Wiener Arbeiterbildungsvereines bis zum Einigungsparteitag in Hainfeld. Wien 1964, S. 27; Ko alka, Ji í: Erste Sozialisten in Nordböhmen im Verhältnis zur Eisenacher Sozialdemokratie und zur tschechischen Nationalbewegung 1868–1870. In: Archiv für Sozialgeschichte 8 (1968), S. 285–347, S. 347.
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überwiegend polnische, tschechische oder slowakische Wurzeln hatten, sondern auch durch ein Umkippen der durch den Streik hervorgerufenen Proteste der (zu einem großen Teil immigrierten) vorstädtischen Unterschichten in antisemitische Ausschreitungen.62 Und beim Brünner Textilarbeiterstreik von 1899 manifestierte sich die Verschränkung von Klassengegensätzen und Nationalitätenkonflikten dahingehend, dass die gegen zumeist deutschböhmische Fabrikbesitzer aufbegehrenden tschechischen Streikenden nicht nur von sozialdemokratischen und antisemitischen Kreisen aus Wien unterstützt wurden, sondern auch durch die (bürgerlichen) Tschechisch-Nationalen sowie lokale bäuerliche und gewerbliche Kreise und sogar die Kommunalbehörden. 63 Im konkreten Fall des Streiks der tschechischen Textilarbeiterinnen in Wien ist zunächst bemerkenswert, dass der Migrationshintergrund der Streikenden in der Arbeiterpresse nicht thematisiert wurde. Fand sich bezüglich der Geschlechterdifferenz eine Biologisierung, so wurde umgekehrt die ›Nationalitätenproblematik‹ schlicht ausgeblendet. Sie trat indessen gleichwohl zuweilen performativ zu Tage. So wurde auf der Streikversammlung vom 6. Mai zum ersten und offenbar auch einzigen Mal eine Rede auf Tschechisch gehalten. Die junge Arbeiterin Wiledal rief dazu auf, die sprachlichen und konfessionellen Unterschiede zu vergessen, da die Not der Arbeiterinnen in allen Sprachen spreche und alle unter dem gleichen Joche schmachteten. Diese Rede, die auf offenbar vorhandene Ressentiments Bezug nahm, wurde von den Versammelten mit großer Begeisterung aufgenommen und mehrfach durch – für andere Reden nicht überlieferte – stürmische »vborn!«-Rufe unterbrochen.64 Ganz offensichtlich fühlten sich viele Streikende nicht zuletzt auch als quasi-koloniale Subjekte zurückgesetzt und nahmen die Unterstützung durch die deutschösterreichischen Arbeiterorganisationen zwar gerne entgegen, empfanden sie aber doch auch als paternalistisch, solange nicht eine der ihren die Rednerinnentribüne bestieg und in ihrer Muttersprache referierte.
62 Vgl. Koller, Streikkultur (wie Anm. 6), S. 238–253; Maderthaner/Musner, Anarchie (wie Anm. 44), S. 167–175. 63 Vgl. Koller, Streikkultur (wie Anm. 6), S. 268–279. 64 Neues Wiener Tagblatt, 7.5.1893; Arbeiterinnen-Zeitung, 19.5.1893. Vborn bedeutet sehr gut.
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F AZIT Der erfolgreiche Arbeitskampf der Textilarbeiterinnen von 1893 scheint bei den Protagonistinnen kaum einen nachhaltigen Eindruck im Sinne des eingangs skizzierten Narratives der Arbeiterbewegung hinterlassen zu haben. Drei Jahre nach dem Streik klagte die »Arbeiterinnen-Zeitung«, die Textilarbeiterinnen hätten »rasch vergessen, dass sie in ihrer letzten Versammlung vor Wiederaufnahme der Arbeit gelobt hatten, der Organisation, mit deren Hilfe sie gesiegt, von der sie nach Kräften unterstützt wurden, beizutreten und nach Kräften an derselben festzuhalten. Ihr Versprechen haben sie nicht gehalten, nur einige Wenige sind heute organisiert«.65 Offensichtlich litten die Wiener Textilarbeiterinnen als Frauen, Migrantinnen und Arbeiterinnen nicht nur unter einer dreifachen intersektionellen Diskriminierung am Arbeitsplatz. Der paternalistische Umgang der Gewerkschaftseliten mit zugleich weiblichen und tschechischen Streikenden scheint letztlich auch eine erfolgreiche Integration in die Arbeiterbewegung beziehungsweise umgekehrt eine Verbreiterung von deren Massenbasis statt der Fokussierung auf die Interessen von nichtmigrantischen, männlichen Arbeitern verhindert zu haben. In welchem Ausmaß die Streikenden ihre zurückgesetzte Position darauf zurückführten, dass sie Frauen, Arbeiterinnen oder Immigrantinnen waren und ob ihnen die Überkreuzung und Potenzierung dieser drei Kategorien bewusst war, lässt sich freilich aus dem verfügbaren Quellenmaterial schwer abschätzen. Die Fallstudie verdeutlicht, dass sich der heuristische Mehrwert des Intersektionalitätskonzepts für die Geschichtswissenschaft dadurch ergibt, dass es ein analytisches Instrumentarium bereitstellt, das zur Zusammenführung und Integration von sozial- und kulturhistorischen Perspektiven beiträgt und Studien zu unterschiedlichsten Themen zu einer gesteigerten Tiefenschärfe verhelfen kann. Die einigermaßen erfolgreiche Etablierung der Kategorie ›Geschlecht‹, weniger als Schlüsselbegriff einer eigenständigen historischen Teilsdisziplin, sondern als analytisches Konzept in der ›allgemeinen‹ Geschichte,66 kann dabei als Vorbild dienen. Insbesondere
65 Arbeiterinnen-Zeitung, 21.5.1896. 66 Vgl. dazu etwa Hausen, Karin: Die Nicht-Einheitlichkeit der Geschichte als historiographische Herausforderung: Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte. In: Medick, Hans/Charlotte Trepp (Hrsg.): Ge-
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die neuerdings zunehmende Hinwendung der Historie zur Geschichte der Transnationalität oder gar zur Globalgeschichte sollte der Beschäftigung mit historischen Intersektionalitätsproblemen Auftrieb geben. Dabei ist freilich zu beachten, dass der historische Zugang sich von einem systematisch-sozialwissenschaftlichen besonders in seinem Umgang mit Kategorien markant unterscheiden wird. Letztere können in der historischen Analyse nicht den Status vorgegebener Größen beanspruchen, die den Quellen wie ein Prokrustesbett aufgenötigt werden. Vielmehr können die Kategorien erst in Auseinandersetzung mit dem verfügbaren empirischen Material in einem iterativen Prozess entwickelt werden, einem Vorgang, der einerseits zu einer erheblichen Modifikation des kategorialen Apparates führen, andererseits aber auch Leerstellen beim verfügbaren Quellenmaterial aufdecken kann. In unserem Fall (wie in zahlreichen anderen auch, die außerhalb der Reichweite von Oral History liegen und für die von zahlreichen AkteurInnen auch keine Selbstzeugnisse vorliegen) offenbart sich etwa das Problem, dass die Relevanz der an das Material herangetragenen Kategorien zwar empirisch plausibilisiert werden kann, dass die Gültigkeit der letzteren für die Selbstinterpretation der betroffenen Subjekte aber weitgehend offen bleiben muss – ein klassisches Quellenproblem, das sich allenfalls durch eine Verbreiterung der empirischen Basis und/oder elaboriertere Interpretationsmethoden, schwerlich aber durch Rekurs auf Theorieerwartungen angehen ließe.
schlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte: Herausforderungen und Perspektiven. Göttingen 1998, S. 15–55; und Hunt, Lynn: The Challenge of Gender: Deconstruction of Categories and Reconstruction of Narratives in Gender History. In: Ebd., S. 57–97.
Intersektionalität oder borderland als Methode? Zur Analyse politischer Subjektivitäten in Grenzräumen
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»Das Exil ist ein Ort, der sich auf keiner Landkarte findet. Flüchtlinge durchkreuzen politische Grenzen und symbolische Ordnungen. Ihre Wege verbinden Orte unterschiedlichster sozialer, ökonomischer und kultureller Verhältnisse, deren Hierarchien sie auf der Flucht von einem zum anderen Land besonders drastisch erfahren. Als Fluchtpunkt dieser Erfahrungen wird das Exil zu einem möglichen Ort der 1
Erkenntnis jener Hierarchien.«
E INFÜHRUNG Die Wege der Flucht und das Durchkreuzen von Grenzen als Momente der Politisierung – so lässt sich das einführende Zitat der Jour Fixe Initiative Berlin interpretieren. Ich möchte an diese Idee anknüpfen und am Beispiel der Rückkehrbewegung guatemaltekischer Kriegsflüchtlinge aus dem me-
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Jour Fixe Initiative Berlin (Hrsg.): Fluchtlinien des Exils. Münster 2003, S. 7.
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xikanischen Exil2 reflexive Ansätze der Intersektionalitätsforschung und der (latein-)amerikanischen border studies für eine empirische Analyse politischer Subjektivitäten in transmigrantischen Räumen produktiv machen. 3 Die Rückkehrbewegung, die auch el retorno genannt wird, gilt im lateinamerikanischen Kontext als ein paradigmatischer Fall für die Debatte um Politisierungsprozesse in der grenzüberschreitenden Migration.4 Zum Hintergrund: Die Mehrheit der rund 23.000 RückkehrerInnen von Kriegsflüchtlingen aus dem mexikanischen Exil gehörte Familien von indigenen Kleinbäuerinnen und -bauern (campesinos/as) und TagelöhnerInnen an, die in den frühen 1980er Jahren aus Guatemala in den Süden des Nachbarlandes Mexiko vertrieben worden waren und dort viele Jahre in Flüchtlingscamps lebten. Insbesondere die Frauen unter ihnen wurden von der guatemaltekischen Armee als ›nationale Bedrohung‹ gesehen und besonders hart verfolgt. In den 1990er Jahren kehrten die Flüchtlinge schließlich nach Guatemala zurück und siedelten sich in neu erbauten ländlichen Siedlungen
2
Meine Feldforschung zur Rückkehrbewegung el retorno führte ich im Jahr 2002 in mehreren der insgesamt rund 50 Rückkehrgemeinden (comunidades retornadas) dieser Gruppe ehemaliger Kriegsflüchtlinge durch; vgl. Kron, Stefanie: ›Las Retornadas‹ – Nach dem Exil: Dimensionen von Gemeinschaft und politischer Subjektivität in Erzählungen der Rückkehr. Eine Fallstudie über Guatemalas Kriegsflüchtlinge, unter: , Zugriff: 3.8. 2009; dies.: Nach dem Exil. Guatemala: Politische Subjektivität in Erzählungen der Rückkehr. In: Schütze, Stephanie/Zapata, Martha (Hrsg.): Transkulturalität und Geschlechterverhältnisse. Berlin 2007, S. 66–90; dies.: ›Am Rande erzählt‹. Geschichtspolitiken im Kontext von transnationaler Migration, Exil und Diaspora. In: Molden, Bertold/Mayer, David (Hrsg.): Vielstimmige Vergangenheiten. Geschichtspolitik in Lateinamerika. Münster u.a. 2008, S. 171–190.
3
Der vorliegende Text ist eine erweiterte und überarbeitete Version meines Beitrags Grenzen im Transit. Zur Konstitution politischer Subjektivitäten in transmigrantischen Räumen. In: Prokla 158, 40 (2010). Ich danke Maria Lidola für ihre Anmerkungen und Kommentare zur Diskussion um das Intersektionalitätskonzept.
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Vgl. Pessar, Patricia: Women’s Political Consciousness and Empowerment in Local, National, and Transnational Contexts: Guatemalan Refugees and Returnees. In: Identities: Global Studies in Culture and Power 7 (2001), S. 461–500.
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an, die von dem Modell kommunaler sozialer Organisation der indigenen Gemeinde (comunidad indígena) beeinflusst waren. Vorausgegangen waren ein jahrelanger und schließlich erfolgreicher Prozess der politischen Mobilisierung der Flüchtlinge und ihre Verhandlungen mit den guatemaltekischen Regierungen über die Bedingungen für eine selbst organisierte und kollektive Rückkehr. Hierzu zählten das Recht auf Zugang zu Land, physische Integrität, Demilitarisierung der ehemaligen Konfliktgebiete sowie kommunale Autonomie. SozialwissenschaftlerInnen und entwicklungspolitische AkteurInnen sahen in den RückkehrerInnen (retornados) und insbesondere in den Rückkehrerinnen (retornadas) aufgrund ihres hohen Grades der Politisierung eine wichtige pressure group für den Friedens- und Demokratisierungsprozess in Guatemala.5 Die aus dieser Debatte um nationale Versöhnung und Demokratisierung hervorgegangenen akademischen Erklärungsansätze für die Rückkehrbewegung heben daher zwar die Bedeutung der Grenzüberschreitungen – die Vertreibung nach Mexiko und die Rückkehr nach Guatemala – als zentral für die Politisierung der Kriegsflüchtlinge hervor. Zum einen wird jedoch davon ausgegangen, dass die Vertreibungserfahrungen und der Kampf um Rückkehr bei den Flüchtlingen die Bildung beziehungsweise Stärkung einer nationalen Identität als GuatemaltekInnen zur Folge gehabt hätten. Zum anderen wird jeweils nur eine der gängigen Achsen von Diskriminierung und sozialer Ungleichheit, das bedeutet entweder Ethnizität, Klasse oder Geschlecht, als Motor für die politische Artikulation der Flüchtlinge hervorgehoben und festgeschrieben. So wird el retorno entweder ethnisiert, also vorrangig als Prozess der Selbsterkenntnis der Flüchtlinge analysiert, Teil der historisch diskriminierten Maya-Bevölkerung Guatemalas zu sein.6 Oder aber die Rückkehrbewe-
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Vgl. u.a. Garbers, Frank: Geschichte, Identität und Gemeinschaft im Rückkehr-
6
Vgl. Stepputat, Finn: Repatriation and the Politics of Space: the Case of the Ma-
prozess guatemaltekischer Kriegsflüchtlinge. Münster u.a. 2002, S. 165. yan Diaspora and Return Movement. In: Journal of Refugee Studies 7, 2–3 (1994), S. 175–185; Warren, K. B.: Indigenous Movements and their Critics: Pan Mayan Activism in Guatemala. Princeton 1998; Crosby, Alison: To Whom Shall the Nation Belong? The Gender and Ethnic Dimension of Refugee Return and the Struggle for Peace in Guatemala. In: North, Liisa L./Simmons, Alan B. (Hrsg.): Journeys of Fear – Refugee Return and National Transformation in Guatemala.
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gung wird als Prozess gesehen, der vor allem die Bildung einer Klassenidentität als KleinbäuerInnen und TagelöhnerInnen unter den Flüchtlingen beförderte. 7 Ein drittes Muster der Interpretation bewertet die Rückkehrbewegung hingegen als Prozess, der ein ungewöhnlich politisiertes GenderBewusstsein unter den Frauenflüchtlingen hervorgebracht habe.8 Ich möchte in diesem Aufsatz dagegen zeigen, dass die Flüchtlinge im Kontext von el retorno ›diasporische Subjektivitäten‹ als Motor ihres politischen Handelns konstituierten. Damit meine ich Subjektivitäten, die weniger von der Suche nach eindeutigen Verortungen in bestimmten nationalen Kontexten und sozialen Kategorien geprägt sind. Konstitutive Momente bilden vielmehr die Erfahrungen der Durchkreuzung politischer Grenzen sowie die damit verbundenen Transgressionen sozialer und symbolischer Grenzen von Ethnizität, Klasse und Geschlecht. Ich stelle deshalb die Frage, welchen Einfluss die Erfahrungen der Überschreitung, Verhandlung und Verschiebung von Grenzen auf die Konstitution (politischer) Subjektivitäten innerhalb der Rückkehrbewegung el retorno hatten und wie sich diese Subjektivitäten analysieren lassen. Im Folgenden möchte ich daher zunächst diskutieren, inwieweit die Konzepte der Intersektionalität und des so genannten border feminism (Feminismus der Grenzen) geeignet sind, den Zusammenhang zwischen Erfahrungen von Grenzüberschreitungen und Politisierung, das heißt Aneignung politischer Handlungsmacht und Konstitution politischer Subjektivität, methodologisch zu fassen – und wo ihre Begrenzungen liegen. Auf der Grund-
Montreal/London 1999, S. 176–196; Nolin Hanlon, Catherine: Guatemalan Refugees and Returnees. Place and Maya Identity. In: Ebd., S. 213–234. 7
Vgl. u.a. Manz, Beatriz: Repatriation and Reintegration: An Arduous Process in Guatemala. Washington 1988; Avancso: Donde está el futuro? Procesos de reintegración en comunidades de retornados. Guatemala City 1992; Falla, Ricardo: Historia de un gran amor. Recuperación autobiográfica de la experiencia con las Comunidades de Población en Resistencia, Ixcán. Guatemala City 1995.
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Vgl. u.a. Arbour, Francis: Voices of Women: A New Force Shaping the Guatemalan Return. In: Refuge 13, 10 (1994), S. 16f.; Maquín, Mama/Women’s Centre for Research and Action (CIAM): From Refugees to Refugees: A Chronicle of Women Refugees Experience in Chiapas. Comitán, Mexico 1994; Pessar: Women’s (wie Anm. 4).
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lage dieser Diskussion analysiere ich dann im Hauptteil des Textes Prozesse der politischen Subjektkonstitution im Kontext von el retorno.
M ETHODOLOGISCHE Ü BERLEGUNGEN : I NTERSEKTIONALITÄT UND / ODER B ORDER F EMINISM? Mitte der 1980er Jahre führte die Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw den Begriff intersectionality als ein Konzept in die Debatte um Identitätspolitiken ein, das zur »Vermittlung in Bezug auf die Spannungen zwischen der Behauptung multipler Identität(en) und der Notwendigkeit von Gruppenpolitiken« fähig sein sollte.9 Seither kreisen die Debatten vor allem darum, welche Kategorien von Diskriminierung, sozialer Ungleichheit und Identität – wie etwa Klasse, Geschlecht und Ethnizität – in das Intersektionalitätskonzept aufgenommen werden sollen10 oder wie das Zusammenwirken verschiedener Ebenen und Kategorien der Diskriminierung auf den Grad sozialer Ungleichheit systematisiert, bemessen und bewertet werden kann.11 Theoretikerinnen wie die Soziologin Avtar Brah12 hingegen, deren Arbeiten von den postkolonialen Studien beeinflusst sind, kritisieren das analytische Grundprinzip von Intersektionalität, nämlich die analytische Kategorie ›soziale Kategorien‹. Brah hebt die Bedeutung hervor, welche die Konstruktion und Verwendung analytischer Kategorien durch die akademische Wissensproduktion für die Strukturierung und Reproduktion von Machtbeziehungen haben. Dabei distanziert sich Brah jedoch nicht prinzipiell von der Intersektionalitätsidee. Sie versucht vielmehr eine kritischreflexive Reformulierung des Konzepts, indem sie betont, dass soziale Kategorien als kontingent zu sehen sind, das heißt, dass sie in eine jeweils
9
Crenshaw, Kimberlé: Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Colour. In: Stanford Law Review 43, 6 (1991), S. 1241–1299, S. 1296.
10 Vgl. McCall, Leslie: The Complexity of Intersectionality. In: Signs: Journal of Women in Culture and Society 30, 3 (2005), S. 1771–1802. 11 Vgl. Winker, Gabriele/Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld 2009. 12 Brah, Avtar: Cartographies of Diaspora. Contesting Identities. London/New York 1996.
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spezifische Geschichte sowie in einen jeweils spezifischen sozialen und kulturellen Kontext eingebettet sind. Leslie McCall bezeichnet diese machtund wissenschaftskritische Hinterfragung sozialer Kategorien auch als »antikategorialen Komplexitätsansatz« innerhalb des Intersektionalitätsparadigmas, der soziale Kategorien dekonstruiert: »Soziales Leben«, schreibt sie hierzu, »wird als nicht reduzierbare Komplexität gesehen, das von multiplen und fließenden Determinierungen von Subjekten und Strukturen geprägt ist«.13 Border Feminism und seine Kritik Der antikategoriale Komplexitätsansatz weist viele Ähnlichkeiten mit dem border oder mestiza feminism auf. Der border feminism ist aus der radikalen Kritik an der dominanten akademischen Wissensproduktion, an der Marginalisierung oder Viktimisierung migrantischer Lebensführungen sowie an national, ethnisch/rassisch oder geschlechtsspezifisch begründeten Identitätspolitiken hervorgegangen. Stattdessen wird hier eine feministisch-postkoloniale Kulturtheorie der Grenze und des/der Grenzgänger/in formuliert. Ebenso wie die Idee der Intersektionalität tauchte der border feminism in den 1980er Jahren auf. Anders als die afroamerikanische Prägung der frühen Debatten um Intersektionalität war der border feminism jedoch von der so genannten chicana-Bewegung14 in den USA beeinflusst und wurde theoretisch maßgeblich von der Künstlerin und Kulturtheoretikerin Gloria Anzaldúa konzeptualisiert.15 In ihrem Buch »Borderlands/la frontera: The New Mestiza« 16 definiert Anzaldúa den für den border feminism zentralen Begriff des borderland (Grenzlandschaft). Sie schreibt: »Ein borderland ist ein unbestimmter Ort, geschaffen durch die emotionalen Rückstände unnatürlicher Grenzziehungen. Es ist ein permanenter Zustand des Über17
gangs. Das Untersagte und das Verbotene sind seine Bewohner.«
13 McCall: Complexity (wie Anm. 10), S. 1773. 14 Chicano oder chicana ist eine Selbstbezeichnung der Mexican Americans. 15 Siehe auch García, Alma A.: The Development of Chicana Feminist Discourse 1970–1980. In: Gender & Society 3, 2 (1989), S. 217–238. 16 Anzaldúa, Gloria: The Border/La Frontera. The New Mestiza. San Francisco 1987. 17 Anzaldúa: Border (wie Anm. 16), S. 3, meine Hervorhebung.
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Diese Konzeptualisierung der Grenze als einer Zone des Transits, des Übergangs und der Translation – der kulturellen Übersetzung – beinhaltet bei Anzaldúa auch das Potenzial »radikaler politischer Subjektivität«. Diese ist, der feministischen Soziologin Nancy Naples zufolge, das analytische Markenzeichen von »Borderland/la frontera«: »Anzaldúa [...] sieht borderlands als Orte, welche jene, die sie bewohnen, dazu befähigen, die Widersprüche und Spannungen diverser Settings zu verhandeln.« 18 Laut Chéla Sandoval, einer weiteren Theoretikerin der chicana-Bewegung, betont Anzaldúas Konzeption politischer Subjektivität die Aneignung von Handlungsmacht und zwar durch »mobile crossings« (Grenzgänge), durch Verhandlungen und Bewegungen »zwischen Races, Genders, Sexualitäten, Kulturen, Sprachen und akademischen Disziplinen«.19 Diese Strategie der Differenz bezeichnet Sandoval auch als »diasporische/migrantische Strategie des Bewusstseins und der Politik«.20 Die ursprünglich eher von den Literatur- und Kulturwissenschaften aufgenommenen Konzepte des borderland und der diasporischen Subjektivitäten werden inzwischen auch in den Sozialwissenschaften diskutiert. 21 In diesem Kontext kritisieren Wissenschaftler wie Pablo Vila die Tendenz, »den Grenzgänger oder das Hybride [...] als ein neues privilegiertes historisches Subjekt zu konstruieren«.22 Berücksichtigt man Vilas Skepsis gegenüber einer potenziellen Idealisierung des Grenzgängers/der Grenzgängerin als einem privilegierten Subjekt der Geschichte, sollten die von Exklusion und Gewalt geprägten Erfahrungen von MigrantInnen an und mit politischen Grenzen in die borderland-Analyse mit einbezogen werden.23
18 Naples, Nancy A.: Crossing Borders: Feminism, Intersectionality and Globalisation. Hawke Research Institute Working Paper Series 36 (2008), S. 7. 19 Sandoval, Chéla: Mestizaje as Method: Feminists-of-Color Challenge the Canon. In: Trujillo, Carla (Hrsg.): Living Chicana Theory. Series in Chicana/ Latina Studies. Berkeley 1997, S. 352–370, S. 352. 20 Sandoval: Mestizaje (wie. Anm. 19), S. 360. 21 Vgl. Naples: Crossing (wie Anm. 18). 22 Vila, Pablo: The Limits of American Border Theory. In: Ders. (Hrsg.): Ethnography at the Border. Minneapolis 2003, S. 306–341, S. 307. 23 Vgl. Nayak, Mechana/Suchland, Jennifer: Gender Violence and Hegemonic Projects. In: International Feminist Journal of Politics 8, 4 (2006), S. 467–485, S. 480.
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So sind es vor allem Erfahrungen der Diskriminierung, wie es auch die Soziologin Gudrun-Axeli Knapp betont, welche Subjektivitäten formen. 24 Border Feminism, Intersektionalität und empirische Praxis Der border feminism radikalisiert also das Verständnis politischer Subjektivitäten, indem er, anders als die Intersektionalitätsansätze nicht das Streben nach Verortung, sondern die Bewegungen und (Ver-)Handlungen in den liminalen Bereichen sozialer Kategorien, aber auch in Grenzregionen zwischen zwei Ländern, in denen soziale, politische und kulturelle Ordnungen oft kaum definiert sind, in den Mittelpunkt der Betrachtung von Politisierungsprozessen und politischer Handlungsmacht rückt. Mit anderen Worten: Der border feminism nimmt konsequent die Perspektive kollektiver und individueller (Migrations-)Bewegungen ein. Wie jedoch lässt sich sein theoretischer Input mit der empirischen Forschungspraxis verbinden? Denn die empirische Umsetzung einer Theorie der borderlands, der GrenzgängerInnen und der ›diasporischen Subjektivitäten‹ ist ohne einen – zumindest heuristischen – Rückgriff auf die analytische Kategorie ›soziale Kategorien‹ schwierig. Um dieses Problem zu lösen, unterscheidet Brah drei verschiedene konzeptuelle Bedeutungen sozialer Kategorien: Erstens als ein »Objekt sozialer Diskurse«, zweitens als »analytisches Instrumentarium« und drittens als ein »Subjekt politischer Mobilisierung«. Brah sieht Kategorien also nicht als essenziell oder festgeschrieben, sondern vielmehr als Markierer eines »umkämpften Feldes«, das seine Form durch »diskursive und materielle Prozesse und Praktiken erhält«.25 Dies bedeutet, dass soziale Kategorien abhängig von den jeweils spezifischen historischen, politischen, sozialen, kulturellen und akademischen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen annehmen können. Mit Blick auf meine Frage der Analyse politischer Subjektkonstitution in der Rückkehrbewegung el retorno möchte ich deshalb in Anlehnung an Brah einen Analyserahmen vorschlagen, welcher die Idee der Kategorien
24 Vgl. Knapp, Gudrun-Axeli: Race, Class, Gender: Reclaiming Baggage in Fast Travelling Theories. In: European Journal of Women’s Studies 12, 3 (2005), S. 249–265, S. 259. 25 Brah: Cartographies (wie. Anm. 12), S. 110.
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als Markierer eines »umkämpften Feldes« aufnimmt, ohne sich von der radikalen Idee des borderland und der diasporischen Subjektivitäten verabschieden zu müssen. Dieser Rahmen basiert auf einer grenzüberschreitenden Perspektive und beinhaltet die Rekonstruktion des Kontextes, des kulturellen Repräsentationssystems sowie dessen, was ich ›narrative Formatierung subjektiver Erfahrungen‹ nenne. Die Rekonstruktion des Kontextes, in welche die guatemaltekischen Flüchtlinge und RückkehrerInnen eingebettet sind, wird mit der »multilokalen Ethnographie«26 und der »Dichten Beschreibung«27 möglich. Ziel ist hier, deren spezifisches kulturelles Bedeutungssystem zu identifizieren, also das, was Stuart Hall »System der kulturellen Repräsentation«28 und Homi Bhabha »Narrativ«29 nennt. Diese Begriffe sind von Benedict Andersons Idee der Nation als einer imagined community beeinflusst, die auf kollektiven historischen Erzählungen (Narrativen) basiert und durch diese reproduziert wird.30 Wie Bhabha, Hall31 oder auch Paul Gilroy32 betonen, schaffen jedoch nicht nur nationale Mehrheitsgesellschaften und nationale Gemeinschaften ohne Staaten, sondern auch ethnische und kulturelle Minderheiten sowie migrantische- oder Flüchtlingsgruppen ihre eigenen historischen Narrative als Element der Politisierung. Diese Narrative sind Systeme der kulturellen Repräsentation politischer Gemeinschaften, die ebenso imaginiert sind wie die Nation, die aber die
26 Marcus, Georg E.: Ethnography in/of the World System. The Emergence of Multi-Sited Ethnography. In: Annual Review of Anthropology 117 (1995), S. 95–117. 27 Geertz, Clifford: Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture. In: Geertz, Clifford: The Interpretation of Cultures: Selected Essays. New York 1973, S. 3–30. 28 Hall, Stuart: The Work of Representation. In: Ders. (Hrsg.): Cultural Representation and Signifying Processes. London 1997, S. 13–74. 29 Bhabha, Homi K.: Nation and Narration. London/New York 1990. 30 Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London/New York 1983. 31 Hall, Stuart: Cultural Identity and Diaspora. In: Rutherford, Jonathan: Identity: Community, Culture, Difference. London 1990, S. 222–237. 32 Gilroy, Paul: The Black Atlantic: Modernity ad Double Consciousness. London/ New York 1993.
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Grenzen gegebener Nationalstaaten transzendieren, indem sie die von den dominanten nationalen Geschichtsschreibungen marginalisierten kollektiven Erfahrungen von Flucht, Vertreibung und Exil hervorheben. Sie werden daher von Gilroy als diasporic narratives (diasporische Narrative) und von Bhabha als counter narratives (Gegenerzählungen) zur Nation bezeichnet. »Das Erzählen des Selbst und des Rests« sieht Brah hingegen als zentralen Ansatz, um subjektive Erfahrungen in die Analyse mit einzubeziehen.33 Biographische Methoden erlauben die Rekonstruktion dessen,34 was Hall »Erzählung unseres Ichs«35 nennt. Hall zufolge stellen wir die Wahrnehmung individueller Identität über eine biographische Ich-Erzählung her: »Wenn wir meinen, eine einheitliche Identität von der Geburt bis zum Tod zu haben, dann bloß, weil wir eine tröstliche Geschichte oder ›Erzählung unseres Ichs‹ über uns selbst konstruieren.«36 Wie die feministische Biographieforscherin Marie-Francoise ChanfraultDuchet betont, enthält die Ich-Erzählung auch verschiedene »Mythen des Ich«, die den partikularen Erfahrungen einer Person Sinn und Kohärenz verleihen.37 Eine Ich-Erzählung kann indessen nur entstehen, wenn auf symbolische Orte für Subjektpositionierungen und damit für die Artikulation des Ich zugegriffen werden kann. Das bedeutet, dass eine Ich-Erzählung immer eingebettet ist in ein kollektives Bedeutungssystem, also in ein System der kulturellen Repräsentation, welches seinerseits kollektive Mythen sowie unter anderem vergeschlechtlichte soziale Modelle und Konstruktionen beinhaltet. Subjektpositionierungen sind indessen, wie Brah, Hall und Chéla Sandoval betonen, momentan und flüchtig, d.h. sie sind abhängig von Zeit und Ort der Erzählung sowie vom Gegenüber der oder des Erzählenden. Hall prägte hierfür den Begriff der »dezentrierten Subjektpositionierung«.38 Er versteht
33 Brah: Cartographies (wie Anm. 12), S. 138. 34 Chanfrault-Duchet, Marie-Francoise: Narrative Structures, Social Models, and Symbolic Representation in the Life Story. In: Berger Gluck, Sherna/Patai, Daphne (Hrsg.): Women’s Words. The Feminist Practice of Oral History. London/New York 1991, S. 77–92. 35 Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften, Bd. 2. Hamburg 1994, S. 183. 36 Hall: Rassismus (wie Anm. 35). 37 Chanfrault-Duchet: Narrative (wie Anm. 34), S. 81. 38 Hall: Rassismus (wie Anm. 35), S. 183.
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diese Dezentrierung jedoch als ein Ergebnis von globalisierungsbedingten gesellschaftlichen Fragmentierungsprozessen und der Vervielfältigung von Bedeutungs- und kulturellen Repräsentationssystemen in der so genannten Spätmoderne.39 Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass Hall davon ausgeht, es habe unter anderen historischen beziehungsweise politischen Konstellationen auch die Möglichkeit homogener(er) Identitäten und – wenn auch nicht souveräner so doch – zentrierter(er) Subjektivitäten gegeben. Demgegenüber knüpft Sandoval ihr Verständnis der – ebenfalls als dezentriert konzeptualisierten – diasporischen Subjektivitäten, auf die ich mich hier beziehe, nicht an eine bestimmte politische Konjunktur oder historische Phase wie jene der Globalisierung, sondern an ›zeitlose‹ Bedingungen wie Migrationen und die Durchkreuzung von Grenzen. Diese theoretischen und methodischen Überlegungen sollen nun die folgende empirische Analyse politischer Subjektivitäten in der Rückkehrbewegung el retorno leiten.
E L R ETORNO, G RENZÜBERSCHREITUNGEN POLITISCHE S UBJEKTIVITÄTEN
UND
Den Kontext rekonstruieren: Rassismus und Gemeinschaftsbildung in Guatemala Die Retorno-Bewegung war von einer kollektiven Gegenerzählung (counter narrative) zur Nation begleitet, die ich das ›dominante Narrativ der Rückkehr‹ nenne. Dieses Narrativ, aber auch die damit verbundenen IchErzählungen und politischen Subjektivitäten, werden indessen nur durch die Rekonstruktion des gesellschaftlichen Kontextes, also vor dem Hintergrund der spezifischen Geschichte und Form des postkolonialen Nationalstaates in Guatemala, verständlich. Dieser basiert auf der Konstruktion, Abwertung und Exklusion der indigenen Bevölkerungsmehrheit.
39 Hall, Stuart: Kulturelle Identität und Globalisierung. In: Hörning, Karl H./Winter, Rainer (Hrsg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt a.M. 1999, S. 391–441, S. 393ff.
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Die Segregation und ethnisch bestimmte Fragmentierung des nationalstaatlichen Raumes wurde zum zentralen Prinzip der Herrschaft, eine Machtgeographie, die der französische Anthropologe Yvon Le Bot als »régimen de apartheid«,40 als Apartheidsregime, bezeichnet. Dieses postkoloniale Konzept der so genannten ladinischen Nation (nación ladina) markierte als diskursive Formation alle nationalen Modernisierungs- und Entwicklungsprojekte in Guatemala, und zwar von der Etablierung des liberalen Agrarexportstaates in den 1870er Jahren bis zum Aufstandsbekämpfungsprogramm, dem »Nationalen Plan für Sicherheit und Entwicklung« (Plan Nacional de Seguridad y Desarrollo – PNSD) der Militärregierungen Anfang der 1980er Jahre. Die Konstruktion der ethnischen Differenz wirkte im Kontext dieser Projekte als dynamischer Mechanismus der sozialen Grenzziehung. So haben sich die konkreten Bedeutungen ethnischer Zuschreibungen wie indio, ladino und criollo und die damit verbundenen sozialen Positionierungen über die Zeit hinweg verschoben.41
40 Le Bot, Yvon: La guerra en tierras mayas – Comunidad, violencia y modernidad en Guatemala (1970–1992). Mexico City 1995, S. 309. 41 Smith, Carol: Introduction: Social Relations in Guatemala over Time and Space. In: Dies. (Hrsg.): Guatemalan Indians and the State, 1540 to 1988. Austin 1990, S. 1–30, S. 3. In der Kolonialzeit wurden mit ladinos/as Menschen bezeichnet, die weder in den von der katholischen Kirche gegründeten und kontrollierten reducciones oder pueblos de indios im ländlichen Raum noch in den urbanen Siedlungen der spanischen Kolonialgesellschaft lebten. Mit der Zeit veränderte das Wort ladino seine Bedeutung und bezeichnete Menschen, die eine auf deskriptiven Kriterien beruhende ›indigene Lebensweise‹ abgelegt hatten und daher mestizisch (geworden) waren; vgl. Le Bot: Guerra (wie Anm. 40), S. 20. Mit den liberalen Reformen 1871 in Guatemala wurde der/die ladino/a in Abgrenzung zum/zur criollo/a (NachfahrIn der spanischen Eroberer oder europäischer EinwandererInnen) wie auch zum/zur indio/a als imaginäres nationales Subjekt des neuen postkolonialen Nationalstaats definiert. Der Begriff ladino/a markiert daher sowohl die Differenz zu Europa als auch zu den autochtonen Gruppen Guatemalas. So basiert die dominante nationale Gründungserzählung des postkolonialen Guatemala nicht auf dem ›Mix der Kulturen‹, der mestizaje wie etwa in Mexiko, sondern auf einem erfolgreich von criollos/as und ladinos/as, die gegen die spanische Krone aufbegehrten, niedergeschlagenen indigenen Auf-
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Vor diesem Hintergrund kann die aus den kolonialen und von der katholischen Kirche verwalteten reducciones und pueblos de indios hervorgegangene indigene Gemeinde (comunidad indígena) als flexibles Konzept der kommunalen Vergemeinschaftung und kulturellen Identifikation der indigenen Gruppen in Guatemala gesehen werden. Und obgleich sich die comunidad indígena, den politischen Kräfteverhältnissen entsprechend, über die Zeit mehr oder weniger gegenüber dem (National-)Staat und der herrschenden Gesellschaft öffnete,42 war und ist die Beziehung zwischen der ›Welt der comunidades‹ und der nationalen Gesellschaft in Guatemala von einem »antagonistischen Verhältnis«43 geprägt. Der 1982 unter der Militärregierung von General Efraín Ríos Montt in Gang gesetzte »Nationale Plan für Sicherheit und Entwicklung« radikalisierte die genannten Kennzeichen nationaler Vergemeinschaftung. Er zielte auf die Zerstörung der comunidad indígena als eine zum Nationalstaat differente und damit bedrohliche Form sozialer Organisation und kultureller Identifikation. So gehörten zu den wichtigsten Elementen des »Nationalen Plans« erstens die Ermordung, Spaltung und Vertreibung der zur ›kommunistischen Gefahr‹ erklärten indigenen Gruppen und zweitens die konsequente Einbindung der ›besiegten‹ Männer in paramilitärische Strukturen.44 Das dritte zentrale Element bestand in der Ausübung systematischer sexueller Gewalt gegen indigene Frauen, insbesondere Mütter und Schwangere, die als biologische und kulturelle Reproduzentinnen der comunidad indígena wahrgenommen und zur ›Gefahr für die nationale Sicherheit‹ erklärt wurden.45 Aus einer grenzüberschreitenden Perspektive lässt sich der historische und politische Kontext von el retorno also wie folgt zusammenfassend beschreiben: Die mit dem Nationalstaat in Guatemala verbundenen Herrschaftsprinzipien der Segregation und der programmatischen Exklusion der
stand unter Anastasio Tzul 1820, ein Jahr vor der Unabhängigkeitserklärung; vgl. Le Bot: Guerra (wie Anm. 40), S. 88. 42 Garbers: Geschichte (wie Anm. 5), S. 26–35. 43 Smith: Introduction (wie Anm. 41), S. 13. 44 Stepputat, Finn: Repatriation and Every day Forms of State Formation in Guatemala. In: Black, Richard/Khoser, Kalid (Hrsg.): The End of the Refugee Cycle? Repatriation and Reconstruction. Oxford 1999, S. 210–226, S. 224. 45 Vgl. CEH – Comisión para el Esclarecimiento Histórico: Guatemala. Memoria del silencio. Tz’inil na’tab‘al. Guatemala City 1999.
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indigenen Gruppen aus dem postkolonialen Nationalstaatskonzept der nación ladina haben zu einer starken Fragmentierung des nationalstaatlichen Territoriums und zu einem antagonistischen Verhältnis zwischen comunidades indígenas und guatemaltekischem Nationalstaat geführt.46 Flucht und Exil manifestierten diese Fragmentierung jenseits der staatlichen Grenzen in den mexikanischen Flüchtlingscamps. ›Exil‹ bedeutete für die Flüchtlinge deshalb zwar Zerstörung und Verlust, aber nicht Heimatlosigkeit im Sinne ›nationaler Entwurzelung‹. El retorno als Form der politischen Artikulation machte vielmehr ihre eng an die comunidad indígena geknüpften Formen der kulturellen Repräsentation sichtbar, welche sich weder in die mexikanische noch in die guatemaltekische Nationalkultur einschreiben. Vielmehr bildet, wie die Historiker George Lovell und Christopher H. Lutz herausarbeiten, die Migration historisch wie aktuell einen integralen Bestandteil der (Über-)Lebensstrategien und der kulturellen Geschichte der comunidades indígenas in Guatemala und Südmexiko, die mehrheitlich der Sammelbezeichnung Maya zugeordnet werden. Die Autoren schreiben hierzu: »Die Migration war und ist ein derart allgegenwärtiges Charakteristikum des Lebens der Maya, dass man von einer kulturellen Geschichte sprechen kann, deren zentrales Organisationsprinzip dieses Thema ist.«47 Kulturelle Repräsentation: Die Rückkehr als Gegenerzählung zur Nation El retorno beinhaltete also ein spezifisches System der kulturellen Repräsentation, das durch ein Narrativ der »Rückkehr« artikuliert wurde. Dieses Narrativ basierte auf einer starken Abgrenzung zur nación ladina und zum guatemaltekischen Nationalstaat. So vollzogen die politischen Vertretungen der Flüchtlinge in Mexiko, wie der Kultursoziologe Finn Stepputat48 hervorhebt, mit der Bezeichnung el retorno (die Rückkehr), die sie ihrem Rückkehrprojekt gaben, eine bewusste sprachliche Abgrenzung zu den staatlichen Rückführungsprogrammen, die von der ersten auf die Militärs folgenden, aber
46 Smith: Introduction (wie Anm. 41). 47 Lovell, George W./Lutz, Christopher H.: Survivors on the Move: Maya Migration in Time and Space. Paper Prepared for Presentation at Panel 223 La Diáspora Maya, Latin American Studies Association, Washington D.C., 5.4.1991, S. 2. 48 Stepputat: Repatriation (wie Anm. 6).
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von diesen kontrollierten, (formal-)demokratischen Regierung Guatemalas ab 1986/1987 in den Flüchtlingscamps in Mexiko gestartet und repatriación (Repatriierung) genannt wurden. Sie sahen die Eingliederung der aus Mexiko zurückgeführten Flüchtlinge in eine militarisierte soziale Ordnung sowie die Rekrutierung der Männer in paramilitärische Verbände vor. Vor diesem Hintergrund erhielt die Unterscheidung zwischen retorno und repatriación eine politisch aufgeladene Bedeutung: Die Flüchtlingsvertretungen grenzten sich vom Paramilitarismus und von der nationalen Gemeinschaft der ›bewaffneten Patrioten‹ ab. Sie formulierten stattdessen mit dem Begriff retorno ein eigenes politisches Projekt. Zugleich verbanden die Flüchtlinge, wie Stepputat weiter ausführt, mit el retorno ein normatives Konzept des sozialen Seins. In Abgrenzung zur Figur des paramilitärischen Kämpfers wurde das (männliche) Subjekt des so genannten ›echten Flüchtlings‹ konstruiert. Gemeint ist eine diskursive Figur, die Normen des sozialen Handelns und moralische Standards innerhalb der Flüchtlingsgemeinschaft verkörperte: Hierzu gehörten die Erfahrungen des Wanderns und des Leidens – wie Gewalt, Vertreibung und Enteignung – und insbesondere die Wahrnehmung des Exils als eines Zeit-Raumes des Übergangs. Dies bringt der religiös aufgeladene Begriff der posada (etwa: Herberge für Durchreisende) zum Ausdruck, der von vielen Flüchtlingen zur Bezeichnung ihres Aufenthaltes in Mexiko verwendet wurde. Die Bestimmung des ›echten Flüchtlings‹ lag also im Kampf für die Rückkehr. Nicht zuletzt etablierten die Flüchtlingsvertretungen auch eine eigene historische Erzählung, welche die Geschichte des Kampfes der Armen für materielle Verbesserungen, Autonomie und Würde sowie den Widerstand gegen die ›Reichen und ihr Militär‹, die Krieg gegen die Armen führten und sich deren Land aneigneten, hervorhob. Auch eine gemeinsame Zukunft wurde anvisiert, in der die Flüchtlinge gemeinsam zurückkehren, ihren von der Armee enteigneten Landbesitz zurückerobern und autonome comunidades gründen würden. Die historische Erzählung und das System der kulturellen Repräsentation der Rückkehrbewegung el retorno hingen also eng mit der Organisation einer kollektiven und kommunal orientierten Rückkehr in die comunidades zusammen. Insbesondere die tierra, genauer der eigene Landbesitz, erhielt in dieser Geschichtskonstruktion eine besondere Bedeutung: Viele Flüchtlinge prägte die persönliche Erfahrung der internen Migration in den 1960er und 1970er Jahren. Aus dem verarmten westlichen Hochland Guatemalas waren
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sie damals als TagelöhnerInnen und landlose WanderarbeiterInnen in landwirtschaftliche Kolonisierungsprojekte der katholischen Kirche gekommen, die im guatemaltekischen Tiefland, dem Ixcán, entstanden und von Missionaren geleitet wurden, welche von der Befreiungstheologie beeinflusst waren. Dort hatten die späteren Flüchtlinge erstmals eigenes Land erhalten. Die Wiederaneignung dieses Landes – der tierra – im Ixcán wurde geradezu zu einer Obsession.49 Es entstand ein Mythos des Ixcán als ›versprochenes‹, ›heiliges‹ beziehungsweise ›geschändetes‹ Land,50 der zum mobilisierenden Fixpunkt für die gesamte Rückkehrbewegung wurde, obgleich nur etwa 13.000 der rund 45.000 anerkannten guatemaltekischen Flüchtlinge in Mexiko aus dem Ixcán kamen.51 In diesem Kontext ist vor allem die Bedeutung von Akteuren aus dem Umfeld der befreiungstheologisch orientierten und ebenfalls von den Militärregierungen verfolgten Katholischen Aktion (Acción Católica) hervorzuheben. Eine Gruppe von Aktivisten der Acción Católica gründete in Mexiko die Guatemaltekische Kirche im Exil (Iglesia Guatemalteca en el Exilio – IGE). Diese Gruppe, darunter auch einige Missionare der Kooperativenprojekte im Ixcán, unterhielt enge Beziehungen zu den Vertriebenen und publizierte ab Ende der 1980er Jahre die ersten Texte über deren Schicksal, die auch in den Flüchtlingscamps kursierten. Es war jedoch insbesondere der Kulturanthropologe und Jesuit Ricardo Falla, der jahrelang Vertriebene begleitete, die Erfahrungen und Lebensgeschichten unzähliger Flüchtlinge aufzeichnete, sie in eine kohärente kollektive Erzählung ›übersetzte‹ und mehrere Beiträge zum Thema veröffentlichte.52 Falla deutete Vertreibung, Exil und Rückkehr als kollektiven und individuellen Ritus des Übergangs – als rite de passage. 53 Die Bewegung im Zeit-Raum der Vertreibung und Flucht beschreibt er als »tiempos de sueños« (etwa: Traum-Zeiten), als Grenzerfahrung, in der eine Gruppe oder Person nicht mehr ist, was sie
49 Vgl. Stepputat: Repatriation (wie Anm. 6); Garbers: Geschichte (wie Anm. 5). 50 IGE – Iglesia Guatemalteca en el Exilio: Nosotros conocemos nuestra historia. Mexico 1987, S. 127, S. 144. 51 CEH: Guatemala (wie Anm. 45), S. 259. 52 Vgl. u.a. Falla, Ricardo: Masacres de la selva: Ixcán, Guatemala (1975–1982). Guatemala City 1992. 53 Gennep, Arnold van: Übergangsriten. Frankfurt a.M. 1986; Turner, Victor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a.M. 1989.
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war, und noch nicht das ist, was sie sein wird: »Wir befanden uns jenseits, in einem Niemandsland, in der Liminalität.«54 Die Erfahrungen der Vertriebenen »komponierte« Falla, wie er selbst schreibt, zu einem »Evangelium«, zum »religiösen Epos« und zur »Trilogie« aus Vertreibung (Exodus), Exil (Herberge) und Rückkehr (Erlösung).55 Ähnlich wie bei Falla steht auch in den Texten der IGE der Passageritus im Zentrum. Erzählt wird in verschiedenen Variationen die männliche ›Subjektwerdung‹ durch Erfahrungen der Migration, der Flucht und des Exils, mit anderen Worten die durch Grenzüberschreitungen verlaufende Verwandlung des recht- und besitzlosen Wanderarbeiters, Tagelöhners oder vertriebenen Siedlers in einen autonomen, Land besitzenden campesino. Diese counter narrative der Rückkehr war also erstens vom historischen Antagonismus zwischen comunidad indígena und Nationalstaat geprägt, zweitens von der Migration als kultureller Geschichte und sozialem Organisationsprinzip der comunidad indígena sowie drittens von den grenzüberschreitenden Diskursen der Befreiungstheologie. Im Gegensatz zu den nationalen Erzählungen, die sie ausschloss, konnten sich die Flüchtlinge mit dieser Erzählung identifizieren und sie legitimierte das Recht auf Rückkehr, indem sie die Flüchtlinge als historische politische Gemeinschaft von vertriebenen comunidades indígenas repräsentierte, in deren Zentrum die Figur des ›echten Flüchtlings‹ und damit das (männliche) Subjekt des enteigneten campesino im Kampf gegen die Vertreter der Nation, die ›Reichen und ihr Militär‹, stand. Dieses Narrativ der Rückkehr beinhaltete allerdings auch weibliche Bilder, die vor allem auf katholische Marienfiguren rekurrierten. Im erwähnten Text von IGE56 beispielsweise finden sich weibliche Repräsentationen wie die der passiven und unter dem Verlust ihrer Familie leidenden Mutter, die als Opfer-Metapher für die Massaker und Vertreibungen der Armee auftaucht. Dennoch: Obgleich als passiv und leidend konstruiert, boten diese religiösen Mutterbilder den Frauenflüchtlingen in der Exil-Situation einen möglichen Ort für eine Positionierung als historische Subjekte und damit für die politische Artikulation. Diese Positionierung beinhaltete das Potenzial einer radikalen und diasporischen politischen Subjektivität im Sinne
54 Falla: Masacres (wie Anm. 52), S. 24. 55 Falla: Masacres (wie Anm. 52), S. 33–38, S. 40 ff., S. 56. 56 IGE: Nosotros (wie Anm. 50).
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des ›Bewohnens‹ und der Politisierung einer ›verbotenen‹ Subjektpositionierung. Denn die Frauenflüchtlinge waren nicht nur ›exterritorialisiert‹ sowie als indigene Frauen aus der guatemaltekischen Nationalkultur ausgeschlossen, sondern sie wurden während des Krieges auch in besonderer Weise verfolgt und erhielten, anders als die indigenen Männer, nicht einmal das Angebot auf bewaffneten Patriotismus (Paramilitarismus). Die indigene Frau, insbesondere die indigene Mutter, galt vielmehr als Kriegsziel. Sie war ›verboten‹. Im Folgenden möchte ich diese These durch die Rekonstruktion einer Ich-Erzählung illustrieren. Ich werde hierzu einen Ausschnitt aus einem biographischen Interview mit der Rückkehrerin Gabriela García analysieren, indem ich ihre narrative Formatisierung subjektiver Erfahrungen mit dem Kontext und dem kulturellen Repräsentationssystem von el retorno verknüpfe.57 Ich-Erzählung und die Politisierung der Mutterschaft Gabriela García wurde 1942 in einer comunidad im westlichen Hochland der Provinz Huehuetenango nahe der mexikanischen Grenze geboren. 1982 flüchten sie, ihr Partner und drei ihrer Kinder über die Grenze nach Mexiko, nachdem die Armee in den umliegenden Orten mehrere Massaker verübt hatte. In den ersten Wochen der Flucht bringt Gabriela ihr fünftes Kind zu Welt, eine Tochter. Die folgenden 16 Jahre verbringt sie in verschiedenen Flüchtlingscamps im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas. Anfang der 1990er Jahre wird sie für die Rückkehr politisch aktiv. Schnell gehört Gabriela zu den Protagonistinnen ihrer Rückkehrgruppe. Sie verhandelt als eines der wenigen weiblichen Mitglieder der Landkommission mit der guatemaltekischen Regierung über die Landrechte ihrer Gruppe und reist in dieser Funktion mehrmals von Mexiko nach Guatemala. 1998 schließlich kehren Gabriela, ihre Familie und weitere 150 Familien nach Guatemala zurück. Doch nicht ihre politischen Aktivitäten in der Landkommission, sondern die Umstände der Geburt ihrer Tochter auf der Flucht nach Mexiko stehen im Zentrum ihrer Ausführungen zu Flucht und Exil. Hier heißt es:
57 Vor- und Zuname der interviewten Person wurden geändert. Die Interviews wurden am 20. Mai und am 20. Juni 2002 in der Rückkehrgemeinde La Trinidad geführt.
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»Und ich sagte zu meinem Mann, wenn wir hier [in einem Auffanglager für Flüchtlinge kurz hinter der mexikanischen Grenze] blieben, würde ich es nicht ertragen. Ich fürchtete, dass mir etwas zustoßen könnte. Ich schlug vor, eine andere posada zu suchen. Also ging er mit mir weiter nach Mexiko hinein. … Dort suchte er eine posada. Ich wurde ruhiger und dachte, dass ich bleiben und mein Kind zur Welt bringen könne. Aber so war es nicht, denn bald kam die Migrationspolizei und sagte, ... dass [wir uns] auf der anderen Seite der Landstraße sammeln sollten, die weiter [von der Grenze] entfernt war. So verließen wir den Ort und gingen dorthin, wo bereits eine Gruppe von Genossen in einem einzelnen Haus campierte. Dort sagte ich zu meinem Mann – ich war schon kurz vor der Niederkunft – ich sagte zu ihm: ›Vielleicht werde ich mich hier einrichten, Du, ich möchte mit meiner Last nicht mehr weiter gehen.‹ Aber es kam nicht so, wir verließen den Ort wieder und gingen nach Guadalupe Victoria. … Aber wir blieben auch nicht in Guadalupe, wir gingen zu einem rancho [ein Stall oder eine kleine Farm], er hieß Coyugual. Und zwei Wochen nachdem wir dort angekommen waren, brachte ich meine Tochter zur Welt. Diese Nacht verbrachte ich schlecht, ich litt, keine Hebamme war da. Allein sitze ich dort mit dem Rücken zum Feuer, nur mein Mann begleitet mich, nur die Tierchen, die nachts unterwegs sind, kommen herein und singen in der Nacht. Sie kommen kurz herein, um ein Ründchen zu drehen und gehen wieder. Morgens [...] stand [ich] auf, setzte mich nah an die Feuerstelle und machte Feuer. Ich fühlte mich schwach. Nach zwei Tagen stand ich wieder auf. Mein Mann mahlte das Maismehl in der Mühle und ich machte daraus tortillas [Maisfladen].«
Die Anthropologin Mary Louise Pratt beschreibt die Wiederkehr neutestamentarischer Repräsentationen als häufig anzutreffendes Muster, um Erfahrungen der Migration bzw. der Vertreibung in Sinn stiftende Erzählformate zu bringen.58 Auch Gabriela ›formatiert‹ ihre Erfahrungen der Flucht nach Mexiko, das ständige Umherziehen und die Niederkunft mit Hilfe eines religiösen Erzählmusters. Sie repräsentiert die Geburt ihres Kindes während der Flucht als eine Variation der Geburt Jesu. Der von ihr verwendete Ausdruck posada hat hier die gleiche Bedeutung und beinhaltet ähnliche Bilder wie in der neutestamentarischen Erzählung: Ihr Partner und sie ziehen umher und suchen eine posada, wo sie ihr Kind zur Welt bringen kann. Sie finden sie
58 Pratt, Mary Louise: Globalización, desmodernización y el retorno de los monstruos. In: Pajuelo, Ramón/Sandoval, Pablo (Hrsg.): Globalización y diversidad cultural. Una mirada desde América Latina. Lima 2004, S. 399–415.
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schließlich in einem rancho, einem Stall. Gabrielas Ich-Gestaltung bezieht sich dabei auf die katholische Figur der Marien gleichen ›Mutter‹, die sich auch im dominanten Narrativ der Rückkehr findet. Allerdings steht im Mittelpunkt ihrer Geschichte nicht der enteignete campesino, sondern die (werdende) Mutter. Gabriela aktiviert damit die Marien-Figur und verschiebt so ihre Bedeutung. Die Erzählung der Geburt ihrer Tochter begründet deshalb Gabrielas ›Mythos des Ich‹.59 Mit der narrativen Anordnung ihrer Erfahrungen als religiösen rite de passage bringt sie sich selbst als politisches Subjekt eines entstehenden Kollektivs von Flüchtlingen hervor. Um diese Mutter-Positionierung als eine politische zu verstehen, muss sie allerdings weitergehend kontextualisiert werden: Wie Enakshi Dua über indigene Frauen in Kanada schreibt, können diese nicht den symbolischen Ort der Reproduzentin der Nation (›Mutter der Nation‹) einnehmen. Sie können jedoch eine Positionierung als ›Mutter‹ einer imaginierten indigenen Gemeinschaft vollziehen. Diese Subjektposition nennt Dua »mother of community«.60 In diesem Sinne geriert sich Gabriela in ihrer Ich-Erzählung als eine Art ›Mutter der imaginierten Rückkehrgemeinschaft‹.61 Zum Zweiten hat dieser ›Mythos des Ich‹ auch eine ganz konkrete politische Bedeutung: So weisen Soziologinnen wie Elizabeth Jelin62 und Maxine Molyneux63 in ihren Arbeiten über Geschlechterpolitiken und Frauenbewegungen in der postkolonialen Geschichte Lateinamerikas immer wieder auf die Bedeutung der (Selbst-)Repräsentation als Mutter als politische Positionierung und Anerkennungsstrategie von Frauen in ihren Kämpfen um Staatsbürgerrechte und Aktivitäten gegen autoritäre Regime hin. Das bekannteste Beispiel sind hier die »Madres de Plaza de Mayo« in
59 Chanfrault-Duchet: Narrative (wie Anm. 34). 60 Dua, Enakshi: Introduction. Canadian Anti-Racist Feminist Thought: Scratching the Surface of Racism. In: Dua, Enakshi/Robertson, Angela (Hrsg.): Scratching the Surface. Canadian Anti-Racist Feminist Thought. Toronto 1999, S. 7–31, S. 12. 61 Der Begriff der imaginierten Rückkehrgemeinschaft (imagined returned community) ist Stepputat (vgl. Repatriation [wie Anm. 6]) entlehnt, der damit das System der kulturellen Repräsentation von el retorno bezeichnet. 62 Jelin, Elizabeth (Hrsg.): Women and Social Change in Latin America. London 1990. 63 Molyneux, Maxine: Women’s Movements in International Perspective – Latin America and Beyond. Houndmills/New York 2001.
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Argentinien. Auch Sarah Radcliffe und Sallie Westwood analysieren verschiedene Strategien der Aneignung, Umdeutung und Politisierung der Mutterschaft in Lateinamerika, insbesondere durch sozial marginalisierte und indigene Frauen, die zumeist auf die Marienbilder der katholischen Kirche rekurrieren.64 Diese konkurrieren mit dem ethnisch privilegierten Bild der ›Mutter der Nation‹, aus dem arme und indigene Frauen ausgeschlossen sind. Im Rahmen der Operationen der guatemaltekischen Militärregierungen wurden, wie oben gezeigt, indigene Mütter sogar zur nationalen Bedrohung und damit zum militärischen Angriffsziel erklärt.65 Gabrielas Hervorhebung der Schwangerschaft und Geburt ist daher auch als ein politisches Statement für das Recht auf Mutterschaft der indigenen Frau, auf die Integrität ihrer Familie und ihres Körpers zu interpretieren. Der diasporische Charakter von Gabrielas ›Mythos des Ich‹ wird indessen deutlich, wenn der Erzählabschnitt über die Geburt mit dem nachfolgenden verknüpft wird: »So war unser Leben und so wuchs mein Töchterchen heran. Wir verließen Guadalupe, gingen in ein Flüchtlingscamp, unser Häuschen wurde gebaut. Wir strengten uns an für den retorno. Dann wurden die Friedensverträge unterzeichnet. Das war, als sie uns sagten, dass es für diejenigen, die zurückkehren wollten, eine Möglichkeit gäbe, um ein Stück Land zu erhalten. Fünf Jahre kämpften wir für die Rückkehr. Mein Töchterchen war schon 17, als wir nach Guatemala zurückkamen. 17 Jahre waren wir in Mexiko, das Alter, das sie hat. Zwei Wochen vor ihrer Geburt kam ich nach Coyugual und sie war schon eine junge Frau, als sie zurück kam ... und so haben wir die Zeit verbracht«.
Die Geburt und die Kindheit der jüngsten Tochter erhalten in Gabrielas Erzählung auch eine wichtige Funktion zur Konstruktion von Zeit und Raum des Exils. Sie erzählt die 17 Jahre in Mexiko sowie den Kampf um Rückkehr in stark geraffter Form und in Begriffen des Heranwachsens ihrer Tochter. Dies und die Verwendung der posada-Metapher zeigt, dass Ga-
64 Radcliffe, Sarah/Westwood, Sally: Gender, Racism and the Politics of Identities in Latin America. In: Dies. (Hrsg.): Viva! Women and Popular Protest in Latin America. London/New York 1993, S. 1–29. 65 Vgl. Radcliffe/Westwood: Gender (wie Anm. 64), S. 14.
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briela Mexiko als borderland, als liminalen Zeit-Raum des Übergangs zu etwas Neuem konzeptualisiert. Diese Form der narrativen Herstellung von Zeit und Raum dient aber nicht nur der diasporischen Subjektpositionierung als Mutter, sondern Geburt und Heranwachsen der Tochter sind auch Metaphern für eine kollektive Zukunft der Flüchtlinge – auf der anderen Seite der Grenze.
S CHLUSS Der border feminism geht im Gegensatz zur von Crenshaws eingebrachten Intersektionalitätsidee davon aus, dass nicht das Streben von Individuen und Gruppen nach (wenn auch multiplen) Verortungen in identitätsbildenden sozialen Kategorien wie Ethnizität, Klasse und Geschlecht »radikale politische Subjektivitäten« hervorbringe. Vielmehr führten individuelle und kollektive Erfahrungen der Überschreitung, Verhandlung und Transgression politischer, symbolischer und diskursiver Grenzen (d.h. auch kategorialer Grenzen) dazu. Hier stehen also vor allem die Bewegungen in den undefinierten oder mitunter auch verbotenen Grenzbereichen und Zonen des Übergangs sozialer Kategorisierungen im Mittelpunkt der Analyse von Subjektivierungsprozessen. Sie werden als produktive Räume für neue Formen politischer Handlungsmacht gesehen. Diese Räume werden als borderlands (Anzaldúa) und die Subjektivitäten als »diasporisch« (Sandoval) bezeichnet. Damit transzendiert aber der border feminism das Intersektionalitätsparadigma: Denn die Konstitution politischer Subjektivitäten und die Aneignung von politischer Handlungsmacht wird von der Durchkreuzung von Grenzen als einer zentralen Erfahrung her gedacht und das mobile, kreuzende, (ver-)handelnde Subjekt wird in den Mittelpunkt gestellt. Sowohl die (Migrations-)Bewegungen und die Durchkreuzung von politischen, sozialen und symbolischen Grenzen als zentrale soziale, politisierende und subjektivierende Erfahrungen als auch der Raum des borderland, den diese Bewegungen konstituieren, können mit Intersektionalitätsansätzen nicht erfasst werden, welche die von Avtar Brah oder den Autorinnen der chicana-Bewegung formulierte Kritik an der dominanten Wissensproduktion zu sozialen Kategorien ausblenden. So konzentrieren sich gängige intersektionale Analysen auf den Prozess der Verortung von Gruppen und Individuen – und sei diese noch so mannigfaltig. Im Zentrum
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der Analyse politischer Subjektivitäten des border feminism steht hingegen nicht die Verortung, sondern die Bewegung und Transgression. Dennoch formen nach wie vor auch Erfahrungen der Diskriminierung und Marginalisierung entlang sozialer Kategorien wie Ethnizität, Klasse und Geschlecht die (politischen) Subjektivitäten von MigrantInnen und GrenzgängerInnen. Diese sind indessen mit dem border feminism nur schwer zu erfassen, müssen aber in die Analyse einbezogen werden. Avtar Brah, die für eine reflexive, wissenschafts- und machtkritische Reformulierung des Intersektionalitätskonzeptes plädiert, spricht daher von der Kontingenz und Kontextualität sozialer Kategorien, die sie, wie oben erwähnt, als Markierer eines »umkämpften Feldes« bezeichnet. Der in diesem Beitrag vorgeschlagene Rahmen zur Analyse politischer Subjektivitäten in grenzüberschreitenden Kontexten basiert daher auf einer Kombination der Konzepte borderland und diasporische Subjektivitäten von Gloria Anzaldúa und Chéla Sandoval mit Brahs Idee der kontingenten Kategorien und ihren Vorschlägen für ein ethnographisch-biographisch orientiertes, induktives methodisches Vorgehen. In der Anwendung dieses Rahmens auf die Rückkehrbewegung el retorno ist deutlich geworden, dass das dominante Narrativ der Rückkehr, die Ich-Erzählungen der RückkehrerInnen und die politischen Subjektivitäten, die mit el retorno verbunden waren, vor allem von Grenzüberschreitungen auf verschiedenen Ebenen geprägt sind. Auf der materiellen Ebene gehören hierzu die Vertreibung nach Mexiko und die Rückkehr nach Guatemala. Auf der symbolischen und diskursiven Ebene fällt der Einfluss religiöser Erzählmuster der Befreiungstheologie auf. Die Flüchtlinge und RückkehrerInnen ordnen daher ihre Erfahrungen der Grenzüberschreitungen narrativ als rite de passage an. Hier erscheint Mexiko als borderland, als Zeit-Raum des Übergangs, der mit dem Begriff posada bezeichnet wird. Die männlichen Rückkehrer jedoch können im Prozess der Subjektpositionierung auf real existierende und aktive soziale Modelle für Männer zugreifen, beispielsweise auf die soziale Figur des selbst bestimmten campesino. Für Frauenflüchtlinge und Rückkehrerinnen wie Gabriela stehen entsprechende weibliche Figuren nicht bereit. Eine Möglichkeit ist es deshalb, die Mutterschaft hervorzuheben, um das passive katholische Bild der Maria oder ›verbotene‹ Subjektpositionen wie die der »indigenen Mutter« anzueignen, zu verschieben und zu politisieren. Die politische Dimension der Positionierung als indigene Frau bleibt in Gabrielas Ich-Erzählung jedoch ohne eine Rekonstruktion des Kontextes auf der Makroebene un-
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sichtbar: Dieser Kontext ist die guatemaltekische Gesellschaft, eine rigide Klassengesellschaft, deren Herrschaftsbasis Rassismus ist und indigene Mutterschaft ein ›umkämpftes Feld‹ bildet. Im spezifischen Kontext, in dem el retorno zu verorten ist, beinhaltet die Subjektposition ›Mutter‹ also das Potenzial radikaler Subjektivität. Durch diese Position wurden einerseits Subversion und Widerstand gegen den rassistischen ladinischen Nationalstaat sowie Forderungen auf das Recht der physischen Integrität von Körper und Familie artikuliert. Andererseits symbolisierte Mutterschaft im borderland des posada-Setting die Entstehung und Reproduktion einer Gemeinschaft zukünftiger RückkehrerInnen sowie eine gemeinsame Zukunft auf der anderen Seite der Grenze. Als diese Gegenwart wurde, verschwand die Mutter als politisches Subjekt. Mehr noch: Sie wurde nun nicht mehr vom guatemaltekischen Staat, sondern als politische Subjektposition von den eigenen Männern der Rückkehr-Communities bekämpft. Stattdessen sollten die Frauen die reproduktiven Bedürfnisse der Männer, der Familie sowie der Gemeinde erfüllen, sich unterordnen und schweigen. Die wenigsten nahmen dies als neue Subjektivität an. Fast alle entschieden sich erneut für (Flucht-)Bewegungen: Gabriela floh in eine Krankheit – chronische Kopfschmerzen wie sie erzählt – die es ihr nicht erlauben, sich länger in geschlossenen Räumen aufzuhalten. Dies bedeutet auch, dass sie keine Hausarbeit verrichten kann. Sie ist stattdessen immer draußen unterwegs, zu Versammlungen ihrer Gemeinde, zu politischen Aktivitäten in der Stadt, zur Arbeit auf dem Feld. Die meisten der jüngeren Rückkehrerinnen aber kreuzten erneut die Grenze zu Mexiko – dieses Mal mit dem Ziel USA, um dort ein »besseres Leben« zu suchen. Aber das ist eine andere Geschichte.
»Sitting at a Crossroad« methodisch einholen Intersektionalität in der Perspektive der Biografieforschung
E LISABETH T UIDER
»Intersectionality refers to the interaction between gender, race, and other categories of difference in individual lives, social practices, institutional arrangements, and cultural ideologies and the outcomes of 1
these interactions in terms of power.«
Seitdem die US-amerikanische Feministin und Juristin Kimberlé Crenshaw »Intersektionalität« als Terminus technicus in die feministische Diskussion gebracht hat und dieser vor einigen Jahren die deutschsprachige Genderforschung erreichte, entzündeten sich auch fruchtbare Debatten darüber, auf welcher Ebene, mit welcher Intention und Stoßrichtung und mittels welcher Methoden eine intersektionelle Perspektive die feministischen Analysen tangiert. In ihrem Artikel »Intsectionality in Transatlantic Perspective« betrach-
1
Davis, Kathy: Intersectionality as a Buzzword. A Sociology of Science Perspective on what Makes a Feminist Theory Successful. In: Feminist Theory 9 (2008), S. 67–85, S. 68.
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tet Kathy Davis, wie und welche transatlantische Reise das Intersektionalitätskonzept durchlaufen hat, und sie arbeitet dabei die unterschiedlichen theoretischen Bezugskontexte in Europa und in den USA heraus.2 Während sich die US-amerikanischen Intersektionalitätsdebatten vorwiegend auf ›die großen Drei‹ (the big three), also auf die Triade von race, class, gender, bezogen haben, drehten sich hingegen die europäischen Überlegungen vielmehr um den Aspekt der begründeten Auswahl der Differenzen. Anhand meiner Forschungen in Südmexiko und der Subjektpositionierung muxé3 werde ich im vorliegenden Beitrag die im deutschen Sprachraum nach wie vor virulente Debatte zur Auswahl der relevanten Differenzen und auch die damit verbundenen methodisch-methodologischen Herausforderungen aufgreifen. Am ausgewählten Beispiel einer biografischen Erzählung werde ich der Verschränkung von Geschlecht, Sexualität4 und Ethnizität nachgehen und damit auch reflektieren, welchen überraschenden Erkenntnisgewinn ein methodisch offenes Herangehen bereithält. Als Klammer zur methodologischen Verbindung von Selbstpositionierung und Diskursanalyse werde ich das Gouvernementalitätskonzept anreißen.
2
Davis, Kathy: Intsectionality in Transatlantic Perspective. In: Klinger, Cornelia/Knapp, Gudrun-Axeli (Hrsg.): ÜberKreuzungen. Fremdheiten, Ungleichheiten, Differenz. Münster 2008, S. 19–35.
3
Vgl. dazu: Bennholdt-Thomsen, Veronika: Muxé – Das Dritte Geschlecht in Juchitán, Südmexiko. Erkenntnistheoretische Überlegungen. In: Völger, Gisela (Hrsg.): Sie und Er. Frauenmacht und Männerherrschaft im Kulturvergleich, Bd. 2. Köln 1997, S. 155–164; Tuider, Elisabeth: Geschlecht als kulturelle Konstruktion am Beispiel der Muxe in Juchitan/Méxiko. In: Kastner, Jens/Waibel, Tom (Hrsg.): » ... mit Hilfe der Zeichen« Transnationalismus, soziale Bewegungen und kulturelle Praktiken in Lateinamerika (= ¡Atención! Jahrbuch des Österreichischen Lateinamerika-Instituts, Bd. 13). Wien u.a. 2009, S. 129–144.
4
Damit stelle ich mich auch gegen eine Vereinnahmung oder Summierung der Kategorie Sexualität unter die Kategorie Gender wie es bspw. Nina Degele und Gabriele Winker vorgestellt haben; vgl. Degele, Nina/Winker, Gabriele: Intersektionalität als Mehrebenenanalyse (2007), unter: , Zugriff: 20.7.2010; dies.: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheit. Bielefeld 2009.
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Nicht zuletzt geht es mir darum, ein innerhalb der deutschsprachigen Intersektionalitätsdiskussion bis auf wenige Ausnahmen5 vernachlässigtes Theoriesegment, nämlich das der queer-feministisch dekonstruktivistischen Argumentation, ins Bewusstsein zu rufen und im Sinne der Spivak‘schen »dekonstruktiven Wachsamkeit«6 für eine größere Sensibilität gegenüber der Resignifizierung naturalisierter Binaritäten auch in und durch intersektionelle Analysen zu plädieren.
Z UR P LURALITÄT DER G ENEALOGIEN VON I NTERSEKTIONALITÄT Die Diskussionen zu Intersektionalität gehen auf unterschiedliche Einflüsse zurück, die nicht nur auf der wissenstheoretischen Ebene liegen, sondern sich vielmehr aus einem Konglomerat von sich diversifizierenden Perspektiven der Neuen Sozialen Bewegungen, einer veränderten unternehmerischen Personal- und Organisationsstrategie, neuen rechtlichen Rahmenbedingungen und theoretischen Ausdifferenzierungen ergeben. Es können also vier unterschiedliche Hintergründe der Intersektionalitätsdebatten ausgemacht werden: Erstens spielt auf der Ebene der sozialen Bewegungen, vor allem in den feministischen und Frauenbewegungen, im Black Power Movement und in den Homosexuellenbewegungen, die Infragestellung homogenisierender Gruppenidentitäten eine Rolle. Zweitens ist mit Intersektionalität auf der ökonomischen Ebene die Veränderung vom Gender-Mainstreaming zum Diversity-
5
Vgl. Dietze, Gabriele/Haschemi Yekani, Elahe/Michaelis, Beatriz: »Checks and Balances«. Zum Verhältnis von Intersektionalität und Queer Theory. In: Dies./ Walgenbach, Katharina/Hornscheidt, Antje/Palm, Kerstin (Hrsg.): Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Opladen 2007, S. 107–140; Erel, Umut/Haritaworn, Jinthana/Gutiérrez Rodríguez, Encarnación/Klesse, Christian: Intersektionalität oder Simultanität?! – Zur Verschränkung und Gleichzeitigkeit mehrfacher Machtverhältnisse – eine Einführung. In: Hartmann, Jutta/Klesse, Christian/Wagenknecht, Peter/ Fritzsche, Bettina/Hackmann, Kristina (Hrsg.): Heteronormativität. Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht. Wiesbaden 2007, S. 239–250.
6
Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien 2008.
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Management7 verbunden und damit eine Abkehr vom Modell der Frauenund Gleichstellungspolitiken, wie es in den Überlegungen seit den 1980er Jahren wegweisend und handlungsleitend war. Drittens kann auf der rechtlichen Ebene eine Ausweitung und Veränderung der Anerkennungs- und Partizipationsforderungen, eine Verschiebung im Umgang mit Differenzen beobachtet werden. Einen Eindruck davon geben die Modifikationen und Erweiterungen der Menschenrechte (auf globaler Ebene), die Deklaration des Artikels 13 des Amsterdamer Vertrages (auf EU-Ebene) und das seit dem August 2006 in Deutschland gültige Gleichbehandlungsgesetz (auf nationaler Ebene).8 Viertens und letztens haben auf der theoretischen Ebene die poststrukturalistisch-dekonstruktivistischen Ausleuchtungen von Geschlechterverhältnissen, Sexualitäts- und Körpernormierungen, Migrationsregimen und die völlig flexibilisierten Arbeitsanforderungen vor dem Hintergrund zunehmender Globalisierungs- und Transnationalisierungsprozesse einen wesentlichen Beitrag zur Ausformulierung und Konzeptualisierung von Intersektionalität geleistet. An der Schnittstelle von sozialer Bewegung und theoretischer Reflexion hat das Combahee River Collective 1982 in den USA mit seinem »A black feminist statement« die Verschränkung von gender und race eingeläutet und
7
Vgl. Krell, Gertraude/Riedmüller, Barbara/Sieben, Barbara/Vinz, Dagmar: Diversity Studies: Grundlagen und disziplinäre Ansätze. Frankfurt a.M./New York 2007; Bruchhagen, Verena/Koall, Iris: Loosing Gender-Binarity? Winning Gender-Complexity! Intersektionelle Ansätze und Managing Diversity. In: Netzwerk Frauenforschung NRW 22 (2007), S. 32–42.
8
In Artikel 13 des »Amsterdamer Vertrages«, des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, heißt es, dass der Rat Vorkehrungen treffen kann, »um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen«. Auch das »Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz« in Deutschland nimmt diese Differenzen auf: »§1: Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligung aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.« Unter: , Zugriff: 22.12.2010.
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die These der Mehrfachunterdrückung (triple oppression) ausgearbeitet.9 Denn Schwarze Feministinnen fühlten sich weder in den Identitätspolitiken der feministischen Bewegung noch im Black Power Movement repräsentiert, da sie in Ersterer mit Rassismus und in Zweiterem mit Sexismus konfrontiert waren. In weiterer Folge haben Women of Colour und Lesbians of Colour die globale Schwesternschaft in Frage gestellt und den Mittelschichtbias und den Ethnozentrismus des homogenisierenden »Wir Frauen« angeklagt und das Sprechen im Namen aller Frauen kritisiert. Denn im feministischen Mainstream wurde eine Definition von ›Frau‹ vorausgesetzt, die andere marginalisierte Formen sowohl subsumierte als auch ausschloss und dethematisierte. Vor dem Hintergrund der daran anknüpfenden Debatten und Interventionen drehten und drehen sich die Diskussionen klassischerweise um drei Differenzkategorien (race-class-gender), die mittlerweile auf sechs Basiskategorien10 erweitert wurden: Gender, Klasse/Schicht/Milieu, Sexualität, Alter, Befähigung/Gesundheit, Nationalität/Ethnizität/race.11 Ende der 1990er wurde der Terminus Intersektionalität samt den damit verbundenen Diskussionen aus den USA nach Europa importiert und hier hat er sich mittlerweile,12 so Gudrun-Axeli Knapp, zu einem »innen-
9
Combahee River Collective: A Black Feminist Statement. In: Hull, Gloria T./ Scott, Patricia Bell/Smith, Barbara (Hrsg.): But Some of Us Are Brave. Black Women’s Studies. Old Westbury 1982 (Orig. 1977), S. 13–22.
10 Dass an dieser Stelle von sogenannten Basiskategorien gesprochen wird, liegt an der Benennung genau dieser Differenzen im Vertrag der Europäischen Gemeinschaft und im »Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz« (vgl. Anm. 8). 11 Nicht nur der Bezug auf den durch den US-Import angeregten »Rasse«-Begriff bleibt dabei im deutschen Kontext schwierig. Auch der Terminus »Klasse« erweist sich in den deutschen Debatten als eigenartig und veraltet, hat er doch seit den 1970er Jahren eine Ausdifferenzierung hin zu Schichten und Milieus erfahren. 12 Zu Recht kritisiert Sedef Gümen, dass in den verschiedenen Zugängen und Phasen der Gender Studies in Deutschland die Kategorie Ethnizität keine Rolle spielte. Als ›Ausnahmen‹ von diesem weitestgehenden Schweigen in den Gender Studies werden einige punktuelle Diskussionen genannt, wie beispielsweise das Buch »Farbe bekennen. Afrodeutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte« von Katharina Oguntoye, May Opitz und Dagmar Schultz (Berlin1986). In diesem Band wurden Schwarze Lebensrealitäten in Deutschland aufgearbeitet und wichtige Impulse zur Betrachtung der deutschen Kolonialvergangenheit gesetzt.
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politischen Kernproblem« der Gender Studies entwickelt.13 Helma Lutz und Norbert Wenning sprechen sodann von 13 bipolaren und hierarchischen Differenzlinien und halten diese auf keinen Fall für vollständig.14 Auch Nira Yuval-Davis ergänzt: »the list is potentially boundless«. 15
An dieser Stelle soll auch der am Anfang der 1980er Jahre entwickelte sog. »Bielefelder Ansatz« erwähnt werden, da dort die Verquickung von Hausfrauisierung und Kolonisierung ausgemacht und thematisiert wurde. Race blieb davon abgesehen, so Sedef Gümen, bis in die 1990er in der deutschen Frauenforschung weitestgehend »eine leere Worthülse«; Gümen, Sedef: Das Soziale des Geschlechts. Frauenforschung und die Kategorie »Ethnizität«. In: Das Argument 224 (1998), S. 187–201. 13 Zwar gelten Geschlecht, Klasse/Schicht und Nationalität/Kultur in den soziologischen Betrachtungen als zentrale Ordnungsmerkmale moderner Gesellschaften und damit als zentrale soziologische Analysekategorien, aber seit den 1990er Jahren ist im Zuge des verstärkten US-amerikanischem Theorie-Imports eine zunehmende Thematisierung der verschiedenen »Achsen der Ungleichheit« (Klinger, Cornelia/Knapp, Gudrun-Axeli/Sauer, Birgit [Hrsg.]: Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität. Frankfurt a.M./New York 2007, S. 19–41) und eine wissenschaftstheoretische Diskursivierung der »gleichzeitigen Ungleichheiten« zu beobachten. Demgemäß schlussfolgert Gudrun-Axeli Knapp, dass sich das Verhältnis von verschiedenen Differenzen und Ungleichheiten zu einem »innenpolitischen Kernproblem« (Knapp, Gudrun-Axeli: »Intersectionality« – ein neues Paradigma feministischer Theorie? Zur transatlantischen Reise von »race, class, gender«. In: Feministische Studien 23, 1 [2005], S. 68–82, S. 74) der Gender-Studies entwickelt habe. D.h. Ungleichheit und Unterdrückung sind nicht mehr nur für die Kategorie Geschlecht reserviert und »[e]indimensionale Modelle wie ›Patriarchat‹ haben zur Beschreibung und Erklärung von Ungleichheiten ausgedient.« Degele/Winker: Intersektionalität (wie Anm. 4), S. 1. 14 Lutz, Helma/Wenning, Norbert: Differenzen über Differenz – Einführung in die Debatten. In: Dies. (Hrsg): Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen 2001, S. 11–24. 15 Yuval-Davis, Nira: Intersectionality and Feminist Politics. In: European Journal of Women’s Studies 13 (2006), S. 193–209, S. 202.
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Zugleich hat Judith Butler schon Anfang der 1990er auf das »embarrassed ›etc.‹ at the end of the list«16 aufmerksam gemacht. In Anbetracht der potenziell unendlichen Differenzachsen oder Differenzlinien spitzten sich die europäisch deutschsprachigen Debatten auf die Frage der Auswahl und damit der vorherrschenden Bedeutung von (als zentral gesetzten) Differenzen zu. Cornelia Klinger beispielsweise begründet die Auswahl von Klasse, Rasse [sic!] und Geschlecht damit, dass diese zu den »Grundmustern von gesellschaftlich-politischen relevanten Ungleichheiten« zählen.17 Ilse Lenz hingegen unterscheidet zwischen den Ebenen: Familie/Haushalt, Kapitalverhältnisse und Nationalstaat, da es ihr darum geht, welche Zugehörigkeiten und Ausschlüsse der Nationalstaat produziert.18
16 Butler, Judith: Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. New York 1990, S. 143. »Theories of feminist identity that elaborate predicates of colour, sexuality, ethnicity, class and able-bodiedness invariably close with an embarrassed ›etc.‹ at the end of the list. Through this horizontal trajectory of adjectives, these positions strive to encompass a situated subject, but invariably fail to be complete. This failure, however, is instructive: what political impetus is to be derived from such exasperated ›etc.‹ that so often occurs at the end of the lines?« Ebd. 17 Klinger, Cornelia: Ungleichheit in den Verhältnissen von Klasse, Rasse und Geschlecht. In: Knapp, Gudrun-Axeli/Wetterer, Angelika (Hrsg.): Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik, Bd. 2. Münster 2003, S. 14–48, S. 26. Auch die Reihenfolge der Nennung von den jeweils relevanten Differenzkategorien ist hierbei aussagekräftig: Klinger (ebd.) favorisiert Klasse vor Rasse und Geschlecht, Patricia Hill Collins z.B. stellt Rasse bewusst vor Klasse und Geschlecht. Collins, Patricia Hill: Toward a New Vision: Race, Class and Gender als Categories of Analysis and Connection. In: Race, Sex & Class 1 (1993), S. 25–45. 18 Lenz, Ilse: Geschlecht, Herrschaft und internationale Ungleichheit. In: BeckerSchmidt, Regina/Knapp, Gudrun-Axeli (Hrsg.): Das Geschlechterverhältnis als Gegenstand der Sozialwissenschaften. Frankfurt a.M./New York 1995, S. 19– 47; dies.: Grenzziehungen und Öffnungen. Zum Verhältnis von Geschlecht und Ethnizität in Zeiten der Globalisierung. In: Dies./Germer, Andrea/Hasenjürgen, Brigitte (Hrsg.): Wechselnde Blicke. Frauenforschung in internationaler Perspektive. Opladen 1996, S. 200–228.
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In Folge dieser Überlegungen traten einige Soziologinnen19 dafür ein, dass nicht mehr als die drei Differenzen (race-class-gender) theoretisch und empirisch zu bewältigen sind. Andere20 ergänzen die Analysekategorien »Klasse-Geschlecht-Rasse« um die Kategorie der Sexualität oder – wie Nina Degele und Gabriele Winker21 – um die Kategorie Körper. In weiterer Folge wurden aber auch die unterschiedlichen Analyseebenen (Makro-Meso-Mikro bzw. Struktur-Diskurs-Identität) diskutiert, auf denen die unterschiedlichen Differenzverhältnisse konzeptualisiert werden können. Ich werde weiter unten am empirischen Beispiel zeigen, dass ein grundsätzlich offenes Herangehen fruchtbar ist, um der Analyse entlang eindimensionaler Erklärungsmuster zu entkommen. Dabei folge ich dem Rat Kathy Davis’, je nach Forschungsanliegen jeweils unterschiedlich »die andere Frage zu stellen« (»to ask the other question«),22 das heißt, bei der Analyse beispielsweise von Migrationswegen nach dem Genderspezifischen darin zu fragen oder bei der Analyse von Genderkonstruktionen nach dem Weißen darin zu fragen. Zugleich werde ich argumentieren, dass, wenn wir die Methodologien der Biografieforschung und der Diskursanalyse ernst nehmen, wir bei der Analyse von Biografien und Diskursen immer auch Aussagen über die ihnen zugrunde liegenden Strukturen treffen – und damit eine gesonderte empirische Bearbeitung von Identitätsebene, Diskursebene, Strukturebene entfallen kann.
E INE KRITISCHE A NREGUNG : Z UM V ERHÄLTNIS VON Q UEER UND I NTERSEKTIONALITÄT Bevor unter dem Stichwort ›Intersektionalität‹ die Verschränkungen verschiedener Differenzen in den Blick traten, gab es im deutschsprachigen Raum mindestens zweierlei Ansatzpunkte, die Wechselwirkungen der un-
19 Anfangs: Anthias, Floya/Yuval-Davis, Nira: Contextualizing Feminism: Gender, Ethnic and Class Divisions. In: Feminist Review 15 (1983), S. 62–75. 20 Z.B. Verloo, Mieke: Multiple Inequalities, Intersectionality and the European Union. In: European Journal of Women’s Studies 13 (2006), S. 211–228. 21 Degele/Winker: Intersektionalität (wie Anm. 4). 22 Davis, Kathy: Intersectionality in Transatlantic Perspective. In: Klinger/Knapp: ÜberKreuzungen (wie Anm. 2), S. 19–35, S. 25.
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ungleichheitsgenerierenden Differenzkategorien zu berücksichtigen: So wurde die Verschränkung von Klasse und Geschlecht bereits in der sozialen Ungleichheitsforschung23 und die Verschränkung von Geschlecht und Sexualität in den Queer Studies ausgearbeitet. Trotz dieses letztgenannten theoretischen Vorläufers scheint Intersektionalität »die Möglichkeit einer Abwehr von Sexualität zu bieten, einen theoretischen Raum, der die Verdrängung der eigenen heteronormativen weißen Position des MainstreamFeminismus zulässt«.24 Dabei haben doch Queer Studies immer schon – zumindest ihrem Anspruch nach –, verschiedene, miteinander verschränkte und wechselwirkende Differenz- und Machtverhältnisse thematisiert: »Die Herstellung von Geschlecht und Sexualität wird in Wechselwirkung mit anderen Normsystemen wie ›Rasse‹ und Ethnizität, Klasse, Alter, ›Behinderung‹ oder dem Immunserostatus gesehen.« 25 Queere Analysen haben immer wieder und entgegen anders lautender soziologischer Befunde des anything goes der Individualisierungs- und Modernisierungstheorien gezeigt, dass sich die westliche (Post-)Moderne durch Fortsetzungen und Verschiebungen von Normierungs- und Herrschaftsstrategien auszeichnet, die sich nun in veränderter Weise auf den Körper des Individuums beziehen. Sie haben deutlich gemacht, dass Machtverhältnisse das Subjekt erst konstituieren.26 Die sogenannte europäische Moderne ist dabei von einer widersprüchlichen Gleichzeitigkeit gekennzeichnet: einerseits im Zuge der Aufklärung Freiheit und Gleichheit für alle Menschen zu versprechen und andererseits in politischen, ökonomischen und juristischen Diskursen und Praktiken Differenz und Ungleichheit hervorzubringen, zu legitimieren und zu sanktionieren. Queer Studies setzen hier an und analysieren und problematisieren »eine
23 Vgl. Knapp, Gudrun-Axeli/Klinger, Cornelia: Achsen der Ungleichheit – Achsen der Differenz. Verhältnisbestimmungen von Klasse, Geschlecht, Rasse/Ethnizität. In: Transit – Europäische Revue 29 (2005), S. 72–96. 24 Dietze u.a.: Checks (wie Anm. 5), S. 107. 25 Tuider, Elisabeth/Tietz, Lüder: Queer-Theory verständlich. Kritik der Identitätspolitik. In: Steffens, Melanie/Ise, Michaela (Hrsg.): Jahrbuch Lesben-SchwulePsychologie. Lengerich 2003, S. 156–169, S. 158. 26 Vgl. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1. Frankfurt a.M. 1977.
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sich durchkreuzende Komplexität von Herrschaftsverhältnissen«.27 Denn über die in den Gender Studies in weiten Teilen vertretene Auffassung zur Konstruktion von Geschlecht (sex und gender) hinaus wird diese konstruktivistische Annahme in den Queer Studies an der Schnittstelle zu Sexualität (Stichwort: Heteronormativität) verhandelt und dekonstruiert. Dabei ist jeglicher Queer Theory von Beginn an eine machtanalytische Perspektive immanent, die die Verschränkung von Geschlecht und Sexualität normenkritisch zu analysieren, zu destabilisieren und zu verändern trachtet. (Selbst-)Kritisch wurde im Rahmen von Queer Theory und Queer Politics zunehmend auch darauf hingewiesen, dass sich in den herkömmlichen Repräsentationspolitiken »weiße Lesben und Männer of colour, weiße Schwule und heterosexuelle Migrantinnen Diskursmacht auf Kosten von ethnisierten Schwulen, Lesben und Bisexuellen«28 teilen. Die Erfassung und Berücksichtigung der Position als mehrfach Marginalisierte sowie das Zugleich von hegemonialer und marginalisierter Zugehörigkeit (z.B. in der Position des ›schwulen 16-Jährigen im Rollstuhl mit deutschem Pass‹) empirisch und theoretisch analysieren zu können, stellt eine besondere Herausforderung queerer Analysen – aber auch intersektioneller Herangehensweisen – dar. Das heißt, es kann weiterhin nicht nur darum gehen, die Zugehörigkeit zu einer exklusiven Statusgruppe zu kritisieren oder mehrfache Marginalisierung einzuklagen, sondern es müsste in einer intersektionell queeren Analyse und Theoriebildung darum gehen, das Zugleich von Diskriminierung und Bevorzugung zu erfassen (so wie es ansatzweise auch die feministischen Debatten in den 1990er Jahren versuchten, beispielsweise nachzuvollziehen in den Heften von »theorie und praxis«). Zudem halten Queer Studies einen weiteren kritischen Stachel für intersektionelle Debatten bereit. Dieser besteht vor allem in der Normenkritik an und in den Destabilisierungsbestrebungen von polar angeordneten, machtasymmetrischen Binaritäten (Mann-Frau, Weiß-Schwarz, WestenRest, Zentrum-Peripherie). Die Betonung der unsichtbar gemachten Zwischenräume, der Auslassungen und ihrer (widerständischen) Besetzungen sowie der an den gesellschaftlichen Rand gedrängten, marginalisierten Ge-
27 Engel, Antke/Schulz, Nina/Wedl, Juliette: Queere Politiken. Analysen, Kritiken, Perspektiven. Kreuzweise queer: Eine Einleitung. In: femina politica 1 (2005), S. 9–23, S. 10. 28 Erel u.a.: Intersektionalität (wie Anm. 5), S. 243.
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schlechter, Sexualitäten und Körper (den sogenannten »dritten Gender« und Transgender) könnte für eine intersektionelle Perspektive inspirierend sein. Denn bisher wird in den Intersektionalitätsdebatten mit einer Selbstverständlichkeit die duale Teilung von Differenzen und ihre polarisierende Zuweisung wiederholt und die damit vorhandene Uneindeutigkeit, Hybridität oder performative, das heißt die zwanghaft erforderliche, Ordnung und Positionierung in einem der beiden zur Verfügung gestellten Pole nicht thematisiert. »Queer Theory kritisiert jede einheitliche und stabile Identitätsvorstellung und stellt dieser ein Spektrum von Möglichkeiten zu existieren gegenüber. (Geschlechtliche, sexuelle, ethnische usw.) Identitäten werden als Provisorien begriffen […] und die Vielfalt und Uneindeutigkeit geschlechtlicher und sexueller Varianten sowie die Unterschiede, die Unabgeschlossenheit und die Weigerung, sich zu definieren, anerkannt. In der Queer Theory werden normative Kategorien hinterfragt und sie zielt darauf, antinormative Bewegungen anzuregen und Geschlechter- und Sexualitäts29
normen zu verunsichern.«
Sowohl Intersektionalitätsanalysen als auch Queer Theory erheben den Anspruch, multiple und zum Teil konfligierende Differenzkategorien sowie simultane Wirkungsweisen von Machtverhältnissen und Diskriminierungspraktiken zu analysieren. Dabei fokussieren beide Perspektiven Prozesse der Normierung und Marginalisierung und fundieren ihre Analysen gesellschaftstheoretisch. Im Sinne eines anti-kategorialen Zugangs30 müsste es in einem intersektionellen Vorgehen nicht nur um die Analyse der Wechselwirkung und des Zusammenspiels von Differenzen gehen, sondern auch um die Überschreitung und das Destabilisieren eben jener wechselwirkender Differenzen.
29 Tuider/Tietz: Queer-Theory (wie Anm. 25), S. 163. 30 McCall, Leslie: The Complexity of Intersectionality. In: Signs. Journal of Women in Culture and Society 30, 3 (2005), S. 1771–1800.
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D IFFERENZEN E RZÄHLUNG
IN DER BIOGRAFISCH - NARRATIVEN
Portrait Alexa Ruíz Gonzáles »Wir muxés können raus gehen, wir können in eine Kneipe [cantina] gehen, wir können gehen … wir haben kein, kein Hindernis um … um raus zu gehen. Sei es 31
normal gekleidet … [als Frau] gekleidet
… wie du möchtest … Deswegen nenne
32
ich Juchitán das Paradies meiner Lieben!«
Mit diesen Worten fasst Alexa in seiner Eingangserzählung die Lebenssituation in Juchitán zusammen. Juchitán, eine Stadt im Süden Mexikos am Isthmus von Tehuantepec,33 zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass dort
31 Das im Spanischen verwendete »vestirse« kann als sich einkleiden, bekleiden, ankleiden aber auch verkleiden übersetzt werden. In den Interviews wird es häufig in Zusammenhang mit ›typisch weiblicher‹ Kleidung verwendet. Ich habe es deswegen nicht, mit verkleiden übersetzt, da konkret keine karnevaleske Verkleidung gemeint ist, sondern die sowohl bei Fest- als auch bei Alltagsanlässen getragene Kleidung der Frauen Juchitáns, die oftmals aus der Regionaltracht (nahua und huipil) besteht. In der Erzählung verwendet Alexa zuerst »normal gekleidet« und danach »gekleidet« und es ist davon auszugehen, dass er die zweite Bezeichnung im Sinne von »als Frau gekleidet« meint. 32 Alexa im biografischen Interview, August 2005. »Podemos salir a la calle, podemos ir a una cantina, podemos ir ... no, no tenemos impedimento para ... para salir a la calle, así, sea vestida normal ... vestida ... como tu quiereas ... Por eso yo le digo a Juchitán el paraíso de mis amores!« 33 Die Bewohner_innen Juchitáns zählen zu den Zapotek_innen des Isthmus von Tehuantepec und stellen damit eine der sogenannten »indigenen Minderheiten« Mexikos dar. Ca. 80 Prozent der Bevölkerung sprechen die indigene Sprache Zapoteco. Die stolze Positionierung als Juchiteca – »Soy Teca!« (»Ich bin eine Juchiteca!«) – weist auf die historisch begründete Identifizierung der Juchiteken mit der Gemeinschaft der Zapotek_innen hin. Nur eine Frau, die durchsetzungsfähig, stolz und energisch ist, wird »Teca« genannt. Eine männliche Variante davon gibt es nicht.
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»unterschiedliche Geschlechtsidentitäten lebbar sind«,34 die nicht sanktioniert werden, sondern im Gegenteil als unterschiedliche Lebensformen akzeptiert nebeneinander bestehen können. Denn neben der Verortung als ›Mann‹ oder ›Frau‹ können sich als Junge geborene Menschen auch als muxé35 und als Mädchen geborene Menschen auch als marimacha positionieren und sich in privaten und öffentlichen Räumen als solche präsentieren. In sozialwissenschaftlichen Analysen wurde nun die gesellschaftliche Situation in Juchitán als existierendes »Matriarchat« interpretiert und innerhalb dieses Matriarchats hätte sich »Homosexualität institutionalisiert«;36 Juchitán wurde aber auch als Queer-Hochburg gesehen und gefeiert.37 In diesen Interpretationen erscheinen die muxés – die westliche Terminologie beibehaltend – als »Travestiten« oder als »Transgenders« oder als »Homosexuelle«. Aber, so mein Fazit aus der Analyse der juchitekischen Gesellschaftsordnung, die in westlichen Kontexten vorherrschende Ableitungslogik von Sex-GenderBegehren funktioniert zur Erklärung der juchitekischen Kultur und der juchitekischen Gesellschaft nicht.38 Was macht also die Subjektposition der muxé aus? Welche Bedeutung haben der vergeschlechtlichte Körper, die sexuelle Praxis und das sexuelle Begehren für die Subjektpositionierung der muxé in der juchitekischen Gesellschaft?39
34 Giebeler, Cornelia: Die »mächtigen« Frauen von Juchitán. Geschlechtergeflecht in Ökonomie, Kultur und Spiritualität. In: Kalka, Claudia/Klocke-Daffa, Sabine (Hrsg): Weiblich – männlich – anders? Geschlechterbeziehungen im Kulturvergleich. Münster 2006, S. 273. 35 Etymologisch wird die Bezeichnung »muxé« auf das spanische Wort für Frau, »mujer«, zurückgeführt, das ins Zapotekische integriert wurde; vgl. BennholdtThomsen: Muxé (wie Anm. 3). 36 Bennholdt-Thomsen: Muxé (wie Anm. 3), S. 155–164. 37 Soner, Yunus: CSD ist jeden Tag. In: Jungle World, 12.1.2000. 38 Den Konzepten »Homosexualität« und »Transsexualität« liegt die Annahme zweier sich ausschließender Geschlechter zugrunde, die sich sexuell aufeinander beziehen. Diese Analysekategorien unterstehen einer binären Geschlechter- und Sexualitätenlogik und das Abseits dieser Logik wurde als A-Normalität gekennzeichnet und oftmals pathologisiert. 39 Das hier präsentierte Interview habe ich im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes in Juchitán im August 2005 geführt. Es ist Teil mehrerer Forschungsaufenthalte in Mexiko, die ich während meiner Tätigkeit als Wissenschaftliche Assis-
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Alexa ist 1961 in Juchitan geboren und zum Interviewzeitpunkt 44 Jahre alt; er definiert sich seit er elf Jahre alt ist als muxé. 40 Alexa hat vier Schwestern, wovon zwei nicht mehr in Juchitán leben, und er hatte einen Bruder, der infolge seiner Alkoholsucht 2002 – nur drei Monate nach dem Tod seiner Mutter – starb. Alexas Mutter war Hausfrau und Verkäuferin, comerciante, das bedeutet, sie hat entweder am Markt im Zentrum der Stadt oder von Haus zu Haus gegarte Speisen, Gemüse oder Fisch verkauft und damit eine der in Juchitán zentralen, weiblich konnotierten Tätigkeiten mit hohem sozialen Prestige ausgeübt. Die juchitekische Gesellschaftsordnung orientiert sich an einer arbeitsteilig strukturierten Ökonomie. In der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung umfasst der ›männliche Bereich‹ die Politik, Landwirtschaft und Fischerei sowie die Kunst (Musik, Poesie, Malerei), aber auch die Arbeit bei der Eisenbahn oder in der Erdölraffinerie. Der ›weibliche Bereich‹ umfasst die selbständige Arbeit auf dem Markt, den Handel sowie den Betrieb einer cantina (einer Bar). Frauen arbeiten auch als Köchinnen, Heilerinnen, Hebammen und Geschäftsfrauen. Alexas Vater ist heute etwa 70 Jahre alt und hat als Elektriker gearbeitet. Alexas Kontakt zu ihm ist, seitdem der Vater die Familie wegen einer anderen Frau verlassen hat, sehr spärlich. Alexa war bei der Trennung seiner Eltern 15 Jahre alt und er erwähnt seinen Vater im Interview lediglich
tentin am Institut für Soziologie an der Universität Münster realisiert habe. Dabei bin ich von Februar bis März 2004, im August 2004 sowie von August bis September 2005 unter anderem in Juchitán gewesen und habe narrativ-biografische Interviews geführt sowie Recherchen für eine Diskursanalyse von regionalen und nationalen Tageszeitungen betrieben. Für das methodische Vorgehen vgl. Tuider, Elisabeth: Diskursanalyse und Biographieforschung. Zum Wie und Warum von Subjektpositionierungen [81 Absätze]. In: Forum Qualitative Sozialforschung/ Forum: Qualitative Social Research 8, 2 (2007), unter ; Zugriff: 20.7.2010. 40 Im biografischen Interview wird von Alexa die zapotekische Bezeichnung muxé verwendet – und keine der spanischen Begrifflichkeiten wie »mujer« oder »hombre« (für Geschlecht) oder »homosexual«, »maricon« oder »puto« (für Sexualität). Eine von Alexa auch durchgehend verwendete Selbst- wie auch Gruppenbezeichnung lautet »loca«, Verrückte.
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im Kontext des – in westlicher Terminologie – »coming-out-Prozesses« in der Adoleszenz.41 Vor dem Hintergrund eines queer feministischen Herangehens war es erwartbar gewesen, dass sich Alexa über seinen Körper, seine sexuelle Praxis und Begehren definiert und sich Erzählungen dazu im Interview finden. Aber weder seine geschlechtliche Präsentation noch sein sexuelles Begehren nehmen in der Eingangserzählung Alexas den dominanten Part ein. Vielmehr stellt Alexa mehrfach die Besonderheit Juchitáns, das Paradiesische an Juchitán, heraus. Dieses Paradiesische Juchitáns gewinnt im Laufe der Erzählung verschiedene Facetten: »Gut, die Leute aus dem Dorf [= Juchitán] haben mir viel geholfen … Deswegen, sage ich dir, dass es ein Paradies ist. Weil sie mich nicht im Stich gelassen haben. Und ich habe keine Lebensweise … kann man sagen, äh … (3 unverständliche Wörter) … Und ich kann nicht arbeiten, ich kann nicht lange gerade stehen, ich kann nicht lange sitzen, ich muss mich … wenn der Zeitpunkt kommt … mich ausruhen. Meine Me42
dikamente kosten … den Rest.«
Alexas Biografie, die zuletzt von schwerer Krankheit und damit einhergehender Arbeitslosigkeit beziehungsweise Arbeitsunfähigkeit gekennzeichnet ist, gibt gerade unter dem Aspekt seiner verunmöglichten Arbeitsausübung Aufschluss darüber, welche Erklärungskraft die Differenz arbeitstätig/arbeitsunfähig in der Subjektpositionierung als muxé hat. Seitdem Alexa mit 14 Jahren von der Schule abgegangen ist, hat er zuerst als Verkäufer gearbeitet und damit in jungem Alter Geld verdient. Danach hat er eine eigene, erfolgreiche
41 Während Alexas Vater in der biografischen Erzählung kaum eine Rolle spielt, stellt Alexas Mutter den zentralen biografischen Referenzpunkt dar. Erwähnt werden soll an dieser Stelle nur, dass Alexa auch zwei registrierte Söhne hat, die 16 und 21 Jahre alt sind, und dass er mit der Mutter ›seiner‹ Söhne – einer Tante von ihm – auf dem Papier verheiratet ist. Alexa hat diese Kinder nicht gezeugt, aber er übt mehr oder weniger eine freundschaftliche Vaterschaft zu ihnen aus. 42 »Porque me han ayudado mucho la gente del pueblo ... Por eso te digo que es un paraíso, porque a mi no me han abandonado. Y no tengo una forma de vida se puede decir eh ... (tres palabras) ... Y no puedo trabajar, no puedo estar parado mucho tiempo, no puedo estar sentado mucho tiempo, tengo que estar ... llegado un momento, estar en reposo. Mis medicinas cuestan ...«
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Boutique aufgebaut. Nach einem eineinhalbjährigen Aufenthalt in der Tourismusmetropole Cancun eröffnete er ein Restaurant in Juchitán und als er auch »davon genug hat«, eröffnete er eine boomende »Schwulen-Bar« unweit Juchitáns in Huatulco, auf der Hauptroute zwischen Nord- und Südamerika. In dieser Zeit lebt er auch mit seinem Partner zusammen. Als Alexa schwer krank wird, kehrt er nach Juchitán zurück, weil er hier seine sozialen Bezüge und Netzwerke hat – und diese sind es nun, die ihn »nicht im Stich lassen« und ihm auch ohne Einkommen eine Existenz und soziale Lebensweise ermöglichen. Das Paradiesische an Juchitán ist also nicht nur die Anerkennung von geschlechtlichsexueller Diversität, sondern das Eingebundensein in ein starkes soziales Gefüge. Die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit verunmöglicht Alexas bisherige Lebensweise und es setzt ein Prozess des »Suchens nach einer Lebensform« ein: »Dann kam ich nach Juchitán zurück und … und … krank. Deswegen, ja, es war eine sehr schwierige Phase, weil, wenn du oben bist, ist es schön. Aber wenn du krank ankommst, sie dich operieren müssen … der Arzt schon sagt, dass du sterben wirst … […] Und, also, … und ich kam zurück und gleich wurde ich operiert und … und … drei Jahre ging es mir schlecht. Drei Jahre! Gott sei Dank, haben meine Freunde … mir geholfen … meine Schwestern … Alle haben mir geholfen, um Medikamente zu kaufen, um dies und jenes zu kaufen, um meine Sachen zu kaufen und 43
eine Art zu haben …«
Die Ausübung einer für die in der juchitekischen Gemeinschaft anerkannten und wichtigen Arbeit stellt ein wichtiges Moment in der Selbstverortung als muxé dar. Damit gewinnt man »eine Art« insofern, als erst ein Einkommen die Teilnahme am Kreislauf der kulturellen Ökonomie Juchitáns sichert. Denn die Ökonomie Juchitáns ist gekennzeichnet und bestimmt durch eine
43 »Entonces ya regresé a Juchitán y ... y ... enfermo. Entonces, si, fue una etapa muy difícil, porque cuando estás arriba es muy bonito. Pero llegas enfermo, te tienen que operar ... el doctor ya te dice que vas a morir ... toda la sociedad como quieras que sea, cuando alguien se muere ... [...] Y, este, ... y llegué y ya me operan y...y … 3 años estuve malísimo. 3 años! Gracias a dios mis amigos me ... me han mantenido ... mis hermanas ... Todos me han ayudado para comprar medicina, para compar esto, para comprar lo otro, para comprar mis cosas, y tener una manera ...«
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»Kultur des Gebens und Nehmens«44 wobei hier derjenige oder diejenige soziales Ansehen erlangt, die oder der viel gibt. Basis der Ökonomie und des Austauschs sind die zahlreichen Feste (velas).45 Zugleich liegt dem System reziproker Verpflichtungsverhältnisse ein inkludierender Gedanke zugrunde, denn darüber wird der Einschluss aller (oder vieler) in die soziale und kulturelle Gemeinschaft sichergestellt. Die muxés fügen sich in die kulturelle Ökonomie Juchitáns ein, indem sie eigene ökonomische Aufgabenbereiche erfüllen. Den muxés erschließen sich sowohl die männlichen als auch die weiblichen Arbeitsräume und sie nehmen auch eigene Arbeitsbereiche ein. Muxés arbeiten auf dem Markt als Verkäuferinnen oder als Verkäuferin in ihrem eigenen Laden; sie sind Frisörinnen, Angestellte oder Besitzerinnen von Schönheits- und Massagesalons (esteticas); insbesondere aber sind sie an der Herstellung der traditionellen Vela-Kleidung beteiligt: Sie nähen die traje und besticken sie mit den aufwändigen Blumenmustern. Alexa beschreibt die Arbeiten der muxés folgendermaßen: »Die Mehrheit von uns macht die Arrangements für die Blumengirlanden. Die 46
Mehrheit macht Stickereien für die Feste oder macht piñatas
oder bereitet Essen
44 Giebeler: Frauen (wie Anm. 34), S. 163–174. 45 Anlässe für ein Fest, eine vela, sind Geburtstage (insbesondere der 15. Geburtstag von Mädchen) und Hochzeiten, Heiligenfeiertage, Taufen, Todestage und Begräbnisse. Jährlich lassen sich über 600 Feste und eine mindestens ebenso große »Dunkelziffer« an Festen ausmachen; vgl. Holzer, Brigitte: Eine nichtpatriarchale Gesellschaft in der Moderne. Die »symbolische Ordnung der Mutter« in Juchitán, Oaxaca, México. In: Schlee, Günther/Werner, Karin (Hrsg.): Inklusion und Exklusion. Die Dynamik von Grenzziehungen im Spannungsfeld von Markt, Staat und Ethnizität. Köln 1996, S. 175–198, S. 176. Im Rahmen der Vorbereitung und Durchführung der juchitekischen Feste kommt ein System reziproker Verpflichtungsverhältnisse (guelaguetza) und sein Zusammenwirken mit dem System der Ämter (cargos) zum Tragen. 46 Hierbei handelt es sich um aus Papiermaché hergestellte Puppen, die mit Süßigkeiten gefüllt werden und bei allen Kindergeburtstagen zum Einsatz kommen.
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zu. Und [wir sind] in allen Branchen, sozusagen. Wir sind nicht nur auf eine einzige Sache beschränkt, zum Beispiel zu stricken, um gay zu sein, nicht wahr?«
47
Alexa weist damit nicht nur auf die Vielfalt der Arbeitsbereiche der muxés hin, sondern vor allem auf die Festökonomie, in deren Rahmen die muxés arbeiten und Blumengirlanden, piñatas und botanas (Essen) herstellen – und sich darüber ihre »produktive Rolle« erklärt. Im Rahmen der Festökonomie führen die muxés für die Gemeinschaft wichtige Tätigkeiten durch, die zur Aufrechterhaltung der lokalen Ökonomie beitragen und auf der kulturellen Geschlechterordnung Juchitáns fußen. Die Ausübung einer Tätigkeit ermöglicht es einer Person in Juchitán am System des »Gebens und Nehmens« zu partizipieren und damit als Teil der sozialen Gemeinschaft wahrgenommen und – unabhängig von der geschlechtlichsexuellen Positionierung – anerkannt zu werden, oder »eine Lebensweise« zu haben, wie Alexa es im Interview nennt. In einem Artikel in der regionalen Tageszeitung »El Tiempo« wird dieser Zusammenhang von beruflicher Tätigkeit und sozialer Anerkennung der muxés dargestellt und zugleich mit einer Geschlechter- und Sexualitätenvariable verwoben: »In Juchitán ist es möglich, Frau zu sein und wie ein Mann zu leben oder Mann zu sein und wie eine Frau zu leben. Auch im Bewusstsein der Kinder existiert schon die mögliche Identifizierung mit dem anderen Geschlecht. Die Effeminierten haben ein höheres soziales Ansehen aufgrund ihrer sexuellen Definition. Die muxés haben eine hohe Position, weil sie sowohl in männlichen als auch in weiblichen Berufen eine 48
produktive Rolle spielen.«
47 Die Übersetzung ist leicht geglättet. »La mayoría hace arreglos para las enramadas. La mayoría hace eh ... borda, hace bordados para la ... para las fiestas y hace ... piñatas, hace comida. Hace … hoij si. Y en todos los ramos, o sea no estamos enfascados en una sola cosa que tengamos, por ejemplo borda por ser gay, no? Porque aquí en el pueblo bordan los hombres también ... entonces ellas ... hay ... hay ingenieros, hay licenciados, hay en todos los ru[bros] ... ámbitos hay homosexuales. Entonces no, no estamos como ... que enfocados en ... enfrascados a ... a una sola profesión.« 48 El Tiempo, 17.3.2003, S. 9. »En Juchitán es posible vivir como hombre siendo mujer o como mujer siendo hombre, inclusive ya en la conciencia de los niños
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Die diskursive Verschränkung von Geschlecht, Sexualität und Indigenität ist in diesem Zeitungsausschnitt augenfällig, denn es werden die Geschlechterebene (»Frau zu sein und wie ein Mann zu leben«) und die Ebene von Sexualität (»sexuelle Definition«) und die Ebene von Ethnizität zusammengefügt: »Die ›muxés‹ haben eine hohe Position weil sie sowohl in männlichen als auch in weiblichen Berufen eine produktive Rolle spielen.« Für die Betrachtung der Positionierung der muxés ist also nicht eine der Perspektiven, sondern deren Zusammenwirken im Rahmen der juchitekischen Gesellschaftsordnung von Bedeutung. Die »hohe Position« hängt aber nicht vom Geschlecht oder von der Begehrensrichtung oder der sexuellen Praxis ab, sondern die hohe Position wird in Zusammenhang mit einer beruflichen Beschäftigung erlangt. Für die Subjektpositionierung der muxé in der juchitekischen Gesellschaft hat die Thematisierung von Anerkennung in Zusammenhang mit Arbeit, also dem Ausüben einer Tätigkeit mit der Geld eingenommen wird, große Bedeutung und nimmt einen dementsprechenden Raum in der biografischen Erzählung Alexas ein. Diese breite und wiederkehrende Problematisierung von Arbeit war in Anbetracht des Forschungsanliegens und der Erfassung der geschlechtlichsexuellen Positionierung als muxé für die Forschende mehr als überraschend.
D IFFERENZEN & B IOGRAFIEFORSCHUNG Die Positionierung im Netz der Differenzen haben Marianne Krüger-Potratz und Helma Lutz mit »sitting at a crossroad« betitelt.49 Im Rahmen der Biografieforschung kann es mittlerweile zum Usus des methodischen Vorgehens gezählt werden, dass nicht eine, sondern mehrfache Zugehörigkeiten und deren Zusammenwirken in biografischen Erzählungen analysiert werden.
existe la posible identificacion con el otro sexo, los afemindados tienen un mayor prestigio social por su definición sexual, los ›muxes‹ tienen una alta escala por productivos tanto en roles de oficios masculinos como femeninos.« 49 Krüger-Potratz, Marianne/Lutz, Helma: Sitting at a crossroad – rekonstruktive und systematische Überlegungen zum wissenschaftlichen Umgang mit Differenz. In: tertium comparationis. Journal für international und interkulturell vergleichende Erziehungswissenschaft 2 (2002), S. 81–92.
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Biografieforschung analysiert nun die subjektiven Lebensgeschichten vor der methodologischen Annahme, dass in der »Konkretheit des individuellen Falls Allgemeingültiges […] verborgen«50 liegt. Sie zielt darauf, die Spuren des gesellschaftlichen Allgemeinen in den einzelnen Biografien zu rekonstruieren.51 Dabei wird eine Dialektik von Individuellem und Gesellschaftlichem vorausgesetzt sowie das Zusammenspiel von sozialer Struktur und kollektivem Regelsystem einerseits und individueller Sinnkonstruktion in einer je spezifischen (Forschungs-)Situation andererseits analysiert. Die Biografieforschung interessiert sich dabei für die individuellen Aneignungsund Verarbeitungsmuster gesellschaftlicher und milieuspezifischer Bedingungen zu einem je spezifischen historischen Zeitpunkt und deren Reaktualisierung im Forschungssetting. Die im Interview präsentierte Erzählung ist nicht intentional steuerbar, sondern die lebensgeschichtlichen Erfahrungen schlagen sich in der Textproduktion, besonders in der ungelenkten Eingangserzählung52 nieder. In der Erforschung biografischer Narrative steht die Selbstpräsentation der Interviewten im Zentrum des Interesses und nicht die biografische Erfahrung zu einem historischen Zeitpunkten ihres Lebens.53 Denn Menschen erzählen die Geschichte ihres (geschlechtlichsexuellethnischen) Geworden-
50 Alheit, Peter: Biographizität und Struktur. In: Ders./Dausien, Bettina/Hanses, Andreas/Scheuermann, Antonius (Hrsg.): Biographische Konstruktionen. Beiträge zur Biographieforschung. Bremen 1992, S. 10–36, S. 20. 51 In Deutschland arbeitete v.a. Fritz Schütze die Methode der Biografieforschung aus und bezog sich hierbei auf den Symbolischen Interaktionismus und die Phänomenologie sowie auf sprachsoziologische Ansätze; vgl. Schütze, Fritz: Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis 13 (1983), S. 283– 293; ders.: Das narrative Interview in Interaktionsfeldstudien. Erzähltheoretische Grundlagen. Studienbrief der Fernuniversität Hagen, Teil I. Hagen 1987. 52 Die Eingangserzählung folgt auf die mehr oder weniger offen gehaltene Erzählaufforderung, die die Bitte beinhaltet, die eigene Lebensgeschichte zu erzählen. Der/Dem Erzählenden wird dabei Zeit und Raum gegeben, die Präsentation seiner/ihrer Lebensgeschichte zu strukturieren. D.h., der/die Forschende greift nicht regulierend und nachfragend in die Selbstpräsentation ein. 53 Vgl. Rosenthal, Gabriele/Fischer-Rosenthal, Wolfram: Analyse narrativ-biographischer Interviews. In: Flick, Uwe u.a. (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Hamburg 2003, S. 456–467, S. 465.
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seins aus der Gegenwartsperspektive: »Die Erzählung folgt insgesamt der Logik einer retrospektiven Teleologie: Es werden die Ereignisse und Erfahrungen ausgewählt, die erklären, warum der bzw. die Erzählende so geworden ist, wie er oder sie heute ist. Dabei greift er oder sie das kulturelle und soziale Repertoire von Entwicklungstheorien und Identitätsmustern auf und setzt es in der eigenen Geschichte performativ ein.« 54 Dabei wird aber weder – wie ein oft geäußertes Missverständnis gegenüber der Biografieforschung meint – von einer Homologie von Narration und Wirklichkeit noch von einer Homologie von Semantik und Realität ausgegangen.55 Entgegen der unterstellten Gleichstellung von Text und gelebter Wirklichkeit wird die Wechselwirkung von Vergangenem-Gegenwärtigem-Zukünftigem betrachtet. 56 Es geht der Biografieforschung viel-
54 Scholz, Sylka: Männlichkeit erzählen. Lebensgeschichtliche Identitätskonstruktionen ostdeutscher Männer. Münster 2004, S. 34. 55 Vgl. dazu Bourdieu, Pierre: Die biographische Illusion. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History 3 (1990), S. 75–81; oder später auch: Nassehi, Armin: Die Beobachtung biographischer Kommunikation und ihrer doppelten Kontingenzbewältigung. Vortrag vor der Sektion »Biographieforschung« auf dem DGS-Kongress in Leipzig, 9.10.2002, unter: , Zugriff: 20.7.2010. Diesen Überlegungen entgegen wird in den aktuellen Diskussionen die Ähnlichkeit eines doing gender, eines doing ethnicity mit einem doing biography hervorgehoben und damit auf die performative Hervorbringung einer Biografie (nicht nur im Forschungskontakt) verwiesen werden. Biografie muss infolgedessen als gemeinsames Produkt von Forschenden und Beforschten verstanden werden, da beide den sozialen Regeln des Alltags folgen; Bukow, Wolf-Dietrich/Spindler, Susanne: Die biographische Ordnung der Lebensgeschichte – Eine einführende Diskussion. In: Bukow, Wolf-Dietrich/Ottersbach, Markus/Tuider, Elisabeth/Yildiz, Erol (Hrsg.): Biographische Konstruktionen im multikulturellen Bildungsprozess. Individuelle Standortsicherung im globalisierten Alltag. Wiesbaden 2006, S. 19–37, S. 19. Konzeptionell trägt dem Peter Alheit mit seinem Begriff der »Biographizität« Rechnung; vgl. Alheit: Biographizität (wie Anm. 50). 56 Fischer-Rosenthal, Wolfram/Rosenthal, Gabriele: Warum Biographieforschung und wie man sie macht. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 4 (1997), S. 405–427, S. 411.
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mehr »um die Genese […] einer historisch konkreten sozialen Ordnung, für die biographische (Selbst-)Beschreibungen konstitutiv sind«.57 Denn die Art und Weise des Erzählens und Sprechens nimmt auf die – in der Vergangenheit internalisierten – Regeln, Normen und Diskurse Bezug und repräsentiert und reinszeniert sie. Die erzählte Biografie, so Bettina Völter, Bettina Dausien, Helma Lutz und Gabriele Rosenthal, ist »ein soziales Konstrukt […], das Muster der individuellen Strukturierung und Verarbeitung von Erlebnissen in sozialen Kontexten hervorbringt, aber dabei immer auf gesellschaftliche Regeln, Diskurse und soziale Bedingungen verweist, die ihrerseits u.a. mit Hilfe biographischer Einzelfallsanalysen strukturell beschrieben und re-konstruiert werden können«.58 An dieser Stelle ist es sinnvoll und möglich, die Biografieforschung mit einer Diskursanalyse zu verbinden. Die Diskursanalyse zielt auf die Wissensordnungen – zum Beispiel zu Geschlecht, Sexualität oder Ethnizität –, die jenen, die im Diskurs stehen, vertraut sind. Sie fragt also nach den inneren Regeln, Logiken und Ordnungen von Debatten. Im Foucault’schen Verständnis sind Diskurse gesellschaftliche Raster des Verstehens, Ordnens und Hierarchisierens, die Möglichkeiten von Denkweisen generieren und Wissensgegenstände kreieren. Diskurse sind »Praktiken […], die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen«. 59 Die körperliche Erfahrung, das vergeschlechtlichte Handeln und die kulturellen Ordnungen sind dabei nicht dem Diskurs vorgelagert oder ein natürlich Gegebenes, auf das die Diskurse wirken, sondern sie können als Effekte der diskursiven Regime definiert werden. Diskurse konstituieren somit Orte der Positionierungen und des Handelns und sie ermöglichen Subjektpositionen: Sprechen und Handeln geschieht aus einem spezifischen diskursiven Kontext heraus oder mit Semra Celik formuliert: »[D]ie erlebten Subjektivitätsformen sind immer diskursiv«.60 Biografische Forschung basiert also auf der methodologischen Annahme, dass den Erzählungen wirkmächtige Strukturen, Normen und Diskurse in einer
57 Fischer-Rosenthal/Rosenthal: Biographieforschung (wie Anm. 56), S. 405. 58 Völter, Bettina/Dausien, Bettina/Lutz, Helma/Rosenthal, Gabriele: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Biographieforschung im Diskurs. Wiesbaden 2005, S. 7–20, S. 7. 59 Foucault, Michel: Das Wuchern der Diskurse. Frankfurt a.M. 1973, S. 74. 60 Celik, Semra: Grenzen und Grenzgänger. Diskursive Positionierungen im Kontext türkischer Einwanderung. Münster 2006, S. 39.
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gemeinsamen, geteilten Wirklichkeit zugrunde liegen, die in der Interaktion zwischen Forschendem und Erzählendem belebt, aufgedeckt und wissenschaftlich rekonstruiert werden können.
F AZIT Intersektionalität, so Kathy Davis, hat zwei wesentliche Stränge des zeitgenössischen feministischen Denkens zusammengebracht, die auf unterschiedliche Weise Differenz bearbeiten: Zum einen ist dies das politische Projekt des Black Feminism, mit dem Intersektionalität verbunden wird, wobei im Black Feminism die Relevanz und das Wechselspiel von race-class-gender sichtbar geworden ist. Zum anderen ist dies das dekonstruktivistische Projekt der postmodernen feministischen Theorie, das Normalitätskonstruktionen und homogenisierende Kategorien kritisiert und aufzuweichen versucht.61 Im Rahmen des hier vorgestellten Beispiels einer biografischen Erzählung habe ich gezeigt, wie sich die Differenzlinien von Geschlecht, Sexualität und Ethnizität kreuzen – und welche Uneindeutigkeiten, (Neu-)Verhandlungen und Ambiguitäten sich dabei auftun und empirisch bearbeiten lassen. Im Rahmen der durchaus heteronormativ organisierten Zweigeschlechtlichkeit in Juchitán eignen sich muxés deren kulturelle Zeichen und Präsentationen an und verschieben und überschreiten sie gleichzeitig. Sie besetzen im Rahmen der kulturellen Ökonomie Juchitans einen Zwischenraum, der auf die beiden Pole (Frau/Mann) Bezug nimmt, ihre Konstruktions- und Funktionsweisen offenlegt und zugleich unterläuft. Der sich dabei konstituierende dritte Geschlechterraum ist aber nicht nur durch die Verschränkung von Geschlecht, Sexualität und Ethnizität und durch Ambiguität gekennzeichnet. In der Analyse der Subjektposition der muxé hat sich vielmehr ein offenes Herangehen, in dem vorab die relevanten Differenzen und deren Anzahl nicht festgelegt werden, bewährt. In der Analyse des dritten Geschlechterraumes und in die Interpretation der juchitekischen Geschlechterordnung konnte über diese prinzipielle Offenheit das Thema Arbeit einbezogen und reflektiert werden. Nicht für eine Erweiterung der triade oder der 15 bipolaren Differenzlinien
61 Davis, Kathy: Intersectionality as a Buzzword. A Sociology of Science Perspective on what Makes a Feminist Theory Successful. In: Feminist Theory 9 (2008), S. 67–85.
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wird hier argumentiert, sondern für eine Fokussierung der je spezifischen Differenz- und Machtkonstellationen. In der empirischen Analyse – vor allem unter dem Einsatz qualitativer Methoden – kann herausgearbeitet werden, welche Differenzen eine Rolle spielen, wie verschiedene Differenzen ganz konkret miteinander verknüpft sind und es kann damit die Gleichzeitigkeit von Marginalisierung und Privilegierung erfasst werden. Insbesondere in den diskursiven und biografischen Verhandlungen zeigt sich, dass die Subjektposition der muxés nicht nur unter der Perspektive von Repression, Marginalisierung und Dethematisierung betrachtet werden können. Ebenso wenig taugt die Brille von »hegemonialer Männlichkeit« dazu, die ambigue Positionierungen der muxés in der juchitekischen Gesellschaft einzuholen. Anhand meiner Forschungen in Juchitán sollte deutlich werden, dass der Fokus der Intersektionalität auf methodischer Ebene besonders in der Analyse qualitativen Datenmaterials vor einseitigen Interpretationen und Homogenisierungen bewahren kann. Mit dem Blick auf die individuelle (marginalisierte, ermächtigte oder privilegierte) Positionierung am Knotenpunkt verschiedener Macht- und Herrschaftsverhältnisse müssen Individuen nicht als »frei flottierende player im Spiel von Differenzen« 62 abgetan werden. Gerade die Analyse von Biografien und die Analyse dessen, wie diese Biografien mit gesellschaftlichen Diskursen und Verhältnissen dialektisch verwoben sind, liefert meiner Meinung nach wichtige Anhaltspunkte für eine – empirisch fundierte – Intersektionalitätsdebatte und -analyse. Mit einer Koppelung von Biografieforschung und Diskursanalyse können und sollen die intersektionell verknüpften Ebenen nicht nacheinander (wie bei Nina Degele und Gabriele Winker von der Mikro- zur Makroebene), sondern als miteinander verwobene methodische Schritte63 gedacht werden. Das in den letzten Jahren in die Diskussion gekommene Gouvernementalitätskonzept hält einen produktiven methodologischen Rahmen für intersektionelle Herausforderungen bereit, insofern es aufzeigt, wie die Verbindung von machtvollen, anordnenden Diskursen und Subjektkonstituierung methodologisch an der Schnittstelle von sich kreuzenden Differenzverhältnissen zusammengebracht werden können. Schon Foucault wollte he-
62 Klinger, Cornelia: Überkreuzende Identitäten – Ineinandergreifende Strukturen. Plädoyer für einen Kurswechsel in der Intersektionalitätsdebatte. In: Dies./Knapp: ÜberKreuzungen (wie Anm. 2), S. 38–67, S. 57. 63 Vgl. Tuider: Geschlecht (wie Anm. 3).
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rausfinden, was die spezifische Art und Weise ist, »in der ein Mensch sich selbst in ein Subjekt verwandelt« und gelernt hat, sich als Subjekt zu erkennen.64 Der Gouvernementalitätsforschung geht es um die Erforschung derjenigen Regierungspraktiken und sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen spezifische Identitäten und Praktiken sich historisch konkret formieren und/oder transformieren. Nicht zuletzt ermöglicht uns eine queer-dekonstruktivistische Wachsamkeit innerhalb intersektioneller Analysen auch über die bipolar angeordneten Differenzen (Mann-Frau, Weiß-Schwarz, Westen-Rest, ZentrumPeripherie) hinauszugehen und diese zu veruneindeutigen.
64 Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Berlin 1978, S. 243.
Kommentar
Von Herkünften, Suchbewegungen und Sackgassen: Ein Abschlusskommentar G UDRUN -A XELI K NAPP
Seit ihren Anfängen in den 1970er und 80er Jahren waren Fragen von Differenz und Ungleichheit unter Frauen ein dynamisierendes Moment in der transnationalen feministischen Theoriediskussion und der politischen Praxis der Frauenbewegung. Wenngleich diese Diskussionen und Praxen deutlich kontextspezifische Ausprägungen erfuhren, lässt sich verallgemeinernd sagen, dass es die grundlagenkritische Auseinandersetzung mit den Aporien des »Wir« feministischer Kritik und die damit zusammenhängende Frage der Repräsentation (Wer beansprucht von wo aus für wen in welcher Hinsicht zu sprechen?) waren, die die feministische Diskurskonstellation zu der ›heißen‹ epistemischen Kultur gemacht haben, als die sie sich in den vergangenen dreißig bis vierzig Jahren gezeigt hat. 1 Unübersehbar ist dabei, dass sich die Diskussion um »Ungleichheit und Differenz unter Frauen« im Laufe der Zeit 1. zunehmend vom Rand ins Zentrum der feministischen Diskussion bewegt hat, und dass dabei 2. allmählich auch in der deutschsprachigen Frauen- und Geschlechterforschung Problematiken von Migration, Transnationalität und Postkolonialität außerhalb der schon früher darauf bezogenen Forschungs- und Bewegungskontexte an Bedeutung gewonnen haben. Unübersehbar ist schließlich auch, dass 3.
1
Knapp, Gudrun-Axeli: Aporie als Grundlage. Zum Produktionscharakter der feministischen Diskurskonstellation. In: Dies. (Hrsg.): Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik. Münster 2003, S. 240–266.
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im Zuge dieser Entwicklung in der feministischen Theorie die methodologischen und metatheoretischen Implikationen dieser Verschiebung stärker in den Vordergrund gerückt sind. Als gängiges Etikett für diese Perspektivenveränderung und -erweiterung über Fragen von Gender/Geschlecht hinaus hat sich in den vergangenen Jahren der von der amerikanischen Juraprofessorin und Menschenrechtsaktivistin Kimberlé Crenshaw geprägte Terminus »Intersectionality« durchgesetzt, dem von seiner Entstehung her das Bild einer Überschneidung beziehungsweise Kreuzung unterschiedlicher Formen der Diskriminierung zugrunde liegt. Ich will nun nicht über mögliche Gründe für den gegenwärtigen »Intersectionality«-Boom spekulieren: Hierzu müsste man gesamtgesellschaftliche Veränderungen und feldspezifische Entwicklungen der Frauen- und Geschlechterforschung genauer in Beziehung setzen als ich das hier tun kann. Klar scheint mir jedoch zu sein, dass die forcierte Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Konstellationen von Macht, Herrschaft, Ungleichheit und Diskriminierung sowie mit den komplexen Grundlagen von Identitätskonstruktionen ohne den transnationalen Horizont von Frauenbewegung und feministischer Theorie nicht verstanden werden kann. Insbesondere Theorietransfers aus dem anglo-amerikanischen Kontext haben die Debatte auf spezifische Weise sowohl angeheizt als auch neu konfiguriert. Im Folgenden werde ich zunächst Kontexte feministischer Grundlagenkritik skizzieren und dabei Bezüge zu Diskussionsbeiträgen einzelner AutorInnen dieses Bandes herstellen. Der Bitte der Herausgeberinnen, in meinem Abschlusskommentar die Erträge der Konferenz zu reflektieren, will ich anschließend in einer summarischen Form entsprechen, die ebenfalls den breiteren Diskurs zu Intersektionalität als Hintergrundfolie nimmt. Punktuell beziehe ich mich auch konkreter auf einzelne Beiträge, in der Hoffnung, die Diskussion durch Einwände und Klärungen weiterzubringen.
K ONTEXTE FEMINISTISCHER G RUNDLAGENKRITIK Besondere Dynamik zeigt sich seit Anfang der 1990er Jahre in zwei Feldern feministischer Grundlagenkritik: Das eine ist die Sex-Gender-Debatte, welche die Türen für konstruktivistische und poststrukturalistische Theorie geöffnet und die Geschlechterforschung um queertheoretische Problemstellungen erweitert und sie damit auch herausgefordert hat; das andere Feld ist
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die Debatte über Ungleichheit und Differenzen unter Frauen. Zwischen beiden Feldern gibt es verschiedene Überlappungen und Bezugnahmen. Im deutschsprachigen Raum waren es vor allem Feministinnen, die zu Themen der Migration, Antirassismus und Postkolonialismus arbeiteten, nicht selten Nachwuchswissenschaftlerinnen mit einem Migrationshintergrund und Feministinnen aus der Lesbenforschung und später den Queer Studies, die die Unterstellungen des feministischen »Wir« und die Zentrierung auf Geschlechterverhältnisse problematisierten und dabei besonders intensiv auf Beiträge aus der anglo-amerikanischen Diskussion zurückgriffen. Im Zuge dieser offensiveren Transnationalisierung wurde auch des Öfteren auf »race, class and gender«, die ältere begriffliche Triade des Black Feminism, rekurriert. Dennoch denke ich, dass die in jüngster Zeit gewachsene Aufmerksamkeit für Fragen von Ungleichheit und Differenzen unter Frauen weniger mit den Reisen von »race, class, gender« zu tun hat, auch nicht mit den Impulsen postkolonialer und queerer Theorie, als mit der Ankunft und Verbreitung des Stichworts »Intersectionality«. Damit hatte, um eine Redewendung von Betty Friedan aufzunehmen, ein Problem oder besser: eine Konstellation von Problematisierungen »einen Namen« bekommen. Und dieses Kürzel »Intersectionality«, eigentlich ein Neologismus ohne bestimmten Inhalt, ist nicht nur deutlich schneller gereist als die ältere Triade von race, class and gender, sondern auch schneller als die originären Texte, in denen Kimberlé Crenshaw das Bild der Kreuzung von Race und Gender und das Wort von den »intersections« 1987/89 im Zusammenhang einer spezifischen Fragestellung eingeführt hat. Es könnte ein verdienstvolles Projekt sein, einmal die gesellschaftlichen, institutionellen und wissenspolitischen Prozesse und Bedingungen zu rekonstruieren, in denen aus spezifischen Untersuchungen von »intersections« der international geläufige Programmname »Intersectionality« wurde. Vielleicht gibt es einige Parallelen zwischen den Anfängen der dekonstruktiven Praxis und dem »Monster« (Jacques Derrida) des Dekonstruktivismus. Ich bin, dies sei an dieser Stelle angemerkt, nicht der Auffassung von Encarnación Gutiérrez Rodríguez, die Intersektionalität ebenso wie diversity gleichermaßen und pauschal als Symptome der managerialen Umwandlung der Sozialwissenschaften liest. Stattdessen erscheint es mir angemessen und produktiver, deutlicher zwischen beiden zu differenzieren. Dies betrifft sowohl die unterschiedlichen Kritikhorizonte als auch die Genealogien von Intersektionalität und diversity. Zustimmen würde ich ihr darin, dass in institutionellen Kon-
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texten unter dem Druck der Verhältnisse in beiden Feldern Anpassungs- und Verdeckungsstrategien Raum greifen, in denen Potentiale der Anwendungsorientierung als Marketingargumente betont werden. In diesem spezifischen Zusammenhang der Kämpfe um institutionelles Überleben ist das managementkompatible Etikett von diversity, wie auch in den USA, gelegentlich zur Deckadresse von intersektionell arbeitenden Feministinnen geworden. Aus der Sicht vieler Hochschulleitungen und dominanter Kräfte in Gremien erweisen sich anscheinend sowohl Denominationen für Intersektionalität als auch für diversity als attraktive Möglichkeiten der Ersetzung der ungeliebten (und trotz der Umdeklarationen von »feministisch« und »Frauenforschung« zu den internationaler und neutraler klingenden »Gender Studies«) immer noch als partikularistische Fremdkörper verschrienen Professuren der Geschlechterforschung.2
I NTERSECTIONALITY »C ALLING H OME «? Kimberlé Crenshaw hat sich am Rande der Tagung »Celebrating Intersectionality – Debates on a Multi-Faceted Concept in Gender Studies«, die 2009 in Frankfurt stattfand,3 mir gegenüber verwundert darüber geäußert, was in Europa so alles mit »Intersectionality« verbunden wird. Anscheinend reicht das Spektrum dessen, was daraus gemacht wurde, weit über ihren originären Fokus und inhaltlichen Bezug hinaus. Am Rande eines Panels zu »Intersectionality«, das 2009 auf dem Jahreskongress der American Sociological Association (ASA) in San Francisco stattfand, äußerte Crenshaw in einem Gespräch, in dem wir nochmal über ihre Eindrücke in Europa redeten, die Befürchtung, dass durch die sehr breite Auslegung von »Intersectionality«, die spezifischen
2
Zu einigen Beobachtungen der Situation in den USA siehe: Knapp, GudrunAxeli: Traveling theories: Anmerkungen zur epistemischen Ökonomie von »Race, Class und Gender« in den USA und im deutschsprachigen Raum. In: Rehberg, Karl Siegfried (Hrsg.): Ungleichheit und Differenz. Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München 2004. München 2006, S. 1728–1738 (CD-ROM).
3
Lutz, Helma/Herrera Vivar, Maria Teresa/Supik, Linda (Hrsg.): Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts. Wiesbaden 2010.
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Probleme Schwarzer Frauen wieder aus dem Blick geraten könnten, die sie mit ihrem Konzept gerade sichtbar machen wollte. Crenshaws Power-PointPräsentation in San Francisco thematisierte diese Befürchtung und Befremdung mit einem Bild: Der außerirdische Alien E.T., der mit seinem dünnen Finger Kontakt nach Hause sucht (»E.T. calls home?«). Crenshaws Text zu ihrer E.T.-Folie lautete: »Intersectionality Calling Home«. Da bekanntlich kein Autor die Rezeption seiner Schriften kontrollieren kann – was schon in den Sokrates zugeschriebenen Kratylos-Dialogen festgestellt wird – , ist möglichem Befremden über Rezeptionen, die ja zwangsläufig immer auch Formen des Um- und Neuschreibens darstellen, nicht abzuhelfen. Und in der Tat lässt sich die Idee, die hinter dem Terminus »Intersektionalität« steht, nicht einhegen auf die Problematik doppelter oder multipler Diskriminierung und auf die Frage, wie politisch mit »intra-groupdifferences« (Crenshaw) umgegangen werden kann. In diesem Sinne sieht Kathy Davis gerade im Variationsreichtum der Referenzen ein spezifisches Moment der Produktivität von »Intersectionality«, auch wenn die Anknüpfungen inhaltlich und politisch den ursprünglichen Intentionen und dem politischen Impetus nicht mehr in jedem Fall entsprechen.4 Dem Variationsreichtum von methodischen und theoretischen Auslegungen des Konzepts korrespondiert eine Vielfalt unterschiedlicher Gegenstände, auf die es angewandt wird, eine Vielfalt, die weder zu regieren noch zu kontrollieren ist. Die Produktivität einer Bezugnahme kann sich meines Erachtens nicht am normativen Maßstab einer spezifischen politischen Genealogie des Konzepts, sondern nur im Einzelnen und in je spezifischen Hinsichten erweisen. Auch entlegene Rezeptionen und Übertragungen auf völlig andere Gegenstände als auf den Zusammenhang von Rassismus und Sexismus sind nicht illegitim und können analytisch produktiv sein. Meine eigene Form der Bezugnahme ist gespalten: einerseits grundsätzlich positiv gegenüber der mit »Intersektionalität« assoziierten Programmatik oder genauer gesagt, der kritisch-feministischen Intention, in deren weiteren Horizont ich auch meine Suchbewegungen sehe, andererseits eher skeptisch gegenüber der Tragweite der konzeptuellen Vorgabe sowie gegenüber bestimmten diffusen Zügen der damit verbundenen Diskussion.
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Davis, Kathy: Intersectionality in Transatlantic Perspective. In: Klinger, Cornelia/ Knapp, Gudrun-Axeli (Hrsg.): ÜberKreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz. Münster 2008.
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Diese bewegt sich insgesamt in einer ungeheuren Komplexität, an der wir als auf bestimmte Fragen und Gebiete spezialisierte Einzelne immer wieder zu scheitern drohen und scheitern. Auch warne ich generell davor, sich in der eigenen Forschung zu eng an die Metapher zu binden und würde es für einen Fall von misplaced concreteness halten, methodologische oder metatheoretische Diskussionen zu Fragen der Vermittlungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilungsverhältnisse am Bild einer Kreuzung führen zu wollen. Gleichwohl würde ich nicht wie Isabell Lorey unterstellen, dass die bloße Referenz auf »Intersectionality« einen in die Logizität und Begrenzungen dieses spezifischen Bildes zwingen würde. Warum sollte sie das? Man kann eine kritische Intention auf Komplexitätsgewinn in Problemanalysen und die politische Forderung, Ausschlüsse innerhalb einer sozialen Bewegung und deren Politiken zu reflektieren, teilen und aufnehmen, ohne orthodox eine ganz bestimmte Lesart und Umsetzung dieser Intention als bindend festschreiben zu wollen. Ich selbst versuche in meinen theoretischen Bemühungen, Anregungen aus der Intersektionalitätsdebatte auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge und Vermittlungsverhältnisse unterschiedlicher Formen von Herrschaft, Macht und Ungleichheit zu übersetzen. Das ist kein empirisches Projekt, sondern bezeichnet eher einen Lese-, Diskussions-, und Suchhorizont, in dem ich mich gemeinsam mit anderen bewege und austausche. Dabei interessiert mich vor allem die Frage, wie unterschiedliche und zugleich durch einander vermittelte Formen von Herrschaft und Ungleichheit institutionell und strukturell in die moderne Gesellschaft eingelassen sind, wie und in welchen Auseinandersetzungen sie sich verändert und im Wandel der Gesellschaft fortgeschrieben haben. Anknüpfend an Problemstellungen aus der »Dialektik der Aufklärung«5 beschäftigt mich unter dem Arbeitstitel einer »Archäologie der Europäischen Moderne« insbesondere die mir im wahrsten Sinne unheimliche historische Gleichzeitigkeit von universalistischen Verheißungen und Versprechen der Aufklärung (Allgemeine Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit, Solidarität), inklusive der damit verbundenen Formen der entpartikularisierenden Vernunft und Rationalisierungsprozesse einerseits und der Radikalisierung von Partikularismen sowie unterschiedlichen Formen sozialer Teilung, Herrschaft und Ausbeutung andererseits, die gerechtfertigt werden durch die im Ent-
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Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Gesammelte Schriften, Bd. 3. Frankfurt a.M. 1998.
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stehen begriffenen modernen Wissenschaften vom Menschen und von der Gesellschaft. Die großen Begriffe des auf uns gekommenen westlichen Lexikons der Selbstverortung (Humanität, Individualität, Fortschritt, Zivilisation, Kommunikation, Aufklärung und insbesondere die Rede von der Modernität der modernen Gesellschaft) sind historisch korrumpiert und daher fragwürdig geworden. Dahinter steht die sehr grundsätzliche Frage, woran und in welcher Weise überhaupt in Theorie und Praxis an das Erbe der europäischen Aufklärung und der Moderne angeknüpft werden kann. Was ergibt sich aus der selbstzerstörerischen Dialektik der Moderne, die Walter Benjamin in seinen geschichtsphilosophischen Thesen so eindrücklich geschildert hat, für die Ontologie der eigenen Gegenwart, für das Begreifen des historischen Bodens, auf dem man steht? Zur Annäherung an diese Zusammenhänge, die ich als philosophisch halbgebildete Soziologin und Sozialpsychologin unternehme, nutze ich unterschiedliche Überlegungen und Begriffe aus dem Bestand kritischer Gesellschaftstheorien. Unter anderem und besonders das Konzept der »historischen Konstellationen« und den Begriff der »Vermittlung« wie er in der negativdialektischen Theorie Adornos verstanden wird.6 Mir geht es um herrschaftsförmige Vermittlungszusammenhänge im Herzen der modernen Gesellschaft, in denen die Moderne ihren eigenen Anspruch und ihre Versprechen dementiert, vielleicht strukturell dementieren muss. »Intersektionalität« gebrauche ich dagegen eher als Programmnamen, der sich im transatlantischen feministischen Diskurs zur Bezeichnungen einer bestimmten, sich mit meinen Bemühungen berührenden, Problematisierungsweise eingebürgert hat und der international verstanden wird. Ich verwende ihn auch, weil er eine genealogische Referenz darstellt, die ich nicht entnennen möchte. Dabei gestehe ich ein, dass mir der Bezug auf den Programmnamen »Intersektionalität« angesichts gewisser regressiver Aspekte in der Diskussion, zunehmend auch Unbehagen bereitet. Dass aber eine Referenz auf den Kontext des Black Feminism per se eine Immunisierungsstrategie sein soll, mit der man sich der Aufgabe der Analyse von Rassismen enthebt, wie Isabell Lorey nahelegt, vermag ich nicht einzusehen. Und das gilt selbst, wenn man sich nicht vorwiegend oder ausschließlich mit Rassismus befasst. Auch muss sie keinesfalls bedeuten, wie Encarnación Gutiérrez Rodríguez
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Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Gesammelte Schriften, Bd. 6. Frankfurt a.M. 1998.
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unterstellt, dass mit dem Bezug auf das »Buzzword« (Kathy Davis) »Intersectionality« die entsprechenden Vorläufer im deutschen Sprachraum unsichtbar gemacht würden. Wenn ich mir einschlägige deutschsprachige Texte zur (Vor-)Geschichte dieser Diskussion vor Augen halte, inklusive meiner eigenen Überblickstexte, so sind darin Verweise auf die deutschsprachige Klasse/Geschlecht-Debatte, auf die Thematisierung des Antisemitismus in der Frauenbewegung und -forschung, auf Bücher wie »Farbe bekennen – Afro-Deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte« oder auf Kritiken von Sedef Gümen, Encarnación Gutiérrez Rodríguez und anderen an den Schlagseiten und Ausblendungen in der feministischen Theorie nicht gerade selten. Auch wenn man das empirisch genauer quantifizieren müsste, kann von einer Unsichtbarkeit dieser Genealogie sicherlich keine Rede sein. Dennoch sehe auch ich einen gewissen Widerspruch zwischen dem recht verbreiteten Erwähntwerden in Überblicks- und Handbuchartikel und einer selbstverständlichen und vor allem wirkungsvollen Präsenz minorisierter Subjektund Wissenspositionen, von der wir noch weit entfernt sind. In einer genealogischen Rekonstruktion dieser Entwicklung müsste man wahrscheinlich viel deutlicher, als das bisher getan wird, unterscheiden zwischen verschiedenen räumlichen und zeitlichen Kontexten. Etwa zwischen der US-amerikanischen und englischen Intersectionality-Diskussion, in der Fragen von »race« und Rassismus zentral sind, der jüngeren Debatte, die sich im deutschen Sprachraum und im nicht-anglophonen europäischen Kontext unter dem Label der »Intersektionalität« entfaltet hat, und früheren Formen der Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Zusammenhang unterschiedlicher Herrschaftsverhältnisse. Die älteren deutschsprachigen Diskussionen zu dieser Thematik an die ich mich erinnere, und dies mag eine zumindest teilweise disziplinär akzentuierte Auswahl sein, unterscheiden sich nicht nur darin, dass der inflationäre Bezug auf »identities« in den 1980er Jahren noch keine große Rolle spielte, obgleich Fragen von Subjektivität und Selbstverhältnissen durchaus relevant waren. Hier ist zweifellos der Einfluss amerikanischer terminologischer Konventionen heute besonders spürbar. Der neuere europäische Identitätsdiskurs bietet für die Rezeption und die Ausbreitung identitärer Terminologien einen Resonanzraum, der das begünstigt. Außerdem sehe ich gewisse Anzeichen dafür, dass die Ausbreitung der identity-Terminologie wesentlich auch über Debatten im sexualpolitischen Kontext erfolgt ist. Dabei wird die Rede von Identitäten auf para-
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doxale Weise eingebürgert: Identity wird gleichsam als Konterbande mitgeführt im Zeichen ihrer Dekonstruktion oder Vervielfältigung. Die älteren deutschsprachigen Diskussionen unterscheiden sich überdies (zumindest im sozialwissenschaftlichen Kontext) in dem im Vergleich zu heute eher selbstverständlich vorausgesetzten gesellschaftstheoretischen Fragehorizont – so wenig auch die seinerzeit gängigen Bezugstheorien den Fragen nach Vermittlungen von Klasse, Geschlecht, Sexualität, geschweige denn dem in Deutschland etwas später relevant gewordenen Problemkomplex Nationalität/Ethnizität und den damit verbundenen »Politics of Belonging« (Nira Yuval-Davis) gerecht werden konnten. Sie unterscheiden sich positiv auch in dem Sinne, dass es noch nicht die merkwürdig normative Gespensterdebatte darüber gab, »wie viele Differenzen« in Rechnung gestellt werden dürfen oder sollten (etwa nur 3 oder vielleicht 13 oder so viele, wie das berüchtigte und von Butler zu recht spöttisch kommentierte unabschließbare »etcetera« zu imaginieren erlaubt?). In diesen Zusammenhang fand ich sehr aufschlussreich, was Beate Binder und Sabine Hess in ihrem einleitenden Beitrag zu diesem Band aus der Perspektive der Europäischen Ethnologie über das »Narrativ der Herkunft« und die frühen Spuren der Diskussion über Unterschiede und Ungleichheit unter Frauen in der Frauenforschung geschrieben haben.
»P USHING THE B OUNDARIES « P OTENTIAL
ALS EPISTEMISCHES
Trotz der genannten Vorbehalte teile ich grundsätzlich Floya Anthias’ Auffassung, dass »Intersectionality« im konstruktivistischen Sinne als ein heuristisches Instrument verstanden werden kann, das neue Fragen generieren kann, indem frühere Problematiken oder kategoriale Konfigurationen verschoben oder durchqueert werden.7 Auch wenn ich es für eine Sackgasse halte, »Intersectionality« allzu wörtlich zu nehmen und sich konkretistisch an dem Bild der Kreuzung als methodologischer oder metatheoretischer Orientierung abzuarbeiten (oder auch sich auf der Basis konkretistischer Unterstellungen dagegen abzugrenzen), gilt selbst für diese einfache Form
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Anthias, Floya: Rethinking Social Divisions: Some notes towards a theoretical framework. In: Sociological Review 46, 3 (1998), S. 505–535.
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der Visualisierung, dass sie einen auf produktive Gedanken bringen kann. So hat zum Beispiel Crenshaws Hinweis auf eine »intersectional invisibility«, die in der Visualisierung im Punkt der Kreuzung entsteht, in verschiedenen Feldern, inklusive der kognitiven Psychologie, neue Formen der Analyse angeregt. 8 Prinzipiell kann die verschiebende und eröffnende Funktion einer intersektionellen Heuristik sich in beiden erkenntnistheoretischen Hinsichten artikulieren: in der Hinsicht auf den Gegenstand (intentio recta) wie in der Hinsicht auf das Denken des Gegenstandes (intentio obliqua). Das erweitert die Ansicht der Phänomene ebenso wie den Blick auf den Blick. Oft funktioniert das methodisch über die schlichte Übung, »to ask the other question«, wie das Mari Matsuda genannt hat.9 »To ask the other question« ist eine im Intersektionalitätsdiskurs auf spezifische Weise formatierte Erinnerung daran, dass wir mit unseren Analysen unweigerlich Abstraktionsschnitte vornehmen und dabei potentiell immer auch von etwas absehen, das in die Konstitution des Problems, das man untersucht, als wesentliches Element eingegangen sein könnte. Besonders deutlich wird die epistemische Produktivität einer intersektionellen Perspektive, wenn die Felder des Wissens, in denen sie operiert, nach einer Logik der Segregation strukturiert sind. Und dieses ist, für die feministische Wissenschaftskritik war dies geradezu eine Ausgangserfahrung, in weitgehendem Maße und bis heute der Fall. Nach dieser Logik der Segregation wird nichts als »Geschlecht« aufgerufen, wenn es um Lebensverhältnisse von Frauen und Männer geht, oder nur »Klasse«, wenn es um Ungleichheit geht, und es werden nur die jeweils »Anderen« aufgerufen, wenn es um Rassialisierung geht. Dabei ginge es darum, wie die Entwicklung der feministischen Diskussion gezeigt hat, aus dem feministischen Paradox Konsequenzen zu ziehen, das sich so formulieren lässt: Wir begreifen die Lebensverhältnisse von Frauen und Männern nicht, wenn wir sie ausschließlich über die Kategorie »Geschlecht« fokussieren. Und: Wir
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Dazu Knapp, Gudrun-Axeli: »Intersectional Invisibility«: Anknüpfungen und Rückfragen an ein Konzept der Intersektionalitätsforschung. In: Lutz, Helma/ Herrera Vivar, Maria Teresa/Supik, Linda (Hrsg.): Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts. Wiesbaden 2010, S. 223–245.
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Matsuda, Mari: Beside My Sister, Facing the Enemy: Legal Theory Out of Coalition. In: Stanford Law Review 43 (1991), S. 1183–1189.
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begreifen die Lebensverhältnisse von Frauen und Männern nicht, wenn wir sie nicht über die Kategorie »Geschlecht« fokussieren. Logiken der Segregation strukturieren die Felder der Ungleichheitsforschung, der Geschlechterforschung, der Migrationsforschung bis bin zu den Grundarchitekturen in Theorien der Gesellschaft. In Formen konzeptioneller Abstraktion und wissenschaftlicher Arbeitsteilung schlagen sich die Erbschaften gesellschaftlicher und politischer Machtverhältnisse, Hegemonien und Ausblendungen nieder, die eine kritische Wissenschaft offenlegen, aber nicht fortschreiben sollte. Für die USA hat das Patricia Hill Collins in ihren wissenssoziologischen Texten ausgearbeitet, in konzentrierter Form in ihrem Beitrag zu dem Buch »Sociology in America. A History«, das Craig Calhoun herausgegeben hat. Der Text ist überschrieben mit: »Pushing the Boundaries or Business as Usual? Race, Class, and Gender Studies and Sociological Inquiry«.10 Im Verschieben oder Herausfordern etablierter Grenzziehungen (Pushing the Boundaries) liegt die spezifische Produktivität oder, wenn man es so will, auch der dekonstruktive Impetus einer interferierenden, das heißt wörtlich übersetzt: dazwischenkommenden Fragerichtung. In der Regel wird dabei im Prozess der Umsetzung dieses »Boundary Pushing« auch das Konstrukt der Intersektionalität als Kreuzung selbst problematisch, da sich im Durchgang durch spezifische Problemzusammenhänge auch seine architektonischen Grenzen erweisen – wie sollte es denn auch anders sein? Inter-, Trans- und Post-Probleme Zu den vielfach kommentierten Schwachstellen des Konstrukts der »Intersektionalität« gehört ein Problem, das es mit allen »inter«-Kombinationen teilt: Konstruktionen mit »inter« müssen zunächst die Entitäten voraussetzen, zwischen denen dann eine Relation behauptet wird. Das »inter« konterkariert sprachlich die Behauptung einer Vermittlung und reifiziert das angeblich vermittelte oder sich kreuzende. Solche Schwierigkeiten sind der Feministischen Theorie seit den ersten Diskussionen über Inter-Disziplinarität vertraut. Ebensowohl dürfte sich inzwischen jedoch herumgespro-
10 Collins, Patricia Hill: Pushing the Boundaries or Business as Usual? Race, Class, and Gender Studies and Sociological Inquiry. In: Calhoun, Craig (Hrsg.): Sociology in America. A History. Chicago 2007, S. 572– 605.
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chen haben, dass diese Probleme durch Einführen von »trans«- oder »post«Vorsilben und -Perspektiven nicht unbedingt beseitigt, sondern dass sie nur anders konfiguriert werden. Auch ein »trans« findet »irgendwo« und zwischen »etwas« statt, das bestimmt werden muss, um Spezifika des »trans« begreifen zu können. In einem übertragenen Sinne beschreibt die Soziologin Barbara Rismann die Aufgabe wie folgt: »We cannot study gender in isolation from other inequalities, nor can we only study inequalities’ intersection and ignore the historical and contextual specificity that distinguishes the mechanisms that produce inequality by different categorial divisions, whether gender, race, ethnicity, nationality, sexuality, or class«.
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Das heißt, um Vermittlungen oder »intersections« untersuchen zu können, gilt es, die Spezifizität der Verhältnisse zu bestimmen, deren Vermittlung oder (metaphorische) Überschneidung wir untersuchen. Geschlechterverhältnisse stellen eine andere Form der Relationalität dar als Klassenverhältnisse, Religion oder Ethnizität. Und doch gilt gleichzeitig auch, dass Geschlechterverhältnisse als spezifische Art und Konfiguration von Differenzierung, Trennung und Verbindung nicht isoliert sind, sondern beeinflusst und ihrerseits vermittelt durch andere Verhältnisse in einer gegebenen Gesellschaft und einem gegebenen historischen Kontext. Manche haben aus den Problemen mit dem »inter« Konsequenzen gezogen und andere Optionen gesucht. Zum Beispiel Katharina Walgenbach und ihre Kolleginnen. Doch obwohl ich ihre Intention sehr gut nachvollziehen kann und damit sympathisiere, den genannten problematischen Zügen der Intersektionalitätsmetapher und -diskussion durch eine andere Terminologie zu entkommen, bin ich nicht der Meinung, dass ihre alternative Prägung von »Gender 12 als interdependenter Kategorie«, die in einigen Beiträgen dieses Bandes präferiert wird, einen überzeugenden Ausweg aus der skizzierten Problematik darstellt. Das will ich kurz begründen: Erstens ist nach meinem Sprachgefühl die Rede grammatikalisch falsch, weil man für eine inter-dependente Relation mindestens zwei Relata braucht. Geschlecht allein kann nicht in-
11 Risman, Barbara: Gender as a Social Structure: Theory Wrestling with Activism. In: Gender & Society 18, 4 (2004), S. 429–451, S. 443. 12 Walgenbach, Katharina/Dietze, Gabriele/Palm, Kerstin (Hrsg.): Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität. Opladen 2007.
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ter-dependent sein, höchstens dependent, Klasse und Geschlecht können inter-dependent sein. Zweitens halte ich die Lösung auch für nicht überzeugend, weil die Rede von der Inter-Dependenz die Festlegung auf eine einzige und ganz bestimmte Form der Relation beinhaltet: Dependenz, also Abhängigkeit. Nun sind zweifellos Interdependenzen in den Verhältnissen von Klasse, Geschlecht, Sexualität, Ethnizität, Nationalität im Spiel. Diese müssten dann in der Analyse der jeweiligen Relationen genauer bestimmt werden. Ich denke aber, dass es besser wäre, diese Frage auf der programmatisch-konzeptionellen Ebene offener zu halten, weil die Vermittlungsverhältnisse, mit denen man hier zu tun hat, überaus vielschichtig und divers sind. Sie müssen nicht determinierend in dem Sinne sein, dass das eine, um sein zu können, abhängig ist vom anderen, das wäre eine Inter-Dependenz im wörtlichen Sinne. Die Relationen können auch anders bestimmt sein, als »loose couplings« zum Beispiel oder: Beeinflussungen, Verschmelzungen, Überlagerungen, Dazwischenkünfte, Verdeckungen, Vernetzungen, Durchdringungen, Einfärbungen, Wechselwirkungen, suggestive Nahelegungen, projektive Ersetzungen und alles mögliche Andere. Die terminologische Festlegung auf eine bestimmte Relationsform (Dependenz) finde ich vor diesem Hintergrund genauso wenig überzeugend wie die Architektur der theoretischen Intersektionalitätsmetapher.
V ON Ü BEREINSTIMMUNGEN , D ISSENSEN UND M ISSVERSTÄNDNISSEN Wenn man sich das wachsende und ausgesprochen heterogene transnationale Feld der im weiten Verständnis »intersektionell« orientierten Ansätze und Forschungen anschaut, das inzwischen sogar eigene Publikationsreihen hervorgebracht hat, ist schwer zu sagen, was diese Diversität eigentlich zusammenhält. Dennoch lassen sich in den eher programmatischen Aufsätzen Übereinstimmungen feststellen. Auf diese Punkte, die teilweise auch in den Beiträgen zu diesem Konferenzband angesprochen werden, will ich im Folgenden eingehen. 1. Eine vergleichsweise breite Übereinstimmung, das spiegelt sich auch in Beiträgen dieses Bandes, gibt es bezüglich des interferierenden und zur Selbstreflexion anstachelnden Potentials, das mit »intersectionality« verbunden ist. Auch in den hier vorliegenden Texten zeigt sich wieder, in welch un-
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terschiedlicher Weise dieses Potential zur Geltung kommen kann. Methodisch und methodologisch kann sich das auf durchaus fachspezifische Weise ausdrücken. Erwähnt werden Fachspezifika der Europäischen Ethnologie und der Geschichte mit ihren tendenziell deskriptiv ausgerichteten Forschungstraditionen. Es kann aber auch im engeren Sinne gegenstandsbezogen variieren, etwa wenn die Anstöße zur Selbstreflexion aus einer Konfrontation mit Fremdheit oder befremdlichen Phänomen sowohl in einer anderen wie auch der eigenen Gesellschaft herrühren. Erfahrungen von Fremdheit und Konflikte um Differenz sind in der Geschichte der feministischen Diskussion um Intersektionalität stets wichtige Impulsgeber gewesen. 2. Einen gewissen Konsens scheint es auch bezüglich der Einsicht zu geben, dass feministische Theorie die Lebensverhältnisse von Frauen nicht begreifen kann, wenn sie sich auf eine intra-kategoriale Perspektive auf Herrschaft, Ungleichheit und Differenz unter Frauen beschränkt.13 Um intrakategorial orientierte Fragen beantworten zu können, bedarf es theoretisch inter-kategorialer Zugänge. Diese hätten die spezifischen Relationalitäten, die mit den jeweiligen Problemkomplexen, etwa Geschlecht/Sexualität, Klasse und Nationalität/Ethnizität verbunden sind, theoretisch zu bestimmen, ohne dabei deren wechselseitige Vermittlung aus dem Blick zu verlieren. Das entspricht Patricia Hill Collins »both-and-perspective« (Sowohlals-auch-Perspektive) und der oben erwähnten Auslegung durch Barbara Risman. In der Art und Weise, dies umzusetzen schlagen dann wieder fachbeziehungsweise zugangspezifische Charakteristika durch. Allerdings ist auch in dieser Feldbeschreibung von McCall der ausschließliche Fokus auf Gruppenkategorien (categories) problematisch und ich teile ein Stück weit die Kritik von Tove Soiland14 an der hegemonialen Stellung des Terminus der »social categories« im anglo-amerikanischen Kontext dieser Diskussion, der Personengruppen bezeichnet und nicht gesellschaftliche Verhältnisse in einem darüber hinausweisenden Sinn. Das wiederum hängt mit der starken
13 McCall, Leslie: The Complexity of Intersectionality. In: Signs: Journal of Women in Culture and Society 30, 3 (2005), S. 1771–1802. 14 Soiland, Tove: Die Verhältnisse gingen und die Kategorien kamen. Intersectionality oder Vom Unbehagen an der amerikanischen Theorie. In: Querellesnet. Rezensionszeitschrift für Frauen- und Geschlechterforschung 26 (2008), unter: , Zugriff: 18.3.2011.
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kulturellen und politischen Bedeutung von Gruppenkategorien und deren »Identities« in den USA und deren Selbstverständnis als multikultureller Nation zusammen. Insofern reflektiert das theoretische Gewicht der »Social Categories« durchaus angemessen deren faktische Relevanz im amerikanischen Kontext. Gleichwohl sind aber, und das gilt auch für die USA, die Teilungs- und Repräsentationsformen von sozialen Gruppenkategorien und deren Identitäten nicht deckungsgleich mit gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen. Zu ihrer Analyse bedarf es, zumindest in der Soziologie, auch des Blicks auf Differenzierungen sozialer Praxisfelder beziehungsweise institutioneller Ordnungen: Ökonomie, Staat, Privathaushalt, Recht, Wissenschaft und deren machtdurchsetzte Binnenverhältnisse und Verhältnisse untereinander, in deren Zusammenspiel Ungleichheit hervorgebracht wird, die nicht primär konstituiert ist über identitäre Differenz. 3. Mir ist bei der Lektüre der Beiträge zu diesem Band eine gelegentliche Neigung zu Entweder-Oder-Szenarien, teilweise auch zu irreführenden Frontstellungen aufgefallen. Dabei wird der eigene Zugang, der sich einer spezifischen Fragestellung und einem spezifischen Gegenstand verdankt, auf die meta-theoretische Ebene gehoben und auf dieser Bühne als Empfehlung verallgemeinert. Da wird zum Beispiel Strukturbegriffen das Prozessuale als Alternative entgegengehalten, dem »fixen kategorialen Denken« von Intersektionalität werden offene und fluidere Formen kontrastiert, Versuchen der begründeten Gewichtung gesellschaftsanalytischer Teilungsverhältnisse wird entgegenhalten, doch lieber von den Kämpfen auszugehen und der politischen Praxis des Sicht-Entziehens, des Entgehens, der Verweigerung nachzuspüren; statt intersektionaler Verortungen wird die Analyse von Bewegungen empfohlen. Ich kann einigen dieser Vorschläge durchaus etwas abgewinnen. Zum Problem werden sie jedoch in ihrer gegenstands- und fragestellungsunabhängigen Verallgemeinerung zur Alternative. Teilweise hatte ich bei der Lektüre solcher Kontrastvorschläge das Gefühl, dass sie auf Verkürzungen basieren, bei denen ich mir nicht ganz sicher bin, ob und in welchem Maße sie sich disziplinspezifischen Hintergründen und Lektüren verdanken. Angesichts der Kompliziertheit des transdisziplinären Diskussionsgegenstandes erscheint es jedoch überaus wichtig, genau zu lesen, begrifflich möglichst präzise zu sein und die Geltungsgrenzen der eigenen Aussage nicht aus dem Blick zu verlieren. Das kann man tun, indem man die Hinsichten, in denen eine Aussage Geltung beanspru-
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chen kann, mitreflektiert und offenlegt. So bezieht sich, um ein Beispiel zu geben, der »Borderland Feminism«, auf den Stefanie Kron in ihrem Beitrag abhebt, auf Problemkonstellationen, in denen es explizit um zeiträumliche Bewegungen und Transgressionen geht. Das privilegiert evidentermaßen und selbstverständlich Begrifflichkeiten, die es erlauben, Bewegungs- und Veränderungsdynamiken zu artikulieren. Aber, um ein Beispiel zu konstruieren: Wenn etwa Leslie McCall als Ungleichheitsforscherin regional divergierende Konfigurationen von Ungleichheit innerhalb der USA mit den Mitteln eines quantitativen empirischen Forschungsansatzes erheben will, kann man ihr nicht empfehlen, stattdessen doch lieber Bewegungen zu untersuchen. Das sind Pseudoalternativen. Man könnte aber das Argument noch etwas weiterdrehen, dann wird es vielleicht produktiv: Etwa, indem man offenlegt, dass auch die Analyse von Bewegungen und Transgressionen in borderlands der Bestimmung von Orten und Machtverhältnissen bedarf, zwischen denen die Bewegungen stattfinden. Darauf verweist auch Stefanie Kron. Und umgekehrt ist nicht ausgemacht, dass die Analyse der Statik von Ungleichheitsverteilungen in den USA sich nicht anregen lassen könnte durch die Frage nach der Verzeitlichung von Ungleichheit, das heißt auch der möglichen oder gegebenenfalls auch unmöglichen Transgressionen sozialer Positionierungen. Die von Paul Scheibelhofer vorgenommene Entgegensetzung von Intersektionalität als »Verschränkung von Achsen« oder »Strukturgebern« – dem als Alternative die Analyse »historisch konkreter sozialer Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse« und deren relationalen Charakter gegenübergestellt wird, scheint mir auf einem Missverständnis zu beruhen. Auch Strukturanalysen geht es um Relationalität in historisch-spezifischen Konstellationen und die Rede von der »Achse« kann ebenso wenig konkretistisch verstanden werden wie die von der »Kreuzung«. Es handelt sich in beiden Fällen um Metaphern, nicht um Begriffe. Die Etymologie des Wortes »Achse« verweist auf viele interessante Konnotationen, darunter grundlegende, die sich auf den Körper beziehen, etwa die indogermanische Verbalwurzel ag (»mit geschwungenen Armen treiben«); im übertragenen Sinne bezeichnet sie Drehpunkte, um die Bewegungen geführt werden. Das ist nichts zwangsläufig Statisches. Ich selbst habe mich der Achsenmetaphorik in einigen Texten und Titeln rhetorisch bedient und sie als wissenschaftspolitische Intervention in die vorherrschend mikrologisch orientierte Forschung und die Identity-Terminologie verstanden. Es ging
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darum, ähnlich wie das Encarnación Gutiérrez Rodríguez in ihrem Beitrag tut, an die Bedeutung von Struktur- und Zusammenhangsanalysen zu erinnern, nicht etwa weil ich glauben würde, die Gesellschaft drehe sich, wie die Erde, um so etwas wie »Achsen« (obwohl einen angesichts der spekulativen Bewegungen auf den globalen Finanzmärkten schon manchmal ein Drehschwindel erfassen kann). Die Intention entsprach der des Appells von Donna Haraway, das Unterscheidungsvermögen zwischen systemischen und eher kontingenten Aspekten zu schärfen: »Some differences are playful, some are poles of world historical systems of dominance. Epistemology is about knowing the difference.« 15 Interessant könnte eine Diskussion darüber werden, mit welchen Begriffen man heute, unter den Bedingungen der Globalisierung und transnationaler Verflechtungen in Politik, Kultur, Ökonomie und Gesellschaft und der Phänomene, die unter dem Stichwort der »Post-Demokratie« diskutiert werden, übergreifende Konstellationen von Herrschaft und Interventionsmöglichkeiten gegen diese fassen kann. Gutiérrez Rodríguez schlägt den Begriff der »assemblage« vor, um den dynamischen Charakter solcher Konstellationen in den Blick zu bekommen. Ich finde das anregend, bin aber unsicher, welches der Ort der kritischen politischen Ökonomie in einem derartigen Konzept sein könnte. Andererseits geht es aber auch nicht ohne eine kultur- und subjekttheoretische Perspektive. Wenn Encarnación Gutiérrez Rodríguez jedoch am Schluss ihres Beitrags zustimmend Adorno zitiert mit dem Satz, die Reflexion auf Gesellschaft hebe da an, wo Verstehbarkeit endet, dann macht sie theoretisch wirklich ein ›Fass auf‹. Die Verstehbarkeit endet für Adorno da, wo sich die Verhältnisse gegenüber den Individuen verselbständigt haben, wo sie verdinglicht und opak geworden sind. Adornos Modelle dafür sind der Tausch und der Fetischcharakter der Ware. Aber dort kommt man gerade nicht hin mit »assemblages«, wie Gutiérrez Rodríguez’ Text vorstellt und auch nicht »von den Kämpfen« her. Ähnliches gilt für eine dekonstruktivistische Perspektive, die, so wichtig und unverzichtbar sie mir als Korrektiv gegen Schließungen ist, die »Gewalt
15 Haraway, Donna: Manifesto for Cyborgs: Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980’s. In: Socialist Review 80 (1985), S. 65–108, S. 161.
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des Zusammenhangs« 16 und das systemische Moment der Verselbständigung der Verhältnisse gegenüber denen, die sie in ihren Praxen hervorbringen, nicht denken kann.17 Noch einmal zurück zu den vermeintlichen Alternativen von Struktur und Prozessualität. Vielleicht ist es in einem disziplinübergreifenden Band sinnvoll, daran zu erinnern: Für kritische Ansätze in der Soziologie ist Struktur immer Prozess, nämlich Prozess von Strukturierungen aller Art, genau wie »Gesellschaft« als Vermittlung nicht jenseits ihrer Prozesse existiert, dies hat Adorno stets betont. Und Anthony Giddens, um ein anderes Beispiel zu nehmen, spricht von der grundsätzlichen »Dualität von Struktur« (als Ineinander von Struktur/Strukturierung). 18 Gesellschaft/Vergesellschaftung, das sind in der Soziologie Namen für Prozesse, die unter den Bedingungen vorausgegangener Prozesse und dem, was diese konstituierten, stattfinden. Sozialität ist insofern ein Werden unter den Bedingungen des Gewordenen. Es macht schlicht keinen Sinn, die eine Perspektive gegen die andere zu setzen, man kann sich gegenstandsbezogen auf der Basis bestimmter Theoriepräferenzen dafür entscheiden, eher den einen Aspekt dieses Zusammenhangs hervorzuheben als den anderen, sie ersetzen einander aber nicht, sondern können sich im besten Fall ergänzen. 4. Es scheint in der Intersektionalitätsdebatte einen wachsenden Konsens auch in der lange debattierten Frage zu geben, »wie viele« sogenannte »Differenzkategorien« in Rechnung zu stellen seien. Der sich (endlich!) herauskristallisierende Konsens besteht darin, festzustellen, dass diese Frage unsinnig ist, weil sie nicht generell beantwortet werden kann. Insofern trägt der neuere Konsens der Gegenstandsspezifik und der Perspektivität der Forschungen Rechnung. Die Antwort auf die Frage hängt schlicht da-
16 Negt, Oskar/Kluge, Alexander: Geschichte und Eigensinn. Geschichtliche Organisation der Arbeitsvermögen. Deutschland als Produktionsöffentlichkeit. Gewalt des Zusammenhangs. Frankfurt a.M. 2001. 17 Ausführlicher dazu: Knapp, Gudrun-Axeli; Konstellationen von Kritischer Theorie und Geschlechterforschung. In: Kahlert, Heike/Weinbach Christine (Hrsg.): Zeitgenössische Gesellschaftstheorien und Genderforschung, Einladung zum Dialog. Wiesbaden 2011 (im Erscheinen). 18 Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt a.M. 1984.
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von ab, was man wissen möchte und wie man sich dem annähert. Wenn man nach der subjektiven Bedeutung sozialer Differenzen für bestimmte Personen und Personengruppen fragt, heißt das, dass man das Spektrum möglicher Referenzen prinzipiell offenhalten muss. Wenn man dagegen nach den strukturierenden Prinzipien einer gegebenen Gesellschaftsformation fragt, dann heißt das, dass man die Verhältnisse auf der Basis von Gesellschaftstheorie und kontextuellem historischen Wissen bestimmen und begründen muss. Dann lässt sich auf der Basis der Forschungsliteratur über die jeweiligen Gewichtungen streiten. Eine bestimmte Auswahl der in Betracht zu ziehenden Verhältnisse in einer Konstellation oder die Kritik einer bestimmten Auswahl und Gewichtung lässt sich nicht allgemein und normativ setzen, sondern nur materialiter und immer nur in je bestimmten Hinsichten. 5. Es scheint zumindest in der programmatischen Diskussion zu »Intersektionalität« eine von vielen geteilte Auffassung zu geben, dass intersektionelle Analysen von Herrschaft, Ungleichheit und Differenz in der Gesellschaft nach Möglichkeit als Mehrebenenanalysen, wie es manchmal genannt wird, anzulegen seien. Die Betonung der Relevanz von Mehrebenenanalysen reagiert auf eine Frage, die disziplinübergreifend diskutiert wird: Inweitweit ist es möglich, in Analysen lokaler Phänomene oder Praxen deren gesellschaftliche Einbettung oder Vermittlung durch übergreifende soziale und kulturelle Strukturen und Ordnungen auszublenden, ohne dass man dadurch wichtige Aspekte aus dem Blick verliert? Nun ist offenkundig, dass sich in empirischen Einzelprojekten eine umfassende Mehrebenenanalyse, wie sie in der Intersektionalitätsdiskussion in verschiedenen programmatischen Varianten formuliert worden ist, nicht immer realisieren lässt. Zwischen Empirie und Gesellschaftstheorie gibt es kein Kontinuum. Darauf verweisen sowohl Nina Degele und Gabriele Winker mit ihrer Kombination von deduktivem und induktivem Vorgehen und das bestätigt sich auch in einigen der empirisch angelegten Beiträge zu diesem Band. Dabei variiert die Weise, in der eher mikrologisch-ethnographisch angelegte Studien institutionelle MesoZusammenhänge oder übergreifende Diskurs-Dispositive produktiv einbeziehen oder sich durch intersektionell orientierte Theorien anregen lassen können. Methodische Aspekte eines wechselseitigen Anregungs- und Korrekturverhältnisses werden unter anderem in den Beiträgen von Stefan Wellgraf und Christian Koller beleuchtet, die auf unterschiedliche Weise deutlich machen, wie produktiv es ist, wenn man Intersektionalität nicht als Kategorien-
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geklapper verkennt, sondern die »Quellen« oder Untersuchungsgegenstände und Probleme zum Sprechen bringt. Der Beitrag von Christian Koller zeigt im Übrigen, dass sich Crenshaws terminologische Vorschläge auch in seinem Analysefeld produktiv machen lassen würden. Das Unsichtbarmachen der tschechischen Nationalität der streikenden Arbeiterinnen im Kontext der Gewerkschaft wäre als Form einer »Over-Inclusion« in den Begriff der (proletarischen) Frau zu lesen. Und Stefan Wellgrafs aufschlussreiche empirische Befunde verweisen auf ein Problem, das in der jüngeren Intersektionalitätsdiskussion deutlich unterbelichtet ist: den Klassenbegriff. Um den empirischen Befund interpretieren zu können, dass die Hauptschüler und Hauptschülerinnen, die er begleitet hat, sich in ihren Selbstbeschreibungen und Distinktionskämpfen zwar auf Konstruktionen von Ethnizität und Geschlecht, nicht aber auf Konstruktionen von Klasse oder Schicht beziehen, muss man zumindest einen Vorbegriff davon haben, dass und inwieweit Klasse, Geschlecht, Ethnizität trotz ihrer Vermitteltheit unterschiedliche Relationalitätsformen bezeichnen. Dies gilt auf der Ebene der Beschreibung gesellschaftlicher Strukturen wie hinsichtlich deren Relevanz in den Selbstdeutungen der Subjekte. Die Art und Weise der Abwesenheit von klassenbezogener Ungleichheit und Diskriminierung in den Selbstdeutungen und Interaktionen der SchülerInnen einer Hauptschule ist schlagend. Ethnizität und Geschlecht sind anscheinend Kategorien, die über Personalisierungsmöglichkeiten zu Übernahmen einladen, die der Klassenbegriff für sie nicht in gleicher Weise erlaubt. Für mich ist dies ein Beispiel, dass man auch zur vertieften Deutung ethnografischer Befunde auf ›großrahmigere‹ gesellschafts- beziehungsweise strukturtheoretische Ressourcen nicht verzichten kann. Dabei wären neben der unterschiedlichen Verfasstheit der Relationen auch deren zeitdiagnostisch zu bestimmenden Konjunkturen und Aktualisierbarkeiten als Deutungsmuster zu bedenken. In einer Gesellschaft der politisierten Spaltung zwischen »Oben« und »Unten«, Arm und Reich, stehen andere Distinktionsrepertoires zur Verfügung als in einer Gesellschaft, die sich als nivellierte Mittelstandsgesellschaft imaginiert und in der Lacoste-Shirts beim Straßenhändler gekauft werden können oder in einer Gesellschaft, in der die Klassenthematik weitgehend durch die Ethnisierung sozialer Konflikte überlagert wird. Einen theoretisch-methodologischen Vorschlag zur Mehrebenanalyse haben Nina Degele und Gabriele Winker vorgelegt und diesen in dem von Nikola Langreiter und Elisabeth Timm geführten Interview noch einmal vorgestellt und begründet. An ihrem Vorschlag leuchtet mir vieles ein, auch die
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Produktivität einer praxeologischen Perspektive kann ich mir gut vorstellen. Fragen hätte ich an Nina Degele und Gabriele Winker dazu, warum sie in ihrem Konzept von Intersektionalität den Kapitalismus »vor die Klammer« setzen, wie sie schreiben, und warum sie die Konstitution der kapitalistischen Vergesellschaftung und Verwertungslogik selbst nicht mehr in ihren historischen Vermittlungen, das heißt aus meiner Sicht auch »intersektionell«, reflektieren. Auch würde ich »Körper« nicht als viertes Glied einer »Dreierkette« wie es bei Degele/Winker heißt, von Rasse, Klasse und Geschlecht hinzufügen. Zum einen hat »Körper« einen anderen begrifflichen Status als die anderen Kategorien und sprengt insofern die Systematik. Zum anderen ist er für alle – die bei ihnen mit Rasse, Klasse, Geschlecht bezeichneten – genannten Verhältnisse relevant. Das wird in einer historischen Perspektive besonders deutlich. In der Konstitutionsgeschichte der Europäischen Moderne waren Körper und die darauf bezogenen Disziplinierungen, Normalisierungen und Biopolitiken ein zentrales Feld, in dem sich bestimmte Aspekte der Regierung und der Kontrolle bündelten. Diese biopolitische Konstellation radikalisiert sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Einfluss von Eugenik, Sozialdarwinismus und anderen Fortschrittsideologien und dem entsprechenden Machbarkeitswahn. In den Problemkomplexen Nationalismus/Ethnizität/ Rassismus und Imperalismus/Kolonialismus sowie deren Wirkungen im Feld des Allianz- und Sexualitätsdispositivs, die für eine feministische historische Ontologie unserer Gegenwart unverzichtbar sind, geht es immer auch um die Regulierung von Körperlichkeit. 6. Auf der Konferenz in Wien wurde das Verhältnis von Geschlecht und Sexualität beziehungsweise Intersektionalität und Queer Studies mehrfach angesprochen, in den nun schriftlich vorliegenden Beiträgen ist davon weniger die Rede. Da dies ein wichtiges Thema im gegenwärtigen Intersektionalitätsdiskurs ist, möchte ich mich kurz darauf beziehen und zwar wieder auf dem Hintergrund meiner eigenen Forschungsfrage und nicht abstrakt: Aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive, wie ich sie verstehe, sind Allianzdispositiv (Verwandtschaftssystem) und Sexualitätsdispositiv nicht zu trennen. Ich würde aber zugestehen und arbeite mich auch an dem Problem ab, dass man aus einer gesellschaftsanalytischen Perspektive, die die historische Verschränkung von Strukturen und Politiken der Allianz und der Sexualität und deren Transformationen untersucht, nicht ohne Weiteres in eine Kritikperspektive kommt, die dem vollen Spektrum der bei aller Dekonstruktivität teilweise durchaus identitätspolitisch unterfütterten Themen der Queer
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Studies gerecht werden kann. Vor allem die spezifischen Problematiken geschlechtlich uneindeutiger Menschen lassen sich in die kategoriale Konfiguration überkommener Gesellschaftstheorien, auch feministischer Provenienz, nur schwer systematisch einbeziehen. Das kann aus meiner Sicht nicht heißen, diese mit ihren anders gelagerten Akzenten nun völlig zu verwerfen. Aber: Was tun? Verhandelt werden solche Probleme im Moment dort, wo die Arbeitsteilung zwischen Geschlechterforschung und Queer Theory, die für mich ein Beispiel der von Patricia Hill Collins untersuchten Segregationen in den Feldern des Wissens ist, problematisiert wird. Es ist gut, dass anscheinend die Verluste auf beiden Seiten zunehmend registriert werden.19 7. Am wenigsten Konsens gibt es anscheinend noch in der Frage, wie sich intra-, inter- und antikategoriale Zugänge zueinander verhalten. Ich halte es für falsch, die drei Zugangsweisen gegeneinander auszuspielen und beispielsweise ausschließlich auf anti-kategoriale Perspektiven zu setzen. Der dekonstruktive Impetus, der sich nur materialiter, nach Derrida »parasitär«, entfalten kann,20 ist unverzichtbar, um ein Gefühl für die terminologischen Schließungen zu bewahren, die man unweigerlich produziert, wenn man begrifflich arbeitet. Adorno hat diese Bewegung in seiner »Negativen Dialektik« als »mit Begriffen gegen Begriffe« zu denken bezeichnet.21 Wissen ist nicht das Gewusste, aber an dieser Nichtidentität und Inkongruenz kann wieder nur durch Begriffe gearbeitet werden. Da man aus dieser Vermittlung nicht rausspringen kann, ist immer ein Scheitern impliziert, ob man nun auf der Mikroebene verbleibt, ob man Normenkritik betreibt oder ob man gesellschaftstheoretische Fragestellungen verfolgt. Begreifen ist in jedem Fall die reflektierende Bewegung im zur Verfügung stehenden historisch-empirischen Material und die Reflexion auf die Unterscheidungen, derer wir uns lernend bedienen. Da nach meinem Verständnis von Wissenschaft kein einzelner Ansatz beanspruchen kann, die Komplexität gesellschaftlicher Vermittlungen umfassend aufzuschließen, geht es in solchen Reflexionsprozessen immer auch, wie bereits oben in einem anderen Zusammenhang betont, um die
19 Vgl. grundlegend Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt a.M. 2011. 20 Stäheli, Urs: Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie. Weilerswist 2000. 21 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. GS 6. Frankfurt a.M. 1998.
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perspektivische Konturierung unterschiedlicher Zugangsweisen gegeneinander und im Bezug auf den Gegenstand. Ich orientiere mich hier ein Stück weit an Wolfgang Welschs Verständnis einer in der Reflexion des Gegenstands auch über sich selbst Rechenschaft ablegenden Wissenschaft: »Ein Diskurs, der das Niveau von Wissenschaftlichkeit besitzen möchte, kann heute nur derjenige sein, der innerhalb (der) Doppelstruktur von Aussage und Aussagebedingungen operiert […]. Im Idealfall führt solche Bedingungstransparenz zur Konturierung der Ausschlüsse, die mit dem jeweiligen Bedingungsrahmen verbunden sind«.22 Die feministische Intersektionalitätsdiskussion verstehe ich als ein epistemisches Feld, in dem unter anderem diese Art von Wissenschaftlichkeit auf der Agenda steht. Was da jeweils unter Aussagebedingungen verstanden wird, unterscheidet sich allerdings je nach Ansatz. Manche Ansätze beschränken das auf die epistemischen Aussagebedingungen im Sinne von Wissensformationen, manche nehmen Wissens-/Macht-Dispositive in den Blick, manche, darunter auch ich, halten daran fest, darüber hinausgehend auch umfassendere Vergesellschaftungszusammenhänge als Aussagebedingungen zu reflektieren. Dazu bedarf es eben auch großrahmiger Konfigurationsanalysen, wie sie Gesellschaftstheorien darstellen. Natürlich sind diese ihrerseits als Teil epistemischer Aussagebedingungen zu reflektieren, etwa bei der Suche nach gesellschaftstheoretischen Ansätzen, die der mit Intersektionalität angepeilten Komplexität am besten entsprechen könnten. Hier stößt man auf viele theoretische Ruinen, die angesichts der Integration verschiedener Herrschafts- und Ungleichheitsformen versagt haben, und zugleich trifft man auf eine Riesenbaustelle. Die Baustelle ist ziemlich unübersichtlich geworden, was zum einen mit der Komplexität weltgesellschaftlicher Verflechtungen in den Sphären der Ökonomie, der Kultur, der Technowissenschaften, der Politik zu tun hat, aber auch mit der Emergenz ganz neuartiger Phänomene, für die Begriffe erst noch zu finden sind. Ich denke, dass feministische Theorie diese Baustelle nicht anderen überlassen sollte.
22 Welsch, Wolfgang: Topoi der Postmoderne. In: Fischer, Hans Rudi/Retzer, Arnold/Schweitzer, Jochen (Hrsg.): Das Ende der großen Entwürfe. Frankfurt a.M. 1992, S. 35–56.
Autorinnen und Autoren
Beate Binder ist Professorin für Europäische Ethnologie und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Stadtethnologie, Erinnerungspolitiken, feministische Kulturanthropologie und kulturanthropologische Geschlechterforschung. Sie ist Sprecherin des Zentrums Transdisziplinäre Geschlechterstudien der HUB, Redakteurin der Berliner Blätter sowie der Zeitschrift für Kulturwissenschaften, außerdem Mitglied in der dgv, der SIEF und der Fachgesellschaft Geschlechterstudien. Zu ihren jüngsten Publikationen zählen: Streitfall Stadtmitte: Der Berliner Schlossplatz. Köln u.a.: Böhlau, 2009; Feminismus als Denk- und Handlungsraum. Eine Spurensuche. In: Fenske, Michaela (Hg.): Alltag als Politik – Politik im Alltag. Dimensionen des Politischen in Vergangenheit und Gegenwart. Münster u.a.: Lit, 2010, S. 25-43. Nina Degele ist Soziologin und Genderforscherin an der Universität Freiburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Soziologie der Geschlechterverhältnisse, Körper/Sport, Gesellschaftstheorien und qualitative Methoden. Sie ist geschäftsführende Direktorin des Instituts für Soziologie der Universität Freiburg und Vorstand des ZAG/Abteilung Gender Studies. Eine ihrer jüngsten Publikationen ist: Einführung Gender/Queer Studies. München: Fink (UTB), 2008. Sabine Hess ist Professorin für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Universität Göttingen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Transnationalisierungs- und Europäisierungsforschung, Migrations- und Grenzregimeforschung, politische Anthropologie sowie kulturanthropologische Geschlechterforschung. Sie ist Mitglied des interdisziplinären Forschungsprojekts »Transit Migration« (www.transitmigration.org), Mitbegründerin des
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»Netzwerks kritische Migrations- und Grenzregimeforschung« (kritnet) sowie Sprecherin der Kommission für Frauen- und Geschlechterforschung der dgv. Zu ihren jüngsten Veröffentlichungen zählen: Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa. Hrsg. zusammen mit Bernd Kasparek. Berlin: Assoziation A, 2010. Gudrun-Axeli Knapp war bis April 2010 Professorin am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Leibniz Universität Hannover. Dort war sie langjährige Sprecherin des interdisziplinären Studien- und Forschungsschwerpunkts »Gender Studies«. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Sozialpsychologie der Geschlechterdifferenz, Soziologie des Geschlechterverhältnisses, Ungleichheit/ Intersektionalität. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Entwicklungen feministischer Theorie und Fragen der Interferenz von Klasse, Geschlecht, Ethnizität. Eine ihre jüngsten Buchpublikationen ist der mit Cornelia Klinger herausgegebene Band: ÜberKreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz. Münster, 2008. Christian Koller ist Senior Lecturer für moderne Geschichte an der Bangor University und Privatdozent an der Universität Zürich. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen die Geschichte von Nationalismus und Rassismus, Historische Semantik, ArbeiterInnen-, Sport- und Militärgeschichte sowie die Geschichte von Erinnerungskulturen. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen: Streikkultur. Performanzen und Diskurse des Arbeitskampfes im schweizerisch-österreichischen Vergleich (1860/1950). Wien/Münster: LIT, 2009; Rassismus. Paderborn: UTB Profile, 2009. Stefanie Kron ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Soziologie am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Nord- und Mittelamerika, Migrationsforschung, Border- und Gender Studies. Sie ist Mitglied des Netzwerkes kritische Grenz- und Migrationsregimeforschung (kritnet) sowie der Latin American Studies Association (LASA). Eine ihrer jüngsten Publikationen ist: Diasporische Bewegungen im transnatlantischen Raume. Diasporic Movements/Movimientos Diaspóricos. Hrsg. Zusammen mit zur Nieden, Schütze, Zapata. Berlin: tranvía, 2010. Nikola Langreiter ist Europäische Ethnologin, arbeitete seit 1995 überwiegend freiberuflich, von 2005 bis 2010 als Redakteurin von »L’HOMME.
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Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft«, sie ist derzeit Vertragsassistentin an der Universität Innsbruck. Ihre Schwerpunkte sind Biografieforschung, Tourismus, Kulturen des Selbermachens und Wissenschaftskultur. Jüngste Publikation als Herausgeberin Tagebuch von Wetti Teuschl (1870–1885) (L’HOMME Archiv, 4). Wien u.a.: Böhlau, 2010. Isabell Lorey ist Politologin, lehrt als Gastprofessorin Politische Theorie, Kulturwissenschaften und Gender Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Universität Wien. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Politische Theorie und Ideengeschichte, queer/feministische und postkoloniale Theorie, im Besonderen: biopolitische Gouvernementalität, kritische Whiteness Studies, politische Immunisierung und Prekarisierung. Zu ihren jüngsten Publikationen zählen: Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie. Zürich: diaphanes, 2011 sowie Inventionen 1. Gemeinsam. Prekär. Potentia. Kon-/Disjunktion. Ereignis. Transversalität. Queere Assemblagen. Hrsg. zusammen mit Roberto Nigro, Gerald Raunig. Zürich: diaphanes, 2011 Encarnación Gutiérrez Rodríguez ist Senior Lecturer in Transcultural Studies an der University of Manchester, UK. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Kritische Migration- und Diasporastudien, Arbeit und Affekt, Transkulturation und »conviviality«, Feminisierung und Kolonialität, Lateinamerikanische und Karibische Kultur- und Sozialtheorie. Sie ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des ›Research Network‹ (RN35) Soziologie der Migration der European Sociological Association, Mitglied des Forschungsprojektes »Diasporic Pathways« am Research Institute for Cosmopolitan Cultures (RICC) und Ko-Direktorin des Migrations und Diaspora Cultural Studies Netzwerkes an der University of Manchester. Zwei ihrer jüngsten Publikationen sind: Migration, Domestic Work and Affect. Routledge, 2010; Decolonizing European Sociology. Ashgate, 2010. Paul Scheibelhofer ist Soziologe und lehrt an mehreren Universitäten in Österreich. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Migrations- und Rassismusforschung sowie kritische Männlichkeitsforschung. Er ist Gründungsmitglied der Forschungsgruppe [KriMi] Kritische Migrationsforschung sowie der Sektion Migrations- und Rassismusforschung der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie. Zu seinen aktuellen Publikationstätigkeiten zählt die
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Herausgeberschaft von: The New Politics of Racialized Sexualities, einer Spezialausgabe des Journal for Intercultural Studies, die im Frühjahr 2012 erscheint (Nr. 33/3). Elisabeth Timm ist Professorin für Kulturanthropologie/Volkskunde an der Universität Münster. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Familie und Verwandtschaft, ethnographische und historische Methoden, Verhaltenslehren, Kulturtheorie. Sie ist Mitglied in der Redaktion der »Zeitschrift für Kulturwissenschaften« (transcript-Verlag). Aktuelle Publikationen: Behaviour Guides and Law: The Particular and the Universal of the (In)Formal (Behemoth. A Journal on Civilization, Vol. 3 No. 2, 2010). Hrsg. mit Karin Harrasser; Genealogie ohne Generation. Verwandtschaft in der populären Forschung. In: Ruth-E. Mohrmann (Hrsg.): Generationen-Beziehungen. Münster 2011. Elisabeth Tuider ist Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt »Soziologie der Diversität« an der Universität Kassel. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind neben Diversity: Gender- und QueerStudies, Migrationsforschung, Cultural- und Postcolonial-Studies, Qualitative Forschungsmethoden und Lateinamerikaforschung; sie ist stellvertretende Sprecherin der Sektion Biografieforschung in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und Mitglied in der International Sociological Association und der International Association of Inter-American Studies/ Asociación Internacional de Estudios Interamericanos sowie der Gesellschaft für Sexualpädagogik. Eine ihrer jüngsten Publikationen ist: Migration – Arbeit – Geschlecht in Mexiko zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Hrsg. zusammen mit Hanns Wienold und Torsten Bewernitz. Münster: Westfälisches Dampfboot. Stefan Wellgraf studierte Kulturwissenschaften in Berlin und Frankfurt/ Oder. Weitere Studienaufenthalte in Paris und New York. 2007-2011 Promotion zum Thema »Hauptschüler. Die gesellschaftliche Produktion von Verachtung«. 2008-2010 Assoziierter Kollegiat am Graduiertenkolleg »Berlin – New York. Geschichte und Kultur der Metropolen«. Ausgewählte Publikationen: Migration und Medien. Wie Fernsehen, Radio und Print auf die Anderen blicken. Münster: Lit, 2008.
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Gabriele Winker ist Professorin für Arbeitwissenschaft und Gender Studies an der TU Hamburg-Harburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Arbeits- und Geschlechtersoziologie sowie Intersektionalitätsforschung. Sie ist Mitbegründerin des Feministischen Instituts Hamburg. Eine ihrer jüngsten Publikationen ist: Prekarisierung und Geschlecht. Eine intersektionale Analyse aus Reproduktionsperspektive. In: Manske, Alexandra, Pühl, Katharina (Hg.): Prekarisierung zwischen Anomie und Normalisierung. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2010, S. 165-184.
Kultur und soziale Praxis Sylke Bartmann, Oliver Immel (Hg.) Das Vertraute und das Fremde Differenzerfahrung und Fremdverstehen im Interkulturalitätsdiskurs Dezember 2011, ca. 240 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1292-9
Isolde Charim, Gertraud Auer Borea d’Olmo (Hg.) Lebensmodell Diaspora Über moderne Nomaden Dezember 2011, ca. 400 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1872-3
Daniel Gaxie, Nicolas Hubé, Marine de Lassalle, Jay Rowell (Hg.) Das Europa der Europäer Über die Wahrnehmungen eines politischen Raums März 2011, 344 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1626-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur und soziale Praxis Silja Klepp Europa zwischen Grenzkontrolle und Flüchtlingsschutz Eine Ethnographie der Seegrenze auf dem Mittelmeer September 2011, 428 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1722-1
Anne C. Uhlig Ethnographie der Gehörlosen Kultur – Kommunikation – Gemeinschaft November 2011, 388 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1793-1
Erol Yildiz Die weltoffene Stadt Wie Migration Globalisierung zum urbanen Alltag macht Januar 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1674-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur und soziale Praxis Anıl Al-Rebholz Das Ringen um die Zivilgesellschaft in der Türkei Intellektuelle Diskurse, oppositionelle Gruppen und Soziale Bewegungen seit 1980 Februar 2012, ca. 408 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1770-2
David Johannes Berchem Wanderer zwischen den Kulturen Ethnizität deutscher Migranten in Australien zwischen Hybridität, Transkulturation und Identitätskohäsion Oktober 2011, 708 Seiten, kart., 42,80 €, ISBN 978-3-8376-1798-6
Thomas Fröhlich, Yishan Liu (Hg.) Taiwans unvergänglicher Antikolonialismus Jiang Weishui und der Widerstand gegen die japanische Kolonialherrschaft. Mit einer Übersetzung von Schriften Jiang Weishuis aus dem Chinesischen und Japanischen August 2011, 362 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1018-5
Jörg Gertel, Ingo Breuer (Hg.) Alltagsmobilitäten Aufbruch marokkanischer Lebenswelten November 2011, 450 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-928-2
Martina Grimmig Goldene Tropen Die Koproduktion natürlicher Ressourcen und kultureller Differenz in Guayana
Gertraud Marinelli-König, Alexander Preisinger (Hg.) Zwischenräume der Migration Über die Entgrenzung von Kulturen und Identitäten Oktober 2011, 292 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1933-1
Jürg Martin Meili Kunst als Brücke zwischen den Kulturen Afro-amerikanische Musik im Licht der schwarzen Bürgerrechtsbewegung Mai 2011, 320 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1732-0
Janne Mende Begründungsmuster weiblicher Genitalverstümmelung Zur Vermittlung von Kulturrelativismus und Universalismus September 2011, 212 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1911-9
Minna-Kristiina Ruokonen-Engler »Unsichtbare« Migration? Transnationale Positionierungen finnischer Migrantinnen. Eine biographieanalytische Studie Dezember 2011, ca. 348 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1876-1
Verena Schreiber Fraktale Sicherheiten Eine Kritik der kommunalen Kriminalprävention Juni 2011, 302 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1812-9
September 2011, 296 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-751-6
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