Interreligiöse Theologie: Eine Sichtweise aus der jüdischen Dialogphilosophie 9783110436006, 9783110441734

This book is the first greater attempt to construct a dialogical theology from a Jewish point of view. It contributes to

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort von Perry Schmidt-Leukel
Einleitung
I Jüdische Dialogphilosophie und Interreligiöse Theologie
1 Jüdische dialogische Denker und Interreligiosität
2 Buddhistisches Denken und Heschels Jüdische Philosophie: eine Begegnung
3 Erfolgreiche Interreligiosität: eine Fallstudie
4 Bausteine für interreligiösen Dialog und interreligiöse Theologie
5 Die Bibelübersetzung von Buber-Rosenzweig als jüdisch-dialogische Unternehmung
6 Deutsch-jüdische religiöse Denker als Juden und Deutsche
II Hin zu einer Interreligiösen Theologie
7 Zur Notwendigkeit der Trans-Differenz
8 Konstruktion einer religiösen Identität
9 Interreligiöse Exegese: ein Beispiel
10 Dialogische Philosophie und gesellschaftlicher Wandel
11 Interreligiöse Theologie als eine neue Art von Theologie
12 Jenseits der Grenzen
13 Postskript
Nachwort von Wolfram Weiße
Bibliographie
Sachregister
Personenregister
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Interreligiöse Theologie: Eine Sichtweise aus der jüdischen Dialogphilosophie
 9783110436006, 9783110441734

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Ephraim Meir Interreligiöse Theologie

Ephraim Meir

Interreligiöse Theologie Eine Sichtweise aus der jüdischen Dialogphilosophie Übersetzt und herausgegeben von Elke Morlok

MAGNES

Dieses Buch wurde durch die Großzügigkeit der Veronika und Volker Putz Stiftung ermöglicht, welche meine verschiedenen Aufenthalte an der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg im Rahmen der Emmanuel Levinas Gastprofessur für jüdische Dialogstudien und interreligiöse Theologie förderte.

ISBN 978-3-11-044173-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-043600-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-043341-8 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin / Boston & Hebrew University Magnes Press, Jerusalem Coverabbildung: JamesHarrison / iStock / Thinkstock Satz: Medienfabrik GmbH; Stuttgart Druck: CPI books GmbH, Leck Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com www.magnespress.co.il

Veronika und Volker Putz zugeeignet

Inhaltsverzeichnis Vorwort von Perry Schmidt-Leukel  Einleitung 

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I Jüdische Dialogphilosophie und Interreligiöse Theologie

1

Jüdische dialogische Denker und Interreligiosität 

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2 Buddhistisches Denken und Heschels Jüdische Philosophie: eine Begegnung   57



3

Erfolgreiche Interreligiosität: eine Fallstudie 



4

Bausteine für interreligiösen Dialog und interreligiöse Theologie 



5 Die Bibelübersetzung von Buber-Rosenzweig als jüdisch-dialogische Unternehmung   95



6

 71

Deutsch-jüdische religiöse Denker als Juden und Deutsche 

 132

II Hin zu einer Interreligiösen Theologie

7

Zur Notwendigkeit der Trans-Differenz 

 147



8

Konstruktion einer religiösen Identität 

 164



9

Interreligiöse Exegese: ein Beispiel 



10 Dialogische Philosophie und gesellschaftlicher Wandel 

 182



11 Interreligiöse Theologie als eine neue Art von Theologie 

 195



12 Jenseits der Grenzen 

13 Postskript 

 225

 210

 172

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VIII 

 Inhaltsverzeichnis

Nachwort von Wolfram Weiße  Bibliographie  Sachregister 

 237  249

Personenregister 

 253

 231

Vorwort von Perry Schmidt-Leukel Im Hinblick auf die Wahrnehmung religiöser Vielfalt wird unsere Welt immer kleiner, jedes Land in ihr jedoch immer größer: Dass unsere Welt eine immense Vielfalt unterschiedlicher Glaubensrichtungen beherbergt – und dies schon seit Jahrtausenden – ist eine Tatsache, deren sich in der Vergangenheit die große Mehrheit der Menschen, auch aus den gebildetsten Schichten, kaum bewusst war, während dies heute immer mehr zum Allgemeingut wird. In diesem Sinne wird die Welt tatsächlich kleiner. Gleichzeitig wird jedoch auch jedes Land größer, insofern ein Prozess begonnen hat, bei dem sich diese Vielfalt innerhalb der Grenzen jeder Kultur und jedes Landes weltweit reproduziert. Gewiss sahen sich große Kulturräume bereits seit Jahrhunderten mit einem Ausschnitt der religiösen Vielfalt konfrontiert, wie z. B. der Mittelmeerraum mit den drei abrahamitischen Religionen, Indien mit dem Hinduismus, dem Buddhismus und dem Islam oder China mit dem Daoismus, Konfuzianismus und Buddhismus. Und selbst wenn es in kleineren Nischen dieser Gebiete auch weitere Religionsgemeinschaften gab, so glich doch nichts davon dem Ausmaß an interreligiöser Durchdringung, wie es heute in vielen Gesellschaften erlebt wird. Diese Situation birgt sowohl ein gefährliches als auch ein kreatives Potential. Dies trifft sowohl auf der sozio-politischen Ebene des Selbstverständnisses der verschiedenen Nationen und Kulturen, als auch auf der theologisch-doktrinären Ebene des Selbstverständnisses der Religionen zu. Einige fürchten den Verlust ihrer Identität, wohingegen andere die schöpferische Möglichkeit einer reiferen und veränderten Identität begrüßen. In beidem drückt sich allerdings die Wahrnehmung aus, dass wir uns in der Situation eines intensiven und bedeutenden Wandels befinden. Die zunehmende Präsenz und das wachsende Bewusstsein religiöser Vielfalt machen den Dialog zwischen den unterschiedlichen Glaubensrichtungen ebenso notwendig wie unvermeidbar. Doch stellt sich die Frage, welche Art von Dialog und mit welcher Tiefe er geführt werden soll. Politiker werden den Dialog als Instrument eines permanenten Krisenmanagements verstehen und politisch denkende Leiter der Religionsgemeinschaften neigen dazu, im Dialog ein Mittel zu sehen, das es ihnen erlaubt, in der Absetzung vom religiös Anderen das Profil ihrer eigenen Glaubensgemeinschaften zu schärfen. Doch der interreligiöse Dialog birgt das Potential in sich, solche Abgrenzungen zu stören, zu erschüttern und sogar zu überwinden. Dieses Potential wird aktiviert, wenn die Dialogpartner Wahrheit in dem entdecken, was ihr Gegenüber kommuniziert und, mehr noch in dem, worauf diese ihr Leben gründen. „Religiöser Pluralismus“ (ein Begriff der nicht mit dem blosen Faktum „religiöser Vielfalt“ verwechselt werden sollte) wurde zu einem terminus technicus

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 Perry Schmidt-Leukel

für jene theologische Interpretation religiöser Vielfalt – eine Interpretation, die sich heute in jeder der großen Religionen entwickelt –, wonach Wahrheit, religiös bedeutsame Wahrheit, in unterschiedlichen, doch gleichwertigen Formen überall auf der Welt zu finden ist. Pluralisten geben nicht nur die exklusivistische Ansicht auf, dass die Wahrheit auf die eigene Tradition beschränkt ist, sondern auch die inklusivistische Überzeugung, wonach die eigene Tradition in alleiniger Weise allen anderen Glaubensrichtungen überlegen ist. Pluralisten versuchen also, die Anerkennung einer genuinen Verschiedenheit mit der Akzeptanz einer genuinen Gleichwertigkeit zu verbinden. Dies wird möglich, wenn der fragmentarische Charakter allen menschlichen Verstehens, einschließlich des religiösen Verstehens, in vollem Maße anerkannt wird. Dies wird wiederum durch die in allen großen Religionen bezeugte tiefe Intuition ermöglicht, wonach die letzte Wirklichkeit menschliches Begreifen notwendig übersteigt, da es sonst nicht die letzte Wirklichkeit wäre. Religiöses Bewusstsein relativiert menschliche Erkenntnis ohne relativistisch zu werden. Doch ist eine solche pluralistische Interpretation der religiösen Vielfalt selber wahr? Meiner Meinung nach kann niemand mit Recht behaupten, dies mit unfehlbarer Sicherheit zu wissen. Religiöser Pluralismus ist eine Annahme, eine „Vision“, wenn man so will, oder, wie John Hick es ausdrückt, eine „Hypothese“, die aus der Erfahrung des Dialogs geboren und aus grundlegenden Glaubensannahmen der jeweils eignen religiösen Tradition heraus entwickelt wird. Daher ist eine pluralistische Position zugleich immer auch traditionsspezifisch. Das heißt, es handelt sich um einen Pulralismus aus jüdischer, christlicher, muslimischer, hinduistischer, buddhistischer oder daoistischer Sicht. Doch zugleich ist religiöser Pluralismus mehr als das, da er ja den religiös Anderen mit einbezieht und versucht, diesem „theologisch“ gerecht zu werden. Daher wird Pluralismus nicht nur aus dem Dialog geboren, sondern erfährt im und durch den Dialog weitere Bekräftigung (oder auch Entkräftung, falls er falsch sein sollte). Doch wenn die pluralistische Annahme richtig ist – wie es Pluralisten ex hypothesi annehmen – bildet sie die Grundlage und die Rechtfertigung für eine neue Art, Theologie zu treiben. Traditionell ist „Theologie“ – und ich verstehe das Wort in jenem weiten Sinne, der auch die Art religiös-philosophischen Denkens einschließt, die man in den wichtigsten nicht-theistischen Traditionen findet – keine Betätigung, die dem nur für eine bestimmte Religionsgemeinschaft als wahr geltenden Bekenntnis intellektuellen Ausdruck verleihen sollte. Vielmehr hatte „Theologie“ in erster Linie die Absicht eine Wahrheit zu formulieren, die für alle Menschen gleichermaßen gilt, eine Wahrheit mit metaphysischen Dimensionen. Doch wurde bezüglich dieser Wahrheit natürlich vorausgesetzt, dass sie entweder ausschließlich oder zumindest in überlegener Weise in den Glaubensgrundsätzen der eigenen Glaubensgemeinschaft eingeschrieben ist. Doch wenn „Theologie“ – wie dies häufig

Vorwort 

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aus einer postmodernen Antipathie gegen alles Universale, gegen Meta-Narrative und letzten Endes gegen die Wahrheit selbst folgt – ihre ursprüngliche Intention verliert, wenn sie nicht länger Interesse an einer allgemeingültigen Wahrheit hat, sondern ihre Anstrengungen darauf beschränkt, einer speziellen religiösen Identität ein intellektuelles Gepräge zu geben, dann wird sie zu einer billigen, wenig überzeugenden, am Ende nutzlosen und im schlimmsten Falle schädlichen Ideologie. Die theologische Herausforderung unserer heutigen Welt liegt darin, einerseits die Unterschiedlichkeit und Besonderheit der religiösen Überzeugungen anzuerkennen und ihr in vollem Umfang gerecht zu werden, ohne andererseits die primäre Suche nach einer für uns alle gültigen Wahrheit aufzugeben. So besteht die vor uns liegende Aufgabe tatsächlich darin, Wahrheit in ihren verschiedenartigen und unterschiedlichen Bruchstücken zu erkennen. Doch um ein Bruchstück als „Bruchstück“ wahrzunehmen, müssen wir die Neigung der Bruchstücke zum Ganzen entdecken. Dies ist es, was einige zeitgenössische religiöse Denker als „globale“, „universale“ oder „planetarische Theologie“ bezeichnen – oder, wenn man ihren grundsätzlich dialogischen Charakter hervorheben will – als „inter-faith theology“ oder „interreligiöse Theologie“. Meines Erachtens basiert interreligiöse Theologie auf vier Prinzipien: Erstens, anstelle dem Andersgläubigen mit einer „Hermeneutik des Verdachts“ zu begegnen, begegnet sie ihm mit dem „Bonus des Zweifels“ oder besser mit einem „Vertrauensvorschuss“. Genau dies wird ja vom religiösen Pluralismus vorausgesetzt: dass sich im Glauben des religiös Anderen religiös relevante Wahrheit finden lässt. Oder – um es theistisch auszudrücken – dass sich Zeichen göttlicher Offenbarung in der gesamten Religionsgeschichte der Menschen finden lassen. Diese Überzeugung steht in engem Zusammenhang mit dem zweiten Prinzip, der Einheit der Wirklichkeit. Interreligiöse Theologie ist ein anti-solipsistisches Unterfangen. Sie gründet sich in der tiefen menschlichen Überzeugung, dass – wie Ephraim Meir es in seinem ersten Kapitel formuliert – „wir alle in einer Welt leben“. Dies gilt auch dann noch, wenn unsere planetarische Theologie eines Tages zu einer interplanetarischen ausgeweitet werden muss. Dieses zweite Prinzip ermöglicht es uns, Bruchstücke als Bruchstücke im Verhältnis zu einem größeren Ganzen zu verstehen. Interreligiöse Theologie geht der Frage nach, wie Einsichten, die aus unterschiedlichen Religionen hervorgehen, sich aufeinander beziehen und – wenn sie jeweils ein Element der Wahrheit enthalten – wie sie zusammenhängen oder sich sogar gegenseitig ergänzen können. Diese Art von Arbeit kann nicht im Monolog stattfinden. Daher besteht das dritte Prinzip der interreligiösen Theologie darin, dass sie in einen interreligiösen Diskurs eingebettet sein muss. Dies bedeutet, dass alle Seiten dazu aufgerufen sind, auf die dialogischen Versuche des anderen zu reagieren und diese zu kommentieren. Es wird von allen erwartet, das im Dialog Gelernte in ihren eigenen religiösen Horizont zu integrieren, sodass sich bisherige

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 Perry Schmidt-Leukel

religiöse Auffassungen möglicherweise verändern und seit Langem bestehende Abgrenzungen überschritten werden. Viertens und letztens ist interreligiöse Theologie höchstwahrscheinlich ein unabgeschlossener Prozess. Sollte jemand tatsächlich meinen, eine interreligiöse Theologie in letzter Vollendung erreicht zu haben, dann würde dies wahrscheinlich nur ein Beispiel von Whiteheads Gesetz darstellen: „Die vielen werden eins und werden um eins vermehrt.“1 Wenn man die interreligiöse Theologie anhand dieser vier Prinzipien interpretiert, stellt sie keinen allzu radikalen Bruch mit den traditionellen Formen der Theologie dar. In gewisser Weise handelt es sich um eine neue Art, die eigene religiöse Tradition zu betrachten. Interreligiöse Theologie reflektiert nach wie vor die Glaubensgrundsätze der eigenen Religion und deren traditio­ nelle ­Auslegung. Doch tut sie dies, indem sie danach fragt, auf welche Weise die Erkenntnisse anderer religiöser Traditionen ein neues Licht auf die eigene werfen können und umgekehrt. Mit den Worten Ephraim Meirs und Manuela Kalskys ausgedrückt: Das konfessionelle „Wir“ wird nun im Lichte eines größeren multireligiösen und multikonfessionellen „neuen Wir“ gesehen und dabei neu verstanden und verwandelt. Mit Interreligiöse Theologie. Eine Sichtweise aus der jüdischen Dialogphilosophie fügt Ephraim Meir seine eigene kräftige und profund jüdische Stimme dem Kreis der derzeitigen Avantgarde-Theologen aus den wichtigsten Glaubensrichtungen hinzu, deren Ideen zur Zukunft der Theologie sich auf eine interreligiöse Konzeption hin bewegen. Seit Heschels prophetischer Schlüsselaussage, dass „keine Religion eine Insel“ ist, haben eine Reihe jüdischer Denker starke Argumente zugunsten einer jüdischen und pluralistischen Interpretation religiöser Vielfalt vorgebracht. Nicht wenige von ihnen verwenden hierbei den Gedanken pluraler Bundesschlüsse und pluraler Erwählungen. Die rabbinische Lehre der noachidischen Gesetze wird neu interpretiert als Hinweis auf einen übergreifenden Rahmen, innerhalb dessen wir nicht nur auf die besondere Erwählung eines einzelnen besonderen Volkes mit einem einzigen besonderen Bund stoßen, sondern auf viele Erwählungen, die in den unterschiedlichen Religionen ihren Ausdruck finden. Das Universale gehört laut David Hartman zur Kategorie der Schöpfung. Offenbarung ist im Gegensatz dazu immer partikular. Sie ist Teil von Gottes privater Kommunikation mit einem besonderen Volk. Doch für Gott ist jedes Volk besonders. Wenn Paulus von sich sagen kann, so Michael Kogan, dass er „allen alles geworden [sei], damit [er] auf alle Weise etliche rette“ (1 Kor 9,22), „warum sollte dann Gott nicht dasselbe tun können?“. Doch wenn – laut Kogan und anderen – religiöse Vielfalt das Ergebnis von Gottes Offenbarung 1 Alfred North Whitehead, Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt a. M. 1979, S. 63.

Vorwort 

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„unterschiedlicher Wahrheiten an unterschiedliche Menschen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten ist“,2 warum sollten dann diese unterschiedlichen Menschen nicht einfach bei ihrer eigenen, ihnen von Gott gegebenen Botschaft bleiben? Warum sollten sie aufeinander hören und sogar voneinander lernen? An dieser Stelle erinnert uns Ephraim Meir mit Nachdruck daran, dass das jüdische Beziehungsdenken sich nicht nur mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Gott auseinandersetzt, sondern dies in gleichem Maße mit der zwischenmenschlichen Beziehung tut. Vielleicht hat Gott unterschiedlichen Menschen gerade deshalb Verschiedenes mitgeteilt, damit sie an einem bestimmten Punkt der Geschichte einander etwas Bedeutendes mitzuteilen haben. Wie wir im Koran lesen (49,13) „Wir haben euch […] zu Stämmen und Völkern gemacht, dass ihr einander erkennen möchtet.“ In diesem Folgeband zu seinem Buch Dialogical Thought and Identity (2013), in dem sich Ephraim Meir auf wichtige jüdische Philosophen des Dialogs bezieht, um ihre Einsichten für das Gebiet der interreligiösen Begegnung fruchtbar zu machen, weitet Ephraim nun diesen Ansatz aus und setzt ihn zugleich fort, indem er skizziert, welche produktiven und kreativen Gesichtspunkte sich ergeben, wenn man interreligiöse Theologie aus dem Blickwinkel dialogischer „Trans-Differenz“, das heißt unter Einbezug und gleichzeitiger Überschreitung religiöser Unterschiede, betrachtet. Das Buch ist voller Inspiration und entwirft erste Schritte in diese Richtung. Es ist in Ephraims persönlicher Erfahrung der interreligiösen Arbeit verwurzelt, wie sie tagtäglich in einer der innovativsten universitären Einrichtungen Deutschlands praktiziert wird: der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg. Gewiss benötigt der Same Zeit um zu keimen und zu wachsen und der anfängliche Enthusiasmus wird unweigerlich abflauen unter jener harten und schweißtreibenden theologischen Arbeit, die angesichts der Konfrontation mit all den Fallstricken, Sackgassen und Irrwegen interreligiöser Theologie erforderlich ist. Um glaubwürdig zu sein muss die interreligiöse Theologie – wie jede Theologie – geduldig und umsichtig verfahren. Doch es gilt, sie in Angriff zu nehmen. Dies zuversichtlich und freudig anzuerkennen, dazu ermutigt uns Ephraim Meir auf seine ebenso professionelle wie geschickte Art und Weise. Perry Schmidt-Leukel

2 Michael Kogan, „Toward a Pluralist Theology of Judaism“, in Paul F. Knitter (Hg.), The Myth of Religious Superiority. Multi-Faith Explorations of Religious Pluralism, Maryknoll 2005, S. 118.

Einleitung Ich werde am Du. (Martin Buber) Rabbi Jochanan, der Sandalenmacher, sagte: Jede Gemeinde, die im Namen des Himmels zusammenfindet, wird dauern fort und fort. (Sprüche der Väter 4,14) Nah ist ER den ihn Rufenden allen, allen, die ihn rufen in Treuen. (Ps 145,18) Die Lampen mögen verschieden sein, aber das Licht ist das gleiche. (Rumi)1

Die Ambivalenz von Religionen Der vorliegende Band beinhaltet Überlegungen zur Wünschbarkeit und sogar der Notwendigkeit eines interreligiösen Dialogs und einer dialogischen Theologie in einer zunehmend globalisierten Welt. Arrogante ethnozentrische und gleichmachende Tendenzen sowie exklusive Wahrheitsansprüche missachten die Einzigartigkeit des religiös Anderen. Doch charakterisiert ein Kaleidoskop verschiedener Religionen, jede mit ihrer eigenen Besonderheit und kulturellen Einzigartigkeit, pluralistische, offene Gesellschaften und verlangt nach einem alternativen Zugang. Religionen können jeden Außenseiter als minderwertig oder irrig betrachten. Sie können auch die Andersheit des religiös Anderen, von dem sie lernen können und dessen Lebensweise der ursprünglichen Gruppe potentiell zu Gute kommen könnte, begrüßen und akzeptieren. Der Albtraum einer homogenen Gesellschaft, in der der Andere überhaupt keinen Platz hat, wird durch die Vision einer wachsenden Gemeinschaft, in der sich die eigene kulturelle und religiöse Identität herausbilden, bestätigten kann und sich in einen Dialog mit Anderen verwandelt, herausgefordert. Die Prophezeiungen eines langsamen Todes der Religionen und eines allmählichen Sieges der Säkularität in der zweiten Hälfe des letzten Jahrhunderts haben sich als falsch erwiesen. Religionen haben Hochkonjunktur und blühen auf, gleich ob sie in Angst versetzen, missionarisch vorgehen, totalitär ausgelegt sind oder menschenfreundlich, inspirierend und friedensfördernd. Eines ist sicher: keine Religion kann es sich erlauben, sich von anderen Möglichkeiten der Annäherung an die letztendliche Wirklichkeit abzuschotten. Jeder sieht sich mehr und mehr unterschiedlichen Wegen gegenüber, letzte Ziele zu erreichen und Antworten auf die unausweichliche Frage nach der Transzendenz und der Bedeutung des Lebens zu geben. Die Religionen mit ihren unterschiedlichen Bräuchen, 1 Rumi: Poet and Mystic, übers. von Reynold A. Nicholson, London / Boston 1978, S. 166.

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 Einleitung

Kulten, Gebeten, Glaubensgrundsätzen und moralischem Kodex können zur Herausbildung von friedlichen und gerechten Gesellschaften beitragen. Doch können sie auch zu gewalttätigem Verhalten und unmenschlichem Handeln in einer schon immer rauen Realität anstiften und diese fördern. Dieser Ambiguität der Religionen wird in der vorliegenden Studie Rechnung getragen. Sie führt Gedanken zur möglichen Relevanz eines interreligiösen Dialogs an, durch den die Gesellschaften geformt werden, in denen Menschen mit unterschiedlichen Kulturen und Religionen Freiheit genießen und miteinander in Kontakt kommen mit Blick auf die Schaffung einer reichen, pluralistischen Kultur.

Pluralistische Theologie und interreligiöse Theologie Auch wenn eine interreligiöse Theologie von einer pluralistischen Theologie der Religionen lernen könnte, handelt es sich dennoch um völlig unterschiedliche Konzepte. Pluralistische Theologie akzeptiert die ganze Stimmenvielfalt der Religionen in unserer heutigen Welt. Interreligiöse Theologie hingegen beginnt bei der Begegnung zwischen Religionen und schätzt und studiert den Dialog zwischen ihnen im interreligiösen und interkulturellen Austausch. Dialogische Theologie geht noch weiter als pluralistische Theologie, welche nur einen ersten Schritt in Richtung einer dialogischenTheologie markiert. Interreligiöse Theologie ist als die intellektuelle Reflexion über die Verschiedenartigkeit religiöser Lebensstile und ihre einzigartige Teilhabe an der Wahrheit eine neue Art der Theologie, die auf interreligiösen Begegnungen basiert. Sie nährt sich aus interreligiösen Dialogen, die ethisches Handeln aus Glauben fördern.2 Ihr Ziel ist nicht die Schaffung einer einheitlichen Meta-Religion, sondern sie nimmt die Unterschiede, die gegenseitige Bezogenheit und Ergänzung der unterschiedlichen Perspektiven zur absoluten oder transzendenten Wirklichkeit ernst. Sie geht davon aus, dass es nur ein begrenztes Verstehen der Wahrheitserkenntnis gibt und dass keine Religion behaupten kann, dass es außerhalb ihres Rahmens keine Wahrheit gäbe. Wahrheit bleibt immer Wahrheit quoad nos (für uns), von unserem begrenzten Standpunkt aus betrachtet.3

Jüdisches dialogisches Denken und dialogische Theologie Im vorliegenden Band verdeutliche ich, wie jüdisches dialogisches Denken zur Bildung einer interreligiösen Theologie beitragen kann und stelle meine eigene 2 Paul F. Knitter, Introducing Theologies of Religions, Maryknoll 2010, S. 244–246. 3 John Hick, Dialogues in the Philosophy of Religion, New York 2001, S. 179–194.



Der Wert interreligiöser Theologie 

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Sicht dieser neuen Art von Theologie vor. Bereits in meinem Buch „Dialogical Thought and Identity“,4 in welchem das Subjekt – besonders das religiöse – in neuer Weise und aus dialogischer Sicht angegangen wird, habe ich begonnen eine dialogische Theologie zu entwickeln. Das vorliegende Werk setzt das vorausgegangene fort; es erläutert interreligiöse Theologie, die den Anderen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellt und auf einem lebendigen Dialog mit dem Anderen basiert, von dem man lernt. Religionen haben sich stets gegenseitig bewusst oder unbewusst beeinflusst: sie haben viel gemeinsam, doch radiert diese Tatsache nicht die großen Unterschiede aus. Interreligiöse Theologie geht über die übliche Bekenntnistheologie hinaus, da ihr Standpunkt viel umfassender ist: sie befasst sich mit der Menschheit an sich in ihrer Gegenüberstellung mit Gott und nicht nur mit einer bestimmten Gemeinschaft. Da jedoch jeder Standpunkt spezifisch ist, stelle ich die Ausprägungen interreligiöser Theologie aus jüdischer Sicht vor, die mit den jüdischen dialogischen Denkern beginnt und von der Interpretation der jüdischen Tradition durch jene Denker inspiriert wird.5

Der Wert interreligiöser Theologie Ich mache nicht den Vorschlag, dass alle Beteiligten am interreligiösen Dialog eine interreligiöse Theologie entwickeln sollten. Ich behaupte vielmehr, dass interreligiöse Theologie wertvoll ist und dass sie sich auf eine Ausarbeitung einiger grundlegender Einblicke zeitgenössischer jüdischer Philosophen stützen kann. Dementsprechend konzentriert sich der erste Teil dieses Bandes auf Diskussionen, die in Texten jüdischer Denker des Dialogs verankert sind. Der zweite Teil beinhaltet meine Ansicht interreligiöser Theologie und deren Verwurzelung in jüdischem Dialogdenken. Ich bin mir durchaus bewusst, dass eine Konstruktion interreligiöser Theologie auf der Grundlage einschlägiger Erkenntnisse innerhalb der jüdischen Dialogphilosophie eine Provokation darstellt und traditionelle jüdische (und nicht jüdische) Theologen herausfordert. Die radikale Selbstkritik, welche notwendigerweise in der Erschaffung einer interreligiösen Theologie involviert ist, als auch das Eingeständnis der Unvollkommenheit der eigenen 4 Ephraim Meir, Dialogical Thought and Identity. Trans-different Religiosity in Present Day Societies, Berlin / Jerusalem 2013. 5 Auch wenn ich mich auf einige klassische Aussagen der Weisen beziehe, die für die Herausbildung einer interreligiösen Theologie hilfreich sein mögen, so liegt doch mein Fokus in diesem Band auf den jüdischen dialogischen Denkern der Moderne, die mich bei der Entwicklung solch einer Theologie inspiriert haben. Ich könnte mir auch ein Werk vorstellen, das die Aussagen der Weisen bezüglich einer dialogischen Theologie untersucht, doch ist dies ein andersgeartetes Projekt als das vorliegende.

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 Einleitung

und aller Religion stellen die strengen Ansprüche einer dialogischen Theologie dar. Nicht jeder ist bereit, solche Risiken einzugehen und einen Dialog mit einem unvorhersehbaren Ende zu beginnen. Dass die eigene Religion mit all ihren Ritua­len, Bräuchen und Dogmen nicht die einzige ist, ist ein Schritt, den manche nicht bereit sind zu gehen. Nicht jeder ist bereit, einen exklusivistischen Blick­ winkel aufzugeben, eine privilegierte Position gegenüber der Höheren Wirklichkeit und die Überlegenheit der eigenen Religion zu verlassen. Manche könnten das Vorhaben einer interreligiösen Theologie sogar als Sünde ansehen oder als zerstörerische Bedrohung für die Religion selbst. Doch für mich, und ich hoffe auch für andere, ist eine interreligiöse Theologie basierend auf dialogischem Denken die einzige logische Konsequenz von Interaktion und Solidarität zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen, die einen weiteren Blick haben, welcher die Pluralität religiöser Phänomene und deren gegenseitige Bezogenheit respektiert. Zugleich wird der aufmerksame Leser dessen gewahr werden, dass die Besonderheit seiner eigenen Religion und in der Tat jeder einzelnen Religion in einer sogenannten „trans-differenten“ Religiosität bedingt ist, die die jeweiligen Ausprägungen anerkennt und darüber hinaus geht.

„Trans-Differenz“ Unter den christlichen Repräsentanten einer pluralistischen Theologie der Religionen findet man John Hick, Paul Knitter, Leonard Swidler und Perry Schmidt-Leukel.6 Hick hat einen transzendenten Grund für alle Religionen vor Augen, wo alle unterschiedliche Wahrnehmungen und Anworten auf das Wahrhaftige haben,7 und Knitter postuliert eine gemeinsame Erlösungsvision als die letztendliche Einheit der Religionen. Swidler betrachtet den Partner im 6 John Hick, „Gotteserkenntnis in der Vielfalt der Religionen“, in Horizontüberschreitung. Die Pluralistische Theologie der Religionen, hg. von Reinhard Bernhardt, Gütersloh 1991, S. 60–80; Paul F. Knitter, Ein Gott – viele Religionen. Gegen den Absolutheitsanspruch des Christentums, München 1988; ders., „Religion und Befreiung. Soteriozentrismus als Antwort an die Kritiker“, in Horizontüberschreitung, hg. von Reinhard Bernhardt, S. 203–219; Knitter, Introducing Theologies, Maryknoll 2010; Leonard Swidler, Die Zukunft der Theologie. Im Dialog der Religionen und Weltanschauungen, Regensburg / Münster 1992; Perry Schmidt-Leukel, Transformation by Integration. How Inter-Faith Encounter Changes Christianity, London 2009; ders., „Intercultural Theology as Interreligious Theology“, in Religions and Dialogue. International Approaches, hg. von Wolfram Weiße / Katajun Amirpur / Anna Körs / Dörthe Vieregge, Münster 2014, S. 101–112. In diesem und im nächstem Absatz wiederhole ich, was ich bereits in meinem Buch Dialogical Thought and Identity, S. 198–199 erwähnt habe. 7 John Hick, An Interpretation of Religion: Human Responses to the Transcendent, London 1989, S. 240.

„Trans-Differenz“ 

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interreligiösen Dialog als eine Art Spiegel, durch den man sich selbst auf eine Weise wahrnimmt, wie es ohne solch einen Dialog, der unweigerlich die eigene Position verändert, nicht möglich wäre. Schmidt-Leukel bietet für mich eine besondere Art der interreligiösen Theologie, wenn er eine multi-religiöse Identität erörtert, in der man sich durch mehr als eine religiöse Tradition inspiriert fühlt und in der sogar doppelte Zugehörigkeit möglich ist. Wie Knitter betont er die Möglichkeit des Lernens voneinander als auch den Wandlungsprozess als Ergebnis von Begegnungen zwischen den Glaubensrichtungen. Alle Religionen, so behauptet Schmidt-Leukel, befassen sich mit der letztendlichen Wirklichkeit, also mit etwas Transzendentem. Dies könnte zu einer interreligiösen Theologie führen, die das Miteinander mit den religiös Anderen, die selbstkritisch sind und voneinander lernen, fördert.8 Sobald man Schmidt-Leukels Dialog-These akzeptiert, ist man offen, neue Dinge darüber zu lernen, wie Andere ihr Leben angesichts der Transzendenz gestalten. Was im Hinblick auf die Zukunft eines interreligiösen Dialogs und einer Theologie dieser Art wichtig bleibt, ist die Anerkennung der Unterschiedlichkeiten, die Anerken­ nung des Anderen und die Begegnung mit ihm oder ihr als auch der Aufbau einer friedlichen, pluralistischen Gesellschaft. Als umsichtiger Denker vermeidet Schmidt-Leukel die Fallgrube der Nicht-Beachtung der Unterschiedlichkeiten zwischen den Religionen, indem er die Theologie vielfältig macht, ohne allzu schnell in eine globale, alle vereinigende Religion überzugehen.9 Auch ich bin der Ansicht, dass die Besonderheit nicht in einer allumfassenden und homogenen Totalität aufgehoben werden sollte, und zugleich sollte keine Partikularität ihr Eingebettet-Sein und ihre Zugehörigkeit zu einer größeren Welt vergessen, in der das „Wir“ erstrebenswert ist nicht als ein Konglomerat verschiedener kollektiver Egos, sondern als das Ergebnis von Begegnung und gegenseitigem Lernen. Das neue „Wir“, in welchem die Unterschiede bewahrt bleiben und Brücken gebaut werden, die die Unterschiedlichkeiten verbinden, ist wie Franz Rosenzweig nur allzu gut weiß: „[…] die aus dem Dual entwickelte Allheit“.10 Die Andersartigkeit des Anderen und seine Weigerung, in die Totalität absorbiert zu werden, verhindern nicht Nähe und sind sogar die Voraussetzungen für eine gegenseitige Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen.

8 Perry Schmidt-Leukel, „Interreligiöse Theologie und die Theologie der Zukunft“, in Interreligiöse Theologie. Chancen und Probleme, hg. von Reinhold Bernhardt / Perry Schmidt-Leukel, Zürich 2013, S. 23–42. 9 Perry Schmidt-Leukel, „Religious Pluralism and the Need for an Interreligious Theology“, in Religious Pluralism and the Modern World. An Ongoing Engagement with John Hick, hg. von Sharada Sugirtharajah, Birmingham, UK 2012, S. 19–33. 10 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt a. M. 1988, S. 264.

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 Einleitung

Bei der Übernahme einer „trans-differenten“ Position (unter Einbezug und gleichzeitiger Überschreitung religiöser Unterschiede) lernen alle von allen ‒ ohne dabei die eigene Besonderheit zu verlieren. Andererseits bleibt man nicht unverändert, sobald man in einen Dialog mit religiös Anderen tritt, denn die eigene religiöse Realität, die in einem grundsätzlichen Verhältnis zum religiös Anderen begriffen wird, wird „relativ“ im etymologischen Sinn des Wortes. Darüberhinaus erfolgt daraus ein anderes Selbstverständnis, wenn man sich selbst durch die Brille des Anderen sieht. Eine dialogische Einstellung der Religionen impliziert Begegnung zwischen dem Selbst und dem Anderen. So können z. B. Juden die Rig-Veda und die Bhagavad Gita lesen und dabei eine ganz andere Welt entdecken. Wie aus dem Lebensstil von Menschen wie Ayya Khema, Thomas Merton, Ton Lathouwers oder Paul Knitter deutlich wird, können auch Nicht-Buddhisten (Elemente des) Buddhismus in ihr Leben integrieren. Aus einer dialogischen Perspektive wird eine Hierarchie der Religionen problematisch. Wir können entdecken, wie Andere leben und denken. Die Leser des Koran können zu Lesern der Hebräische Bibel und sich der unterschiedlichen Welten bewusst werden. Menschen verschiedener Religionen können sich treffen und sich gegenseitig Fragen zur Lebensführung des Anderen stellen. Die religiöse Besonderheit eines jeden und seine Einzigartigkeit werden nicht in einer weltumspannenden Theologie aufgehoben, sondern sie sind im Gegenteil sogar notwendig für solch eine Theologie. Doch bleibt die Sicht der transzendenten Wirklichkeit nicht dieselbe nach bedeutsamen Begegnungen mit Andersgläubigen, die die höhere Wirklichkeit auf andere Weise wahrnehmen. Auf einer intrareligiösen, inneren Ebene kann ein orthodoxer Jude von seinem Reform-Gegenüber Flexibilität und die Bereitschaft zur Erneuerung, Anpassung und das sorgfältige Hören auf die Forderungen der Moderne erlernen. Umgekehrt kann ein liberaler Jude von seinem orthodoxen Glaubensgenossen über Stetigkeit und Vertrauen in die alten Worte lernen, die in wechselnden Kontexten ständig neue Bedeutungen erhalten. Mit einer Haltung der Trans-Differenz (unter Einbezug und gleichzeitiger Überschreitung religiöser Unterschiede) kann man von Anderen lernen. Auf der interreligiösen Ebene können sich Nicht-Buddhisten für den Gleichmut der Buddhisten interessieren, die eine gleiche Nähe zum Nahen und zum Fernen, zu Mann und Frau, sowie menschlichen und anderen empfindsamen Wesen entwickeln. Pfarrer können durch Rabbiner und umgekehrt inspiriert werden: Martin Luther King und Abraham Jehoshua Heschel gaben sich gegenseitig wichtige Impulse. Katholiken, die Priestern einen sakramentalen Status zugestehen, können vom jüdischen und protestantischen Standpunkt über das Priestertum aller Gläubigen (Ex 19,6) lernen, dass jedes Mitglied der Gemeinschaft in direktem Kontakt mit Gott steht. Ein Jude kann den christlichen Erlöser in



Dialog, Gastfreundschaft, Übersetzung und Zuhören 

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einem jüdischen Kontext verorten und sich für die jüdischen Aspekte des Neuen Testaments interessieren. Ein christlicher Theologe oder eine Theologin kann eine Sensibilität für die Andersheit seines / ihres Alten Testaments ausbilden und zugleich entdecken, dass die Hebräische Bibel die Basis für ein autonomes jüdisches Leben darstellt. Christliche Theologen können sich bewusst werden, dass die Hebräische Bibel nicht bloß den Hintergrund für das Neue Testament bildet, sondern dass ihr Sitz im Leben für jedes wirkliche Verstehen Jesu und der ersten christlichen Gemeinde notwendig ist. Juden, die Indien besuchen, können in Kontakt mit der großen, greifbaren Spiritualität und praktischen Weisheit der Hindus kommen. Sie können von Buddhisten lernen, dass innerer Friede die Voraussetzung für äußeren Frieden konstituiert, und Buddhisten können von Juden über die konkrete „Erlösung / Reparatur (tiqqun) der Welt“ lernen und besonders gesellschaftlich aktiv werden. Dialogische Theologie wird daher durch Gedanken zur (kritischen) reziproken Ergänzung der religiösen Lebensstile charakterisiert. Auf der Grundlage des interreligiösen Diskurses ist das Wesen der dialogischen Theologie „prozessual, naturgemäß unvollkommen“.11 Sie eröffnet einen völlig neuen Bereich der Theologie und erfordert „eine Art wissbegierigen Geist, der die Theologie – wie jede andere Form der Wissenschaft – zu einem solch faszinierenden Unternehmen macht.“12 Darüberhinaus können interreligiöse Begegnungen Menschen unterschiedlicher Religionen vereinen, die die ethischen Grundlagen ihrer eigenen Religion schätzen, welche sie als anti-magisch ansehen. Ein Anhänger einer Religion kann parallel Werte und die Bestätigung seiner eigenen Position in anderen Religionen finden. Eine buddhistische Feministin kann durch eine jüdische Feministin inspiriert werden. Jüdische, hinduistische, buddhistische oder muslimische Feministinnen können sich zusammentun in ihrer Auseinandersetzung mit patriarchalen Elementen ihrer eigenen Tradition oder antike Inspirationstexte entdecken, welche dazu dienen, eine frauenfreundlichere Atmosphäre zu fördern. Meiner Ansicht nach bleibt der Vergleich mit Anderen immer problematisch, doch durch Andere inspiriert zu werden, ist ein großer Segen.

Dialog, Gastfreundschaft, Übersetzung und Zuhören „Die Übersetzung“ der eigenen Begrifflichkeiten in die des Anderen und die des Anderen in die eigene schafft Brücken zwischen den Welten. Jede Religion und im Grunde genommen jedes menschliche Wesen ist besonders, doch leben wir alle 11 Schmidt-Leukel, „Intercultural Theology as Interreligious Theology“, S. 108. 12 Ebd., S. 112.

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in einer Welt. Durch „Übersetzung“ streckt man die Hand zu der Welt der Anderen aus. Übersetzung ruft Kommunikation und gegenseitige Beteiligung hervor. In einer Welt, in der es große Herausforderungen für alle religiösen Menschen gibt, könnte „Dialog“ als eine grundsätzliche religiöse Haltung als Beispiel sowohl für religiöse als auch für nicht-religiöse Menschen dienen. In der Tat ist der Dialog zwischen Religion und der säkularen Welt, dem saeculum, das Ziel der Religion, wenn sie als„verbindende“ Erfahrung verstanden wird, die Menschen in Hinblick auf eine weniger gleichgültige Welt zusammenführt. Das saeculum hat seine eigenen, legitimen Forderungen, z. B. nach Demokratie, Freiheit oder Gleichheit der Menschen. Im Dialog könnten die Religionen auf diese Forderungen aufmerksam werden. Ein weiterer Dialog ist zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart eines jeden Menschen vorhanden. Konvertiten können auf ihrer ständigen Suche nach neuen Wegen der Religiosität im Dialog mit ihrer eigenen Vergangenheit bleiben: ein neu konvertierter Jude in Israel kann z. B. lächelnd sagen, dass er „von weißem Chanukka träumt“. Das Verbleiben im Dialog mit seiner eigenen Vergangenheit ist wichtig für jeden religiösen Neubeginn, da die reelle Gefahr besteht, die alte Religion zu verachten, wenn man eine neue annimmt.13 „Trans-differente“ Religiosität und Theologie, welche ich hier vorstelle, handeln vom sorgfältigen Hören des Narrativs Anderer, die so andersartig erscheinen können, dass man auf den ersten Blick glaubt, dass keine Kommunikation möglich ist. Doch wir leben in einer Welt und es ist gerade diese Andersheit im Narrativ des Anderen, die die Voraussetzung für jegliche ernsthafte, lebensverändernde Erfahrung darstellt, in welcher man die Spuren des Anderen in sich selbst entdeckt. Dem Anderen gegenüber zu stehen bedeutet eingeladen sein, eine Beziehung mit ihm oder ihr einzugehen, nicht um Informationen zu erhalten, sondern mit dem Ziel, ihm oder ihr nahe zu sein. Folglich besitzt dialogische Theologie kein apriorisches Wissen noch ein Mehrwissen. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer Überlegung über die Bedeutung von Begegnungen zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen. Dialogische Theologie, trans-differente Theologie beansprucht kein besseres oder vergleichendes Wissen, sondern erkennt die Transzendenz des Anderen an und interpretiert die eigene Subjektivität als Gastfreundschaft.

13 Das Annähern an eine Konversion beinhaltet eine Dynamik des Gegentaktes, welche Wingate seinem Leser mit angemessenem analytischem Instrumentarium vorstellt, um zu verstehen, was Menschen dazu bewegt, den alten Glauben hinter sich zu lassen und einen neuen anzunehmen. Gründe für solch einen Schritt können religiös-theologisch, kulturell-­ sozial, persönlich-psychologisch und politisch-ökonomisch-institutionell motiviert sein. Andrew Wingate, „Interreligious Conversion“, in Understanding Interreligious Relations, hg. von David Cheetham / Douglas Pratt / David Thomas, Oxford 2013, S. 184–185.



Der Abschaffung der Unterschiede widerstehen 

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Ein Zugang zur Letzten Wirklichkeit aus zahlreichen Perspektiven Dialogische Theologie bringt eine ganz neue Perspektive mit sich. Der eigene Glaube ist nur ein Weg, sich dem Höchsten zu nähern. Dialogische Theologie geht von der Tatsache aus, dass kein Individuum isoliert existiert und dass kollektive Religionsidentitäten alle darin miteinander verbunden sind, nach dem Höchsten zu streben und spirituelle Krankheiten zu heilen: jeder einzelne und jedes Kollektiv ist dazu eingeladen anzuerkennen, dass alle das Ergebnis von Beziehungen und darin eingebettet sind. In der Nähe zum Anderen öffnen die Standpunkte des religiös Anderen unerwartete Perspektiven und führen schließlich zu einer kritischen Revision der eigenen Perspektive. Diese Begegnung ist notwendig im Hinblick auf die Wertschätzung der unterschiedlichen Zugangsweisen zur Wahrheit in ihrer Fülle. Eine Theologie der Trans-Differenz, wie sie in diesem Band vorgestellt wird, ist nicht synkretistisch. Sie erkennt die Unterschiede an und bewahrt das eigene als auch das Andere.14 Doch zugleich erkennt sie, dass es kein Selbst ohne das Andere gibt, dass eine selbstbezogene Position problematisch ist und dass man der Bezogenheit einer jeden Religion und eines jeden Menschen auf Andere nicht entkommen kann. Vor allem vermeidet eine Religiosität „jenseits der Unterschiede“ eine Verwechslung jeder Religion mit der höchsten Wirklichkeit selbst und erkennt an, dass unterschiedliche Religionen für unterschiedliche Menschen, die im Umgang mit religiös Anderen verwandelt werden können, notwendig sind.

Der Abschaffung der Unterschiede widerstehen Eine der Versuchungen bei der Konzipierung einer Theologie der Religionen liegt darin, die Unterschiede zu schnell zu überspringen, um zu Gemeinsamkeiten oder einer minimalen Religiosität zu gelangen. Solch eine Versuchung war bereits in Lessings Vernunftreligion ohne Kult und Riten greifbar und in Kants Religion „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ ohne Dogmen, Gebote oder Riten. In diesem Kontext ist auch die Veröffentlichung eines gemeinsamen deutschen Gebetsbuches zu erwähnen, in dem die Unterschiede zwischen den Religionen ausradiert werden und Gott als „Vater“ oder „Herr“ angesprochen wird.15 Meiner Ansicht nach bleiben sowohl Unterschiede als auch Brücken „jenseits der Unterschiede“ wichtig. Ich 14 Gegen einen radikal subjektivistischen Standpunkt, bei dem Religiosität als Privatangelegenheit und als Ergebnis einer eigenen idiosynkratischen Weltsicht angesehen wird, führe ich das Argument an, dass Religionen in unterschiedlichen, konkreten historischen Gemeinschaften unter deren jeweiligen Normen und Weltsichten praktiziert werden. 15 Martin Bauschke / Walter Homolka / Rabeya Müller (Hg.), Gemeinsam vor Gott, Gütersloh 2004.

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bevorzuge die Anerkennung notwendiger Unterschiede als auch die Akzeptanz des Anderen und des Selbst, die in einen Dialog miteinander treten.16 Mit Perry Schmidt-Leukel stelle ich mir eine interreligiöse Theologie vor, die die Unterschiede nicht verwirft.17 In solch einem Fall wird Theologie im Plural das Ergebnis interreligiösen Lernens sein und sie wird nicht a priori erreicht, sondern induktiv. Darüberhinaus, so führt Schmidt-Leukel aus, bestimmen pluralistische Theologien „nicht im Voraus den Dialog, sondern können so verstanden werden, dass sie eine Hypothese vorbringen, deren Glaubwürdigkeit durch Dialog verstärkt oder reduziert werden kann. Eine Hypothese, die ihrerseits, auf ihrer eigenen Grundlage, eine starke Ermutigung zum Dialog als Methode des Lernens voneinander und gegenseitiger Bereicherung darstellt.“18 In einer interreligiösen Theologie kann man zu dem Standpunkt gelangen, die unterschiedlichen Zugänge zu dem, was jenseits der reinen Vernunft liegt und letztlich das Unaussprechliche ist, anzuerkennen und wert zu schätzen. Wir können vonein­ ander lernen und sogar im Verlauf des Dialogs zu mutigen Korrekturen alter Ansichten und Vorstellungen gelangen. Als Grundlage meiner Gedanken zur interreligiösen Praxis und Theologie dient ein Zugang zu einem Ich, das nicht ein einsames, abstraktes, denkendes Ich, ein reines cogito darstellt, sondern vielmehr ein in Beziehung stehendes Ich, das angesprochen wird, das „Hier bin ich“ in Levinas’ Philosophie des Anderen. Solch eine Annäherung an ein Ich, das angeredet wird, hat Auswirkungen für jeden Dialog, der zur Möglichkeit des Ichs wird, über sich selbst hinauszugelangen, mit dem Anderen in Kontakt zu treten und sich verpflichtet zu fühlen. Das selbstgenügsame, an sich selbst interessierte Ich, das nur nach Selbsterfüllung strebt, wird durch ein Ich ersetzt, das vom Nächsten fordert, sich mit ihm / ihr auseinanderzusetzen, Einer-für-den-Anderen zu werden. In der vorliegenden Arbeit bedeutet Bestätigung des Anderen Beziehung zu der Höchsten Wirklichkeit, in theistischer Sprache: in der Beziehung mit dem Anderen steht der Name Gottes auf dem Spiel: Immanentismus wird durchstochen durch den Anderen. Meine Sichtweise führt nicht zu einer (Kon-)Fusion mit Anderen; sie ist eher eine Besinnung über die Erhabenheit 16 Marianne Moyaert untersucht die Anziehungskraft als auch die Grenzen der Teilnahme am gemeinsamen Gebet und Ritual des religiös Anderen. Moyaert, „Unangemessenes Verhalten? Über den rituellen Kern von Religion und die Grenzen interreligiöser Gastfreundschaft“, in Interreligiöse Theologie. Chancen und Probleme, S. 129–157. 17 Ich stimmte mit Schmidt-Leukel in diesem Punkt überein, als wir uns darüber ausgetauscht haben. 18 „[Pluralist theologies] do not predetermine dialogue but can be understood as suggesting a hypothesis whose credibility can be enhanced or reduced through dialogue, a hypothesis which is, on its own premises, a strong encouragement of dialogue as a way of mutual learning and enrichment.“ Schmidt-Leukel, „Religious Pluralism and the Need for an Interreligious Theology“, S. 28.



Gegenwart und eine Hermeneutik des Anderen 

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der Verbindung mit Anderen, die sowohl die Einzigartigkeit des Anderen und des Selbst respektiert und fördert als auch die Interaktion zwischen beiden.

Religionen und eine friedvolle Gesellschaft Nach meinem Verständnis kann eine interreligiöse Theologie, eine Vielheit von religiösen Lebensstilen und Respekt vor der Verschiedenartigkeit in religiosis ein Vorbild für eine interkulturelle, pluralistische, friedliche Gesellschaft an sich werden, wo Konsens und notwendiger Dissens nebeneinander bestehen. Jedoch ist ein Kriterium für die erfolgreiche Schaffung solch einer Gesellschaft die Entwicklung einer dialogischen Hermeneutik. Die dialogische Theologie, die ich in diesem Band vorstelle, ist nicht nur eine Theologie, die im Dialog mit den anderen Religion steht, sondern die sich auch im Dialog mit der Gesellschaft an sich befindet, da Religionen stets in einer konkreten Gesellschaft wirken.19 Dialogische Theologie arbeitet mit den Konzeptionen des höchsten Sinns und der Anerkennung des Anderen als Anderer. Sie beschäftigt sich mit dem Selbst und dem Anderen, inneres und äußeres, eigenes und fremdes und auch mit der Hervorhebung der Grenzen und der Grenzüberschreitung und mit den erhabenen Abläufen des Hinübergehens, Lernens und Übersetzens. Die zu Grunde liegende Annahme in diesem Band ist die, dass im Aufbau einer neuen (inter-)religiösen Identität das „Wir“ nicht auf ewig dem „Sie“ gegenübersteht und dass es einen Austausch zwischen dem Inneren und dem Äußeren gibt. Die Zeugnisse vom höchsten Sinn sind vielfältig und da menschli­ che Wesen keine isolierten Monaden sind, müssen sie den Anderen fragen, was ihn oder sie bei ihrer Suche nach dem letzten transzendenten Sinn bewegt. Die fanatische Vorstellung einer „rein“ religiösen Gesellschaft muss aufgegeben werden in Anbetracht der vielschichtigen Beziehung mit Anderen, die zugleich offen gegenüber einer unbekannten Zukunft ist.

Gegenwart und eine Hermeneutik des Anderen Interreligiöse Theologie bedeutet nicht das Nachdenken über einen neuen Glauben oder über einen Glauben für alle. Sie handelt vorrangig von dialogischem Sprechen, welches sich nicht nur auf Inhalte konzentriert, sondern 19 Franz Rosenzweig formuliert diese Idee in seinen prägnanten Worten: „Gott hat eben nicht die Religion, sondern die Welt erschaffen“. Franz Rosenzweig, „Das neue Denken“, in ders., Kleinere Schriften, Berlin 1973, S. 389.

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vorrangig eine Haltung voller, unvoreingenommener Präsenz vor dem religiös Anderen als auch eine neue Hermeneutik erfordert. Diese Hermeneutik ist eine des Zuhörens und der Anerkennung des Anderen. Sie entledigt sich einer Dominanz des interpretierenden Ich und stellt den Anderen und seine / ihre Welt ins Zentrum. Anders als bei der Horizontverschmelzung oder als bei der Erweiterung des eigenen Horizontes, operiert eine Hermeneutik der Begegnung mit radikaler Offenheit dem Anderen gegenüber, der nicht in meinen Horizont absorbiert werden kann. Die Andersheit des Anderen, so behaupte ich, ist nicht angleichbar. Nicht nur, weil seine oder ihre Welt eine andere ist als meine, sondern wegen ihrer radikalen Andersheit, welche in der Forderung zum Ausdruck kommt, sie zu respektieren und zu unterstützen. Doch existiert letztendlich Trans-Differenz auch, weil der Andere anders ist als ich, so wie ich auch anders bin als er. Nicht trotz, sondern wegen dieser Unterschiede bleibt wahre Kommunikation zwischen Menschen eine großartige Möglichkeit derselben.

Unvergleichbarkeit, Wissen und Begegnung Sehr häufig sind in interkulturellen Begegnungen Vergleiche problematisch und Verstehen wird zu intellektualistisch. Ich bin der Meinung, dass (a) niemand vergleichbar ist, da alle einzigartig sind und dass man (b) in einem rein intellektuellen Spiel nicht die ganze Person sieht. Durch den Vergleich urteilt man bereits. Durch die Anwendung eines Dialoges, um mehr zu erfahren, missbraucht man bereits den Dialog, indem man ihn seiner eigenen intellektuellen Neugier unterstellt. Um die genannten Probleme zu umgehen, schlage ich vor, mit Kategorien zu arbeiten, wie „inspiriert werden“, „anerkennen“, „Empathie empfinden“, „fördern“, „Brücken schlagen“, „lernen“, „Gastfreundschaft üben“, „übersetzen“, „das Unbedachte in der eigenen Religion entdecken“, „Berührungspunkte zwischen den Religionen erwähnen“, „freisetzen von Assoziationen“ und ähnliches. Über dem Vergleich und dem Wissen steht die Begegnung, in der der andere Mensch mit seiner nicht auflösbaren Welt als solcher anerkannt und in seiner Andersheit respektiert wird. Zuerst sieht man ein Gesicht, das das Selbst anblickt und herausfordert. Worte und Erklärungen folgen später.

Danksagung Einige der Beiträge sind bereits an anderer Stelle in früheren Versionen erschienen. Jedoch wurden sie für diese Veröffentlichung gründlich überarbeitet. Ich danke dem Verleger Traugott Bautz und der Konrad Adenauer Stiftung sowie

Danksagung 

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Prof. Daniel Krochmalnik für ihre freundliche Erlaubnis, diese Veröffentlichungen hier zu verwenden.20 Ich danke von ganzem Herzen Yehoyada Amir für seine sorgfältige Lektüre und seine hilfreichen Vorschläge bezüglich der Struktur dieses Buches und der Notwendigkeit, sich mit konservativen Theologen auseinanderzusetzen, welche dialogische Theologie eher als Bedrohung denn als wertvollen Nutzen empfinden könnten. Auch danke ich dem zweiten, anonymen Lektor dieser Arbeit, welcher nützliche Hinweise gegeben hat. Am Ende dieser Einleitung möchte ich den Anfang meines lebendigen Interesses an interreligiöser, dialogischer Theologie erwähnen. Viele Menschen haben mich hierbei beeinflusst und inspiriert, solch eine Theologie zu konzipieren. Doch gibt es eine Person, der ich ganz besonders danken möchte: Prof. Wolfram Weiße, dem Direktor der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg. Prof. Weiße hat ein einzigartiges Institut in Europa gegründet, das nicht nur die Erforschung der Religionen initiiert und stimuliert, sondern auch den lebendigen Dialog zwischen den Religionen fördert, wie sie in der heutigen Gesellschaft wirken. In seiner Akademie konnte ich meine dialogischen Theorien in der Praxis testen und Rückmeldung und Anregung von Kollegen erhalten, die ebenfalls Theorien zum interreligiösen Dialog entwickeln. Mein Freund und Kollege Prof. Weiße hat mir die Möglichkeit gegeben, regelmäßig Gastprofessor an der Akademie zu sein, wo ich nun die Veronika und Volker Putz Levinas Gastprofessur für jüdische Dialogstudien und interreligiöse Theologie innehabe. Ohne seine Freundschaft, seine stete Anregung und sein Interesse hätte ich die vorliegende Arbeit nicht fertigstellen können. Prof. Weißes Akademie mit ihrem Personal und der Bibliothek haben mir die günstigsten Rahmenbedingungen und das intellektuelle Milieu zur Verfügung gestellt, um die Forschung durchzuführen, deren Ergebnis hier präsentiert wird.

20 Ephraim Meir, Differenz und Dialog, Münster 2011, S. 10–34; ders., „Reinterpreting Judaism in the German Context: On German-Jewish Thinkers as Jews and Germans“, in The Legacy of the German-Jewish Religious and Cultural Heritage: A Basis for German-Israeli Dialogue? Proceed­ ings of an International Conference Held at Bar-Ilan University June 1, 2005, hg. von Ben Mollov, Jerusalem 2006, S. 25–35; ders., „Reading Buber’s ‚I and You‘ as a Guide to Conflict Management and Social Transformation“, in Mollov, The Legacy, S. 119–131; ders., „The Buber-Rosenzweig Translation as Jewish Exegesis“, in Daniel Krochmalnik / Hans-Joachim Werner (Hg.), 50 Jahre Martin Buber Bibel. Beiträge des Internationalen Symposiums der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg und der Martin Buber-Gesellschaft (Altes Testament und Moderne 25), Berlin 2014, S. 87–120.

I Jüdische Dialogphilosophie und interreligiöse Theologie

Kapitel 1 Jüdische dialogische Denker und Interreligiosität Ich glaube, dass Gott alle Menschen liebt und dass Er Völkern und allen Menschen das Bewusstsein Seiner Größe, Seiner Liebe gegeben hat. Und man kann Gott in vielen Herzen finden überall auf der Welt, nicht nur in einer Nation, einem Volk, einer Religion. A. J. Heschel in einem Interview mit Carl Stern 1972 Gott, die Kompossibilität der Pluralität der Religiosität.1

Dieses erste Kapitel zeigt die Art und Weise, wie zeitgenössische jüdische Denker des Dialogs zum interreligiösen Dialog in multikulturellen Gesellschaf­ ten beigetragen haben. Darüberhinaus eröffnet es Perspektiven für weitere künftige Forschung auf diesem Gebiet. Zuallererst möchte ich einige Über­ legungen anführen, wie das Judentum sich selbst im Verlauf der Geschichte wahrgenommen hat. Im Judentum herrschte, wie auch in anderen Religionen, die Tendenz, seine eigene Religion als die einzig wahre zu präsentieren. Der Anfang des Judentums bestand darin, sich von den vorherrschenden kulturellen und religiösen Bräuchen zu distanzieren, um eine jüdische Identität zu formen. Abraham musste seine Heimat verlassen und die Kinder Israels mussten sich von der einheimischen Bevölkerung Kanaans distanzieren. In seiner prophe­ tischen Ausprägung war das Judentum eine Besonderheit, das darauf zielte, ethisch universelle Werte zu etablieren. Zu Zeiten des Talmud, als jüdisches Leben in allen seinen Details allmählich geordnet wurde, wurde Judentum als wahre Beziehung zu Gott definiert und gelebt. Doch weil das Judentum als ursprünglich ethnische Religion sich selbst nicht missionarisch darstellte, wurden andere Religionen nicht notwendigerweise als unwichtig aufgefasst. Die Äußerung der Sprüche der Väter (Pirqe Avot), die am Beginn dieses Band als Adagium zitiert wurde, bezeugt die Tatsache, dass es eine Offenheit und Respekt für jegliche Gemeinden gab, die Gott dienten. Dennoch herrschte hierarchisches Denken vor. Die frühe Konzeption der noachidischen Gesetze2 machte einen positiven Zugang zu Nicht-Juden möglich ‒ unter der Bedingung, dass sie bestimmte Gesetze einhielten. Aus jüdischer Sicht ist die Neuinterpre­ tation dieser Gesetze für die Moderne entscheidend und eine Herausforderung 1 „Dieu, la compossibilité de la pluralité des religiosités“. Emmanuel Levinas, Carnets de captivité suivi de Écrits sur la captivité et Notes philosophiques diverses, hg. von Rodolphe Calin /  Catherine Chalier, Paris 2009, S. 141. 2 Tosefta Avoda Zarah 8,4; Babylonischer Talmud Sanhedrin 56b.

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 Jüdische dialogische Denker und Interreligiosität

für eine Theologie des Anderen, in der die religiöse Unterschiedlichkeit als Gottes Wille angesehen wird.3 Die jüdischen Denker des Mittelalters Maimonides und Jehuda Halevi fassten den Islam und das Christentum als etwas auf, das dem Judentum dient: sie waren für die Welt dadurch von Bedeutung, dass sie das Kommen des davidischen Messias vorbereiteten. Die mittelalterliche Vorstellung, dass das, was den Juden verboten ist, für Nicht-Juden erlaubt und legitim sein könnte, ist ebenfalls hilfreich für den Aufbau einer dialogischen Theologie.4 In der Moderne haben jüdische Denker das Christentum hauptsächlich darum diskutiert, weil sie ihre eigene Religion verteidigen mussten. So musste z. B. Moses Mendelssohn seinen Glauben gegen die Angriffe seines christlichen Gegners Johann Kaspar Lavater verteidigen. Die meisten modernen jüdischen Denker beziehen sich aus apologetischen Gründen auf andere Religionen. Doch hat sich etwas geändert in der neuesten Zeit. Jüdische Gelehrte der letzten Jahrzehnte haben Artikel und Bücher verfasst, die eine Praxis und Theorie des Dialogs zwischen Judentum und anderen Religionen bezeugen.5 Erst vor kurzem hat eine Reihe von Beiträgen den interreligiösen Dialog aus jüdischer Sicht dargestellt und erörtert.6 Im Folgenden erläutere ich die Gedanken Martin Bubers, Franz Rosenzweigs und Abraham Joshua Heschels, da es diesen überragenden Denkern gelang, die traditionelle, polemische Haltung herauszufordern und einen dialogischeren Ansatz der Religionen einzuführen. Diese bedeutenden jüdischen Philosophen erkannten an, dass auch Andere das Recht haben, ihr Leben auf eigene Weise zu führen in Bezug auf das, was jenseits der reinen Vernunft liegt. Sie lehnten jede Form der Judenmission ab. Sie waren Menschen, die sich ganz dem jüdischen Volk widmeten und zugleich mit Anderen jenseits der Grenzen ihrer eigenen Reli­ gion kommunizierten. Aufgrund der Relevanz ihres Denkens für jede Art von interreligiösem Dialog und Theologie, erläutere ich ihre Positionen und bespreche sie jeweils kritisch, um Perspektiven für eine interreligiöse Theologie zu eröffnen, die zukünftig aufgebaut werden kann. Ich bin der erste, der solch eine Theologie in Israel einbringt. Doch bin ich nicht der erste, der über den interreligiösen Dialog schreibt. Daher beginne ich mit einer Übersicht zu Büchern und Beiträgen zeitgenössischer jüdischer Forscher zum Thema des Dialogs zwischen Judentum und anderen Religionen. 3 Ruth Langer, „Jewish Understandings of the Religious Other“, Theological Studies 64 (2003), S. 267 und 276. Der Artikel bespricht halachische Entscheidungen zum Umgang mit Christen und Muslimen aus Sicht einer jüdischen Theologie des religiös Anderen (ebd., S. 255–277). 4 Ebd., S. 276. 5 Siehe z. B. Dan Cohn-Sherbok, Judaism and Other Faiths, New York 1994; ders. (Hg.), Interfaith Theology: A Reader, Oxford 2001. 6 Alon Goshen-Gottstein / Eugene Korn (Hg.), Jewish Theology and World Religions, Oxford 2012.

 Wissenschaftliche Studien zum Dialog zwischen Judentum und anderen Religionen  

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Wissenschaftliche Studien zum Dialog zwischen Judentum und anderen Religionen Viele andere haben sich mit der Thematik des interreligiösen Dialogs auseinander­ gesetzt. Folglich kann es nicht meine Aufgabe sein, hier eine ausführliche Liste aller akademischen Studien zu diesem Thema aufzustellen. Stattdessen präsen­ tiere ich eine ausgewählte Liste von Studien zum jüdischen Dialog mit dem Chris­ tentum, Islam und Buddhismus und zum Dialog zwischen dem Judentum und der Gesellschaft im Allgemeinen. Innerhalb des Interessengebiets der Beziehung des Judentums zu anderen Religionen habe ich gute Gründe, mich auf die Begeg­ nung des Judentums mit den drei oben erwähnten Religionen zu konzentrieren. Die Berührung zwischen Judentum und Christentum ist zweitausend Jahre alt, wohingegen der Umgang mit dem Islam erst eintausenddreihundert Jahre alt ist. Juden lebten in Europa innerhalb einer vorwiegend christlichen Gesellschaft, die die jüdische Bibel mit ihnen gemeinsam hatte. In den islamischen Ländern hatten sie den Status der Dhimis und genossen ein relativ besseres Leben als unter christ­ licher Herrschaft. Juden und Muslime haben beide eine Religion, die auf Gesetzen basiert, und die muslimische Philosophie und Wissenschaft haben in großem Maße jüdisches Denken beeinflusst. Neuerdings stehen Juden auch zunehmend in Kontakt mit dem Buddhismus, was sich an dem steigenden Interesse an Meditation und dem Phänomen der „Jubus“, jüdischen Buddhisten, ablesen lässt.7 Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen jüdischen Positionen zum Dialog mit anderen Religionen würde ein faszinierendes Unternehmen darstel­ len, doch möchte ich hier eine kritische Bewertung der Beiträge der drei jüdi­ schen Philosophen, die ich bereits erwähnt habe, zum Aufbau meiner eignen Dialogtheologie bieten. Da dies im Zusammenhang mit dem steht, was neuer­ dings durch die Betrachtungen zum interreligiösen Dialog erreicht wurde, werde ich einige bekannte Werke zum Thema erwähnen. Grundlegend zur jüdischen Beschäftigung mit anderen Religionen und einer jüdischen Theologie der Reli­ gionen als solcher sind die Arbeiten von Alan Brill,8 als auch der Band von Alon Goshen-Gottstein und Eugene Korn, der eine große Bandbreite an Beiträgen zum Thema Judentum und anderen Religionen enthält.9 7 Jonathan Magonet, „Jüdische Perspektiven zum interreligiösen Lernen“, in Handbuch interreligiöses Lernen, hg. von Peter Schreiner / Ursula Sieg / Volker Elsenbast, Gütersloh 2005, S. 134–141; ders., Talking to the Other: Jewish Interfaith Dialogue with Christians and Muslims, London / New York 2003. 8 Alan Brill, Judaism and Other Religion: Models of Understanding, New York 2010; ders., Judaism and World Religions: Encountering Christianity, Islam and Eastern Traditions, New York 2012. 9 Siehe Anm. 6. Zu weiteren Fallstudien im Dialog zwischen Judentum und anderen Religionen (Hinduismus, Buddhismus, Konfuzianismus, Christentum und Islam) siehe Cathrine Cornille (Hg.), The Wiley-Blackwell Companion to Inter-Religious Dialogue, Oxford 2013.

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 Jüdische dialogische Denker und Interreligiosität

Die wissenschaftliche Literatur umfasst zuallererst jüdische Perspektiven zum Christentum.10 Von besonderem Interesse sind in dieser Hinsicht jüdische Bücher über Jesus und seinen jüdischen Hintergrund.11 Der gegenwärtige Autor hat die amerikanisch-jüdische Einstellung zum jüdisch-christlichen Dialog untersucht.12 Auf der praktischen Ebene findet der Dialog zwischen Judentum und Christen­ tum in unterschiedlichen nationalen Institutionen zum Dialog statt, die Teil der Dachorganisation International Council of Christians and Jews (ICCJ) sind. Dar­ überhinaus fördert die website des World Jewish Congress viele Aspekte des Dialogs zwischen den abrahamitischen Religionen. Auch bekannt sind die regelmäßigen Konferenzen am Shalom Hartman Institut und im Eliyah Interfaith Institute von Alon Goshen-Gottstein in Jerusalem, wo sich jüdische und christ­ liche Theologen treffen und gemeinsam diskutieren. Zum Dialog von Juden mit Christen und Muslimen kann man Jonathan Mago­ 13 net, Alon Goshen-Gottstein14 oder Alan Brill15 anführen. Ein ganzer Band der Zeitschrift The Reconstructionist ist der heutigen Begegnung zwischen Judentum 10 Vgl. z. B. David Novak, „The Quest for the Jewish Jesus“, Modern Judaism 8,2 (1988), S. 119– 138; Irving Greenberg / David Hartman in Visions of the Other ‒ Jewish and Christian Theologians Assess the Dialogue, hg. von Eugene J. Fisher, New York 1994; Fritz A. Rothschild (Hg.), Jewish Perspectives on Christianity, New York 1996; Helen P. Fry (Hg.), Christian-Jewish Dialogue: A Reader, Exeter 1996; Ephraim Meir, „David Hartman on the Attitudes of Soloveitchik and Heschel towards Christianity“, in Judaism and Modernity: The Religious Philosophy of David Hartman, hg. von Jonathan W. Malino, Jerusalem 2001, S. 253–265; Reuven Kimmelman, „Rabbis Joseph B. Soloveitchik and Abraham Joshua Heschel on Jewish-Christian Relations“, Modern Judaism 24 (2004), S. 251–271; Harold Bloom, Jesus and Yahwe: The Names Divine, New York 2005 und Michael ­S. Kogan, Opening the Covenant: A Jewish Theology of Christianity, New York 2008. 11 Amy-Jill Levine, The Misunderstood Jew: The Church and the Scandal of the Jewish Jesus, San Francisco 2006; Michael J. Cook, Modern Jews Engage the New Testament: Enhancing Jewish WellBeing in a Christian Environment, Woodstock, VT 2008; Marc Z. Brettler / Amy-Jill Levine (Hg.), Jewish Annotated New Testament. New Revised Standard Version Bible Translation, New York 2011. Zu einer Wertschätzung der letzten Studie, in welcher 50 jüdische Wissenschaftler das Neue Testament kommentieren und erläutern siehe Martin Kavka / Randi Rashkover, „Revisioning the Jewish Philosophical Encounter with Christianity“, in Jewish Philosophy for the Twenty-First Century. Personal Reflections (Supplements to the Journal of Jewish Thought and Philosophy 23), hg. von Hava Tirosh-Samuelson / Aaron W. Hughes, Leiden 2014, S. 175. 12 Ephraim Meir, „Innerjüdische Debatten über den Dialog. Hintergründe des Dokuments Dabru emet“, in Wende-Zeit im Verhältnis von Juden und Christen, hg. von Siegfried von Kortzfleisch /  Wolfgang Grünberg / Tim Schramm, Berlin 2009, S. 283–300. 13 Magonet, Talking to the Other ‒ Jewish Interfaith Dialogue with Christians and Muslims. 14 Alon Goshen-Gottstein, „A Jewish View of Islam“, in Islam and Inter-Faith Relations, hg. von Llyod Ridgeon / Perry Schmidt-Leukel, London 2007, S. 84–108. 15 Alan Brill, „Islam: Scripture, Prophecy, and Piety“ und „Islam: Scholarship and Existential Attitude“, in ders., Judaism and World Religions. Encountering Christianity, Islam and Eastern Traditions, New York 2012, S. 145–201.

 Wissenschaftliche Studien zum Dialog zwischen Judentum und anderen Religionen  

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und Islam gewidmet.16 Dieses Heft mit dem Titel „Judaism and Islam: Dialogues and Trends“ untersucht Weisen, anhand derer heute jüdische und muslimische Denker, Schriftsteller und Führungspersönlichkeiten einen Dialog schaffen. Es gibt auch eine empirische Studie zum religiösen, den Frieden fördernden Dialog zwi­ schen israelischen Juden und Muslimen in Gaza.17 Zur Ebene des Dialogs zwischen Judentum und dem nicht-theistischen Buddhis­ mus verfasste Nathan Katz einen Überblicksartikel zu den jüdisch-­buddhistischen Beziehungen.18 Unter anderem schreibt er über berühmte deutsch-jüdische Bud­ dhisten wie Nyanaponika (Sigmund Feninger) und Ayyah Khema, über das Treffen von Rabbinern und Gelehrten mit dem Dalai Lama und einer Gruppe von Buddhis­ ten, über die Anziehungskraft und die Faszination der Heimatbezogenheit des Judentums für Buddhisten und buddhistische Elemente in der jüdischen Erneue­ rungsbewegung. Jacob Jurah Teshima, ein Schüler Heschels, hat eine vergleichende Studie zwischen jüdischer Mystik und dem Buddhismus durchgeführt.19 Lassen Sie mich auch einige populäre Bücher zur Sprache bringen, die jüdisches und buddhis­ tisches Denken behandeln.20 Kennard Lipman vergleicht kabbalistische Meditatio­ nen und Praktiken mit christlichen und buddhistischen Kontemplationstechniken und –konzeptionen.21 Ganz allgemein spielt Mystik eine zentrale Rolle im jüdischbuddhistischen Dialog.22 Man könnte ohne weiteres dieser Reihe von Arbeiten andere Bücher und Bei­ träge hinzufügen und ich bin sicher, dass die Liste im nächsten Jahrzehnt bedeu­ tend anwachsen wird. Die vorangehende Auflistung bezeugt die Tatsache, dass 16 The Reconstructionist 72,1 (2007). 17 Ephraim Meir / Ben Mollov / Chaim Lavie, „An Integrated Strategy for Peacebuilding: Judaic Approaches“, Die Friedens-Warte. Journal of International Peace and Organization 82, 2–3 (2007), S. 137–158. 18 Nathan Katz, „Buddhist-Jewish Relations“, in Buddhist Attitudes to Other Religions, hg. von Perry Schmidt-Leukel, St. Otilien 2008, S. 269–293. 19 Jacob Teshima, Zen Buddhism and Hasidism, Lanham 1995. 20 Rodger Kamenetz, The Jew in the Lotus: A Poet’s Rediscovery of Jewish Identity in Buddhist India, New York 1995 bespricht die Übereinstimmung zwischen tibetanisch-buddhistischem und jüdischem Denken. Sylvia Boorstein, That’s Funny, You Don’t Look Buddhist: On Being a Faithful Jew and a Passionate Buddhist, San Francisco 1996 verknüpft jüdische mit buddhistischen An­ sichten. Auch David M. Bader, Zen Judaism. For You, a Little Enlightenment, New York 2002 ver­ mittelt eine (amüsante) Kombination von jüdischer und buddhistischer Kultur. 21 Kennard Lipman, Kingdoms of Experience. The Four Worlds of Kabbalah as Prayer and Meditation, Berkeley, CA 2011. Jonathan Garb, Shamanic Trance in Modern Kabbalah, Chicago /  London 2011. 22 Perry Schmidt-Leukel, „Die Bedeutung der Mystik im jüdisch-buddhistischen und isla­ misch-buddhistischen Dialog“, Zeitschrift für Missions- und Religionswissenschaft 97,3–4 (2013), S. 181–193.

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 Jüdische dialogische Denker und Interreligiosität

das Interesse an Interreligiosität und an der Begegnung zwischen den Kulturen ständig steigt in unserer zunehmend vereinten Welt. In einer besonderen Art des Dialogs kann Religion als Strategie des Konflikt­ managements verwendet werden. Marc Gopins Arbeit ist ein guter Ausgangs­ punkt für dieses Unternehmen.23 Die Zuwendung zur Religion als mögliches Forum zur Schaffung friedlicher Gesellschaften wird besonders wichtig in Hin­ blick auf die weit verbreitete Assoziation von Religion mit Gewalt, welche ausgie­ big erörtert wurde.24 Man muss anerkennen, dass ein Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt existiert, doch die Praxis und das Studium der Religion als eine mögliche Kraft zur Gründung einer Zivilisation kann Gewalt mindern oder zumindest aussetzen. Schließlich kann ein Dialog zwischen Religion und modernen Werten wie Demokratie, Menschenrechte oder Gleichstellung stattfinden.25 In solchem Dialog wie auch in einer dialogischen Hermeneutik hat man die Möglichkeit, reli­ giöse Quellen neu zu lesen und den marginalen Stimmen Kraft zu verleihen, die dem zwischenmenschlichen Bereich den Vorzug geben.26 Zudem kann man Texte der Tradition in Erinnerung rufen, die zum Dialog beitragen, wie z. B. Midrasch Genesis Rabba 17,5, wo die Tora vom Sinai als Ersatz, als eine unvollkommene 23 Gopin ist der Autor von Between Eden and Armageddon: The Future of World Religions, Viol­ ence and Peacemaking, Oxford 2000 und Holy War, Holy Peace: How Religions Can Bring Peace to the Middle East, Oxford 2002 sowie To Make the Earth Whole: Creating Global Community in an Age of Religious Militancy, Lanham 2009. 24 In den letzten Jahren sind zahlreiche Bücher zu diesem Thema erschienen. Jan Assmann assoziiert den Monotheismus mit einer problematischen Unterscheidung zwischen dem Selbst und dem Anderen. Siehe Jan Assmann, Moses der Ägypter: Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998; ders., Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2003. Assmann behauptet, dass der Monotheismus, der den Kosmo-Theimus ersetzt hat, das Andere nicht mehr neben dem Eigenen erkannte. Die mosaische Unterscheidung stellte den Anderen dem Selbst gegenüber, Wahrheit gegen Lüge, Glaube gegen Unglaube. Das Ergebnis war ein theonomes Individuum in der deuteronomistischen Theologie nach dem Untergang Judas und dem babylonischen Exil. Assmann erwähnt, dass das Christentum die Tür zu Anderen geöffnet habe, doch dies geschah auf exklusive und aggressive Weise. Das Problem von Assmanns These liegt darin, dass er von einem globalen Bewusstsein ausgeht, in dem der Andere ein anderes Ich ist, im Gegensatz zu einem universellen Bewusstsein, in dem die Andersheit die Voraussetzung darstellt, um ein vollkommenes Bild der höheren Wirklichkeiten zu bekommen. Siehe Eric L. Santner, On the Psychotheology of Every Day Life. Reflections on Freud and Rosenzweig, Chicago 2001 und Ephraim Meir, Identity Dialogically Constructed, Nordhausen 2011, S. 10–26. 25 Hans Joas, „Values and Religion. The Transmission of Values and Interreligious Dialogue Today“, in Religions and Dialogue: International Approaches, hg. von Wolfram Weiße / Katajun Amirpur / Anna Körs / Dörthe Vieregge, Münster 2014, S. 39–40. 26 Siehe z. B. Einat Ramon, „The Matriarchs and the Torah of Hesed (Loving-Kindness)“, Nashim: A Journal of Jewish Women’s Studies and Gender Issues 10 (2006), S. 154–177.



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Version der göttlichen Weisheit (novèlèt hokhma shel ma‘alah Torah) aufgefasst wird, welche im Grunde viel größer ist als sich je ein Mensch vorzustellen vermag. Solch ein Standpunkt kann zu einer „Hermeneutik der Demut“27 führen. Unter der Voraussetzung der Pluralität von Interpretationen innerhalb des menschli­ chen Daseins, brauchen wir andere Lesarten, die unsere eigene Deutung ergän­ zen oder herausfordern können.28 Die vorangehende Liste könnte leicht um Untersuchungen zum jüdischen Dialog mit anderen Religionen und spirituellen Weltanschauungen erweitert werden. In den letzten Jahren haben solche Studien nicht nur einen blühenden Aufschwung erfahren, sondern man begegnet einer völlig neuen Form der Theo­ logie, welche als dialogische Theologie bezeichnet werden kann. Das Zusam­ menspiel zwischen Religionen fordert eine Reflexion über und eine Theorie des Dialogs. In meinem eigenen Beitrag zur Etablierung einer dialogischen Theologie bin ich von bestimmten jüdischen Denkern beeinflusst worden, die in großem Maße zu solch einer Theologie beigetragen haben. Daher wende ich meine Auf­ merksamkeit nun Martin Buber, Franz Rosenzweig und Abraham Joshua Heschel zu, welche alle wesentlichen Beiträge zu einer dialogischen Praxis und einer dia­ logischen Theorie geleistet haben.

Martin Mordechai Buber (1878–1965) Religionen und Religiosität Mit der Einnahme eines kritischen, meta-religiösen Standpunktes zog Buber die Religiosität der Religion vor. Diese Haltung, die Georg Simmels Unterscheidung zwischen Religion und Religiosität radikalisierte, ließ es für Buber zu, dem Chris­ tentum Gewicht zu verleihen und es als eine Art des Dienstes an Gott neben das Judentum zu stellen. In seiner Überlegung zur Religiosität innerhalb und über­ halb der Religionen war Buber kritisch gegenüber einer gnostischen Weise der Religion, die nicht mit der Welt verbunden war, und er verortete die Beziehung zu Gott innerhalb der Begegnung zwischen Subjekten. In seinem Meisterwerk Ich und Du, kann man nur durch die Nähe zum Anderen eine Ahnung des immer gegenwärtigen, ewigen Du erahnen. Folglich ist Gott nie das Objekt unserer Gedanken, ein „Es“, sondern Er muss als ein „Du“ angespro­ chen werden. Die Erniedrigung Gottes zu einem „Es“ war das ewige Problem der Religionen, die Gott „besitzen“ wollten und Ihn stets verfügbar machten. In den 27 Ich übernehme den Begriff von Wolfram Weiße. 28 Hans Joas, „Values and Religion“, S. 35.

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Religionen will man „Gott haben“.29 Im Gegensatz dazu wird wahre Religiosität oder die echte Begegnung mit dem ewigen Du als etwas verstanden, das sich in Offenheit zu den anderen Menschen ereignet. Glaube und Kult können verfallen und die lebendige, ganzheitliche „Ich-Du“-Beziehung in eine Beziehung auf einer niedrigeren Stufe, die fragmentarische „Ich-Es“-Beziehung zwischen Subjekt und Objekt erstarren lassen. Umgekehrt können dank der lebendigen Beziehung Kult und Glaube immer wieder zur Gegenwärtigkeit werden.30 Bubers Vorstellung von Religiosität als reine Gegenwärtigkeit bietet eine Alternative zum magischen oder gnostischen Zugang zu Gott, der seiner Meinung nach jede wahre Religio­ sität bedroht. In magischen Praktiken werden kindliche Methoden angewandt, um das ewige Du zu beherrschen. Im geheimen Wissen der Gnosis meint man, die göttliche Wirklichkeit völlig zu verstehen. Doch beide nehmen die Möglich­ keit wahrer Begegnung nicht wahr, die den Anderen nicht beherrscht und seine Andersheit nicht auflösen will.31

Jüdisch-christlicher Dialog In der Anwendung seines dialogischen Denkens beachtet Buber vor allem das Christentum. Er war selbst aktiv am jüdisch-christlichen Dialog beteiligt. So gehörte er z. B. dem multireligiösen „Forte-Kreis“ an, dessen Mitglieder im Juni 1914, kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, zusammenkamen und sich um eine friedvolle Gesellschaft in Europa bemühten. Bei diesem Treffen gab Buber seiner Überzeugung Ausdruck, dass Juden Jesus auf seinem jüdischen Hin­ tergrund angemessen verstehen könnten. 36 Jahre später verfasste er ein ganzes Buch zu diesem Thema. 1926 rief er die Zeitschrift „Die Kreatur“ ins Leben, die er gemeinsam mit dem protestantischen Arzt Viktor von Weizsäcker und dem katholischen Theo­ logen Joseph Wittig herausbrachte. Diese Zeitschrift wurde bis 1930 veröffent­ licht und laut Buber war ihr erklärtes Ziel, einen ernsthaften Dialog zwischen den unterschiedlichen Religionen, die als Häuser des Exils verstanden wurden, zu etablieren.32 Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm Buber seinen Dialog mit den Christen in Deutschland wieder auf und, wie Maurice Friedman korrekt bemerkt, 29 Martin Buber, Ich und Du, Stuttgart 2009, S. 109. 30 Ebd., S. 113. 31 Martin Buber, „Der Glaube des Judentums“, in ders., Kampf um Israel. Reden und Schriften (1921–1932), Berlin 1933, S. 41–45. 32 Maurice Friedman, Encounter on the Narrow Ridge. A Life of Martin Buber, New York 1991, S. 192–195.



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war dies „ein wichtiger Teil einer ganz neuen Phase seines Engagements im jüdisch-christlichen Dialog.“33 In der Tat veröffentlichte Buber 1950 sein Buch Zwei Glaubensweisen beim Manesse Verlag in Zürich.34 Im Vorwort dieses Buches stellt er fest, dass er nicht apologetisch sei, obwohl man Zweifel haben könne, ob er völlig frei von apologetischen Tendenzen sei.35 Er unterscheidet zwischen emuna, Vertrauen, und pistis, Glaubenslehre. Emuna sei im Judentum vorherr­ schend, während pistis im dogmatischen Christentum dominant sei. Indem er Jesus innerhalb der Geschichte des Judentums verortet, forderte Buber die Chris­ ten dazu heraus, Jesus von seinem jüdischen Lebenshintergrund her, innerhalb der Tradition der emuna, zu verstehen. Zu einem großen Teil deckt sich Bubers Unterscheidung zwischen emuna und pistis mit seiner Differenzierung zwischen „Ich-Du“ und „Ich-Es“ in seiner Schrift Ich und Du. Des Weiteren überschneiden sich die Unterscheidung zwischen Reli­ giosität bzw. prophetischer Haltung und Religion bzw. priesterlicher Ordnung. In seiner exegetischen Arbeit stellt Buber häufig die prophetische Haltung der pries­ terlichen gegenüber. Die Gegensätze, die er in der Bibel ausmacht, spiegeln seine eigene Haltung gegen die institutionalisierte Religion wider. Prophetische und priesterliche Standpunkte findet man sowohl im Judentum als auch im Christen­ tum, doch Bubers Ansicht nach ist der Akzent auf der prophetischen Religiosität im Judentum eindeutiger präsent. Buber war sich durchaus des Unterschieds zwischen Judentum und Christen­ tum bewusst und er verwischte nie die Besonderheit jeder der beiden Religio­ nen, doch war er der Meinung, dass in der Eschatologie diese aus den „Exilen der Religionen“ im Königtum Gottes eingesammelt werden würden.36 Diese eschato­ logische Perspektive ließ die Religionen relativ werden und band sie auf radikale Art in den Dienst des Königtum Gottes ein, das nicht mit nur einer bestimmten Religion identifiziert werden sollte. Buber errichtete Brücken zwischen den verschiedenen Religionen und seine Haltung der Trans-Differenz ermöglichte es ihm, sich in der interreligiösen Begeg­ nung wohl zu fühlen, wie z. B. mit solchen Leuten wie dem Schweizer Theologen 33 „[This] was an important part of a whole new phase of his involvement in Jewish-Christian dialogue“, ebd., S. 315–332, insbesondere S. 315. 34 Martin Buber, „Zwei Glaubenweisen“, in ders., Werke. Erster Band. Schriften zur Philosophie, Kösel 1962, S. 651–782. 35 Ebd., S. 657: „Es braucht kaum gesagt zu werden, dass mir alle apologetische Tendenz fern liegt.“ 36 Ebd., S. 782: „Der Glaube des Judentums und der Glaube des Christentums sind, in ihrer Weise, wesensverschieden, jeder seinem menschlichen Wurzelgrund gemäss, und werden wohl wesensverschieden bleiben, bis das Menschengeschlecht aus den Exilen der ‚Religionen‘ in das Königtum Gottes eingesammelt wird.“

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Leonhard Ragaz oder dem deutsch-amerikanischen Theologen Paul Tillich. Er wollte aufrichtig den Christen beibringen, dass Jesus nur vor seinem jüdischen Hintergrund begriffen werden könne. Wichtig war für ihn der Austausch mit Christen und die Hoffnung, dass sie Jesus mit anderen Augen sehen und lernen könnten, was sie über die Jahrhunderte hinweg versäumt hatten: dass die jüdi­ sche emuna nicht durch die hellenistische pistis ersetzt werden sollte. Der Unter­ titel von Zwei Glaubensweisen in der englischen Übersetzung ist in dieser Hinsicht von Bedeutung: „Eine Studie zur Durchdringung von Judentum und Christentum“ („A Study of the Interpenetration of Judaism and Christianity“). Die eine Religion kann von der anderen lernen, da sie sich gegenseitig „durchdringen“.

Ein Bindeglied zwischen Judentum und Christentum In seinen Zwei Glaubensweisen erkannte Buber Jesus nicht als Vermittler zwischen Gott und Mensch, als „Christus“, an den man glauben muss, an. Doch nahm er ihn durchaus als Bindeglied zwischen Juden und Christen ernst. Buber wollte ein Lehrer für die Christen sein. Er glaubte nicht an Jesus, sondern mit dem Glauben Jesu. Er verortete ihn in die Geschichte des Messianismus und betrachtete ihn als jemanden mit messianischen Kräften, als einen leidenden Gottesknecht des Herrn, ein Pfeil, der aus Gottes Köcher kam, eine messianische Gestalt, die aus der Verborgenheit heraustrat.37 Auf diese Weise war er der Ansicht, eine gemein­ same Plattform für Juden und Christen geschaffen zu haben. Als jemand, der viele Jahre lang über die Bibel und die jüdische Kultur geschrieben hatte, hatte er die Hoffnung, dass die Juden Jesus einen Platz in der Geschichte des Messianismus und der Gottesknechte einräumen würden. Er ermahnte die Christen zur Anerken­ nung der Zugehörigkeit Jesu zum Judentum und dass man ihn nicht von seinem ursprünglichen Sitz im Leben herauslösen könne, indem man ihn als Christus der paulinischen Theologie und der Dogmen neu präsentiere. Zugleich widersprach er den jüdischen Fundamentalisten, die nichts von Jesus oder dem Christentum hören wollten. Er war der Ansicht, dass er einen gemeinsamen Grund für Juden und Christen ins Leben gerufen habe. Buber betrachtete Jesus als seinen „großen Bruder“: „Mein eigenes brüder­ lich aufgeschlossenes Verhältnis zu ihm ist immer stärker und reiner geworden, und ich sehe ihn heute mit stärkerem und reinerem Blick als je.“38 Jesus war für ihn eine Person, die völlig in die jüdische Tradition eingebunden war und die danach strebte, dass die Menschen nicht die Innerlichkeit vergaßen und alle 37 Friedman, Encounter on the Narrow Ridge, S. 316. 38 Buber, „Zwei Glaubensweisen“, S. 657.



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Einzelheiten des täglichen Lebens heiligten. Sein Jesus war nicht dualistisch oder gnostisch, er war wie ein Chassid, der jeden Aspekt des Alltags heiligt und die Intention und die Innerlichkeit hervorhebt. Bubers Jesus stand in Beziehung zur Welt, die geheilt und dem Königreich Gottes entgegengebracht werden musste. Sein ganzes Lebens lang war Buber nicht am Christus der Kirche interessiert, sondern er schrieb ausführlich über Jesus als einen besonderen dialogischen Menschen und als einen jüdischen Sohn Gottes: […]: wie gewaltig, bis zur Überwältigung, ist das Ichsagen Jesu, und wie rechtmäßig, bis zur Selbstverständlichkeit! Denn es ist das Ich der unbedingten Beziehung, darin der Mensch sein Du so Vater nennt, daß er selbst nur noch Sohn und nichts andres mehr als Sohn ist. Wann immer er Ich sagt, er kann nur noch das Ich des heiligen Grundworts meinen, das sich ihm ins Unbedingte hob. Rührt ihn je die Abgelöstheit an, die Verbundenheit ist größer; und nur aus ihr redet er zu den andern. Vergebens sucht ihr dieses Ich auf ein in sich Mächtiges oder dieses Du auf ein in uns Wohnendes einzuschränken und wieder einmal das Wirkliche, die gegenwärtige Beziehung, zu entwirklichen: es bleiben Ich und Du, jeder kann Du sprechen und ist dann Ich, jeder kann Vater sprechen und ist dann Sohn, die Wirk­ lichkeit bleibt.39

Buber hob hervor, dass der Vorgang des Nahebringens des Reiches Gottes zur Erde Leiden mit sich bringt, da man verantwortlich die Last des Anderen auf sich nimmt. Seine Vorstellung von Gott, der mit dem leidenden Gerechten (tzaddiq) leidet, erinnert an Heschels Theopaschismus (Mit-Leiden Gottes).40 Doch hätte Heschel niemals Bubers für einen Juden außergewöhnliche Haltung Jesu gegen­ über übernommen. Für Buber war Jesus der leidende Gottesknecht aus Deute­ rojesaja. In seiner exegetischen Studie Der Glaube der Propheten sieht er im leidenden Gottesknecht eine individuelle Person in jeder Generation. Abraham, Moses und David sind Diener Gottes und die höchste Steigerung dieser Reihe von Dienern ist der leidende Gottesknecht aus Deuterojesaja, der nahe bei Hiob liegt. Darüberhinaus identifizierte Buber den leidenden Gottesknecht mit ganz Israel in der Schoah.41 Er war ernsthaft der Meinung, dass sein Verständnis Jesu als 39 Buber, Ich und Du, S. 65. 40 Siehe Susannah Heschel, „The Revival of Theopaschism in Post-World War II Theology“, in Judaism, Topics, Fragments, Faces, Identities. Jubilee Volume in Honor of Rivka Horwitz, hg. von Haviva Pedaya / Ephraim Meir, Beer-Sheva 2007, S. 69–86. Susannah Heschel berich­ tet vom Einfluss der Idee ihres Vaters zum Mit-Leiden Gottes auf Theologen in Deutschland. Wenn im Folgenden nicht Susannah Heschel angegeben wird, bezieht sich Heschel auf Abraham Joshua Heschel. 41 Auf den letzten beiden Seiten der hebräischen Ausgabe von Der Glaube der Propheten aus dem Jahr 1942 (!) spricht er vom Messias nicht als Individuum, sondern als Name für das jüdische Volk. Er spricht von ganz Israel als „Eved“ (Diener). Israel, so schreibt er, kennt das „Leidensmys­ terium“, doch auf all seinen Wegen erkennt es Gott als Hirten und „Führer“ (sic). Buber, Werke.

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leidender Gottesknecht die dualistischen, gnostischen Tendenzen im Christentum vermindern und aufheben könne. Mit seiner Unterscheidung zwischen „Glaube an“ (pistis), „Glaube“ und „bedingungslosem Vertrauen“ (emuna) formulierte er seine philosophischen Kategorien von Ich-Es und Ich-Du neu und wandte sie auf den Bereich der Reli­ gion an. In der erhofften Renaissance des Judentums würde Jesus als jemand anerkannt werden, der zum Vater „Du“ sagte. Er wäre ein „Sohn Gottes“, der aus der Gemeinschaft der „Söhne Gottes“ hervorsprießt. In Bubers dialogischer Per­ spektive verhielt sich die emuna der Religiosität stets kritisch gegenüber einem festgesetzten Glauben der Religionen.

Kritische Bewertung Religion ohne Tat? Es ist löblich, dass Buber über die Verbindung des Judentums mit moralischem Handeln und gesellschaftlicher Erneuerung schrieb. Buber war in diesem Sinne nicht gegen das jüdische Gesetz. Er befolgte zwar nicht die jüdischen Zeremoni­ algesetze, doch brachte er jüdische Religiosität und ethische Verhalten als Zwil­ lings-Realität zusammen, als zwei Seiten derselben Münze. Taten machen seiner Meinung nach das Judentum aus. Man könnte entgegnen, dass auch das Christentum nicht ohne Taten aus­ kommt. Christliche Befreiungstheologen in Südamerika wollten z. B. die gesell­ schaftlichen Gruppierungen beeinflussen und einen Übergang von der Diktatur zu gerechteren und demokratischen Systemen fördern.42 Progressive Kreise im Christentum wollten und wollen noch immer die Gesellschaft reformieren. Dieses Ziel wird ganz besonders auf der inspirierenden Grundlage des christli­ chen Glaubens angestrebt. Daher ist es fraglich, ob man emuna als existenzielle Grundhaltung eher dem Judentum als dem Christentum zuschreiben kann. Mit seinen paulinisch-augustinischen Ursprüngen hat sich ein Teil des Christentums in eine Religion entwickelt, in der Taten zweitrangig sind, da man glaubt, dass Jesus die sündige Menschheit aus reiner Gnade, sola gratia, erlöst habe. Doch kann man wahrhaft sagen, dass das ganze heutige Christentum sich so versteht? Ersetzt der paulinische Gott, der, laut Buber, richtet und über die Sünden der Zweiter Band. Schriften zur Bibel, München / Heidelberg 1964, S. 483–484. Friedman, Encounter on the Narrow Ridge, S. 291–292. 42 Siehe z. B. die theologischen Ansätze von Camillo Tores, Paulo Freire, Gustavo Gutiérrez und Leonardo Boff. Vgl. Hermann Brandt, Art. „Theologie“, in Theologische Realenzyklopädie, hg. von Gerhard Müller u. a., Berlin 2002, Sp. 306–311.



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Menschen erzürnt ist, noch immer den wohlwollenden Vater, der die Menschen liebt?43 Ist der liebende Vater und der fordernde König des Judentums (avinu malkenu), der die Umkehr des Menschen will, nicht auch im zeitgenössischen Christentum gegenwärtig? Fliehen Christen heute in gnostischem Sinne vor der Welt? Sie haben zwar nicht die mitzwot (Gebote) als gebotene Taten, die das all­ tägliche Leben regulieren, doch entbehren sie sicherlich nicht ethischen Forde­ rungen, die laut Buber zu authentischer Religiosität gehören. Viele Christen – damals und heute – unterschätzen keineswegs den Stellenwert der Tat. Anders gesagt, heute leben Christen auch in emuna, nicht nur in der pistis. Anderseits ist auch das Judentum heute aus einem rein soziologischen Standpunkt nicht frei von dogmatischem Denken. In der Tat ist im Judentum eine Ich-Es Haltung möglich, wie auch im Christentum eine Ich-Du Haltung möglich ist. Das ganzheit­ liche „Ich-Du“ wie auch das bruchstückhafte oder funktionale „Ich-Es“ sind in jeder Religion vorhanden. Daher ist Bubers Unterscheidung zu typologisch und entspricht nicht der Wirklichkeit, die sich komplexer darstellt. Entgegen seiner eigenen Anmerkung am Anfang der Zwei Glaubensweisen bleibt Buber in seinem Buch apologetisch. Selbstverständlich sind Apologien nicht notwendigerweise polemisch, doch setzt Buber emuna zu exklusiv und zu typologisch auf die Seite des Judentums.

Apokalyptische Elemente Buber hat zu recht apokalyptische Momente in der paulinischen Theologie be­­ obachtet. Er stellte diese apokalyptisch-deterministischen Aspekte der freien Tat der „Umkehr“ entgegen, die das zerbrochene Verhältnis zwischen Mensch und Gott wieder herstellte und zu einer prophetischen Erneuerung der Gesellschaft führte. Auf parallele Weise stellte er in seiner Schrift Gog und Magog die apoka­ lyptisch-magische Vision des Sehers von Lublin dem Weltbild des heiligen Juden entgegen, der die napoleonischen Kriege und Drangsale nicht als Vorläufer des Messias interpretierte. Der heilige Jude verlangte von seinen Schülern eine kon­ krete Umkehr zu Gott anhand der Umkehr der gesamten Seele zu dem jüdischen Mitmenschen.44 Meines Erachtens sind die apokalyptischen Aspekte, die Buber in den paulinischen Schriften und im Verhalten des Sehers von Lublin erkennt und beschreibt sowohl im Judentum als auch im Christentum vorhanden und auch zudem in deren jeweiliger säkularisierten Form. Des Weiteren frage ich mich, ob 43 Buber, „Zwei Glaubensweisen“, S. 756. 44 Martin Buber, „Gog und Magog. Eine Chronik“, in ders., Werke. Dritter Band. Schriften zum Chassidismus, München / Heidelberg 1963, S. 999–1261.

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die anti-apokalyptischen Elemente, die sicherlich die meisten Schriften der jüdi­ schen Bibel charakterisieren, nicht auch in der gegenwärtigen Gestalt des Chris­ tentums greifbar sind. Ich gehe davon aus, dass sowohl apokalyptische als auch anti-apokalyptische Aspekte in beiden Religionen gegenwärtig sind und dass die zwischenmenschlichen Beziehungen und Begegnungen das Merkmal wahrer Religiosität in beiden Glaubensrichtungen bleiben.

Ein Lehrer für Christen Durch seine Schriften zur Bibel und sein Buch über Christentum und Judentum hat Buber viele Christen inspiriert. Er stellte Jesus als einen messianischen Men­ schen dar, der zur teshuva (Umkehr) aufrief. Jesus hatte einen Glauben, der sich in Taten Ausdruck verlieh, doch den Schwerpunkt auf die eigene Innerlichkeit legte, auf die Art wie man die Gebote erfüllt. Auf diese Weise reinigte Buber Jesus von seinem dogmatischen Gewand, in das er von seinen Nachfolgern seit Paulus nach seinem Tod gehüllt worden war. Auf dieselbe Art wie Buber versuchte David Flusser in seiner historischen Untersuchung Jesus von seinen jüdischen Wurzeln her zu verstehen.45 Buber und Flusser legten dadurch beide, jeder auf seine Weise, Grundlagen für einen fruchtbaren und anspruchsvollen Dialog zwischen Judentum und Christentum.

Interreligiöses Lernen und Brückenbauen Buber hatte die Absicht ein Konstrukt zu errichten, das wir heute interreligiösen Dialog und interreligiöse Theologie nennen. Aus seiner Sicht konnte das Juden­ tum vom Christentum lernen und umgekehrt. Christen glauben individuell, doch können sie von Juden lernen, die Konsequenzen ihres Glaubens auf kollektiver Ebene zu sehen. Auf ähnliche Weise können Juden mit ihrem Interesse am Kollek­ tiv von den Christen lernen, dass auch der Einzelne wichtig ist.46 Diese Bemerkung am Ende von Bubers Buch zu den zwei Glaubensweisen führt zu einer wahren interreligiösen Haltung, in der man offen ist, neues vom Anderen zu lernen auf der Suche nach einem gelungenen Leben angesichts der letzten Wirklichkeit. Bubers prophetische Vision über die künftige Begegnung der Religionen führt nicht zu einer bloßen Kultur der Vielheit, sondern sie stimuliert vielmehr den ergiebigen Austausch zwischen den Religionen – eine Interkulturalität und Inter­ religiosität. Seine Anerkennung der messianischen Kräfte Jesu und sein Glaube an die Notwendigkeit der Gottesknechte während der gesamten Geschichte baut 45 Siehe David Flusser, Judaism and the Origins of Christianity, Jerusalem 1988. 46 Buber, „Zwei Glaubensweisen“, S. 782.



Franz Rosenzweig (1886–1929) 

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Brücken jenseits unvermeidbarer Differenzen. Juden und Christen können sich sogar durch die Figur Jesu, nicht als letzten Messias, sondern als jemanden, dessen historischer Lebensstil für beide Religionen exemplarisch ist, verbinden.

Unterschiede Ich frage mich, ob Buber in ausreichendem Maße die Unterschiede zwischen Judentum und Christentum berücksichtigt, wenn er sich zu zeigen bemüht, dass das frühe Christentum seine Wurzeln im Judentum hatte. In seinem Bemühen zu einer Einheit zu gelangen, in seinem Streben zur Verwirklichung der „Trans-­ Differenz“, hat er das Christentum nicht genügend in seiner Autonomie als Welt­ religion gewürdigt, das eine besondere Weise darstellt, in der man sein Leben angesichts der letzten Wirklichkeit führt. Sein Versuch, das Christentum näher an das Judentum heranzubringen muss begrüßt werden. Doch hat er ausreichend das christliche Selbstverständnis als etwas gewürdigt, das im Judentum seinen Ursprung nimmt und zugleich den Horizont desselben erweitert und dieses der ganzen Welt bringt?

Franz Rosenzweig (1886–1929) Auch Rosenzweig hat sich stark, aus biographischen Gründen mit dem Christen­ tum beschäftigt.47 In seinem Stern der Erlösung48 konzipierte er Offenbarung als das göttliche Ansprechen an jeden einzelnen Menschen. Gott gebietet dem Men­ schen „Du sollst lieben“. Dadurch schuf Rosenzweig eine gemeinsame Grundlage für Juden und Christen und erörterte die übergeordnete Kategorie der Offenba­ rung, bevor er die unterschiedlichen Aufgaben des Judentums und des Chris­ tentums im Erlösungsprozess analysierte. Das göttliche Gebot als Grundlage der Offenbarung ermöglichte es Rosenzweig Judentum und Christentum als Zwillings­ religionen zu behandeln, die sich gegenseitig kritisch gegenüberstehen, doch sich auch gegenseitig ergänzen: in ihrer Antwort auf die gemeinsame Offenbarung hat jede ihre eigene Besonderheit. Beide Religionen, die er in Hinblick auf ihren Festtagskalender untersucht, sind Antworten auf die göttliche Offenbarung. Doch stellt Rosenzweig im Stern das Judentum über das Christentum, wie dies auch die mittelalterliche Philosophen Jehuda Halevi und Maimonides getan hatten. 47 Siehe Ephraim Meir, Star from Jacob: Life and Work of Franz Rosenzweig, Jerusalem 1994 (Hebräisch); ders., Letters of Love. Franz Rosenzweig’s Spiritual Biography and Oeuvre in Light of the Gritli Letters (Studies in Judaism 2), New York 2006. 48 Franz Rosenzweig, Stern der Erlösung.

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Institutionelle Formen von Religion Anders als Buber, der einer verfestigten Form der Religionen kritisch gegenüber­ stand, war Rosenzweig an den institutionellen Formen des Judentums und des Christentums interessiert. Im dritten Teil seines Sterns bespricht er die liturgi­ schen Strukturen in Judentum und Christentum. Während Buber einen antiinstitutionellen Zugang zu beiden Religionen hatte, schenkte Rosenzweig dem institutionellen Gebet Beachtung, um das Selbstverständnis von Judentum und Christentum aufzuzeigen. Zugleich hielt sich Rosenzweig davor zurück, Juden­ tum und Christentum als institutionelle „Religionen“ zu verstehen, sondern er betrachtete sie eher als Lebensweisen, die eine Antwort auf das göttliche Gebot gaben, welches er als gemeinsame Grundlage beider ansah.

Fernöstliche Religionen und Islam im „Stern“: Rosenzweigs Makel Leider schrieb Rosenzweig im dritten Teil des Sterns nur über das Judentum und das Christentum als heilsbringende Religionen. Im dritten Buch dieses Teils, der eine Vielzahl von Reaktionen auf die Offenbarung behandelt, sind Christentum und Judentum die einzigen Protagonisten. Sie erscheinen in Bezug auf die Negativfolie des Islam. Der Islam wird nur im zweiten Teil des Sterns besprochen und nicht als eine Religion dargestellt, die zur Erlösung der Welt etwas beiträgt, da er Offenbarung nicht als liebende Beziehung Gottes zu den Menschen versteht. Auch fernöstliche Religionen werden als minderwertig gegenüber den Zwillingsreligionen Judentum und Christentum betrachtet und nur im ersten Teil des Sterns angesprochen. Sie haben kein Verständnis für die Beziehungen zwischen Gott, Welt und Mensch, die er im Stern zur Schöpfung (als der Beziehung zwischen Gott und der Welt, Teil 1), Offenbarung (als der Beziehung zwischen Gott und Mensch, Teil 2) und Erlösung (als der Beziehung des Menschen zur Welt, Teil 3) ausgeführt hat. Wayne Cristaudo von der Charles Darwin Universität in Australien ist der Meinung, dass Rosenzweigs Sicht des Islam gerechtfertigt ist, und David Paul Goldman, der Verfasser der „Spengler“ Kolumne in der Asia Times Online, betrachtete Rosenzweigs Einschätzung des Islam sogar als prophetisch. Diese radikalen Ansichten wurden von vielen anderen zu Recht angefochten. Robert Gibbs, Michael Oppenheim, Peter Gordon, Yossef Schwartz, Gesine Palmer und Gil Anidjar sind alle der Meinung, dass Rosenzweigs Behandlung des Islam vor­ eingenommen ist und die Erarbeitung einer ernsthaften interreligiösen Theolo­ gie behindert.49 Ich bin mit anderen der Meinung, dass Rosenzweigs Ausschluss 49 Martin Brasser (Hg.), Kritik am Islam (Rosenzweig Jahrbuch 2), Freiburg / München 2007.



Franz Rosenzweig (1886–1929) 

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des Islam aus dem Erlösungsprozess der Welt das Ergebnis seiner Übernahme von Hegels Einschätzung des Islam war. Dies ist ein störendes Vorurteil und trägt nicht zum Aufbau eines interreligiösen Dialogs und einer Theologie der Trans-Dif­ ferenz bei. Im Stern entwickelte Rosenzweig eine dialogische Einstellung zum Christentum, doch nicht zum Islam, Hinduismus oder Buddhismus. Doch könnte und sollte sein dialogischer Zugang zum christlichen Anderen auf außerbiblische religiös Andere ausgeweitet werden.50

Übersetzung: Möglichkeiten und Probleme In seiner Beziehung mit der Schweizer Christin Gritli Rosenstock-Huessy (1893– 1959),51 wurde Rosenzweig zum Spezialisten für „Übersetzung“, indem er eine dialogische Hermeneutik ins Leben rief, die für jeden interreligiösen Dialog grundlegend ist.52 Im Gegensatz zu Rosenzweigs interreligiösem Austausch mit Gritli, der auf dialogische Weise das Judentum und das Christentum erörtert, ist seine Korrespondenz mit Eugen Rosenstock (1888–1973) weitgehend apologetisch und polemisch. Rosenzweig war gezwungen seine „verachtete“ jüdische Religion gegenüber Eugen zu verteidigen, der das Judentum mit der Ankunft Jesu als ver­ gangen betrachtete. Rosenzweigs Briefwechsel mit seinen Cousins Hans und Rudolf Ehrenberg ist ebenfalls apologetischer Natur. Der gesellschaftliche Druck auf Rosenzweig, Christ zu werden, war enorm. Er verteidigte die verachtete Reli­ gion des Judentums so, wie dies Jehuda Halevi Jahrhunderte vor ihm getan hatte, und weigerte sich, die Sicht Eugens zu übernehmen, der die Relevanz des Juden­ tums nicht erkannte. Er widmete sein gesamtes kurzes Leben der Aufgabe, die unterschiedlichen Aspekte der jüdischen Religion im Vergleich mit dem Chris­ tentum herauszustellen. Für jede weitere Diskussion zu Rosenzweigs Beitrag zum interreligiösen Dialog und Theologie ist es notwendig darauf hinzuweisen, dass er die Menschen, die ihn bekehren wollten, nicht ignorierte, sondern stattdessen einen umfangreichen, manchmal auch harten Dialog mit ihnen entstehen ließ. 50 Bernhard Casper, „Franz Rosenzweig (1886–1929) – Neue Wege der Begegnung zwischen Judentum und Christentum“, in Wegbereiter des interreligiösen Dialogs, hg. von Petrus Bsteh /  Brigitte Proksch / Peter Ramers / Hans Waldenfels, Wien 2012, S. 98. 51 Gritli (Margrit) war die Frau Eugen Rosenstocks, der in eine assimilierte jüdische Familie hin­ eingeboren worden war und dann im Alter von 17 Jahren zum Christentum konvertierte. Er und seine Frau waren enge Freunde von Rosenzweig. Eugen versuchte immer wieder, Rosenzweig zur Konversion zu überreden, wohingegen Gritli Rosenzweigs „jüdisches Herz“ respektierte („Franz, ich suche dein jüdisches Herz“). Franz Rosenzweig, Die „Gritli“-Briefe. Briefe und Margrit Rosenstock-Huessy, hg. von Inken Rühle / Reinhold Mayer, Tübingen 2002, S. 410. 52 Zu einer Diskussion der Korrespondenz mit Gritli siehe Ephraim Meir, Letters of Love.

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In ihrer Einleitung zu Cultural Writings of Franz Rosenzweig hat Barbara Galli über die wunderbare Erfahrung des Übersetzens, wie es von Rosenzweig in seinem „Neuen Denken“ dargestellt wird, sinniert.53 Sie beschreibt, wie in Rosenzweigs „Sprachdenken“ Übersetzen bedeutet, den Anderen willkommen zu heißen, und wie er tatsächlich alles Sprechen als Übersetzung betrachtet. Rosenzweigs Philosophie des „Und“ verhindert eine totalisierende Bewegung. In seiner nicht-totalisierenden Philosophie gibt es nur eine Sprache, auch wenn diese in vielen Sprachen gesprochen werden kann. Davon schreibt er im Vorwort seiner Übersetzung der Gedichte Jehuda Halevis: Es gibt nur Eine Sprache. Es gibt keine Spracheigentümlichkeit der einen, die sich nicht, und sei es in Mundarten, Kinderstuben, Standeseigenheiten, in jeder andern mindestens keimhaft nachweisen ließe. Auf dieser wesenhaften Einheit aller Sprache und dem darauf beruhenden Gebot der allmenschlichen Verständigung ist die Möglichkeit wie die Aufgabe des Übersetzens, ihr Kann, Darf und Soll, begründet.54

Rosenzweig war überzeugt, dass jeder Mensch den anderen verstehen könne, und dass Frieden und gegenseitiges Verstehen möglich waren. Diese Einsichten trugen in großem Maße zum Begreifen der tiefgreifenden Identität des Menschen bei. „Übersetzen“ bedeutet „Hinübergehen“ zum Anderen, oder ihn willkommen heißen, was gleichgesetzt werden kann mit dem, was ich als „trans -differentes“ Leben definiere. Es ist vielleicht das ultimative Handeln in Trans-Differenz, des Brückenbauens zum Anderen in seiner stetigen Andersheit. Rosenzweigs Bibelübersetzung mit Martin Buber, auf die ich in Kapitel 5 zurückkommen werde, ist ein weiterer Beweis seines Glaubens, dass letzten Endes die Übersetzung einer Welt in die Begriffe einer anderen Welt nicht nur möglich, sondern auch notwendig ist. Weniger bekannt und erforscht als die Buber-Rosenzweig Bibelübersetzung ist Rosenzweigs deutsche Übersetzung der 92 Gedichte von Jehuda Halevi.55 Am 22. August 1924 schrieb er einen Brief an Margarete Susman, in dem er zugab, dass er ein Gedicht nur verstehe, wenn er es übersetze,56 sich der Welt eines Anderen verbunden fühle und dass solch eine Verbundenheit eine echte menschliche Möglichkeit sei. Er glaubte sogar, dass nur im Übersetzen die Stimme eines Menschen wirklich laut wird. Am 1. Oktober 1917 schrieb er: 53 Barbara E. Galli, Cultural Writings of Franz Rosenzweig, Syracuse (NY) 2000, S. 3–57. 54 Franz Rosenzweig, Jehuda Halevi. Zweiundneunzig Hynmen und Gedichte. Deutsch, Berlin o. D., S. 155. 55 Ebd. 56 Nahum N. Glatzer, Franz Rosenzweig. His Life and Thought, New York 1953, S. 134. Siehe auch Douglas R. Hofstadter, Le Ton Beau de Marot: In Praise of the Music of Language, New York 1997. In diesem Buch zu Sprache und Übersetzung verfasst Hofstadter 88 Übersetzungen von Marots Gedicht „Ma Mignonne.“



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Das Übersetzen ist überhaupt das eigentliche Ziel des Geistes; erst wenn etwas übersetzt ist, ist es wirklich laut geworden, nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Erst in der Septua­ ginta ist die Offenbarung ganz heimisch in der Welt geworden, und solange Homer noch nicht lateinisch sprach, war er noch keine Tatsache. Entsprechend auch das Übersetzen von Mensch zu Mensch.57

Im Stern entwickelte Rosenzweig eine vollständige Sprachtheorie, in der der Impe­ rativ „liebe mich“ „ganz vollkommener Ausdruck, ganz reine Sprache der Liebe“ ist.58 Der Höhepunkt der Sprache ist seiner Ansicht nach die Sprache der Liebe: „[…] die Liebe ist wie die Sprache selbst, sinnlich über-sinnlich.“59 Und so wie Liebe nicht rein menschlich bleiben kann, so kann auch die Sprache auf ihrem Höhepunkt sich in etwas Übermenschliches verwandeln: „[…] denn die Sinn­ lichkeit des Worts ist randvoll von seinem göttlichen Übersinn.“60 Darstellende, indikative Sprache ist seiner Meinung nach eine niedrigere Stufe der Sprache. Dialogische Sprache charakterisiert zwischenmenschliche Begegnung, wie auch Gottes Gebot zu lieben und die Antwort des Menschen darauf. Wie Johann Georg Hamann, der sich der aufklärerischen Hervorhebung der wissenschaftlichen Ver­ nunft entgegenstellte und der Meinung war, dass Sprache der Vernunft voran­ geht und ihr Ursprung göttlich ist, so dachte auch Rosenzweig, dass Sprache dem Denken vorausgeht und dass sie göttlichen Ursprungs ist.61 Rosenzweig war überzeugt, dass jeder Mensch übersetzen muss und dies auch tatsächlich tut: Jeder muss übersetzen und jeder tuts. Wer spricht, übersetzt aus seiner Meinung in das von ihm erwartete Verständnis des Anderen, und zwar nicht eines unvorhandenen allgemei­ nen Anderen, sondern dieses ganz bestimmten, den er vor sich sieht und dem die Augen, jenachdem, aufgehen oder zufallen. Wer hört, übersetzt Worte, die an sein Ohr schallen, in seinen Verstand, also konkret geredet: in die Sprache seines Mundes. Jeder hat seine eigene Sprache. Oder vielmehr: jeder hätte seine eigene Sprache, wenn es ein monologisches Spre­ chen […] in Wahrheit gäbe, und nicht alles Sprechen schon dialogisches Sprechen wäre und also – Übersetzung.62 57 Franz Rosenzweig, Briefe und Tagebücher. 1. Band. 1900–1918 (Franz Rosenzweig. Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften I), hg. von Rachel Rosenzweig / Edith Rosenzweig-­ Scheinmann, in Zusammenarbeit mit Bernhard Casper, The Hague 1979, S. 460–461. 58 Rosenzweig, Stern der Erlösung, S. 197. 59 Ebd., S. 224. 60 Ebd. 61 Aviezer Cohen (Hg.) Franz Rosenzweig. The Star and the Man. Collected Studies by Rivka Horwitz, Beer-Sheva 2010, S. 152 (Hebräisch). 62 Franz Rosenzweig, „Die Schrift und Luther“, in ders., Kleinere Schriften, Berlin 1937, S. 141; in der neueren Ausgabe Franz Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften III. Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, hg. von Reinhold und Annemarie Mayer, Dordrecht 1984, S. 749.

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Rosenzweig ignorierte nicht die zahlreichen Schwierigkeiten beim Übersetzen; er übersah nicht das Problem des unaufmerksamen Zuhörens oder des ungenauen Sprechens. Doch erkannte er, dass echte Konversation zwischen Menschen oder Gruppen von Menschen im Grunde auf Übersetzung basiert: Wenn alles Sprechen Übersetzen ist, dann kann jene theoretische Unmöglichkeit des Über­ setzens, die wir erkennen und anerkennen, nur die Bedeutung für uns haben, die all solche theoretische Unmöglichkeiten […] nachher im Leben selbst haben: sie wird uns […] den Mut der Bescheidenheit geben, die nicht das erkannte Unmögliche, sondern das aufgegebene Notwendige von sich selbst fordert. Also im Sprechen und Hören nicht, daß der andere meine Ohren oder meinen Mund hat, wodurch freilich das Übersetzen unnötig würde, aber das Sprechen und Hören auch. Und im Sprechen und Hören zwischen den Völkern nicht, daß die Übersetzung – keine Übersetzung ist, sondern entweder das Original, womit dann das hörende Volk überflüssig würde, oder ein neues Original, womit dann das sprechende Volk abgetan wäre. Beides könnte nur ein verrückter Egoismus wollen, der in dem eigenen, persönlichen oder nationalen, Dasein sich zu befriedigen meinte und um sich her Wüste ersehnt. In der Welt, die nicht zur Wüste geschaffen wurde, sondern in Scheidungen und nach Arten, ist für solche Gesinnung kein Platz.63

Rosenzweig nahm daher die menschliche Existenz nicht nur als wesentlich viel­ fältig wahr, sondern er glaubte auch, dass diese Welt in all ihrer Vielfältigkeit auf eine Vereinigung und Einheit ausgerichtet war. Unterschiede waren notwendig und „Trans-Differenz“ war ein Wunder.

Wertschätzung des Übersetzungsaktes Meines Erachtens überschreitet jede Konversation Grenzen, da sie zwischen ver­ schiedenen Welten stattfindet, die miteinander in Berührung kommen. Daher findet in jeder wahren Begegnung ein Akt von Gastfreundschaft statt. Durch den Akt des Übersetzens wird der Übersetzer für sich selbst anders, er wird „selbst-­ different“; er ist „von sich selbst unterschieden“ als Ergebnis einer Selbstentfrem­ dung im Austausch mit dem Anderen. Es gibt auch eine Selbstentfremdung oder „Selbst-Differenz“ beim Hörer oder Leser der Übersetzung: er entfremdet sich von seinem eigenen Selbst durch einen Akt der Selbst-Transzendenz, in einer Offen­ heit der „anderen“ Welt gegenüber, die in Worten zum Ausdruck kommt. In seiner Sprachphilosophie legte Rosenzweig Wert auf die Tatsache, dass die Tiefe der Sprache vom Liebesgebot herrührt. Weitaus mehr als ein reines In­­ strument ist Sprache daher wie im Hohelied offenbarend. Sie besitzt nicht nur die instrumentelle Aufgabe des Beschreibens, auch wenn diese Aufgabe durchaus 63 Rosenzweig, „Schrift und Luther“, S. 141–142; Rosenzweig, Gesammelte Schriften III, S. 749–750.



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existiert. Sie handelt grundsätzlich vom Ausdruck der Verfügbarkeit des einen für den Anderen. Letzten Endes geht es darum, für den Anderen da zu sein, denn „[…] es kann zwar viele Sprachen geben, aber nur eine Sprache.“64 Sprache ist in der Tat die Möglichkeit der Konversation, oder die Möglichkeit der Einheit jenseits und anhand (doch niemals ohne) die Vielfalt und die Verschiedenheit. Man könnte entgegnen, dass manche Menschen so in ihrer eigenen Besonder­ heit gefangen sind, dass es keine Brücke gibt, um sie zu erreichen: es ist schlicht­ weg keine Möglichkeit vorhanden, ihre Totalität zu durchbrechen. Gewiss geht Rosenzweig nicht davon aus, dass Konversation mit jedem Menschen möglich ist. Er argumentiert vielmehr, dass es ein Wunder ist, wenn ein Mensch in Kontakt mit einem anderen Menschen treten kann und wenn dies geschieht, dann bein­ haltet dies Sprache und Übersetzung. Sein Argument liegt darin, dass man offen gegenüber einer Fremdheit sein kann, die sich immer unserem eigenen Verständ­ nis entzieht, denn „wer kann zwei Herren dienen?“65 Er behauptet weiter, dass sich unsere Subjektivität verändert, wenn wir dieser Fremdheit begegnen. Der Übersetzer muss den Anderen nicht „eindeutschen“, doch muss er dem Anderen erlauben, ihn „umzufremden“ und zu verändern.66 All dies scheint mir als eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen für jegliche Definition von Dialog. In einem Nachwort seiner Übersetzung der 92 Gedichte von Jehuda Halevi illustriert Rosenzweig seine Sprachphilosophie auf wunderbare Weise. Das Ziel einer Übersetzung, so schreibt er, bedeutet nicht die Eindeutschung des Fremden. Dies geschieht zum Beispiel, wenn ein deutscher Kaufmann eine Bestellung in die Türkei schicken will. In diesem Fall schickt der Kaufmann die Bestellung an ein Übersetzungsbüro. Doch im Fall eines Briefes von einem türkischen Freund würde die Büroübersetzung nicht mehr ausreichen, doch nicht, weil die Überset­ zung nicht genau genug wäre. Die Übersetzung wäre deutsch genug, doch würde sie nicht die volle Bedeutung des türkischen Originals widerspiegeln. Im Fall eines türkischen Freundes würde die Übersetzung des Büros nicht ausreichen, da sie den Menschen, seinen Ton, seine Meinung, seinen Herzschlag nicht höre. Rosenzweig folgert, dass man den Fremden nicht eindeutschen solle, sondern das Deutsche „um[zu]fremden“. Rosenzweig plädiert mit diesen Überlegungen zum Übersetzen für eine Übersetzung als Sprachschöpfung, in der der Übersetzer sich zum Sprachrohr der fremden Stimme macht: es ist gar nicht möglich, dass eine Sprache, in die Shakespeare, Dante oder Jesaja hineingesprochen hat, davon unberührt geblieben wäre; sie wird in der Tat erneuert.67 64 Rosenzweig, Stern der Erlösung, S. 164. 65 Rosenzweig, Zweiundneunzig Hymnen, S. 154; ders., „Schrift und Luther“, S. 141. 66 Rosenzweig, Zweiundneunzig Hymnen, S. 154. 67 Ebd., S. 154–155. Ich werde in Kapitel 5 nochmals auf dieses Thema zurückkommen.

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Rosenzweigs Beitrag zum interreligiösen Dialog Rosenzweigs Überlegungen zu Sprache und zur Übersetzungsmöglichkeit sind ausschlaggebend für den Aufbau eines interreligiösen Dialogs. Sie untersuchen die Voraussetzungen für jede echte Konversation, einschließlich der interreli­ giösen. In seiner Sprachphilosophie setzte Rosenzweig den Dialog ins Zentrum. Um in einen interreligiösen Dialog einzutreten, muss man die „Fremdheit“ und die Unmöglichkeit der Assimilation des Anderen bedenken, doch muss man bereit sein, diese Fremdheit und Andersheit in seine eigene Sprache zu überset­ zen ‒ mit all den darin enthaltenen Risiken. Mit Respekt für diese Andersheit muss man beim Vergleich der Religionen vorsichtig sein, um nicht oberflächlich zu werden. Zum Beispiel die Behauptung, dass Juden Pessach hätten, die Chris­ ten dafür Ostern, die Juden Yom Kippur und die katholischen Christen dafür die Beichte, Juden Kippot trügen, wohingegen der Papst und die Bischöfe eine Kopf­ bedeckung trügen, greift zu kurz. Nicht alle Dinge können ohne Probleme kom­ muniziert werden und man muss Besonderheiten, die nicht verglichen werden können, berücksichtigen. Unterschiedlichkeiten sind wichtig und die Vorausset­ zung für eine Beziehung. Für Rosenzweig unterschied sich das Judentum in posi­ tiver Weise von der Welt in Hinblick auf Erlösung, wohingegen das Christentum mit seiner Idee der Mittlerfunktion ebenfalls zu einer letzten Erlösung beitrug, in der Gott der Alleinige wurde, indem er sich sozusagen selbst von seiner Einbin­ dung in die Welt erlöste. Die Position, die Gleichberechtigung fordert, muss nicht die Besonderheit der anderen Religionen verbergen oder verstecken. Doch sollte man zugleich nicht vergessen, dass Gott über den Religionen steht, da Er allein vollkommen ist und Religionen nicht. Göttliche Inklusivität untersagt religiöse Exklusivität.

Die Herausbildung einer positiven Identität Mit all ihren Mängeln, vor allem in seiner hierarchischen Vorstellung der Religio­ nen, dient Rosenzweigs dialogisches Denken zur Interreligiosität als Ausgangs­ punkt für eine zu errichtende interreligiöse Theologie. Rosenzweig unterschied zwischen Judentum und Christentum. Er war sich der vielen Unterschiede zwischen diesen Religionen durchaus bewusst, doch glaubte er an ihre Begeg­ nung und ihre sich gegenseitig ergänzende Funktion.68 Mit seinem theologisch-­ dialogischen Projekt unternahm er den Versuch, seine eigene Identität auf 68 Rosenzweig, der darauf bestand, dass das Christentum Glauben hat, während Juden Glaube sind, verstand das christliche Dogma nicht als Erhellung der christlichen Glaubenserfahrung.



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positive Weise zu gestalten. Er war dabei nicht immer erfolgreich, doch begann er einen Weg, der exemplarisch bleibt und von Anderen begangen werden kann. In seinen Überlegungen zur jüdischen Identität entwickelte Rosenzweig wie Buber eine eminent dialogische Haltung. Er betrachtete Judentum und Christentum als Zwillingsreligionen und war der Meinung, dass Christen und Juden echte Gemeinschaften darstellten, die Unendlichkeit oder „Ewigkeit“ in der endlichen Welt realisieren wollten. Sie existierten nebeneinander und wurden in einer Art doppeltem Bund vereint. Mit seinem interkulturellen Denken bemerkte Rosenzweig, dass Christen Juden bitten, die Welt nicht zu vergessen, und Juden verlangen von der stets wachsenden Gemeinschaft der Christen, sich nicht der Welt anzupassen. Rosenzweig verortete das Christentum in der Nähe des Judentums. Die beiden Gemeinschaften ergänzen sich gegenseitig, doch stehen sie sich auch kritisch gegenüber. Sein vor kurzem veröffentlichter kreativer Briefwechsel mit Gritli Rosenstock-Huessy bleibt beispielhaft für einen Dialog, der unterschiedliche Identitäten respektiert und über sie hinausreicht in dem Bemühen, eine gemeinsame Welt zu schaffen, mit einer Haltung der „Trans-Differenz“.

Interreligiosität bei Buber und Rosenzweig Rosenzweig hob die Besonderheit und die Überlegenheit des Judentums hervor, doch erkannte er auch das Christentum an, wie es auf diese Weise noch nie zuvor in der Tradition des jüdischen Denkens geschehen war. Er ging davon aus, dass Juden in der erlösten Welt auf unhistorische Weise lebten, wohingegen Christen mehr in die Geschichte involviert waren. Buber übernahm Rosenzweigs Standpunkt nicht, dass Juden auf unhistorische Weise leben. Während Rosenzweig es vorzog in der Diaspora zu leben, wählte Buber die Option der historischen Realisierung des Traumes einer dialogischen Gesellschaft in Zion. Im Gegensatz zu Rosenzweig machte Buber einen Unterschied zwischen dem historischen Jesus und dem dogmatischen Bild der Christologie. Er war der Figur Jesu gegenüber offener, bereit ihn als einen wichtigen Gottesdiener anzuerkennen. Auf seine Weise streckte er die Hand den Christen entgegen. Laut Buber würden messianische Hoffnungen Juden und Christen vereinen: während Juden aktiv die Welt heilen, indem sie eine Reihe von Gottesdienern hervorbringen, warten die Christen auf die Wiederkunft Jesu. Sowohl Juden als auch Christen haben messia­ nische Erwartungen, die sich auf die Figur des leidenden Gottesknechts konzentrieren. Rosenzweig ließ Jesus nicht die gleiche Aufmerksamkeit zuteil werden wie Buber, aus dem einfachen Grund, dass er seine Energie in die Verteidigung seines Judentums stecken musste denen gegenüber, die seine Assimilation an die allgemeine Kultur und die vorherrschende Religion erzwingen wollten.

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Bubers außergewöhnlicher Beitrag zur interreligiösen Theologie liegt in seiner Offenheit gegenüber jedem Menschen, der „Du“ zu einem anderen Men­ schen sagt und gegenüber dem Anderen sich gegenwärtig macht. Religiosität war für ihn weiter gefasst als Religionen, die keine absoluten Gebilde darstell­ ten. Auch Rosenzweig machte die Zwillingsreligionen weniger absolut, indem er schrieb, dass Religionen darin ihre Wahrheiten hätten, inwieweit sie mit Gott verbunden seien: die ganze Wahrheit liege in Gott selbst. Judentum und Chris­ tentum seien das „Feuer oder das ewige Leben“ und die „Strahlen oder der ewige Weg“ und als solche haben sie Anteil an der Wahrheit, die in Gott ist.69 Rosen­ zweigs Idee von Gott als die Wahrheit, an der der Mensch teilhat, ist noch immer ein hilfreiches Konzept. Ein anderes hilfreiches Konstrukt ist die Vorstellung, dass Gott nicht Religionen, sondern die ganze Welt erschaffen hat. Dies relati­ viert wiederum die Religionen in Hinblick auf die gesamte Welt. Judentum und Christentum bildeten die menschlichen Organisationsformen, die eine Antwort auf die Orientierung durch Offenbarung gaben, auf die „äußere Ordnung“,70 die eine Reaktion des jüdischen und des christlichen Kollektivs hervorrief. Sowohl Buber als auch Rosenzweig erörtern das Judentum in seiner Begegnung mit dem Christentum und leisten so ihren Beitrag zur Pluralisierung der Theologie.

Abraham Joshua Heschel (1907–1972) Der dritte dialogische Denker, dessen Religionsphilosophie ich vorstellen möchte, ist Heschel. Obwohl Heschels Welt in seiner Konzentration auf das Judentum und das Christentum doch der von Buber und Rosenzweig sehr ähnelte, hat er dennoch eine umfassendere Perspektive zu den verschiedenen Religionen ausgebildet. Heschel war bereit, die Pluralität der Religionen als Gottes Wille anzuerkennen: „In diesem Zeitalter ist die Pluralität der Religionen der Wille Gottes.“71 1966 ver­ öffentlichte er seinen bahnbrechenden Artikel „Keine Religion ist eine Insel“ (No Religion is an Island).72 In diesem Beitrag stellte er fest, dass die Gleichstellung 69 Rosenzweig, Stern der Erlösung, S. 463–464. 70 Ebd., S. 208. 71 Abraham J. Heschel, „No Religion is an Island“, in Moral Grandeur and Spiritual Audacity, hg. von Susannah Heschel, New York 1996, S. 244. Eine deutsche Übersetzung liegt vor unter http:// www.hagalil.com/judentum/philosophie/heschel.htm (Zugriff: 17. April 2014). 72 Dieser Artikel erschien zuerst im Union Seminary Quarterly Review 21,2 (1966), S. 117–134. Ich zitiere aus dem Artikel, wie er in Moral Grandeur and Spiritual Audacity (a. a. O.) erschien. Sta­ nislaw Krajewski untersucht Heschels Pionierrolle hinsichtlich der häufig diskutierten jüdischen Deklaration zum Christentum Dabru Emet aus dem Jahr 2000. Stanislaw Krajewski, „Abraham J. Heschel and the Challenge of Interreligious Dialogue“, in Abraham Joshua Heschel. Philosophy,



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von Religionen mit Gott Götzendienst sei. Man müsse leidenschaftlich nach Gott suchen, doch müsse diese Suche nach Gott demütig sein und im Bewusstsein, dass auch Andere nach Gott suchen. In seiner Tiefentheologie, die eine gemeinsame Grundlage der Religionen dar­ stellt, postuliert Heschel die Empfindung von und Fingerspitzengefühl für Wunder und Geheimnis im Zentrum der religiösen Erfahrung, die den religiösen Menschen als solchen ausmacht. Er formulierte keine konfessionelle Theologie, sondern buchstabierte vielmehr die menschliche spirituelle Erfahrung der Gegenwärtig­ keit Gottes. In seinen chassidischen Formulierungen schrieb Heschel, dass man im Dialog den göttlichen Funken in den Seelen aller am Leben erhalten müsse.73 Alon Goshen-Gottstein ist der Ansicht, dass Heschel „der Vater des jüdischen Nachdenkens über den interreligiösen Dialog als neue Form kultureller Praxis“ sei.74 Doch artikulierte Heschel eine Theorie des interreligiösen Pluralismus und nicht eine jüdische Theorie des religiösen Dialogs, der die aktive Begegnung zwi­ schen Menschen unterschiedlicher Religionen impliziert. Er vermerkt zum Bei­ spiel an keiner Stelle, dass Juden von Christen lernen könnten und umgekehrt, wie dies Buber und Rosenzweig taten. Gewiss hatte er Einfluss auf das zweite vatikani­ sche Konzil und in diesem Sinne trug er zu der Erklärung „Nostra Aetate“ bei, die ein neues Zeitalter der Beziehung zwischen Katholiken und Juden beginnen ließ.75 Er traf sich mit den Kardinälen Bea und Willebrands und mit Papst Paul VI und hatte Einfluss auf Thomas Merton und Reinhold Niebuhr.76 Er war Pionier darin,

Theology and Interreligious Dialogue (Jüdische Kultur 21), hg. von Stanislaw Krajewski / Adam Lipszyc, Wiesdbaden 2009, S. 168–180. 73 Heschel, „No Religion is an Island“, S. 250. 74 Alon Goshen-Gottstein, „Heschel and Interreligious Dialogue – Formulating the Questions“, in Abraham Joshua Heschel. Philosophy, Theology and Interreligious Dialogue, hg. von Stanislaw Krajewski / Adam Lipszyc, Wiesbaden 2009, S. 164. 75 Dieses Dokument brachte zusammen mit der „Erklärung über die Religionsfreiheit“ (Di­ gnitatis Humanae) und dem „Dekret über den Ökumenismus“ (Unitatis Reintegratio) ein neues Zeitalter in der Katholischen Kirche, indem es den intra- und interreligiösen Dialog förderte, Religionsfreiheit verteidigte und alles akzeptierte, was in anderen Religionen wahr und heilig ist. Siehe Leonard Swidler, „The History of Inter-Religious Dialogue“, in The Wiley-Blackwell Companion to Inter-Religious Dialogue, hg. von Catherine Cornille, Oxford 2013, S. 7–8. M ­ arianne Moyaert nennt Nostra Aetate „einen Meilenstein in der Geschichte der interreligiösen Bezie­ hungen“ und fügt hinzu, dass „der Ökumenische Rat der Kirchen auch eine aktive Rolle bei der Förderung des interreligiösen Dialogs spielte.“ Marianne Moyaert, „Interreligious Dialogue“, in Understanding Interreligious Relations, hg. von David Cheetham / Douglas Pratt / David Thomas, Oxford 2013, S. 200 . 76 Niebuhr prophezeite, dass Heschel „die führende autoritative Stimme“ der Juden und im religiösen Leben Amerikas werden würde. Reinhold Niebuhr, „Masterly Analysis of Faith. Review of Man Is Not Alone“, New York Herald Tribune Review, 1. April 1951, S. 12.

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andere Religionen mutig zu korrigieren. Seine Haltung gegenüber Religionen war definitiv nicht die der Isolation. Im Dialog waren sowohl Kommunikation als auch Separation notwendig; Fundamentalismus und ein Anhangen am Wortsinn waren verboten. Heschel überschritt die herkömmlichen Grenzen des Konfessionsden­ kens, formulierte die gemeinsame Aufgabe der abrahamitischen Religionen und gab der Vereinigung aller religiösen Menschen den Vorrang, doch prägte er keine interaktive, interreligiöse Philosophie. Meines Erachtens ging Heschel nicht weit genug, obwohl er zu Recht Ehrfurcht und Zittern, Demut und Reue als Vorausset­ zung für jeglichen künftigen interreligiösen Dialog erkannte.77 Der heutige aufsprießende interreligiöse Dialog beinhaltet viel mehr als Pluralismus und Korrektur des Anderen; er hat auch Selbstkritik, kritisches Selbst-Hinterfragen und die Demut, die Unvollkommenheit der eigenen Reli­ gion anzuerkennen und dass nur Gott vollkommen ist, zum Inhalt. Heschel war sicherlich seiner eigenen Religion gegenüber kritisch und auch gegenüber dem Christentum, doch förderte er nicht aktiv die kritische Auseinandersetzung zwi­ schen den Religionen, wie dies Buber und Rosenzweig taten. Er war mehr als nur tolerant, mehr als nur ein religiöser Pluralist, doch weniger als ein Förderer des interreligiösen Dialogs.78 Er schenkte dem Christentum besondere Beach­ tung und, allgemeiner gesehen, den abrahamitischen Religionen.79 Doch nahm er kaum Bezug zu den asiatischen Religionen.80 Heschel bestritt zu Recht die 77 Heschel, „No Religion is an Island“, S. 239–240. 78 Alon Goshen-Gottstein merkt an, dass Rabbi Dov Baer Soloveitchik und Heschel beide „ein Verständnis teilen, dass das Herz des Glaubens vom Bereich des Dialogs ausschließt.“ Goshen-Gottstein, „Heschel and Interreligious Dialogue“, S. 165, Anm. 6. Ich stimme darin nicht überein: Soloveitchik wollte wirklich nicht, dass Juden die Glaubensgrundsätze des Anderen diskutierten, doch hatte Heschel keine Angst davor, ähnliche Gedankengänge in Judentum und Christentum anzuerkennen. Siehe Ephraim Meir, „David Hartman on the Atti­ tudes of Soloveitchik and Heschel towards Christianity“, in Judaism and Modernity. The Religious Philosophy of David Hartman, hg. von Jonathan W. Malino, Jerusalem 2001, S. 253–265 und Alexander Even-Chen / Ephraim Meir, Between Heschel and Buber. A Comparative Study, Boston 2012, S. 278–279. 79 Heschel war sich bewusst, dass im Koran die Idee von Allah als Vater der Menschen auf­ grund der Allmacht Allahs nicht vorkommt. Doch seine eigene Vorstellung eines gnädigen und mitleidenden Gottes mit unendlicher Sorge hätte ihm die gemeinsame Grundlage für das Juden­ tum und den Islam liefern können. Vgl. Seth Ward, „Implications of Abraham Joshua Heschel’s Ecumenicism for Muslim-Jewish Dialogue“, in Abraham Joshua Heschel. Philosophy, Theology and Interreligious Dialogue, S. 210. Ward charakterisiert (S. 214) Heschels Vorstellung, dass Gott den Menschen braucht, als nicht dem Islam entsprechend. 80 In seiner Schrift The Prophets (New York 1962) erörtert Heschel hauptsächlich religiöse Konzeptio­ nen Asiens, um sie seiner eigenen Sichtweise der Propheten und Offenbarung gegenüber zu stellen. Das „quietistische“ Tao (Der Weg) des Lao-Tzu und sein Nicht-Handeln (wu wei) steht der propheti­ schen Ansicht eines mit Pathos ausgestatteten Gottes, der den Gehorsam gegenüber seinem Willen



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Illusion, dass Religionen sich als einzigen Weg sehen, Gott zu dienen. Auf prakti­ scher Ebene verlangte er, dass man für die Gesundheit des Anderen bete und dem Anderen dabei helfe, sein eigenes Erbe zu bewahren. Weiter sollten Reli­ gionen sich gegenseitig darin unterstützen, ein gemeinsames Erbe zu bewahren. Wie Rosenzweig und Buber lehnte Heschel Judenmission ab und wollte, dass die Christen ihre jüdischen Wurzeln wahrten. Heschel war alles andere als jemand, der Andere ausschloss; genauer gesagt war er auf eine Art jemand, der Andere einschloss, indem er die Wahrheit in anderen Religionen würdigte, doch selbst von der Wahrheit seiner eigenen Reli­ gion überzeugt war.81 Seine Tiefentheologie vermittelt uns eine Theorie, die uns die Erschaffung eines interaktiven interreligiösen Dialogs erlaubt. In der Praxis erreichte Heschel diese Stufe nicht. Harold Kasimow schreibt, dass Heschel in seiner Kritik anderer Religionen sich von Pluralisten wie Hick unterscheidet: „Während er nicht davon ausgeht, dass das Judentum die einzig wahre Religion darstellt und mit Knitter und Hick darin übereinstimmt, dass alle religiösen Tra­ ditionen Heilige hervorbringen, sieht er nicht alle Traditionen als gleichwertig an. Sie sind alle gültig, berechtigt, doch sie sind nicht gleichwertig.“82 Des Weiteren beschreibt Kasimow Heschels Wertschätzung der Bibel: „Kein anderes Buch liebt einfordert, antithetisch gegenüber. „Tao, der letzte Grund, aus dem alles emantiert, ist ein dunkles, abgrundartiges Etwas, namenlos und unendlich“; es ist „das unveränderbare Gesetz der kosmischen Ordnung, immanent in allem“ (235). Auch der Konfuzianismus liegt der prophetischen Vorstellung fern: es gibt wenig Kommunikation zwischen Himmel und Mensch; der Himmel schweigt und ant­ wortet dem Menschen nicht (236). Im weitere Verlauf wird die Lehre von Karma, die „behauptet, dass das Wohlbefinden und das Leiden eines jeden Menschen das Ergebnis von Handlungen in einer frü­ heren Inkarnation ist“ als unvereinbar mit der Theologie des Pathos dargestellt, welches sich „nicht als blinde Operation unpersönlichen Kräfte“ versteht, sondern als gekennzeichnet durch die Freiheit Gottes und des Menschen (236–238). Am Ende seines Buches (466–469), behauptet Heschel, dass in der indischen Religion Offenbarung „Offenbarung dessen sei, was latent im Menschen liegt, eine Offenbarung, die zeitlos ist und sich nicht auf eine reale Person in der Geschichte beschränkt.“ Weder der Buddhismus noch der chinesische Konfuzianismus und Taoismus kennen Offenbarung als eine Quelle der Inspiration, als außerhalb menschlicher Weisheit. Kurz gesagt: in The Prophets erläutert Heschel nicht asiatische Religionen, um sie an sich zu verstehen, noch weniger, um in einen Dialog mit ihnen zu treten, sondern nur in Abhängigkeit von seiner eigenen Ansicht: Sie bilden den negati­ ven Hintergrund für seine Beschreibung des erhabenen Phänomens der Propheten. 81 Harold Kasimow, „Heschel’s View of Religious Diversity“, in Abraham Joshua Heschel. Philo­ sophy, Theology and Interreligious Dialogue, S. 200. Doch Heschels Tiefentheologie und sein Standpunkt anderen Religionen gegenüber erweitert den Horizont und geht deutlich in die Rich­ tung einer dialogischen Praxis und Theologie. 82 „While he does not hold that Judaism is the only true religion and agrees with Knitter and Hick that all religious traditions produce saints, he does not see all traditions as equal. They are all valid, but they are not equally valid.“ Kasimow, „Heschel’s View of Religious Diversity“, S. 199.

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und achtet das Leben des Menschen so sehr.“83 Er schließt daraus, dass Heschels Wertschätzung der Bibel eher auf eine inklusivistische als eine pluralistische Per­ spektive schließen lässt. Doch ist Heschel für ihn weder ein Pluralist noch ein Inklusivist, sondern vielmehr „ein jüdischer interreligiöser Künstler, der die Kate­ gorien, die christliche Gelehrte geschaffen haben, überschreitet.“84 Ich stimme Kasimows Einschätzung zu, dass Heschels Tiefentheologie und seine Haltung anderen Religionen gegenüber in bedeutendem Maße den Horizont in Richtung einer multi-religiösen Praxis und Theologie ausweitet, was jedoch meiner Meining nach noch keine kritische, interaktive, interreligiöse Praxis und Theologie ist. Heschel war eine prophetische Gestalt, deren praxisorientierte Religiosität ihm gestattete, Andere darauf hinzuweisen, dass wahre Religiosität Korrektur und Verbesserung der Welt erfordert.85 In diesem Sinne schuf er einen Dialog zwischen Religion und säkularer Welt. In seinem Israel: An Echo of Eternity (1969),86 das unmittelbar nach dem Sechs-Tage-Krieg veröffentlicht wurde, warb er eindringlich für Frieden zwischen Juden und Muslimen. Gemeinsam mit Buber und Rosenzweig erschuf er eine Grundlage für den interreligiösen Dialog.

Jüdische Theologie und Dialog Zu Beginn meines Buches zitiere ich Ps 145,18 in Bubers Übersetzung „Nah ist ER den ihn Rufenden allen, allen, die ihn rufen in Treuen“. Raphael Jospe führt 83 Abraham J. Heschel, Gott sucht den Menschen, Neukirchen-Vlyun 1995, S. 184; Englisch „No other book so loves and respects the life of man“ in Abraham J. Heschel, God in Search of Man: A Philosophy of Judaism, New York 1976, S. 239. 84 „[…] a Jewish interreligious artist who transcends the categories created by Christian schol­ ars.“ In Kasimow, „Heschel’s View of Religious Diversity“, S. 200. 85 In einem Interview mit Carl Stern, erklärte Heschel: „Ich habe ein Buch über die Propheten verfasst. Ein eher großes Buch. Ich habe viele Jahre damit zugebracht und tatsächlich hat dieses Buch mein Leben verändert. Denn früh in meinem Leben galt meine große Liebe dem Lernen, dem Studium. Und der Ort, an dem ich zu leben vorzog, war mein Studium und Bücher und Schreiben und Denken. Ich habe von den Propheten gelernt, dass man sich in die menschliche Geschehnisse einmischen muss, in die Ereignisse des menschlichen Leidens […]. Ich behaupte, dass dieses Buch, das ich geschrieben habe, mein Leben verändert hat.“ („I’ve written a book on the prophets. A rather large book. I spent many years, and really, this book changed my life. Because early in my life, my great love was for learning, studying. And the place where I pre­ ferred to live was my study and books and writing and thinking. I’ve learned from the prophets that I have to be involved in the affairs of man, in the affairs of suffering man […]. I say that this book on the prophets which I wrote changed my life.“ Susannah Heschel, Moral Grandeur and Spiritual Audacity, S. 399). 86 Heschel, Israel – An Echo of Eternity, New York 1969; ders., Israel – Echo der Ewigkeit, Berlin 1988.



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den Kommentar Rabbi David Kimchis (Radak, c. 1160–1235) zu diesem Vers an: Dieser Vers bedeutet „aus welchem Volk er auch stammen mag, solange er Ihn in Wahrheit anruft, dass sein Mund und sein Herz eins sind.“ Ich stimme mit Jospe überein, dass absolutistische epistemische Behauptungen intellektuell nicht haltbar und moralisch gefährlich sind.87 Jospe vertritt die Meinung, dass es in jüdischen Quellen zahlreiche Vorlagen für sowohl „internen als auch externen Pluralismus“ gibt.88 Er führt als Beispiel die rab­ binische Interpretationen des Verses aus Jes 23,29 an „Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?“. Der mittelal­ terliche Kommentator Raschi zitiert diesen Vers in seiner Auslegung zu Gen 33,20 und Ex 6,9 als Hinweis auf eine Vielzahl interner Interpretationen wie die Funken, die in beim Aufprall des Hammers auf den Felsen sprühen. Rabbi Ishmael interpretiert den Vers dahingehend, dass ein einziger biblischer Vers verschiedene Bedeutungen be­­ inhaltet und dass jedes einzelne Gebot in siebzig Sprachen ausgesprochen wurde.89 Laut Jospe verteidigte er somit einen internen und externen Pluralismus und schließt daraus, dass es in jüdischen Quellen Vorlagen für beide Arten des Pluralismus gibt. Ich bin weniger am Pluralismus oder an der Suche nach Vorläufern pluralis­ tischer Sichtweisen in der rabbinischen Literatur interessiert als vielmehr daran, die Voraussetzungen für künftige positive Interaktionen zwischen den Religionen aufzufinden. Pluralistische Theologie stellt für mich eine weniger entwickelte Stufe als die interreligiöse Theologie dar. Die rabbinische Aussage „elu we-elu divre elohim hayyim“ („diese und jene sind lebendige Worte Gottes“ oder „diese und jene sind Worte des lebendigen Gottes“)90 bezieht sich auf die Vielzahl der Interpretationen oder die „70 Gesichter“ (shivim panim) der Tora, die auch auf den Bereich außerhalb der Tora ausgeweitet werden können. Sie kann auf alle Religionen und Weltanschauungen angewandt werden, die alle miteinander in Beziehung stehen in ihrer Suche nach dem Unaussprechlichen, das sich uns ent­ zieht, aber dennoch in tiefstem Sinne auf die menschliche Existenz bezogen ist.

Aussichten: Einladung zum Dialog Der Wissenschaftsphilosoph Thomas Samuel Kuhn (1922–1996) geht in seinem 1962 erschienen Buch Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen (The Structure 87 Raphael Jospe, „Pluralism out of the Sources of Judaism. The Quest for Religious Pluralism without Relativism“, in Jewish Theology and World Religions, S. 120. 88 Ebd., S. 121. 89 Babylonischer Talmud, Sanhedrin 34a und Babylonischer Talmud, Schabbat 88b. 90 Babylonischer Talmud, Eruvin 13b und Gittin 6b.

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of Scientific Revolutions) von der Behauptung aus, dass in der Wissenschaft kon­ kurrierende Paradigmen nicht in Einklang gebracht werden können, da sie meist nicht vergleichbar sind. Gilt dies auch für unterschiedliche religiöse Systeme? Wenn Kuhns Behauptung mutatis mutandis auf der Ebene konkurrierender Reli­ gionen zuträfe, könnte man nicht wirklich kommunizieren und ein interreligiöser Dialog würde völlig unmöglich werden. Andererseits hat Kuhn darin recht, dass in der Wissenschaft objektive Kriterien nicht ausreichend sind und dass auch die Meinung der wissenschaftlichen Gemeinschaft von Bedeutung ist. Parallel dazu könnte man auf der Ebene der unterschiedlichen Religionen auf reine Objekti­ vität verzichten und zugeben, dass die letzte Wirklichkeit nicht auf eine, objek­ tive Weise erreicht werden kann. Mit anderen Worten, unterschiedliche Zugänge bleiben notwendig, um mit einem noumenon zu leben, das niemals erreicht oder angemessen verstanden werden kann. Ich akzeptiere die Vielzahl der Annähe­ rungen in religiosis, doch glaube ich ebenfalls an einen interreligiösen Dialog und Kommunikation, an die Möglichkeit eines Zusammentreffens mit der Welt­ gemeinschaft der Religionen, ein Zusammenkommen, das in meinen Augen die Voraussetzung für religiöses Leben heute ist. Zusammenkunft mit Anderen erfor­ dert die Möglichkeit des „Übersetzens“ der Sprache der Eingeweihten in eine Sprache, die die Aussenstehende verstehen können. Sie geht zuvor davon aus, dass man nicht dazu verdammt ist, in einer exklusiven Sprache der Eingeweihten bleiben zu müssen und dass man den Anderen einladen kann, in seinem eigenen Haus Gast zu sein.91 Für die Errichtung einer künftigen interreligiösen, dialogischen Theolo­ gie jenseits der Grenzen der konfessionellen Theologien ist es daher notwen­ dig, sowohl die Möglichkeit zum Austausch als auch die subjektive Wahrheit in jeder einzelnen Religion zu erkennen. Die Pluralität von Wahrheit muss bestärkt werden, doch gibt es dabei Grenzen: der Andere muss bestärkt und anerkannt werden, doch nur, solange sein Wahrheitskonzept nicht zu gewaltsamen Verhal­ ten führt. Heschel und Buber waren beide – jeder auf seine Weise – der Ansicht, dass wenn man einen Menschen verletzt, man Gott verletzt, und wenn man für einen Menschen da ist, wenn man sich für andere Menschen einsetzt, dann ist man für Gott gegenwärtig. Perry Schmidt-Leukels Standpunkt zum grundsätzlich offenen Charakter einer interreligiösen Theologie ist eine großartige Vorstellung, die jede konfessionelle Theologie revolutioniert und Wissenschaftler einlädt, jenseits der Grenzen ihrer 91 Zu konkreten Beispielen von Kindern, die sich selbst per email anderen Kindern vorstellen und über ihre religionsgemeinschaftliche Identität austauschen, siehe Julia Ipgrave, „The Lan­ guage of Friendship and Identity: Children’s Communication Choices in an Interfaith Exchange“, British Journal of Religious Education 31, 3 (2009), S. 213–225.



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eigenen Konfession zu gelangen.92 Solch eine Vorstellung beinhaltet nicht, dass man seinen eigenen Standpunkt verlässt; vielmehr strebt man nach einer Integration unterschiedlicher Perspektiven und ist bereit, sich in einen gemeinsamen Lernprozess mit Anderen einzubringen. Buber, Rosenzweig und Heschel schufen die Bausteine für die Errichtung eines interreligiösen Dialogs und einer solchen Theologie. Buber trug viel zum Dialog zwischen den Glaubensrichtungen bei, dadurch dass er einen Weg zeigte, auf dem man mit Anderen ins Gespräch kommen kann. Der Inhalt der Unterhaltung war ihm weniger wichtig; man musste eine neue Einstellung zur Gegenwärtigkeit (zum „Da-sein“), und zum Zuhören ausbilden, ohne den Anderen belehren zu wollen oder ihm zu predigen. Es ist die Offenheit dem Anderen gegenüber, die Anerkennung und Bestätigung des Anderen, die wahre Begegnung stattfinden lassen.93 Bubers dialogisches Denken ist am fruchtbarsten, um Konflikte zu vermeiden und den Frieden zu fördern, wie ich in Kapitel 10 zeigen werde. Sein Gedanke des „Ich-Du“ kann auf der Beziehungsebene zwischen kollektiven Identitäten angewandt werden.94 Im Verhältnis zwischen Gruppen und auch in der zwischenmenschlichen Beziehung ist das Kennen des Anderen weniger von Bedeutung als das Anerkennen und die Bestätigung. Laut Buber ist die Vergegenwärtigung des Anderen die wirkliche Alternative für jedes dichotomische Denken, für Gegensätze und Gewalt.95 Während Buber die Offenheit und die Gegenwärtigkeit oder das „Da-sein“ beim Anderen als die wichtigste menschliche Eigenschaft darstellte, sprach Heschel von Ehrfurcht, Demut und gegenseitigem Respekt.96 Beide gingen davon aus, dass Glaube mehr bedeutet als Glaubensbekenntnisse. Doch war Buber weniger an Religionen als vielmehr an seinem eigenen meta-religiösen Standpunkt interessiert, wohingegen Heschel mit seiner Tiefentheologie den Lesern eine gemeinsame Grundlage der Religionen bot, „für Kommunikation und Kooperation in Dingen, die 92 Perry Schmidt-Leukel, „Interkulturelle Theologie als interreligiöse Theologie“, Evangelische Theologie 71,1 (2001), S. 4–16. 93 Krajewski, „Abraham J. Heschel and the Challenge of Interreligious Dialogue“, S. 177–178. 94 Ephraim Meir, „Reading Buber’s ‚I and You‘ as a Guide to Conflict Management and Social Transformation,“ in The Legacy of the German-Jewish Religious and Cultural Heritage: A Basis for German-Israeli Dialogue? Proceedings of an International Conference Held at Bar-Ilan University June 1, 2005, hg. von Ben Mollov, Jerusalem 2006, S. 119–131. 95 René Girard hat untersucht, wie „Sündenbock“-Mechanismen in Gesellschaften auftauchen, die die Illusion haben, man könnte sozialen Frieden erreichen, wenn man bestimmte Gruppierungen „opfert“. In einem phantasmagorischen Verhalten wiederholt man den ursprünglichen Akt der Gewalt. Girard ist der Ansicht, dass die jüdische Bibel und das Neue Testament diesem Opfermechanismus entgegenstehen und bedenken, dass der Geopferte unschuldig ist. René Girard, Violence and the Sacred, Baltimore 1977; ders., The Scapegoat, Baltimore 1986; ders., I See Satan Fall Like Lightning, Maryknoll 2001. 96 Krajewski, „Abraham J. Heschel and the Challenge of Interreligious Dialogue“, S. 179.

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für ihre [= der Christen und Juden] moralischen und geistigen Belange trotz Unei­ nigkeit von Bedeutung sind“.97 Ähnlich wie Buber und Rosenzweig war Heschel der Ansicht, dass Religion nur ein Mittel war, nicht ein Zweck in sich selbst, und dass der Schöpfer und Herr der Geschichte über Religionen hinausgeht: Ich behaupte, dass die wichtigste Grundlage für das Zusammentreffen von Menschen unter­ schiedlicher Religionen das Mass der Angst und des Zitterns, der Demut und der Reue ist, wo unsere individuellen Glaubensmomente nur Wellen in einem unendlichen Ozean des menschlichen Ausstreckens nach Gott sind, wo alle Formulierungen und Artikulationen als Untertreibungen erscheinen, wo unsere Seelen von dem Bewusstsein des göttlichen Gebotes hinweggeschwemmt werden, während wir ohne Überheblichkeit und Einbildung die tragische Unzulänglichkeit menschlichen Glaubens spüren.98

Wir können von Rosenzweig, Buber und Heschel lernen, dass die Wohnstätten der Religionen nicht das Königreich Gottes selbst sind. Diese drei Philosophen waren überzeugt, dass Gott größer ist als Religion. Doch war ihre Perspektive begrenzt: sie konzentrierten sich vornehmlich auf das Verhältnis des Judentums zum Christentum. Es scheint mir, dass eine künftige jüdische Theologie im Plural alle Religionen und spirituellen Strömungen der Welt berücksichtigen muss – all jene, die Kriege und Unterdrückung schüren oder, alternativ dazu, Licht in die Welt bringen, sozialen Zusammenhalt festigen und zivilisierte, friedvolle Gesell­ schaften hervorbringen könnten. Diese drei bedeutenden jüdischen Denker, deren Ideen von mir besprochen wurden, begannen eine Pluralisierung der Theologie und einen interreligiösen Dialog zwischen den Glaubensrichtungen, doch liegt noch ein weiter Weg vor uns, um eine interreligiöse Theologie zu etablieren, die die Unterschiede anerkennt und sie überwindet, indem sie eine „trans-­­differente“ Haltung einnimmt. Im Dialog zwischen Judentum und Buddhismus z. B. kann man leicht zeigen, wie die Definition des Buddhismus als „Zwischen-Sein“ des Dalai Lama nahe bei Bubers Zugang zum Menschen als Mit-Menschen liegt. Die buddhis­ tische Wahrheit der Nicht-Gewalt, Mitgefühl und Empathie läuft parallel zu Bubers Beharren auf der Schaffung von einem „Zwischen“, wenn wir teilen und verbun­ den sind. Die Unterbrechung des Konflikts, oder im positiveren Sinne, die Schaf­ fung friedfertiger Gesellschaften entspringt wahrer Begegnung und echtem Dialog, 97 „[…] for communication and cooperation on matters relevant to their [= the Christian and Jewish] moral and spiritual concern in spite of disagreement.“ Heschel, „No Religion is an Island“, S. 239. 98 „I suggest that the most significant basis for meeting of men of different religious traditions is the level of fear and trembling, of humility and contrition, where our individual moments of faith are mere waves in the endless ocean of mankind’s reaching out for God, where all formulations and articulations appear as understatements, where our souls are swept away by the awareness of God’s commandment, while stripped of pretension and conceit we sense the tragic insufficiency of human faith.“ Ebd., S. 239–240.



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über die sowohl Buber als auch der Dalai Lama sprachen. Jenseits der Frage, ob Mitgefühl, das Vergebung impliziert, mit Gerechtigkeit (der Dalai Lama begründet Gerechtigkeit in Mitgefühl) vereinbar ist, wussten beide spirituelle Persönlichkei­ ten, dass alle Menschen – nicht nur religiöse – miteinander verbunden sind. Rosenzweigs Fähigkeit das eigene in die Sprache des Anderen zu „übersetzen“ bezeugt seine „trans-differenten“ Kapazitäten. Wir müssen noch weiter die Konse­ quenzen solch einer linguistisch-kulturellen Bewegung auf den Anderen zu, die einen Wandel von einer selbstbewussten, wesenhaften, vorgefertigten Identität in eine beziehungshafte ermöglicht, ausarbeiten. Wenn jemand eine beziehungshafte Identität annimmt, muss man die unterschiedliche Vielfalt der Interpretation der Offenbarung bei verschiedenen Untergruppen der eigenen Religion als auch in unterschiedliche Religionen annehmen. Eine beziehungshafte Identität beinhal­ tet zudem die Ablehnung hierarchischen oder herablassenden Denkens, wie sie in Begriffen von „führender Religion“ oder „Mutterreligion“ vorhanden sind. Allgemeiner gesagt, sind beziehungshafte Identitäten solche, in denen die Kulturen ineinander verwoben sind.99 Sie erkennen die Andersheit an und lassen ihr Raum. In einer Art innerem Dialog vergleicht sich das Ich nicht mit dem NichtIch, sondern verwandelt vielmehr sich selbst durch die Entdeckung dessen, das anders als das Selbst ist und seine Perspektiven und Weltansichten verändert. Das beziehungshafte, dialogische Ich ist das Ich, das ein häufig Reisender zwi­ schen dem Selbst und dem Anderen ist.100 Solch ein Ich bietet eine Alternative zum Kampf der Kulturen.101 99 In seinen postkolonialen Studien interpretiert Homi K. Bhabha kulturelle Phänomene weniger als vergleichbare Erscheinungen bezüglich ihrer Gemeinsamkeiten oder Gegensätze, sondern als grundsätzlich verwoben. In diesem Zusammenhang benutzt er den Begriff „cultural hybridity“ (kulturelle Hybridität); Homi K. Bhabha, The Location of Culture, London / New York 1994. 100 Zu einer kreativen philosophischen Auseinandersetzung zum Verstehen anderer Kulturen siehe Michael Gerhard, „Jesu Eintritt ins nirvāṇa und Buddhas Kreuzestod. Irrungen und Wirrun­ gen komparativer Philosophie am Beispiel asiatischer Kulturen“, in Das Vertraute und das Fremde. Differenzerfahrung und Fremdverstehen in Interkulturalitätsdiskurs, hg. von Sylke Bartmann /  Oliver Immel, Bielefeld 2012, S. 237–252. Durch die Vermeidung der Identitätsthese der Moder­ ne und der These der Differenzen in der Postmoderne, reduziert oder verleugnet Gerhard die Andersheit des Anderen nicht. Er lässt den Anderen nicht in totaler Andersheit und erkennt zu­ gleich seine Fremdheit an. Mit Bezug auf Roland Faber distanziert er sich von einem objektiven, vorurteilsfreien Standpunkt, einem tertium comparationis, und von einem Dialog als regulative Idee. Roland Faber, „Der transreligiöse Dialog: Zu einer Theologie transformativer Prozesse“, Polylog 9 (2002), S. 65–94. Bei seinen inspirierenden Gedanken strebt Gerhard nicht nach einer neuen Meta-Synthese der Kulturen. Er macht den Vorschlag, das Neue „als translativen und transmutativen, d. h. lebendigen Moment“ in die je eigene Kultur einzubringen (252). 101 Laut Huntington charakterisiert ein Kulturkampf die Geschichte nach dem Kalten Krieg und nach der Spannung zwischen den Vereinigten Staaten und der ehemaligen Sowjetunion. Seiner Meinung nach finden heutige Konflikte eher zwischen Kulturen als zwischen politischen oder

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 Jüdische dialogische Denker und Interreligiosität

Eine andere Stufe in Richtung eines voll ausgeprägten interkulturellen und interreligiösen Dialogs kann durch ein Nachsinnen über die Philosophie Emma­ nuel Levinas’ (1906–1995) erreicht werden, der die Andersheit des Anderen erörterte. In Levinas’ Denken muss diese Andersheit nicht im physischen oder psychologischen Sinne verstanden werden, sondern ethisch. Man kann den Anderen aufgrund der unendlichen Verantwortung für ihn, der das totalisierende Ich in Frage stellt und herausfordert, nicht in seine eigene Totalität absorbieren. Die „Unendlichkeit“ des Aufrufs des Anderen unterbricht die eigene „Totalität“ und die totalitären Tendenzen. Levinas’ ethische Metaphysik liefert uns daher die gemeinsame Grundlage der Verantwortung den Religionen und Kulturen gegenüber. Ohne Unterschiede zu verwischen können wir die eigenen Grenzen in einem Akt der Gastfreundschaft überschreiten, um bei Anderen Gast zu sein oder sie im eigenen spirituellen Heim willkommen zu heißen. Die Menschlichkeit der Religionen hängt somit von Gesten der Gastfreundschaft und vom Engagement der universalen Verantwortung ab unter Einbeziehung der säkularen Welt.

ideologischen Blöcken statt. So kollidieren z. B. christliche mit muslimischen Kulturen, da beide missionarische, absolute Religionen sind, die eine teleologische Sicht der Geschichte haben. Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations, New York 1996. Doch finden Zusammenstöße auch außerhalb von Beziehungen zwischen Kulturen statt.

Kapitel 2 Buddhistisches Denken und Heschels jüdische Philosophie: eine Begegnung Ben Zoma sprach: Wer ist weise? Der von jedermann lernt. (Sprüche der Väter 4,1) Ben Zoma omer: ezehu hakham ha-lomed mikol adam (Pirke Avot 4,1)

Das vorangehende Kapitel hat sich hauptsächlich mit der jüdisch-christlichen Begegnung aus ausgewählten jüdischen Blickwinkeln auseinandergesetzt. Doch beabsichtige ich natürlich nicht, eine konfessionelle Theologie des jüdisch-­ christlichen Dialogs zu etablieren, sondern eine dialogische, interreligiöse Theologie, die durch jüdische Quellen und Denker angeregt wird. Im vorliegenden Kapitel kehre ich zu Heschels Religionsphilosophie zurück, diesmal um die innere Verbundenheit zwischen Heschels Tiefentheologie und dem Buddhismus aufzuzeigen. Somit präsentiere ich ein Beispiel für einen Dialog zwischen Judentum und einer nicht-monotheistischen, sogar einen nicht-theistischen Religion. Dialog wird oft als ein schönes Wort betrachtet, das häufig von Utopisten benutzt wird, die den Kontakt mit der harten Realität verloren haben. Er wird als sanfte Kraft angesehen, die schnell durch eine starke Kraft ersetzt werden muss, die ein zerbrechliches Equilibrium bewahrt, welches genauso schnell zerbrochen werden kann, wie es erreicht wurde. Man glaubt sogar noch weniger an den interreligiösen Dialog als einen Weg, der Spannungen aufheben und Frieden fördern kann. Ungeachtet vieler Vorbehalte und großer Skepsis bin ich überzeugt, dass Dialog, genauer gesagt interreligiöser Dialog, einen großen Beitrag dazu leisten könnte, Frieden zwischen den Menschen zu schaffen. Meine Überzeugung beruht auf der Tatsache, dass viele Jahrhunderte lang Religionen nicht nur Kräfte waren, die Spaltungen herbeiführten, sondern auch die positive Energie darstellten, die Menschen das Böse bewältigen ließ, und Wege aufzeigten, um das Leiden zu mindern. In Hinblick auf den Aufbau einer interreligiösen Theologie, die dem Frieden in einer Zivilgesellschaft dient, konzentriere ich mich auf das Engagement und das Denken Abraham Joshua Heschels, der den interreligiösen Dialog ins Zentrum seiner Betrachtung stellte. Auch wenn Heschel seine Aufmerksamkeit hauptsächlich auf den Dialog zwischen Juden und Christen beschränkte, bringe ich sein dialogisches Denken dennoch in Verbindung mit dem Buddhismus. Ich führe hier verschiedene Themen an, die die buddhistische Nonne Dr. Carola Roloff und ich in der Akademie der Weltreligionen in Hamburg berührt haben und die Prof. Dorji Wangchuk und ich explizit in Hamburg und Jerusalem besprochen haben. Ich stelle mir eine Begegnung zwischen Heschels

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 Buddhistisches Denken und Heschels jüdische Philosophie: eine Begegnung

Philosophie und buddhistischem Denken als Paradigma für einen möglichen Austausch zwischen Juden und Buddhisten vor. Zunächst erörtere ich Einzelheiten der Philosophie Heschels. In einem zweiten Schritt stelle ich diese Philosophie der buddhistischen Lebensweise gegenüber. Schließlich zeige ich auf, was beide hinsichtlich der Errichtung einer interreligiösen Theologie einander zu sagen haben.

Heschels Religionsphilosophie Heschel war ein dialogischer Mensch, doch war er alles andere als ein naiver Utopist.1 Existentiell und theologisch bemühte er sich, das Bild Gottes in sich selbst und in Anderen auszustrahlen. Seine radikale Interpretation des Judentums hatte für das alltägliche Leben Auswirkungen. Menschenrechte und der Einsatz für die irdische Welt bildeten das Herzstück seiner Religiosität. Zusammen mit Martin Luther King wollte er die Gleichberechtigung schwarzer und weißer Menschen in den Vereinigten Staaten mit einer friedlichen Revolution herbeiführen. Heschels Dialog mit King, dem spirituellen Anführer der Afro-Amerikaner in Amerika, zielte darauf ab, Gleichberechtigung und Respekt für die Würde eines jeden Menschen, den er als einzigartig von Gott geliebt betrachtete, hervorzubringen. Die gesellschaftliche und politische Realität in der 1960ern sah völlig anders aus und man begegnete häufig offenem Rassismus. Mit seiner prophetischen Stimme bezeichnete Heschel Rassismus als schwere Sünde, die – wie jedes Vergehen am Mitmenschen – von Gott nicht vergeben werden kann.2

Gott als der Vater aller Heschels Dialog mit und sein Kampf für die Schwarzen Amerikas hatte einen prophetischen Unterton, da in seiner Religionsphilosophie die Propheten, die Gottes Pathos folgten, dem Bösen nicht gleichgültig gegenüber standen. Rassismus, der von Heschel als „Krankheit des Auges“ bezeichnet wurde,3 stellte den Gegenpol zu einer Religion dar, in der alle Menschen gleich sind und nach dem Bild und 1 Eine kurze Einführung in sein Leben und Denken findet sich unter dem Eintrag Fritz A. Rothschild / Ephraim Meir, Art. „Heschel, Abraham Joshua“, in Encyclopaedia Judaica, Bd. 9, Detroit 2010, S. 70–72. 2 Abraham J. Heschel, „Religion und Rasse“, in ders., Die ungesicherte Freiheit. Essays zur menschlichen Existenz, Neukirchen-Vluyn 1985, S. 75; Englisch: Abraham J. Heschel, „Religion and Race“, in ders., The Insecurity of Freedom. Essays on Human Existence, New York 1967, S. 89. 3 Ebd., S. 73 (engl., S. 87).



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Gleichnis Gottes geschaffen wurden. Gott zu ehren bedeutet, die schwarzen Menschen zu ehren. Gott war einer und die Menschheit war eine. Die fürchterlichste Sache war, Gottes Namen zu entehren.4 Wenn man den Namen eines schwarzen Menschen entehrt, entheiligt man den Namen Gottes. Gott ist der Stammvater eines jeden Menschen: „Entweder ist Er der Vater aller Menschen oder keines Menschen. Entweder ist jeder Mensch Gottes Ebenbild oder keiner.“5 Genau diese theologische Einsicht ist es, die Heschels Tiefentheologie und sein gesellschaftliches Handeln durchdringt. Heschel war der Ansicht, dass in der Religion, wie sie im Judentum traditio­ nell verstanden wurde, alle Gottes Kinder waren und als Folge davon niemand in der Sklaverei verbleiben musste: „Der Exodus hat angefangen, aber er ist weit davon entfernt, abgeschlossen zu sein. Es war tatsächlich leichter für die Kinder Israel, das Rote Meer zu durchqueren, als heutzutage für einen Schwarzen, über den Campus gewisser Universitäten zu gehen.“6 Die Anspielung auf den Exodus aller Menschen war in den Vereinigten Staaten wirkungsvoll und wurde vor allem von Martin Luther King angewandt. Nach Heschels Meinung war das Problem der Afroamerikaner das des weißen Mannes; es war das persönliche Problem eines jeden Einzelnen. In seiner Abhandlung zur Gleichberechtigung nimmt Heschel die mensch­ liche Geschichte als die Geschichte von Spannung zwischen Gleichberechtigung und Macht wahr. Er argumentiert, dass sich die Gleichstellung aller Menschen aus Gottes Liebe und seiner Hingabe an alle Menschen ableitet. In einer typischen Umkehrung dessen, was viele in der Regel glauben, vertritt Heschel nicht die Ansicht, dass der letzte Wert eines Menschen von seinem Verdienst oder seinem Glauben abhängt; er beruht vielmehr „auf Gottes Verdienst und Gottes Glauben. Wo immer man eine Spur vom Menschen sieht, da ist Gott gegenwärtig.“7 Gottes Bund gilt allen Menschen. Jeder Mensch ist „Symbol Gottes“ und daher muss jeder Mensch „mit der Ehrerbietung behandelt werden, wie sie dem Bild gebührt, das den König der Könige repräsentiert“.8 4 Ebd., S. 80 (engl., S. 95). 5 Ebd., S. 80, Englisch „He is either the Father of all men or of no man. The image of God is either in every man or in no man.“ Heschel, Insecurity of Freedom, S. 95. 6 Ebd., S. 72; Englisch „The exodus became, but is far from having been completed. In fact, it was easier for the children of Israel to cross the Red Sea than for a Negro to cross certain university campuses.“ Heschel, Insecurity of Freedom, S. 85. 7 Ebd., S. 79 (Hervorhebung im Original); Englisch „… due to God’s virtue, to God’s faith. Wherever you see a trace of man, there is the presence of God.“ Heschel, Insecurity of Freedom, S. 94. 8 Ebd., S. 80; Englisch „… treated with the honor due to a likeness representing the King of kings.“ Heschel, Insecurity of Freedom, S. 95.

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 Buddhistisches Denken und Heschels jüdische Philosophie: eine Begegnung

Mitfühlende Religion oder Rassismus In seiner Eröffnungsrede bei der Nationalen Konferenz zu Religion und Rasse am 14. Januar 1963 in Chicago9 ging Heschel explizit das Problem der Afroamerikaner an. In seinem Beitrag argumentierte er, als er die jüdische Tradition aufgriff, dass ein universaler Gott das Leiden aller Menschen teilt und einen Kampf gegen Unterdrückung und Erniedrigung fordert.10 Er behauptet, dass man wählen muss zwischen Religion oder Rasse und plädiert für die Rechte des schwarzen Volkes. Von einem einzigen Mann stammt alles ab. „Man kann nicht Gott dienen und gleichzeitig den Menschen ansehen, als wäre er ein Pferd.“11 Rassentrennung sei Götzendienst: „Jeder Gott, der der meine ist, aber nicht der deine; jeder Gott, der sich um mich kümmert, aber nicht um dich, ist ein Götze.“12 Heschel merkt an, dass, während Mord gesetzlich strafbar ist, die Sünde der Demütigung unsichtbar sei. Blutvergießen bedeutet im Hebräischen – shfikhat damim – zugleich Mord und Demütigung.13 Der Talmud erwähnt, dass es besser sei, in einen brennenden Ofen zu springen als jemanden öffentlich zu beleidigen.14 In Heschels Theologie teilt Gott den Schmerz mit dem Menschen.

Der Prophet erleidet die Pein Anderer Heschel warnt, dass man die Augen vor dem Problem des Rassismus nicht verschließen oder die Menschen in verschiedene Bezirke einteilen kann. Auch reicht es nicht aus, auf die Fortschritte hinzuweisen, die bereits erzielt wurden. Zudem ist es unzulänglich, das Problem an Gerichte abzugeben, wo man sich nur auf einige wenige Gewaltakte konzentriert. Genau in diesem Zusammenhang spricht Heschel von den Propheten, über die er bereits seine Promotion in Deutschland verfasst hatte und die er später in der amerikanischen Öffentlichkeit besprach.15 Der Prophet ist ein Fürsprecher oder Verfechter der Rechte der Schwachen, die ihre Sache nicht selbst vertreten können: „Der Prophet ist ein Mensch, der nicht 9 Bei dem Kongress hielt Martin Luther King die Abschlussrede. 10 Heschel, „Religion und Rasse“, S. 72–84; Englisch Heschel, „Religion and Race“, S. 85–100. 11 Ebd., S. 73; Englisch „You cannot worship God and at the same time look at man as if he were a horse.“ Heschel, „Religion and Race“, S. 86. 12 Ebd., S. 73 (Hervorhebung im Original); Englisch „Any god who is mine but not yours, any god concerned with me but not with you, is an idol.“ Heschel, „Religion and Race“, S. 86. 13 Baba Metzia 58b. Heschel, „Religion und Rasse, S. 74–75; Englisch Heschel, „Religion and Race“, S. 87–88. 14 Berakhot 43b. 15 Heschel, Die Prophetie, Krakau 1936; Heschel, The Prophets, New York / Evanston 1962.



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duldet, daß anderen Unrecht zugefügt wird; die Wunden anderer Menschen kränken ihn. Er ruft sogar andere auf, Vorkämpfer für die Armen zu werden.“16 Der Gott der Propheten steht dem Bösen nicht gleichgültig gegenüber, denn der Prophet ist ein Mensch, der „selbst das Unrecht erleidet, das anderen angetan wird. Wo immer ein Verbrechen begangen wird, ist es, als ob der Prophet selber das Opfer wäre“.17 Gott ist ein Gott des Pathos. Wie in vielen seiner Schriften hebt Heschel hier hervor, dass Gott sich mit den gesellschaftlichen Problemen befasst und mit den Angelegenheiten des Marktplatzes. Der Prophet leidet sowohl mit dem göttlichen Pathos als auch mit dem Leiden des Mitmenschen mit: „Der Prophet ist ein Mensch, der Gott und Mensch in einem einzigen Gedanken gleichzeitig und allezeit zusammendenkt.“18

Gott braucht den Menschen In einer weiter verfeinerten theologischen Überlegung erwähnt Heschel, dass die menschliche Tragödie in der Zweiteilung von Heiligem und Profanen zu finden ist. Gegen religiöse Engstirnigkeit und Frömmelei, die sich nicht mit der Welt an sich befassen, schreibt er, dass sich mehr Menschen um die Reinheit des Dogmas Sorgen machen als um die Lauterkeit der Liebe. Diese Art von Religionskritik würde ich mit David Koigens Begriff als „Meta-Religion“ bezeichnen, ein Begriff, der sich der Religion, wie sie oft gelebt wird, kritisch nähert.19 Im jüdischen Leben wiederholt man stets, dass Absichten nicht ausreichen. In Anspielung auf Kierkegaards „Glaubenssprung“, doch in Abgrenzung zum dänischen Philosophen, verlangt Heschel einen „Sprung in die Tat“: seiner Meinung nach läutert die Tat das Herz und heiligt die Gedanken.20 Man müsse seinen Gedanken auf höhere Dinge ausrichten. Heschel geht davon aus, dass Gott die Hilfe des Menschen benötigt, um den erhabenen, göttlichen Entwurf in die Geschichte einzubringen: „Gott braucht Erbarmen, Gerechtigkeit; Seine Bedürfnisse können nicht im Raum befriedigt werden, durch 16 Heschel, „Religion und Rasse“, S. 77; Englisch „The prophet is a person who is not tolerant of wrongs done to others, who resents other people’s injuries. He even calls upon others to be the champions of the poor.“ Heschel, „Religion and Race“, S. 92. 17 Ebd., S. 78; Englisch „[…] suffers the harms done to others. Wherever a crime is committed, it is as if the prophet were the victim and the prey.“ Heschel, „Religion and Race“, S. 92. 18 Ebd., S. 78 (Hervorhebung im Original); Englisch „A prophet is a person who holds God and men in one thought at one time, at all times.“ Heschel, „Religion and Race“, S. 93. 19 Siehe Martina Urban, „Deconstruction Anticipated: Koigen and Buber on Self-corrective Religion“, Shofar 27,4 (2009), S. 107–135. 20 Heschel, „Religion und Rasse“, S. 82; Englisch Heschel, „Religion and Race“, S. 97.

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 Buddhistisches Denken und Heschels jüdische Philosophie: eine Begegnung

Sitzen in Kirchenstühlen, durch den Besuch von Synagogen, sondern nur in der Geschichte, in der Zeit. Im Bereich der Geschichte wird dem Menschen Gottes Auftrag zuteil.“21 Dieser Abschnitt zeugt von Heschels meta-religiösem Denken, das gegen religiöse Praktiken wettert, die der Welt, in der wir leben, gleichgültig gegenüberstehen. Religiös zu sein bedeutet, sich wahrhaftig in der Welt einzubringen.

Religion, Menschenrechte und Tiefentheologie Ich möchte das, was Heschel über die Afroamerikaner sagte, auf jede Situation anwenden, in der Menschen nicht ihre Grundrechte gewährt werden. Heschel begann ein solches Verhalten bezüglich der Situation in Israel. Er beschuldigte nicht auf naive Weise oder einseitig die israelische Seite, sondern es war ihm bewusst, dass Respekt für und die Förderung des Anderen die Grundlage und das Herz des Zionismus sind. Unmittelbar nach dem Sechs-Tage-Krieg (1967) schrieb er: Unser Ziel muss sein, zu helfen, Frieden und Versöhnung zu schaffen. Gewalt löst keine Probleme, sie schiebt sie nur hinaus. Wir glauben, daß durch guten Willen und volle Zusammenarbeit aller Völker des Mittleren Ostens eine konstruktive Lösung gefunden wird.22

Heschel war nicht nur aktiv in der Friedensbewegung, sondern trug auch mit dem, was er „Tiefentheologie“ nannte, zur interreligiösen Theologie bei. In einem Vortrag an der Universität von Minnesota 1960 stellte er den Unterschied ­zwischen Theologie und Tiefentheologie dar.23 Theologie als Reflexion über die vor-­theologische Existenz erörtert den Inhalt des Glaubens, so erklärt er. Tiefentheologie befasst sich mit dem eigentlichen Akt des Glaubens.24 Theologie beschäftigt sich mit Lehre, Glaubensbekenntnis und Dogma. Doch Tiefentheologie betrifft Ereignisse und Erkenntnismomente: „Theologien trennen uns, 21 Ebd., S. 82; Englisch „God needs mercy, righteousness; His needs cannot be satisfied in space, by sitting in pews, by visiting temples, but in history, in time. It is within the realm of history that man is charged with God’s mission.“ Heschel, „Religion and Race“, S. 97. 22 Abraham J. Heschel, Israel – Echo der Ewigkeit, Berlin 1988, S. 138; Englisch „Our aim must be to help in bringing about peace and reconciliation. Violence postpones problems, it does not solve them. We believe that by good will and full cooperation among all the nations of the Middle East, constructive solutions will be found.“ Heschel, Israel – An Echo of Eternity, S. 217. 23 Abraham J. Heschel, „Tiefentheologie“, in ders., Die ungesicherte Freiheit. Essays zur menschlichen Existenz, Neukirchen-Vluyn 1985, S. 97–126; Englisch Abraham J. Heschel, „Depth Theology“, in ders., Insecurity of Freedom, S. 115–126. 24 Ebd., S. 99; Englisch Heschel, „Depth Theology“, S. 116–117.



Religion, Menschenrechte und Tiefentheologie 

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­ iefentheologie eint uns.“25 Heschel führt weiter aus, dass Tiefentheologie sich T einer andeutenden Sprache bedient, die dem Gefühl für das Unsagbare entspricht, und er besteht auf der Unzulänglichkeit unseres Glaubens.26 Auf diese Weise bewahrt er das religiöse Ereignis vor seiner Einkerkerung in religiöse Institutionen und Tempel und verbindet es mit dem Säkularen, das geheiligt werden muss. Somit wurde seine Tiefentheologie zu einem Protest gegen religiöse Geltungssucht und Einengung durch Dogmen, Konzeptionen und Definitionen. Sie rettete das Unsagbare vor dem Panzer festgelegter Vorformulierungen. Heschel unterscheidet nicht nur zwischen Theologie und Tiefentheologie, sondern er vertritt auch die Ansicht, dass beide sich gegenseitig bedingen: die Momente der Erkenntnis sind flüchtig, doch in der Theologie versucht man, Erkenntnisse der Anderen in Konzepten verständlich zu machen; Theologen formulieren die Kristallisation der Erkenntnisse der Tiefentheologie. Heschel warnt uns, dass Dogmen nicht mit Gott selbst verwechselt werden sollten, dass Worte das Unaussprechliche nicht ersetzen können und Information keine Anspielung ist. „Dogmen bilden den Anteil, den der armselige Geist am Göttlichen hat,“ erklärt er.27 Er weist auf die Spannung zwischen Dogma und Glauben hin, zwischen Lehre und Erkenntnis, Ritual und Antwort, dem Gefühl des Mysteriums und begrifflicher Theologie, Mysterium und Verstehen, Wunder und Erklärung. Heschels Tiefentheologie ist daher ein ernsthafter Versuch, Dogmen und Rituale zu relativieren, ohne sie zu verwerfen. Seine Tiefentheologie verweist auf das Unsagbare, über das viele Religionen so viel zu sagen haben. Tiefentheologie befasst sich mit den Situationen, in denen man das Mysterium erlebt, in denen man in Staunen und Ehrfurcht verweilt und ein Gefühl für Verpflichtung empfindet. Es handelt sich dabei um das Bewusstsein der Erhabenheit und dessen, was einen letztendlich angeht. Heschel geht davon aus, dass alle Religionen von Wunder, Ehrfurcht und Verpflichtung handeln. Ich schätze Heschels Unterscheidung und Spannung zwischen Theologie und Tiefentheologie, die er beleuchtet, doch habe ich Zweifel bezüglich dessen, was er in seiner Tiefentheologie als Grundlage für jeden religiösen Menschen bezeichnet. Ich halte dafür, dass es schwierig ist, eine gemeinsame Basis für alle Religionen zu finden, außer der Akzeptanz von etwas Transzendentem und Letztem. Alle Religionen befassen sich mit der letzten Wirklichkeit, der man sich auf unterschiedliche Weise anhand mannigfaltiger religiöser Erfahrungen annähert. 25 Ebd., S. 100; Englisch „Theologies divide us; depth theology unites us.“, in Heschel, „Depth Theology“, S. 119. 26 Ebd., S. 101; Englisch Heschel, „Depth Theology“, S. 119. 27 Ebd., S. 102; Englisch „Dogmas are the poor mind’s share in the divine.“ in Heschel, „Depth Theology“, S. 121.

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 Buddhistisches Denken und Heschels jüdische Philosophie: eine Begegnung

Buddhismus und Heschels Judentum Wie am Beginn dieses Kapitels erwähnt möchte ich auf dialogische Elemente in Heschels jüdischem Denken hinweisen und sie mit dem Buddhismus in Kontakt bringen. Bisher habe ich gezeigt, wie Heschel behauptet, dass sich die Religionen um alle Mitmenschen kümmern sollten, um ihre Freiheit und ihre Rechte. Gott ist der Vater aller. Wie würde der Buddhismus darauf reagieren?

Das Gottes-Problem Ein Anfangsproblem liegt in der Tatsache, dass Heschels Denken und Judentum als solches theistisch und dualistisch sind: sie reden von Gott und Mensch, wohingegen der Buddhismus als ganzheitliche Lebensweise nicht über Gott oder dessen Pathos spricht. Doch stellt dies meiner Meinung nach aus zwei Gründen kein wirkliches Problem dar. Zunächst ist Religion weiter gefasst als Theismus. Und zweitens haben auch Buddhisten ihre absolute, höchste Wahrheit: das Nirwana. Das vierte Siegel im Buddhismus lautet: „Nirvāṇa ist Frieden.“28 Bezeichnenderweise ist eines der Epitheta für Gott im Judentum (und im Islam) „Frieden“.

Frieden Die Frage ist jedoch, was bedeutet Frieden in beiden Traditionen? Meinen Juden und Buddhisten dieselbe Sache, wenn sie von Frieden sprechen? Man könnte sagen, dass man im Buddhismus Frieden als Ergebnis der Selbsterlösung erreicht, auch wenn es absurd wäre von Selbsterlösung zu sprechen, wenn es kein getrenntes Selbst gibt.29 Lassen Sie mich daher neu formulieren: im Buddhismus ist „Frieden“ gleichbedeutend mit dem Ende des Leidens oder des Schmerzes und deren Ursachen. Es liegt im Erwachen. Man erreicht das Nirwana, wenn man sich anhand der Entwicklung eines gelassenen Geistes vom Leiden befreit.30 Aus jüdischer Perspektive erreicht man Frieden durch die Verwirklichung der tzèdèq oder Gerechtigkeit. Man muss den Frieden aktiv erwirken, indem man zum Beispiel auf 28 Christof Spitz, „Religiosität und Philosophie im buddhistischen Selbstverständnis“, in Buddhismus im Westen. Ein Dialog zwischen Religion und Wissenschaft, hg. von Carola Roloff / Wolfram Weiße / Michael Zimmermann, Münster 2011, S. 54, 58–59. 29 Siehe Oliver Petersen, „Erfahrungen eines Buddhisten im interreligiösen Dialog in Hamburg“, in Buddhismus im Westen, S. 150. 30 Spitz, „Religiosität und Philosophie“, S. 55: „,Nirvāṇa ist Frieden‘ bedeutet, dass Leidfreiheit mit der ‚Befriedung‘ der das Bewusstsein trübenden Leidenschaften durch Geistesschulung entsteht.“



Buddhismus und Heschels Judentum 

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die Menschenrechte für die schwarzen Menschen in Amerika achtet oder für die Palästinenser in der Region, wo ich lebe. Sind diese Ansichten vereinbar? Ich vertrete die Auffassung, dass in der Herausbildung einer interreligiösen Theologie und eines Dialogs Buddhisten auf interaktive Weise soziales Engagement vom Judentum und von den theistischen Religionen allgemein lernen können. Natürlich gibt es den sogenannten „Engagierten Buddhismus“, in dem der Mönch Bäume beschützt oder Kranke behandelt.31 Eine buddhistische Feministin wie Carola Roloff interessiert sich beispielsweise für die Gleichstellung zwischen Mann und Frau. Höchstwahrscheinlich wird der europäische Buddhismus einen anderen Zugang entwickeln als die vielen Erscheinungsformen des Buddhismus in nicht-­ europäischen Ländern. Doch allgemein gesprochen und, wie sich die Sachlage derzeit darstellt, ist die Erlösungslehre des Buddhismus ganz anders als die des Judentums, welche zum aktiven tiqqun olam, Reparatur der Welt, durch Arbeit in der Geschichte aufruft. Folgerichtig wird Frieden als absolutum auf unterschiedliche Arten im Buddhismus und im Judentum erreicht. Dennoch möchte ich trotz der augenscheinlichen Widersprüche behaupten, dass die beiden Weltsichten nicht unversöhnlich sind. Vielleicht kann man sein eigenes Dasein bereichern, indem man intensiv auf das hört, was Andere sagen, um einen komplexeren Standpunkt dessen auszubilden, was letztendlich von Bedeutung ist.32

Dialog als Transformationsprozess In einem echten Dialog, der meines Erachtens immer transformativ ist, hat man kein Monopol des Absoluten. Einer lernt vom Anderen. Menschen sind verschieden, doch in der „Trans-Differenz“ öffnet man sich dem Anderen.33 Buddhisten können von Juden lernen, dass es Menschen gibt, die sich in der Welt einsetzen, denn laut ihrem Denken kümmert sich Gott um diese Welt und sorgt sich um die Zukunft der Menschheit. Juden können von Buddhisten lernen, und in dieser Hinsicht auch von Christen und Muslimen, dass viele andere Menschen ihr Leben auf die Idee der Erlösung ausrichten. Ich sehe im Judentum und Buddhismus eine ergänzende Aufgabe. Die beiden Weltanschauungen können sich gegenseitig kritisch betrachten. Buddhisten können über ein selbstloses Dasein nachdenken, 31 Petersen, „Erfahrungen eines Buddhisten“, S. 152. 32 Eva-Maria Koch vermerkt, dass das unreife Ego sich selbst durch das gefährdet sieht, was fremd ist: man stabilisiert ein schwaches Ich, in dem Nuancen und Unterschiedlichkeiten durch Schwarz-Weiß Malerei der Welt unterentwickelt sind. Vgl. Eva-Maria Koch, „Kann man gleichzeitig Christ und Buddhist sein?“, in Buddhismus im Westen, S. 95. 33 Meir, „Quo vadis, religio? Religion as Terror and Violence or as Contribution to Civilization: A Plea for Trans-Difference“, in ders., Identity Dialogically Constructed, S. 10–26.

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 Buddhistisches Denken und Heschels jüdische Philosophie: eine Begegnung

das im aktiven Mitfühlen mit Anderen erreicht wird, und Juden können begreifen, dass man äußeren Frieden nur durch inneren erreichen kann. Die Zeit wird zeigen, ob Buddhisten bereit sind, Moses einen Bodhisattva zu nennen (auf jeden Fall können sie nicht ausschließen, dass er kein Bodhisattva war), und ob Juden den Buddha eines Tages als Propheten bezeichnen werden. Ein lebendiger und respektvoller Dialog unter Menschen wird mehr als das Lesen von Büchern über sie den Horizont des jeweiligen Dialogpartners erweitern. Wie Heschel es formuliert, wir brauchen mehr Lehrmenschen (textpeople) als Lehrbücher (textbooks).34

Selbstlose Existenz In Heschels Religionsphilosophie scheint zunächst Zurückhaltung „der einzige mögliche Weg der Erlösung aus der Versklavung an das Ich.“35 Die Einzigartigkeit des Menschen liegt in seiner Fähigkeit, über das Selbst hinauszugehen: er kann höheren Zielen dienen und über seine Bedürfnisse hinausgehen.36 Das Selbst wird als Menge von Bedürfnissen definiert und es ist die Aufgabe des Menschen, sein eigenes Selbst zu verwandeln. Man muss seine Ichbezogenheit verlassen und in die weitere Welt hinausgehen, in Fürsorge und Mitgefühl für den Anderen, so wie Gott sich ekstatisch dem Menschen zuwendet und ihn oder sie herausfordert, die göttliche Sorge für die Menschen mitzutragen. Der Standpunkt der Selbstauslöschung hat seine Parallelen im buddhistischen Denken, wo eine selbstsüchtige Haltung Leiden verursacht. Laut Buddha ist das Selbst grundsätzlich anatta oder „Nicht-Selbst“. Man kann erwachen durch das Erleben des Nirwana als ein spirituelles Ereignis. Die Augen können geöffnet werden und man kann zur Bezogenheit auf alle erwachen, die Wirklichkeit des Beziehungsnetzes aller. In der Erfahrung des „Nicht-Selbst“ gewinnt man Weisheit wie ein Buddha und wird voll des Mitgefühls wie ein Bodhisattva. Die Hervorhebung der Befreiung vom problematischen Selbst ist in buddhistischem und jüdischem Denken parallel. Es gibt eine faszinierende Verwandtschaft zwischen einem Buddhismus, der ein selbständiges, inhärentes und substantielles Selbst verleugnet und einem Chassidismus, der das Selbst aus dem Zentrum rückt und es zugunsten eines 34 Heschel, „Jüdische Erziehung“, in ders., Ungesicherte Freiheit, S. 190; Englisch Heschel, „Jewish Education“, in ders., Insecurity of Freedom, S. 237. 35 Abraham J. Heschel, Gott sucht den Menschen, Neukirchen-Vlyun 1995, S. 305; Englisch „[…] the only way of redemption from the enslavement to the ego.“ In Abraham J. Heschel, God in Search of Man: A Philosophy of Judaism, New York 1976, S. 398. 36 Ebd., S. 304; Englisch Heschel, God in Search, S. 397.



Buddhismus und Heschels Judentum 

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unendlichen, letzten Wertes, des Unendlichen, auslöscht.37 Der Buddhismus kritisiert die hinduistische Vorstellung, dass atman, das Selbst, zugleich Brahman, die höchste Wirklichkeit, ist. Es strebt danach, Erlösung von der obsessiven Sorge um das Selbst zu erreichen, da sich alles in stetem Wandel befindet. Andererseits lehrt der Chassidismus, dass die Individualität des Einzelnen eine Illusion ist: in bittul ha-yesh (Aufhebung des Seinenden) wird das Ich (ani) in das Nichts (ayin) des Unendlichen (ein-sof) verwandelt. Sowohl im Buddhismus als auch im Chabad-­Chassidismus wird Selbstzentrierung überwunden und man wird von einer rein autonomen Existenz befreit. Für den Chassidismus und den Buddhismus ist diese Welt letztendlich eine Illusion. Doch obwohl Heschel als Chassid erzogen wurde und vom Chassidismus des Baal Shem Tov und dem Rebbe von Kotzk inspiriert wurde, würde er nie so weit gehen zu leugnen, dass es in der Verbindung kein Selbst gibt und keinen Anderen, und dass man alles was existiert annehmen und sogar umarmen muss, wie im Buddhismus.

Rituale und Konzeptionen Wie erwähnt ist Heschel der Meinung, dass religiöse Rituale, auch wenn sie wichtig und notwendig sind, nicht das Ziel, sondern nur das Mittel darstellen. Das Ziel der Gebote, des Segens und Gebetes ist es, Gott immer vor Augen zu haben: „Gott fragt nach dem Herzen, nicht nach den Taten allein.“38 Taten sind im Judentum wichtig, doch stellen sie nicht das letzte Ziel dar: „Wir preisen die Tat: wir machen das externe Handeln nicht zum Götzen.“39 Heschel warnt vor religiösem Behaviorismus ohne Intention. Das Ziel der rituellen Performanz liegt letzten Endes in der Transformation der Seele.40 Doch bleiben Rituale wichtig, denn „Spiritualität ist das Ziel, nicht der Weg des Menschen.“41 Es gibt eine deutliche Parallele zwischen Buddhismus und Heschels Gedanken zum Verhältnis zwischen Weg und Ziel. Im Buddhismus sind Rituale, Konzeptionen, Symbole und Meditation nur insofern von Bedeutung, als sie zur Erfahrung einer tieferen Wirklichkeit beitragen, einer Befreiung und einem wahren Sehen.42 37 Zu dieser Idee siehe Jerome (Jehuda) Gellman, „Judaism and Buddhism: A Jewish Approach to a Godless Religion“, in Jewish Theology and World Religions, hg. von Alon Goshen-Gottstein / Eugene Korn, Oxford 2012, S. 304, 310–312. 38 „‚God asks for the heart,‘ not only for deeds“, ebd., S. 309. 39 „We exalt the deed: we do not idolize external performance“, ebd., S. 308. 40 Ebd., S. 310. 41 „(S)pirituality is the goal, not the way of man“, ebd., S. 297. 42 Spitz, „Religiosität und Philosophie“, S. 59.

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 Buddhistisches Denken und Heschels jüdische Philosophie: eine Begegnung

Der Umgang mit Leiden Anhand seines langwährenden Studiums der Propheten, die ihre Zeitgenossen hart in die Schranken wiesen und auf eine bessere Welt hofften, lernte Heschel, dass religiös zu sein bedeutet, sich in die Angelegenheiten der leidenden Menschen einzumischen. Als theologischer Aktivist wollte er die Menschen von Armut, Ungerechtigkeit und Unterdrückung befreien. Er weigerte sich, die Welt als grundsätzlich erlöst anzusehen und strebte danach, sie zu reparieren und zu erlösen. Aus seiner Perspektive sucht Gott den Menschen, Er braucht das menschliche Handeln, das sich um die Menschheit kümmert, und Er wird im Lauf der Geschichte auch enttäuscht. Er sucht nach Gerechtigkeit und Mitgefühl. Gott ist nicht apathisch, sondern leidenschaftlich und empathisch. Er nimmt den Menschen ernst und leidet mit dem Menschen in Not. Die Propheten hatten aufgrund ihrer einzigartigen Erfahrung mit Gott an der göttlichen Sorge um den Menschen Anteil. Sie sind in die Dinge des täglichen Lebens involviert. Heschels Tochter Susannah merkt an, dass nach dem Holocaust die Idee der Leidensfähigkeit Gottes (Theopaschismus) als ein zentrales Thema der christlichen Theologie wieder auftauchte.43 In diesem theologischen Denken, das in den Arbeiten von Jürgen Moltmann und Eberhard Jüngel auftaucht, wird Gott durch menschliches Handeln berührt und leidet mit den Menschen. Heschels Theologie von Gottes Pathos hat seinen Ursprung in der Erfahrung Israels, wie auch in der Vorstellung der Shekhina (der göttlichen Einwohnung auf Erden als der weiblichen Seite Gottes), die das Volk Israel ins Exil begleitete. Auch der Buddhismus befasst sich stark mit dem Leiden und ist voller Mitgefühl. Doch während man in der jüdischen Tradition aktiv Gerechtigkeit als göttlichen Befehl realisiert, sucht der Buddhismus eher nach Frieden im Herzen durch die Akzeptanz des Gegebenen. Buddhisten geben Erwachen, dem Friedfertigsein, der Achtsamkeit Priorität. Auf den ersten Blick sind diese Standpunkte nicht kompatibel. Doch Paul Knitter hat in seinem bekannten Buch zu Buddhismus und Christentum bemerkt, dass Aktion und Kontemplation sich nicht widersprechen.44 Er schreibt: „Wer Frieden will, muss sich für Gerechtigkeit einsetzen“ und „Wer Frieden will, muss Friede sein.“45 Knitter glaubt nicht an Gerechtigkeit ohne Mitgefühl – eine 43 Susannah Heschel, „The Revival of Theopaschism in Post-World War II Theology“, in Judaism, Topics, Fragments, Faces, Identities, hg. von Haviva Pedaya / Ephraim Meir, Beer-Sheva 2007, S. 69–86. 44 Paul F. Knitter, Ohne Buddha wäre ich kein Christ, Freiburg i. Br. 2012, S. 278–279, 294; Englisch Paul F. Knitter, Without Buddha I Could not be a Christian, Oxford 2009, S. 197, 201. 45 Ebd., 293–294. Englisch ebd., S. 201: „If you want peace, work for justice. And if you want justice, work for peace.“



Hin zu einer interreligiösen Theologie 

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­ orstellung, die auch in der jüdischen Tradition vorkommt: din, Recht, gibt es V nicht ohne rahamim, Erbarmen; sie treffen sich beide in tifèrèt, der (geistigen) Pracht. Er vereint „Frieden schaffen“ mit „Friede sein“. In der Nachfolge Knitters möchte ich sagen, dass sich mutatis mutandis Judentum als äußere und soziale und Buddhismus als innere und persönliche Komponente sehr gut gegenseitig im interreligiösen Dialog ergänzen können. Alle können von allen lernen und Handeln und Meditation, Gerechtigkeit und Mitgefühl vereinen. Während Buddhisten lehren, dass man gelassen die Tatsachen des menschlichen Daseins akzeptieren muss, hebt Heschel hervor, dass eine prophetische Existenz den Kampf gegen das Böse impliziert. Meiner Ansicht nach können Juden von der buddhistischen Lebenseinstellung lernen, dass Frieden zu bringen bedeutet Friede zu sein. Sie können ihrer eigenen religiösen Befindlichkeit die gelassene buddhistische Lebenseinstellung hinzufügen. Andersherum können Buddhisten von dem aktiven sozialen Engagement in der Welt lernen. In einer dialogischen Philosophie der Religionen wird es immer verschiedene Pfade geben und sie sind als vielfache Wege zur Annäherung an das letzte Ziel notwendig.

Hin zu einer interreligiösen Theologie Ich habe dieses Kapitel mit der Darstellung von Heschels bedeutendem jüdischen Denken begonnen. Auf den ersten Blick ist dieses Denken weit entfernt vom Buddhismus. Doch wenn man sich bemüht, seine eigene jüdische Identi­ tät ohne Negativfolie der anderen Identitäten herauszubilden, eröffnet sich ein unerwarteter Horizont. Judentum und Buddhismus sind unterschiedliche Pfade, die beide auf eine letztendliche Wirklichkeit hinführen. Doch haben beide die Sorge um das Leiden des Menschen gemeinsam. Das buddhistische karuna oder Mitgefühl und das hebräische rahamim, Mitleid, welches das darstellt, was in der Gebärmutter (rèhèm) geschieht, sind nicht weit voneinander entfernt. Beide Religionen sehen Rituale als wichtig an, doch verwechseln sie sie nicht mit dem Ziel, das im Judentum darin liegt, in der Gegenwart Gottes zu leben, der nach Mitgefühl fragt, und im Buddhismus, ins Nirvana zu gelangen und mit jedem fühlenden Wesen mitzufühlen.46 Gerechtigkeit, tzèdèq, zu schaffen und für Frieden, shalom, zu kämpfen kann nicht getan werden, ohne selbst Friede zu sein. Friede zu sein bedeutet aktiv den Frieden zu bringen. Auf diese Weise ergänzen sich Judentum und Buddhismus gegenseitig: sie brauchen einander, um die Welt aus mehr als einem Blickwinkel heraus zu sehen, aus einem 46 Das Studium im Judentum und die Meditation im Buddhismus sind beides Arten der Konzentration auf das, was das Lebens lebenswert macht.

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 Buddhistisches Denken und Heschels jüdische Philosophie: eine Begegnung

vollständigeren Blickwinkel des interreligiösen Dialogs und der interreligiösen Theologie. Wie Heschel so pointiert sagte: „Keine Religion ist eine Insel.“47 Heute praktizieren immer mehr Juden verschiedene Arten der Meditation und nicht wenige Buddhisten engagieren sich in sozialen, politischen, ökonomischen und die Umwelt betreffende Aktionen. Sozial engagierte Buddhisten stellen eine Verbindung zwischen Meditation und sozialem Handeln her.48 Sie sehen als das Ziel des buddhistischen Handelns die Befreiung von Leiden und die Vervollkommmnung von Weisheit und Mitgefühl.49 In ihrem Verständnis führt die Lehre der gegenseitigen Verbundenheit und des Nicht-Selbst zu einem weltlichen Engagement. Eine dialogische Philosophie und eine interreligiöse Theologie müssen Identitäten neu überdenken und sie als grundsätzlich auf einander bezogene Identitäten wahrnehmen, die unterschiedlich sind, doch dem Anderen nicht gleichgültig gegenüber stehen. In solch einer Konzeption von Identität verändert sich die eigene Weltsicht durch wahre Begegnung mit Anderen. Auf unseren unterschiedlichen Wegen sind wir alle verbunden, auf interkulturelle, inter- und intrareligiöse Weise. Unsere Leben und Wege der Heiligkeit sind verschieden, doch ineinander verwoben. Juden und Buddhisten, Muslime und Christen, Aleviten, Bahai, Drusen und Sikh: wir sind alle verbunden. Wir kennen uns besser als vorher, es gibt mehr Information als je zuvor, doch was wir jetzt brauchen ist nicht nur Kenntnis, sondern Erkenntnis und Bestätigung jedes einzelnen Menschen.

47 Abraham J. Heschel, „No Religion is an Island“, Union Seminary Quarterly Review 21,2 (1966), S. 117–134. Eine deutsche Übersetzung liegt vor unter http://www.hagalil.com/judentum/­ philosophie/heschel.htm (Zugriff: 17. April 2014). 48 Sallie B. King, Socially Engaged Buddhism, Honolulu 2009, S. 39–66. 49 Ebd., S. 44.

Kapitel 3 Erfolgreiche Interreligiosität: eine Fallstudie Ich habe bereits auf Paul Knitters Vorreiterrolle im interreligiösen Dialog zwischen Christen und Buddhisten Bezug genommen. Das vorliegende Kapitel skizziert im Detail den Inhalt seines anregenden Buches zum christlich-buddhistischen Dialog als gelungenes Beispiel für Identitätsbildung auf dialogische Weise.1 Ich stelle Knitters Werk ausführlich dar, weil sein Leben exemplarisch für jene vielseitige Zugehörigkeit ist, über die Schmidt-Leukel schreibt.2 Kombinationen sind auch im Judentum möglich: Juden können ihr Judentum mit Wertvorstellungen aus dem Feminismus, der Demokratie oder den Menschenrechten vereinen. Sie können sich mit dem Land, in dem sie leben, identifizieren. Sie können zugleich ihr Judentum vertiefen und mit Menschen anderer Religionen interagieren. Sie können vom Buddhismus lernen und buddhistische Elemente in ihr Leben integrieren. Knitter vermengt nicht Religionen und Weltanschauungen. Er liefert vielmehr ein persönliches, aufrichtiges, gut dokumentiertes und manchmal humorvolles Beispiel für ein religiöses Leben auf interreligiöse Weise. Meines Erachtens zeigt Knitters Werk die Möglichkeit einer erfolgreichen vielseitigen Zugehörigkeit auf und wie man seine eigene geistliche Identität im Austausch mit Anderen (neu) formen kann. Es zeigt auf, dass religiöse Identität nicht statisch, einmalig für immer gegeben ist, sondern ein ständiger, dynamischer Prozess, der das Selbst verändert. Seit kurzem ist der Dialog zwischen den Religionen und Weltanschauungen noch intensiver geworden als je zuvor. Aufgrund der vorhandenen religiösen Vielfalt in unseren modernen Gesellschaften ist die Schaffung einer interreligiösen Theologie eine dringliche Aufgabe geworden. Wie im ersten Kapitel erwähnt zeigte Alan Brill auf, inwieweit Juden in Kontakt mit anderen Religionen treten. Es besteht die Notwendigkeit für eine jüdische Theologie der Religionen. Doch bin ich nicht an der Etablierung einer konfessionellen Theologie der Religionen interessiert, sondern eher an einer interreligiösen Theologie, die die gegenseitige Bezogenheit der Religionen wertschätzt. Der fortlaufende Austausch und die Dialoge zwischen verschiedenen Religionen, die das Selbst ändern, schaffen eine neue 1 Paul F. Knitter, Ohne Buddha wäre ich kein Christ, Freiburg i. Br. 2012. Dieses Kapitel basiert auf einer kurzen Darstellung von Knitters Schrift im Journal of Religion 93,3 (2013), S. 396–397, wurde jedoch für das vorliegende Buch grundlegend überarbeitet und erweitert. Das Phänomen, dass Christen sich stark für den Buddhismus interessieren, ist heute weitläufig bekannt. Michael von Brück ist z. B. Professor für Religionswissenschaft in München als auch Zen- und Yoga-Lehrer. Sallie King ist Professorin für Religionswissenschaft und Philosophie an der James Madison Universität; sie ist Christin, die über den sozial engagierten Buddhismus schreibt. 2 Siehe supra, Einleitung, S. 13.

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 Erfolgreiche Interreligiosität: eine Fallstudie

Atmosphäre und ein neues Gebiet, über das Theologen nachdenken können und müssen. So werden z. B. immer mehr Juden vom Buddhismus angezogen. Viele, die zum Buddhismus konvertieren, sind Juden. Viele einflussreiche buddhistische Meister sind Juden, wie z. B. Nyanaponika, Ayya Khemma, Sylvia Boorstein, Sharon Salzberg, Bernie Glassman und Norman Fisher. Doch da Juden nicht die einzigen sind, die auf den Buddhismus Bezug nehmen, stelle ich die Arbeit Knitters als ein Paradigma für erfolgreiches interreligiöses Handeln und Denken dar. Paul Knitter, Paul Tillich Professor für Theologie am Union Theological Seminary in New York City, hat im interreligiösen Dialog, ganz besonders auf dem Gebiet des christlich-buddhistischen Dialogs, bahnbrechende Arbeit geleistet. Er blickt jenseits der traditionellen Grenzen des Christentums und behandelt Pro­ bleme des Christentums, die er durch sein „Hinüberwechseln“ zum Buddhismus und sein „Zurückkommen“ in seine christliche Identität und Glaubensgrundsätze, die nun durch buddhistische Einsichten bereichert sind, überwinden möchte. Knitter bezeichnet sich selbst als einen buddhistischen Christen und nimmt seine doppelte Zugehörigkeit ernst. Er trägt seinen Lesern gegenüber verantwortlich Rechnung für seinen existenziellen Weg zum Buddhismus. Der Dialog dieses christlichen Theologen mit dem Buddhismus hat eine erfolgreiche hybride Religiosität hervorgebracht. Das erste Kapitel von Knitters Arbeit zum Christentum und zum Buddhismus trägt den Titel „Das Nirwana und Gott als transzendenter Anderer“.3 Knitter behandelt hier das Problem des Gottes „da oben“ oder „da draußen“, der totaliter aliter, das „selbstgenügsame Wesen“, das – in seiner Selbstgenügsamkeit – nicht von Anderen berührt wird. Er kommt so mit dem Problem eines fernen Gottes zurecht, dessen Handeln in der Geschichte eine Einbahnstraße darstellt; er tut dies auf eine nicht-dualistische Weise, indem Gott und die Welt unterschieden werden, aber nicht voneinander getrennt sind. Knitter findet eine solch nichtdualistische Erfahrung im Buddhismus, in dem das Intersein oder Verbundensein zentral ist. Er erläutert, wie im Buddhismus die Welt stets im Werden ist und sich Dinge aufgrund ihrer Verbundenheit miteinander beständig verändern. Laut Buddha hat nichts eine eigene Existenz, da sich alles aufeinander bezieht. Anstelle des Besitzens in Selbstbezogenheit, das Leiden verursacht, kann man durch das Erleben des Nirwana erweckt werden. In der (Reform)Tradition des Mahayana im Buddhismus wird diese Erweckung oder Erleuchtung auch als direkter Erkenntniszugang zur Sunyata oder zur Leerheit / Grundlosigkeit gesehen, indem man aufnahmefähig für die Dinge wird, wie sie sind und alles empfangen kann. Diese Erfahrung der Sunyata inspiriert Knitter, wenn er zu seinem Christentum „zurückkommt“. In einer nicht-dualistischen Erfahrung fühlt man sich mit etwas verbunden, das größer 3 Knitter, Ohne Buddha, S. 20–53.



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ist als man selbst: man fühlt ein erweitertes Ich oder den Verlust des Selbst. In Knitters mystischer Erfahrung wird Gott als der „Grund des Interseins“4 erlebt und mit dem Intersein gleichgesetzt. Nachdem er zur Sunyata übergegangen ist, kommt Knitter zurück zu Gott, den er nun als Geheimnis des Interseins, das den Menschen umgibt und belebt, erfährt. Infolge dessen wird Gott für ihn zum verbindenden Geist, dem göttlichen Geist der alles mit Energie erfüllt. Auf diese Weise findet er eine Alternative zum problematischen Dualismus in einer Art panentheisistischen Weltanschauung, in der Gott als in allem anwesend gefühlt wird. Das zweite Kapitel in Knitters Buch behandelt den Gottesbegriff, diesmal als „Du“, als einen persönlichen Gott, der für Knitter problematisch ist (der dies natürlich in der vorherrschenden jüdischen Erfahrung nicht ist).5 Beim „Hinüberwechseln“ zur buddhistischen Erfahrung, so sagt er, ist im Buddhismus das letztendliche Ziel nicht die Liebe Gottes, sondern Erleuchtung, die durch Weisheit oder prajna und durch Mitgefühl oder karuna gekennzeichnet ist. In der Weisheit werden die Augen des Menschen geöffnet und er wird erweckt zur Bezogenheit von allem, zur Wirklichkeit der Verwobenheit des Interseins. Mitgefühl oder Liebe für alle empfindsamen Wesen folgen dabei auf natürlichem Wege. Als Buddhist gewinnt man Weisheit, als Bodhisattva fügt man Mitgefühl hinzu. In der Verbindung gibt es kein Selbst und kein Anderer, nur ein Loslassen. In seinem Lernen vom Buddhismus sinnt Knitter über das Göttliche als „alles durchdringenden Geist“6 nach. Sein Gott ist eher eine „Gegenwart oder Kraft, die personale Züge aufweist“.7 Beim „Zurückkommen“ zu seinem Christentum erinnert er den Leser daran, dass für Paul Tillich und Karl Rahner unser Reden von Gott als „Du“ und als „Person“8 symbolisch ist: die göttliche Wirklichkeit kann nicht in nur einem Symbol enthalten sein. Knitter definiert Gott als „verbindenden Geist“, der in Weisheit und Mitgefühl, in der Sorge für den Anderen erfahren werden kann. Der Geist braucht den Menschen, welcher wiederum den Geist braucht: „Der Geist braucht mich, um Geist zu sein und ich brauche den Geist, um ich zu sein“.9 Es besteht eine Verbundenheit und eine gegenseitige Abhängigkeit. Knitter spricht auch das Problem des Bösen an. Im Buddhismus wird das Böse als „Unwissenheit“10 betrachtet. Jemanden oder etwas böse zu nennen heißt, noch mehr Unwissenheit hervorzubringen. Alles ist ein Zusammenspiel 4 Knitter, Ohne Buddha, S. 47. 5 Auch Mordechai Kaplan, der Begründer der Reconstructionist-Bewegung, hatte Probleme damit, Gott als „Du“ anzusprechen, als ob Er eine Person wäre. 6 Knitter, Ohne Buddha, S. 65. 7 Ebd. 8 Ebd., S. 79. 9 Ebd., S. 88. 10 Ebd., S. 75.

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von „Gründen und Bedingungen“.11 Doch beeilt sich Knitter hinzuzufügen, dass Buddhisten eindeutig positiv seien; sie sind aufmerksam auf Bewegung und glauben, dass ein Mensch unter den gegebenen Umständen nicht alles ist, was er sein kann. Sie glauben, dass man fähig ist, ein gutes karma zu schaffen. Böse Dinge geschehen, doch kann man mit ihnen umgehen. Mit der Möglichkeit eines guten karma fühlt sich Knitter den Prozesstheologen verwandt, die den Geist als die Ursache endloser Möglichkeiten ansehen. Im dritten Kapitel erörtert Knitter das Problem von Sprache im Verhältnis zum Geheimnis Gottes und dem Nirwana. Während Christen wortreich und redegewandt sind, steht im buddhistischen Denken Erfahrung an erster Stelle.12 Im Zen Buddhismus sind Worte sekundär und die Erfahrung der Erleuchtung steht im Vordergrund. Zen Buddhisten sagen: „Der Finger ist nicht der Mond.“13 Schüler können die Frage vernehmen: „Wie klingt das Klatschen einer Hand?“14 und sie werden zurück nach Hause geschickt, bis sie es „begreifen“. All unser Reden, all unsere Worte, resümiert Knitter bei seinem „Zurückkommen“ sind Finger,15 oder wie die Hindus sagen – wenn sie über Gott sprechen –: „neti, neti“ (weder dies, noch das).16 Das Geheimnis Gottes kann nicht in einem Wort enthalten sein und daher ist das Wort Gott selbst ein Symbol: es verweist. Daher spricht Tillich vom „Gott jenseits Gottes“17, auf den die Religionen hinweisen.18 Im Kapitel mit der Überschrift „Das Nirwana und der Himmel“ beschäftigt sich Knitter erneut mit Fragestellungen christlicher Theologie. Er wechselt anschließend zum Buddhismus hinüber, der nützliche Erkenntnisse liefert, und kommt dann zurück zum Christentum. Nach seiner Darstellung der christlichen Vorstellung vom Leben nach dem Tode mit Bestrafungen und selbstsüchtigen Belohnungen, wechselt Knitter zum Buddhismus über, der keine Vorstellung von einem Leben nach dem Tode hat, sondern dass man als anatta (Nicht-Selbst) Teil der umfassenden Wirklichkeit des Interseins wird.19 Infolge des Naturgesetzes des karma gibt es Wiedergeburt.20 Sobald er wieder zum Christentum zurückkommt, 11 Ebd., S. 76. 12 Ebd., S. 106. 13 Ebd., S. 109. 14 Ebd., S. 112. 15 Ebd., S. 119 16 Ebd., S. 116. 17 Ebd., S. 118. 18 Man muss hier erwähnen, dass Martin Buber Paul Tillichs Lehre eines Urgrundes nicht teilte. Für ihn war das Wort Gott ein Urwort, das durch nichts anderes ersetzt werden konnte. Friedman, Encounter on the Narrow Ridge, S. 192 und 382. 19 Knitter, Ohne Buddha, S. 137. 20 Ebd., S. 139.



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schneidert er sein Christentum „mit einer buddhistischen Schere und buddhistischen Flicken“21 zurecht. Er folgert, dass die Lebensweise eines Menschen so schadhaft für Andere sein kann, dass sich dies auch auf die Wirklichkeit nach dem Tode auswirken kann. Zum Glück, so bemerkt er, gibt es die positive Rückseite dieser Art des karmas: „schlechtes karma“ hat nie das letzte Wort.22 Kapitel fünf konzentriert sich auf Jesus und Gautama Buddha. Am Beginn relativiert Knitter interessanterweise die Zentralität Jesu, indem er die biblische Idee, dass alle Menschen Gottes Töchter und Söhne sind, ins Gedächtnis ruft.23 Jesus ist in seinen Augen nicht der Reparateur, der die Menschheit vor dem Schlamassel rettet, das die Menschen verursacht haben und in dem sie stecken.24 Auch ist für ihn Gott nicht der misshandelnde Elternteil, der ein Sühneopfer fordert.25 Knitter glaubt nicht an die Überlegenheit seiner Religion und weigert sich, ein Inklusivist zu sein, der nur eine partielle Wahrheit den anderen Religionen zugesteht. Alle sind dazu aufgerufen, ihre vollständige menschliche Natur, ihre Buddha-Natur zu verwirklichen.26 Wenn er zum Christentum zurückkommt, nimmt er Jesus als die Person wahr, die das volle Potential der menschlichen Natur verwirklicht hat.27 Unter diesem Blickpunkt schließt die Einzigartigkeit Jesu Andere nicht aus, da sie nicht exklusiv ist, sondern relational.28 Von den Mahayana-Buddhisten lernt Knitter, dass das Ziel darin besteht, ein Bodhisattva zu werden,29 der den letzten Eingang ins Nirwana aufschiebt, um Andere zu retten, wie es Buddha tat.30 Nach der Diskussion über Gott, dem Leben nach dem Tod und Christus untersucht ein vorletztes Kapitel die Verbindung zwischen Gebet und Meditation.31 Erneut zeigt Knitter seine Unzufriedenheit mit einer dualistischen Perspektive und einem allzu wortreichen Zugang. Er lernt vom Buddhismus die Kraft der 21 Ebd., S. 145. 22 Ebd., S. 148. 23 Ebd., S. 164. 24 Ebd., S. 167–168. 25 Ebd., S. 169. Siehe auch David R. Blumenthal, Facing the Abusing God: A Theology of Protest, Louisville 1993, der Gott als einen liebevollen und gnädigen, doch auch als einen misshandelnden darstellt. Blumenthal verteidigt die Unschuld Seiner Opfer. 26 Knitter, Ohne Buddha, S. 192–193. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 201–209. 29 Ebd., S. 183. 30 Perry Schmidt-Leukel ließ mich wissen, dass der Botthisattva die Erweckung nicht verschiebt, er strebt vielmehr nach dem Buddhasein. Er will ein erleuchteter Buddha sein, der schwört im Samsara zu bleiben, um für die Befreiung aller zu arbeiten. Theravada-Buddhisten glauben, dass der Buddha Samsara verlassen hat, wohingegen die Mahayana-Buddhisten sich stützend auf das Lotus Sutra behaupten, dass er nur vorgab, dies zu tun. 31 Knitter, Ohne Buddha, S. 215–268.

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 Erfolgreiche Interreligiosität: eine Fallstudie

Stille. Buddha distanziert sich selbst von den Hindu-Praktiken, wie sie im Brahamismus verkörpert werden.32 Anstelle des zeremoniellen Opfers und den präzisen Formeln, die nur einer Elite bekannt sind, entdeckte er die Grundlosigkeit und das Intersein, mit welchem der wahrlich Sehende in Mitgefühl und Weisheit verbunden ist.33 Knitter diskutiert jeweils die „von Weisheit und von Mitgefühl erfüllten“ Meditationsformen.34 Die Vipassana oder Erkenntnis-Meditation, die im eigenen Körper beginnt und zu Erkenntnissen des Strömens der Wirklichkeit führt,35 gehört zur ersten Kategorie der Meditation. In der Meditation des Zen Buddhismus setzt man sich nieder, um zu einem Nicht-Denken zu gelangen, dem völlig leeren Geist, der Gegenwart der Sunyata.36 Vajrayana ist schließlich die visualisierende Meditation, die mit Bildern (mandalas) und Klängen (mantras) arbeitet.37 In einer zweiten, benutzerfreundlicheren Art der Meditation, die von „Mitgefühl erfüllt“ ist, bieten sich wiederum verschiedene Möglichkeiten. Die MettaMeditation38 beginnt mit liebender Güte und dann wünscht man sich, dass immer größere Kreise von Anderen glücklich, gesund seien und nicht leiden.39 In der Tonglen-Meditation des tibetischen Buddhismus findet man jemanden, der leidet und dessen Leiden man in Verbundenheit auf sich nimmt.40 Durch all diese vereinenden Erfahrungen kann man mit der Ganzheit verbunden werden, mit jedem und allem. Anstatt sich der Wirklichkeit nicht zu stellen, „nirgends“ zu sein, ohne eine Verbindung zu dieser Welt,41 schlägt Knitter ein „Irgend-Sein“ in der Meditation vor, das er als „Sakrament der Stille“ bezeichnet.42 Das letzte Kapitel von Knitters Buch, seinem Höhepunkt, trägt die Überschrift „Frieden stiften und Friede sein“.43 Dieser Abschnitt ist für jeden von größter Bedeutung, der sich aktiv für den Friedensprozess einsetzt. Es war in höchstem Maße Inspiration für mein eigenes Nachdenken über den jüdisch-buddhistischen Dialog. Knitter unterscheidet zu recht zwischen Christentum, das äußerlich und sozial ist, und Buddhismus, der innerlich und persönlich ist. In seinen Augen 32 Ebd., S. 230. 33 Ebd., S. 235. 34 Ebd., S. 236ff. 35 Ebd., S. 237. 36 Ebd., S. 239. 37 Ebd., S. 240ff. 38 Ebd., S. 241ff. 39 Ebd., S. 243. 40 Ebd., S. 244–245. 41 Ebd., S. 249. 42 Ebd., S. 252. 43 Ebd., S. 269–338.



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ergänzen sich beide.44 Knitter ist selbst Friedensaktivist und lernte am buddhistischen Standpunkt zu schätzen, dass der Wert von Friedenswerken davon abhängt, inwieweit man selbst Friede ist. Christen, die Frieden wollen, setzen sich für Gerechtigkeit ein.45 Buddhisten bestehen darauf, dass wenn man Frieden will, man zuerst Frieden in seinem eigenen Herzen stiften muss.46 Buddhisten können von den christlichen Befreiungstheologen lernen, und Christen können von Buddhisten lernen, dass strukturelle Veränderungen ohne Veränderung des Herzens nicht möglich sind.47 Die buddhistische Haltung der Gewaltlosigkeit, die Annahme jedes Menschen und jedes Ereignisses, die innige Umarmung von allem, was ist, ohne es zu beurteilen, ist wahrscheinlich das, was für Christen (und ich füge „für Juden“ hinzu), die sich für Gerechtigkeit einsetzen, am schwersten zu akzeptieren ist. Doch mit den Buddhisten glaubt Knitter, dass böse Dinge aus „Unwissenheit“ und bestimmten „Gründen und Bedingungen“ resultieren. Im Buddhismus gilt das Mitgefühl jedem, auch dem Unterdrücker. Buddhisten lehren die Christen, dass es schon Transformation gibt und dass die Eschatologie kein weit entfernter Zeitpunkt in der Geschichte ist. In Konfrontation mit dem Bösen übernimmt Knitter daher den Standpunkt des gewaltlosen, mitfühlenden Widerstandes, indem er Handeln und Meditation vereint, Gerechtigkeit und Mitgefühl: Auch hier nimmt Knitter wieder eine herausfordernde hybride Position ein: er nimmt etwas aus dem Buddhismus, das für sein eigenes Christsein von Nutzen ist. Der buddhistische Standpunkt, der sich in Einheit mit all jenen fühlt, die sich ihrer Trägerschaft der Buddha-Natur (noch) nicht bewusst geworden sind,48 verläuft parallel zum berühmten Hindu Mahatma Ghandi, der sich den britischen Kolonialherren entgegen stellte und sie umarmte.49 44 Ebd., S. 288. 45 Ebd., S. 286ff. 46 Ebd., S. 294. 47 Ebd., S. 296. 48 Ebd., S. 330. 49 Ghandi machte den Vorschlag, dass die Juden, die aus Deutschland fliehen wollten, dort bleiben und eine Haltung radikaler Gewaltlosigkeit (satyagraha oder gewaltloser Widerstand und damit Bereitschaft, Schmerz und Leiden auf sich zu nehmen) gegenüber den Nazi-Greueltaten einnehmen könnten. Martin Buber konnte sich dieser Meinung nicht anschließen und schrieb an Ghandi zum Thema Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit. Sein Schreiben vom 24. Februar 1939 wurde zusammen mit einem ähnlichen Brief von Judah L. Magnes, dem Präsidenten der Hebräischen Universität, am 9. März 1939 versandt. Gandhi antwortete nicht. Martin Buber / Judah Magnes, Two Letters to Ghandi, Jerusalem1939; Nahum Glatzer / Paul Mendes-Flohr (Hg.), The Letters of Martin Buber. A Life of Dialogue, New York 1991, S. 476–486. Ich stimme mit Bubers Haltung überein. Doch allgemein gesprochen und in größeren Zusammenhang gesehen scheint es mir, dass sich bei einem integrativen, nicht-dilemmatischen Zugang realistische und gewaltfreie, friedliche Annäherung nicht gegenseitig ausschließen, sondern sich vielmehr ergänzen können und

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 Erfolgreiche Interreligiosität: eine Fallstudie

Knitter erkennt Möglichkeiten im Christentum, das stets neu interpretiert werden muss, wie dies auch alle anderen Religionen tun. Er setzt sich mit einigen aktuellen Problemen des Christentums auseinander. Dabei erhält er vom Buddhismus Anregungen. Seine detaillierte Sichtweise und sein Lebensstil sind beispielhaft für jeden, der verantwortlich religiöse Elemente verknüpfen will. Knitter ist auf seine hybride religiöse Identität stolz, die für Menschen anderer Religionen exemplarisch ist, die ihre eigenen religiösen Erfahrungen und Praktiken haben, doch auch im Prozess des Dialogs mit anderen Religionen und Weltanschauungen verwandelt werden können. Sein Buch ist keine Vermischung oder Verschmelzung von Weltanschauungen und Religionen. Es ist ein persönlicher, mutiger und zeitweise humorvoller Versuch, seine Religiosität auf interreligiöse Weise zu leben. Alle religiösen Menschen können voneinander lernen, da alle verschiedene „Finger“ darstellen, die alle auf dasselbe sich entziehende Geheimnis hinweisen, das in uns lebt und größer ist als wir selbst. Alle können lernen, dass die eigene Erfahrung nicht die Erfahrung eines jeden ist und dass im Austausch mit anderen Weltanschauungen die eigene Erfahrung mit neuer Bedeutung aufleuchten könnte. Der Dialog mit Anderen macht es einem möglich, seine eigenen Wertvorstellungen und Glaubenssätze kritisch neu zu überdenken. Religionen sind alle, jede mit ihrer eigenen Liebesgeschichte, letztendlich Teil eines Mosaik, in dem eine Vielzahl von Farben auf ein Geheimnis zeigt, in dem und von dem Menschen leben. Religiöse Identität wurde häufig im Gegensatz zu anderen religiösen Identitäten herausgebildet. Aus Knitters persönlicher Geschichte, die für Andere von Bedeutung ist, wie er den Leser immer wieder erinnert, kann man lernen, dass der Kontakt mit Anderen den eigenen Wert nicht mindert, sondern einen selbst bereichert und dazu einlädt, seine oder ihre eigene Identität in einer wirklich dialogischen Existenz neu zu formulieren und neu zu formen. Die Kommunikation mit Anderen, das Nehmen und Geben von und an Andere, und eine vielfältige Zugehörigkeit, arbeiten alle auf eine transformierende Art und Weise. Wie Knitter glaube ich, dass in der heutigen Welt religiös zu sein wesentlich bedeutet, interreligiös zu sein. Interreligiöse oder dialogische Theologie ist das Nachdenken über die notwendige Verbundenheit aller Religionen. sie alle notwendig sind, um sich durch die Bemühungen eines Konfliktmanagements zu manövrieren. Eine neue, detaillierte Untersuchung zur langen Freundschaft zwischen dem deutschen Juden Hermann Kallenbach und Gandhi, einschließlich ihrer unterschiedlichen Betrachtungsweisen des Zionismus, findet sich bei Shimon Lev, Soulmates: The Story of Mahatma Gandhi and Hermann Kallenbach, Andhra Pradesh 2012. Wie Buber schrieb Hayim Greenberg 1937 einen Brief an Mahatma Gandhi, in dem er ihn dazu drängte, seine Stimme für die verfolgten Juden zu erheben und ihre Rückkehr in die Heimat. Nachdem Gandhi seinen Artikel zur jüdischen Frage veröffentlicht hatte, in welchem er den Juden riet, den heldenhaften Widerstand nach dem Prinzip des satyagraha anzunehmen, verfasste Greenberg 1939 eine sehr kritische Reaktion auf Gandhis Position. Hayim Greenberg, The Inner Eye. Selected Essays, New York 1953, S. 219–229, 230–238.

Kapitel 4 Bausteine für interreligiösen Dialog und interreligiöse Theologie Die fundamentale Tatsache der menschlichen Existenz ist weder der Einzelne als solcher noch die Gesamtheit als solche. Beide, für sich betrachtet, sind nur mächtige Abstraktionen. Der Einzelne ist Tatsache der Existenz, sofern er zu anderen Einzelnen in lebendige Beziehung tritt; die Gesamtheit ist Tatsache der Existenz, sofern sie sich aus allen lebendigen Beziehungseinheiten aufbaut. Die fundamentale Tatsache der menschlichen Existenz ist der Mensch mit dem Menschen. Was die Menschenwelt eigentümlich kennzeichnet, ist vor allem andern dies, dass sich hier zwischen Wesen und Wesen etwas begibt, dessengleichen nirgends in der Natur zu finden ist. (Martin Buber)1

Alle Religionen befassen sich mit etwas, das die alltägliche empirische Wahrnehmung übersteigt: sie sind Fenster zu einer letztlichen Wirklichkeit. Diese Tatsache liefert uns die Begründung für die Realisierung einer interreligiösen Religiosität und der Konstruktion einer interkulturellen Theologie.2

Kulturelle Veränderungen Theologien sind traditionell intellektuelle Reflexionen über Haltungen und Ideen der Denominationen. In der Vergangenheit haben Theologen für sich beansprucht, 1 Martin Buber, Das Problem des Menschen, Heidelberg 1954, S. 165–166 (Werke, Bd. 1, 1962, S. 404). 2 Siehe John Hick, Gott und seine vielen Namen, übers. von Ilke Ettemeyer / Perry Schmidt-Leukel, Frankfurt a. M. 22002; Diana Eck, A New Religious America: How a “Christian Country” Has Become the World’s Most Religiously Diverse Nation, San Francisco 2011; Paul F. Knitter, „Doing Theology Interreligiously: Union and the Legacy of Paul Tillich“, Crosscurrents 61 (2008), S. 117–132; Perry Schmidt-Leukel, „Religious Pluralism and the Need for an Interreligious Theology“, in Religious Pluralism and the Modern World: An Ongoing Engagement with John Hick, hg. von Sharada Sugirtharajah, Birmingham, UK 2012, S. 19–33; Wolfram Weiße, „Religious Education as Encounter with Neighbor Religions“, in Religious Education as Encounter. A Tribute to John M. Hull, hg. von Siebren Miedema, Münster 2009, S. 111–128; ders., „Das Christentum und die Nachbarreligionen. Eine Frage der Toleranz? Anstöße für die Religionspädagogik durch ökumenische Dialogerfahrungen“, in Ingo Broer / Richard Schlüter (Hg.), Christentum und Toleranz, Darmstadt 1996, S. 162–182. Weiße nimmt Bezug auf Hans-Jochen Margull und Abdoldjavad Falaturi als Vorreiter, die eine theologische Grundlage für einen interreligiösen Dialog in Deutschland gelegt haben. In den Vereinigten Staaten trug der einflussreiche christliche Theologe Paul Tillich zum Aufbau einer dialogischen Theologie bei. In seinem Artikel schreibt Knitter über das „Erbe Tillichs“, welcher religiöse Vielfalt als Gottes Wille ansah. Er formuliert Tillichs Standpunkt pointiert: „[…] heute religiös zu sein bedeutet religiös interreligiös zu sein.“ ([…] to be religious today means to be religious interreligiously).

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 Bausteine für interreligiösen Dialog und interreligiöse Theologie

allein die religiöse Wahrheit zu besitzen. Doch haben sich innerhalb der letzten Jahrzehnte in Westeuropa dramatische Wechsel vollzogen in kultureller, sozialer und religiöser Hinsicht. Der Kontakt mit unterschiedlichen Kulturen und Religionen ist recht üblich geworden und was einst fremde Religionen waren, wurde schnell zu dem, was Wolfram Weiße „Nachbarreligionen“ nennt.3 Aufgrund dieser Situation sind interreligiöse Religiosität und eine Pluralisierung der Theologien alles andere als nur intellektuelle Zeitvertreibe; sie sind zu Notwendigkeiten geworden. Diese Notwendigkeiten können nicht auf das Bedürfnis nach einer „ökumenischen“ Haltung reduziert werden: dieser Begriff ist zu christlich. Im vorliegenden Kapitel zeige ich die Bausteine für eine interkulturelle, interreligiöse Begegnung und für den Aufbau einer „trans-differenten“ Theologie auf. Wie ich detailliert in Kapitel 7 zeigen werde, sind solche Begegnungen und Theologien nicht länger nur eine Option oder freiwillig, ein schönes Hobby, sondern in der gegenwärtigen Konstellation unserer miteinander verbundenen Gesellschaften sind sie unausweichlich geworden.

Religion und das Unsagbare Da Menschen verschiedener Religionen sich nach Zugang zur letzten Wirklichkeit sehnen, die sich am Ende jedem Zugriff entzieht, muss man zugeben, dass die eigene Religion nur ein einzelner Versuch ist zu diskutieren, was letztlich unsagbar ist, über was in einem Mosaik oder Kaleidoskop von Ansätzen nachgesonnen wird. Was jenseits jedermanns Verstehen liegt, kann nicht auf eine monologische Weise angegangen werden. Andere organisieren ihr Leben auch um eine höhere Wirklichkeit herum. Ihr religiöses Handeln und Denken kann auch für das eigene religiöse Leben von Bedeutung sein. Das talmudische Diktum „die Tora spricht in der Sprache der Menschen.“ (dibra Torah ki-leshon beney adam)4 kann ausgeweitet werden: alles Reden über Gott ist menschliches Sprechen. Von daher rührt die Notwendigkeit zur Interaktion zwischen religiösen Menschen. Echte Begegnung und Interaktion zwischen Menschen bringt Einblicke in das Unsagbare hervor. Mit den Worten der jüdischen Tradition: die göttliche Einwohnung wohnt unter den Menschen, die das Privileg haben, sich gegenseitig zu lieben.5 Im Prozess der Öffnung der traditionellen Theologien hin zu dem, was andere Theologien über das Unsagbare zu sagen haben, wird man sich nach und nach bewusst, dass die 3 Vgl. den Titel von Weißes Beitrag, „Religious Education as Encounter with Neighbor Religions.“ Hier benutzt Weiße den Begriff in Anlehnung an Michael Klöker / Udo Tworuschka, Religionen in Deutschland. Kirchen, Glaubensgemeinschaften, Sekten, München 1994. 4 Der Ausdruck kommt mehrmals im Babylonischen Talmud vor. So z. B. im Traktat Nedarim 3a. 5 Sota 17a: ish ve-isha she-zakhu shekhina benehem.



Sich selbst im Dialog mit dem Anderen positionieren 

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eigene religiöse Identität eng mit der religiösen Identität anderer Personen verbunden ist: man kennt sich selbst nur durch den Anderen.

Sich selbst im Dialog mit dem Anderen positionieren In der Praxis des interreligiösen Dialogs in den urbanen Zentren der Welt wird die eigene religiöse Position oft von einem Anderen herausgefordert. In multikulturellen Bereichen sind unterschiedliche Reaktionen auf solch eine Herausforderung möglich. Man kann mit einer exklusivistischen Ansicht behaupten, dass sich die ganze Wahrheit in der eigenen Religion befindet und dass folglich alle Anderen sich irren. Eine solche Sichtweise ist immer weniger verbreitet, obwohl man die wachsende Macht der Fundamentalisten nicht unterschätzen sollte, welche dies noch immer verkünden, um ihre eigenen Glaubenssätze vor einer bedrohlichen Außenwelt zu beschützen und zu verteidigen. Wir finden auch Inklusivisten, die zugeben, dass bestimmte Wahrheiten in den anderen Religionen zu finden sind, doch bleiben sie der Überzeugung treu, dass die ganze Wahrheit dennoch in ihrer eigenen Religion liegt. Pluralisten geben zu, dass alle aufrichtig nach der Wahrheit über die letzte Wirklichkeit suchen. Meiner eigenen Ansicht nach ist es nicht genug, ein religiöser Inklusivist oder religiöser Pluralist zu sein. Gegenwärtige multikulturelle Gesellschaften fordern eine interreligiöse Religiosität und Theologie, eine Offenheit gegenüber dem, was Andere über die letzte Wirklichkeit zu sagen haben, nach der alle religiösen Menschen streben, obwohl sie sich immer wieder entzieht. In der interreligiösen Begegnung kann man sich bedroht oder gezwungen fühlen, eine defensive Haltung einzunehmen. In diesem Fall hält man an absoluten Wahrheitsansprüchen fest und leugnet Wahres in der Vorgehensweise Anderer bezüglich dessen, was über das tägliche Leben hinausgeht. Mit einer anderen Haltung kann man versuchen, den eigenen Standpunkt in der Interaktion mit Anderen zu stärken, ohne zu leugnen, dass auch er nach dem sucht, was unaussprechlich ist. In einem weiteren Schritt hin zu einer interreligiösen Religiosität kann man den Anderen in seiner Suche nach der Wahrheit bestätigen und aufrichtig wünschen, dass er Fortschritte auf seinem eigenen Weg macht hin zur Höheren Wirklichkeit. In Dialogen gibt es häufig eine Verschiebung der Grenzen der eigenen Tradition bei der Suche nach der Wahrheit. Man kann vom Anderen beeinflusst oder inspiriert werden. Gegebenenfalls verbindet man verschiedene Kulturen und integriert Elemente aus unterschiedlichen Lebensstilen, um die eigene persönliche Religiosität zu verwirklichen. Mischformen von Religiosität sind heute keine Seltenheit. Man kann die eigene Religion beleben, umdeuten oder sie sogar wieder neu bedenken und vorstellen. Man kann schließlich auch nach einem alles

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 Bausteine für interreligiösen Dialog und interreligiöse Theologie

einschließenden „neuen Wir“ Ausschau halten, wo niemand den Anderen verletzt oder stört, sondern alle gerne die Lebensweise der Anderen akzeptieren.6

Dialog als erfolgreiche Begegnung Wenn der interreligiöse Dialog eine besondere Art des Dialogs ist, müssen wir über das Wesen des Dialogs nachdenken. Dialog oder echte Konversation existiert, wenn man zulässt, dass der eigene Monolog vom Anderen unterbrochen wird. In einem seiner Kriegstagebücher macht Levinas folgenden Eintrag: „Unterbreche ich dich? – Nein. Das bedeutet: man unterbricht immer.“7 Im Dialog zu sein bedeutet, dem Anderen zu erlauben, die eigenen Gedanken zu unterbrechen. Eindrückliche Beispiele solch eines Dialog als eine Kette von Unterbrechungen findet man in der talmudischen Tradition, wo Weise zusammen diskutieren und Schlussfolgerungen auf der Grundlage rationaler Positionen finden, unter Wahrung jeder abweichenden Meinung. Obwohl im Talmud Entscheidungen getroffen werden, werden die Meinungen, die nicht übernommen werden, niemals ausgelöscht und die Namen der Personen, die am laufenden Dialog beteiligt sind, werden immer erwähnt. Die talmudischen Diskussionen sind daher beispielhafte Begegnungen. Ein authentischer Dialog führt zu einer Situation, in der man vom Anderen herausgefordert wird; man weiß nicht vorher, was bei dem Gespräch herauskommen wird. In einem wirklichen Gespräch ist man gezwungen, eigene frühere Positionen und Elemente traditioneller Ansichten neu zu überprüfen. Man kann Dinge über den eigenen Weg zum Transzendenten zu sagen haben, ohne dass dieser Blickpunkt auf den Anderen übertragen wird. Vor allem aber können Andere Dinge über das Unaussprechliche zu sagen haben, die man vorher noch nicht gehört hat und die für die eigene Position relevant sein könnten.

Voraussetzungen für den Dialog Die multikulturelle und komplexe religiöse Situation in Westeuropa und in anderen Teilen der Welt verlangt ein Nachdenken über die Voraussetzungen für 6 Siehe Manuela Kalksy, „Embracing Diversity. Reflections on the Transformation of Christian Identity“, Studies in Interreligious Dialogue (2007), S. 221–231; und dies., „Multiple Religious Identities and the Logic of Diversity“, in The Challenge of Multiple Identities: Sino-European Perspectives on Religion and Society, hg. von Fredrik Fällmand / Yang Xusheng, New York (im Druck). Siehe auch Kalskys online web Projekt, www.nieuwwij.nl. 7 Emmanuel Levinas, Carnets de captivité suivi de Écrits sur la captivité et Notes philosophiques diverses, Paris 2009, S. 83. „Je vous interromps? –Non. C’est-à-dire on interrompt toujours.“



Die Bedeutung der Gegenwart bei Buber 

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einen echten interreligiösen Dialog. Im Folgenden werde ich einige dieser Voraussetzungen ausführen. Die Lehren dreier jüdischer Meister des Denkens kommen mir in den Sinn. Ich halte ihre Ideen zum Dialog für sehr inspirierend für den heutigen interreligiösen Dialog und für den Aufbau einer wachsenden Theologie im Plural. Die Gedanken Bubers und Heschels habe ich bereits im ersten Kapitel im Zusammenhang mit ihrem möglichen Beitrag zu einer künftigen interreligiösen Theologie diskutiert. Hier konzentriere ich mich auf ihre Gedanken über den eigentlichen Charakter des Dialogs, und ich füge ihnen die metaphysischen Überlegungen von Emmanuel Levinas zum Einer-für-den-Anderen hinzu. Gemeinsam ist den Gedanken dieser drei überragenden spirituellen Menschen, dass sie sich nicht auf die Inhalte oder die dogmatische Elemente in den Religionen konzentrieren. Sie sind nicht an Glaubensbekenntnissen als solchen interessiert, sondern am Glauben und an Zugängen zum Absoluten. Sie bevorzugen eine neuartige Haltung, die es Menschen erlaubt, aufmerksam Anderen zuzuhören, die auch ihr Leben um das herum organisieren, was jenseits der reinen Vernunft liegt. Das Unaussprechliche, jenseits der Grenzen der reinen Vernunft, bleibt stets außerhalb unserer Reichweite. Doch beleuchten diese drei Meister, dass man sich dem noumenon der höheren Wirklichkeit im Geheimnis des Zusammentreffens zwischen Menschen annähern kann. Des Weiteren erinnern uns Buber, Heschel und Levinas daran, dass alle Religionen die Aufgabe haben, heiligen Frieden zu schaffen. Heilige Kriege waren in der Vergangenheit an der Tagesordnung; heiliger Frieden ist unser Ziel in der Gegenwart. Im Zusammentreffen mit Anderen sollte man nicht naiv sein: Hass und voreingenommene Ideen sind immer noch vorhanden. Doch laut dieser drei Denker, die ich gewählt habe, um den Dialog zu diskutieren, haben alle Religionen die Aufgabe, die Menschheit vor ihrem eigenen Untergang zu retten und die menschliche Seele zu retten.

Die Bedeutung der Gegenwart bei Buber Bubers Philosophie, wie sie in Ich und Du beschrieben wird, begreift den Dialog mit anderen Menschen als etwas, das zur Entdeckung einer Tiefe führt, in der man einen Einblick in das ewige Du erhascht.8 Wenn man sich ganzheitlich auf den Anderen bezieht, nicht nur teilweise oder auf eine objektivierende Art, überwindet man das Schema der traditionellen Subjekt-Objekt-Dichotomie und tritt in eine Beziehung zu einem anderen Subjekt. Das Ich wird zum Ich-Du in der 8 Buber, Ich und Du, S. 84.

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 Bausteine für interreligiösen Dialog und interreligiöse Theologie

Beziehung zum Anderen: in der Beziehung wird das Ich zu einem Ich, das dem Anderen in reiner Gegenwärtigkeit entgegen tritt. Dieses Ich-Du ist vom Ich als Ich-Es zu unterscheiden, das sich auf den Anderen nur teilweise bezieht, ihn benutzt, klassifiziert und objektiviert. Buber war über das stetige Wachstum des Ich-Es besorgt und er wollte das Entstehen des Ich-Du fördern, was er den „Zwischenmenschen“ nennt, der mit dem Anderen verbunden ist. Schließlich kann eine Gegenseitigkeit entstehen, die die Beziehung in eine Begegnung verwandelt. Buber hat nicht sofort sein dialogisches Denken auf den interreligiösen Dialog angewandt aus dem einfachen Grund, dass er mehr Interesse an Religiosität als an Religionen hatte. Aber der dritte Teil seines Ich und Du weist auf die Notwendigkeit der Religionen hin, die alle „eine neue Gestalt Gottes in der Welt“ erschaffen, in dem Maße wie sie sich auf ihre lebendige Quelle und Kraft, das ewig gegenwärtige Du, beziehen.9 Menschen sind nicht immer gegenwärtig, denn es kann vorkommen, dass ich gegenwärtig bin und den Anderen gegenwärtig mache oder dass der Andere mich vergegenwärtigt und dass ich weniger gegenwärtig bin. Menschen können sich auch gegenseitig gegenwärtig machen, was ein Geschenk Gottes ist. Aber nur das ewige Du ist ewig gegenwärtig und daher ist Er die ontologische Grundlage für menschliche Existenz. Man kann von Buber lernen, dass man einem anderen Menschen nur wirklich begegnet, wenn der eine für den Anderen gegenwärtig ist, wenn man ihn ohne vorgefasste Meinung vergegenwärtigt, ohne ihn zu klassifizieren und zu objektivieren, und ohne ihn zu funktionalisieren oder zu ermahnen. Eine solche Haltung und die Verwirklichung des „Zwischenmenschen“ sind Eckpfeiler der Realisierung von interreligiösen Begegnungen und Theologien.

Emmanuel Levinas’ Konzeption der Differenz Levinas hatte eine ganz andere Philosophie als Buber. Er hatte nicht die Absicht, Buber zu korrigieren; vielmehr begann er mit der Idee des Unendlichen im endlichen Anderen.10 Er konzentrierte sich auf einen Aspekt von Beziehung, der von 9 Ebd., S. 113. 10 Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, übers. von Wolfgang N. Krewani, Freiburg i. Br. / München 2002, S. 92: „Man kann sich indes fragen, ob das Du nicht den Anderen in eine Beziehung der Gegenseitigkeit bringt und ob diese Gegenseitigkeit einen ursprünglichen Sachverhalt trifft. Andererseits bewahrt die Ich-Du-Beziehung bei Buber einen formalen Charakter: Sie kann ebenso den Menschen mit den Dingen vereinen wie den Menschen mit dem Menschen. Der Formalismus des Ich-Du bestimmt keinerlei konkrete Struktur. Das Ich-Du ist Geschehen, Stoß, Verstehen – aber es erklärt nur die Freundschaft und keine andere Lebensform: etwa die Ökonomie, die Suche nach dem Glück, den Vorstellungsbezug zu



Emmanuel Levinas’ Konzeption der Differenz 

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größter Bedeutung für ein grundlegendes Verständnis des interreligiösen Dialogs sein könnte. Levinas hat deutlich gemacht, dass Beziehung auf der Grundlage der Anerkennung der Exteriorität und Alterität des Anderen möglich ist, ohne Gegenseitigkeit zu erwarten. Die ethische, unendliche Forderung des Anderen drängt mich zu antworten. Wie Gilles Deleuze,11 schrieb Levinas über absolute Differenz, die nie aufzuheben ist. Seiner Ansicht nach steht Andersheit nicht im Gegensatz zu Selbstheit, was beide Begriffe einer gemeinsamen übergeordneten Kategorie zuordnen würde. In Levinas ethischer Metaphysik sind Differenz – Exteriorität oder Alterität der Hauptbestandteil jeder Beziehung. Mit anderen Worten: Ich beziehe mich auf die Andersheit des Anderen aus Respekt vor ihm, im Gehorsam gegenüber der unendlichen, ethischen Forderung, „Du sollst nicht töten“, welche aus seinem nackten Gesicht kommt. Levinas’ Einsicht machte es möglich, Gott zur Sprache zu bringen in Bezug auf die Unendlichkeit der ethischen Forderung, die uns drängt zu handeln und dem Anruf des Anderen zu antworten. Dies ist von größter Bedeutung für die Konstruktion einer künftigen dialogischen Theologie. Es scheint mir, dass eine pluralistische, oder besser noch, eine interreligiöse Theologie mehr ist als eine Wissenschaft. Sie ist vor allem Weisheit, die ein vorschreibendes oder normatives Element diskutiert: die Einzigartigkeit eines jeden Menschen, der angehört, geehrt und respektiert werden möchte. Daher ist es nicht genug, die Unterschiede zwischen den Menschen zu respektieren, wenn es um interreligiöse Begegnungen geht. Levinas hat uns gelehrt, dass das, was wirklich einen Unterschied in den Begegnungen ausmacht, ethisch den Dingen. Letztere bleiben in einer Art verächtlichen Spiritualismus’ unerforscht und unerklärt. Die vorliegende Arbeit erhebt nicht den lächerlichen Anspruch, Buber in diesen Punkten zu ‚korrigieren‘. Indem sie von der Idee des Unendlichen ausgeht, steht sie in einer anderen Perspektive.“ 11 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, übers. von Joseph Vogl, München 1997. In dieser Studie, die zuerst 1968 veröffentlicht wurde, plädiert Deleuze für ein „bildloses Denken” (une pensée sans images) (374). In seiner Kritik des „Ich denke“, welches ein begreifendes, urteilendes, sich vorstellendes und erinnerndes Ich impliziert, „wird die Differenz gekreuzigt” (180). Das repräsentierende Ich wird zu einer Zwangsjacke, „in der einzig das als unterschieden gedacht werden kann, was identisch, ähnlich, analog und entgegengesetzt ist; die Differenz wird zum Gegenstand der Repräsentation immer nur im Verhältnis zu einer begriffenen Identität, einer beurteilten Analogie, eines vorgestellten Gegensatzes, einer wahrgenommenen Ähnlichkeit“ (180). Deleuzes „bildloses Denken“ ist kein repräsentierendes, erkennendes und reproduzierendes Denken, in welchem die Differenz letzten Endes neutralisiert wird. Sein „bildloses Denken“ und sein Bemühen, über Differenz als etwas zu schreiben, das solange sie „den Anforderungen der Repräsentation unterliegt, wird sie [die Differenz] nicht an sich selbst gedacht und kann es nicht werden“ (324) läuft parallel zu Levinas’ explizit ethischer Reflexion über eine Alterität, die sich einem beherrschenden, totalisierenden Denken widersetzt und die die Aussetzung des Ich dem Anderen gegenüber in Verantwortung herausfordert.

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 Bausteine für interreligiösen Dialog und interreligiöse Theologie

ist, eine nicht gleichgültig Antwort auf die Andersheit des Anderen, der nie durch meine eigene Totalität oder meine eigenen Denkmuster neutralisiert werden sollte. Exklusivisten, aber auch Inklusivisten, totalisieren den Anderen. Pluralisten sind liberal, ihr Adagium lautet „leben und leben lassen“. An sich ist die pluralistische, liberale Position gut, aber noch weit von der Position der dialogischen Person entfernt, die ihre eigene Einzigartigkeit in der Antwort auf den Appell und der Herausforderung, die vom Anderen herkommt, findet. Ich habe in Levinas Philosophie der Differenz ein Konzept gefunden, das den Dialog mit den (religiösen) Anderen revolutionieren könnte. Dieses Konzept der Andersartigkeit des Anderen könnte den interreligiösen Dialog in ein ganz anderes Licht setzen: man wird nicht in erster Linie vergleichen, was in den verschiedenen Religionen unterschiedlich oder was gemeinsam ist. Man ist zunächst offen gegenüber dem, was der Andere in seiner unreduzierbaren Einzigartigkeit dem Ich zu sagen hat. Die Antwort auf die ethische Forderung aus seinem Gesicht wird die Bedingung für jeden echten Dialog sein.

Heschels „Keine Religion ist eine Insel“ In seiner berühmten Rede von 1965 „Keine Religion ist eine Insel“ hat Heschel als einflussreicher neochassidischer Denker einige grundlegende Gedanken, die für einen interreligiösen Dialog von Bedeutung sind, formuliert.12 Für ihn waren Demut und Ehrfurcht im interreligiösen Dialog notwendig. Auch wenn sich Heschel wie Franz Rosenzweig hauptsächlich auf den jüdisch-christlichen Dialog konzentriert, kann man seine prophetischen Worte zum Dialog auch auf andere Religionen und Weltanschauungen beziehen. Seine Stimme hat noch immer große Bedeutung für Theorie und Praxis des gegenwärtigen interreligiösen Dialogs. In „Keine Religion ist eine Insel“ schreibt Heschel in Anlehnung an Buber, dass Religion kein Zweck, sondern ein Mittel sei; Religion wird zum Götzendienst, wenn man sie als Endzweck ansieht. Gott, der Schöpfer und der Herr der Geschichte, übersteigt alles, und damit gilt, wie schon gesagt - „Religion mit Gott gleichzusetzen ist Götzendienst.“13 Heschel warnte davor, Religionen mit Gott 12 Siehe Abraham Joshua Heschel, „No Religion is an Island”, Union Theological Seminary Quarterly Review 21,2 (1966), S. 117–134. Heschels Inauguralvortrag als Harry Emerson Fosdick Gastprofessor am Union Theological Seminary, New York, wurde neu gedruckt in: Harold Kasimow / Byron Scherwin (Hg.), No Religion is an Island. Abraham Joshua Heschel and Interreligious Dialogue, New York 1991, S. 3–22; und in Susannah Heschel (Hg.), Moral Grandeur and Spiritual Audacity. Essays by Abraham Joshua Heschel, New York 1996, S. 235–250. Eine deutsche Übersetzung findet sich unter http://www.hagalil.com/judentum/philosophie/heschel.htm (Zugriff: 9. Januar 2015). 13 Heschel, „No Religion is an Island“, Moral Grandeur and Spiritual Audacity, S. 243.



Interreligiöses Lernen 

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selbst zu verwechseln: Gott ist als vollkommene Realität nicht Religion, welche unser unvollkommenes Verständnis der unbeschreiblichen, unsagbaren Realität darstellt. Es ist eine Tatsache, dass viele in der Vergangenheit und auch in der Gegenwart bereit sind, sich für ihren Glauben töten zu lassen. Auf einer anderen Ebene gab und gibt es Menschen, die bereit sind, für ihre Religion zu töten. Die Etablierung einer Trennlinie zwischen den Religionen als Gotteshäuser und Gott selbst, wie es auch Heschel tat, hält einen von einer Verabsolutierung der eigenen Religion ab. In seiner Tiefentheologie sensibilisierte Heschel seine Hörer- und Leserschaft für das Göttliche, indem er ein Gefühl von Verpflichtung, Wunder und Geheimnis in ihnen entwickelte. Für ihn war Respekt für den Glauben des Anderen mehr als ein politischer oder sozialer Imperativ; es war die Forderung, die sich aus der Tatsache ableitete, dass Gott größer ist als Religion und dass jede Theologie schließlich in dem, was er „Tiefentheologie“ nannte, die eine gemeinsame Grundlage für alle religiösen Menschen bildete, verwurzelt ist.14 In einer Welt, in der ein neuer Materialismus und Empirismus als zeitgenössische glamouröse Religionen mit Hotels und Einkaufszentren als neue Tempel fungieren, sind diese Worte ein echtes Heilmittel. Es gibt mehr als das, was die Augen sehen, und das, was man besitzen kann. Religionen haben laut Heschels Ansicht eine soteriologische Funktion, indem sie gegen einen Mangel an Solidarität, Gleichgültigkeit, Armut und Ungerechtigkeit ankämpfen. Heschels eigener Kampf für die Menschenrechte der Afroamerikaner in den USA und seine mutige Stellungnahme gegen den Vietnam-Krieg waren das Ergebnis seines tiefen religiösen Engagements. Wie Buber und Levinas konnte er nicht eine Beziehung zu Gott ohne eine Beziehung zu anderen Menschen wahrnehmen. Für Heschel gingen Humanismus, der Kampf für Menschenrechte und Religiosität Hand in Hand.

Interreligiöses Lernen Eine zunehmende „Theologie im Plural“ revolutioniert unser Denken. Wir reden nicht mehr nur über Religionen, die nebeneinander als „Söhne“ des einen Königsvaters leben, wie es in Lessings bekannter Ringparabel15 der Fall war. 14 Für eine Würdigung von Heschels Beitrag zum interreligiösen Dialog, siehe u. a. Edward K. Kaplan, „‘Seeking God’s Will together’: Heschel’s Depth Theology as Common Ground“, in Abraham Joshua Heschel: Philosophy, Theology and Interreligious Dialogue (Jüdische Kultur 21), hg. von Stanislaw Krajewski / Adam Lipszyc, Wiesbaden 2009, S. 188–195; Harold Kasimow, „Heschel’s View of Religious Diversity“, in ebd., S. 196–201. 15 Der Dichter und Denker Gotthold Ephraim Lessing unterstützte liberale Positionen wie die von Hermann Samuel Reimarus in seinem Kampf gegen den dogmatischen Pastor Goeze. Lessing erzählte seine berühmte Parabel über die drei Ringe in seinem Nathan der Weise, welcher 1779 erschien.

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 Bausteine für interreligiösen Dialog und interreligiöse Theologie

Es gibt mehr als drei Religionen; es gibt Weltreligionen mit Millionen von Anhängern und zahlreiche kleine, regionale Religionen mit wenigen Anhängern. Alle Religionen sind mit Heschel Worten „der Wille Gottes“.16 Die anthropologische Folge davon ist gut von Knitter formuliert worden, der schreibt, dass „religiös zu sein heute bedeutet religiös interreligiös zu sein.“17

Übersetzung, Unübersetzbarkeit, Differenz und Trans-Differenz Ich habe erwähnt, dass Vielfalt in der Annäherung an das Letztendliche nicht nur zu tolerieren, sondern zu feiern ist. In verschiedenen Religionen bekommt man häufig die Behauptung zu hören, dass nur ihre Anhänger wissen, was eine bestimmte Religion bedeutet: nur Juden verstehen das Judentum, nur Christen verstehen das Christentum, und so weiter. Ich stimme diesem Standpunkt nicht zu, da ich glaube, dass Verständigung zwischen Menschen möglich ist und daher Vorstellungen und Ideen, die zu einer Religion gehören, zu einem gewissen Grad vergleichbar und übersetzbar sind in die Begriffe und Ideen anderer Religionen. Gewiss muss man vorsichtig sein, da die gleichen Worte unterschiedliche Bedeutungen in verschiedenen Religionen haben, wie ich im Fall des Wortes „Frieden“ im Buddhismus und im Judentum oder bei der Erörterung von Pessach – Pascha im Judentum und Christentum gezeigt habe. Ich gebe auch zu, dass es nicht übersetzbare Elemente in der eigenen und anderen Religionen gibt. Dennoch verhindert die Einzigartigkeit eines jeden Menschen die erhabene Möglichkeit der Kommunikation nicht. Im Gegenteil: Es ist die Einzigartigkeit und Alterität einer jeden Person, die das ermöglicht, was ich als eine „trans-differente“ Haltung bezeichne, in der man Unterschiede bestätigt und darüberhinaus geht.18 Wie Perry Schmidt-Leukel treffend in der Hamburger Akademie der Weltreligionen bemerkte, kann ein Muslim aus der Perspektive der Annäherung an Andere zu einem Buddhisten sagen, dass Buddha ein Prophet ist, und ein Buddhist kann sagen, dass Mohammed ein erleuchteter Mensch, ein Bodhisattva, ist. Es ist diese Offenheit und Bereitschaft, Andere in den eigenen Begriffen zu verstehen und auch die eigenen Worte mit Worten zu übersetzen, die Anderen verständlich sind, die es für beide möglich machen, zu beginnen aufeinander zu hören. Franz Rosenzweig war 16 Heschel, „No Religion is an Island“, S. 244. 17 Knitter, „Doing Theology Interreligiously: Union and the Legacy of Paul Tillich“, Crosscurrents 61 (2011), S. 117. 18 Ephraim Meir, „Quo vadis, religio? Religion as Terror and Violence or as Contribution to Civilization. A Plea for Trans-Difference“, in ders., Identity Dialogically Constructed (Jerusalemer Texte 4), Nordhausen 2011, S. 10–27.



Eingeständnis negativer Punkte 

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ein Meister der Übersetzung. Seiner geliebten Gritli Rosenstock-Huessy erklärte er, dass für eine jüdische Familie der Schabbatabend etwas Außergewöhnliches ist; Schabbatabend, schreibt er, ist eine Art Familienfest, wie ein Geburtstag.19 Franz machte so die Einzigartigkeit der jüdischen Sprache Gritli verständlich. Dies war aufgrund ihrer Offenheit gegenüber dem Anderen in einer „Trans-Differenz“ möglich. Rosenzweig entwickelte eine vollständige hermeneutische Methode, um seine eigene Welt in Gritlis Worten zu erklären. Er lud sie beispielsweise ein, ihm „ein gutes Jahr“ an Rosch HaSchana zu wünschen.20 Seinem Vetter Hans Ehrenberg, der zum Christentum übergetreten war, erklärte er die spezifisch jüdische Realität des gemeinsamen Talmudlernens, von „Lernen“: er bezeichnete es als ein „Sakrament“.21 Lernen ist natürlich kein Sakrament, sondern durch eine Übersetzung in Begriffe, die sein Cousin verstehen konnte, verweist Rosenzweigs Erklärung dieser besonderen jüdischen Realität auf eine Bereitschaft, eine gemeinsame, „trans-differente“ Welt zu schaffen. Die Kunst des Übersetzens und die Bereitschaft, eine gemeinsame Welt zu teilen, bei allen Unterschieden, die in ihr vorhanden sind, sind entscheidend für den interreligiösen Dialog.

Eingeständnis negativer Punkte, Annahme maximal zulässiger Interpretationen, Durchführen von Änderungen Alle Religionen haben Verse und Sprüche, die nicht zum Dialog zwischen den Religionen beitragen. Keine Religion ist makellos. Es ist nicht schwer, Passagen in verschiedenen religiösen Texte zu finden, die Außenseiter verletzen. Dies ist ein Hindernis für den Dialog. Doch zum Glück gibt es immer die Möglichkeit einer Neuinterpretation der betreffenden Passagen auf eine dialogische Art und Weise. Religiöse Texte können einige schwere Passagen beinhalten, die mit unseren humanistischen Ansichten und Gefühlen unvereinbar sind. Heschel machte auf die Tatsache aufmerksam, dass man einem Problem „in einer Reihe von Stellen [in der Bibel], die uns als unvereinbar mit der Barmherzigkeit Gottes erscheinen“ begegnen könne.22 Jedoch bittet er den Leser „sich zuallererst klar[zu]machen, 19 Franz Rosenzweig, Franz Rosenzweig: Die “Gritli”-Briefe. Briefe an Margrit RosenstockHuessy, hg. von Inken Rühle / Reinhold Mayer, S. 568–569; Ephraim Meir, Letters of Love: Franz Rosenzweig’s Spiritual Biography and Oeuvre in Light of the Gritli Letters (Studies in Judaism 2), New York 2006, S. 16. 20 Rosenzweig, Rosenzweig: Die “Gritli”-Briefe, S. 657. 21 Rosenzweig, Briefe und Tagebücher. 2. Band. 1918–1929 (Franz Rosenzweig. Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften I), S. 728. 22 Abraham J. Heschel, Gott sucht den Menschen. Eine Philosophie des Judentums, NeukirchenVluyn 1980, S. 207.

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 Bausteine für interreligiösen Dialog und interreligiöse Theologie

daß wir die Maßstäbe, mit denen wir diese Stellen kritisieren, von der Bibel selber empfangen haben, von der Autorität, die unser Gewissen verfeinert und das Empfinden in uns heranbildet, das sich gegen jede Grausamkeit wehrt.“23 Er erinnert uns daran, dass Moses zum Beispiel von Gott dafür getadelt wurde, dass er harte Worte gegen das Volk Israel ausgesprochen hatte, dass Abraham rief: „Sollte der Weltenrichter nicht gerecht urteilen?“, und dass Hiob Gottes gerechtes Handeln ihm gegenüber in Frage stellte.24 Für Heschel sind biblische Texte nicht in fundamentalistischer Weise wörtlich zu nehmen. In einer fortlaufenden Interpretation, in der mündlichen Tora, sind sie persönlich, historisch und mit der Stimme des Gewissens zu verstehen: „Wir müssen die Bibel durch den Geist verstehen, der mit ihr wächst, der mit ihr ringt und mit ihr betet.“25 Um spezifische Begriffe zu öffnen und den Dialog zu fördern, kann man eine Strategie wie die von Yusef Waghid zum Beispiel übernehmen, die eine möglichst breite Interpretation der klassischen islamischen Kategorien wie umma (muslimische Gemeinschaft), ijtihad (mittelalterliches juristisches Denken) und shura (Engagement, Probleme zu lösen) gibt und die Begriffe jeweils als menschliche Gemeinschaft, juristische Diskussion und Dialog interpretiert. In seiner Conceptions of Islamic Education26 bietet er eine raffinierte Art und Weise Religion, Fragen der demokratischen Bürgerschaft und Weltoffenheit zu vereinen, und entscheidet sich für eine maximalistische islamische Erziehung in Südafrika.27 Durch die Erweiterung spezifischer Konzepte in seiner maximalistischen Interpretation gelingt es Waghid zu zeigen, wie der Islam mit modernen Werten vereinbar ist, und seine Bedeutung für die moderne Gesellschaft darzustellen. Für Waghid bedeutet islamische Erziehung in einem größtmöglichen Ansatz, dass man aktiv in einem dialogischen Austausch zu gemeinsamer Sinngebung kommt. Er ist sich bewusst, dass in einigen muslimischen Gemeinschaften Indoktrination, vorgefertigte Antworten und unkritisches Zuhören die Norm sind, und eine Rückmeldung im Gespräch, Fragestellungen und die Bezugnahme auf die Ansichten der Anderen nicht wohlwollend wahrgenommen wird. Für ihn sind jedoch die Anerkennung der Gegenwart des Anderen, mit dem man auch nicht übereinstimmen kann, und die Verbindung zu ihm, die Voraussetzung für jegliche Bildung und Erziehung. Seine uneingeschränkte Sichtweise und seine Öffnung des Besonderen für das Allgemeine sind vorbildhaft für alle Religionen, die einen Platz bei 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 210 26 Yusef Waghid, Conceptions of Islamic Education. Pedagogical Framings (Global Studies in Education 3), New York 2001, S. 15–33. 27 In Südafrika gibt es eine muslimische Minderheit von ca. 2 Millionen, die 2 % der Gesamtbevölkerung ausmachen.



Eingeständnis negativer Punkte 

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der Förderung der Achtung des menschlichen Lebens, verantwortungsvollem Handeln und Demokratie einnehmen wollen. Manchmal ist es nötig, wie Luther bemerkte, bestimmte Begriffe „ins Bad“ zu schütten, um sie von solchen Konnotationen zu reinigen, die für den interreligiö­ sen Dialog ungeeignet sind. Es ist wichtig zu beachten, dass keine Religion im Laufe der Geschichte unverändert bleibt. Viele Veränderungen sind aufgetreten. Verschiedene Ansätze zur letztendlichen Wirklichkeit unterliegen historischen Veränderungen. Wenn man von historischen Bedingungen der verschiedenen Religionen ausgeht, kann man eine größere Flexibilität entwickeln, um mutige Veränderungen in der eigenen Religion herbeizuführen. Die Anteilhabe an einer lebendigen Tradition bedeutet nicht nur, sie zu bewahren, sondern auch diese zu erneuern und eventuell zu kritisieren. Es war Bubers ethische Sensibilität und sein dialogisches Verständnis der Bibel, die ihn zu einem Gespräch mit dem orthodoxen Juden Markus Cohn aufforderten, um Samuels Tötung von Agag, dem Amalekiter, (1 Sam 15) zu missbilligen. Angesichts des Dilemmas zwischen Gott und der Bibel wählen zu müssen, entschied er sich für Gott. Er nahm einen anti-bibliolatrischen Standpunkt ein und gab König Saul den Vorzug, der das Leben Agags verschonte, im Gegensatz zum Propheten Samuel, der den Prinzen der Amalekiter tötete. Buber glaubte aufrichtig daran, dass der Prophet Samuel Gott missverstanden hatte.28 Man kann noch immer eine Theologie oder intellektuelle Reflexion über den eigenen Glauben gestalten, aber es ist die Zeit gekommen, eine Theologie des Glaubens aller zu errichten.29 Konversionen bleiben möglich, doch auch kleinere Veränderungen sollten denkbar sein.30 Im Dialog wird die Begrenzung des eigenen Blickes klar und man entwickelt – im besten Fall – die Tugend der Demut. 28 Maurice Friedman, Encounter on a Narrow Ridge. A Life of Martin Buber, New York 1991, S. 287–288. 29 Wilfred Cantwell Smith, Towards a World Theology, Mayknoll, NY 1989, S. 125: „Theology is critical intellectualization of (and for) faith, and of the world as known in faith; and what we seek is a theology that will interpret the history of our race in a way that will give intellectual expression to our faith, the faith of all of us, and to our modern perception of the world.“ Vgl. auch Andreas Grünschloss, Religionswissenschaft als Welt-Theologie: Wilfred Cantwell Smiths interreligiöse Hermeneutik, Göttingen 1994. 30 John Hick, Gott und seine vielen Namen, übers. von Ilke Ettemeyer / Perry Schmidt-Leukel, Frankfurt a. M. 22002, S. 51: „Wenn interreligiöser Dialog auf diese Weise geführt wird - sich also zwei (oder mehr) Leute gegenseitig ihren eigenen Glauben bezeugen, jeder in der festen Überzeugung, dass es sich bei dem seinigen um die endgültige Wahrheit handelt, und in der Hoffnung, den anderen zu bekehren -, dann kann entweder nur eine Konversion oder eine Verhärtung der Differenzen dabei herauskommen - gelegentlich das erstere, häufiger jedoch das letztere. Soll demgegenüber der Dialog für alle Beteiligten fruchtbar werden, dann müssen auch kleinere Veränderungen als nur die totale Konversion möglich sein, und diese müssen für beide (bzw. alle) Seiten erhofft werden.“

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 Bausteine für interreligiösen Dialog und interreligiöse Theologie

Ein neues „Wir“? Eine radikale Strategie wird von Manuela Kalsky verfolgt, die den Vorschlag macht, Traditionen nicht neu zu interpretieren, sondern sie sich neu vorzustellen.31 Ihrer Meinung nach hat man die Undurchsichtigkeit des Anderen zu berücksichtigen, um ihn nicht bloß auf eine bestimmte Vergangenheit, wie immer diese auch sein mag, festzunageln, sondern sein Gefühl der Zugehörigkeit zu stimulieren. Um ein „neues Wir“ zu schaffen, sollte man von vornherein davon ausgehen, dass es immer Unterschiede gibt. Bei ihrem Bau einer kontextuellen Theologie und der theologischen Arbeit auf induktive Weise32 betont sie, dass Menschen von einer „ganzheitlichen Spiritualität“ angezogen werden und dass die Identitäten allmählich fließend werden und Grenzen ineinander übergehen.33 Das Phänomen der religiösen Bricolagen wird immer häufiger beobachtet und der Anteil der „nicht konfessionell gebundenen Spirituellen“ oder „ungebundene Spirituellen“ steigt ständig.34 Laut Kalsky bestreitet man den Wunsch nach einer vorgefertigten, nationalistischen Identität, die schnell fremdenfeindlich wird, mit der Anerkennung von individuell konstruierten (eventuell „hybriden“ oder gemischten) Identitäten, die alle zu einem „neuen Wir“ gehören. Kalsky schlägt vor, in der niederländischen Gesellschaft eine „Logik der Einheit“ durch eine „Logik der Vielfalt“ zu ersetzen, in der Unterschiede nicht als Bedrohung wahrgenommen, sondern als Beitrag zu einem „neuen Wir“ verstanden werden, welches Menschen aller Art dazu einlädt, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu entwickeln. Kalskys Strategie ist allumfassend und danach bestrebt, ein „Wir“ zu schaffen, das nicht unmittelbar ausschließt. Viele denken vielleicht, dass dies zu weit geht. Doch das, was ich an ihrem Ansatz schätze, ist die Tatsache, dass ihre Theologie sich am Alltag orientiert und sie sich auf die Begegnungen zwischen Menschen aus Fleisch und Blut konzentriert, die eine „Vielfalt auf der Suche nach Verbindungen“ anstreben.35

31 Manuel Kalsky, „Auf der Suche nach einem neuen ‚Wir‘“, Junge Kirche 1 / 14 (2014), S. 32–38. Online verfügbar unter http://www.jungekirche.de/2014/0114/2014_1%2032ff.pdf (Zugriff: 13. Januar 2015). Eine ausführliche englische Version bietet Manuela Kalsky, „In Search of a ‚New We‘ Connecting the Differences“, in Religions and Dialogue. International Approaches, hg. von Wolfram Weiße / Katajun Amirpur / Anna Körs / Dörthe Vieregge, Münster 2014, S. 151–166. 32 Ebd., S. 32–33; Englisch, S. 156. 33 Ebd. Englisch, S. 154 und 158. 34 Ebd. Englisch, S. 151 und 157–158 35 Ebd., S. 38; Englisch, S. 166.



Drei Schlussbemerkungen  

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Radikales Anderssein, Unterschiede und Trans-Differenz Eine interreligiöse Theologie dient dem Dialog zwischen Menschen, die unterschiedlich bleiben. Häufig wirft man einer Theologie im Plural vor, dass sie nicht die jeweils eigene Spezifität in Betracht zieht. Jedoch können Unterschiede, wie mir Schmidt- Leukel in einem privaten Gespräch mitteilte, im interreligiösen Dialog und in der interreligiösen Theologie kompatibel sein, und die Frage sei daher, wie man diese Unterschiede interpretiert. Wie ich bereits bei der Diskussion zu Levinas erwähnte, gibt es in meinen Augen eine grundlegende Differenz in jedem Menschen, die dem interreligiösen Dialog eine eminent ethische Dimension hinzufügt. Es ist die ethische Forderung des Anderen, der in seiner Annäherung an das Unaussprechliche ernst genommen werden will, was einen Dialog wahrhaft menschlich macht. Man kann etwas Neues vom Anderen in seiner Annäherung an das Göttliche lernen. Außerdem könnte ich, wenn ich mich nicht dem Verständnis des Letztendlichen des Anderen öffne, einen Aspekt der Religiosität vernachlässigen, der für mein eigenes religiöses Leben von Bedeutung ist. Ein Standpunkt der Überlegenheit, laut dem – so Gott will – alle wie ich selbst sein müssten, ist absurd. Ein solcher Standpunkt totalisiert und verletzt die Einzigartigkeit jedes anderen Menschen. Die Vielfalt der Menschen sowie das eigene Selbstverständnis verlangen, dass wir einen engen Konfessionalismus hinter uns lassen, der nicht zu einem interkulturellen und interreligiösen Dialog beiträgt, welcher die Tiefe unserer menschlichen Existenz anrührt.

Drei Schlussbemerkungen Es scheint mir, dass eines der Hauptprobleme im interreligiösen Dialogs darin liegt, dass man selbst wahrgenommen wird als Vertreter oder den Anderen wahrnimmt als einen solchen und nicht als eine einzigartige Person, die ihre eigene spezifische Herangehensweise zu dem hat, was jenseits der reinen Vernunft liegt. Beim Aufbau der eigenen (religiösen) Identität ist man nicht nur Vertreter eines großen Narrativs. Man bleibt immer auch eine einzigartige Person, die dazu aufgerufen ist, sich mit einer anderen einzigartigen Person am Dialog zu beteiligen über das, was letztlich die Grenzen der reinen Vernunft übersteigt. Menschen sind mehr als Institutionen; sie müssen sich nicht Institutionen opfern, obwohl diese nicht notwendigerweise negative Einrichtungen sein müssen. Man ist in erster Linie Mensch und konkret, nicht bloß ein Vertreter. Zweitens ist die dialogische Theologie nicht eine Art von Synkretismus oder ein anderer Name für eine vereinheitlichende globale Religion. Wie ich bereits

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 Bausteine für interreligiösen Dialog und interreligiöse Theologie

erwähnte, berücksichtigt interreligiöse Theologie Vielfalt, doch beschränkt sie sich nicht auf eine Multikultur, in der man neben dem Anderen existiert. Dialogische Theologie ist vielmehr die geistige Darstellung und Reflexion interkultureller und interreligiöser Zusammentreffen. Schließlich ist Dialog zwischen den Religionen notwendig, um einen dauerhaften Frieden zwischen Menschen, Rassen und Nationen zu begründen. Wenn man die Religion des Anderen kennt und schätzt, wird eine Grundlage für ein Zusammenleben geschaffen, die man nicht einer Elite von Intellektuellen oder Ökonomen und Politiker überlassen kann.

Kapitel 5 Die Bibelübersetzung Buber-Rosenzweig als jüdisch-dialogische Unternehmung Im vorigen Kapitel habe ich argumentiert, dass die Kommunikation zwischen Menschen in der Möglichkeit der Übersetzung besteht. Interkulturelle Begegnungen verlangen geschickte Übersetzungsfähigkeiten. Übersetzung ist auch für den, der sich im interreligiösen Dialog engagiert, notwendig. Buber und Rosenzweig waren beide am jüdisch-christlichen Dialog beteiligt und übersetzten die Hebräische Bibel ins Deutsche. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit ihrer ungewöhnlichen Übersetzung der Bibel als jüdisch-dialogische Unternehmung, die 1925 begann und erst 1961 fertiggestellt wurde. Durch ihre gemeinsame Anstrengung wollten Buber und Rosenzweig sowohl Juden als auch Christen zum ursprünglichen Text, der lebendig gemacht wurde, führen. Ich erörtere zuerst die Verknüpfung von Bubers exegetischer Arbeit und Rosenzweigs Sprachdenken mit ihrer Übersetzung der Hebräischen Bibel. Des Weiteren interpretiere ich ihre Übersetzung als eine vorwiegend jüdische Exegese, in der der Inhalt nicht von der Form losgelöst ist. Ihre Übersetzung respektiert die Konkretheit der göttlichen Offenbarung und bewahrt das, was in der Originalsprache gesagt wurde, in der Zielsprache. Somit schufen sie einen Dialog zwischen Sprachen und Kulturen. Schließlich bestreite ich Gershom Scholems pessimistische und sogar zynische Bemerkung über die Buber-Rosenzweig-Übersetzung als „Grabmal“ und „Gastgeschenk“ an Deutschland und gelange zu einer positiven Bewertung der Übersetzung, die bewundernswert und auf paradigmatische Weise noch immer einen realen Bestandteil der interreligiösen und interkulturellen Arbeit darstellt. Dieses Kapitel beinhaltet eine detaillierte Diskussion der Buber-Rosenzweig Übersetzung, da Buber und Rosenzweig eine trans-differente deutsch-jüdische Welt schaffen wollten, die den Respekt vor der jüdischen Spezifität verstärkt, die im Originaltext in all ihrer Konkretheit zum Ausdruck kommt. Sie glaubten an den transformativen Charakter des göttlichen Wortes, mit dem sie sich identifizierten. Zugleich betonten sie die Bedeutung des spezifischen kulturellen Kontextes, in dem dieses göttliche Wort verankert ist.

Der Kontext: Dialogisches Denken und Sprachdenken Während seines ganzen Lebens studierte und kommentierte Buber die Bibel.1 Vor diesem Hintergrund scheint es verwunderlich, dass Wissenschaftler sich weniger 1 Er schrieb drei Bücher über die Bibel: Königtum Gottes (1932), Torat ha-Neviim (1942) und Moses (1945). Der Gesalbte (zu Saul, erschien in Teilen, 1938, 1950 und 1951), Zwei Glaubensweisen (1950),

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 Die Bibelübersetzung Buber-Rosenzweig als jüdisch-dialogische Unternehmung

auf dieses spezielle Gebiet seiner Tätigkeit konzentrieren als auf sein anderes literarisches Werk. Um Bubers exegetische Arbeit und seine Übersetzung der Bibel richtig zu analysieren, sollte man sie in Bezug auf seine dialogische Philosophie sehen, wie sie durch das jüdisch-geistliche Erbe inspiriert wurde. Dies wurde bisher nicht ausreichend in der Wissenschaft berücksichtigt. Buber verstand die Bibel als inspirierende Quelle des jüdischen Lebens und als real für die Welt als solche. In der Bibel ist die Erfahrung der Offenbarung, die als Dialog zu verstehen ist, von zentraler Bedeutung.2 Gott spricht und der Mensch antwortet, wie Buber durchgehend in seiner dialogischen Hermeneutik und narrativen Theologie feststellt.3 Seine biblische Theologie übernimmt die dialogischen, relationalen Kategorien der Schöpfung, Offenbarung und Erlösung Rosenzweigs: Schöpfung ist der Anfang, Erlösung ist das Ziel und die gelebte Erfahrung der Offenbarung stellt eine permanente Möglichkeit dar. Offenbarung verläuft kontinuierlich und erfolgt immer in einer konkreten Situation.4 Allerdings hatte das biblische Wort auch eine Funktion im Leben der zahlreichen Nationen im Lauf der Geschichte. Eine Analyse des Essays „Der Mensch von heute und die jüdische Bibel“5 zeigt die Nähe von Bubers Bibelexegese zu seiner dialogischen Philosophie auf. In seinem Artikel von 1926 wird das Hören des biblischen Wortes als Therapie für die Menschen von heute verstanden, die vergessen haben, was Beziehungen bedeuten. In anti-gnostischer Weise schreibt Buber, dass das geistige Leben keine Recht und Unrecht. Deutung Einiger Psalmen (1952), Sehertum (1955) sowie die Anthologie Die Schrift und ihre Verdeutschung (in Zusammenarbeit mit Franz Rosenzweig) (Berlin: Schocken 1936), gehören auch zu seinen Arbeiten zur Bibel. Die Anthologie behandelt Bubers und Rosenzweigs Vorgehensweise bei der Übersetzung: sie schreiben über die hebräische Denkweise, Leitmotive und die Einzigartigkeit der hebräischen Sprache mit ihren Leitworten und ihrer Satzstruktur, Form und Klang. 2 Der Sinai stand nicht im Zentrum der jüdischen Erfahrung für Buber, der im Gegensatz zu Mowinckel behauptete, dass die Offenbarung am Sinai historisch gewesen sei. Doch diese Theophanie, erklärte er, war nicht einmalig, denn Gott offenbart sich in mehrfacher Weise. Es gab kein zentrales Ereignis in der Geschichte Israels. Was am Sinai offenbart wurde, war nicht das Gesetz, sondern die Gegenwart Gottes. 3 Stephen Kepnes, The Text as Thou: Martin Buber’s Dialogical Hermeneutics and Narrative Theology, Bloomington 1993. 4 Michael Fagenblat und Nathan Wolski bemerken, dass Bubers Erwähnung einer gegenwärtigen Erfahrung der Offenbarung stark auf Diltheys Konzept des Erlebnisses zurückgreift. Diese intensiv gelebte Erfahrung beinhaltet ein „Wieder-in-Situation-Setzen“, das Geschehnisse in ­Ereignisse verwandelt und es erlaubt, in Bubers Formulierung „zu reagieren und für jeden ­Moment verantwortlich zu sein.“ Michael Fagenblat / Nathan Wolski, „Revelation Here and ­Beyond. Buber and Levinas on the Bible“, in Levinas and Buber. Dialogue and Difference, hg. von Peter Atterton / Matthew Calarco / Maurice Friedman, Pittsburgh 2004, S. 158. 5 Martin Buber, „Der Mensch von heute und die jüdische Bible“, in ders. / Franz Rosenzweig, Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin 1936, S. 13–45.



Der Kontext: Dialogisches Denken und Sprachdenken 

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abgetrennte Sphäre im Leben des Menschen auf einer psychologischen oder soziologischen Ebene darstellt, sondern dass es „zwischen“ den Menschen stattfindet.6 Wenn der Mensch von heute das göttliche Wort aus der Bibel als miqra hört, wenn er es laut liest, dann kommt das Wort zu ihm, ohne ein apriorisches Wissen, und er wird zu einem aufnehmenden Gefäß.7 In seinem Artikel definiert Buber Offenbarung als „Angesprochenwerden.“8 In der Offenbarung begegnet man einer Andersheit; man wird vom Anderen berührt und das Geschenk der Gegenwärtigkeit muss erkannt werden.9 Bubers Gedanken über biblische Offenbarung laufen parallel zu dem, was er in Ich und Du über die Anwesenheit eines „Mehr“ schreibt, dem der Mensch begegnet, welcher in eine Beziehung eintritt: Das „Mehr“ stammt nicht von ihm selbst, doch ist es da und kann jederzeit stattfinden.10 Im Moment der Offenbarung wird ein Mensch radikal verändert: er ist nicht mehr dieselbe Person.11 Er erhält nicht Inhalt, sondern Gegenwart.12 Offenbarung ist nicht auf Tafeln festgeschrieben; vielmehr empfängt man sie mit der Einzigartigkeit seines ganzen Wesens. Sie bestätigt die Existenz von Sinn: nichts kann mehr sinnlos sein.13 In gleicher Weise definiert Buber Schöpfung als eine Kategorie von Beziehung: Schöpfung wird nicht auf etwas im Menschen reduziert, ein psycho-physisches Inventar oder eine Summe von Eigenschaften, die auf eine primitivere Stufe zurückgeführt werden können: eine Person ist immer einzigartig und unvergleichlich.14 In Ich und Du beschreibt Buber Schöpfung als etwas, an dem man teil hat; man begegnet dem Schöpfer und gibt sich selbst zum göttlichen Partner und Helfer.15 Schließlich ist Erlösung nicht eine Frage von Änderung oder Plänen, sondern sie wird vielmehr durch eine „Umkehr“ möglich. Erlösung bedeutet das Ergriffenwerden von einer Hand, die berührt werden will.16 In Ich und Du finden wir eine parallele Formulierung: Erlösung ist nicht gleichzusetzen mit Lösung.17 „Umkehr“ ist die Anerkennung dessen, was 6 Friedman, Maurice, Encounter on the Narrow Ridge. A Life of Martin Buber, New York 1991, S. 172, stellt fest, dass Buber sardonisch Religion in ihrer Trennung von der Welt als „den größten Feind der Menschheit“ kennzeichnet. Buber dachte wie der Chassidismus, dass das ganze Leben geheiligt werden müsse. 7 Buber, „Der Mensch“, S. 19. 8 Ebd., S. 28. 9 Ebd., S. 26. 10 Martin Buber, Ich und Du. Um ein Nachwort erweiterte Neuausgabe, Heidelberg 1958, S. 96, 102. 11 Ebd., S. 95. 12 Ebd., S. 96. 13 Ebd., S. 96–97. 14 Buber, „Der Mensch“, S. 29. 15 Buber, Ich und Du, S. 75. 16 Buber, „Der Mensch“, S. 30–31. 17 Buber, Ich und Du, S. 97

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 Die Bibelübersetzung Buber-Rosenzweig als jüdisch-dialogische Unternehmung

zwischen Menschen passiert; durch sie bezieht man sich auf die Anderen und dadurch wird die Welt erneuert.18 In Anwendung seiner berühmten Unterscheidung zwischen Religiosität als gelebte Beziehung und Religion als die konkrete, aber nicht unproblematische Manifestation der Religiosität, schreibt er, dass in der „Umkehr“ das Wort geboren wird; in seiner Ausweitung wird es Religion; und in einer erneuerten „Umkehr“ erhält es neue Flügel.19 In Bubers Essay zur Bibel als auch in seinem Ich und Du sind die Realitäten der Schöpfung, Offenbarung und Erlösung daher grundlegende Beziehungswirklichkeiten: durch sie wird ein Mensch in seiner dialogischen Existenz bestätigt. Buber erläutert eine existentielle Interpretation der Bibel. So erscheint zum Beispiel in seinen ausführlichen Diskussionen der messianischen Kräfte in der jüdischen Geschichte der Messias als ein Mensch, aber auch als das ganze Volk Israel.20 Gegen die „Religion“ der Freunde Hiobs, erkannte er Hiob als jemanden, der seine ganze Generation umfasst.21 Wenn Gott zu Hiob spricht, spricht er zu der Generation des Holocaust. Hiob ist wie ein Überlebender des Holocaust: er sucht nach Gott und erfährt seine Gegenwart, auch im Angesicht des Bösen. Nach Bubers Ansicht ist der leidende Gottesknecht (eved ha-Shem) aus Deuterojesaja, der die Verantwortung für die Anderen auf sich nimmt, stets zu personifizieren. Israel leidet und Gott leidet mit ihm, doch auf mysteriöse Weise – durch Israel als Gottes versteckter Pfeil – ist dies das Geschehen, das Erlösung in die Welt bringt. Laut Bubers Ansicht besteht der Tanakh nicht aus biblia, Büchern, sondern ist miqra, ein lebendiges Wort, das noch heute zu hören ist und dem man durch „Umkehr“ (teshuva) antworten muss, durch die Heiligung des Alltags. Auf kreative Weise zeigt Rosenzweig eine Analogie zwischen Saladin, der in Lessings Parabel Nathan der Weise in großer Achtsamkeit Nathans Geschichte hört, die ihn schockiert und verwandelt, und den biblischen Geschichten, die eine überraschende Antwort auf existentielle Fragen geben.22 Die Bibel gibt Antwort auf die grundlegenden Fragen des Menschen. Sowohl für Buber als auch für Rosenzweig war die Bibel mit ihrer transformierenden Kraft auch eine Antwort auf einen Aufruf,23 und Dialog ist der Schlüssel zu den biblischen Geschichten. 18 Ebd., S. 89. 19 Ebd., S. 101. 20 Martin Buber, „Der Glaube der Propheten“, in Werke. Zweiter Band. Schriften zur Bibel, München /  Heidelberg 1964, S. 483. (Im Folgenden Werke II). 21 Ebd., S. 447. 22 Franz Rosenzweig, „Das Formgeheimnis der biblischen Erzählungen“, in Martin Buber / ders., Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin 1936, S. 245. 23 Bubers Erzählung eines wiederkehrenden Traumes, in dem er eine Antwort auf seinen Ruf erhält, dient als Modell für den Dialog. Martin Buber, „Urerinnerung“, in ders., Zwiesprache, in Werke. Erster Band. Schriften zur Philosophie, München / Heidelberg 1962, S. 173–174.



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Die vorangegangenen Überlegungen von Buber und Rosenzweig zur Bibel bilden den Rahmen, in dem die biblische Übersetzung ihre volle Bedeutung erhält. Als der römisch-katholische Herausgeber Lambert Schneider wollte, dass Buber die Bibel übersetzt,24 nahm letzterer unter der Bedingung an, dass Rosenzweig mit ihm zusammen arbeitete. Rosenzweig hatte bereits Erfahrung in der Übersetzung von Jehuda Halevi. Sie begannen das Projekt und veröffentlichten letztlich zusammen zehn Bände, von der Genesis bis zu Jesaja. Anfang Mai 1925 schrieb Rosenzweig an Buber, dass seine Rolle inspirierend und kritisch sei, und dass er für Buber sowohl Diotima als auch Xantippe verkörpere.25 Er war bereit, wie Sokrates’ nörgelnde Frau und seine Lehrerin zu sein: kritisch und inspirierend. Die Übersetzung war Bubers Initiative; Rosenzweigs Beitrag war der einer „produktiven Kritik“.26

Bibelkritik Rosenzweig und Buber akzeptierten und wandten Bibelkritik an, doch waren sie mehr an der Erfahrung der Offenbarung interessiert, die „Orientierung“ ins Leben brachte.27 Wellhausens These zu den Schriften war für sie weniger wichtig als die Erfahrung einer äußeren Stimme. In seinen exegetischen Büchern kombinierte Buber literarische und historisch-kritische Exegese mit einer dialogischen Interpretation. Historisch-philologische Kenntnisse waren wichtig, doch sekundär im Dienst der Hervorbringung des „ganzen Menschen“.28 Er war ein „postkritischer religiöser Denker“.29 Es ist wahrscheinlich wegen seines expliziten theologischen Zieles, dass Bibelwissenschaftler ihn nicht als einen von ihnen betrachteten. Quellenkritik lag nicht in Bubers Interesse; er bezog sich auf den endgültigen, festgelegten Text als miqra, einen Aufruf, der existentiell beantwortet werden musste. 24 Nahum Glatzer / Paul Mendes-Flohr (Hg.) The Letters of Martin Buber. A Life of Dialogue, New York 1991, S. 326. 25 Franz Rosenzweig, Briefe und Tagebücher. 2. Band. 1918–1929 (Franz Rosenzweig. Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften I), hg. von Rachel Rosenzweig / Edith Rosenzweig-­ Scheinmann, in Zusammenarbeit mit Bernhard Casper, The Hague 1979, S. 1035 (im Folgenden GS I,2). 26 Ibid., S. 1057. 27 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt a. M. 1988, S. 208. 28 Buber wollte ein „dienendes Wissen“. Martin Buber, „Cheruth. Eine Rede über Jugend und ­Religion“, in ders., Reden über das Judentum, Berlin 1932, S. 232. Zu einer kritischen Einschätzung von Bubers Sicht der Geschichte Israels siehe Karl-Johan Illman, „Buber and the Bible. Guiding Principles and the Legacy of His Interpretation“, in Martin Buber. A Contemporary Perspective, hg. von Paul Mendes-Flohr, Jerusalem 2002, S. 87–100. 29 Fagenblat / Wolski, „Revelation Here and Beyond“, S. 175.

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In einem privaten Gespräch erzählte mir Uriel Simon, dass Buber kein Bibelwissenschaftler war, sondern ein Theologe, der im Wesentlichen die Bibel auf die Propheten reduzierte. Buber war in der Tat ein großer Theologe, der den „ganzen Menschen“ oder den „Zwischenmenschen“ hervorbringen wollte, der über Beziehungen zu anderen Menschen bescheid weiß, die zum ewigen Du führen. Allerdings hat er seine Ansicht nicht auf die Propheten eingegrenzt. Er sah auch in den biblischen Geschichten, in der biblischen Geschichtsschreibung und den Psalmen eine dialogische Dimension. Außerdem wollte er nicht die Geschichte hervorheben, sondern die Geschichte von Begegnungen und die Glaubensgeschichte, nicht bloße Fakten, sondern Teleologie: die biblische Stimme sollte „heute“ gehört werden (Psalm 96,5) und Einheit zwischen den Menschen sollte verwirklicht werden. Durch messianische Taten sollte die Geschichte in das Reich Gottes verwandelt werden. Wie Shemaryahu Talmon bemerkte, trennte Buber in der Nachfolge Rosenzweigs nicht zwischen Wissenschaft und Glaube: historische Bibelwissenschaft und existenzieller, axiologischer Kommentar gingen Hand in Hand.30 In der Fortsetzung dieser Gedanken stellt Maurice Friedman fest, dass Buber ein Mensch der Wissenschaft war, aber eine existenzielle Auslegung der Bibel innehatte; er identifizierte sich mit dem Wort, das nie ein reines Objekt der Wissenschaft ist, sondern etwas, auf das man sich bezieht: er führte einen Dialog mit dem göttlichen Wort.31 Jeder Moment konnte in seinen Augen einer der Offenbarung sein. Karl-Johan Illman vertritt eine kritische Meinung gegenüber Buber, wie dies auch Uriel Simon tut, und er zählt Buber nicht zu den Bibelwissenschaftlern: er sei „von seiner eher intuitiven Methode in die Irre geführt worden“ und habe Bibelstellen falsch gedeutet.32 Dennoch erkennt auch Illman, dass „die Anwendung von Bubers dialogischem Prinzip als hermeneutisches Paradigma und als Mittel der theologischen Interpretation der biblischen Texte sein Vermächtnis im Bereich der Bibelexegese“ sei.33 Ich stimme zu, dass Buber eine neue, dialogische Weise die Bibel zu lesen eröffnete und dass dies sein besonderer Beitrag zur Bibelauslegung war.34 Buber war ein bedeutender Theologe, dessen Sicht nicht nur historisch war. Seine dialogische Lesart der Bibel wurde von der historischen 30 Shemaryahu Talmon, „Darko shel Buber ke-parshan ha-Tanakh“, in Kan ve-akhshav. Iyunim behaguto ha-chevratit ve-ha-datit shel M. Buber, Jerusalem 1982, S. 128. Siehe Franz Rosenzweig, „Die Einheit der Bibel“, in Martin Buber / ders., Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin 1936, S. 52–54. 31 Maurice Friedman, Martin Buber. The Life of Dialogue, London / New York 1955, S. 127. 32 Illman, „Buber and the Bibel“, S. 99. 33 „… [u]sed as a hermeneutical paradigm and as a means of the theological interpretation of biblical texts, Buber’s dialogical principle is his legacy to the field of biblical exegesis.“ Ebd., S. 100. 34 Für Dan Avnon gibt es in allen Schriften Bubers einen verborgenen Dialog. Dan Avon, Martin Buber. The Hidden Dialogue, Lanham 1998.



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Erinnerung Israels genährt, die in ihm lebte. Der hebräische Humanist, der an eine mögliche Vereinigung der Menschheit glaubte, wandte sich der Hebräischen Bibel zu, die noch immer der allgemeinen Gesellschaft etwas zu sagen hatte, und damit öffnete er ein geschlossenes Buch, das zu einem lebendigen Wort wurde. Buber war von Ideen der Einheit und des Dialogs besessen. Man musste die Bibel als eine Einheit lesen. Genesis war zum Beispiel nicht das Buch eines Autors, doch andererseits war die Dokumententhese nicht bewiesen. Dadurch dass Buber eher mit Traditionen als mit Quellen arbeitete, verstand er Genesis als Einheit und zwar als eine, die eine Bedeutung für den Menschen von heute hat, der dazu berufen ist, ein „Zwischenmensch“ zu werden. Des Weiteren wurde er durch Wilhelm Diltheys Unterscheidung zwischen „erklären“ und „verstehen“ beeinflusst. Die Geschichte von Shneur Salman von Lyadi und dem Gefängnis­ wärter zur göttlichen Frage „Wo bist du?“ (Gen 3,9) veranschaulicht Bubers existentielle Bibelexegese: durch sie muss man Gottes Ruf beantworten.35 Auf ähnliche Weise merkte Rosenzweig an, dass man die Bibel nicht verstehen muss, sondern man vielmehr durch die Bibel lebendiger werden sollte.36

Philosophie und Exegese Man kann sich fragen, ob Buber seine philosophisch-dialogische Vision in die Bibel hineininterpretierte. Seine philosophischen Überlegungen und seine Bibelkommentare gingen Hand in Hand, und einige Gelehrte bemerkten die Tatsache, dass man das eine vom anderen nicht unterscheiden kann.37 Théodore Dreyfus hielt zum Beispiel dafür, dass Bubers Exegese ein verborgener Aspekt (la face cachée) seiner sichtbareren und bekannteren dialogischen Philosophie sei. In Bubers Arbeit ist alles verbunden (tout se tient).38 Dreyfus‘ Hypothese besteht darin, dass sich Buber aus der Peripherie des Chassidismus zum Kern der Bibel bewegte.39 In einer gelungeneren Formulierung stellt er fest, dass der Chassidismus und die Bibel in vivo den Dialog zwischen Gott und dem Menschen 35 Martin Buber, „Der Weg des Menschen nach der Chassidischen Lehre“, in Martin Buber. Werke. Dritter Band. Schriften zum Chassidismus, München / Heidelberg 1963, S. 715–718. 36 Franz Rosenzweig, Die “Gritli”-Briefe. Briefe an Margrit Rosenstock-Huessy, S. 470: „Man soll gar nicht die Bibel verstehn, man soll lebendiger werden.“; Ephraim Meir, Letters of Love. Franz Rosenzweig’s Spiritual Biography, S. 92. 37 In ihrer Promotionsarbeit erörtert meine Studentin Nehama Kalmanovitch diesen Aspekt. Siehe Nehama Kalmanovitch, Darko shel buber ba-miqra. hasiah hakatuv ve-hasiah hadavur be-haguto shel buber al ha miqra, PhD dissertation, Bar Ilan University, 2013. 38 Théodore Dreyfus, Martin Buber, Paris 1981, S. 92. 39 Ebd.

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bezeugen.40 Seine dialogische Philosophie bewegte sich zwischen den beiden; sie war universell und daher wurde sie als wesentlich betrachtet und die Bibel als sekundär. Dreyfus sieht im Gegenteil Bubers Arbeit an der Bibel als wesentlich für seine Philosophie, die sich auf die Erfahrung der Beziehung konzentriert.41 Es gab einen Perspektivenwechsel von der Universalität zur Spezifität, jedoch zu einer Form der Spezifität, die offen ist für die Welt.42 Mit meinen eigenen Worten gesagt: Differenz (die Spezifität des Tanakh) und Trans-Differenz (sein universeller Wert) gingen zusammen. Durch seine Exegese bewahrte Buber seine dialogische Philosophie davor, nur Philosophie zu bleiben.43 Israel wird als eine Gemeinschaft, die sich erinnert, aufgefordert, eine „wirkliche Gemeinschaft“ und paradigmatisch für eine lebendige Einheit zu sein.44 In seiner Bibelauslegung als auch in seiner Philosophie gehörten Geist und Leben zusammen, wie der Geist des Lebens und das Leben des Geistes.45 Die Bibel und Chassidismus beinhalteten paradigmatische Dialoge, die fortgesetzt werden konnten.46 Buber wollte sich nicht zurückwenden zur Bibel, sondern hin zur „ganzen“ Existenz.47 Malcolm Diamond merkte an, dass Bubers Exegese und seine Philosophie sich gegenseitig beeinflussten: „Während Buber zweifellos die Bibel in Bezug auf seine dialogische Philosophie interpretierte, war die jüdische Bibel selbst ein entscheidender Einfluss auf die Entwicklung dieser Philosophie.“48 Es ist mir klar, dass Philosophie und Exegese zusammengehören; ohne die Bibel bleibt Bubers Philosophie ein Ich-Es.49 Allerdings beantwortet dies nicht die Frage, ob Buber seinen philosophischen Standpunkt der Bibel aufzwingt. Diese Frage wird dringlich, wenn wir Bubers zuvor erwähnte Interpretation der Erzählung Sauls und 40 Ebd., S. 100. 41 Ebd., S. 92–93. 42 Ebd., S. 96. 43 Ebd., S. 101. 44 Buber schrieb: „Ein Volk muss den Völkern die Gott gehorsame Eintracht vorleben. Aus einer bloßen Nation, aus biologisch-geschichtlicher Einheit eines goj (vgl. gwija: Leichnam, Körper) muss es zu einer Gemeinschaft, zu einem wahren ‘am (vgl. ‘im: gesellt zu…; ‘umma: Seite an Seite) werden.“ Buber, „Die Erwählung Israels“, in Werke II, S. 1045. 45 Dreyfus, S. 94–94. 46 Ebd., S. 100. 47 Ebd., S. 101. In Bubers Worten: „Es gilt nicht eine ‚Rückkehr zur Bibel‘.[…] es gilt in bibeltreuer Glaubensaufgeschlossenheit unseren heutigen Situationen dialogisch verantwortend standzuhalten.“ 48 „While Buber has undoubtedly interpreted the Bible in terms of his philosophy of dia­ logue, the Jewish Bible was itself a crucial influence upon the development of that philosophy.“ Malcolm L. Diamond, Martin Buber. Jewish Existentialist, New York 1960, S. 65. 49 Alexander Even Chen / Ephraim Meir, Between Heschel and Buber. A Comparative Study, Boston 2012, S. 217.



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Agags, dem Amalekiter (1 Sam 15,1–35) berücksichtigen. Heschel konnte dieser Interpretation nicht zustimmen: „Martin Bubers Erklärung ‚Nichts kann mich dazu bringen, an einen Gott zu glauben, der Saul bestraft, weil er seinen Feind nicht tötete‘ muss der Aussage des Kotzker Rabbis gegenübergestellt werden: ‚An einen Gott, den jeder Tom, Dick und Harry verstehen könnte, würde ich nicht glauben‘.“50 Buber war jedoch nicht bereit, anti-dialogische Elemente in der Bibel zu akzeptieren.51 Angesichts der Einheit in Bubers Arbeit muss man seine Philosophie, sein zionistisches Denken und seine Bibelkommentare immer als aufeinander bezogen betrachten: Buber weigerte sich, die unethische Episode zu Saul zu akzeptieren, da er durch seine Bibelauslegung Menschen zum Aufbau einer dialogischen Gesellschaft in Palästina inspirieren wollte. Samuel, erklärte er, hatte Gott missverstanden.52 Er trug die Geschichte von Samuels Mord an Agag „wie eine offene Wunde“53 an sich. Buber näherte sich der Bibel nicht mit einem philosophischen Apriori. Es gibt eine organische Verbindung zwischen seinem Zionismus, seiner Bibelauslegung und seiner philosophischen Sicht von Existenz als Koexistenz. Sein Engagement als Jude und seine philosophischen und exegetischen Aktivitäten entsprangen seiner Einbettung in die jüdische Tradition. Buber schrieb die Geschichte des biblischen Glaubens und interpretierte

50 „Martin Buber’s declaration ‚Nothing can make me believe in a God who punishes Saul because he did not murder his enemy‘ must be contrasted with the Kotzker’s statement: ‚A God whom any Tom, Dick, and Harry could comprehend, I would not believe in‘.“ Abraham J. ­Heschel, A Passion for Truth, New York 1973, S. 292–293. 51 In seinem Artikel „Wie Saul König wurde“ (1949) beschreibt er Saul als einen leidenden Juden: Gott offenbart sich selbst nicht Saul, der nur Gebote und Verpflichtungen hat. Wie Tchernichovsky in „Eyn Dor“ (1893) verteidigt er König Saul. Nicht alles in der Bibel war für Buber akzeptabel: Gott war größer. In seiner kleinen Schrift Begegnung. Autobiographische Fragmente (1960) erwähnt er ein Gespräch mit einem gesetzestreuen Jude über die Episode im Buch Samuel über Saul, der nicht länger König sein darf, weil er Agag, den Amalekiter, nicht getötet hatte. Buber sagte: „Ich habe es nie glauben können, dass dies eine Botschaft Gottes sei. […] Ich glaube es nicht.“ (S. 71f) Wenn man zwischen Gott und der Bibel zu wählen hat, muss man Gott wählen. Buber war selektiv. Auch in der Geschichte von der Bindung Isaaks tat er alles, um eine unethische Auslegung zu vermeiden. Siehe Ephraim Meir, „Bubers dialogische Interpretation der Bindung des Isaak – zwischen Kierkegaard und dem Chassidismus“, in The Faith of Abraham. In the Light of Interpretation throughout the Ages, hg. von Moshe Hallamish / Hannah Kasher / Yohanan Sîlman, Ramat Gan 2002, S. 281–293 (Hebräisch). 52 Siehe dazu Friedmann, Encounter on a Narrow Ridge, S. 287–288; Martina Urban, „Retelling Biblical Mythos Through the Hasidic Tale: Buber’s ‚Saul and David‘ and the Question of Leader­ ship“, Modern Judaism 24, 1 (2004), S. 59–78. 53 Martin Buber, „The How and Why of Our Bible Translation“, in Martin Buber / Franz Rosenzweig, Scripture and Translation, übers. von Lawrence Rosenwald / Everett Fox, Bloomington 1994, S. 207.

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die Bibel mit einem „wissenschaftlich-intuitiven“-Ansatz.54 Er ahnte, dass Ethik bereits in einem frühen Stadium Israels mit dem Monotheismus verbunden war. Er konnte das Göttliche nicht ohne Ethik begreifen, da in seinen Augen Ethik der vorherrschende Zug in der Bibel war. Buber war sich bewusst, dass die Bibel nicht objektive Geschichtsschreibung darstellte, doch glaubte er, dass sie auf Tatsachen beruhte. Die Erinnerung Israels wurde in historischen Legenden und historischen Liedern wie das Lied der Deborah und das Lied des Roten Meeres bewahrt und setzte sich in Ritualen wie Pessach fort. Sowohl Bubers biblisches als auch philosophisches Werk stellt die Beziehung zwischen Gott und Mensch heraus. Dennoch gibt es einen Unterschied zwischen Bubers Ich und Du und seinen Bibelkommentaren: im ersteren steht die ewige Präsenz Gottes im Fokus. In letzteren spricht Gott den Menschen an, und der Ton liegt eher auf den verschiedenen Stufen der Geschichte.

Methodik Bubers Methode bestand darin, laut langsam vorzulesen, um jedes Wort zu schmecken. Für ihn bedeutete zu lesen, laut zu lesen, und zu verstehen bedeutete zu hören. Damit rettete er den mündlichen Charakter der Bibel.55 Er suchte nach dem historischen Kern, doch ging er über diesen hinaus. Er hatte stets die Einheit der Bibel vor Augen, und er entdeckte die Leitwort-Methode der letzten Redaktoren. Seiner Ansicht nach hatte die Exegese zwei Themen vergessen: 1. die lebendige Stimme und 2. die Einzigartigkeit Israels. Ein kurzer Blick auf einige Lichtpunkte in der modernen Hermeneutik zeigt den einzigartigen Beitrag Bubers und Rosenzweigs auf diesem Gebiet.56 Friedrich Schleiermacher und Wilhelm Dilthey versuchten, die Absicht des Autors zu verstehen; Roland Barthes analysierte die Struktur des Textes als Enthüllung seiner Botschaft; Jacques Derrida fokussierte sich auf den Leser; und Hans-Georg Gadamer wurde berühmt für seine Betrachtungen zur Horizontverschmelzung zwischen Text und Leser. Im Bereich der Jüdischen Studien hatte Levinas einen ganz anderen Ansatz. Er zeigte in seinen talmudischen Lesungen, dass der Text als das „Andere“ inspirierend werden kann, und als mit mehreren Bedeutungen 54 Buber, „Der Glaube der Propheten“, in Werke II, S. 242. 55 Die skandinavische Schule ging ebenfalls in diese Richtung. Die oben genannte These von ­Nehama Kalmanovitch konzentriert sich auf Bubers Aufmerksamkeit gegenüber dem ­gesprochenen Charakter des biblischen Textes. 56 Ich flechte hier einige Ideen ein, die bei Hanoch Ben-Pazi, Interpretation als ethischer Akt. Levinas Hermeneutik, Tel Aviv 2012 (Hebräisch) auftauchen.



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(peut dire) wahrgenommen werden muss und nicht nur mit einer einzigen (veut dire). Die Texte waren wie Kohlen, die man nur entzünden musste, indem man sie, wie die Weisen sagten, beatmete.57 Buber und Rosenzweig achteten auf den Dialog zwischen dem biblischen Wort und dem Hörer: man muss den gesprochenen Text hören. Der Text kann jederzeit wieder sprechen, zur mündlichen Tora (tora she-be-al-pe) werden. Ihre Übersetzung wurde zum Midrasch: die Transzendenz des Dialogs war wichtiger als der historische Kontext und dessen Umstände. Sie bedauerten die Tatsache, dass der Text anonym geworden war, ein Museumsartefakt, Literatur, die auf formalistische Weise analysiert werden musste,58 ein autonomes, stummes Objekt der Literatur. Sie glaubten, dass er wieder zu einem lebendigen Dialog werden könne, ein Angesprochenwerden. Durch die Entdeckung des Dialogs im Text und durch den Dialog mit dem Text konnte man eine neue Lesart der Bibel finden. Bubers und Rosenzweigs dialogisches Verfahren unterscheidet sich grundsätzlich vom historisch-kritischen Ansatz und stellt ein Novum in der Geschichte der Hermeneutik dar.

Ich-Du und Ich-Es Stephen Kepnes wies darauf hin, dass Buber einen Dialog zwischen Text und Leser in seiner Bibelübersetzung entstehen lässt: er benutzt technische Einzelheiten aus 57 Avot 2,10. Als ich Levinas an einem Schabbat zu seiner Interpretation der Bibel mit Raschi und einem talmudischen Abschnitt gratulierte, sagte er in einer freundlichen Art und Weise: „Ich habe nur den Text beatmet.“ (je n’ai fait que souffler). Die Entwicklung einer auf den Anderen zentrierten Hermeneutik, inspiriert von Levinas, könnte uns eine sehr unterschiedliche Hermeneutik als die von Gadamer bieten. In Gadamers Hermeneutik erweitert man den eigenen Horizont und ist sich der radikalen Geschichtlichkeit des Verstehens bewusst. Eine Levinasianische Hermeneutik des Anderen fordert eine Beziehung zum Anderen, die nicht auf einem aktiv interpretierenden Ich beruht, sondern auf einem geduldigen Zuhören auf den immer äußeren Ruf des Anderen, der sich jenseits des eigenen Horizontes befindet. Es geht weniger um kognitives Verständnis als vielmehr um das Hören auf eine auffordernde Stimme. Während Gadamer die Tatsache beachtete, dass man sich immer in einem kulturellen Kontext befindet und dass man fortschreitet in dem Verständnis des Anderen anhand von gegenseitigen Fragen, die die eigenen Vorurteile und vorgefasste Horizonte bewusst machen, gibt Levinas’ Metaphysik der ethischen Herausforderung als Voraussetzung für jegliches Verständnis den Vorrang. Gadamer war der Ansicht, dass die Wahrheit ein Prozess der Entdeckung sei, aber in Levinas’ Sicht ist die Begegnung mit dem Anderen keine Frage der Entdeckung, sondern ein Stehen vor dem Antlitz des Anderen, eine „Epiphanie“. Bei der Auslegung der Heiligen Schrift muss man jenseits des Verses gehen, in einer ethischen Offenheit „à Dieu“. Eine Hermeneutik in den Fußstapfen Levinas’ könnte eine kopernikanische Wende in diesem Bereich herbeiführen: vom interpretierenden Ich zum Anderen, der Verantwortung verlangt, von Kenntnis zu Erkenntnis und von Büchern zum Antlitz des Anderen, durch das Worte sinnvoll werden. 58 Vgl. den Status des Textes im Strukturalismus von Claude Lévi-Strauss und Roland Barthes.

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dem Bereich der Erklärung, dem Bereich des „Es“, während die Bibel selbst in den Bereich des „Du“ gehört, den Bereich der Begegnung.59 Ich halte dafür, dass Buber die Bibel als eine Mischung von „Du“ und „Es“ sah: er hoffte, dass das „Es“, die Form, das „Du“ als eine lebendige, verwandelnde Stimme hervorbringen kann, und dass man vom Gegenstand zur Gegenwart gelangt. So wie er chassidische Geschichten für den heutigen Hörer erzählte, ließ er die Bibel in einer Weise sprechen, dass man sie neu hören konnte. Im Fall der Bibel waren Inhalt und ursprüngliche Form innig miteinander verwoben. Bubers idiolektische Übersetzung erlaubte dem jüdischen und dem christlichen Zuhörer, die nicht des Hebräischen mächtig waren, in Kontakt mit dem göttlichen Wort zu kommen, wie es in seinem hebräischen Ausdruck konkret wird. Auf diese Weise respektierte er die Besonderheit der biblischen Botschaft und brachte verschiedene Welten in Kontakt miteinander. In Bubers Exegese wie auch in seiner existentiellen dialogischen Philosophie stand der Dialog im Zentrum und das „Es“ wurde in ein „Du“ verwandelt.

Bibel und Zionismus Buber benutzte zwar die wissenschaftliche Methode, konzentrierte sich aber auf die Funktion der Bibel für die Schaffung einer gerechten Gesellschaft in Palästina. Gottes Wort „zu kennen“ war mehr als wissenschaftliche Erkenntnis, welche im Dienst des Glaubens stehen sollte. Das erneute Hören der lebendigen Stimme Gottes durch die prophetischen Botschaften könnte eine Renaissance im Land Israel herbeiführen wie zu Zeiten der Propheten, im frühen Christentum und im Chassidismus. Die prophetische Stimme musste wieder in Zion gehört werden, um eine dialogische, utopische Gesellschaft zu gründen. Die Bibel bot eine Vorlage für den Zionismus als Bewegung, in der moralische Forderungen im Mittelpunkt standen. Zionismus war eine Frage der Erinnerung, die in der Bibel und in den Köpfen und Herzen der Juden vorhanden war. Buber war an Israels Erinnerung interessiert, die auch heute noch dynamisch ist. Die historischen Legenden waren – mit Grimms Worten – „objektive Begeisterung“, die zur Bildung des kollektiven Gedächtnisses verhalf. Sie waren nicht nur Erzeugnisse der Fantasie, ohne jegliche historische Grundlage. Die Texte, in der Nähe zu den Ereignissen, waren rhythmisch, und der Rhythmus war wichtig für die Schaffung einer lebendigen Erinnerung. Sie waren eine gläubige Reaktion auf ein Ereignis und verwandelten wie auch die chassidischen Geschichten.60 59 Kepnes, The Text as Thou, S. 42. 60 Um den Chassidismus allen zugänglich zu machen, entledigte ihn Buber einiger spezifisch jüdischen Elemente.



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Bubers letztendliche Absicht bei seiner Arbeit zur Bibel und zum Chassidismus war die Erneuerung des Judentums im Land Israel. Er wollte, dass die Menschen im Dialog mit den biblischen Texten sind, um diese als eine lebendige Stimme zu hören und sich berufen zu fühlen. Die wahren Führer Israels sollten Einheit hervorbringen; sie mussten dialogisch sein wie die Propheten, die die Könige 400 Jahre lang kritisiert hatten. Rosenzweig zog natürlich die Diaspora Zion vor. Er unterschied sich auch in hohem Maße von Buber bei der Frage des Gesetzes.61 Aber beide interpretierten die Bibel vornehmlich dialogisch und übersetzten Tora als Weisung, als Hinführung zu einem dialogischen Leben.

Lebendiges Sprechen versus abstrakte Sprache Buber arbeitete mehr und länger an der Bibelübersetzung als Rosenzweig, aber man sollte Rosenzweigs Beitrag nicht unterschätzen. In seiner Erfahrungsphilosophie ist Sprachdenken Teil des Neuen Denkens, das Zeit und Sprache ernst nimmt. Offenbarung ist nicht die Schöpfung von Vernunft wie in Hermann Cohens Interpretation, sondern einer Seele, und mit der Seele entsteht lebendige, gesprochene Sprache. In Rosenzweigs Sprachdenken erklären Worte nicht bloß Dinge, sondern sie verbinden in erster Linie die Seele mit Gott. Das göttliche Wort „Du sollst lieben“ verändert den Menschen. Rosenzweig entwickelte eine „grammatikalische Analyse“ am Ende jeder der drei Bücher von Teil II, in welchem er Genesis, das Hohelied und Psalm 115 besprach. Beschreibende Sprache ist nicht die Sprache der offenbarenden Liebe. Im Hier und Jetzt der Liebe wird man geliebt 61 Siehe GS I,2, S. 975–977. Buber ging nicht davon aus, dass das Gesetz zur Offenbarung am Sinai gehörte. Aber in seinen Zwei Glaubensweisen (1950) verteidigt er das Gesetz gegenüber Paulus und den Marcionisten. James Muilenburg, „Buber as Interpreter of the Bible“, in The Philosophy of Martin Buber (The Library of Living Philosophers, 12), hg. von Paul Arthur Schilpp / Maurice Friedman, Lasalle 1967, S. 397 kritisierte Buber, der den Dekalog von der Theophanie am Sinai getrennt hatte. Diese Trennung „steht nicht nur im Widerspruch zu allem, was wir von anderen alttestamentlichen Theophanien wissen, wo die Gotteserscheinung immer in Worten und Rede zum Ausdruck kommt, sondern sie bedeutet auch eine Annullierung Israels als Volk der Tora in seiner Herkunft vom Bund, wo Tora als Richtung, Rat und Lehre verstanden wird.“ (This separation „is not only contrary to what we know of all other Old Testament theophanies, where the theophany always issues into words and living speech, but also a cancellation of Israel as the people of the Torah in its covenantal origins, Torah understood as direction, guidance and teaching.“) Aber Muilenburg sagt nicht, warum Buber den Dekalog vom Bund trennte, was geschah, weil Gegenwärtigkeit für ihn ursprünglich war, eher als Gebote. Laut Buber fühlte sich der Autor des Dekalogs offenbar von Gott als König angesprochen und fügte dies der Sinaioffenbarung hinzu.

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und aufgefordert zu lieben, und in der Liebe wird Sprache lebendig. Sprache ist nicht die Erfindung des Menschen, sondern ein Geschenk Gottes, das den Menschen verändert. Sie geschieht in der Gegenwart und in der zweiten Person, nicht in beschreibender, unpersönlicher Sprache. Gott hat den Menschen mit seinem eigenen, außergewöhnlichen Namen angesprochen, was zu Erneuerung im Menschen führte. Während der Idealismus die abstrakte Sprache des Denkens mehr als die gesprochene Sprache schätzte, bevorzugte Rosenzweig letztere, wie es im weltlichen doch geistlichen Hohelied zum Ausdruck kommt. Das göttliche Gebot „Du sollst lieben“ ist zu hören. Anstelle der mathematischen, deskriptiven Sprache von Teil I kommt die Sprache offenbarender Liebe in Teil II zu Wort. Gesprochene Sprache ist nicht deskriptive Sprache. Sie wird nicht in der Realität verifiziert, sondern vielmehr im Herzen gespürt. Die Urworte der stummen Sprache in Teil I des Sterns verwandeln sich in die Stammworte der gesprochenen Sprache in Teil II.62 Der Monolog der inneren Ordnung wird durch den Dialog der äußeren Ordnung ersetzt. Dies bedeutet den Wechsel vom statischen Denken über abstrakte Konzeptionen hin zum dynamischen Denken im lebendigen Dialog. Aus einer symbolischen Sprache der Philosophie in Teil I bewegt sich Rosenzweig zu einem lebendigen Dialog in Teil II, wo das Wunder, das Wunder von „wo bist du?“ (aeika) und „hier bin ich“ (hineni) von zentraler Bedeutung ist. Nach dem Indikativ in Teil I und dem Imperativ in Teil II folgt in Teil III die Sprache der Vision, die die Zukunft vorwegnimmt. Rosenzweig zeigt die Grenzen des rationalen Denkens auf, indem er Theologie einführt, um über Offenbarung zu sprechen: Teil I ist nur Philosophie und rationales Denken, während Teil II ein Gewebe von Theologie und Philosophie ist, um das Wunder zu erörtern, das bereits potenziell in der Schöpfung vorhanden ist. Logisches Denken wird durch grammatikalisches Denken ersetzt, in dem das Gebet der spontane Ausdruck der Seele ist. Von der Offenbarung berührt betet die Gemeinde für das Kommen des Reiches. Der Gott des Idealismus ist „Es“, ein Gegenstand des Denkens. In Rosenzweigs Existenzphilosophie spricht man Ihn jedoch, wie im dialogischen Denken Bubers, mit „Du“ an. Wie Buber lehnt Rosenzweig die kantianische Vorstellung Gottes als Postulat der Vernunft ab. In seiner „absoluten Empirik“ steht der transzendente Gott in Beziehung zum Menschen; Gott bringt den Menschen aus seiner einsamen Existenz in die Existenz des Anderen, nicht mit Hilfe der Vernunft, sondern durch Dialog und eine liebevolle Beziehung. Diejenigen, die der idealistischen Denkweise folgten, wurden nicht durch Offenbarung jenseits der Vernunft berührt und in ihren philosophischen 62 Rosenzweig, Stern, S. 140.



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Systemen wurden Mensch und Welt auch zu Objekten des Denkens. Der Idealismus hatte kein Vertrauen in die gesprochene Sprache.63 Er benutzt nur Symbole der schweigenden Sprache und bevorzugt die Sprache der Ästhetik gegenüber der gesprochenen Sprache. Daher stellte Rosenzweig der idealistischen Philosophie eine Diagnose der Lähmung aus. Neues Denken führte im Gegenteil dazu ins Leben. So wird Rosenzweigs Philosophie kein weiteres Glied in der Kette der Philosophie, sondern heilt und erlöst das Denken im Dienst des Lebens. Weder Philosophie noch Theologie standen im Mittelpunkt, sondern die Erfahrung der „Orientierung“, über die die Theologie sprach. Sowohl Buber als auch Rosenzweig verstanden die Bibel als lebendige Sprache, die sich an die moderne Menschheit richtet.64 Sie luden Juden und Christen ein, zum gesprochenen Wort zurückzukehren.

Eine jüdische Übersetzung Anti-Gnostizismus Mit ihrer Übersetzung verfolgten Buber und Rosenzweig mehrere Ziele. Die Bibel ist für sie inkarnierter Geist, eine lebendige Stimme; wenn sie laut gelesen wird, kann man unmittelbar die göttliche Stimme hören und sich im Dialog befinden; sie ist sowohl Geist als auch Form. Buber und Rosenzweig betonten die Einheit der Bibel und ihre anti-gnostische, Welt bejahende Neigung.65 Sie wollten, dass die Menschen jüdisch denken, sich also auf diese Welt beziehen und die Aufmerksamkeit auf die Akustik und nicht auf das Sehen lenken. Da die Bibel als miqra vorgelesen werden sollte, konnte man mit dem Geist der hebräischen Sprache in Kontakt kommen, in Hinblick auf das konkrete Wort und mit Sensibilität für das „wie“ etwas gesagt wurde. Ereignis und Ausdruck wurden nicht getrennt, sondern verknüpft. Die Wiederholungen und Assoziationen der gesprochenen Worte führten zu der biblischen Botschaft selbst. Ein einzelner Text (Hebräisch miqra), der laut gerufen wurde (Hebräisch liqr’o), hatte mehrere Möglichkeiten

63 Franz Rosenzweig, Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, Düsseldorf 1964. 64 In Ich und Du spricht Gott nicht den Menschen an. Er wird durch das, was zwischen den Menschen geschieht, angesprochen und zugänglich. In Bubers späterer Philosophie spricht Gott den Menschen an, der die Frage beantworten musste „Wo bist du?“. 65 In seinem Stern kommentierte Rosenzweig das Hohelied als einen Text, in dem die irdische Liebe und die Liebe zwischen Gott und Israel zusammenging. Siehe auch infra zu Rosenzweigs und Bubers anti-gnostischen Verständnis des Wortes ruah.

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des Verstehens.66 Buber und Rosenzweig wollten ausdrücklich eine jüdische Übersetzung, d. h. mit jüdischen Eigenschaften, die als solche zur westlichen Zivilisation beitragen konnte. Es war einer der letzten Versuche vor dem Holocaust, etwas wesentlich Jüdisches in die deutsche Kultur einzubringen. Ihre Übersetzung war eine großes interkulturelles Ereignis, ein Hinübergehen von der jüdischen zur deutschen Kultur und zurück. Am 29. Juli 1925 schrieb Rosenzweig, dass eines ihrer Ziele war, sich marcionitischen Tendenzen im Christentum zu widersetzen. Folglich mussten sie „missionieren“.67 Auf anti-gnostische Weise verknüpften Buber und Rosenzweig das göttliche Reich mit der irdischen Realität: heilig ist derjenige, der das göttliche Wort hört und in dieser Welt arbeitet, um sie zu erlösen. Beide kämpften gegen neu-marcionitische, apokalyptische und mystische Tendenzen, die das Heilige vollständig von der konkreten, gegenwärtigen und profanen Welt trennten mit der Behauptung, dass die Erlösung nicht aus und in dieser Welt sei. Mit ihrer Übersetzung, die die hebräische Vorlage respektierte und widerspiegelte, wollten Rosenzweig und Buber Juden in Kontakt mit dem zugrundeliegenden Text bringen. Sie wollten auch Christen die Hebräische Bibel lehren, die häufig als Propädeutik für die späteren, wahreren Schriften angesehen wurden. Auf diese Weise konfrontierten sie die christlichen Interpretationen mit der ein­ fachen Bedeutung des Originaltextes. Ich stelle hierfür ein Beispiel vor. Wie allgemein bekannt ist, identifiziert die Kirche den berühmten Text von Jesaja 7,14 zur alma, die Emmanuel gebiert, mit der Jungfrau, der Mutter Jesu. Doch dies wäre vielmehr die Übersetzung von betula. Buber und Rosenzweig übersetzten: „Da, die Junge wird schwanger und gebiert einen Sohn. Seinen Namen soll sie rufen: Immanuel, Bei uns ist Gott!“ Mit ihrer Übersetzung blieben sie dem ursprünglichen Text gegen eine dogmatische, christologische Interpretation treu. Ihre Übersetzung war daher wichtig für Christen, denen der ursprüngliche Text fremd geworden war. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass die Buber-Rosenzweig-­ Übersetzung das gleiche Schicksal wie die Septuaginta erfuhr, die ursprünglich für die hellenistischen Juden gedacht war, aber dann zum autoritativen Text für alle Christen wurde.68 Vergessen wir nicht, dass sie auch Juden erreichen wollten, die sie in Kontakt mit dem göttlichen Wort bringen wollten. 66 Zum jüdischen Charakter der Buber-Rosenzweig Übersetzung siehe Ze’ev Levy, Hermenoitiqa ba-mahshava hayehudit be’et hahadasha (Hermeneutik im jüdischen Denken der Neuzeit), Jerusalem 2006, S. 136–145. 67 Rosenzweig, GS I,2, S. 1055–1056. „Ist Ihnen eigentlich klar, dass heut der von den neuen Marcioniten theoretisch erstrebte Zustand praktisch schon da ist? Unter Bibel versteht heut der Christ nur das Neue Testament, etwa mit den Psalmen, von denen er dann noch meist meint sie gehörten zum Neuen Testament. Also werden wir missionieren.“ 68 Sic Talmon, S. 137.



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Buber und Rosenzweig sorgten sich um Juden und Nichtjuden, die kein Hebräisch beherrschten, was für das Verstehen der biblischen Botschaft unerlässlich war. Dies wurde sehr genau von M. A Beek verstanden, der in seiner Festrede anlässlich des Erasmus-Preises an Buber am 3. Juli 1963 sagte: Eine jüdische Studentin, die ihren Lehrer Delitzsch und ihre Kommilitonen durch ihre raschen Fortschritte in der Sprache des Alten Testaments in Erstaunen setzte, sagte: ‚Wenn ich so einen hebräischen Satz lese, dann wachen Generationen in mir auf.‘ Wer das Gesetz und die Propheten so lesen kann, der braucht keine Übersetzung mehr. Wer aber so liest und bekümmert ist über die, welche nicht so lesen können, der beginnt zu übersetzen. Welche Arbeit, welch ein Unternehmen!69

Für Beek war Buber ein großer Vermittler zwischen den Kulturen und Religionen. Buber und Rosenzweig wollten, dass ihre Übersetzung so deutsch wie möglich sei. Friedman stellt fest, dass, selbst in seiner Zeit (vor mehr als 20 Jahren), die Übersetzung „vielen Israelis als Kommentar zu dem hebräischen Original diente.“70 Er zitiert Scholems Worte: „Viele von uns fragen sich immer und immer wieder, wenn wir schwierige Passagen der Bibel lesen, was ‚der Buber‘ sagt, – das ist nicht anders, als wenn wir fragen, was hat Raschi [der große mittelalterliche jüdische Kommentator der Bibel] zu sagen.“71 Buber und Rosenzweig führten den Leser hin zu den ursprünglich gesprochenen Worten. Mit ihrer Übersetzung führten Buber und Rosenzweig eine kopernikanische Wende herbei. Juden und Christen wurden zum gesprochenen Hebräisch der Tora selbst gebracht. Die Übersetzung folgte zu einem großen Teil dem masoretischen System, in der Überzeugung, dass das akustische Element wichtig für die biblische Botschaft selbst war. Die Rhetorik der Worte, die Wortstellung und Leitworte führen zum Sinn der biblischen Geschichten. Statt sich selbst zu hören, war das göttliche, normative Wort zu hören. Ernest M. Wolf bezeugte, dass für die jüdische Jugend Bubers Übersetzung ein Ersatz für das Original war, ein Targum oder eine Art Kommentar, den sie liebten: die Übersetzung trug zu einer Renaissance des jüdischen Lernens bei.72

69 „A young Jewish girl student, who surprised her teacher Delitzsch and her fellow students by her rapid progress in the language of the Old Testament, said: ‚Whenever I read a sentence in Hebrew, generations awaken in me.‘ He who can read the law and the prophets in such a way needs no translation. But one who reads in that way and is concerned about those who cannot, will proceed to translate. What a task: what an undertaking!“ Martinus A. Beek in Praemium Erasmianum MCMLXIII, Amsterdam 1963, S. 21–22; Englich, S. 31. 70 Friedman, Encounter on the Narrow Ridge, S. 168. 71 Ebd., S. 171. 72 Ebd.

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Jüdische Tradition Rosenzweig und Buber wiesen sehr große Unterschiede in ihrer Annäherung an die jüdische Tradition auf. Buber erkannte keine Autorität außer der göttlichen Stimme an, die jeder Mensch hören konnte. Er zitierte Raschi oder Ibn Esra nicht. Wie Edmond Jacob feststellte, war er ein unabhängiger Geist.73 Meiner Meinung nach bedeutet dies nicht, dass er ein Verteidiger des Sola Scriptura war. Im Bereich der grammatischen Exegese konsultierten er und Rosenzweig häufig die mittelalterlichen jüdischen Kommentatoren Raschi, Ibn Esra, Kimhi, Gersonides, Nachmanides, Samuel ben Meir und Isaac Abravanel.74 Die Übersetzung von qorban als Darnahung (das, was in die Nähe gebracht wird), ist zum Beispiel sehr wahrscheinlich vom Midrasch inspiriert, der bereits auf die Etymologie des Wortes anspielt. Dennoch bemerkte Levinas sarkastisch, dass Buber die Bibel lese, als ob er allein den Heiligen Geist besäße.75 Die Härte dieses Urteils ist dadurch erklärbar, dass Levinas die rabbinische Tradition als solche schätzte, die die spezifisch jüdische geistige Physiognomie beinhaltete. Die rabbinische Tradition, die von Buber übersprungen wurde, erlaubte die Verinnerlichung dessen, was geschrieben war. Buber vernachlässigte weitestgehend die rabbinische Tradition. Aber zugleich erkannte Levinas, dass Buber, der mehr Interesse am peshat, dem wörtlichen Sinn des Textes, hatte, ein gutes Auge für die ethische Dimension der Bibel besaß.76 Rosenzweig schätzte die jüdische Tradition mehr als Buber. Die Einheit dessen, was geschrieben ist, wird durch die Einheit dessen, was gelesen wird, vervollständigt.77 Auf diese Weise ist die gesamte Überlieferung an sich ein Element der Übersetzung. Sie beherrscht nicht den peshat, sondern erweitert und ergänzt ihn.78 Rosenzweig selbst bietet dafür zwei Beispiele, ein halachisches und ein aggadisches. 73 Edmond Jacob, „La théologie biblique de Martin Buber“, in Martin Buber. Dialogue et voix prophétique. Colloque international Martin Buber 30–31 octobre 1978, Paris 1980, S. 22, Fn 6. 74 Everett Fox, „The Book in Its Context“, in Martin Buber / Franz Rosenzweig, Scripture and Translation, Martin Buber and Franz Rosenzweig, übers. von Everett Fox / Lawrence Rosenwald, Bloomington 1994, S. xviii. 75 Emmanuel Levinas, „La pensée de Martin Buber et le judaïsme contemporain“, in Martin Buber – L’homme et le philosophe, Brüssel 1968, S. 52: „Il est incontestable que Buber lit la Bible comme s’il avait à lui tout seul tout l’Esprit Saint. Cette experience particulière de chacun est sans doute reclamée par l’histoire de la foi, mais devant elle la tradition ne saurait s’effacer. C’est l’union de cette experience personnelle et de cette tradition qui permet à la Bible hebraïque de conserver son sens plein.“ 76 Fagenblat / Wolski, „Revelation Here and Beyond“, S. 165. 77 Rosenzweig, „Einheit der Bibel“, S. 49. 78 „Nicht wie für Hirsch ein den Pschat beherrschendes und bestimmendes, sondern […] ein den Pschat erweiterndes und ergänzendes.“



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Die Übersetzung von lo tashikh le-ahikha neshekh kesef (Dtn 23,20) lautet: „Bezinse nicht deinen Bruder.“ Im Gegensatz zum Literarsinn versteht die Tradition diesen Vers im Sinne von Zins geben, nicht Zins nehmen. Das Verbot der Zinsabgabe ist Halacha und bietet somit einen Einblick in „das Innerste des Judentums“. Daher ließ die Buber-Rosenzweig-Übersetzung eine Auslegung des Hebräischen mit beiden Bedeutungen zu: Die Übersetzung kann als Verbot der Einnahme von Zinsen verstanden werden, als auch als Zinsabgabe.79 Mit einem aggadischen Beispiel für die Komplementierung des peshat bezieht sich Rosenzweig auf Ex 17,16: vayomer ki yad ‘al-kes yah milhama la-Shem, ba-Amaleq midor dor. Die kritische Exegese wandelte das Wort kes in nes um.80 Aber Buber und Rosenzweig wählten den masoretischen Text, auf Grundlage des messianischen Midrasch, der vorhersagt, dass, wenn Amalek unterworfen ist, der Hochsitz und der Name vollkommen sein werden. Hier ist die Übersetzung ins Deutsche: Und sprach: Wahrlich, Hand zum Hochsitz Jahs! Kampf für IHN gegen Amalek Geschlecht zu Geschlecht!

Buber und Rosenzweig wollten dem Text treu bleiben. In dieser Hinsicht sahen sie ihre Übersetzung in der Nähe derer von Samson Raphael Hirsch.81 Sie übersetzten ein hebräisches Wort immer mit demselben deutschen Wort.82 Sie waren so nahe am Midrasch, der gezera shava, Analogie auf der Grundlage von einem Wort, das wiederholt wird, anwendet, wie auch lashon nofel al lashon, Paronomasie (Wortumbildung / Wortspiel). Ihre Methode behauptete, dass die Form den Inhalt offenbare.83 Buber und Rosenzweig hielten nicht nur Inhalt und ursprüngliche Form zusammen, sondern fügten sogar ihre eigene Mischung aus Form und Inhalt auf Deutsch zu dieser biblischen Mischung aus Form und Inhalt hinzu. Ein schönes Beispiel findet sich in Gen 2,22. Sie schrieben: „Gott baute die Rippe 79 Siehe Mischna Baba Metsia, Kapitel 5a: Gemara in Baba Metsia 60a (ich danke Hanoch Ben-Pazi für den Hinweis). Buber hatte eine anti-halachische Haltung. Unter dem Einfluss der Lebensphilosophie wollte er das ganze Leben, nicht Teile davon, heiligen, und er wollte nicht, dass das Leben in einer legalistischen Zwangsjacke erwürgt wird. 80 Die RSV schreibt zum Beispiel: „A hand upon the banner.“ Luther aber übersetzt: „Die Hand an den Thron des HERRN!“ 81 Rosenzweig, „ Einheit der Bibel“, S. 50–51. 82 Talmon, S. 135, bemerkt, dass dies nicht immer der Fall war, zum Beispiel in der Übersetzung von Ex 19,6. 83 Rosenzweig, „Formgeheimnis der biblischen Erzählungen“, S. 239–261.

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die er vom Menschen nahm, zu einem Weibe und brachte es zum Menschen“ als Übersetzung von vayivven haShem elohim et ha-tsela asher laqah min ha-adam le-isha vayyevi-e-ha el ha-adam. „Bringen zu“ bedeutet auch „machen, etwas zum Erfolg führen.“ Die Übersetzung suggeriert, dass eine Person nur als Mann und Frau vollkommen ist. Vor allem aber brachten Buber und Rosenzweig eine jüdische Übersetzung der Bibel hervor, in der der Text gesprochen wurde. So wie die Tora bei der Kantillation in der Synagoge rezitiert wird und ebenso die havruta beim Talmudlernen, dem was geschrieben wird, eine Stimme gibt, so ging ihre Verdeutschung der Bibel vom geschriebenen zum gesprochenen Wort über. Sie brachten eine Linienführung des Textes herbei. Doch im Gegensatz zu Henri Meschonnics Übersetzung, folgten ihre cola oder Übersetzungslinien nicht immer den masoretischen Kantillationszeichen, den te‘amim. In ihrer Nähe zur Form des ursprünglichen hebräischen Textes, der den Code darstellte, um die Botschaft selbst zu entziffern, sehnten sich Buber und Rosenzweig nach dem Beginn einer neualten jüdischen Bibelwissenschaft.84

Kein Buch Für Rosenzweig und Buber ist das Buch der Bücher tatsächlich kein Buch und in ihrem Selbstverständnis das Volk Israel nicht das „Volk des Buches“. Die Bibel ist eine lebendige Stimme.85 Tora oder Weisung schafft einen Geist zwischen den Menschen, die sie hören und durch sie lebendig werden. Sie ist kein schriftliches Dokument als eine verschlossene Wirklichkeit, wie die Höhle in Platons Gleichnis, in der man nur die Schatten des wirklichen Lebens sieht. Die Einzigartigkeit der Tora liegt darin, dass sie eine Stimme ist, die auf ewig im Akt des Lesens, oder besser des Hörens, lebt. Die Bibel bezieht sich auf etwas außerhalb des Buches, das nicht in der geschlossenen Einheit eines Buches enthalten sein kann. Durch Assonanzen, Leitworte, Wortspiele, Etymologie, Rhythmus, und die ganze Rhetorik und technischen Details der letzten Redaktoren (= Sigel R), als Rabbenu aufgelöst (= Moses, unser Lehrer), findet sich der Hörer des göttlichen Wortes eingeladen, seine geschlossenen Existenz zugunsten der Gemeinschaft mit Anderen zu verlassen, mit Hilfe eines transformierenden, einigenden Wortes.86 84 Rosenzweig, „Zur Encyclopaedia Judaica“, in ders., Kleiner Schriften, Berlin 1937, S. 524. 85 Im Buch Sohar (Bd. 2, 99a, Bd. 3, 58a) ist die Tora mit einem Liebenden verbunden, der zu ihr zurückkehrt, um ihre Worte immer wieder zu hören, in einer Vielzahl von Interpretationen. 86 Martin Buber, „Aus den Anfängen unserer Schriftübertragung“, in ders. / Franz Rosenzweig, Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin 1936, S. 322.



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Gesprochenes Wort und Dialog In einem Brief an Hans Ehrenberg am 29. Januar 1925 schreibt Rosenzweig, dass das, was geschrieben ist, „Gift“ sei, auch im Falle der Heiligen Schrift.87 Er fügt hinzu, dass nur dann, wenn es wieder gesprochen, zurückübersetzt wird, er es verdauen könne.88 Auch für Buber war der biblische Text weniger ein Text als vielmehr ein lebendiger Dialog und ein Wort zu den Menschen von heute gesprochen.89 Statt des schweigenden marcionitischen Gottes erhebt Bubers und Rosenzweigs Gott die Stimme und ruft die Menschen. Juden und Christen haben in ihrer Vertrautheit mit der Bibel vergessen zu hören. Laut Buber und Rosenzweig muss der Dolmetsch „die Geschriebenheit der Schrift in ihrem Großteil als die Schallplatte ihrer Gesprochenheit erfahren, welche Gesprochenheit sich – als die eigentliche Wirklichkeit der Bibel – überall neu erweckt, wo ein Ohr das Wort biblisch hört und ein Mund es biblisch redet.“90 Als Rosenzweig Buber den letzten Teil ihrer Übersetzung der Genesis geschickt hatte, schrieb er folgendes Gedicht: Lieber Freund, Dass aller Anfang Ende sei, Ich habs erfahren. „Ins Leben“ schrieb ich, schreibpflichtfrei, – Nach knapp zwei Jahren Ward lahm die tatgewillte Hand, Die wortgewillte Zunge stand, So blieb mir nur die Schrift. Doch Anfang ward dies Ende mir: Was ich geschrieben, Ist kein – ich dank es, Lieber, dir – Geschreib geblieben. Wir schrieben Wort vom Anbeginn, Urtat die bürgt für Endes Sinn. And so began Die Schrift.91

87 „Schrift ist Gift, auch die heilige.“ GS I,2, S. 1022. 88 Ebd. 89 Buber, „Der Mensch von heute und die jüdische Bibel“, in Werke II, S. 869: „Meinen wir ein Buch? Wir meinen die Stimme. Meinen wir, dass man lesen lernen soll? Wir meinen, dass man hören lernen soll. Kein andres Zurück, als das der Umkehr […] Zur Gesprochenheit wollen wir hindurch, zum Gesprochenwerden des Wortes. 90 Martin Buber, „Über die Wortwahl in einer Verdeutschung der Schrift“, in ders. / Franz Rosenzweig, Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin 1936, S. 140. Englisch Buber, „The How and Why of Our Bible Translation“, in Buber / Rosenzweig, Scripture and Translation, S. 212. 91 Das Gedicht wird auf den 21. September 1925 datiert; GS I, 2, S. 1061.

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Angesichts Rosenzweigs tödlicher Krankheit, die ihn am Sprechen hinderte, haben diese Worte eine außergewöhnliche Bedeutung. Was Bubers und Rosenzweigs Übersetzung jüdisch machte war ihre Gesprochenheit. Sie wollten, dass die Menschen das biblische Wort „hören“, ohne ein religiöses oder wissenschaftliches Vorwissen. Ästhetik hatte eine religiöse Funktion. In ihrem Phonozentrismus wollten sie, dass die Menschen hörten und lernten, ein Prozess, in dem der Text zu einer lebendigen Stimme wurde.92 Kritische Exegese hatte die mündliche Tora vergessen, die in allen Epochen der Geschichte spricht. Die Worte der Bibel mussten gesprochene Worte werden, die heute hörbar sind. Bubers und Rosenzweigs Bibelübersetzung war darin jüdisch, dass es sich um ein she ne’emar (wie es gesagt wird) handelte, auf das sich die Weisen in ihrem Sprechen über die Bibel bezogen. Ihre Übersetzung fungierte als Worte der Weisen, die das göttliche Wort zum Sprechen brachten, indem sie es mit she ne’emar einführten. Die Übersetzung war dieses ne’emar; die Worte als gesprochene. In der Gesprochenheit der Bibel wurde die Vergangenheit Gegenwart: das göttliche Wort wurde wieder hier und jetzt gehört. Der Text selbst wurde als reines Objekt der Wissenschaft oder Kultobjekt metam’e yadaim:93 er musste wieder zur lebendigen Sprache werden, auf den man mit seinem ganzen Leben zu antworten hatte. Die gleiche Idee der Bereitschaft zu antworten, die der Geist schafft, ist in Ich und Du zu finden.94 In Rosenzweigs Sprachdenken als Teil des Neuen Denkens braucht man den Anderen und nimmt die Zeit ernst. Man spricht mit jemandem und denkt an jemanden, an einen bestimmten Menschen. Die Bibel ist die schriftliche Form des gesprochenen Wortes. Bubers und Rosenzweigs Methode bestand darin, die Bibel zu lesen und den Inhalt „in“ seiner Form zu hören. Wie ich schon erwähnte, wurde das gleiche hebräische Wort immer mit dem gleichen deutschen Wort übersetzt, Synonyme blieben Synonyme in der Übersetzung und das Versmaß und sogar die Satzstruktur blieben erhalten: die akustischen Besonderheiten des Textes wurden respektiert. Der hebräische Prophet wurde sogar mit seinem hebräischen Namen genannt, z. B. Yecheskhel und nicht Ezechiel.95 Für Buber 92 Auch Johann Gottfried Herder zog das Gesprochene dem Schriftlichen vor. 93 Der Ausdruck, dass heilige Schriften die Hände unrein machten (kitve ha-qodesh metam’in et ha-yadaim) taucht z. B. in Mischna Yadayim 3,5 auf, Megilla 7a und Schabbat 14b. 94 Buber, Ich und Du, S. 38–39: „Geist in seiner menschlichen Kundgebung ist Antwort des Menschen an sein Du. […] Geist ist nicht im Ich, sondern zwischen Ich und Du. Er ist nicht wie das Blut, das in dir kreist, sondern wie die Luft, in der du atmest. Der Mensch lebt im Geist, wenn er seinem Du zu antworten vermag. […] Vermöge seiner Beziehungskraft allein vermag der Mensch im Geist zu leben.“ 95 Martin Buber, „Eine Übersetzung der Bibel“, in ders. / Franz Rosenzweig, Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin 1936, S. 300–309.



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benutzten die Propheten Leitworte und Wiederholungen, um ihre Botschaft zu überbringen. In seiner Exegese und in seiner Philosophie wollte er, dass das „Es“ zum „Du“ wird: Dialog war von zentraler Bedeutung.

Neue Hermeneutik: Leitworte und Einheit Buber und Rosenzweig entwickelten eine neue Hermeneutik, eine völlig neue Herangehensweise an die Bibel. Man musste laut mit Aufmerksamkeit für jedes Wort lesen, für die Struktur der einzelnen Stellen und des Ganzen. Man musste die Wortspiele hören, Alliterationen, Synonyme, vor allem die Leitworte und Leitsätze als Schlüssel zum Verständnis. Durch diese ganze Aufmerksamkeit würde man die ursprüngliche biblische Botschaft erfassen können. Die Septuaginta war für die hellenistischen Juden, die Vulgata für die frühen Christen, und die Lutherbibel für reformierte christliche Protestanten bestimmt: all diese Übersetzungen waren Palimpseste, die das Ursprüngliche verbargen. Um nicht nur ihrem eigenen Volk, sondern auch Christen zu helfen, wollten Buber und Rosenzweig zur Grundschrift zurückkehren, die spezifisch jüdisch war, zur miqra als konkret gesprochenem Wort, das beantwortet werden musste. Buber gibt ein gutes Beispiel für die Bedeutung von Leitworten anhand der Analyse des Abraham-Zyklus, der durch das Leitwort „sehen“ (ra’ah) charakterisiert wird, welches die verschiedenen Geschichten verbindet. Als ein Seher (auch Moses stammte aus einer Familie von Sehern) erhält Abraham die göttliche Offenbarung. Das Wort spielt eine zentrale Rolle in der letzten Abraham-Geschichte über die Bindung Isaaks (Gen 22): Abraham erhob seine Augen und sah den Ort (erhob seine Augen, da sah er); Gott wird für sich ein Lamm ersehen (ersieht sich das Lamm zur Gabe); Abraham hob seine Augen auf und sah ein Lamm (er hob seine Augen und sah: da, ein Widder); er nennt den Ort Gott ersieht. Leitworte knüpfen Geschichten zusammen. In der Tat ist die ganze Bibel für Buber eine Einheit, nicht eine Ansammlung von Quellen. Tora und Propheten, Tora und Psalmen und die Propheten und Psalmen sind alle miteinander durch Worte verbunden. Die verschiedenen Teile der Bibel sind miteinander durch Leitworte und Leitsätze verbunden. In Wortschatz und Stil kommt ein Theologumenon zum Ausdruck. Um ein Wort zu verstehen, muss man sein Auftreten in anderen Zusammenhängen suchen. Zum Beispiel steht das selten verwendete Verb in Gen 1,2, rihef, „schweben“ des Geistes Gottes auf der Oberfläche des Wassers, welches in Dtn 32,11 wiederkehrt: „Wie ein Adler sein Nest erweckt, über seinen Horstlingen flattert, seine Flügel spreitet, eins aufnimmt, es auf seiner Schwinge trägt: einsam geleitet es ER, kein fremder Gott ist mit ihm“ (ke-nesher yair kino, al gozlav yerahef, yifrosh knafav, yikahehu yisa’ehu ‘al evrato, haShem badad yanhenu ve-ein imo

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’el nekhar). Gott nimmt Israel aus der Mitte der Nationen und bringt sein Volk in das gelobte Land. Er ist wie ein Adler, der brütet oder über dem Nest schwebt und seine Adlerjungen auf seine breiten, langen Flügeln nimmt. Wie ein Adler mit dem sanften Schlagen der Flügel, die er über seine Kinder im Nest ausbreitet, so sorgt Gott für seine Schöpfung. In Gen 1 ist das Wasser wie das Nest; die Geschöpfe, die von Gott geschaffen wurden, sind wie die Adlerjungen. In der Buber-Rosenzweig Übersetzung bezeichnet ein Wort sowohl Brausen oder Wehen als auch eine geistige Aktivität. Natur und Geist gehörten zusammen: man muss nicht eines von beiden wählen: Und die Erde war Wirrnis und Wüste. Finsternis allüber Abgrund. Braus Gottes brütend allüber den Wassern.

In der Ausgabe von 1930 wird dieser Vers so übersetzt: Und die Erde ward Irrsal und Wirrsal Finsternis über Urwirbels Antlitz. Braus Gottes spreitend über dem Antlitz der Wasser.

Raschi schreibt, dass der Geist Gottes wie eine Taube über ihrem Nest brütet.96 Auf jeden Fall ist ruah ein Wort, das sowohl Wind als auch Atem bedeutet.97 In Bubers und Rosenzweigs anti-gnostischer Übersetzung wurden das Naturphänomen und der Geist Gottes im ruah elohim von Gen 1,2 zusammengebracht: Der Geistbraus ist nicht Wind und nicht Geist; er ist beides.98 Die beiden vorangegangenen Beispiele zeigen, wie für Buber und Rosenzweig die Bibel eine große Einheit darstellte. In ähnlicher Weise wurden die beiden Schöpfungsberichte nicht als unabhängige literarische Dokumente gesehen (wesensfremde literarische Urkunden). Vielmehr ergänzten sie sich als zwei Seiten einer Medaille. In der ersten Schöpfungsgeschichte ist ruah elohim wie die Flügel, die sich über die ganze Schöpfung ausbreiten, und in der zweiten Geschichte gibt Gott seinen Atem (ruah in Gen 6,3) dem Menschen.99 Auf diese 96 kise ha-kavod omed be-avir u-merahef al pne ha-mayim be-ruah piv shel haqadosh barukh hu u-bema’amaro (Chagiga 15a): ke-yonah ha-merahefet al ha-qen (Französisch: couver). Auch RSV und Luther verstanden ruah elohim as Geist Gottes. RSV: „And the Spirit of God was moving over the face of the water.“ Luther: „Der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.“ 97 Martin Buber / Franz Rosenzweig, „Die Bibel auf Deutsch“, in dies., Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin 1936, S. 279–282. 98 Martin Buber, „Über die Wortwahl in einer Verdeutschung der Schrift“, in ders. / Franz Rosenzweig, Die Schrift und ihre Verdeutschung, S. 162. 99 In Offenbarungen an den Einzelnen kommt ruah über ihn ( z. B. 1 Sam 10,6–10; 11,6; 16,13)



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Weise wird die Schöpfungsgeschichte mit der Offenbarungsgeschichte verbunden.100 Rosenzweig wollte Gen 1 und Gen 2 als verbunden verstehen und zwar als tönend verbunden (aus ihrem Zusammenstehn und Zusammenklingen). Er wollte nicht darüber nachsinnen, ob diese Kapitel von verschiedenen Autoren stammten; Benno Jacob glaube ebenfalls nicht, dass sie von verschiedenen Autoren verfasst worden waren. Kosmologische und anthropologische Schöpfung gehörten zusammen.101 Die Sigla J und E hatten eine begrenzte Bedeutung, und die Existenz dieser Dokumente war nicht bewiesen. Die verschiedenen Teile der Bibel vervollständigten sich gegenseitig. Schöpfung und Offenbarung waren auf noch andere Art und Weise verbunden, da die Worte, welche für die Schöpfung benutzt wurden, bei der Verkündung des Errichtens des Zeltes der göttlichen Gegenwart wiederkehren. Die Wiederholung der Worte (shisha) yamim, yom ha-shevi‘i, asah, ra’ah und berakh von Gen 1, um das Wohnen (mishkan „Wohnung“) Gottes im Buch Exodus zu bezeichnen, weist auf die Verbindung zwischen Gottes Wirken in der Schöpfung und Moses Tun in der Welt hin. Die Welt, die von Gott geschaffen wurde, ist die Welt, in der der Mensch für die Verwirklichung des Reiches Gottes verantwortlich ist. Auch hier wird, wie im Fall von ruah, die anti-gnostische Absicht deutlich. Buber war überzeugt, dass durch die Wiederholung von Leitworten die Bedeutung des Textes offenbar wurde.102 Er selbst bietet einige Beispiele. Genesis erzählt von Erwählung. Es gibt leitende Worte oder Leitworte und Leitmotive. Isaak sagt: vayomer ba’ahikha be-mirma va-yiqah birkatekha. vayomer ha-ki kara shmo Ya‘akov ve-ya‘aqveni zeh pa‘amim. et bekhorati laqah ve-hine ‘ata laqah birqati. vayomer ha-lo atsalta li berakha: „Mit Trug kam dein Bruder und hat deinen Segen genommen. Und Esau wieder: ‚Rief man drum seinen Namen Jaakob, Fersenschleicher? Beschlichen hat er mich nun schon zweimal: genommen hat er einst mein Erstlingtum [bekhorati] und jetzt eben hat er noch meinen Segen [birkhati] genommen!‘ Und sprach: ‚Hast du mir denn keinen Segen [berakha] aufbehalten?‘“ Die Motivworte lauten: Trug, Erstlingtum (Erstgeburtsrecht), Segen und Name. In seinem Exil erlebt Jakob selbst was es bedeutet, ein Betrüger zu sein. Laban täuscht ihn und gibt ihm seine älteste Tochter Lea statt Rachel. Laban sagt lo ye‘ase ken bimekomenu la-tet hatse‘ira lifne habekhira. „So tut man nicht an unserem Ort die Jüngere fortzugeben vor der Ersten [bekhira].“ Durch die Stichworte bekhora (Erstgeburt) und bekhira (Erstgeborne) wird klar, dass Jakob, der 100 Buber, „Mensch von heute und die jüdische Bibel“, in ders. / Rosenzweig, Die Schrift und ihre Verdeutschung, S. 33–39, hier S. 33. 101 Rosenzweig, „Einheit der Bibel“, S. 47. 102 Buber, „Leitwortstil in der Erzählung des Pentateuchs“, S. 211.

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Betrüger von Esau, von seinem Schwiegervater betrogen wird.103 Später, nach zwanzig Jahren, kehrt Jakob wieder zurück und kämpft mit einem Mann. Er will seinen Segen (berakha) empfangen und seinen Namen (shem) kennen. vayomer shalheni ki alah ha-shahar, vayomer lo ashaleha-kha ki im berakhtani: „Ich entlasse dich nicht, du habest mich den gesegnet.“ Der ungenannte und unbekannte104 Mann fragt nach Jakobs Namen und fügt hinzu: lo ya‘aqov ye‘amer od shimkha ki-im Yisrael ki sarita im elohim ve-im anashim va-tukha. „Nicht als ‚Fersenschleicher‘ mehr werde dein Name besprochen, sondern Yisrael, Fechter Gottes, den du streitest mit Gottheit und mit Menschheit und überwindest.“ Der schlechte Kampf wird durch den guten gesühnt. Schließlich hören wir wieder von einer berakha, als Jakob Esau begegnet und ihn darum bittet, seinen Segen, birkati, anzunehmen. JakobIsrael, der den Ort, wo er Gott „sah“ (ki ra’iti elohim panim el panim) Peniel nennt, wird mit Esau, den er „sieht“ versöhnt (vayisa ya‘aqov enav vayar ve-hine Esav). Aus Beispielen wie dem vorangegangenen schließt Buber, dass Leitworte oder Motivworte angesichts des größeren Kontexts konsequent übersetzt werden müssen, und dass sie zum Wesen des biblischen Textes führen.

Einheit Einheit ist eine allumfassende Idee in Bubers Arbeit. Hans Schravesande merkte an, dass in Bubers vordialogischer Zeit die Einheit vorherrschend ist. Dies bleibt auch so in der dialogischen Periode, in der die Bedingung für die Einheit Dualität ist. Einheit ist der Schlüssel für das Verständnis seines gesamten Werkes, darunter auch seine Arbeit zur Bibel.105 Im Gegensatz zu der Vielzahl von Quellen der wissenschaftlichen Auslegung betonte Buber die Einheit der Bibel. Die Idee der Einheit ist auch in seinen Gedanken zum Chassidismus spürbar.106 Ferner ist sie in seinen Gedanken zu Zion als notwendig für die Vereinigung der Welt präsent. Es gibt schließlich die Einheit in der Bibel. Aber während Buber die Einheit eher in der Bibel selbst sah, hob Rosenzweig mehr die Einheit zwischen Bibel und Tradition hervor. 103 Ebd., S. 251. 104 Rosenzweig, „Formgeheimnis der biblischen Erzählungen“, S. 252. 105 Hans Schravesande, „Jichud.“ Eenheid in het werk van Martin Buber, Zoetermeer 2009. 106 In Die Legende des Baal Schem von 1908, Frankfurt a. M. 1922, beschreibt Buber hitlahavut als Einheit mit Gott; ‘avoda als das Streben nach Einheit in der Gemeinde; kavvanah als Realisierung der Einheit; und shfelut als das Gefühl des Anderen in sich selbst. Es gibt eine Analogie zwischen Bubers „Nacherzählung“ chassidischer Geschichten und seinem erneuten Hören auf das biblische Wort. Die dialogische Hermeneutik von Buber schafft eine Verbindung zwischen dem Leser und der Geschichte: der Text spricht, und es gibt einen Dialog zwischen Subjekt und Text.



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Für Buber gibt es viele Autoren und Traditionen in der Bibel, aber nur eine Grundidee: die der Begegnung und des Dialogs. Israel wird aufgerufen, um das Reich Gottes, über das die Propheten sprachen, zu realisieren.107 Bubers Beachtung und Beschreibung der zentralen Stellung des Reiches Gottes ist für James Muilenburg „der bedeutendste und fruchtbarste Beitrag Bubers für das Studium der Bibel.“108 Die Einzigartigkeit Israels liegt in der Anerkennung Gottes als König. Für Muilenburg ist Buber „ein Pionier auf diesem Gebiet.“109 Doch KarlJohan Illman widersprach der Position Bubers zum Judentum als archaischem Monotheismus und primitiver Theokratie.110

Bibelexegese und das lebendige Wort Wissenschaftliche Exegese hatte das alte Israel mit anderen frühen Kulturen verglichen und im Zuge des Vergleichs war Israels Einzigartigkeit häufig vergessen worden. In der Exegese wurde der Text zu einem Objekt der Wissenschaft; in der Synagoge und der Kirche wurde er zu einem Objekt der Verehrung. Buber und Rosenzweig wollten wieder den göttlichen Ruf hören, den lebendigen Dialog. Sie waren an den gedruckten Seiten nicht interessiert, sondern daran die Stimme, die den Text lebendig macht, zu hören. Der Dialog, der in der Bibel zum Ausdruck kam, setzte sich in allen Generationen fort und sie konnten die göttliche Stimme in verschiedenen historischen Situation erneut hören. Für Rosenzweig konnte die Person, die eine Seele von außen empfangen hatte und die persönlich geliebt wird, die Bibel lesen und darin eine Bestätigung ihres Seins in der Liebe finden. In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte ich das Privileg, ein Schüler von Meir Weiss zu sein. Sein Interpretationsverfahren war das der „TotalInterpretation“, die Teil der neuen „Literaturwissenschaft“ war.111 Weiss folgte 107 In Bubers anti-institutionellen Gedanken sind die Propheten dialogisch, nicht apokalyptisch. Sie waren nicht spezialisiert, wie die Priester, die Fachleute im Kult. Im Königtum Gottes nennt Buber Gott Herrscher und bemerkt, dass das Verb für Gottes aktives Herrschen mashal (z. B. Richter 8,23) ist, nicht malakh, das den regierenden Königen vorbehalten ist. 108 „… the most significant and fruitful of all of Buber’s contributions to Biblical study”, James Muilenburg, „Buber as an Interpreter of the Bible“, S. 399. 109 Ebd., S. 401. Mowinckel, Engnell und Albright tendieren alle in diese Richtung, aber „es ist zweifelhaft, ob jemand mit mehr Lebendigkeit und Klarheit als Martin Buber die Realität des göttlichen Königtums und den sakralen König präsentiert hat, und es ist sicher, dass niemand ihre theologischen Implikationen mit gleicher Tiefe erkannt oder festgestellt hat.“ 110 Karl-Johan Illman, „Buber and the Bible. Guiding Principles and the Legacy of His Interpretation“, in Martin Buber. A Contemporary Perspective, hg. von Paul Mendes-Flohr, Jerusalem 2002, S. 87–100. 111 Meir Weiss, The Bible from Within, Jerusalem 1984.

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Buber und Rosenzweig darin, dass er Form und Inhalt nicht trennte: Die Form brachte den Inhalt zum Ausdruck. Er wollte nicht das synchrone mit dem diachronen Verfahren verknüpfen; anstatt die Komponenten oder Schichten eines Textes zu berücksichtigen, interessierte er sich nur für den endgültigen Text. Wie Buber hielt er die Bibel für eine Einheit: jedes Detail erläuterte die Gesamtheit und umgekehrt. Des Weiteren war Weiss wie Buber an den verschiedenen Textschichten nicht interessiert und er änderte nur widerwillig den Text. Doch Weiss achtete mehr auf die Literatur, Buber mehr auf die lebendige Sprache und den Dialog. Die Bibel ist das geschriebene Wort, aber Buber wollte das Wort von seinem schriftlichen Charakter befreien und es zum Leben erwecken. Durch das Vorlesen hörte man die Stimme des ewigen Du. Der gesprochene Charakter des göttlichen Wortes ist das jüdische Element in Bubers Übersetzung und seinen Kommentaren. In seiner Einleitung zu Darko shel miqra schreibt Weiss, dass Buber ein geschlossenes Fenster geöffnet habe.112 Wissenschaftssprache hatte das Fenster geschlossen, das nur durch das Verständnis der nicht-westlichen Sprache geöffnet werden konnte. Buber war sensibel gegenüber den hebräischen Worten und was durch sie angedeutet wurde. Er betrachtete die objektive, beschreibende Sprache der Wissenschaft, in der der Signifikant das Signifikat erreicht, als eine tote Sprache. Nur die lebendige, intersubjektive Sprache konnte die erhabene Wirklichkeit des Dialogs andeuten.

Etymologie Buber und Rosenzweig verstanden die biblischen Worte in ihrer vor-theologischen, vor-begrifflichen Bedeutung. Unter Wahrung des peshat und fasziniert von der Etymologie der Wörter gaben sie die ursprünglichen Worte in einer Weise wieder, die nahe an der ursprünglichen, wörtlichen Bedeutung ist. Durch das Spielen mit den ursprünglichen Bedeutungen der Wörter machen sie das ursprüngliche Wort präsent und zugänglich für die Nicht-Hebräisch-Sprechenden.113 Hier sind einige Beispiele: –– Tora ist nicht Gesetz, was eine Reduktion auf das, vom dem das Christentum frei ist, darstellen würde. Ausgehend von der Wurzel yarah, zeigen, war es eher Weisung, Unterweisung, das den Weg anzeigt, Unterricht, Unterweisung. 112 Martin Buber, Darko shel miqra: iyyunim bidfuse signon batanakh, Jerusalem 1978. 113 André Chouraqui geht sogar noch weiter als Buber and Rosenzweig in seiner etymologischen Wiedergabe der biblischen Worte. Zum Beispiel übersetzt er bereshit in Gen 1,1, mit „en tête“, am Kopf / Haupt.



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–– navi ist kein Mensch, der die Zukunft kennt (das Wort Prophet stammt aus dem Griechischen: pro-phemi). Er ist eher ein Künder, der in der Gegenwart arbeitet und verkündet, was sein sollte. Mit seinem Charisma will der Prophet das Reich Gottes herbeiführen. Er will nicht die Zukunft vorhersagen; er fordert eine Umkehr (teshuva) in das Leben des Menschen. Anstatt die Zukunft vorherzusagen und zu sagen, was vorherbestimmt ist, will er die Umkehr des Menschen. Weit von einer Flucht aus der Welt entfernt und von Drohungen mit apokalyptischen Szenen verkündigt er das Wort Gottes. Er verkündet, er überbringt. Er kritisiert Könige und bringt Himmel und Erde zusammen. Laut Buber gipfelte die Prophetie im eved ha-Shem (Gottesknecht) von Deuterojesaja. –– malakh ist kein Engel, sondern ein Bote. –– qorban ist kein Opfer, mit einer Bedeutung von „aufgeben“ wie im heidnischen Kult, sondern ein Akt der Darnahung. Das Wort kommt von der Wurzel le-haqriv, das von le-qarev, nähern, abgeleitet ist. Auf diese Weise wird die Distanz zwischen Gott und Mensch reduziert. –– olah von der Wurzel la‘alot, hinaufsteigen, aufsteigen: es ist das, was nach oben, hoch gebracht wird (Darhöhung), nicht das übliche Holocaust oder Brandopfer. Wie in den Midraschim wird die spirituelle Dimension in der Übersetzung von qorban und olah akzentuiert. –– mizbeah ist nicht das übliche „Tabernakel“, welches zu spiritistisch wäre. Es ist vielmehr der Ort der Schlachtung, der Schlachtplatz, Schlachtstatt, um die christliche Assoziation mit Altar zu vermeiden.114 –– kipper bedeutet nicht sühnen, sondern vielmehr das vor-theologische „decken“, folglich ist Jom Kippur Tag der Deckung. –– ohel mo‘ed ist nicht die „Stiftshütte“ (Luther: Hütte des Stifts), sondern das Zelt der Gegenwart, von der Wurzel ya‘ad, anwesend sein. Es ist der Ort, an dem Gott gegenwärtig ist, der Ort der Versammlung. –– ‘edut ist der Akt der Vergegenwärtigung. –– tohu va-vohu wird durch einen ähnlichen Klangeffekt wiedergegeben Irrsal und Wirrsal. –– ruah elohim, wird wie bereits erwähnt mit Braus Gottes übersetzt. Die verschiedenen Bedeutungen des Wortes ruah bleiben dabei erhalten: Atem, Atmung, Wind und Geist. Es gibt viele Beispiele, die die Genauigkeit der Buber-Rosenzweig-Übersetzung zeigen.115 114 Buber / Rosenzweig, „Bibel auf Deutsch“, S. 285. 115 Siehe Pinchas Lapide, Ist die Bibel richtig übersetzt?, Gütersloh 1989, S. 37–38, 55–56, 63, 74–75.

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Im Folgenden finden Sie ausgewählte Beispiele: –– lo tirtsah wird als Morde nicht! wiedergegeben. Anstatt ein Verbot von Tötung, das von radikalen Pazifisten vertreten wird, wird das Verbot als das illegitime Töten verstanden. –– ‘eved ist nicht immer der Sklave ohne Rechte, sondern der Diener. Zum Beispiel in Ex 21,2 („Wenn du einen ebräischen Dienstknecht erwirbst“). –– peri ha-‘ets in Gen 3,3 wird übersetzt mit „Frucht des Baumes“. Eva sagt zu der Schlange, dass sie nicht von der Frucht des Baumes in der Mitte des Gartens essen dürfe. Die Schlange antwortet, dass Gott fürchte, der Mensch könne ihm gleich werden und wissen, was gut und böse sei. Die Vulgata übersetzt: „scientes bonum et malum“ (Gen 3,5). Da „malum“ sowohl böse als auch Apfel bedeutet, fiel in Vers 6 ein Apfel in Evas Hände.116 Buber und Rosenzweig aber hielten an der Übersetzung mit Frucht im Allgemeinen fest. Ein letztes Beispiel: ‘ugav in Psalm 150 wird von Buber als „Schalmei“ übersetzt. In der griechischen Übersetzung lautet es organon, eine allgemeine Bezeichnung für ein Musikinstrument. Hieronymus übersetzte in Latein als organum, was wiederum der allgemeine Name für ein Musikinstrument ist, aber auch Orgel bedeutet (wie im modernen Hebräisch). Kirchen und ReformJuden waren zufrieden mit der Übersetzung als Orgel, aber Buber blieb nahe am Hebräischen.117 Durch ihre Wortwahl bemühten sich Buber und Rosenzweig, die ursprüngliche Bedeutung der biblischen Worte beizubehalten und so wurden sie zu Lehrern für Christen, die eingeladen waren zu respektieren, was im Original geschrieben stand. In ihrer Treue zu der Ausgangssprache, machten sie sich frei von der Luther-Übersetzung. Die deutsche Sprache wurde durch etwas Ungewohntes überrascht, das das Ohr lehrte, mit der konkreten Offenbarung, wie sie zuerst auf Hebräisch zum Ausdruck gekommen war, in Kontakt zu treten. In ihrer Übersetzung als interkultureller Arbeit bewahrten sie eine Fremdheit, die nicht in der Zielsprache absorbiert wurde.

116 Lapide, ebd., S. 110, Fn 62 merkt an, dass erst im 19. Jahrhundert Äpfel aus dem Osten nach Europa importiert wurden. Doch tapuah im Hohenlied (2,3 und 5; 7,9 und 8,5) könnte sehr wohl unseren Apfel meinen; das Wort ist identisch mit dem arabischen Wort für Apfel (tuffah). 117 Laut Brown-Driver-Briggs stammt ‘ugav womöglich von ‘agav ab „übermäßige Zuneigung empfinden, Lust“. Bei Köhler-Baumgarten steht es für eine (Längs-)Flöte. Im Targum handelt es sich um eine Schilfflöte oder Flöte. In der Vulgata ist eine Panflöte, die aus mehreren Schilfrohren hergestellt wird.



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Form-äquivalente oder dynamisch-äquivalente Übersetzung?118 Das Ziel vom Bubers und Rosenzweigs form-äquivalenter Übersetzung lag darin, den ursprünglichen Text zu hören. Für meinen ehemaligen Lehrer, den niederländische Exegeten Chris Brekelmans, ist dies nur für das Studium relevant. Eine übereinstimmende, idiolektische, hebraisierende Übersetzung wäre nicht genug Holländisch. Wenn man auf idiolektische Weise übersetzt, hätte man ein theologisches Apriori, das nicht mit einer „Inkarnationstheologie“ vereinbar wäre, in der die göttliche Offenbarung in verschiedenen Sprachen zu hören ist.119 Als Beispiel für seine Theorie interpretiert Brekelmans das hineni aus Gen 22,7 als „Was willst du“ oder „Sprich“. Das Wort hineni sagt auch in Gen 22,1 nichts über Abrahams Bereitschaft aus, das Opfer zu bringen. Vielmehr zeigt es in beiden Fällen Abrahams Bereitschaft zu sprechen. Doch ich denke, dass in Brekelmans dynamisch-äquivalenter Übersetzung, das Theologumenon der Bereitschaft zum Dialog mit Gott (Gen 22,1) oder mit dem Menschen (Gen 22,7), die Buber in seiner idiolektischen Übersetzung klar sieht, verloren geht. Der Konkretheit der Offenbarung an Juden wird in Bubers Wiedergabe mehr Respekt gezollt. Tief in der deutschen als auch in der hebräischen Kultur verwurzelt wollte Buber in seiner deutschen Wiedergabe des Hebräischen den Hörer näher zum gesprochenen Wort bringen und ihn zwingen zu hören, was ursprünglich gesagt wurde: so, wie es gesagt wurde, war Teil der Botschaft selbst. Eugene Nida bevorzugte eine „dynamisch-äquivalente“, funktionale und flüssige Übersetzung, die eine Auseinandersetzung mit der Botschaft des Ausgangstextes beinhaltete, sowie mit der Zielgruppe, die die Botschaft empfing, gegenüber einer „form-äquivalenten“ Übersetzung mit ihrer buchstabengetreuen Wiedergabe und ihrer Aufmerksamkeit gegenüber dem spezifischen Charakter des Quellentextes, der nicht in den verschiedenen Volkssprachen neutralisiert werden sollte. Nida hatte recht bei seinem Widerstand gegen eine formalistisch-fetischistische Übersetzung des Vorlagentextes. Aber ihrerseits waren Buber und Rosenzweig aufmerksam gegenüber der Art und Weise, wie Übersetzungen in Kontexten funktionierten, die dazu neigen die ursprüngliche Fassung zu vernachlässigen. Sie respektierten die Materialität der ursprünglichen Worte, die nicht von der spirituellen Botschaft dissoziiert werden sollten: Inhalt und 118 Zu dieser Terminologie siehe Eugene Nida, Toward a Science of Translating, Leiden 1964, siehe auch ders. / Charles R. Taber, The Theory and Practice of Translation, Leiden 1969. Eugene Nida (1914–2011) war ein amerikanischer Evangelikaler und ein Übersetzungsberater der American Bible Society. 119 Christianus Brekelmans, „Hebreeuws en Nederlandse taalidiom“, in Van taal tot taal, hg. von Bas M.F van Iersel / Marinus de Jonge / Jan Nelis, Baarn 1977, S. 9–18.

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Form gehörten zusammen und sollten nicht in einer allzu spirituellen Hermeneutik auseinander gerissen werden. Ihrer Meinung nach würde eine Übersetzung à la Nida nicht hinreichend den fremden Aspekt des Quellentextes in den Zielsprachen bewahren. Wie ich im ersten Kapitel angemerkt habe, dachte Rosenzweig, dass man nicht zwei Herren dienen kann. Der Übersetzer verfälscht bereits, er hat aber keine andere Wahl. Übersetzung bietet die Möglichkeit der Kommunikation. Allerdings wollte er das „fremde“ Element, das hebräische Element, in der deutschen Übersetzung erhalten. Die Bewahrung dieses Elements ist Teil einer jeden interkulturellen und interreligiösen Theologie und des Dialogs. Laurence Rosenwald hat überzeugend nachgewiesen, dass Bubers und Rosenzweigs Wort-für-Wort-Übersetzung nicht mechanisch war.120 Sie wussten, dass ein Wort mehrere Nuancen besitzen kann, abhängig vom Kontext, und dass eine automatische Übersetzung äusserst mangelhaft sein würde. Es war vielmehr ihre Aufmerksamkeit gegenüber den Worten, die Tatsache, dass sie die Leitworte als Form der letzten Redaktoren respektierten, die zur Bedeutung oder Botschaft des Textes selbst führte. So oft wie möglich, aber nicht immer, gaben sie ein wiederkehrendes hebräisches Wort mit demselben wiederkehrenden deutschen Wort wider. Ihre Übersetzung war als „Metaphrase“ eine Herausforderung für Übersetzer, die Worte und deren Sinn zu schnell splitteten und eine Gedanke-für-Gedanke einer Wort-für-Wort Übersetzung vorzogen, als ob Inhalte leicht von der Form getrennt werden konnten. Auch in der interreligiösen Praxis kann ein intensives Hören auf ein spezifisches Vokabular und häufig wiederkehrende Ausdrücke, die vom Dialogpartner verwendet werden, zu einem besseren Verstehen beitragen.

„Grabmal“ oder Zeugnis eines dialogischen Lebens? Aus dem Vorstehenden schließe ich, dass die Übersetzung von Buber und Rosenzweig als interkulturelle Arbeit ein Akt von großem Frieden, eine interkulturelle Arbeit, war. Scholem wusste mit seiner zynischen Bemerkung zum Grabmal für die jüdischen Opfer Hitlers nicht diesen paradigmatischen Dialog zu schätzen. Diese Übersetzung war weder „wie das Gastgeschenk, das die deutschen Juden dem deutschen Volk in einem symbolischen Akt der Dankbarkeit noch im Scheiden hinterlassen konnten“,121 noch ein Grabmal. Sie war vielmehr das Produkt 120 Lawrence Rosenwald, „Buber and Rosenzweig’s Challenge to Translation Theory“, in Scripture and Translation, S. xxix–liv. 121 Gershom Scholem, „An einem denkwürdigen Tage“, Judaica 1, Frankfurt a. M. 1963, S. 214.



„Grabmal“ oder Zeugnis eines dialogischen Lebens? 

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eines Lebens in einer Art Zweistromland, Aram Naharaim, wo die Ströme der Bibel und der deutschen Kultur und Sprache sich trafen und gegenseitig befruchteten. Wie Rafael Buber am 2. Januar 1926, als er die Übersetzung der Genesis gelesen hatte, aus Cottbus schrieb: „[…] Ich lese gern drin [Genesis] und habe dabei oft das Gefühl, ich lese hebräisch. […] Ich lese ihn jedenfalls deutsch und begreife ihn hebräisch“.122 Der Text trifft als „Du“ auf die, die ihn laut lesen. In seiner Übersetzung von Jehuda Halevi, die Buber gewidmet war, gab Rosenzweig seiner Überzeugung Ausdruck, dass es schließlich nur eine Sprache gebe.123 Dies ließ Übersetzung zu: Menschen wurden nicht dazu verdammt, in ihrer eigenen Sprache zu bleiben, sondern Verständigung war möglich. Rosenzweig und Buber glaubten an die Möglichkeit einer Übersetzung und damit auch an die Schaffung einer Welt, die die Völker vereint. Wie ich schon erläutert habe, war es Bubers Ziel, in Israel eine Modell-Gesellschaft zu errichten. Durch den Zionismus könnte eine Renaissance des jüdischen Lebens stattfinden.124 Unmittelbarer Kontakt mit der lebendigen Stimme war für ihn eine reale Möglichkeit.125 Buber gelang die Rettung der Bibelhermeneutik vor einem rein historischen Zugang. Geschichtsschreibung blieb wichtig, jedoch im demütigen Dienst einer Phänomenologie des religiösen Bewusstseins heute, im Dienst der menschlichen Antwort auf den göttlichen Ruf. Die Bibel war notwendig für die Herausbildung jüdischer Identität und bildete einen wesentlichen Beitrag zum religiösen Bewusstsein im zwanzigsten Jahrhundert. Bubers Bibelhermeneutik ist dialogisch: es gibt einen Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen dem Wort und dem Hörer des Wortes. Biblischer Dialog konnte nur in dialogischer Weise verstanden werden und so musste der Leser zum Hörer und Sprecher werden. Die Bibel war nicht etwas aus der Vergangenheit, das von der Wissenschaft, Geschichte und Philologie analysiert wird. Bubers Standpunkt, der sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft respektierte, erinnert mich an die talmudischen Geschichte der beiden Frauen, die einem Mann gehörten: die jüngere riss seine grauen Haare aus, die ältere zog die schwarzen Haare heraus; er wurde kahl. Buber bewahrte die Form der Vergangenheit, aber er tat es im Hinblick auf die Zukunft. Für ihn ist die Bibel kein 122 Brief vom 2. Januar 1926, in Grete Schaeder (Hg.), Martin Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. II: 1918–1939, Heidelberg 1973, S. 240. 123 Rosenzweig, Jehuda Halevi: Fünfundneunzig Hymnen und Gedichte. Deutsch. Mit einem Nachwort und Anmerkungen, Berlin o. D., S. 155. Neudruck in Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, Bd. IV. 1, The Hague 1983, S. 3. 124 Auch Rosenzweig wollte solch eine Renaissance, allerdings in Deutschland. 125 Wie ich bereits erwähnte, hatte er eine andere Position als Levinas, der die Tora ohne die Schriften der Weisen als Kernstück des Judentums nicht verstehen konnte. Fagenblat / Wolski, „Revelation Here and Beyond“, S. 166.

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Buch wie andere Bücher, ein „Es“.126 Die Bibel war ein unvergleichliches Buch, das eine Blaupause für das Gemeinschaftsleben in Israel bot.127 Buber und Rosenzweig wollten die lebendige Stimme hören, die den Menschen verwandelt. Im Dialog wurde der Mensch lebendiger. Scholem stellte die Frage, für wen Buber die Bibel übersetzt hatte: kein Jude liest sie und die deutsche Sprache hatte sich verändert. Erstens denke ich, dass deutschsprachige Juden sie lesen, in und außerhalb Israels. Zweitens war die Übersetzung nicht nur für Juden, sondern auch für Christen. Juden konnten in ihrem kollektiven Gedächtnis das Zeugnis eines Dialogs wieder vernehmen. Juden und Christen zusammen wurden von der göttlichen Stimme gerufen. In ähnlicher Weise hatte Buber den Chassidismus als für alle relevant dargestellt. Die Bibel sowie Chassidismus waren jüdische Phänomene, die für die Welt im Ganzen relevant waren. Buber war, wie James Muilenburg schreibt: „ein gefeierter Lehrer‚ ‚sowohl für Juden als auch für Griechen‘, doch zuallererst war er der wichtigste jüdische Sprecher für die christliche Gemeinde. Er erzählt, mehr als alle anderen Juden in unserer Zeit, dem Christen, was im Alten Testament zu hören ist, was das Alte Testament wirklich sagt und was es sicherlich nicht sagt, […] Buber ist der große jüdische Lehrer, den Christen hören.“128 Zur Kritik Scholems an Bubers Blick auf den Chassidismus, dass er nicht eine getreue historische Darstellung dieser spirituellen Bewegung gebe, antwortete Buber – zur Verblüffung des ersteren – dass er kein Historiker sei. In der Tat hatte Buber mehr Interesse am spirituellen Einfluss des Chassidismus heute. In ähnlicher Weise wollte er die Bibel als etwas Aktuelles für heute kommentieren und die Bibel von einem Buch in eine lebendige Stimme verwandeln. Er war kein klassischer historisch-kritischer Exeget; er bewegte sich jenseits der Geschichtsschreibung und Philologie und näherte sich dem biblischen Wort als Korrektur der heutigen Gesellschaft, der Beziehung und Begegnung fehlt. Die Bibel war weder Geschichte noch Literatur, sie enthielt die Erinnerung an Ereignisse, die eine Bedeutung über die Geschichte hinaus hatten. Während Exegeten mit literarischen Quellen, mit Dokumenten arbeiteten, operierte Buber mit Traditionen als Teil einer Glaubensgeschichte. Er war der Meinung, dass Exegeten selbst Produkte ihrer Zeit waren, und die Geschichte des Glaubens nicht nur Geschichte ist.129 Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen der klassischen 126 Auch für Heschel war die Bibel einzigartig und unvergleichlich, so wie seine Mutter anders als alle anderen Mütter war. Alexander Even-Chen / Ephraim Meir, Between Heschel and Buber. A Comparative Study, Boston 2012, S. 221–231. 127 Ebd., S. 280. 128 Muilenburg, „Buber as an Interpreter of the Bible“, S. 382. 129 Malcolm L. Diamond, Martin Buber. Jewish Existentialist, New York 1960, S. 80–82.



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wissenschaftlichen Exegese und Buber liegt in der Tatsache, dass Wellhausen und seine Anhänger das Ritual als zeitlich vor Ethik betrachteten, während Buber Ethik an erste Stelle setzte.130 In prägnanter Weise kann man die Größe und Bedeutung der BuberRosenzweig-Übersetzung der Bibel in ihrer Übersetzung des göttlichen Namens schätzen lernen. In diesem Fall sehen wir wieder die enge Verbindung zwischen Bubers Exegese und seiner Philosophie. Der göttliche Name hatte für Buber und Rosenzweig vornehmlich eine existenzielle Bedeutung. Sie gaben das Tetragramm als Pronomen wieder, wie: Ich, Du und Er. Der Ursprung des Namens war der Ausruf „O, Er“, der zum Verb „Er ist da“ geworden war.131 Aber die existenzielle Bedeutung des Namens war in dem, was Rosenzweig den Kampf gegen das „Altes Testament“ nennt, verloren gegangen. Die höchst fragwürdige Transkription des göttlichen Namens sagte nichts aus. Rosenzweig schreibt ironisch, dass der Name Gottes in den Namen eines Götzen degradiert wurde. In Anspielung auf das Neue Testament (Matthäus 27,46–47; Markus 15,34–35) schreibt er ausgelassen, dass die jüdische Bibel ausrufe: Eli, Eli, mein Gott, mein Gott, und die alttestamentlichen Exegeten den Kopf schütteln und erklären: er ruft Eliyah.132 Buber und Rosenzweig gründeten ihre Interpretation des göttlichen Namens auf der berühmten Stelle Ex 3,14: eheyeh asher eheyeh. In dieser Offenbarung wurde Moses von Gott angesprochen und ein Dialog fand statt: „Gott aber sprach zu Mosche: Ich werde dasein, als der ich dasein werde [eheyeh asher eheyeh]. Und sprach: So sollst du zu den Söhnen Jisraels sprechen: ICH BIN DA [eheye] schickt mich zu euch.“ Buber und Rosenzweig interpretierten den Vers nicht als Erklärung für die Existenz Gottes oder sein Wesen; er handelte vielmehr von Gottes Gegenwart. Gott bat nicht darum, beschworen zu werden, sondern Er wird da sein, wie immer Er da sein wird.133 Buber führte aus, dass Er in immer neuen Formen

130 Ebd., S. 78–79. So steht z. B. für kritische Exegeten der rituelle Dekalog in Ex 34 zuerst und wird dann in Ex 20 und Dtn 5 revidiert. Nach Bubers Ansicht stammt Ex 34 mit seinen Opfern aus einer späteren, landwirtschaftlichen Zeit und der Dekalog, wie wir ihn jetzt kennen, passt eher in eine Gemeinschaft, wie zu Moses’ Zeiten, auch wenn Moses nicht der Autor war. 131 Buber, Werke II, S. 954. 132 Franz Rosenzweig, „‚Der Ewige‘. Mendelssohn und der Gottesname“, in Martin Buber / ders., Die Schrift und ihre Verdeutschung, Berlin 1936, S. 205. 133 Buber verknüpft den göttlichen Namen mit Seiner Gegenwart und war der Meinung, dass der Name Gottes im Laufe der Geschichte verloren gegangen war. Muilenburg stellt fest, dass dies „weder überzeugend noch wahrscheinlich ist.“ Er interpretiert das eheye asher eheye als „Ich veranlasse zu geschehen, was ich veranlasse, zu geschehen“ (I cause to come to pass what I cause to come to pass). Gott ist der Herr der Geschichte (Muilenburg, „Buber as an Interpreter of the Bible“, S. 393–94). In der dialogischen Philosophie Bubers und Rosenzweigs aber musste der göttliche Name mit Seiner Gegenwart verknüpft werden.

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gegenwärtig ist.134 Rosenzweig erinnert seine Leser daran, dass der Name nur sinnvoll ist, wenn er als Name einen Sinn trägt.135 Der göttliche Name ist „ganz Wort […], ganz Wort der Begegnung und Gegenwart“.136 In seinem Essay „Der Ewige“ reflektiert Rosenzweig über Mendelssohns Übersetzung des göttlichen Namens als „der Ewige“. In dem apokryphen Baruchbrief liest man „ho-Aionios“ und Calvin übersetzte den göttlichen Namen als „l’Eternel“. Mendelssohn dachte, dass „der Herr“ zu christlich war; „der Ewige“ war besser. In der Ausgabe von 1923 von Ich und Du, schrieb Buber über das „ewige Du“ und übersetzte den göttlichen Namen in der erwähnten Exodus Passage als: „Ich bin der ich bin“. In der Ausgabe von 1957 übersetzte er „Ich bin da als der ich da bin“. Diese zweite Übersetzung passt in seine Theologie der göttlichen Gegenwärtigkeit. Es ist noch kein Name, es ist die Bedeutung von Gott selbst. Muilenburg war nicht überzeugt: JHWH bedeutet nicht immer „Er ist da“.137 Aber ohne Bubers Philosophie der Gegenwärtigkeit, die eng mit seiner tiefen Intuition der biblischen Welt verbunden war, kann man seine Interpretation des göttlichen Namens nicht verstehen. Die Pronomen Ich, Du und Er verweisen auf einen dynamischen Gott, der mit der Geschichte verbunden ist und sich selbst auf immer neue Weise manifestiert. Gott ist das Du, das in immer neuen Begegnungen ewig Du ist.138 Buber und Rosenzweig vernahmen die Aktualität der göttlichen Worte, die in der Wirklichkeit des göttlichen, ungreifbaren Namen, gipfelte. Mit ihrer Übersetzung, strebten sie danach, den Leser in Kontakt mit dem göttlichen Ruf zu bringen, auf den er mit seiner ganzen Existenz zu antworten hatte. Der biblische Text war keine Sache der Vergangenheit, sondern der Gegenwart, nicht nur für Juden, sondern auch für Christen, nicht nur für diejenigen, die Hebräisch können, sondern für jeden, der bereit ist, sich überraschen zu lassen durch das sorgfältige Hören auf die göttliche Anrufung, die aus dem gesprochenen biblischen Wort zu hören ist. Die Buber-Rosenzweig-Übersetzung der Bibel mit der Forderung, von Juden und Christen „gehört“ zu werden, ist ein eindrückliches Beispiel für interkulturellen und interreligiösen Dialog. Der biblische Text als Produkt der spezifisch jüdischen Kultur hatte eine gewisse Fremdheit, einen fremden Ton, den Buber und Rosenzweig in ihrer Übersetzung bewahrten. Sie widersetzten sich der 134 Buber, Ich und Du, S. 102. 135 Rosenzweig, „Der Ewige“, S. 205. 136 Ebd., S. 207. Auch der Name adonai, mein Herr, als Substitution für den göttlichen Namen, verweist auf die göttliche Gegenwart. Ebd., S. 208. 137 Muilenberg, „Buber as an Interpreter of the Bibel“, S. 386–387. 138 Friedman, Encounter on a Narrow Ridge, S. 170.



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Domestizierung und Assimilation des Originaltextes im Zieltext und in der Zielkultur. Sie widerstanden der Versuchung, den ursprünglichen Text in einem alles verschlingenden Zieltext vollständig zu absorbieren. Zugleich trug ihre Übersetzung zu kultureller Vielfalt und Trans-Differenz bei, da sie die jüdische Kultur mit der deutschen in eine Wechselwirkung brachten. Auf diese Weise kündigten sie bereits die heutige Hermeneutik des Fremden an, in der die Andersheit in einen (kritischen) Dialog mit der Selbstheit tritt. Mit ihrem Gespür für die Besonderheit der hebräischen Welt und ihre Aufmerksamkeit gegenüber der Andersheit führten sie einen radikalen Perspektivenwechsel bei den Hörern des biblischen Wortes herbei.

Kapitel 6 Deutsch-jüdische religiöse Denker als Juden und Deutsche Das vorhergehende Kapitel hat sich mit Bubers und Rosenzweigs Übersetzung der Bibel ins Deutsche als ein bedeutendes dialogisches Unterfangen auseinandergesetzt. Der vorliegende Abschnitt untersucht nun in weiterer Perspektive die komplexe Identität von Juden, die innerhalb der deutschen Kultur lebten und ihr Judentum in Zwiesprache und im Dialog mit dieser Kultur zum Ausdruck brachten. Die Thematik befasst sich mit der Interaktion zwischen Judentum und deutscher Kultur. Paul Mendes-Flohr hat der Komplexität der deutsch-jüdischen Kultur und Identität eine eigene Studie gewidmet.1 Seine Analyse deutscher Juden hat mir dialogische Gedanken eingegeben und im Folgenden werde ich seinen Gedankengang genau nachverfolgen und darauf hinweisen, was einst einen intensiven Dialog zwischen deutscher und jüdischer Kultur darstellte. Interkulturalität war ein integraler Bestandteil deutschen Judentums, bevor ein monolithisches Deutschland auf radikale Weise aggressiv und pathologisch wurde und dem, was vormals deutsches Judentum bedeutete, ein Ende setzte. Nach der Schoah wurde die ehemals vorherrschende, komplexe deutsch-jüdische Identität oft als höchst problematisch angesehen. Doch lebten die religiösen, intellektuellen deutschen Juden, die in diesem Kapitel vorgestellt werden, auf unterschiedliche Weise eine Interkulturalität, die als solche gleichfalls genau die Situation charakterisiert, in der die meisten Juden heute leben. In seinem Essay „The non-Jewish Jew“ schrieb Isaac Deutscher2 über jüdische „Häretiker“, die sich über ihre Gesellschaften, Nationen und Zeit erhoben und einen großen Beitrag zur allgemeinen Kultur leisteten. Menschen mit einem schöpferischen Geist wie Baruch Spinoza, Heinrich Heine, Karl Marx, Rosa Luxemburg, Leon Trotzki und Sigmund Freud haben neue, erweiterte Horizonte geöffnet, die auch für die Zukunft wichtig bleiben. Wie Elisha ben Abuyah, der jüdische Häretiker mit dem Beinamen ha-’aher, „der Andere“, standen diese genialen und optimistischen Persönlichkeiten außerhalb der Grenzen des Judentums, doch lieferten sie einen Beitrag zu der Kultur, in der sie lebten, dadurch, dass sie die Grenzen der Kultur, die sie mit Anderen teilten, überschritten. Natürlich verstand Elisha ben Abuyah im Gegensatz zu seinen heutigen Kollegen, dass Rabbi Meir, der ihn begleitete, um von ihm zu lernen, zu der Gemeinschaft zurückkehren musste, als sie die Grenze erreichten, die Juden am Schabbat zu 1 Paul Mendes-Flohr, German Jew. A Dual Identity, New Haven / London 1999. 2 Isaac Deutscher, The non-Jewish Jew and Other Essays, New York 1968, S. 25–41.



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übertreten verboten war.3 Muss man die Partikularität leugnen, um Teil der all­ gemeinen Kultur zu sein? In der Moderne kannte Deutschland viele „nicht-jüdische“ Juden. Das vorliegende Kapitel konzentriert sich jedoch auf einige wenige deutsch-jüdische Denker, die sich von diesen nicht-jüdischen Juden darin unterschieden, dass sie innerhalb des Judentums blieben, zugleich aber doch sehr an der nicht-jüdischen Kultur teilhatten. Sie standen ihrem Judentum, das sie liebten und hüteten, nicht ambivalent gegenüber. Sie interpretierten das jüdische Erbe in den Begriffen ihrer Zeit und im Dialog mit ihrer kulturellen Umgebung. Nach der Erfahrung des Nationalsozialismus besteht ein häufig vorkommender Trugschluss, dass man die Zeit vor dem Holocaust als eine Periode wahrnimmt, in der es keinerlei Symbiose zwischen Deutschen und Juden gab. Viele Juden blieben vor dem Zweiten Weltkrieg in unterschiedlichem Maße jüdisch, während sie an der allgemeinen Kultur teilhatten. Sie entwickelten komplexe Identitäten, die sowohl der Besonderheit der jüdischen Existenz als auch dem Besten der deutschen Bildung und Kultur Rechnung trugen. Man hört in diesem Zusammenhang oft den Begriff „Assimilation“, andere reden von „hybriden“ oder „gebrochenen“ Identitäten. Es ist wahrscheinlicher, dass die jüdische Existenz in Deutschland in einer Situation des Entgegenkommens entstand, in der sich die Identität in einem ständigen Dialog mit der andersartigen Umgebung herausbildete. Identität war und ist das Ergebnis eines Dialogs zwischen dem Selben und dem Anderen, zwischen dem Eigenen und dem Unterschiedlichen, zwischen dem Partikularen und dem Allgemeinen. Die humanistische und liberale Bildung gestattete es den Juden gemeinsame Werte zu schätzen. Von deutscher Seite her wurde die Bildung, die einer humanistisch orientierten Erziehung dienen sollte, bald zu einem Instrument der Herausbildung einer kollektiven, exklusivistischen deutschen Identität. Im Klima des wachsenden Antisemitismus wurde das jüdische Leben als anachronistisch und nicht den deutschen Idealen angemessen angesehen. Von jüdischer Seite her führte die Bildung auch zur Ablehnung der kollektiven jüdischen Identität oder in anderen Fällen zu einer mehr oder weniger erfolgreichen Kombination von Judentum mit einigen hochgesteckten Idealen der deutschen Kultur, des Deutschtums. Die Verzerrung von Bildung in der nationalistischen Perspektive und der Zusammenbruch 3 Wie die modernen revolutionären „Anderen“ haben viele „nicht-jüdische Juden“ im Staat Israel fast jegliches Gefühl für Zugehörigkeit zur jüdischen Tradition verloren. In einem ganz anderen Sinn kann derselbe Ausdruck „nicht-jüdische Juden“ für das interessante Phänomen der nicht-jüdischen russischen Einwanderer nach Israel angewandt werden, die sich in ihrer Teilnahme an der israelischen Kultur sehr jüdisch fühlen. Diese Menschen stellen eine andere Kategorie von „nicht-jüdischen Juden“ dar.

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des humanistischen Ideals im Nationalsozialismus sollten uns nicht von der Reflexion über den deutsch-jüdischen Dialog abhalten, der einst stattfand und der auch heute noch inspirierend sein kann. Ich denke an die mehr als 100.000 Juden aus der ehemaligen UdSSR, die in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts nach Deutschland einwanderten und deren Kindern bald der Wahl gegenüberstehen werden, sich komplett zu assimilieren oder sich in die deutsche Gesellschaft mit einem Bewusstsein ihres Judentums zu integrieren. Diese jungen Erwachsenen werden Deutsche mit einem slawischen Hintergrund werden oder ihre komplexe Identität leben, in der sich ihre slawische Kultur mit der deutschen und jüdischen Kultur vereinigen wird.4 Noch einmal gibt es die Möglichkeit einer deutsch-jüdischen Symbiose. Im Folgenden sollen einige deutsche Juden – „jüdische“ Juden – vorgestellt werden, die mehrere Identitäten in sich vereinten, was sie nicht geistig ärmer, sondern reicher machte.5 Dabei werden einige Elemente des reichen deutsch-­ jüdischen Erbes, wie wir es etwa in den Arbeiten von solch überragenden Figuren wie Rabbi Samson Raphael Hirsch, Hermann Cohen, Franz Rosenzweig und Martin Buber finden, schematisch diskutiert. Ich werde mich auf den Austausch zwischen der deutschen und der jüdischen Kultur, der in diesen Persönlichkeiten stattfand, und auf die Art und Weise, wie diese Denker das Judentum als kompatibel mit dem deutschen humanistischen Ideal der fortwährenden Bildung interpretierten, konzentrieren. Ihre Teilnahme an der deutschen Kultur erlaubte es ihnen, eine inklusive Identität aufzubauen, in der jüdische Werte mit denen der „Kulturnation“ vereint wurden.6 Sie übermittelten die alte Botschaft in neuen Begriffen ihrer Zeit innerhalb des deutschen Kontexts. Um diese Denker angemessen verorten zu können, werden wir uns zuerst mit Moses Mendelssohn, dem Vater der Haskala, der jüdischen Aufklärung in Deutschland, befassen. Mendelssohn war der erste, der seine jüdische Existenz mit einem ausgesprochenen Inter­ esse an der deutschen philosophischen Kultur verband.

Moses Mendelssohn Moses Mendelssohn (1729–1786) war der erste Jude, der in Deutschland als Philosoph und Kulturmensch anerkannt wurde. Er war ein Freund des berühmten 4 Siehe Ephraim Meir, The Rosenzweig Lehrhaus: Proposal for a Jewish House of Study in Kassel Inspired by Franz Rosenzweig’s Frankfurt Lehrhaus, Ramat Gan 2005. 5 In seiner Ansprache an die Teilnehmer eines Kongresses zum deutsch-jüdischen Erbe verglich Moshe Kaveh, der vorherige Präsident der Bar-Ilan Universität, auf angemessene Weise die doppelte deutsch-jüdische Existenz mit einer Partikel, das an zwei Orten zugleich sein kann. 6 Paul Mendes-Flohr, German Jew, S. 22 und 75–76.



Samson Raphael Hirsch  

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Dichters Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), der von vielen Juden bewundert wurde. Doch er stimmte nicht mit allen Ansichten von Lessing überein. Im Namen der Vernunft kritisierte er Lessings Idee der progressiven Menschheit, die mit dem Christentum auf eine höhere Stufe gelangt sei. Er glaubte, dass Gott dem Menschen Vernunft geschenkt habe, und dass jeder Mensch die Wahrheit durch Vernunft erkennen könne. Mendelssohn war vollkommen in die deutsche Kultur integriert und wurde deutscher Sokrates genannt. Als Anhänger der Aufklärung war er überzeugt, dass die Vernunft die Menschen vereinige und die Juden zu der lang ersehnten Emanzipation führen würde. Jude zu sein bedeutete für ihn, dem Gesetz treu zu sein, das die Wahrheit bestätigt. Er betonte, dass jeder Mensch zur Wahrheit gelangen könne, doch die jüdische Orthopraxie sei wichtig, um der Wahrheit kompromisslos die Treue zu halten. Mendelssohn war Jude und Deutscher, zwei Sphären, die in seiner Persönlichkeit unterschieden blieben.

Samson Raphael Hirsch Ein Jahrhundert später wurde Hirsch (1808–1888)7 zur führenden Figur der neoorthodoxen Bewegung in Deutschland. In Frankfurt am Main fungierte Hirsch 37 Jahre als Rabbiner der Adass Jeshurun Gemeinde, die auch unter dem Namen Israelitische Religionsgesellschaft bekannt war. Wie Mendelssohn nahm er an der modernen Kultur teil und betonte dennoch die Notwendigkeit, der Tora treu zu bleiben. In seinen Bildungsaktivitäten strebte er danach, das Studium der Tora mit derekh eretz, säkularer Erziehung, zu vereinbaren. Für Hirsch sollte das Judentum eine spezifische und erhabene Aufgabe in der Völkergemeinschaft erfüllen. Menschtum oder Humanität, die auf der Kultur der Klassik und dem Humanismus, wie er von deutschen Schriftstellern und Denkern verstanden wurde, gründet, würde die höhere Stufe des Israeltums vorbereiten. 1836 veröffentlichte er Igrot Tsafon: Neunzehn Briefe über das Judentum, ein Dialog zwischen Benjamin, der sich von seinen jüdischen Quellen entfremdet hatte, und Rabbi Naphtali, dem Repräsentanten des traditionellen Judentums. Ein Jahr später brachte er Choreb, oder Versuch über Jissroels Pflichten in der Zerstreuung heraus, in dem er eine symbolische Interpretation der mitzwot, der göttlichen Gebote, bietet. Parallel zu Mendelssohn und in gewisser Weise ähnlich wie Spinoza war Hirsch überzeugt, dass das Judentum eher durch das Gesetz als durch den Glauben charakterisiert werde. 7 Zu Hirsch siehe unter anderen Heinz Moshe Graupe, Die Entstehung des modernen Judentums. Geistesgeschichte der deutschen Juden 1650–1942, Hamburg 1969, S. 213–217.

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Entgegen der Meinung jüdischer Reformer wie Abraham Geiger (1810–1874) dachte Hirsch, dass das Judentum eine Nation, ein Volk, ‘am Yisrael, und nicht nur eine Denomination sei. Darüberhinaus müsste die Moderne durch die Tora reformiert werden, nicht die Tora durch die Moderne. Juden sollten nicht nach Fortschritt suchen, sondern nach einem erhabenen Leben. Zugleich sollten sie aber sowohl den Werten der Tora als auch dem modernen Leben gegenüber offen sein. Hirsch war überzeugt, dass das traditionelle jüdische Leben und die europäische Kultur vereinbar seien. Jüdische Quellen wie den Pentateuch, die Psalmen und jüdischen Gebete übersetzte er ins Deutsche und kommentierte sie.8 Er verteidigte den Gebrauch des Hebräischen in der Liturgie, doch predigte er auf Deutsch.9 In Hirschs Augen konnte man zugleich ein aufgeklärter Mensch und ein gläubiger Jude sein. Auch in ihm gab es eine Wechselwirkung zwischen der jüdischen und der deutschen Kultur, doch wie im Fall Mendelssohns blieben die beiden auch in Hirschs Persönlichkeit eher getrennte Bereiche.

Hermann Cohen Während bei Mendelssohn und Hirsch Judentum und deutsche Kultur eher getrennt existierten, ohne sich wirklich zu mischen, vereinte Hermann Cohen (1842–1918) beide in völliger Harmonie: Er betrachtete sich selbst als Deutschen und als Jude und war stolz auf seine doppelte Position. Er sprach von der deutschen Kultur als humanistische Tradition, an der die Juden in vollem Umfang teilhaben sollten. Natürlich war sein Deutschtum sehr vergeistigt. Cohen blickte von einem kulturellen Standpunkt aus auf Deutschland, die Nation Kants und insofern eine Kulturnation, während die Deutschen in steigendem Maße die Juden von einem engen, nationalistisch-ethnischen Standpunkt aus als undeutsch betrachteten. Der Historiker Heinrich von Treitschke zum Beispiel sah auf die Juden als ein fremdes Element in der deutschen Nation herab: Sie könnten sich nicht eindeutig mit dem deutschen Volk identifizieren und klammerten sich starrsinnig an ihre eigene nationale Identität. Das Einzige, was ihnen zu tun blieb, sei eine völlige Assimilation. Eine doppelte Nationalität oder eine hybride Kultur sollte nicht zugelassen werden. Man müsse sich entscheiden: entweder jüdisch oder deutsch zu sein. 8 Samson Raphael Hirsch, Der Pentateuch. Übersetzt und erklärt, 5 Bde, Frankfurt a. M. 1867– 1878; Psalmen. Übersetzt und erklärt, Frankfurt a. M. 1883; Israels Gebete. Übersetzt und erläutert, Frankfurt a. M. 1895. 9 Yomtob Lippmann (Leopold) Zunz, der Vater der Wissenschaft des Judentums, verfasste seine Gottesdienstliche Vorträge der Juden, u. a., um das Preußische Verbot, Vorträge in deutscher Landessprache zu halten, außer Kraft zu setzen.



Franz Rosenzweig  

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Als Gegenbewegung zu solch einer weit verbreiteten Meinung wie der von Treitschke entwickelte Cohen einen inklusiven Standpunkt: Immanuel Kant, dessen Denken ihn in seinem ganzen Werk beschäftigt, wäre von enormer Wichtigkeit für Deutsche und Juden gleichsam. Es existiere eine große Affinität zwischen der jüdischen Kultur und dem ethischen Idealismus Kants. Während für Hirsch die deutsche Kultur nicht-jüdisch blieb, waren in Cohens Sicht die jüdische Kultur und das Beste der deutschen Kultur gleichgestellt. Cohen schrieb sein letztes Werk, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums,10 um zu zeigen, wie nahe das Judentum der Vernunft und der rationalen Religiosität war – wie auch der aufgeklärte Protestantismus. Andererseits schrieb Cohen in seinem postum veröffentlichten Buch nicht mehr über die „reine“ Vernunft, die alles beherrscht, sondern über die Vernunft, die mit dem Judentum verbunden und aus ihm gespeist wird. Offenbarung war für ihn die „Schöpfung der Vernunft“.11 Cohen war ein jüdischer Denker und ein deutscher Philosoph, der sein Land, das er sein „Vaterland“ nannte, liebte und als glühender Patriot den deutschen Krieg verteidigte. Seine beiden Kriegsessays tragen den programmatischen Titel „Deutschtum und Judentum“.12 Darin verteidigte er die Symbiose von Deutschen und Juden, doch er erwähnte auch die verschiedenen Nationalitäten, die in dem einem deutschen Staat existierten, und dass die Juden eine dieser Nationalitäten waren. Mit den Worten Paul Mendes-­ Flohrs „repäsentiert Cohen eine täuschende, friedfertige Sicht einer deutsch-­ jüdischen Symbiose, und […] beleuchtet implizit den problematischen Charakter dieser Beziehung.“13

Franz Rosenzweig Rosenzweig (1886–1929), Cohens Schüler, entwickelte genuine Gedanken über seine doppelte Identität; er brachte in seinen Schriften einen ganz eigenen Standpunkt in seiner Selbstwahrnehmung als Jude und Deutscher zum Ausdruck. Nach einer persönlichen Krise 1913, die ihn fast zur Taufe führte, wurde er Cohens Schüler in Berlin. Cohen hatte keine Kinder und sah in seinem herausragenden Schüler eine Art Sohn. Rosenzweig erwiderte Cohens Liebe mit einer besonderen 10 Leipzig 1919. 11 Ebd., S. 84. 12 Herrmann Cohen, „Deutschtum und Judentum. Mit grundlegenden Betrachtungen über Staat und Internationalismus (1915)“, in Bruno Straus (Hg.), Hermann Cohens Jüdische Schiften. Bd. 1, Berlin 1924, S. 237–301 und ders., „Deutschtum und Judentum (1916)“, in ebd., S. 302–318. 13 Paul Mendes-Flohr, German Jew, S. 59.

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Zuneigung gegenüber dieser Vaterfigur, in der er einen großen Philosophen und Juden sah. Wie sein Lehrer entwickelte Rosenzweig ein dialogisches Denken, dessen Kern er in Cohens Idee der „Korrelation“ als der Beziehung zwischen Gott und Mensch, die den Menschen in ein Individuum verwandelt, fand. Mit der Hilfe Cohens und auch der von Rabbi Anton Nehemia Nobel (1871–1922), Martin Mordechai Buber (1878–1965), Eduard Strauss (1876–1952) und Joseph Prager (1885– 1983) kehrte Rosenzweig zu seinen jüdischen Wurzeln zurück. Rosenzweig hatte die Vision einer jüdischen Renaissance in Deutschland. Zwei Ströme, ein jüdischer und ein deutscher, würden Deutschland bewässern und ihm seine Kultur und Lebenskraft bringen. In Deutschland würde sich wie in einem Zweistromland das Judentum selbst erneuern, so wie es sich einst in Babylon, dem anderen Zweistromland, erneuert hatte.14 Rabbi Nehemia Nobel, den Rosenzweig sehr bewunderte, vereinigte ebenfalls zwei Welten: Er war nicht nur in der jüdischen Kultur bewandert, sondern lehrte in Rosenzweigs Frankfurter Lehrhaus auch Goethe, und zitierte oft den berühmten Dichter in seinen hochgeschätzten Predigten. Wie Nobel liebte Rosenzweig die deutsche Literatur und Goethes Worte waren in seinem Mund so geläufig wie die biblischen.15 Wie Mendelssohn bewunderte Rosenzweig Lessing. Doch bezeichnenderweise kritisierte er den berühmten deutschen Schriftsteller auch, weil jener sich für eine Humanität aussprach, in der die Unterschiede wenig hervorgehoben würden.16 Rosenzweig zog die Aussage Richard Beer-Hofmanns vor: „Ich bin Jakob, weil Du Esau bist.“ Lessings Gleichgültigkeit gegenüber den Unterschieden war Rosenzweig viel zu neutral. Für Rosenzweig ist der Mensch niemals allgemein, sondern immer konkret. Auch wenn eine Person nicht ihr Zuhause opfern muss, ist es doch besser daheim als heimatlos zu sein. Rosenzweig fühlte, dass er ein Mensch unter anderen Menschen und ein Jude unter anderen Juden war: Seine doppelte Angehörigkeit glich zwei Händen, die beide notwendig sind. Rosenzweig war stolz auf seine komplexe Identität als Jude und als Deutscher. 14 Ebd., S. 23–24. 15 Ephraim Meir, „Die Stellung Goethes in Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung”, in ders. Differenz und Dialog, Münster 2011, S. 202–214. 16 Vgl. seinen Brief an Margrit und Eugen Rosenstock vom 30. Dezember 1919 in: Franz Rosenzweig, Die „Gritli“-Briefe. Briefe an Margrit Rosenstock-Huessy, hg. v. Inken Rühle / Reinhold Mayer, mit einem Vorwort von Rafael Rosenzweig, Tübingen 2002, S. 512 (=Briefe). Siehe auch die Notizen für seine Doppelvorlesung in Kassel am 28. und 29. Dezember 1919 in: Reinhold und Annemarie Mayer (Hg.), Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken (Franz Rosenzweig. Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften III), Dordrecht 1984, S. 449–453 (=GS III). Seine ersten Vorträge, die zu einer Reihe werden sollten, waren sehr erfolgreich. Durch sie etablierte er seinen Ruhm in seiner Heimatstadt Kassel.



Franz Rosenzweig  

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Seine Sammlung allgemeiner und jüdischer Essays erschien 1926 bezeichnenderweise unter dem Titel Zweistromland. Er liebte die europäische Kultur, doch auch die jüdische. Er lebte in Deutschland, wo das Christentum dominierte, und entdeckte sein Judentum, das nicht in ein allgemeines Schema aufgelöst werden kann. Unter der Anleitung von Friedrich Meinecke (1862–1954) schrieb er seine Promotion zu Hegel und der Staat,17 doch nahm er auch mehr und mehr am jüdischen Leben teil und entwickelte ein wachsendes Interesse an der Bibel, dem jüdischen Gebet und der Philosophie und Dichtung Judah Halevis. Mit der Zeit wurde er dem deutschen Staat und dessen Krieg gegenüber immer kritischer: Er sprach sich für ein Leben in Gemeinschaften aus, in denen die Ewigkeit verwirklicht werden könnte. In seinem Lehrhaus fing er eine neue Art des Lernens an, die aus der Peripherie des jüdischen Lebens ins Zentrum führte, von außen nach innen, ohne die äußere Welt zu vergessen. Rosenzweig vertraute darauf, dass etwas Jüdisches herauskommt, wenn Juden zusammensitzen und studieren. Aber auch Nichtjuden beteiligten sich am Unterricht und in der Lehre im Lehrhaus. Das Frankfurter Lehrhaus sollte eine dialogische Institution sein, ein Ort des Dialogs hauptsächlich zwischen Juden: zwischen jüdischen Außenseitern und jüdischen Eingeweihten oder Juden, die zurückkehrten und sich mehr engagierten. Hinsichtlich der Beziehung zwischen Christen und Juden war Rosenzweig kritischer als sein Lehrer Cohen. Es ist allgemein bekannt, dass Rosenzweig die Idee einer Offenbarung als Orientierung im Leben von seinem Freund und Gegner Eugen Rosenstock (1888–1973) übernahm,18 der im Jugendalter zum Christentum konvertierte. Doch zugleich bat er Rosenstock, nicht die Wurzel seines Freundes auszureißen, sondern die verdorrenden Wurzeln zu bewässern.19 Er respektierte Rosenstocks Christentum und erwartete, dass Rosenstock nicht wünsche, sein Freund würde sich für andere Wege entscheiden, sondern den seines eigenen Volkes gehen.20 Gegen das vorherrschende Denken, das eine totalisierende Tendenz hatte, hob er hervor, dass das Judentum ein Rest sei, doch ein Rest mit einer Verbindung zur allgemeinen Kultur. Rosenzweig fühlte sich als Jude, doch er blieb in engem Kontakt mit seinem getauften Freund Rosenstock. Eine dialogische Haltung begleitete ihn während seines ganzen Lebens, bis zu seinem

17 Franz Rosenzweig, Hegel und der Staat. Erster Band. Lebensstationen (1770–1806). Zweiter Band. Weltepochen (1806–1831), München / Berlin 1920. 18 Rosenzweig gab dieser Idee in seinem Essay „Atheistische Theologie“, in GS III, S. 687–697, Ausdruck. Es überrascht nicht, dass Karl Barth Rosenstock aufgrund der Zentralität der Offenbarung in seinem Denken kontaktierte. 19 Briefe, S. 410. 20 Ebd., S. 427.

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letzten Jahr, als er sich auf die Bibel bezog und damit nicht nur die jüdische Bibel, sondern auch das Neue Testament meinte.21 Ich habe bereits erwähnt, dass Rosenzweig im Stern der Erlösung (1921),22 seinem Opus Magnum, das Judentum in eine dialektische und kritische Beziehung zum Christentum setzte. Obwohl er klar das Judentum als „ewiges Leben“ über das Christentum als „ewigen Weg“ stellte, wies er doch auf die gegenseitige Abhängigkeit von beiden religiösen Lebensweisen hin. In seinen soziologisch gefärbten Ideen vom Diaspora-Judentum behauptete Rosenzweig, dass Juden nicht in der Weise an der Geschichte teilnehmen wie Christen, die sich mit der Geschichte intensiv beschäftigen und versuchen – als ecclesia triumphans –, Heiden durch die Vermittlung des Sohnes zum Vater zu bringen. Rosenzweig stellte die häufige a-priori-Stellung auf den Kopf: Christen sind immer auf dem Weg zu ihrem Ziel, Juden sind schon am Ziel angekommen, zum Beispiel in ihrer Schabbatfeier, die das Ziel der Schöpfung und die Antizipation der Erlösung ist. Rosenzweigs Zwei-Wege-Theorie, die eher eine Ein-Weg-Theorie darstellt (da die Christen ja noch nicht angekommen sind), ist nicht unproblematisch. Juden und Christen erkennen sich oft selbst in diesem Bild der zwei Gemeinschaften, die auf die Offenbarung reagieren, nicht wieder. Trotzdem bleiben seine Gedanken zum Problem des Christentums, das dem Heidentum verfallen kann, und das Problem der Juden, die nicht erkennen, dass die Christen die „Strahlen“ ihres eigenen „Feuers“ sind, bis heute relevant. Was in Rosenzweigs Denken exemplarisch ist, ist die Inklusivität: Juden und Christen sind ihm wichtig als zwei verschiedene, sich ergänzende Reaktionen auf die Offenbarung. Indem er jegliches exklusivistisches Denken ablehnte, blieb Rosenzweig im ständigen Dialog mit seinen christlichen Freunden, von denen er dieselbe Offenheit seiner eigenen „Andersheit“ gegenüber erwartete. In der Bestätigung des jüdischen Lebens und der Teilnahme an der deutschen Kultur lebte Rosenzweig eine gewisse Spannung. Er fühlte, dass er Deutscher war, doch zuallererst war er ein deutscher Jude. Er schrieb, dass, wenn sie ihn in zwei Stücke reißen würden, wüsste er mit Sicherheit, zu welchem Teil sein Herz gehört. Doch würde er diese Teilung überleben?23 Die deutschen Juden existieren in der Zeit und sie sind Teil der deutschen Kultur. 21 Franz Rosenzweig, „Zur Encyclopaedia Judaica“, in ders., Kleinere Schriften, Berlin 1937, S. 537–538. 22 Franz Rosenzweig, Stern der Erlösung, Frankfurt a. M. 1988. 23 Siehe seinen Brief von Ende Januar 1923 an Rudolf Hallo in: Franz Rosenzweig, Briefe und Tagebücher. 2. Band. 1918–1929, (Franz Rosenzweig. Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften I), hg. von Rachel Rosenzweig / Edith Rosenzweig-Scheinmann in Zusammenarbeit mit Bernhard Casper, The Hague 1979 (=GS I,2), S. 888.



Franz Rosenzweig  

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Doch sind sie auch jenseits der Zeit und leben ihr meta-historisches Leben als Empfänger der Offenbarung. Für Rosenzweig kann das Judentum sich nicht in einer Totalität auflösen: Es wird nicht als Teil eines Ganzen wahrgenommen.24 Judentum war eine Nation, wie es Buber wusste, und eine Religion, wie es Cohen erkannte – doch zuerst war es eine Ausnahmesituation, die sich der Totalität entzieht. In seiner dialogischen Haltung fühlte sich Rosenzweig Europa und der jüdischen Welt zugehörig. Er betrachtete den Stern der Erlösung als ein jüdisches Geschenk an die deutsche Kultur,25 und er wünschte eine Rezension des Buches in der Frankfurter Zeitung.26 Seine komplexe Identität war eine, die zum Zweistromland des Judentums und Deutschlands gehörte.27 Rosenzweigs Stern enthielt ein revolutionäres „Neues Denken“, das die Wirklichkeit nicht auf eine „Essenz“ oder eine „Substanz“ reduziert, sondern in dem ein Dialog zwischen Mensch, Gott und Welt im Zentrum steht. Im Stern ist das Ich nicht ein cogito, sondern ein angesprochenes und antwortendes Wesen. Gott spricht den Menschen mit Seinem we-ahavta, „Du sollst lieben“ (Dtn 6,5), an, und wie Abraham muss der Mensch mit hineni, „Hier bin ich“ (Gen 22,1), antworten. Das einzigartige und sich nicht in eine Totalität auflösende Ich ist ein „Selbst“, das sich durch Offenbarung in eine „Seele“ verwandelt. Somit wird Offenbarung als göttliche Ansprache an den Menschen wahrgenommen, als das Wunder der Liebe, nicht als Schöpfung von Vernunft, sondern als Schöpfung der Seele. Anstelle eines monadischen Ichs dachte Rosenzweig über eine Ich-Du-­Beziehung nach, für die „Liebe so stark wie der Tod“ (Hld 6,8) ist. Mit seiner dialogischen Philosophie forderte er die gesamte reduktive Geschichte der Philosophie von Thales von Milet bis Hegel heraus: von Thales Aussage „alles ist Wasser“ bis zu Hegels absolutem Geist. Das Individuum kann nicht in einem allumfassenden System aufgehen, in einer allumfassenden Geschichte oder Philosophie. Dialog, in dem der Mensch einzigartig wird, durchbricht das monologe Denken, Offenbarung als das Gebot zur Liebe durchbricht die Totalität. Mit seinem antihegelianischen Denken, das von profundem Wissen zu Hegel zeugt und Hegels Spuren beinhaltet, kritisiert Rosenzweig die Philosophie seiner Zeit. Anstelle des reduzierenden Wortes „eigentlich“ bevorzugte er das „und“. 24 Diese Idee durchzieht Santners Buch über Rosenzweig: Eric Santner, On the Psychotheology of Everyday Life. Reflections on Freud and Rosenzweig, Chicago 2001. 25 Er sagte voraus, dass der Stern als ein Geschenk der jüdischen Enklave an den deutschen Geist wahrgenommen werden würde. Siehe GS I,2, S. 887. 26 Dies geschah so durch Hans Ehrenberg. Siehe GS I,2, S. 735–736. 27 Paul Mendes-Flohr, German Jew, S. 43–44.

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Rosenzweig nahm in seinem Leben die Kopula „und“ sehr ernst. Es gibt Gott und Welt (in der Schöpfung), Gott und Mensch (in der Offenbarung) und Mensch und Welt (in der Erlösung). Es gibt außerdem Juden und Christen, weil die Antwort auf die göttliche Offenbarung vielstimmig ist. Schließlich war Rosenzweig Deutscher und Jude. Im selben Jahrzehnt, in dem Heidegger sein Sein und Zeit veröffentlichte, das sich auf die Enthüllung des anonymen Seins konzentriert, erschien Rosenzweigs Stern der Erlösung, der den Menschen und seine Offenheit gegenüber dem Anderen im Blickpunkt hat. In seinem Meisterwerk bespricht Rosenzweig nicht die äußere Stimme des Seins, sondern die qualitativ andere äußere Stimme des offenbarenden Gottes, der Sich Selbst an den Menschen wendet.28 In Rosenzweigs existenziellem Denken entdeckt der Mensch sich selbst nicht als ein einsames, kartesianisch denkendes Ego, das allein in seinem Zimmer meditiert, sondern als ein antwortendes Wesen, das lieben soll. In der Antwort auf eine immer äußere Stimme findet der Mensch sich selbst. Rosenzweigs Philosophie ist daher weit vom Logos Hegels dialektischer Philosophie entfernt; sie diskutiert den Dialog, der die Metamorphose von einem isolierten Wesen in einen antwortenden Mitmenschen verursacht. Rosenzweig kehrte zur Bibel zurück, die die Antworten des Menschen auf den göttlichen Ruf „Wo bist Du?“ enthält. In den jüdischen Quellen fand er den Dialog, der ihm die Kraft gab, die akademische, leblose Philosophie seiner Zeit herauszufordern. Er verließ das lähmende Leben eines Philosophen, der ohne jegliches Engagement nur auf das Geschehen schaut. Sein „Neues Denken“ gestattete ihm, sich von einer Denkweise, die Zeit und Sprache nicht in Betracht zog, zu befreien. Rosenzweig hatte den Stern der Erlösung Deutschland und Europa geschenkt. Europa, das genauso vom griechischen Erbe der Philosophie und polis lebt, doch sich auch von der Bibel her entwickelte, wurde durch den Stern daran erinnert, dass der Dialog, wie er in der Bibel bezeugt wird, die wahre Wurzel des Logos als des universalen Diskurses Griechenlands ist. Rosenzweig erinnert ein Europa, das die äußere Stimme „vergessen“ hat, daran, dass die wahre Bedeutung des Daseins im Zusammensein in Gemeinschaften als Antwort auf die transzendente Stimme, die nach Menschlichkeit und liebender Nähe ruft, liegt. 28 In seinem Buch zu Rosenzweig und Heidegger weist Peter Gordon auf die Ähnlichkeit zwischen beiden Denkern hin. Peter Eli Gordon, Rosenzweig and Heidegger. Between Judaism and German Philosophy, Berkeley / Los Angeles 2003; ders., „Redemption in the World. A ­ uthenticity and Existence in Rosenzweig and Heidegger“, in Wolfdietrich Schmid-Kowarzik (Hg.), Franz Rosenzweigs „neues Denken“. Internationaler Kongress Kassel 2004. Bd. 1: Selbstbegrenzendes ­Denken – in philosophos, Freiburg / München 2004, S. 203–215.



Martin Buber  

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Martin Buber Martin Mordechai Buber (1878–1965) war einer der engsten Freunde Rosenzweigs. Im vorangegangenen Kapitel habe ich ihre aussergwöhnliche Bibelübersetzung ins Deutsche erläutert. Beide übersetzten zusammen die Bibel ins Deutsche, beide engagierten sich in Frankfurt am Main in der informellen jüdischen Erwachsenenbildung. Doch zugleich waren sie auch sehr unterschiedlich. Während Buber ein Zionist war, war Rosenzweig ein Mann der Diaspora. Rosenzweig kehrte zu seinen Wurzeln zurück und betonte die Notwendigkeit der göttlichen Gebote; Buber dachte, dass Beziehung und Begegnung die erhabenen Ziele des Menschen sind und nicht vorrangig der Gehorsam gegenüber den göttlichen Geboten, erst recht nicht der rituellen. Rosenzweig kehrte zum traditionellen Judentum zurück; Buber ging über die Grenzen der Religionen hinaus. Wie Hermann Cohen setzte Buber das Judentum weitestgehend mit dem Humanismus gleich. Beide Worte stehen sich nicht gegenüber, sondern sind kongruent. Juden wären die Pioniere der Menschlichkeit, doch jeder war dazu auserwählt, dem Anderen zu begegnen, eine Ich-Du Beziehung zu entwickeln und durch diese Beziehung einen „Durchblick“ zum ewigen Du zu erhaschen.29 Während Rosenzweig die jüdische Spezifität hervorhob, betonte Buber die universale Dimension im Judentum und betrachtete das Judentum weniger als eine spezifische Entität. Buber schätzte ein „unterirdisches“ Judentum mehr als das institutionelle, offizielle. In diesem „unterirdischen“ Judentum, in dem die Propheten und chassidischen Meister Vorbilder waren, würde die Beziehung mit Gott durch eine intersubjektive Beziehung das hervorstechendste Merkmal sein. Der Kontakt mit dem anderen Menschen war für Buber der einzige Weg, dem ewigen Du zu begegnen. 1916 gründete Buber die Zeitschrift „Der Jude“, die als Forum für die jüdische Intelligenzia seiner Zeit diente; Juden konnten nun offen ihr Judentum bekräftigen. Darüberhinaus schlug, wie ich oben erläutert habe, die Bibelübersetzung durch Buber, die er in Zusammenarbeit mit Rosenzweig durchführte, eine Brücke zwischen jüdischer und deutscher Kultur. Die Übersetzung ähnelt der Arbeit von Samson Raphael Hirsch insofern, dass auch Buber und Rosenzweig eine wesentlich wörtliche Übersetzung vorlegten. Sie brachten in die deutsche Sprache neue, fremde Formen ein. Ihre Übersetzung verband die jüdische Kultur mit der deutschen. Sie hörten aufmerksam auf die Ursprungssprache und sprachen die Zielsprache hervorragend. Beide, Buber und Rosenzweig, waren stolz darauf, Juden zu sein, und forderten ihre Umgebung dazu auf, die tieferen Schichten der jüdischen Existenz wiederzuentdecken. 29 Martin Buber, Ich und Du. Um ein Nachwort erweiterte Neuausgabe, Heidelberg 1958, S. 69.

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 Deutsch-jüdische religiöse Denker als Juden und Deutsche

Interkulturalität Das Leben und Werk dieser Denker, die oben erwähnt wurden, zeigt deutlich, dass eine Verbindung von Kulturen erstrebenswert ist und dass eine monolithische Kultur nicht genügend kulturell ist. Ich vertrete hier nicht den Standpunkt, dass Grenzen und Beschränkungen überflüssig sind. Doch lädt einen Interkulturalität dazu ein, seine eigenen Grenzen zu überschreiten, um den Anderen zu besuchen oder ihn oder sie in seiner eigenen Welt zu empfangen. Diese Möglichkeit öffnet neue Horizonte. Die Alternative des Verbleibens in der eigenen Welt ohne jeglichen Kontakt mit dem Anderen bedeutet nicht nur Provinzialität, sondern ihr fehlt auch grundsätzliche Selbsterkenntnis, die ohne den Anderen nicht möglich ist. Wahre Kultur tritt in Kontakt und Wechselwirkung mit anderen kulturellen Phänomenen außerhalb der Grenzen des eigenen Vermächtnisses. Die Einbindung in mehrere Kulturen muss als geistiger Reichtum anerkannt werden. Eine multikulturelle Identität ist kein Fluch, sondern ein Segen. Das Judentum kann zu einer steifen und starren Sache werden – und somit völlig unattraktiv –, doch kann es auch zu einer Herausforderung werden, die Juden dazu ermutigt, ein interkulturelles Leben zu führen, in dem Jüdischsein eine neue Bedeutung erhält. Deutsch-jüdische Denker wie Hirsch, Cohen, Rosenzweig und Buber laden Juden dazu ein, an verschiedenen Kulturen auf eine besondere Weise teilzuhaben. Sie laden ein zu Dialog und Differenz. In der komplexen Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen vergessen sie niemals den Anderen, während sie dennoch die Bedeutung des Eigenen hervorheben. Und in der Anerkennung des Anderen definierten und verstanden sie sich selbst besser. Weder können Deutschland oder Europa im weiteren Sinne ohne das jüdische Erbe verstanden werden,30 noch kann das Judentum sich selbst ohne den intensiven Kontakt mit der westlich-europäischen Kultur begreifen.

30 Siehe Maurice-Ruben Hayoun, Ecoute Israël,écoute, France. Sachons préserver notre héritage commun, Paris 2005.

II Hin zu einer interreligiösen Theologie

Kapitel 7 Zur Notwendigkeit der Trans-Differenz Im Anfang ist die Beziehung. (Martin Buber)1 Religion als Institution, der Tempel als höchstes Ziel, oder, anders ausgedrückt, Religion um der Religion willen, ist Götzendienst. […] Religion ist um Gottes willen. Die menschliche Seite der Religion, ihre Glaubenssätze, Rituale und Lehre sind eher der Weg als das Ziel. Das Ziel besteht darin ‚Gerechtigkeit zu üben, in Holdschaft lieben und bescheiden gehen mit deinem Gott‘. (Abraham Joshua Heschel)2

Im ersten Teil des vorliegenden Buches habe ich dargestellt, wie jüdische Philosophen ein dialogisches Denken entwickelt haben, das eine interreligiöse Theologie inspirieren könnte und habe dabei zwei Beispiel solch einer interreligiösen, interkulturellen Theologie ausgeführt. Im zweiten Teil biete ich meine eigene Sicht auf interreligiöse Theologie. In dem vorliegenden Kapitel erörtere ich, dass religiöse „Trans-Differenz“ keine Möglichkeit ist, sondern es handelt sich bei„trans-differenter“ Religiosität um ein Muss innerhalb der Konstruktion einer relationalen Identität, die wesentlich mit Anderen verbunden ist. Darüberhinaus lege ich dar, dass interreligiöse Theologie in modernen Gesellschaften als eine zivilisatorische Kraft wirkt, die den Austausch zwischen unterschiedlichen Individuen und Gruppen fördert. Nach einigen einleitenden Bemerkungen zu Religion in modernen Gesellschaften führe ich einen Überblick über neuere Forschungsarbeiten zum Verhältnis zwischen monotheistischen Religionen und Gewalt an. Danach folgt meine Kritik an der Tendenz, Religionen mit Gewalt gleichzusetzen. Zugleich verweise ich auf einen alternativen Zugang, der die destruktiven Kräfte in Religionen, welche Konflikte sowohl verursacht als auch verstärkt haben, nicht leugnet, sondern über diese Position hinausgeht und Religiosität als mögliche positive Energie präsentiert, die Spannungen mindern und Interkulturalität sowie sozial Reformen vorantreiben kann.

1 Martin Buber, Ich und Du, Stuttgart 2009, S. 18. 2 „Religion as an institution, the Temple as an ultimate end, or, in other words, religion for religion’s sake, is idolatry. […] Religion is for God’s sake. The human side of religion, its creeds, ­rituals and instructions is a way rather than the goal. The goal is ‚to do justice, to love mercy and to walk humbly with thy God.‘“ In Abraham J. Heschel, I asked for a Wonder. A Spiritual ­Anthology, hg. von Samuel H. Dresdner, New York 1996, S. 40.

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 Zur Notwendigkeit der Trans-Differenz

Die Rolle der Religionen Es ist offensichtlich, dass in der Vergangenheit Religionen nicht immer eine positive Rolle in der zivilisatorischen Entwicklung gespielt haben. In der Tat waren sie oftmals kontraproduktiv in der Zivilisationsbewegung. Zudem wird die Rolle der Religionen in modernen Gesellschaften viel diskutiert und bestritten. Doch da die Menschen sich religiös verhalten und religiöse Sprache verwenden, würde man eine großartige Gelegenheit zur Nutzung dieser treibenden Kraft der Menschheit verstreichen lassen, um eine friedliche Gesellschaft herbeizuführen, wenn man diese essentielle Dimension des menschlichen Daseins vernachlässigt. Religionen können laut Sartre eine Huis Clos Situation schaffen, in der der Andere die Hölle ist; sie können auch zu einem inklusiven „Wir“ führen, in dem die Erfahrung des Anderen als eine mögliche Bereicherung der eigenen Erfahrung erscheint. Interreligiöse Religiosität und interreligiöse Theologie stellen daher eine dringliche Aufgabe bei der Schaffung von Menschlichkeit in der Menschheit dar. In Westeuropa hat Migration, die hauptsächlich aus muslimischen Ländern stammt, definitiv die traditionelle christliche Gesellschaft verändert, und Religion spielt nicht immer eine positive Rolle bei der gegenseitigen Verständigung zwischen Immigranten und der ortsansässigen Bevölkerung. Manchmal finden harte und emotional aufgeladene öffentliche Auseinandersetzungen anhand religiöser Symbole und religiöser Bräuche in Frankreich, Deutschland und in anderen Ländern Europas statt. In diesen Debatten nehmen religiöse und säkulare Menschen sich als unversöhnliche Gegner wahr. Im Nahen Osten haben Spannungen und Konflikte zwischen unterschiedlichen Gruppen häufig religiöse Beiklänge. Und seit 9 / 11 sind sich alle Amerikaner gewiss, dass Terror auch in religiösem Gewand auftaucht. All dies zwingt uns, nach der Aufgabe der Religion in den westlichen säkularen und pluralistischen Gesellschaften zu fragen: Was ist die Auswirkung religiösen Lebens auf die heutige Zivilgesellschaft? In verschiedenen Gesellschaften wirkt Religion unterschiedlich und ihr Janus-Gesicht3 stellt uns vor eine Wahl: Religion als Ausdruck von Gewalt oder als zivilisatorische Kraft. Als Phänomen mit unbestreitbar sozialen Komponenten kann sie nicht auf ein paar „konfessionelle“ Überbleibsel und auf die Privatsphäre reduziert werden, auch wenn viele moderne Demokratien dies bevorzugen würden. Auf diese Weise hat Religion als soziales Faktum eine zivilisatorische Aufgabe, denn sonst fördert sie einen Kulturkampf. Oftmals war die Religion der Feind der Moderne, doch beinhaltet sie auch Werte, die in unseren säkularisierten 3 Diese Charakterisierung der religiösen Realität stammt von José Casanova, einem großartigen Experten der Religionssoziologie.



Die Rolle der Religionen 

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Gesellschaften von Bedeutung bleiben. Eine grundlegende Analyse der Religion als potentielle Erzeugerin von Gewalt wurde von Forschern wie Jan Assmann, Regina Schwartz und Hans Kippenberg durchgeführt, deren Denken ich weiter unten erörtere. Angesichts des häufigen Gebrauchs der Religion für politische Zwecke tendiert man dazu, die Position zu übernehmen, dass der Einfluss von Religionen so stark wie möglich reduziert werden muss, da die unterschiedlichen Glaubensrichtungen stets erbitterte Kämpfe gegeneinander ausgetragen haben, Kriege unterstützt und Öl ins Feuer vorhandener Konflikte gegossen haben. In seinem Bestseller Der Gotteswahn behauptet der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins sogar, dass es eine logische Verbindung zwischen der Akzeptanz Gottes und dem Terror gibt, und dass die Welt ohne Religion viel besser dran sei.4 Er hat die Hoffnung, dass Religion eines Tages der Vergangenheit angehören wird. Doch bleibt unklar, ob eine Welt ohne Religion weniger aggressiv wäre. Aus diesem Grund müssen moderne und postmoderne Gesellschaften ein religiöses Bewusstsein nicht ausschließen, da lebendige Religiosität ein positiver Faktor, eine Stütze der Gesellschaft sein kann, die gegen Nihilismus ankämpft und das Leben bejaht. Religion unterstützt nicht nur Fanatismus, sondern es gibt auch eine Wiederbelebung der Religiosität, die sich positiv auf die Gesellschaft auswirkt. Unter Einbeziehung der relativ neuen Umstände, die man als post-­säkulare Situation bezeichnen könnte, stelle ich die Frage, ob wir ein für alle mal religiöses Leben von der öffentlichen Sphäre lösen sollen. Vielleicht könnten Religionen jenseits des Säkularismus nicht zu einem unerwünschten Schmelz­ tiegel, sondern zu einer dringend benötigten pluralistischen Gemeinschaft beitragen, die sich durch Solidarität und die Anerkennung der Einzigartigkeit des Anderen auszeichnet. Säkularisierung als Selbstgenügsamkeit oder sogar als die Befreiung von Religionen hat scheinbar nicht länger das letzte Wort.5 Peter Berger hat seine frühere Säkularisierungstheorie verworfen und anstatt dieser bezeichnenderweise von einer Theorie der Pluralisierung der Religion gesprochen.6 Das Verhältnis zwischen Säkularisierung als einem positiven Emanzipationsprozess 4 Richard Dawkins, Der Gotteswahn, Berlin 2008; Englisch The God Delusion, Boston 2006. 5 Selbst ein Philosoph wie Habermas schreibt über Religion. Siehe Jürgen Habermas, Zwischen Nationalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 2009. Mein herzlicher Dank an Wolfram Weiße für diesen Hinweis. Die Definition der Säkularisierung als Selbstgenügsamkeit oder Befreiung von der Religion verdanke ich José Casanova, Georgetown University, ­Washington DC, den ich auf der Konferenz „Beyond Secularism? The Role of Religion in Contemporary Societies“, die vom 9. bis 10. Juli 2009 in Hamburg stattfand, hören konnte. 6 Peter L. Berger, „Die Pluralisierung der Religion in Zeiten der Globalisierung“, in Theologie im Plural. Eine akademische Herausforderung (Religionen im Dialog Bd. 1), hg. von Wolfram Weiße, Münster 2009, S. 14.

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 Zur Notwendigkeit der Trans-Differenz

und Religiosität, die Orientierung angeht, hat sich von einem Konfliktmodell zu einem Kooperationsmodell gewandelt. Auch wenn die Aufklärung Vernunft und ein anthropozentrisches Weltbild in den Mittelpunkt stellt, so ist doch Religion oder zumindest Religiosität als Suche nach dem Spirituellen wieder à la mode, wir befinden uns jenseits der Säkularisierung, in der „Ultra-Moderne“, wo die Beziehungen zwischen Staat, Gesellschaft und Religion neu geordnet werden und Traditionen sowie Institutionen neu interpretiert und kritisch evaluiert werden.7

Religion als Gewalt Vor kurzen hat Hans G. Kippenberg eine Monographie mit der Behauptung veröffentlicht, dass Monotheismus eine intolerante Form von Religiosität sei.8 Der Ägyptologe Jan Assmann hatte schon zuvor behauptet, dass der biblische Monotheismus, der zwischen falscher und echter Religion unterscheidet (die mosaische Unterscheidung), Hass und Konflikt brachte, und dass exklusiver und intoleranter Monotheismus gewaltsam sei. Er nahm diesen verborgenen Sprengstoff in den heiligen Texten des Judentums, Christentums und des Islam wahr. Götzendienst, Magie und Apostasie sind die Ziele religiöser Gewalt, welche bei religiösen Fundamentalisten sichtbar wird.9 Dieser traurigen Analyse hat Regina 7 Der Begriff „Ultra-Moderne“ stammt von Jean-Paul Willaime. Er bezeichnet die neue Stufe der Moderne, in der ein neuer Dialog zwischen Staaten, Gesellschaft und Religion stattfindet. Siehe Jean-Paul Willaime, Le Retour du religieux dans la sphère publique. Vers une laïcité de reconnaissance et de dialogue, Lyon 2008. 8 Hans G. Kippenberg, Gewalt als Gottesdienst. Religionskriege im Zeitalter der Globalisierung, München 2008. Eine Übersicht über die wichtigsten Vertreter dieser Ansicht findet sich auf S. 17–23. In seinem Buch widmet Kippenberg viele Seiten der sozio-politischen Situation in I­srael. Ich stimme mit ihm darin überein, dass eine Geophilosophie oder Geotheologie überaus problematisch ist und dass Religionen potentiell gewaltsam sind. Doch wenn Anschläge der Palästinenser als Angriffe von „Widerstandkämpfern“ (121) bezeichnet werden, ist dies dann nicht eine einseitige Sicht? Ist der Angriff auf unschuldige Menschen legitime Gewalt? Bleibt nicht Gewalt Gewalt, unabhängig davon, ob sie auf Religion basiert oder nicht? Glauben alle religiösen Juden, dass Besetzung Erlösung bedeutet (122)? Kippenberg analysiert zudem die religiöse Gewalt der Hamas, die soweit gegangen ist, die alte europäische Form des Antisemitismus zu übernehmen (133–144). Doch sollte man seinen eigenen ungenauen Übergang von „Selbstmordanschlägen“ (139) zu „Selbstmord“ (141) zur Kenntnis nehmen, sowie das Problem der moralisierenden Schlussforderung seiner einseitigen Erzählung: Israel und die Vereinigten Staaten sind nicht fähig, die „Geduld“ (144) der Hamas zu erkennen und ihr ernsthaftes Angebot einer möglichen „hudna“ (Waffenstillstand). 9 Siehe Assmanns Buch, Moses, der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998; ders., Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2003; ders., Monotheismus und die Sprache der Gewalt, Wien 2006.



Religion als Gewalt 

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Schwartz ihre eigene Interpretation von Erzählungen wie z. B. von Kain und Abel, Jakob und Esau und die Eroberung des Landes Kanaans hinzugefügt. Die Einzigartigkeit eines von Gott auserwählten Volkes, der seinem Volk Privilegien und das Recht auf ein Territorium zukommen lässt, wird als gewaltsam charakterisiert.10 Kippenberg kritisiert Assmann, dass dieser nicht radikal genug sei: das jüdische Volk habe nicht nur ein „semantisches Paradigma“ entwickelt, sondern es habe es auch durchgesetzt. Er erwähnt die Makkabäer, Mitglieder der antiken Priesterdynastie der Hasmonäer, die gegen die griechischen Herrscher kämpften und sich selbst als potentielle Märtyrer sahen, für den Fall, dass sie die Schlacht gegen die hellenistischen Herrscher und deren Kollaborateure verlieren sollten. Während Assmann seine Ansicht auf die Verbindung zwischen Monotheismus und Gewalt hauptsächlich auf Apostasie beschränkt, beobachtet Kippenberg einen religiös legitimierten Kampf gegen jene, die religiöse Autonomie vermeiden wollen in biblischen Texten. Zugleich bestreitet er Assmanns These, dass es keine Kohabitation zwischen Juden und Heiden gab. In vielen heidnischen Städten, so wendet er ein, wohnten Juden mit Heiden zusammen, die Adonai als den höchsten Gott anbeteten. Er zitiert Peter Schäfer, welcher Assmanns Vorstellung eines exklusiven Monotheismus einen Popanz nennt,11 den es historisch nicht gab. Weiter zitiert er Schäfer, der gegen Assmanns These protestiert, dass Antisemitismus die Konsequenz oder Kehrseite des ägyptischen Anti-Monotheismus gewesen sei.12 Kippenbergs letzte Schlussfolgerung lautet, dass es keinen „zwingend notwendigen Zusammenhang“ zwischen Monotheismus und Gewalt gibt. Er stimmt mit Assmann darin überein, dass man aus einer Sprache der Gewalt keinen Rückschluss auf eine Praxis der Gewalt ziehen kann. Andererseits widerspricht der Kampf gegen Apostasie und gegen gemeinsame Feinde der Behauptung, dass Monotheismus immer friedlich und Gewalt die Ausnahme sei. Seiner Ansicht 10 Regina M. Schwartz, The Curse of Cain. The Violent Legacy of Monotheism, Chicago 1997. 11 Siehe Peter Schäfer, „Geschichte und Gedächtnisgeschichte: Jan Assmanns Mosaische Unterscheidung“, in Memoria – Wege jüdischen Erinnerns. Festschrift für Michael Brocke zum 65. ­Geburtstag, hg. von Birgit E. Klein / Christiane E. Müller, Berlin 2005, S. 22. 12 Schäfer, „Geschichte und Gedächtnisgeschichte“, S. 28. Assmann verteidigte sich und nahm auf das Talmudtraktat Schabbat 89 Bezug, wo es heißt, dass als Gott die Tora auf dem Berg Zion gab, der Hass in die Welt kam; Jan Assmann, „Antijudaismus oder Antimonotheismus? Hellenistische Exoduserzählungen“, in Das Judentum im Spiegel seiner kulturellen Umwelten. Symposium zu Ehren von Saul Friedländer, hg. von Dieter Borchmeyer / Helmuth Kiesel, Neckargemünd 2002, S. 34–35. Schäfer reagierte hierauf (Schäfer, „Geschichte und Gedächtnisgeschichte“, S. 30–33), indem er widersprach, dass der Gegensatz zwischen Monotheismus und Polytheismus / ­ Kosmotheismus ein Gegensatz zwischen Judentum und anderen Religionen darstellen würde: dieser Kampf fand inmitten des Judentums statt, besonders mit der vielfältigen Gottheit in der Kabbala. Siehe Schäfer, ebd., S. 22–24.

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 Zur Notwendigkeit der Trans-Differenz

nach gibt es einen Zusammenhang zwischen Monotheismus und Gewalt, der kontingent ist – weder ist er „notwendig“ noch „unmöglich“.13 Alles hängt von der konkreten Situation einer religiösen Gemeinschaft ab. Am Ende seines Buches schreibt Kippenberg,14 dass Religionen als solche selten den Konflikt auslösen, sondern dass sie Konfliktsituationen beschleunigen und eine Märtyrerideologie entwickeln können. Er erwähnt kurz, dass Religion eine Brüderlichkeitsethik15 als Antrieb für kreative soziale Organisationen bieten könnte, doch dies ist offensichtlich nicht sein Fokus. Zusammenfassend kann man sagen, dass Wissenschaftler heute das Thema Religion als Gewalt diskutieren und dass es eine Tendenz gibt, Religion als potentiell gewaltsam zu definieren. Angesichts dessen scheint es vielfach angebracht, die Religion auf die Privatsphäre zu beschränken, sogar auf eine persönliche Präferenz. Der Glaube der Aufklärung an die Vernunft wurde von einem religiöseschatologischen Denken der Gewalt abgelöst und wir beobachten heute einen unheiligen Zusammenhang zwischen Religion und Politik. Islamische Freiheitskämpfer Palästinas, bestimmte religiöse Zionisten in den Siedlungen und Protestanten, die das Kommen des Messias infolge der Rückkehr der Juden nach Israel erwarten, verbinden ihre Glaubensgrundsätze mit Taten. Sowohl Al-Qaida bei 9 / 11 mit ihren Ideen des jihad, als auch der damalige US-Präsident George W. Bush, der einen Kreuzzug gegen die „Achse des Bösen“ führen wollte, wandten religiöse Terminologie an. Die Angreifer von Malala Yousafzai stellen sich der Bildung junger Mädchen aus religiösen Gründen entgegen. ISIS will mit Gewalt einen islamischen Staat im Nahen Osten errichten. Man versteht, warum sich Wissenschaftler jetzt mehr auf die Analyse von potentieller Gewalt in Religion und besonders messianischer Religiosität konzentrieren.16 Westeuropa hat selbst eine lange Geschichte religiöser Kriege und Gewalt, die zum Beispiel bei religiösem Antisemitismus ins Blickfeld geraten, welcher wiederum die Grundlage für einen nationalen, industriellen und mörderisch rassistischen Antisemitismus gelegt hat. Es fällt auf, dass Kippenberg in seinem Buch der Frage, wie Religion zu einer Gewaltunterbrechung beitragen kann, nur zwei Seiten widmet.17 Seine Antwort ist zu knapp, als dass sie mich zufriedenstellen könnte. Seiner Ansicht nach könnte eine Unterbrechung des 13 Kippenberg erwähnt des Weiteren, dass im Christentum und im Islam Apostaten Rechte verweigert werden, doch erkannte der Islam Juden und Christen eine Stellung als „Leute der Schrift“ zu (S. 22). 14 Kippenberg, Gewalt als Gottesdienst, S. 198–207. 15 Ebd., S. 44–45. 16 Zum Zusammenhang zwischen messianischer Religiosität (wie auch messianischer Säkularität) und Gewalt siehe u. a. Yehuda Bauer, Das unmögliche Volk, Binyamina 2013, S. 62–87 (Hebräisch). 17 Kippenberg, Gewalt als Gottesdienst, S. 206f.



Religiosität als humanisierende Kraft 

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Zyklus der Gewalt von transreligiösen Initiativen und internationalen Institutio­ nen herrühren. Darüberhinaus glaubt er, dass Juden, die in der Vergangenheit mit anderen Verträge abgeschlossen haben, eine „hudna“ der Hamas akzeptieren müssten, und religiös-islamischen Gruppen, die sich in der Wohltätigkeit engagieren, ermutigt werden sollten. All dies ist meines Erachtens zwar gut, aber weitestgehend ungenügend. Aussetzung von Gewalt ist lobenswert, doch der Gewalt mit einer aktiven Suche nach Wegen der Koexistenz zu begegnen, ist besser. Ich habe den Eindruck, dass Kippenbergs Analyse, die sich auf Gewalt auf der Grundlage von Religion konzentriert, die sanfte Kraft einer humanisierenden Religiosität, bei welcher Menschenrechte im Mittelpunkt stehen, nicht ausreichend ernst nimmt. Solch eine Religiosität steht nicht im Gegensatz zu einer politischen Sphäre, welche immer autonomer wird, sondern könnte zu einer Inspirationsquelle für unsere modernen Gesellschaften werden. Theonome Gedanken stehen nicht notwendigerweise im Gegensatz zur Autonomie unseres Alltagslebens; sie können sogar solch eine Autonomie fordern und fördern. Kippenberg endet da, wo ich beginnen würde. Sein Zugang ist zu äußerlich und sollte durch eine „innerliche“ Vision herausgefordert werden, die die zivilisatorische Kraft der Religionen anerkennt.

Religiosität als humanisierende Kraft Ich hege ernsthafte Zweifel, dass sich moderne Gesellschaften endgültig von Religionen verabschieden werden. 1,5 Millionen Exemplare von Dawkins Buch werden daran nichts ändern. Ich stimme mit Herbert Schnädelbach, der Religion als altmodisch und obskur betrachtet, nicht überein. Dieser bekannte deutsche Philosoph schreibt über den Fluch des Christentums und denkt wie Kant, dass Moralität ihre eigene Unabhängigkeit besitzt, die im Idealfall frei von religiösem Einfluss ist.18 Tatsächlich ist die Entsakralisierung und Säkularisierung ein Faktum und es ist legitim, Ethik und Werte auf der Unabhängigkeit des Menschen zu gründen, doch glaube ich, dass unsere Gesellschaften eine post-säkulare oder – in Willaimes ­Terminologie – eine „ultra-moderne“ Stufe erreicht haben, auf der Religiosität als humanisierende Kraft erneut eine wichtige Rolle spielt. Im Folgenden werde ich einige Beispiele von religiösen Ansätzen im Judentum und einige Exempel aus den drei monotheistischen Religionen anführen, die Menschen dazu anregen, gemeinsam zu leben und auf eine humanere Welt 18 Herbert Schnädelbach, Religion in der modernen Welt, Frankfurt a. M. 2009. Schnädelbach betrachtet den Islamismus als neue Form des Faschismus und glaubt, dass die jüdische Tradition für den Westen bedeutsam war.

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 Zur Notwendigkeit der Trans-Differenz

hinzuarbeiten, in der Unterschiedlichkeit nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung angesehen wird. Die angeführten Beispiele aus den abrahamitischen Religionen sind Ergebnisse inklusiven Denkens. Entgegen allen Ansprüchen auf absolute Wahrheit decken sie das ethische oder dialogische Potential in unseren religiösen Quellen auf. In einer dialogischen Hermeneutik monotheistischer Quellen repräsentieren die Akzeptanz eines Gottes (oder eines gemeinsamen Vaters), das Wechselspiel zwischen Liebe und Gesetz, die Gedanken zu Gastfreundschaft und zum Unsagbaren sowie letzten Endes die Verbindung zwischen Gottesliebe und Nächstenliebe Jahrhunderte alte Ideen, die zu einer Humanisierung unserer Gesellschaften beitragen können, welche auf kritische Weise betrachtet werden müssen. Gemeinsam mit einer dialogischen Exegese der Religionsquellen können diese inklusiven und vorwiegend trans-konfessionellen Gedanken hoffentlich zur Bildung von Gesellschaften führen, die aus dialogischen Gemeinschaften bestehen. a. Die drei monotheistischen Religionen unterstützen die erhabene Vorstellung eines Gottes für alle Menschen. Im Judentum und Christentum ist Gott ein „Vater“, wohingegen im Islam Gottes Transzendenz ihn daran hindert, ein „Vater“ zu werden. Die Existenz Gottes als gemeinsamer Vater gewährleistet nicht nur die Ebenbürtigkeit aller seiner Töchter und Söhne, sondern auch ihre Einzigartigkeit, die niemals in Allgemeingültigkeiten oder umfassendere Kategorien absorbiert werden kann. Wenn in einer gesellschaftlichen Psychose das Gesetz des Vaters verleugnet wird, hört Menschlichkeit auf und Ebenbürtigkeit wird zerstört. Jean-Gérard Bursztein hat diesen Vorgang in seinem zum Nachdenken anregenden Buch über den Holocaust offengelegt.19 Umgekehrt können Juden und Christen Brüderlichkeit als Ergebnis der Akzeptanz des gemeinsamen Vaters und Seines Gesetzes betrachten. Wenn man das väterliche Verbot „Du sollst nicht töten“ annimmt, wird Ebenbürtigkeit zwischen allen errichtet. Dies ist ein positiver Effekt von Religion. Aus dieser Perspektive bedeutet Akzeptanz des Anderen und Respekt vor anderen Menschen zugleich eine Weise, mit dem Göttlichen in Kontakt zu sein. In allen drei monotheistischen Religionen bringt einen die ethische Bewegung in Verbindung mit dem Unendlichen. Die Annahme eines Gottes ermöglicht die Einheit der Menschheit und macht zugleich die Monotheisten bescheiden, da alle anderen Menschen ebenfalls die geliebten Kinder Gottes sind und die Tatsache, dass alle „in seinem Abbild“ (Gen 1,27) geschaffen wurden, spiegelt die vielfachen Aspekte des Göttlichen wider. Freud ließ uns über die kulturelle Notwendigkeit der Akzeptanz des Vaters und seiner Gebote nachdenken. Ein eindrückliches Beispiel für die möglicherweise 19 Jean-Gérard Bursztein, Hitler, la tyrannie et la psychanalyse, Aulnay-sous-bois 1996.



Religiosität als humanisierende Kraft 

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humanisierende Kraft der Religion findet man in seinem Buch Der Mann Moses und die monotheistische Religion, welches 1939 in Amsterdam erschien.20 Dieser Band wurde von Assmann diskutiert, der – überraschenderweise nach seiner negativen Einschätzung des exklusiven Monotheismus – eine kritische Analyse und Neudefinition des mosaischen Unterschieds, welcher nicht auf festgelegten Offenbarungen beruht, unternahm. Auch sein Gegenspieler, Peter Schäfer, bespricht Freuds Werk und interpretiert Freuds Theorie als Transformation des Monotheismus anhand von Therapie.21 Ich biete meine eigene Deutung von Freuds Buch, die frei ist von Apologetik der Religion als solcher. Wenn man dieses beeindruckende Werk auf empathische Weise liest – eher als mit der Absicht zu behaupten, dass es von jemandem verfasst wurde, der mit seiner eigenen Tradition nicht zurecht kam, – kann man zu dem Schluss kommen, dass Freud in seinem ersten und letzten Buch zum Judentum in der Tat die zivilisatorische Kraft oder den Genius des Judentums offen legt. Freud reflektiert über seine eigene Identität bei dem Versuch, das zu lösen, was er als „Mysterium“ des Judentums bezeichnet. Er definiert Religion als Illusion, Obsession und Neurose, das Ergebnis kindlicher Bedürfnisse. Dies bleibt sein Standpunkt innerhalb seines ganzen Werkes, doch in seiner zweiten kritischen Betrachtung der Religion,22 Der Mann Moses und die monotheistische Religion, fasst er die kollektive religiöse Erfahrung des Judentums als Ergebnis des Triebverzichts auf, als einen Vorgang, der Kultur entstehen lässt.23 Laut Freud entscheidet sich das Judentum für das Leben, indem es das Verbot „Du sollst nicht töten“ annimmt. Die Propheten erinnerten die Juden daran, dem universalen Gott treu zu bleiben, der ethisches Verhalten einfordert.24 Das Erwählungsbewusstsein ließ sie optimistisch und selbstbewusst werden. In Freuds Analyse haben sich die Juden für das Geistige entschieden und dafür, eine Religion zu haben, die ihnen enorme geistige Kraft verleiht, dadurch, dass man sich an das „Vergessene“ erinnert, welches unvergesslich ist; sie erinnern sich an den Vatermord. Eine Reflexion wie diese bringt die verborgenen Kräfte in der jüdischen Religion ans Tageslicht, den „Fortschritt in der Geistigkeit“. Solch 20 Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Drei Abhandlungen, wurde 1955 ins Englische übersetzt mit dem Titel, Moses and Monotheism. Im Folgenden beziehe ich mich auf die Ausgabe „Der Mann Moses“ in der Studienausgabe. Band IX, Frankfurt 2000. 21 Peter Schäfer, Der Triumph der reinen Geistigkeit. Sigmund Freuds „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“, Berlin 2003. Schäfer glaubt, dass Freud sich selbst als neuen Moses und neuen Jochanan ben Zakkai betrachtete, der – nach der Zerstörung der europäischen ­Zivilisation – die letzte notwendige Transformation des Monotheismus durchführte, indem er ihn zur Therapie umwandelte. 22 Seine erste Kritik hatte er in Die Zukunft einer Illusion von 1927 formuliert. 23 Freud, Der Mann Moses, S. 563. 24 Ebd., S. 500.

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 Zur Notwendigkeit der Trans-Differenz

ein Fortschritt im geistigen Leben ist meiner Ansicht nach so stark wie die gewaltsamen Unterströmungen, die man nicht leugnen kann. Freuds Der Mann Moses und die monotheistische Religion hebt den positiven Impetus hervor, den Religion tatsächlich bieten kann, auch in unseren modernen Zeiten. Wie ich bereits bemerkte, ist die Vorstellung von Gott als Vater und der Menschen als seiner Kinder im Islam nicht vorhanden,25 doch beinhaltet auch der islamische Monotheismus zivilisatorische Kräfte, da er zur Akzeptanz der und Liebe zu Anderen führen kann. b. Eine zweiter möglicher Beitrag der abrahamitischen Religionen liegt in der Vorstellung, dass das Unbegreifbare, ein Element, das für unser gemeinsames Erbe bedeutend ist, ein Anti-Dotum zum Totalitarismus des heutigen Jahrhunderts darstellen kann. Natürlich kann das Wort „Gott“ narzisstisch gebraucht werden; es kann missbraucht werden, um die eigene uneingeschränkte Größe zu demonstrieren, doch begrenzt es auch menschliche Gewalt dadurch, dass man eine Transzendenz anerkennt, die nicht auf das Seiende reduziert werden kann. Die Anerkennung der Transzendenz, des Unaussprechlichen, kann das Bewusstsein dahin führen, dass man nicht alles beherrschen kann. Religiöse Tradition, die Transzendenz hervorhebt, kann eine Kritik an selbstgenügsamen und totalitären Gesellschaften herausbilden. c. Ein drittes Beispiel für die mögliche zivilisatorische Kraft von Religiosität liegt in der außergewöhnlichen Beziehung zwischen Gesetz und Liebe, die das Judentum charakterisiert: Gesetz ohne Liebe ist Grausamkeit, Liebe ohne Gesetz ist Anarchie. Wenn die Grenzen des Gesetzes in der Liebe verankert sind, vermeidet man die Sanktionen des Über-Egos. Das Lustprinzip verlangt daher das Reali­ tätsprinzip, welches mit dem Lustprinzip in Verbindung bleiben muss. In solch einer Neuinterpretation kann das Judentum der Menschheit eine Vorstellung der Anerkennung Gottes liefern, der liebt und zugleich Forderungen stellt.26 d. Ein viertes Beispiel für die denkbare Aufgabe religiöser Traditionen in unserem post-säkularen Zeitalter liegt in ihrer lebendingen Funktion, die Idee der Gastfreundschaft in die Tat umzusetzen. In interreligiösen Dialogen konzentriert man sich häufig auf den theologischen Inhalt. Dieser hat seine eigene Bedeutung, da er aufzeigt, wie zahlreich und vielfältig die Wege zu Gott sein können. Diese Pluralität ist nicht nur notwendig aufgrund der Tatsache, dass wir nicht selbstgenügsam sind; Anerkennung der Pluralität im Pluralismus ist die Voraussetzung für einen tiefen Zugang zum Absoluten. Das Feiern der religiösen Pluralität wendet sich gegen Ansprüche einer absoluten Wahrheit und Exklusivität und fördert inklusives Denken und Handeln. Auch wenn die Wertschätzung 25 Siehe oben, S. 154. 26 Zur Entwicklung dieser Thematik siehe Santner, On the Psychotheology of Every Day Life.



Dialogische Hermeneutik 

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theologischer Unterschiede wichtig bleibt, so ist doch die gemeinsame Anstrengung der verschiedenen Gemeinschaften mit ihren spezifischen Sprachen, um den Menschenrechten Vorrang zu geben, Gerechtigkeit und Frieden zu erreichen und Gastfreundschaft auszuweiten, vorrangig. Für die monotheistischen Reli­ gionen bedeutet die praktische Umsetzung dieser Ziele das erneute Erleben des abrahamitischen Abenteuers der Gastfreundschaft. Der Weg zu Gott wird zwangsläufig durch die Achtung der unveräußerlichen Rechte der anderen Menschen und sein Empfangen bewirkt.27

Dialogische Hermeneutik Alle Religionen können eine dialogische Hermeneutik entwickeln, die ihre Texte auf inklusive Weise interpretieren. Gewiss bleiben fanatische Interpretationen immer eine Option, doch haben Menschen ihre religiösen Schriften in spezifischen Kontexten auch auf inklusive Weise interpretiert, die zur Humanisierung der Menschheit beiträgt. Ich stelle ein Beispiel dialogischer Exegese im Sinne einer dia­ logischen Theologie vor und ein weiteres ausführliches in Kapitel 9. In der Exodus­ Erzählung der Hebräischen Bibel wird jeder Familie der Kinder Israel geboten, ein Lamm zu schlachten, es in Eile zu essen und sein Blut an die Türpfosten und obere Schwelle zu schmieren. Ex 12,13 erwähnt, dass Gott an den Häusern der Kinder Israels vorüberging (pasah), sodass deren erstgeborener Sohn verschont würde, wohingegen der Erstgeborene Pharaos getötet wurde. Das Passah-Fest, Pessach (Ex 12,43), das Fest der ungesäuerten Brote wird in Erinnerung an die Errettung Israels, des Vorübergehens Gottes (pasah, Ex 12,14) gefeiert. In der biblischen Erzählung wird Pessach von pasah (vorübergehen, überspringen, auslassen) abgeleitet. Wir wollen nun die christliche Exegese betrachten. Christen interpretieren den Exodus als Präfiguration Jesu, der das wahre Passahlamm ist. Sie leiten Pessach nicht vom hebräischen pasah, vorübergehen, auslassen, ab, sondern vom griechischen paschein, leiden. Der frühe Kirchenvater Origenes, der gut Hebräisch konnte, widersprach denen, die Pessach von paschein ableiteten. Die wissenschaft­ liche Etymologie von Pessach ist natürlich pasah: Origenes und die jüdischen Exegeten lagen aus philologischer Sicht dabei völlig richtig. Doch aus der Per­ spektive einer dialogischen Theologie und einer interreligiösen Hermeneutik wäre es unangebracht, nur eine Erklärung zu Pessach zu geben. Juden sollten akzeptieren, dass Christen die Bibel anders interpretieren, auf eine geistliche Weise, wohingegen Christen die jüdische Pessacherzählung respektieren sollten, da ihre 27 Zu einer detaillierteren Ausführung dieser Ansicht siehe Ephraim Meir, „Das Abrahamitische Abenteuer (Er)Leben“, in Theologie im Plural, hg. von Wolfram Weiße, Münster 2009, S. 33–40.

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 Zur Notwendigkeit der Trans-Differenz

eigenen allegorischen Auslegungen nur Sinn ergeben, wenn sie auch die wörtliche Bedeutung des Textes anerkennen. Eine dialogische Hermeneutik religiöser Texte wird die Pluralität der Interpretationen annehmen – sowohl auf intra-religiöse als auch auf inter-religiöse Weise. Wenn man weiterhin vom „wahren Israel“ oder der „richtigen“ oder „besseren“ Exegese spricht, bleibt man in seiner eigenen Totalität, ohne den Anderen zu erreichen. Die Akzeptanz einer intra- und interreligiösen Pluralität könnte als Beispiel für das Leben in einer Gemeinschaft dienen, in der Unterschiede zwischen den Gruppierungen akzeptiert werden. Noch immer sind polemische Interpretationen biblischer Texte weit verbreitet, doch das Bewusstsein für die gegenseitige Bezogenheit all derer, die dieselben Texte interpretieren, kann zu mehr Verständnis und einer vollständigen Akzeptanz des religiös Anderen führen. Die alte Konzeption der noachidischen Gebote28 ließ eine positive Bewertung der Nicht-Juden zu, indem sie bestimmte ethische Gesetze einhalten. Aus jüdischem Blickwinkel öffnet das Gebot „Halte lieb deinen Genossen dir gleich“ (Lev 19,18 nach Buber) in seiner weitest möglichen Auslegung, als auch das Gebot der Fremdenliebe (Lev 19,34) die Tür zu einer dialogischen Hermeneutik. Ich schließe daraus, dass Religion und insbesondere der Monotheismus daher nicht nur ein Problem darstellt. Sie kann Indoktrination und Zwang hervorbringen. Doch ist sie vor allem eine Chance. Wenn Gerechtigkeit in den Religionen im Mittelpunkt steht, dann werden sie einen positiven Beitrag zur Zivilisation und der Stabilität unserer Gesellschaften leisten. Aus monotheistischer Sicht ist die Anerkennung der Einzigartigkeit jeder religiösen Gruppe eine Folge des Glaubens an einen Schöpfer, der offensichtlich Vielfalt beabsichtigt. In einem globalen Bewusstsein ist der Andere lediglich ein anderes Ich und das Fremde ist letztlich bekannt, aber man kann auch ein universelles Bewusstsein entwickeln, in dem die Andersheit nicht beseitigt wird, sondern vielmehr eine Voraussetzung darstellt, um ein vollständiges Bild höherer Wirklichkeiten zu erhalten.29

Hin zur Trans-Differenz Die Unterschiede zwischen den drei monotheistischen Religionen bleiben in Kraft, doch bilden verschiedene Häuser noch keine ganze Straße oder eine ganze Stadt. Von Denkern wie Emmanuel Levinas oder Jacques Derrida lernen wir, die Andersheit gegenüber der Gleichheit zu schätzen und auch die Andersheit in uns selbst zu entdecken. Ich möchte dies gerne bestätigen und über die Unterschiede hinausgehen, um eine Haltung der Kommunikation, des Austausches, 28 Tosefta Avoda Zara 8,4; Babylonischer Talmud Sanhedrin 56b. 29 Die Unterscheidung stammt von Eric Santner.



Hin zur Trans-Differenz 

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der Koexistenz und der Interaktion zu entwickeln. Die Anerkennung der Unterschiede an sich kann auch Vorherrschaft, Eigeninteresse und die Vernachlässigung des Gemeinsamen mit sich bringen. Mit dem Ende dessen, was Lyotard die „großen Narrative“ nennt, beobachten wir eine Multikulturalität und Interkulturalität. Intrakulturalität ist nicht kulturell genug. Eines Tages können wir Juden, Christen und Muslime in unseren Städten begegnen und Kirchen sind nicht länger die einzigen Gotteshäuser in Deutschland und Frankreich.30 Identitäten sind dynamischer geworden aufgrund der Präsenz des Anderen und des täglichen Umgangs mit ihm oder ihr. Wir erfahren mehr über den Anderen, über sie und mit ihr. Wir lernen, uns nicht voreinander zu fürchten. Man kann sogar die Identitäten wechseln, wenn die alte Identität nicht länger passend ist, oder man übernimmt frei Elemente der anderen Religionen. Man ist nicht man selbst, sondern man wird zu sich selbst. In solch einem Zusammenhang brauchen wir nun eine „Trans-Differenz“, welche als gemeinsame Grundlage zwischen uns vermittelt, ohne die unleugbaren Unterschiede zu übersehen, die bleiben.31 Wenn man berücksichtigt, dass das Ziel der Religion nicht die Trennung, sondern die Kultivierung der Nähe zu Anderen ausmacht, dann können wir entdecken, was uns verbindet, was die universale Dimension in einzelnen Religionen ausmacht und wie religiöser Humanismus andere Formen des Humanismus in der modernen Gesellschaft fördern kann. Die Wiederentdeckung solch einer gemeinsamen Basis wird einen neuen Dialog zwischen religiösem und öffentlichem Leben ermöglichen. Ich schlage vor, solche Begrifflichkeiten wie „Leitkultur“ oder vorherrschende Kultur wegzulassen, welche zwanghaft, patriarchalisch und kolonial anmuten; der Traum von einer homogenen Kultur stellt in unserem postkolonialen Zeitalter eine gefährliche Fantasie dar. Der Begriff impliziert ein Zuviel an Assimilation und Nichtachtung der Andersheit und zollt der Notwendigkeit einer Dissimilation oder Eigenständigkeit von Untergruppen keinen Respekt. Andererseits sollte man auch nicht zu stark die Eigenständigkeit hervorheben, welche möglicherweise einen Ethnozentrismus und gesellschaftliche Ghettos hervorbringt und letzten Endes eine universale Teilhabe an einer allgemeinen Gesellschaft verhindert. 30 Zur Pluralisierung von Religion in unserem globalen Zeitalter siehe Berger, „Pluralisierung der Religion in Zeiten der Globalisierung, S. 13–19. 31 Ich benutze diesen Begriff nicht als Bruch mit binärem Denken, außerhalb klar unterschiedener Differenzen (Mann – Frau, Osten – Westen) und in Entscheidung für ein „drittes“, namentlich Fluidität als Zusatz zu den bestehenden Unterschieden. Zu solch einer Definition von Trans-­ Differenz siehe Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz, hg. von Lars Allolio-Näcke / Britta Kalscheuer / Arne Manzeschke, Frankfurt a. M. 2005. Bei Umgang mit dem Begriff „Trans-Differenz“ nehme ich Veränderlichkeit und vielfache Zugehörigkeit in religiosis in Rechnung.

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 Zur Notwendigkeit der Trans-Differenz

Ich verwende den Terminus „Trans-Differenz“ um die Bewegung zu bezeichnen, die eine Einheit unter Berücksichtigung der Unterschiede schafft und sowohl eine absolute Assimilation als auch eine extreme Dissimilation vermeidet. Die Realisierung einer „trans-differenten“ Gesellschaft schließt die Schaffung angemessener gesellschaftlicher und politischer Strukturen mit ein, als auch Gesetze für alle. Ihr Ursprung liegt jedoch in der Ethik, die Verantwortung für den Anderen, der anders ist als ich und mit dem ich im Gespräch bin, möglich macht.32 In den Vereinigten Staaten beobachten wir eine Multikultur oder einen Commonwealth von Kulturen. In Frankreich betrachtet man einen Menschen eher als Individuum innerhalb von Transkultur. Nordeuropäische Staaten wählen eine multikulturelle Perspektive, in der Menschen als gruppenzugehörig eingestuft werden. In der von mir vorgeschlagenen „Trans-Differenz“ kann man über Multikultur, die verschiedene Untergruppen respektiert, hinausgelangen wie auch über eine Transkultur, die den Einzelnen als Teil einer größeren Gruppe anspricht.33 Der Vorteil des Begriffs „Trans-Differenz“ liegt darin, dass man sowohl die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten berücksichtigt, das konkret Partikulare und die Interaktion. Auf diese Weise vermeidet man eine Assimilation, die blind gegenüber dem Partikularen ist, und eine Dissimilation, die autoritär wird und den Menschen auf seine Vorfahren reduziert. In der „Trans-Differenz“ erkennt man das Partikulare an und gelangt über es hinaus.

Religion als Sozialkritik und Verteidigung der Menschenrechte Mit dem vorher Gesagten will ich keineswegs eine einfache Rückkehr zu traditionellen Religionen propagieren, noch möchte ich einen neo-traditionellen Zugang zu ihnen vertreten. In unseren Gesellschaften beobachten wir sowohl häufig Religionswechsel von der einen zu der anderen Religion (Religionen zur Auswahl), als auch eine Religiosität ohne feste Zugehörigkeit und Synkretismus. All diese Phänomene zeigen das Ende der absoluten Vorherrschaft traditioneller Religiosität an. Es gibt eine größere Freiheit in religiösen Lebensstilen und deren Praxis als jemals zuvor. In unseren postsäkularen Gesellschaften erfüllen religiöse Spiritualität und ihre Werteagenda wieder eine Funktion: sie ist 32 Ich begreife Verantwortung als Synonym zu „Toleranz“ in seinem etymologischen Sinne als „tragen“ (tollere) des Anderen. 33 Zur Erhellung der Begriffe von „Multikultur“ und „Transkultur“ siehe Jacques Demorgon /  Hagen Kordes, „Multikultur, Transkultur, Leitkultur, Interkultur“, in Interkulturell Denken und Handeln. Theoretische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis, hg. von Hans Nicklas /  Burkhard Müller / Hagen Kordes, Frankfurt a. M. 2006, S. 27–36. Demorgon und Kordes verwenden den Terminus „interkulturell“ parallel zu meiner „Trans-Differenz“.



Religion als Sozialkritik und Verteidigung der Menschenrechte 

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bedeutsam im Kampf gegen Relativismus, Anonymität, Gleichgültigkeit und fehlende Solidarität. Natürlich ist Nostalgie für ein präsäkulares Zeitalter noch immer in fundamentalistischen Kreisen vorhanden, die sich nach religiöser Kontrolle sehnen, aus welcher die Säkularisierung unsere Gesellschaften befreit hat. Doch ist Religiosität, die Säkularisierung respektiert und über diese hinausgeht, eine weitere Option. Vor dem Hintergrund der Erneuerung der Religiosität sowohl mit ihren positiven als auch mit ihren negativen Aspekten sinniere ich über die Zivilisation nach, zu welcher Religionen beigetragen haben und auch weiterhin beitragen werden.34 In Westeuropa kämpften liberale Demokratien gegen die Kirchen für Freiheit und Gleichheit für alle. Der Krieg zwischen Religionen und das Unterdrückungsverhalten der vorherrschenden Religion kann als Erbe Europas angesehen werden. Aus historischer Sicht war Religion häufig ein Instrument, das durch politische Hände kontrolliert wurde. Bereits im 17. Jahrhundert hatte Baruch Spinoza den Eindruck, dass die Trennung von Religion und Staat ein gutes Prinzip darstelle. Religiöser Dominanz und Indoktrination wie auch der Vermischung von Politik und Religion wurde durch die Erschaffung demokratischer Gesellschaften entgegengewirkt, welche den Einfluss der Religionen im öffentlichen Bereich so weit wie möglich einschränkten. Kritik von Seiten der Philosophie war auch beim Kampf gegen absolute religiöse Wahrheitsansprüche hilfreich. Doch sind politische Strukturen und Philosophien alles andere als vollkommen und sie sind gleichfalls nicht frei von Gegensätzen und Gewalt. Gewalt rührt nicht allein von Religion her. Mein Standpunkt ist der, dass die Religion das Potential hat, eine kritische Funktion in unseren modernen pluralistischen und autonomen Gesellschaften einzunehmen.

34 Oft sind radikale Neuinterpretationen jenseits strikter Orthodoxie in diesem Prozess notwendig. So eröffnet z. B. Mohammed Arkoun im Bereich des Islam das Ungedachte und das Undenkbare jenseits eines festen orthodoxen Rahmens. Zur Übersicht über sein Bemühen, die islamische Geschichte von dogmatischen Konstrukten zu lösen, siehe sein The Unthought in Contemporary Islamic Thought, London 2002. Siehe auch Ursula Günther, „Mohammed ­Arkoun: Towards a ­Radical Rethinking of Islamic Thought“, in Modern Muslim Intellectuals and the Qur’an, hg. von Suha Taji-Farouki, London 2004, S. 125–168; dies., Mohammed Arkoun. Ein moderner Kritiker der islamischen Vernunft, Würzburg 2004. Des Weiteren nehme ich Bezug auf Nasr Hamid Abu Zaid (1943–2010), besonders seine humanistische Hermeneutik des Koran und seine liberale Interpretation des Islam. In der christlichen Tradition „rettete“ Lessing vergessene oder unterdrückte Stimmen wie die des Reimarus gegen den konservativen Pastor Goeze; siehe Michel Espagne, „Lessing et les héretiques“, in Haskala et Aufklärung. Philosophes juifs des Lumières allemands. Review Germanique internationale 9 (2009), S. 133–145. Im Judentum hat Levinas die jüdische Tradition radikal als eine der Gastfreundschaft interpretiert. Siehe Ephraim Meir, Levinas’s ­Jewish Thought. Between Jerusalem and Athens, Jerusalem 2008.

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 Zur Notwendigkeit der Trans-Differenz

Kooperation zwischen den monotheistischen Religionen ist in unserem Zeitalter des Internet und der globalen Kommunikation, in dem wir immer mehr Interaktion zwischen Menschen erfahren, eine Notwendigkeit. In meinen Augen hängen das Verschiedene, das in der Transkultur nicht assimiliert werden kann, und das Gemeinsame, das in der Multikultur nicht angemessen anerkannt wird, zusammen. Martin Bubers dialogisches Nachdenken über die Sphäre des „zwischen“ ist in dieser Hinsicht überaus hilfreich.35 Man muss sich nicht für eine Einzigartigkeit zu Ungunsten der Anderen entscheiden. Für Buber ist „Geist“ das „zwischen“ unterschiedlicher Individuen und Gruppen. „Trans-Differenz“ wird ebenso zwischen dem Selbst und dem Anderen verwirklicht, zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, zwischen dem Partikularen und dem Universalen. „Trans-­ Differenz“ zwischen Religionen kommt in einer Interaktion zwischen Religionen in ihrer Funktion innerhalb einer weiteren säkularen Gesellschaft zum Ausdruck. Anstatt zu tolerieren, zu ghettoisieren, privatisieren oder Religion zum Dämonen zu machen schlage ich eine neue und kreative dialogische Interaktion zwischen der säkularen Gesellschaft und religiösen Kulturen als auch einen neue Sphäre der Interaktion zwischen dem Universalen und dem Partikularen vor. Selbstverständlich kann man bei der Diskussion um das Verhältnis zwischen Religion und Staat Europa nicht mit den Vereinigten Staaten vergleichen, und beide unterscheiden sich wiederum vom Nahen Osten. Doch die Rückkehr der Religiosität ist in all diesen Teilen der Welt eine Tatsache. Auch wenn im Nahen Osten Religion nicht häufig den Frieden fördert, gibt es doch religiöse Menschen, Juden und Muslime, die sich bewusst sind, dass das Wort „Frieden“ (Shalom / Salam) einer der Namen Gottes ist. Darüberhinaus kenne ich progressive religiöse Kreise, in denen die Förderung des Friedens hohe Priorität hat. Es wurde noch nicht genug geschrieben, um den positiven Einfluss der Religio­ nen bei Konfliktmanagement festzusetzen.36 Religion kann wie in der Antike, wenn der Prophet den König falls nötig kritisierte, wieder eine kritische Funktion erfüllen. Auf diese Weise kann man in den Straßen Teherans „Gott ist groß“ als Protest gegen das theokratische Unterdrückungsregime hören. Dieser mutige Ruf nach Freiheit kommt aus den Mündern solcher Menschen, deren Religiosität nicht geleugnet werden kann. Zu oft hat Religion die Seite der Macht gewählt und somit wurden Theokratien in der Geschichte zu häufig vorherrschend, besonders in der Geschichte des christlichen Europa. Doch zugleich kann man die zivilisatorischen Kräfte der Religionen nicht leugnen, die sich in ihren ethischen und 35 Martin Buber, Ich und Du, S. 38. 36 Siehe Ben Mollow / Ephraim Meir / Chaim Lavie, „An integrated Strategy for Peacebuilding: Judaic Approaches“, Die Friedenswarte. Journal of International Peace and Organization 82, 2–3 (2007), S. 137–158.



Religion als Sozialkritik und Verteidigung der Menschenrechte 

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spirituellen Werten manifestieren. Diese uralten Kräfte können in unseren postmodernen Zeiten wieder relevant werden. Die Maßstäbe unserer modernen Demokratien und der Menschenrechte gehen mit alten Werten wie Gleichheit und Brüderlichkeit, die traditionell von Religionen übermittelt werden, Hand in Hand. Religiöse Traditionen wie auch Religiosität ohne Religion können in der Tat Werte bestätigen und übermitteln, die unsere modernen demokratischen Gesellschaften schätzen. Wichtig ist auch, dass sie einen kritischen Blick auf politische und soziale Ideologien öffnen und so helfen können, Anonymität, ökonomischem Egoismus, engstirniges nationalistisches Verhalten und dem Mangel an Solidarität entgegenzuwirken. Säkularisierung ist als eine positive Entwicklung anzusehen, doch die Autonomie des Sozialen und Politischen schließt ein erneuertes kritisches Verhältnis zwischen der religiösen und der öffentlichen Sphäre nicht aus. „Trans-Differenz“ ist als die Möglichkeit, das Gleiche und das Andere zusammenzuführen, in den Religionen und in der Gesellschaft im Ganzen notwendig.

Kapitel 8 Konstruktion einer religiösen Identität In der Verantwortung wird das Subjekt im Innersten seiner Identität sich fremd – in einer Entfremdung, die nicht aus dem Selben seine Identität auslaufen läßt, sondern die ihn durch eine unabweisbare Vorladung zu seiner Identität zwingt – es wird zu seiner Identi­ tät gezwungen als Person, worin niemand es ersetzen kann. Einzigkeit, außerbegrifflich, Psychismus als Keim des Wahnsinns, Psychismus als Psychose, nicht ein Ich, sondern ich, der Vorgeladene. Vorladung zur Identität wegen der Antwort zur Verantwortung, in der man sich nicht ersetzen lassen kann, ohne schuldig zu werden. Auf dieses unnachgiebig zwin­ gende Gebot ist die einzige Antwort: ‚hier, sieh mich‘, bei der das Pronomen ‚ich‘ im Akkusa­ tiv steht, gebeugt schon vor jeder Beugung, besessen durch den Anderen, krank, identisch. Hier, sieh mich – Sagen der Inspiration, die nicht die Gabe schöner Worte oder Gesänge ist. Zwang zum Geben, mit vollen Händen, und folglich zur Leiblichkeit. (Emmanuel Levinas)1 Was dir verhasst ist, das tue auch deinem Nächsten nicht an. Das ist die ganze Tora und alles andere ist Erläuterung. Geh hin und lerne sie. (Hillel der Ältere im babylonischen Talmud, Schabbat 31a)

Heute enthalten Regale in Buchhandlungen eine Reihe von Bänden über die Her­ ausbildung von Identität. Sie beschreiben, wie unsere Zeit ein Zeitalter der Indi­ vidualisierung, Pluralisierung, Globalisierung und Virtualisierung ist. In dieser Epoche sind traditionelle Identitäten immer problematischer geworden, da die Menschen gleichzeitig in unterschiedlichen Kontexten leben, und die einheit­ lichen Weltanschauungen der einst dominanten Meta-Narrative immer weniger Einfluss auf zeitgenössische, postmoderne Menschen ausüben. Häufig sind die traditionellen sozialen Rahmenbedingungen der Familie oder des Staates nicht länger der Kitt, der die Menschen zusammenhält. Kinder müssen mit zwei oder drei „Vätern“ oder ohne Väter zurechtkommen. Nationalstaaten sind pluralistisch geworden und ein türkischer Neudeutscher kann sich eher türkisch als deutsch fühlen oder eher deutsch als türkisch. Menschen sind mobiler geworden, sind jedoch weniger in Kontakt miteinander. Unter dem Druck der wirtschaftlichen Globalisierung haben viele ihre ursprüngliche Heimat verlassen und versuchen, sich in anderen Ländern zu akklimatisieren. Die Veränderungen in der Gesell­ schaft haben zu Änderungen im Hinblick auf die Identität geführt. In diesem Kapitel werde ich über die Auswirkungen dieser dramatischen gesellschaftlichen

1 Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. von Thomas ­Wiemer, Freiburg i. Br. / München 1992, S. 310–311; franz. Original Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, The Hague 1978, S. 180–181.



Autonomie und das Bedürfnis nach Anerkennung 

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Veränderungen und die daraus resultierende Identitätssuche und religiöses Selbstverständnis reflektieren.2

Suche nach und Herausbildung von Identität Um mit den Unsicherheiten unserer spätmodernen Gesellschaft fertig zu werden, könnte man versucht sein, in eine sichere, fundamentalistische Welt zu fliehen, in der keine Zweifel die Erlaubnis haben einzutreten und Autoritäten noch immer Autoritäten sind. Aber das ist keine ernsthafte Option für Menschen, die ihren kritischen Geist, ihre Autonomie und ihr Gewissen behalten wollen. Ohne Identi­ tät zu sein ist eine weitere Möglichkeit der Flucht vor der eigenen Identität; es ist ein selbstzerstörerischer Weg, weil man sich seiner eigenen Konkretheit nicht entziehen kann. Man kann nicht ohne Identität leben, auch wenn Identität nicht mehr so essentialistisch ist wie in vormodernen Zeiten, als die Menschen in einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft feste Rollen hatten, die von der Kirche oder einer anderen religiösen Institution sanktioniert wurden. Identität ist heute ein menschliches Konstrukt geworden.3 In einer mehr und mehr fragmentierten Welt bilden Menschen ständig ihre Identität und konstruieren sie; sie formen sie und formen sie um. Sie erzählen ihr Leben und erzählen es erneut, indem sie Ereignisse interpretieren und kausale Beziehungen zwischen ihnen herstellen. Auf diese Weise meistern die Menschen irgendwie ihr Leben und streben wei­ terhin nach Einheit in sich selbst. In ihren Lebensgeschichten erfahren sie sich selbst als Innerlichkeit, die beibehalten wird, auch wenn die äußeren Situationen sich ständig ändern. Identität ist zu einem dynamischen Unternehmen geworden und ihre Schaffung ist eine lebenslange Aufgabe.

Autonomie und das Bedürfnis nach Anerkennung Bei der permanenten Suche nach Identität erkennen die Menschen, dass sie die Urheber ihrer eigenen Handlungen und für die Lebensoptionen, die sie gewählt haben, verantwortlich sind. Die Zeiten, in denen Individuen eine unbewegliche 2 Zu einer Darstellung der Problematik von Identitätskonstruktionen siehe Heiner Keupp /  Thomas Ahbe / Wolfgang Gmür / Renate Höfer / Beate Mitzscherlich / Wolfgang Kraus / Florian Sraus, Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Hamburg 1999. 3 Zu einigen bekannten Beispielen komplexer Identitätskonstruktionen, die mit „hinüberge­ hen“, „Zwischensein“, Fluidität oder Hybridität verbunden sind, siehe Identität und Unterschied. Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz, hg. von Christian Alvarado Leyton / Philipp Erchinger, Bielefeld 2010, S. 37–70.

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 Konstruktion einer religiösen Identität

Identität besaßen, die eine stabile und feste Grundlage für alle Zeiten bot, sind definitiv vorbei. Aber das postmoderne Individuum, das unternehmend ist und sich als ein Sein mit endlosen Möglichkeiten entwickelt, will auch sein eigenes Haus, einen Ort, wo man „bei sich selbst“ ist, wo man sein Lebensprojekt realisieren kann und ein Gefühl der Einheit und ein Gefühl der Anerkennung durch Andere erfährt. Man schafft ein Zuhause, aber das Haus ist immer Teil einer weiter angelegten Land­ schaft. Nach wie vor sehnen sich Menschen, die ihr eigenes kulturelles Haus bauen, nach Anerkennung durch Andere. Dies liegt in der menschlichen Existenz. Parado­ xerweise kann man nicht zu einer gewünschten Autonomie gelangen ohne Bezie­ hung mit und die Abhängigkeit von Anderen.

Problematische und gesunde Meta-Narrative Bei der anhaltenden Suche nach Identität wird man in Westeuropa mit den großen Narrativen von Judentum, Christentum, Islam oder Buddhismus konfron­ tiert. Da die Menschen heute flexibler sind als je zuvor, können sie eine andere Religion wählen als die, in der sie aufgewachsen sind. Es gibt Leute, die glauben, dass eine Veränderung des kulturellen und religiösen Klimas zu einem erfolgrei­ chen Aufbau ihres Lebens beiträgt. Unter denen, die diese Lebensoption wählen, welche nicht überall eine akzeptierte Entscheidung ist, ist die Neigung, all das Gute in der neuen Religion und all die schlechten Dinge in der ehemaligen, jetzt aufgegeben Religion zu sehen, greifbar. Die Realisierung dieser Option, in der man sein Leben neu gestaltet und erzählt, lässt häufig das Gefühl eines neuen „wir“ entstehen, das zu „allen Anderen“ im Gegensatz steht, was zu einem hohen Potenzial für psychische Instabilität führt. Andererseits kann man die Sehnsucht des Konvertierenden und seine Suche nach Sinn in einer Welt ohne Wurzeln oder Traditionen positiv bewerten. Solche Personen suchen nach einem passenderen Rahmen und nach einer Gesellschaft, in der sie sich selbst erkennen und entwi­ ckeln können. Sie bringen sich in eine größere Gemeinschaft ein, von der sie ein Teil geworden sind. „Wähle Deine Identität“, was sie getan haben, ist zu einem bekannten Slogan geworden. Unabhängig davon, ob man beschließt, in der Religion, in der man geboren und aufgewachsen ist, zu bleiben oder sich für eine passendere Alternative entscheidet, sind die Narrative der großen Religionen nicht mehr selbstver­ ständlich, weder für diejenigen, die in der väterlichen oder mütterlichen Reli­ gion verbleiben, noch für diejenigen, die den Übergang von einer Religion zur anderen vollziehen. Durch Migration, die meist aus wirtschaftlichen Gründen entsteht, und durch den täglichen Kontakt und den Dialog mit vielen verschie­ denen Menschen, werden traditionelle Beziehungen und Werte immer weniger



Problematische und gesunde Meta-Narrative 

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verbindlich und verpflichtend; sie werden sogar überdacht, selektiv ausgewählt oder einfach in Frage gestellt. Der einzelne wählt häufig zwischen verschiede­ nen Lebensmodellen.4 Auch im Rahmen der großen Religionen suchen Anhänger nach ihrem eigenen Platz unter der Sonne, nach ihrem eigenen „Zuhause“ in der Religion, der sie angehören. Sie entscheiden sich kreativ für das Denksystem, das ihnen am besten passt. So kann zum Beispiel ein Jude sich mit dem rationalistischen Denken Maimonides wohler fühlen oder mit dem eher ethnozentrischen Ansatz von Jehuda Halevi. Er kann ein Chassid werden und von Gottes „Fühlen“ und der menschlichen Sympathie mit diesen Gefühlen erzählen, doch kann er auch ein rationalistischer „mitnaged“ werden, der sich jeder sentimentalen Form von Religion entgegenstellt. Er kann religiös oder säkular werden, und wenn er reli­ giös ist, so kann er ein Reformjude, ein Rekonstruktionist oder ein orthodoxer Jude werden. Auf die gleiche Weise kann ein Muslim ein Sufi mit universeller Liebe sein, oder er kann Teil einer extremistischen Gruppe werden. Ein Christ kann Sympathie für die Befreiungstheologie à la Dorothee Sölle empfinden oder sich eher mit der Theologie Luthers, Schleiermachers oder Barths wohl­ fühlen. Die Pluralisierung innerhalb der großen religiösen Systeme ist daher eine Tatsache, und in einer Religion sind verschiedene Optionen möglich. Je pluralistischer eine Gruppe ist, desto gesünder ist ihr Meta-Narrativ. Auch ist die Möglichkeit für einen geschlossenen Lebensstil, in dem man die Anderen in der eigenen Religion oder in anderen Religionen als bedrohlich ansieht, vorhanden, aber das ist nicht die beste Wahl. Leider sind problematische Meta-Narrative ziemlich häufig. Die Zugehörigkeit zu einer Religion ist nicht mehr selbstverständlich. Auf jeden Fall bleiben die Sehnsucht und notwendige Suche nach Orientierung, Kohä­ renz und Teilhabe an einer gemeinsamen geistigen Welt in den vielen unterschied­ lichen Lebensstilen, die heute zur Verfügung stehen, ein wirkliches Anliegen des postmodernen Menschen. Religionszugehörigkeit ist ein Ausdruck der Identität einer Person, die die Werte einer missionarischen Religion annehmen kann oder sich für eine nicht-expansive Religion entscheidet, die nicht danach strebt, das Anderssein in einer allumfassenden Gesamtheit zu absorbieren.

4 Heute fragt man sich, wie Tertullian über die „anima naturaliter christiana“ schreiben konnte, als ob das Christentum der natürliche Zustand der Menschheit war. Die Anerkennung der Viel­ falt und der Legitimität der Religionen ist ein Ergebnis des Standpunktes, dass die Religion ein menschliches Phänomen ist, das in einer Vielzahl von Kulturen auftaucht Siehe Peter Antes, „Religion“, in Religion in Geschichte und Gegenwart. Band 7 R-S, hg. von Hans-Dieter Betz u. a., Tübingen 2004, Sp. 274: „[…] Religion im Sinne eines Menschheitsphänomens, das in allen ­Kulturen anzutreffen ist.“

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 Konstruktion einer religiösen Identität

Die Aufrechterhaltung der Einheit in vielfachen Situationen Eines der vorhandenen Probleme besteht darin, wie eine Person zur Einheit gelangen kann, während sie zugleich an zahlreichen Erfahrungen teilhat. Eine Person hat mehrere Teilidentitäten, die sie verwalten muss, um das Gefühl zu haben, dass ihr Selbst dennoch „eins“ ist in allen wechselnden Situationen, die die Realisierung von Teilidentitäten verlangen. Man kann sich kontinuierlich verändern im Aussehen, in der Kleidung, durch das Spre­ chen verschiedener Sprachen, durch das Leben in verschiedenen Kontexten und durch die Übernahme unterschiedlicher Verhaltensweisen, aber es bleibt dennoch ein Rest des Selbst, das gegeben ist und das gewährleistet, dass eine Person, ungeachtet großer Fluidität und Vielfalt, sich als „eins“ fühlt.5 Wenn eine Person nicht nur ein Schauspieler ist, handelt sie aus einem Gefühl der Einheit heraus. Wie ich erwähnt habe, drücken Menschen ihr Gefühl der Einheit in der Konstruktion von Lebensgeschichten aus. In solchen Erzählun­ gen präsentiert man sich, wie man sich selbst sieht, und nimmt Bezug darauf, wie Andere einen wahrnehmen. Lebensgeschichten bieten somit ein zusam­ menhängendes Bild des Ich.

Dialog zwischen dem Selbst und dem Anderen In biographischen Erzählungen präsentieren Einzelpersonen ihre eigene Identi­ tät. Aber es ist offensichtlich, dass die eigene Identität nicht ohne Andere, die das „Ich“ als „Mich“ wahrnehmen, gebildet werden kann. Bei der komplexen Suche nach sich selbst kann eine Person nicht anders, als sich auf Andere zu beziehen, die sie sehr oder weniger oder überhaupt nicht zu schätzen wissen. Ihre Existenz ist notwendigerweise eine Koexistenz. Ihr Ich ist ein Ich in Bezie­ hung. Bei einem gelingenden Lebensstil wird das Ich ein Ich im Dialog mit dem Nicht-Ich.6 In vielen sich verändernden Situationen kann man sich als Ergebnis der Interaktion mit Anderen betrachten. Auf diese Weise trifft man zum Beispiel die Entscheidung Vater zu werden, doch die Kinder selbst definieren jemandes Status als Vater. Man kann heiraten, aber sobald man verheiratet ist, hört man auf, sich als alleinstehend zu verhalten, weil man Verantwortung für den Partner hat. Man kommt zu dem Konzept des Selbst durch den Anderen; in der Beziehung zu Anderen wird das Ich zum Ich. Der Einzelne findet im Dialog mit Anderen 5 Wie ich oben erwähnte, existiert das Selbst als separate Einheit natürlich nicht in der buddhis­ tischen Erfahrung. 6 Buber, Ich und Du, S. 29.



Dialog zwischen kollektiven Egos 

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seine Bestimmung. Eine gelingende (religiöse) Identität ist daher meines Erach­ tens die, die Alterität berücksichtigt.

Dialog zwischen kollektiven Egos Was für den Einzelnen zutrifft, der seine Identität im Dialog mit Anderen kon­ struiert, gilt auch für das kollektive Ich. Aus dieser Perspektive nimmt sich keine gesunde Religion als isolierte und geschlossene Gruppe wahr. Die Gesundheit der Religion kann an dem Maß, mit dem sie auf Andere Bezug nimmt, gemessen werden.7 Theologisch formuliert wird dies so: Statt absoluter Wahrheitsansprü­ che entwickeln authentische Religionen die „trans-differente“ Fähigkeit, auf das zu hören, was andere Religionen über die unaussprechliche Wirklichkeit, die ihre Existenz verursacht hat, zu sagen haben. Anders formuliert kann dies bedeuten: Die verschiedenen Religionen erfüllen ihre Aufgaben nur dann, wenn sie sich als Teil des gemeinsamen Projekts der Bezeugung der höheren Wirklichkeit fühlen, die niemals erschöpfend artikuliert oder ein für alle Mal dogmatisch festgelegt werden kann. Religiosität als das Gefühl, sich auf einen Gott zu beziehen, Seine Kinder zu sein, Prinzessinnen und Prinzen des großen Königs,8 wird in den Meta-­ Narrativen sowohl der jüdischen als auch der christlichen monotheistischen Reli­ gion geteilt. Die Konstruktion eines religiösen Narrativs kann pathologisch sein, wenn „wir“ im Gegensatz zum „sie“ steht. Sie kann problematisch werden, wenn das „wir“ der Meinung ist, dass es jedes „nicht wir“ absorbieren oder sich ihm ent­ gegenstellen muss. So betrachtete zum Beispiel der Marcionismus, der von der Kirche verurteilt wurde, aber in der gesamten Geschichte des Christentums ein­ flussreich blieb, das Alte Testament als problematisch. Diese sektiererische Bewe­ gung sah sich in Opposition zu Anderen. Auf parallele Weise wurde häufig die christliche Identität auf der Negativfolie des Judentums herausgebildet: sie ver­ stand sich als universelle Religion im Gegensatz zu jüdischer Spezifität, als eine Religion der Gnade gegenüber einer Religion des Gesetzes. Die beiden Religionen wurden oft einander gegenübergestellt, als ob das Judentum einen Gott des Zorns verkünde und das Christentum einen Gott der Liebe, als ob Juden eine Religion des Kadavergehorsams hätten und Christen eine der freien Personen. Die Diskon­ tinuität zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart wurde hervorgehoben, 7 Siehe Ephraim Meir, „The Contributions of Modern Thought to a Psychoanalytic Phenomeno­ logy of Groups“, Psychoanalysis and Contemporary Thought 19,4 (1996), S. 563–578. 8 Buber, Die Legende des Baal Schem, Frankfurt a. M. 1922, S. 32: „Das größte Böse ist, wenn du vergisst, dass du ein Königssohn bist.“

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 Konstruktion einer religiösen Identität

je weiter das Christentum schrittweise entjudaisiert wurde und die beiden Reli­ gionen systematisch einander gegenübergestellt wurden. Auch im Judentum fun­ giert die Tendenz, die „Gojim“, die Nichtjuden, im Gegensatz zu den Juden zu sehen, nicht selten als Mittel zur Stärkung der eigenen jüdischen Identität. Ein religiöser Narrativ wird im Gegensatz dazu gelingen, wenn er die Wahr­ heit in ständigem Dialog mit Anderen konstruiert. Dies muss nicht zu einer Verwirrung oder Fusion von kollektiven Identitäten führen. Man kann mit dem eigenen Narrativ verbleiben, mit der eigenen intimen Geschichte, aber dennoch akzeptieren, dass andere Narrative möglich, real und wünschenswert sind. So wie der Einzelne seinen eigenen Standpunkt in der Beziehung zum Anderen nicht aufgeben muss, sondern seine persönliche Identität in der Interaktion mit dem Nicht-Ich bildet, muss ein religiöser Narrative nicht seine Eigenart verlieren, wenn er in Kontakt mit anderen religiösen Narrativen kommt. Bei der Konstruk­ tion oder Rekonstruktion des eigenen Narrativ ist die Art und Weise, wie man sich selbst sieht, davon abhängig, wie man den Anderen wahrnimmt. Kollektive religiöse Identitäten müssen Strategien entwickeln, mit denen man die ehrli­ che Kritik Anderer meistert. Dies ist eine äußerst schwierige Aufgabe. Vorurteile gegenüber der anderen Religion werden zu Tunneldenken führen, in dem die eigene Ansicht eingeengt und verformt wird. Offenheit gegenüber anderen reli­ giösen Erfahrungen relativiert im Gegensatz dazu den eigenen Narrativ, aber sie bestärkt auch den, der seine eigene Geschichte lebt, wie eine Farbe in Josephs buntem Rock.

Religiöser Meta-Narrativ und persönliche Identität Man könnte einwenden, dass Religionen als Meta-Narrative aufgehört haben, eine Rolle in der Geschichte zu spielen, und dass wir jetzt das Ende dieser großen Narrative erleben. Aber wider Erwarten hat Religiosität ihre Rolle in der Gesell­ schaft nicht verloren. Die Gott-ist-tot Theologen und diejenigen, die prophetisch das Ende der Religionen voraussagten, sind enttäuscht worden, weil ihre Vorher­ sagen voreilig waren. Es stimmt, wie im vorigen Kapitel dargestellt wurde, dass wir uns in der Postmoderne der Aggression und Macht, die oft in den verschie­ denen Meta-Narrativen verborgen waren, bewusst geworden sind.9 Dementspre­ chend kann die Rückkehr zur Religion nie wieder eine einfache Rückkehr zu den alten Mustern sein, wenn wir Aggression einschränken möchten. Doch obwohl die verschiedenen Meta-Narrative kritisiert werden und sich ihr institutioneller Charakter schrittweise verringert, spielen sie auch weiterhin ihre Rolle bei der 9 Sie z. B. Kippenberg, Gewalt als Gottesdienst.



Narrative des Selbst in Verbindung mit dem Anderen 

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Suche nach der eigenen Identität. Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Art, wie der Einzelne sein(e) eigenes(n) Lebensprojekt(e) konstruiert und den umfassenderen Gesellschaften und Gemeinschaften, in dem die Betroffenen leben. Der Mensch, der aktiv sein Leben baut, ist nicht ohne Anbindung an die religiösen, sozialen, kulturellen oder politischen kollektiven Ichs, von welchen er ein integraler Bestandteil ist.

Narrative des Selbst in Verbindung mit dem Anderen Die Herausbildung des religiösen Selbst ist an die Formung des Selbst gebunden, das seinen Lebensentwurf in seinen Beziehungen zu Familie, Nation, Arbeit rea­ lisieren muss, und an ein Netzwerk mit bedeutenden oder weniger bedeutenden Anderen angeschlossen ist. In all diesen verschiedenen Bereichen verhält es sich notwendigerweise unterschiedlich, aber es fühlt dennoch eine Art von Stabilität, während es seine eigene Identität herausbildet. Auf der religiösen Ebene wird man heute zudem mit mehreren Wahlmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Religionen und innerhalb jeder einzelnen Religion konfrontiert. In einer solchen Situation werden Flexibilität, Unterscheidung, Toleranz und am allermeisten Kommunikationsfähigkeit benötigt. Wenn man einer Religion angehört, bedeutet dies nicht, dass man sich nicht auf andere Religionen bezieht. Wenn die andere Religion als Chance auf Bereicherung und nicht als Bedrohung gesehen wird, wird die Bewegung in Richtung der Anderen nicht Angst und folglich regressives, nicht-dialogisches Verhalten verursachen. Die Möglichkeit sein eigenes Selbst und seine Lebensoptionen im Dialog mit wichtigen Anderen zu verstehen und zum Ausdruck zu bringen, ist noch nicht voll ausgeschöpft worden, doch bin ich davon überzeugt, dass eine dialogische Herausbildung des eigenen religiösen Narrativs unerwartete Perspektiven eröff­ nen wird, die bis heute nicht ausreichend betrachtet worden sind.

Kapitel 9 Interreligiöse Exegese: ein Beispiel Dieses Kapitel stellt einige interreligiöse Überlegungen zu dem Gebot „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen“ (Ex 20,7)1 vor. Wenn man die eigenen religiösen Quellen mit Menschen liest, die zu anderen Religionen gehören, können die religiösen Schriften beginnen Nachrichten zu übermitteln, die bisher noch nicht gehört wurden. Interreligiöse Exegese verlangt eine völlig veränderte Geisteshaltung, einen anderen Zugang zu religiösen Quellen, eine kopernikanische Wende im Lesen heiliger Texte. Ihre Neuerung liegt in einem Lesen, das den religiös Anderen berücksichtigt, den Außenseiter, der dem religiösen Insider sozusagen über die Schulter auf die Texte schaut. Interreligiöse Exegese nimmt den Außenseiter mit hinein in eine ethische Hermeneutik. Dialogische, interreligiöse Exegese ist für interreligiöse Bildung relevant, die eine bestimmte Art der interkulturellen Erziehung darstellt. Ich bin der Meinung, dass interreligiöse Hermeneutik und ein Zusammentreffen in Schulen und anderswo von entscheidender Bedeutung sind, um ein friedliches Zusammenleben zwischen Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen und zu unterschiedlichen Kulturen gehören, zu fördern. Da das heutige Europa durch immense Migrationsflüsse charakterisiert wird, die eine große Vielfalt an Kulturen und Religionen zusammengetragen haben, sind kulturelle Interaktion und interreligiöser Dialog und Praxis zur dringlichen Aufgabe geworden. Im Folgenden biete ich eine mögliche interreligiöse Lesart nur eines Bibelverses (Ex 20,7) als Paradigma für ein offenes Lesen des biblischen Textes in einem multikulturellen Umfeld. Nach einigen Vorbemerkungen erkläre ich die Bedeutung des dritten Gebotes im Dekalog in der jüdischen Tradition. Des Weiteren werde ich das, was die mögliche theologische Bedeutung dieses Gebotes heute sein könnte, beleuchten und schließlich die verschiedenen Bedeutungen des Verses in einer noch zu etablierenden interreligiösen Exegese untersuchen. In meinen abschließenden Bemerkungen verorte ich interreligiöse Interpretationen religiöser Texte im weiteren Horizont interreligiöser und interkultureller Kontexte.

Zwei Vorbemerkungen Lassen Sie mich mit zwei Vorbemerkungen beginnen. Eine erste Anmerkung ist methodischer Art. In der jüdischen Lektüre der Heiligen Schrift achtet man eher 1 Nach der Buber-Rosenzweig Übersetzung: „Trage nicht SEINEN deines Gottes Namen auf das Wahnhafte.“



Die Bedeutung des dritten Gebotes in der jüdischen Tradition 

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darauf, was die Verse sagen könnten als was sie ursprünglich bedeuteten. Levinas hat diesen Punkt in seinem Buch Jenseits des Buchstabens2 durch die Unterscheidung zwischen dem, was der biblische Text „bedeutet / sagen will“ (vouloir dire) und was er „bedeuten / sagen könnte“ (pouvoir dire) verdeutlicht. In der jüdischen Tradition wird der biblische Text im weiteren Kontext einer kontinuierlichen Interpretationskette verstanden, die den jüdischen Geist in den Buchstaben verortet. Mit Levinas behaupte ich, dass das, was der biblische Text sagen kann, viel größer ist als das, was es ursprünglich bedeutete, da der Text sich auf mehr als das bezieht, was im besonderen Kontext, in dem er ursprünglich aufgeschrieben wurde, gemeint war. Buchstaben und Geist widersprechen sich nicht, tatsächlich brauchen sie einander. Der Geist macht den Buchstaben im Mund und in den Handlungen der Menschen lebendig. Das Buch der Bücher trägt somit einen Überschuss von Bedeutung, welcher in der Materialität der Wörter vorhanden ist. Dieser Überschuss von Bedeutung wird in der rabbinischen Hermeneutik aufgedeckt, in der man eine Deutungsmethode findet, die nichts mit der direkten Verbindung zwischen dem Signifikant und dem Signifikat zu tun hat.3 Eine zweite Vorbemerkung betrifft meinen eigenen hermeneutischen Zugang zur Bibel. Ich folge dem Pfad von hauptsächlich jüdischen dialogischen Denkern, welche die biblische Literatur auf radikal ethische Weise interpretiert haben. Dies ergibt sich aus meiner Sicht, dass Religiosität sich als Dienst an Gott konkret in der Achtung für und Liebe zum Mitmenschen zeigt.

Die Bedeutung des dritten Gebotes in der jüdischen Tradition Die Weisen bezogen das Verbot, das im dritten Gebot formuliert wird (Ex 20,7), auf Falschaussage (Meineid), auf Lügen, während man den göttlichen Namen gebraucht (vgl. Lev 19,12), auf die Entweihung des göttlichen Namens und auf blasphemisches oder respektloses Reden von Gott.4 In seinem berühmten Kommentar zum Chumash, den fünf Büchern Mose, erklärt der mittelalterliche Kommentator Raschi von Troyes (1040–1104) den Vers: „Du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen“ ausdrücklich in Bezug auf einen falschen Eid. Mit einem solchen Eid, sagt er hinsichtlich der Stelle im 2 Levinas, „Die jüdische Lesart der Schriften“, in ders., Anspruchsvolles Judentum. Talmudische Diskurse, übers. von Frank Miething, Frankfurt a. M. 2005, S. 21–44, hier S. 34–35; franz. Original Lévinas, „De la lecture juive des écritures“, in ders., L’au-delà du verset: Lectures et discours talmudiques, Paris 1982, S. 135. 3 Ebd., S. 35 (franz., S. 135–136). 4 Elie Munk, Qol ha-torah. La voix de la Thora. Commentaire du Pentateuque. L’exode, Paris 1983, S. 223.

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 Interreligiöse Exegese: ein Beispiel

Talmud Traktat Shevuot 29a, stellt man die Dinge anders dar als sie sind, wie zum Beispiel im Falle einer Steinsäule, die als golden präsentiert wird. Angesichts der Tatsache, dass Raschis Kommentar als Grundlage für Hunderte von rabbinischen Super-Kommentaren diente, wurde diese Erklärung klassisch und maßgebend, auch wenn man in der langjährigen jüdischen hermeneutischen Tradition eine Vielzahl anderer Interpretationen des Verses finden kann. Das Verbot wird traditionell in Bezug auf falsche Eide interpretiert. Aber können auch „böses Gebet […] oder Zauberei möglicherweise gemeint sein. Leichtsinnige Eide (Philo, Josephus) und schließlich jede vergebliche Erwähnung des Namens Gottes (z. B. in einem unnötigen Segen, Ber. 33a) können auch mit einbezogen sein.“5

Theologische Überlegung zur Bedeutung des Gebotes heute In seinem Kommentar zur Tora erklärt Rabbi Elie Munk, dass das dritte Gebot sich auf die Worte des Menschen bezieht.6 Das erste und zweite Gebot (zur Einheit Gottes und das Verbot der Herstellung von Abbildungen Gottes) betreffen das menschliche Denken, das vierte (zum Schabbat) seine Taten. Die ersten vier Gebote betreffen daher die Heiligung der ganzen menschlichen Existenz: Denken (1. und 2. Gebot), Sprache (3. Gebot) und Tat (4. Gebot). Munk ist der Ansicht, dass Worte die Unterscheidung des Menschen vom Tier manifestieren und dass sie die Quelle entweder des Segens oder der Zerstörung der Welt sind. Er bemerkt auch, dass das dritte Gebot sich darauf bezieht Gott zu respektieren, während das neunte Gebot („Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“, Ex 20,16)7 das Verbot beinhaltet, einen anderen Menschen durch den Gebrauch von Worten zu verletzen.8

Interreligiöse oder dialogische Überlegungen Aus der Perspektive einer künftigen interreligiösen Theologie kann das dritte Gebot des Dekalogs außerordentliche Bedeutungen erhalten. Was könnte heute die Bedeutung des Missbrauchs oder der Entweihung des Namens Gottes in einer multikulturellen und multireligiösen modernen Gesellschaft sein? 5 Moshe Greenberg, Art. „Decalogue“, in Encyclopaedia Judaica, Bd. 5, Jerusalem 1972, Sp. 1442. 6 Munk, Qol ha-torah, S. 223–224. 7 Buber-Rosenzweig: „Aussage nicht gegen deinen Genossen als Lügenzeuge.“ 8 Munk, Qol ha-torah, S. 230.



Interreligiöse oder dialogische Überlegungen 

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Gott aller Menschen Wenn man vom „eigenen Gott“ im Gegensatz zum „Gott der Anderen“ spricht, entweiht man den göttlichen Namen. In solch einem Fall formt man nicht nur Gott nach seinem eigenen Bild, indem man das Göttliche zu etwas Menschlichem degradiert. Vielmehr missachtet man auch den anderen Menschen, der auf seine eigene bestimmte Weise mit Gott verbunden ist. Diese Art und Weise des Sprechens über „meinen“ oder „unseren“ Gott im Gegensatz zum Gott der Anderen, bedeutet „Gottes Namen vergeblich zu führen“. Oben merkte ich an, dass Heschel in seiner Rede zum Thema „Religion und Rasse“ äußert: „Jeder Gott, der der meine ist, aber nicht der deine; jeder Gott, der sich um mich kümmert, aber nicht um dich, ist ein Götze.“9 Heschel war sich durchaus bewusst, dass Gott entweder der Gott aller Menschen oder der Gott von niemandem ist: alle sind von Gott geliebt, jeder wird nach Seinem „Bild“ (Gen 1,27) geschaffen. Wie bereits erwähnt führte dieses religiöse Bewusstsein Heschel zu einem intensiven sozialen Handeln, als er zusammen mit Martin Luther King für die Rechte der Afroamerikaner in den USA eintrat. Er glaubte, dass der Exodus nicht zu Ende war. Auf Heschels Spuren bin ich der Meinung, dass das Bekenntnis zum göttlichen Namen schon einen tiefen Humanismus impliziert, den unerbittlichen Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus,10 und ein tiefes Engagement für die Schaffung einer gerechten und friedlichen Gesellschaft, in der die Gleichheit aller Bürger eine Voraussetzung ist.

Gott zu dienen in vielfältiger Weise in der Perspektive einer geeinten Menschheit Die Aufgabe der Religionen (religio) ist noch nicht erfüllt: sie sind dazu bestimmt, Menschen miteinander zu verbinden (religare). Menschen sind verschieden, aber sie können das Wunder dessen, was ich „Trans-Differenz“ nenne, der Zusammengehörigkeit, trotz ihrer Unterschiede, oder besser dank ihrer erleben. Dies ist 9 Abraham J. Heschel, „Religion und Rasse“, in ders., Die ungesicherte Freiheit. Essays zur menschlichen Existenz, Neukirchen-Vluyn 1985, S. 73. 10 Um nur ein trauriges Beispiel für Diskriminierung zu benennen: das der con lai Mӯ, Kinder vietnamesischer Frauen und amerikanischen Soldaten, vor allem in den ersten fünfzehn Jahren des Krieges. Kinder einer vietnamesischen Mutter und eines farbigen amerikanischen Vaters waren die größten Opfer von Diskriminierung. Siehe Sascha Wölckc, „Con lai Mӯ. Über Marginalisierung amerikanischer Besatzungskinder in Vietnam“, in Work in Progress. Work on Progress. Beiträge kritischer Wissenschaft, Doktorand_innen -Jahrbuch 2013 der Rosa-Luxemburg-Stiftung, hg. von Marcus Hawel, Hamburg 2013, S. 167–183.

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 Interreligiöse Exegese: ein Beispiel

möglicherweise die Bedeutung des bekannten Satzes, der jedes jüdische Gebet beendet: „An jenem Tag werden Er und Sein Name einzig sein“ (Sacharja 14,9b).11 Mit anderen Worten: in einer interreligiösen Theologie des göttlichen Namens wird die Vereinigung des Namens Gottes durch die Vereinigung der Menschheit realisiert werden, in Bezug auf die Einzigartigkeit eines jeden Einzelnen. Die Gründung der göttlichen Königherrschaft mit dem Versprechen von Frieden und Sicherheit findet durch die Realisierung der Einheit aller Menschen statt. Die Realisierung dieser Einheit bedeutet nicht die Schaffung einer einheitlichen Menschheit ohne Pluralität, weder jetzt noch zukünftig. Die abrahamitischen Religionen müssen sich vom totalitären Traum befreien, dass eine der Religionen sich letztendlich durchsetzen wird. Im Dialog zwischen den Religionen, aber auch und vielleicht vor allem im innerreligiösen Dialog, wird man zu berücksichtigen haben, dass es nicht nur einen Weg gibt, der zu Gott führt. Jeder Mensch ist einzigartig und er wurde in Anbetracht seines einzigartigen Beitrags für die Welt geschaffen. Das ist wunderschön in der Geschichte des blinden chassidischen Rabbi Simcha Bunam von Pžysha dargestellt. Rabbi Bunam sagte, er wollte nicht wie Abraham sein, da Gott nicht von der Tatsache profitiere, dass der Stammvater Abraham wie der blinde Bunam und der blinde Bunam wie Abraham sei. Auf ähnliche Weise sagte der chassidische Meister Rabbi Meschullam Sussja von Hanipol, dass er in der kommenden Welt nicht gefragt werden wird: „Warum warst du nicht Moses?“. Man wird ihn fragen: „Warum warst du nicht Sussja?“12 Die Wege zu Gott sind so zahlreich wie die Menschen selbst und Gott selbst ist größer als die religiösen Wege zu ihm. Die Leugnung der Vielfalt religiöser Wege, auch innerhalb einer bestimmten Religion, zollt der von Gott gewollten Spezifität eines jeden Menschen nicht genügend Respekt.

Gottes unaussprechlicher Name In den abrahamitischen Religionen wird Gott als unbegreifbar, transzendent, jenseits des Seins wahrgenommen. Die Idee der Transzendenz Gottes, die für das abrahamitische Erbe wesentlich ist, bildet ein Gegenmittel gegen (religiösen) Totalitarismus und grenzenlose Überlegenheitsgefühl. Es ist eine ewige Versuchung, den Begriff „Gott“ auf narzisstische Weise zu benutzen. In einem solchen Fall steht Gott im Dienst der Menschen und man führt den unaussprechlichen Namen „vergeblich“, indem man das Unendliche auf etwas Endliches reduziert. 11 Buber-Rosenzweig: „An jenem Tag wird ER der Einzige sein und sein Name der einzige.“ 12 Buber, „Der Weg des Menschen“, S. 720.



Interreligiöses Lernen in einer weiteren Perspektive 

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Die jüdische Tradition unterstreicht, dass Gottes Name unaussprechlich ist. Diese Anerkennung von Gottes unaussprechlichem Namen, Seiner Transzendenz, ermöglicht eine positive Begrenzung der Macht Prometheus’ und egoistischer Selbstbehauptung.

Friedliche Ausrichtung der Religionen „um Gottes willen“ Ich glaube fest daran, dass die Religionen beim Erreichen des erhabenen Zieles Menschen zu vereinen nützlich sein können. Es ist wahr, dass sich die Verwendung von Gottes Namen bei moralisch verwerflichen Handlungen oft in der Geschichte wiederholt hat. Man vergießt Blut „im Namen Gottes“. Angesichts der traurigen Geschichte der Religionen und die anhaltende Entweihung des göttlichen Namens kann man die Bitte verstehen, auf die Verwendung des göttlichen Namens zu verzichten. Doch die Menschen verwenden weiterhin das Wort Gott, dessen Name durch Förderung der Gleichstellung der Menschen und durch die Verknüpfung der Liebe Gottes mit der Liebe zum Nächsten „geheiligt“ werden kann. In den Religionen wurde der Name Gottes zu oft missbraucht: Gottes Name wurde und wird in religiösen Texten, Liturgien und Predigten angerufen, um zu diskriminieren und Gewalttaten zu begehen. Das dritte Gebot des Dekalogs verbietet die „vergebliche“ Verwendung des Namens Gottes. Positiv formuliert besteht das Gebot in der Weihung des Gottesnamens, was bedeutet, dass man Gott vor Tempeln, Schreinen, Texten und gewalttätigen, menschenverachtenden Interpretationen zu schützen hat. Mit dem Verbot der Verwendung von Gottes Namen, um unmenschliches Handeln zu vollziehen, lädt das dritte Gebot die Menschen ein, Ihn als Inspiration und Lebenskraft für den Aufbau einer Zivilisation in ihr tägliches Leben zu lassen.

Interreligiöses Lernen in einer weiteren Perspektive Mein grundlegender Standpunkt ist der, dass alle religiösen Texte offen sind, d. h. allen zugänglich. Diese spezifischen Texte haben bestimmte religiöse Identitäten geformt und wirkten über einen langen Zeitraum in bestimmten Gemeinden. Doch in den modernen, heterogenen Gesellschaften sind spezifische Gemeinschaften auch Teil einer umfassenderen Gesellschaft. In diesem größeren Zusammenhang scheint es weitgehend unzureichend, liberal Seite an Seite zu leben, als ob Gesellschaft nur eine Ansammlung von verschiedenen Gruppen und Untergruppen sei. Die Herausforderung einer gesunden multikulturellen Gesellschaft liegt in der Begegnung mit kulturell Anderen, darin sich auf sie einzulassen. Bei

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 Interreligiöse Exegese: ein Beispiel

ihrer Suche nach dem Letztendlichen werden bestimmte religiöse Gruppen von religiös Anderen beeinflusst, deren grundlegende Andersartigkeit eine mögliche Quelle der Inspiration im Hinblick auf einen verantwortungsvollen Diskurs über das sein kann, was letztendlich unaussprechlich ist. Ich habe daher für die Sub­ stitution eines gleichgültigen laissez-faire durch eine veränderte Haltung plädiert: eine Haltung der Nicht-Gleichgültigkeit, des Erkennens und des Feierns der Unterschiede, dessen, was ich als eine kommunikative „Trans-Differenz“ bezeichne.13 Wie ich bereits erwähnte, ist das Lernen von der Religiosität der Anderen nicht etwas, das nur möglich ist. Es ist notwendig, um die Vielfalt der Zugänge zu dem, was als die letzte Wirklichkeit erlebt wird, anzuerkennen. Nicht im Kontakt mit anderen Zugängen zu dem, was letztlich zählt, zu sein, birgt das Risiko in einer geschlossenen Identität zu verharren, ohne Kontakt mit denen, deren Zugang zum letzten Sinn für das eigene spirituelle Leben von Bedeutung sein könnte. Interreligiöses Lernen und Exegese erhalten ihre volle Bedeutung im Rahmen einer dialogischen Philosophie und einer Philosophie des Anderen. Wir leben in einer Zeit, in der das Ich nicht mehr als ein abstraktes, reines cogito betrachtet wird, sondern eher als in einer konkreten Situation eingebettet. Heute wird anerkannt, dass man immer eine konkrete physische Manifestation ist, und dass die Menschen zu verschiedenen Kulturen, Weltanschauungen und Traditionen gehören. Sie haben unterschiedliche Identitäten und Orientierungen. Selbst wenn man sich selbst als Kosmopolit definiert, stammt die Selbstdefinition aus wohl definierten Kontexten.14 Doch neben der Verortung eines jeden Menschen gibt es auch die Möglichkeit, tatsächlich das Wunder, Gastfreundschaft zu üben und im Hause und zu Hause mit Anderen zu sein. Dies beinhaltet nicht Multikultur, sondern Interkultur, die die einzig wahre Art von Kultur ist. Interreligiöse Praxis und Denken sind eine Dimension einer solchen Interkultur. Meiner Meinung nach ist das Ich nie nur bei ihm, oder bei ihr, selbst; man wird immer vom Anderen beeinflusst und vom Anderen bewegt, der das Ich aus seiner geschlossenen Existenz herausbringt. Jeder Mensch hat eine Familie. Jeder von uns ererbt ihre oder seine Muttersprache von Anderen, Andere gaben ihm oder ihr einen persönlichen Namen und die Sehnsucht nach Anderen wohnt in unseren Körpern.15 Daher bin ich von Anfang an, und sogar noch vor meinem 13 Mehr zum Begriff „Trans-Differenz“ als auch zur darauf bezogenen „Selbst-Transzendenz“ und „Selbst-Differenz“ siehe Ephraim Meir, Dialogical Thought and Identity. Trans-different Religiosity in Present Day Societies, Berlin / Jerusalem 2013. 14 Siehe Avi Sagi, „Ethical Commitment and Identity in a Multicultural Existence“, in Multiculturalism in the Israeli Context, hg. von Ohad Nachtomy, Jerusalem 2010, S. 63–79 (Hebräisch). 15 Bernhard Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt a. M. 2006, S. 88, 119.



Interreligiöses Lernen in einer weiteren Perspektive 

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Anfang, mit Anderen verbunden. Die konkrete Verortung des Menschen verweist bereits auf Alterität im Ich. Aber es gibt mehr. Es liegt im Wesen der menschlichen Existenz, dass man über sich selbst hinausgehen kann, hin zum Anderen. Man kann die Grenze überschreiten zum Anderen und in seine oder ihre Welt gehen. Dieses Hinübergehen zum Anderen ist nie das Ergebnis meiner eigenen Initiative; vielmehr wird es möglich durch den Ruf des Anderen, vor jedem Handeln meiner­ seits. Respondeo, ergo sum, aber meine Hinwendung zum Anderen wird durch den Anderen hervorgerufen, der mich fordert und mich ruft. Meine Aufmerksamkeit (im Hebräischen tesomet lev: das Legen des Herzens auf etwas) wird durch den Anderen ermöglicht, der meine Aufmerksamkeit auf sich lenkt.16 Es gehört zu der Erhabenheit der menschlichen Existenz, dass ich Anderen Aufmerksamkeit widmen kann, beispielsweise indem ich sie oder ihn grüße oder ein Geschenk bringe. Doch diese Aufmerksamkeit auf Andere wird vom Anderen angeregt. Ich wende mich dem Anderen zu, der sich zuerst mir zugewandt hat. Die totalisierende Tendenz, den Anderen zu beherrschen, zu dominieren, zu unterwerfen, zu kolonisieren oder ihn / sie zu vernachlässigen läuft dem Aufruf des Anderen entgegen, ihn oder sie mit Leben, Respekt und Liebe zu versorgen. Ich bin in der Lage, ich selbst zu sein, wenn ich beim Anderen bin. In seiner inspirierenden xenologischen Philosophie hat der deutsche Philosoph Franz Fischer vorgeschlagen, nicht über das Ich zu reflektieren, weil man sich selbst in Selbstreflexion nicht findet. Stattdessen schlägt er vor, praktisch eine Wende zum Anderen zu vollziehen und ein Leben zu führen, das auf ihn oder sie ausgerichtet ist. Er bemüht sich, sich dem Ich nicht auf eine reflektierende Weise zu nähern, sondern auf proflektive Art: Man ist sich selbst in der Anerkennung des Anderen, der mich fordert und sieht, und diese Fremdgesehenheit kommt vor der eigenen Selbsterfühlung.17 Für Fischer wird das Selbst vom Anderen bewohnt. In ähnlicher Weise konnte Buber sich nicht dem Ich nähern ohne Bezug auf das Nicht-Ich. Dieser jüdische Dialogphilosoph entwickelte ein relationales transformatives Modell des Denkens, in dem das Selbst nicht zentral ist, sondern die Ausrichtung eines Ich auf ein Du. Sein Ziel war die Schaffung eines dialogischen Zwischenmenschen: das Ich ist Ich durch seine Beziehung zu dem Nicht-Ich. „Ich“ ist eine Abstraktion, „Ich-Du“ ist ein Ich, das sich dem Du zuwendet: In der Ansprache eines Ich an ein Du wird der Gegenstand 16 Waldenfels betont, dass es einen Aspekt des Ertragens in unserer Aufmerksamkeit auf Andere gibt: sie beeinflussen und rühren uns, etwas oder jemand lenkt unsere Aufmerksamkeit auf sich. Er behauptet, dass wir das, was nicht unser eigenes, etwas Fremdes ist, als „Pathos“ ­erleben, das auch Leiden mit einschließt (S. 131, vgl. auch 73, 91). 17 Franz Fischer, „Liebe und Weisheit“, in ders., Proflexion der Menschlichkeit. Späte Schriften und letzte Entwürfe, 1960–1970 (Werkausgabe IV), hg. von Michael Benedikt / Wolfgang W. ­Priglinger, Wien / München 1985, S. 550.

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 Interreligiöse Exegese: ein Beispiel

zur Gegenwart.18 Auch für Bernhard Waldenfels trägt das Ich Anderssein in sich selbst. In seiner Phänomenologie des Fremden behauptet er, dass das Ich Grenzen setzt und sich von Anderen unterscheidet. Er bemerkt, dass Solipsismus als solus ipse, als Sein nur mit sich selbst, ein Problem darstellt, weil ein solches Selbst keine Grenzen hat und sich nicht selbst begrenzt oder sich selbst im Unterschied zu Anderen definiert.19 Waldenfels betont, dass man sich von Anderen unterscheidet, aber Andere immer präsent sind. Meiner Meinung nach bedeutet Grenzen zu setzen auch zugleich, dass diese Grenzen überschritten werden dürfen. Man geht auf den Anderen zu, weil der Andere dies fordert. Ich übernehme hier die Position Emmanuel Levinas, der immer wieder in seiner ethischen Metaphysik wiederholt hat, dass der Andere eine positive Störung für das Ich ist, dessen natürliche Ordnung und Spontani­ tät durch die Präsenz des Anderen hinterfragt werden. Durch die Aufmerksamkeit auf diese Aufforderungen des Anderen vermeidet man die Gefahr einer „reinen“ Identität, die der Andersheit verbietet, den geschlossenen Kreis des (individuellen oder kollektiven) Selbst zu durchdringen. Aufmerksamkeit auf den Anderen kreiert eine „offene“ Identität, die Andersheit in sich hat: wir werden von Anderen besucht, die uns von sich aus bitten, einen Exodus aus dem Gefängnis unserer Selbst zu vollziehen. Folglich kann ich den Anderen nicht als bloßes Alter Ego betrachten. Es stimmt, dass der Andere ein Ego ist wie ich selbst, aber seine radikale Andersheit, die nie neutralisiert werden kann, ergibt sich aus seinem oder ihrem Aufruf an mich, der das Ich verwandelt. Die dringende Aufforderung des Anderen sich auf ihn zu beziehen, zerbricht die Totalität des Selbst. Mit Levinas nähere ich mich dem Ich als „Einer-für-den-Anderen“, l’un-pour-l’autre.20 Ich kann den Anderen in meinem Haus empfangen, ich kann auch bei ihm zu Hause sein. Ein Muslim kann einem Juden begegnen, ein Christ kann einem Buddhisten begegnen. Wir sind anders, doch „Trans-Differenz“ wird durch die Hinwendung zum Anderen möglich, durch die Schaffung eines „Zwischen“-Raumes. Die Tatsache, dass wir zueinander gehören, könnte dem Diktum Terenz „Homo sum, humani nihil a me alienum puto“ eine neue Bedeutung verleihen: Die Erhabenheit meines Menschseins liegt in meiner solidarischen Verbundenheit mit Anderen. Entfremdung ist die Weigerung der Annahme des Anderen durch das Selbst, die Verweigerung der Gastfreundschaft. Es gibt kein Ich ohne Zugehörigkeit: das 18 Buber, Ich und Du, S. 16. Siehe des weiteren Ephraim Meir, „Towards ‚Proflective‘ Philosophy and ‚Proligion‘ with Fischer and Buber“, in ders., Identity Dialogically Constructed (Jerusalemer Texte 4), Nordhausen 2011, S. 61–86. 19 Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie, S. 117. 20 Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, aus dem Französischen übers. von Thomas Wiemer, Freiburg i. Br. / München 21998, S. 347, franz. Original Autrement qu’être ou au-delà de l’essence [ Hague 1974] (biblio essais 4121), Paris 1990, S. 203.



Interreligiöses Lernen in einer weiteren Perspektive 

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Innere und das Äußere, das Eigene und das Fremde unterscheiden sich und sind zugleich eng miteinander verwoben. Sich selbst zu sein bedeutet mit Anderen zu sein. Aus dieser Perspektive sind Gastfreundschaft, auch auf der religiösen Ebene, sowie die Schaffung eines nicht-exklusiven „wir“ die herausragenden Merkmale des menschlichen Daseins an sich.

Kapitel 10 Dialogische Philosophie und gesellschaftlicher Wandel Nach meiner Überzeugung können Menschen zwar ohne Religion auskommen, aber nicht ohne innere Werte, nicht ohne Ethik. Der Unterschied zwischen Ethik und Religion ähnelt dem Unterschied zwischen Wasser und Tee. Ethik und innere Werte, die sich auf einen religiösen Kontext stützen, sind eher wie Tee. Der Tee, den wir trinken, besteht zum größten Teil aus Wasser, aber er enthält noch weitere Zutaten – Teeblätter, Gewürze, vielleicht ein wenig Zucker und – in Tibet jedenfalls – auch eine Prise Salz, und das macht ihn gehaltvoller, nachhaltiger und zu etwas, das wir jeden Tag haben möchten. Aber unabhängig davon, wie der Tee zubereitet wird: Sein Hauptbestandteil ist immer Wasser.1

In den vorangegangenen Kapiteln habe ich die notwendigen Voraussetzungen für den interreligiösen und innerreligiösen Dialog sowie für multiple Zugehörigkeiten untersucht. Ich befasste mich auch mit der doppelten Zugehörigkeit der deutsch-jüdischen Identität als Beispiel für das Zusammenspiel zwischen Religion und Gesellschaft. Im vorliegenden Kapitel dehne ich das Thema des Zuständigkeitsbereichs aus und untersuche die Beziehung zwischen religiös-­ dialogischem Denken, Friedenschaffen und Realisierung einer gerechten Gesellschaft. Das Nachdenken über die Verwirklichung von Frieden besteht nicht nur darin, darüber nachzudenken, wie Gewalt zu verringern und das Eigenpotential zu erhöhen sei. Es muss nicht nur aus Kompromissvorschlägen zwischen Konfliktparteien bestehen, auch wenn dies notwendig ist. Kompromisse sind nicht ausreichend: Wenn man einen zerbrechlichen Frieden erreicht, indem man die beiderseitige Gewalt verringert, kann eine der Parteien in jedem beliebigen Moment stärker werden; anschließend wird das fragile Gleichgewicht wieder gebrochen und der Andere wird „besiegt“. Nachdenken über Frieden bedeutet den Aufbau einer friedlichen Art des Denkens über die Förderung der Personen, die einander antworten. Die wichtigste Frage bei dieser Art des Denkens ist nicht, wer Recht hat in dem Konflikt, sondern wie man den Anderen realer machen und wie man ihn präsent machen kann durch die Befriedigung seiner Bedürfnisse und die Anerkennung seiner Wünsche. Martin Buber gehört zu jenen jüdischen Denkern, die in Deutschland lebten und arbeiteten und herausfordernde Gedanken zum Frieden entwickelten. Gemeinsam mit Persönlichkeiten wie Franz Rosenzweig und Leo Baeck trug er wesentlich zu dem bei, was heute als das deutsch-jüdische Erbe gilt. Im Folgenden stelle ich ausführlich seine humanistisch-religiösen Gedanken zum Dialog 1 Franz Alt, Der Appell des Dalai Lama an die Welt, Wals bei Salzburg 2015, S. 9.



Geist und dialogischer Mensch 

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und zur Begegnung dar und diskutiere diese. Ich wende sodann diese Gedanken auf der gesellschaftspolitischen Ebene als signifikant für sozialen Wandel und Konfliktmanagement an.

Bubers relationales Denken als Transformationsmodell Martin Buber bietet uns ein Modell der Konfliktlösung auf der Grundlage eines friedlichen Dialogs. In diesem Modell übersieht man nicht den Konflikt zwischen den Parteien, sondern verbessert durch die Schaffung einer gemeinsamen Welt eine Antwortfähigkeit und das, was Buber die Entwicklung des „Ich-Du“ nennt, unter Berücksichtigung der „fortschreitenden Zunahme der Eswelt“.2 Im dialogisch-­relationalen Modell sind nicht das Selbst, das Selbstbewusstsein und begrenzte Eigeninteressen zentral, sondern die Orientierung oder die Hingabe des Ich an ein Du. Bubers dialogisches, relationales Denken führt eine transformierende Wirkung in die Bemühungen um eine tragfähige Lösung eines langanhaltenden Konflikts zwischen Menschen und Gruppen ein. Es stellt eine Alternative zu rein interessenbezogenen Standpunkten dar, aus denen Selbsthingabe systematisch entfernt wurde. Die Anerkennung und Bestätigung der „Gegenwärtigkeit“ des Anderen könnte zu reduzierter Gewalt und der Koexistenz zweier Seiten führen, die noch in einem nahezu permanenten Konflikt stehen. Statt zu sagen: „Ich habe recht, Du hast unrecht“, könnte man zwischen den beiden Welten eine Brücke zu bauen versuchen, indem man den Anderen gegenwärtig macht. Die Anerkennung des Anderen mit seinen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bedürfnissen und nicht nur das Interesse am kollektiven Ich gegenüber dem Interesse der anderen kollektiven Ichs schafft eine andere Atmosphäre im Disput.

Geist und dialogischer Mensch In Bubers Ich und Du, das zum ersten Mal im Jahre 1923 erschien, bezeichnet das Wort „Geist“ das Geschehen „zwischen“ Menschen. Geist ist „Antwort an das aus dem Geheimnis erscheinende, aus dem Geheimnis ansprechende Du“. Es ist die Offenbarung der verborgenen Du-Dimension in sich selbst: „Geist in seiner menschlichen Kundgebung ist Antwort des Menschen an sein Du“.3 Bubers Spiritualität ist daher konkret; sie ist dicht am alltäglichen Leben und an einer 2 Buber, Ich und Du, Heidelberg 1958, S. 37. 3 Ebd., S. 38.

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 Dialogische Philosophie und gesellschaftlicher Wandel

Welt, in der Begegnungen selten sind, aber passieren. „Ich und Du“ ist bestrebt, einen „Zwischenmensch“ zu schaffen, eine dialogische „Zwischenperson“, die zu anderen Menschen in Beziehung steht.4 Buber schreibt, dass der Geist „nicht im Ich [ist], sondern zwischen Ich und Du. Er ist nicht wie das Blut, das in dir kreist, sondern wie die Luft, in der du atmest“.5 Seine dialogische Philosophie will die entfremdende Eswelt des Erfahrens, Beobachtens, Taktierens und Benutzens aufbrechen und den Leser für die erhabene Sphäre der Begegnung als Herzstück der Wirklichkeit öffnen. Die Untersuchung der zentralen Ideen in Ich und Du, Bubers dialogischem Hauptwerk, kann zu einem Nachdenken über Konfliktlösung beitragen, das ein zivilisiertes und sogar harmonisches Leben durch gesellschaftlichen Wandel fördert. Doch muss zunächst ein möglicher Einwand ausgeräumt werden. Man könnte meinen, Bubers Standpunkt sei naiv. Ich würde sein Denken jedoch eher als kritisch oder radikal bezeichnen. Durch die Berücksichtigung des Dialogs zwischen Ich und Du als „wirklich“, und der funktionalen, utilitaristischen Welt des Ich-Es als „unwirklich“, fordert Bubers Ontologie der Gegenwärtigkeit die Schaffung von Gegenseitigkeit und richtet die verschiedenen Parteien aufeinander aus. Von Angesicht zu Angesicht mit dem Nicht-Ich wird das Ich zum Ich. „Der Mensch wird am Du zum Ich“.6 Im Licht des Antlitzes des Anderen ist das Ich nicht isoliert, sondern ist ein in Beziehung stehendes „Ich-Du“. Der Schlüssel zum dialogischen Denken Bubers liegt darin, dass das in Beziehung stehende Ich wirklich ist und dass dieses Ich-ausgerichtet-auf-den-Anderen auch fähig ist, den Anderen wirklich werden zu lassen. In Anspielung auf die ersten Worten der Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis schreibt Buber prägnant: „Im Anfang ist die Beziehung“.7

Ich als „Ich-Du“ In Bubers Humanismus entstehen Beziehung und Begegnung durch die Hinwendung eines Ich zu einem Du. In der Hinwendung des Ich an ein Du wird ein „Es“ zum „Du“: der Gegenstand wird zur Gegenwart.8 Entfremdung vom Anderen in einer objektivierenden Haltung und einer bruchstückhaften Annäherung an ihn 4 Zur Diskussion der Elemente solch einem dialogischen Menschen siehe Martin Buber, „Elemente des Zwischenmenschlichen“, in ders., Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1973, S. 269–298. 5 Buber, Ich und Du, S. 38. 6 Ebd., S. 29. 7 Ebd., S. 20. 8 Ebd., S. 16.



Die konkrete Spiritualität des religiösen Humanismus 

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verwandelt sich durch die Beseelung des Anderen anhand einer einfühlsamen Annäherung an ihn, die ihn wirklich und gegenwärtig macht. Die Puppe wird zum Falter.9 Das „Du“ springt aus einem „Es“, aber ist dem „Es“ nicht vollkommen fremd. Das angesprochene „Du“ ist konkret, obwohl dieses konkrete „Du“ weder bekannt ist noch erfahren wurde, denn Kennen und Erfahren stammen aus der funktionalen Welt des Ich-Es und nicht aus der erhabenen Welt des Ich-Du. Im dialogischen Denken Bubers ist das Ich dazu bestimmt, dem Anderen zu begegnen, nicht nur auf ausschließlich kognitive Weise auf ihn zuzugehen. Das „Ich“ ist im Grunde „Ich-wirkend-Du“10: Es ist ein Ich-in-Beziehung. Das beziehende Ich und das angesprochene Du, das sich selbst offenbart, können einander begegnen, und diese gegenseitige Beziehung ist Begegnung. Buber hebt hervor, dass im Bereich des „Zwischen“ als dem humanisierenden Faktor in der menschlichen Gesellschaft, Einrichtungen zu viel „draußen“ sind, während Gefühle zu sehr „drinnen“ sind.11 Einrichtungen sind objektiv und Gefühle subjektiv, während die Begegnung selbst inter-subjektiv ist. In Bubers poetischen Worten lautet dies: „[…] das abgetrennte Es der Einrichtungen ist ein Golem und das abgetrennte Ich der Gefühle ein umherflatternder Seelenvogel“.12 Aber „Beziehung ist Gegenseitigkeit“.13

Die konkrete Spiritualität des religiösen Humanismus Aus Bubers Sicht ist die wechselseitige Beziehung zwischen dem Ich und einem Du auch der locus theologicus, genau der Ort, wo der Mensch Gott begegnet. Das Ich, das „Du“ sagt, richtet sich gleichzeitig an das ewige „Du“. Immer wieder betont Buber, dass die Beziehung zu Gott in der Beziehung zu den Menschen auftaucht und dass es unsinnig sei, das ewige Du ohne die Schaffung einer echten dialogische Gesellschaft gegenwärtig machen zu wollen. Seine Philosophie lehrt uns, das Wort „und“ auszusprechen: Ich und Du, Gott und Mensch, Gott und die Anteilnahme in der Welt. In Bubers Augen ist der liebevolle Zugang auf die Welt hin, ihre Beseelung, der Kern jeder echten Spiritualität. In der Beziehung zur Welt und im Aussprechen des Grundwortes Ich-Du „blicken wir an den Saum des ewigen Du hin, aus jedem vernehmen wir ein Wehen von ihm, in jedem Du reden wir das ewige an“.14 9 Ebd., S. 20. 10 Ebd., S. 23. 11 Ebd., S. 41–42. 12 Ebd., S. 42. 13 Ebd., S. 19. 14 Ebd., S. 12.

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 Dialogische Philosophie und gesellschaftlicher Wandel

In seinem panentheistischen Denken, das vom Chassidismus beeinflusst wurde, ist die intersubjektive Begegnung die Bedingung für den Kontakt mit dem ewigen Du. Innerhalb der Beziehung zu einem geeinzelten „Du“, erhalten wir „einen Durchblick zu ihm“.15 Die Welt allein führt nicht zu Gott, doch findet man Ihn auch nicht, indem man die Welt verlässt.16 Die Wendung des Menschen, seine „Umkehr“17 zu seiner wirklichen ex-zentrischen Mitte, zu seinem „eingeborene[n] Du“,18 mit anderen Worten, seine Gegenwärtigkeit vor dem Anderen macht das ewige Du für ihn selbst gegenwärtig. Buber behauptet, dass menschliche Existenz zu einer Art Sakrament wird: In Beziehung und Begegnung oder Zusammentreffen wird Gott in der Welt gegenwärtig. In einer mystischen Stimmung schreibt Buber, dass der Mensch „Gott in der Welt verwirklichen“ muss.19 Solidarität und Kontakte machen Gott wirklich; sie bringen die Menschen zum ewigen Du, das nie zum „Es“ wird.20 Die Beziehung mit dem ewigen Du bewahrheitet sich im konkreten Leben mit dem Anderen.21 Gott wird „die ewige Gegenwart“ genannt, die in Zeit und Raum gegenwärtig ist, wo und wann immer jemand einem Anderen gegenwärtig ist. Der Mann, der eine Frau wirklich liebt und sie vergegenwärtigt, kann in dem Du ihrer Augen „einen Strahl des ewigen Du schauen“.22 Gottes Gegenwart wird in der religiösen Situation des Menschen verwirklicht, die deutlich als „sein Dasein in der Präsenz“ charakterisiert wird.23

„Ich-Du“ und „Ich-Es“: getrennte Welten? Buber lädt seine Leser ein eine „Person“ zu werden, die in Beziehungen tritt, anstatt ein „Eigenwesen“ zu bleiben, das sich bloß gegen andere Eigenwesen absetzt.24 Im Gegensatz zum „Eigenwesen“ ist die sich beziehende „Person“ real und gelangt 15 Ebd., S. 69. Man muss in dieser Welt mit einer Art Andersweltlichkeit leben. Reine Realpolitik reicht nicht aus. In ihrem Die Wunder des Antichristen (1897) schreibt Selma Lagerlöf über die echte Statue, deren Königreich „nicht von dieser Welt ist“ und die durch eine falsche Statue ­ersetzt wurde, deren „Königreich nur von dieser Welt ist“. 16 Buber, Ich und Du, S. 72. 17 Ebd., S. 89. 18 Ebd., S. 28. 19 Ebd., S. 100. 20 Ebd., S. 98. 21 In Der heilige Weg. Ein Wort an die Juden und an die Völker, Frankfurt a. M. 1919, S. 85. Buber definiert die wahre Gemeinschaft als „die Verwirklichung des Göttlichen im Zusammenleben der Menschen“. 22 Buber, Ich und Du, S. 93. 23 Ebd., S. 85. 24 Ebd., S. 57.



„Ich-Du“ und „Ich-Es“: getrennte Welten? 

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sogar zur Ewigkeit in der Zeit: „Denn durch die Berührung jedes Du rührt ein Hauch des Du, das ist: das ewige Leben uns an“.25 Die Person, der sich beziehende Mensch, hat Anteil an der Realität. Je mehr man Kontakt hat mit einem Du, desto realer ist man und hat eine vollere Teilnahme an der Realität.26 Diese Arten von Reflexionen zum Wesen der Person und des Ego sind typisch für Bubers dialogisches Denken; sie zeigen deutlich, wie Buber mit Gegensätzen und Antithesen arbeitet. Sind die Ich-Du und die Ich-Es getrennte Welten, wie Buber sie darstellt? Man möchte sich wünschen, dass Buber mit mehr Nuancen zur genauen Beziehung zwischen Ich-Es und Ich-Du geschrieben hätte; anders gesagt, zum Verhältnis zwischen institutioneller, strategischer Vernunft und zur Vernunft des Herzens.27 In der Tat hat Buber weitgehend die institutionellen Seiten menschlicher Existenz vernachlässigt. Wirtschaftliche, politische und wissenschaftliche Strukturen sind nicht notwendigerweise böse und – wie Buber wusste – haben sie Bedeutung und Gewicht, wenn sie mit den zwischenmenschlichen Begegnungen, mit dem „Geist“ verknüpft werden.28 Wahrlich hat Buber der strategischen Rationalität nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt, doch sind seine Worte, die aus der Vernunft des Herzens fließen, ein willkommener Protest in einer Welt des globalen Kapitalismus, der wirtschaftlichen Diskriminierung, der Realpolitik, und an zu vielen partiellen Zugängen zum Menschen. Die Vernunft des Herzens, die in Ich und Du zum Ausdruck kommt, führt zu Gedanken, die eine Alternative zum üblichen Ansatz für regionale und internationale Konflikte bieten. Anstatt auf Konflikt und Opposition zu basieren, arbeitet diese Alternative mit fürsorgender Beziehung zu anderen Gemeinschaften. Der Gesamteindruck, den ich aus der Beziehung zwischen „Ich-Es“ und „Ich-Du“ in Bubers Ich und Du gewinne ist der, dass sie völlig getrennte Welten repräsentieren, auch wenn Buber selbst den Übergang von „Es“ zu „Du“ bestätigt. Es gibt in großen Linien zwei Haltungen gegenüber der Welt, die meist separat erscheinen, doch hier und da, in allzu seltenen Momenten, verbindet Buber sie. Er schreibt zum Beispiel, dass der Geist die „Eswelt“ durchdringt und verwandelt.29 Das Leben im Angesicht Gottes ist sowohl Leben in der „Eswelt“ als auch in der „Duwelt“. Die Doppelbewegung einer Hinwendung zum „Du“ 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Zur Bedeutung der „strategischen Vernunft“ und dem dialektischen Verhältnis zwischen strategischer Rationalität und Kommunikation siehe Vittorio Hösle, Praktische Philosophie in der modernen Welt, München 1992, S. 59–86; siehe auch Ephraim Meir, „Buber’s and Levinas’ Atti­ tudes towards Judaism“, in Peter Atterton / Matthew Calarco / Maurice Friedman (Hg.), Levinas and Buber. Dialogue and Difference, Pittsburgh 2004, S. 146–148. 28 Buber, Ich und Du, S. 46. 29 Ebd., S. 89.

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 Dialogische Philosophie und gesellschaftlicher Wandel

und einer Entfremdung vom „Du“ sind „gnadenhaft eingehegt in der zeitlosen Schöpfung“.30 In poetischen Worten schreibt er „Unser Wissen um die Zweifalt verstummt vor der Paradoxie des Urgeheimnisses“.31 Trotz solcher Passagen sind Äußerungen über die Verbindung der beiden Grundwörter Ich-Du und Ich-Es in Ich und Du relativ selten. Doch das Verständnis der genauen Beziehung zwischen Ich-Du und Ich-Es ist von entscheidender Bedeutung, wenn wir ein nicht nur gewaltfreies, sondern auch effektives Denken entwickeln wollen, das die Komplexität des Ich-Es berücksichtigt und das für weitere Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien geeignet ist. Bubers eigenes Zögern hinsichtlich der Beziehung zwischen der „Eswelt“ und der „Duwelt“ würde wahrscheinlich so unterschiedliche Interpretationen erklären wie die von Michael Theunissen und Jochanan Bloch, die beide den Buberschen Gegensatz zwischen „Ich-Es“ und „Ich-Du“ hervorheben.32 Theunissen glaubt, dass Buber das „Du“ der Welt entreißt, während Bloch der Ansicht ist, dass das „Du“ nicht transzendent gegenüber der Welt ist, sondern vielmehr darin verwurzelt. Meine eigene Position in dieser Debatte ist die, dass Buber auf der Beziehung zwischen „Ich-Es“ und „Ich-Du“ besteht, weil ein „Du“ wieder zum „Es“ werden muss und ein „Es“ zum „Du“ werden kann: das „Du“ „muss […] zu einem Es werden“ und „das Es […] kann zu einem Du werden“.33 Es besteht ein gewisser Zusammenhang zwischen den beiden Welten, doch hat Buber sie zu stark getrennt. Er hat die Tendenz, die beiden grundlegenden Zugänge zur Welt auseinanderzuhalten. Zwischen den beiden Grundwörtern – Ich-Du und Ich-Es – besteht eine Spannung und diese Spannung entwickelt sich zu schnell zu einem Gegensatz. Bubers Spiritualität ist daher, obwohl sie welt-orientiert ist, nicht unproblematisch. Man kann jedoch nicht leugnen, dass er die Welt liebt oder dass er sie nicht verlassen will, um in Berührung mit dem ewigen Du zu kommen. Sein Denken steht daher in radikalem Gegensatz zu dem des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, der davon ausging, dass man der Welt den Rücken zuwenden müsste, um ein enkelte – ein Individuum oder einzigartiges Wesen vor Gott – zu werden.34 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Vgl. Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1965; S. 307, 312–314 (diese Arbeit war ursprünglich eine Dissertation an der Freien Universität Berlin), und das Kapitel „Das Verhältnis des Du zum Es“ in Jochanan Bloch, Die Aporie des Du. ­Probleme der Dialogik Martin Bubers (Phronesis 2), Heidelberg 1977, S. 245–278 (dieses Buch beinhaltet Blochs Dissertation von 1968 an der Universität Berlin, in der er Zusätze anführt und sich explizit mit Theunissens Arbeit auseinander setzt). 33 Buber, Ich und Du, S. 32. 34 Martin Buber, „Die Frage an den Einzelnen“, in ders., Werke. Erster Band. Schriften zur Philosophie, München / Heidelberg 1962, S. 215–261.



Die Herausforderung eines transformativen Denkens  

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In Bubers Denken ist Existenz Koexistenz, und die wahre Bedeutung von Wirklichkeit kommt in der Gegenwärtigkeit des Ichs gegenüber dem Du zum Ausdruck, das ebenfalls gegenwärtig wird. Im tiefsten Sinne ist das Ich ein umkehrendes Ich.

Hebräischer Humanismus In Ich und Du ist Buber ein atypischer Mensch, der an verschiedenen Lebensstilen interessiert und offen für solch verschiedene Persönlichkeiten wie Buddha und Jesus ist, die keine Philosophie entwickeln wollten, sondern eher einen Weg zeigten. Laut Buber gehört das Volk des Geistes verschiedenen Kulturen an und bringt der Welt Erneuerung. Dialog verändert das Antlitz der Welt und bringt sie in Kontakt mit Gott. Aus diesem Grund ist Buber ein religiöser Humanist, aber auch mehr: ein hebräischer Humanist. Ihn inspirierte der Chassidismus, der das tägliche Leben heiligt, und in dem die Materie nicht verleugnet oder abgeschafft, sondern durch den Geist befruchtet und erhöht wird. Er schreibt über Funken, über das Bauen von Gottes „Form“ und die Transformation der Eswelt, eine Umwandlung, die die oberen Welten beeinflusst. Buber schreibt über die Wiedervereinigung Gottes mit der göttlichen Einwohnung, die man in der jüdischen Mystik yihud nennt. Ebenso erinnern seine Gedanken zum ganzheitlichen Menschen – „dem ganz gewordenen Menschen“35 – an den Chassidismus: Der ganzheitliche Mensch entspricht dem tzaddiq, dem Gerechten. Schließlich haben auch seine Ideen über Gottes Omnipräsenz, über die Gottesebenbildlichkeit des Menschen und über die NichtWirklichkeit des Bösen ihre Wurzeln im chassidischen Denken. Mit seinen von der chassidischen Mystik geprägten religiösen und humanistischen Gedanken erinnert Buber Europa an dessen verlorengegangenes oder längst vergessenes Vermächtnis einer ursprünglichen Wirklichkeit – die Wirklichkeit der Gegenwärtigkeit, die an Zeit und Raum gebunden ist und letzten Endes die Gegenwärtigkeit Gottes in der Welt ist.

Die Herausforderung eines transformativen Denkens Bubers Gedanken in Ich und Du gehören zu einer wachsenden Bewegung von relationalem Denken, in dem das getrennte Selbst als ein abstraktes mentales Konstrukt betrachtet wird. Er formuliert eine Alternative, indem er das Ich als den Einen-in-der-Gegenwärtigkeit-des-Anderen oder als den Einen-für-den-Anderen 35 Buber, Ich und Du, S. 70.

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 Dialogische Philosophie und gesellschaftlicher Wandel

versteht. Dieses gewaltlose Denken über das verbundene Ich enthält Möglichkeiten, die bei Verhandlungen zwischen Konfliktparteien und Konfliktlösungsansätzen nicht genügend in Betracht gezogen werden. Bubers Gedanken zum Ich-in-Beziehung ist eine Alternative zu den vielen Theorien über die Selbstentwicklung und Selbstverwirklichung. Es konstituiert ein Denkmodell mit transformativer Kraft. Das kooperative Modell ersetzt hier das konkurrierende Modell. Das Modell des Ich-in-Beziehung ersetzt das Modell des getrennten Ich. Bubers Idee des Ich, das erst in der Beziehung zum Anderen zum Ich wird, ist weder ein emotionaler noch eine rationaler Zugang, sondern ein ganzheitlicher: Das Ich ist dazu bestimmt „ganz“ zu werden in seiner Beziehung zum Du. Das Ich ist nicht dazu bestimmt ein Ich-Es mit fragmentarischen Zugängen zu bleiben, sondern mit seinem ganzen Sein ein Ich-Du zu werden.

Dialog zwischen Gruppen Bubers humanistische Philosophie kann dadurch auf entscheidende Weise zur Lösung von regionalen und internationalen Konflikten beitragen, dass sie die Entwicklung eines wirklichen Zugangs zur Interaktion von Gruppen ermöglicht. Sein dialogisches Denken stellt einen Protest gegen das totalitäre Denken und die totalitären Tendenzen des Egos dar. Es ist eine Herausforderung, die Ergebnisse seines dialogischen Denkens auf dem Gebiet des Gruppenverhaltens anzuwenden.36 Eine Ich-Es Perspektive führt durch den Mangel an Offenheit gegenüber dem Anderen zu einer Entpersonalisierung und zur Unterdrückung der Freiheit des Menschen. Im Gegensatz dazu ist in der Ich-Du Beziehung Existenz Koexistenz. Auf der Ebene kollektiver Egos entwickelt eine nicht in Beziehung stehende Gruppe eine pathologische Haltung, wohingegen eine sich beziehende Gruppe sich selbst als positiv durch die anderen Gruppen konstituiert wahrnimmt. ­Kollektive Selbst sind authentisch, wenn sie mit kollektiven Nicht-Selbst interagieren. Sie sind nicht authentisch, wenn sie die konkrete Existenz anderer Gruppen leugnen. Der Gegensatz zwischen den zwei Arten von Gemeinschaften spiegelt sich im Gegensatz zwischen der possessiven Aggression der narzisstisch orientierten Gruppen wider, die den Anderen nicht als „wirklich“ ansehen, und dem friedvollen Verhalten der positiv gesinnten Gruppen, die den Anderen „gegenwärtig“ machen. Auf der kollektiven Ebene gestattet die Philosophie Bubers eine Abschwächung internationaler Spannung und die Vermeidung von Unterdrückung, Kolonialismus und Xenophobie. Sie erlaubt Gruppen, an einem 36 Siehe Ephraim Meir, „The Contributions of Modern Thought to a Psychoanalytic Phenomenology of Groups“, Psychoanalysis and Contemporary Science 19,4 (1996), S. 563–578.



Der Geist Israels 

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konstruktiven Dialog und gegenseitigem Verstehen zu arbeiten und in einer spirituellen und inspirierenden Welt der Zwischen-Sphäre zu leben.

Der Geist Israels Buber selbst hat sein intersubjektives dialogisches Denken auf der politischen Ebene angewandt. 1939 hielt er in Jerusalem eine Vorlesung zum Thema „Der Geist Israels und die Welt von heute“.37 In diesem Vortrag setzt er sich mit dem Problem von Nazi-Deutschland und mit Deutschlands enggefasstem Nationalismus auseinander, der die Juden bedrohte. In Bubers Vorstellung offenbart der „Geist Israels“ eine ganz andere Welt. Er stellt das Deutschland der 30er Jahre dem Geist Israels gegenüber, doch warnt er seine Zuhörer, dass dieser Geist nicht dauerhaft gegeben ist – also nicht ein ständiger Besitz des Volkes Israel sei, sondern er muss sich angeeignet und verwirklicht werden. „Der Geist Israels ist ein Geist der Verwirklichung“.38 Zu Beginn seines Vortrags erinnerte Buber an die jüdische Erzählung von den 70 Engeln, die die 70 Nationen der Welt anführen. Jeder führende Engel vertritt vor Gott seine Nation. Wenn die Nationen sich gegenseitig bekämpfen, so kämpfen die Engel gegeneinander. Jeder Engel hat seine eigene Aufgabe und erhält von Gott die Fähigkeit, diese spezifische Aufgabe zu erfüllen. Die Engel müssen verantwortlich handeln und müssen ihre Pflicht gegenüber Gott erfüllen. Buber merkt an, dass es Engel gibt, die vergessen haben, wer ihnen die Macht gegeben hat. Man könnte denken, so fährt Buber fort, dass auch das jüdische Volk seinen eigenen Engel habe. Doch lebt diese Nation nicht unter dem Joch eines Engels, sondern unter dem Joch Gottes selbst. Der Urquell Israels kann daher nicht in der Vielheit anderer Nationen gefunden werden, wo die Engel gegeneinander kämpfen, sondern im Herrn der Welt selbst. Mit dem Erzählen dieser Geschichte stellt Buber sich dem kollektiven Selbst derjenigen Nationen gegenüber, die nicht nach der Wahrheit leben, die über allen Völkern ist. Diese Wahrheit muss in einer vereinten Menschheit verwirklicht werden. Insbesondere kritisierte Buber Nazi-Deutschland, das sich selbst zu einem Götzen gemacht hatte. Eine Nation, so schreibt er, kann niemals Gott selbst sein. Eine Nation kann sich selbst isolieren, indem sie einen Staatsmythos erschafft und ihren kollektiven Egoismus rechtfertigt. In solch einem Fall wird der Staat zu etwas Absolutem, das den Anspruch erhebt die höchste Autorität zu ersetzen. 37 Martin Buber, „Der Geist Israels und die Welt von heute“, in ders., An der Wende. Reden über das Judentum, Köln / Olten 1952, S. 13–33. 38 Buber, „Geist Israels“, S. 23.

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 Dialogische Philosophie und gesellschaftlicher Wandel

Wie ich bereits bemerkt habe, ist es der Geist, der in Ich und Du zwischen dem Ich und dem Du regiert, er ist das lebendige Wort des Dialogs. In seiner Rede von 1939 wendet Buber sein Denken bezüglich des Geistes auf die Beziehungen zwischen Gruppen an. In einer positiven Interaktion zwischen Gruppen entsteht Frieden. Der „Geist“, so schreibt er, muss verwirklicht werden: Durch Dialog wird die Welt eins und vereint, nicht ein Konglomerat von verschiedenen Gliedern, die fälschlicherweise denken, dass sie allein den ganzen Körper bilden. „Einheit“ ist ein anderer Schlüsselbegriff im Vortrag über den Geist Israels. Mit dem Wort Einheit denkt Buber nicht an die Einheit eines begrenzten Bereiches, sondern an die Einheit der gesamten Menschheit. Die jüdische Nation als eine Nation mit vielen Gesichtern kann auf paradigmatische Weise „ein Leben der Einheit und des Friedens“ führen.39 Israel ist demnach dazu berufen und bestimmt „ein wahres Volk“ zu werden40 – das „eine Volk“, wie es im Nachmittagsgebet des Schabbat heißt. Daher ist es dazu berufen einer Vorreiterrolle in der Herausbildung einer authentischen Gemeinschaft, die den Weg zu einer Völkergemeinschaft ebnet, einzunehmen. In seiner Vorlesung über Israel blieb Buber realistisch: Es war ihm bewusst, dass das jüdische Volk oft seine Aufgabe vergaß. Er sagte sogar zu seinem Jerusalemer Publikum – in recht harschen Worten –, dass das jüdische Volk keine authentische Nation geworden sei, die den Nationen auf ihrem Weg zur Verwirklichung der Wahrheit vorangehen würde. Ungeachtet dieser höchst kritischen Bemerkung erwähnte Buber den Chassidismus als eine Bewegung, die eine brüderliche Gemeinschaft um die lebendige Wirklichkeit des einen Gottes herum gegründet hat. Zudem glaubte er, dass die Rückkehr der Juden ins Land Israel eine weitere Möglichkeit zur Verwirklichung von Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit darstellt: Die erhabene Botschaft Israels soll nicht ohne Verwirklichung bleiben, jedoch sollte es auch keine bloße Verwirklichung ohne die höhere Vision von Gottes Königreich geben.

Enger Nationalismus und kommunikative Offenheit Buber selbst war während des Ersten Weltkrieges durch Gustav Landauer von seinem engen Nationalismus kuriert worden. Bubers Freund Landauer, der ihn „KriegsBuber“ nannte, bewegte ihn dazu, von seiner patriotischen, deutsch-­ nationalistischen Haltung und seiner Kriegsmetaphysik Abstand zu nehmen und

39 Ebd., S. 19. 40 Ebd., S. 20.



Enger Nationalismus und kommunikative Offenheit 

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sich mehr an die dialogische Haltung anzunähern.41 Buber ließ nach und nach von seiner Glorifizierung Deutschlands zugunsten seiner Dialogphilosophie ab. Ich und Du stellt einen Meilenstein in Bubers Schriften dar. Er konzen­ trierte sich weniger auf die problematische Seite des Menschen als vielmehr auf die Möglichkeit seiner Orientierung hin auf Andere. Während Jean-Paul Sartre Beziehung als die Objektivierung des Anderen charakterisiert und seinen Fokus auf die problematische Seite von Beziehungen legte, entwickelte Buber einen positiveren Zugang. Sartre analysierte le regard als antagonistisch und Konflikt beladen. Buber hingegen war von der „Gegenwärtigkeit“, durch die man den Anderen mehr gegenwärtig macht, fasziniert. Beide Denker hatten zum Ziel, die Menschen von spiritueller Knechtschaft zu befreien. Sie protestierten gegen entmenschlichende Strukturen und wollten den Menschen zu wahrer Freiheit leiten, die Sartre in der Wahlfreiheit (die im besten Fall zum Humanismus führt) und Buber in der höheren Freiheit von Beziehung sieht. Für Buber liegt das Wesentliche der Freiheit im Sich-auf-Andere-Beziehen. Die zwischenmenschliche Beziehung ist analog zur Beziehung zwischen einer Gruppe und anderen Gruppen. Das beziehende kollektive Selbst wird vollkommen verwirklicht, indem es das andere kollektive Selbst verwirklicht. Buber lehnte besitzergreifende und destruktive Haltungen zugunsten eines konstruktiven und einladenden Zugangs zum Anderen ab. Durch die positive, weit hinausreichende Beziehung zu anderen Gruppen werden diese Gruppen bestätigt und anerkannt. Diese Haltung würde Menschen aus einer Sackgasse befreien, in der wirkliche Offenheit nicht mehr denkbar ist. Buber war weniger damit beschäftigt, Situationen zu analysieren, in denen Gruppen sich auf andere als Feinde beziehen, da er seine Leser zu einer alternativen Vision führen wollte. Die Kommunikation kollektiver Ichs wäre eine wirkliche Möglichkeit, obwohl er realistisch erkannte, dass diese Möglichkeit nicht oft in die Tat umgesetzt wurde. Für die Gruppe wäre gegenseitige Fürsorge und Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit grundlegend. Wahre Gemeinschaft wäre für Buber nicht die Summe aller Individuen. Eine wahre Gemeinschaft ist eine Gemeinschaft von Menschen, die sich umeinander kümmeren und sich gegenseitig unterstützen. In diesem Sinne wäre die ökonomische Gruppe, die an der bloßen materiellen Struktur des Menschen interessiert ist, keine wahre Gemeinschaft. Auch einer politischen Gruppe, die Eigeninteressen verteidigt, würden die Merkmale einer wirklichen Gemeinschaft fehlen, die als Ziel hat, vollkommene menschliche Beziehung zu fördern. Das Ziel der Gruppe liegt für Buber in der Förderung aller ihrer Glieder und in der Beziehung zu anderen Gemeinschaften. 41 Siehe Paul Mendes-Flohr, From Mysticism to Dialogue. Martin Buber’s Transformation of ­German Social Thought, Detroit 1989, S. 97–101.

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 Dialogische Philosophie und gesellschaftlicher Wandel

Ich denke nicht wie so viele, dass Bubers dialogisches Denken auf die Bereiche der Freundschaft und zwischenmenschlicher Nähe beschränkt war. So hebt er z. B. hervor, dass Politik, Wirtschaft und die vielen Einrichtungen der Gesellschaft immer in dialogischen Gesinnungen verwurzelt sein müssen, ohne die wahre Gesellschaft nicht möglich ist. In Theorie und Praxis war Buber um die dialogische Interaktion zwischen Gruppen besorgt. Er wandte seine Einsichten in die gesunden Beziehungen zwischen Menschen auf das an, was zwischen Gruppen passieren kann, wenn sie einmal die reife Ebene wahrer Kommunikation erreicht haben.

Alternatives Denken Bubers dialogisches Denken ist ein Modell zur Konfliktbewältigung und zur Erlangung gesellschaftlicher Reform. In seinem existenziellen Denken macht Beziehung das Ich nicht ärmer, sondern bereichert es. Dies gilt auch auf der Ebene von Gruppen. Das kollektive Ich wird menschlicher in seiner Verwirklichung der Offenheit gegenüber dem anderen kollektiven Ich. In der Beziehung wird der „Geist“ konkret: das Ich wird authentisch in der Beziehung zum Nicht-Ich. Es trifft zu, dass Buber nicht genug der Tatsache Rechnung trägt, dass die Natio­nen ihre Machtspiele treiben. Aber sein ontologischer Gedanke zu Begegnung als „wirkliches Leben“,42 das sich in der kurzen Formel „Im Anfang ist Beziehung“ ausdrückt, ist eine willkommene Korrektur zur Realpolitik ohne jegliche Beziehung zu dem, was den Menschen wirklich menschlich macht. Buber war einer der humanistischen, pazifistischen und sozialen Denker, wie auch Gustav Landauer und Hans Kohn (Bubers Biograph), die an die Möglichkeit einer Veränderung im Menschen glaubten. Er war ein Utopist, der sich um die utopische Verwirklichung seiner Vision bemühte. Auf diese Weise wollte er Wirtschaft als das „Gehäuse des Nutzwillens“ und Staat als „das Gehäuse des Machtwillens“ am Geist, der unter den Menschen wohnt, teilhaben lassen.43 Er glaubte nicht stark genug daran, dass Strukturen die bösen Neigungen des Menschen minimieren könnten, sondern sein anti-institutionelles, fast anarchisches Denken führt uns zurück zur tiefen Wirklichkeit der Begegnung, die die wahre Bestimmung des Menschen ist. Menschen und Nationen, die nach Macht streben und ihren Interessen folgen, stellen nur eine Facette der Wirklichkeit dar. Die andere Facette ist die Möglichkeit der Kommunikation, durch die man sich dem Spiel der bloßen Macht entgegenstellt und andere Menschen und andere Nationen gegenwärtig und wirklich macht. 42 Buber, Ich und Du, S. 15: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ 43 Ebd., S. 46.

Kapitel 11 Interreligiöse Theologie als eine neue Art von Theologie Höre die Wahrheit, wer sie auch spricht. (Maimonides, Einleitung zu Shemona Peraqim)

Dieses vorletzte Kapitel untersucht die Beziehung zwischen traditioneller Theologie, Religionswissenschaft, Religionsphilosophie, kontextueller Theologie, vergleichender Theologie und interreligiöser Theologie.

Klassische Theologie oder Religionswissenschaft? Der Titel dieses Abschnitts stellt ein Dilemma dar. Sollten wir Wissenschaftler objektiv Religion mit Hilfe der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen untersuchen? Oder sollte man sich dem kulturellen Phänomen der Religion eher von innen nähern, indem man die Vernunftgründe der eigenen Religionen erhellt? Ist Theologie (in Israel jüdische Philosophie genannt) mehr als Religionswissenschaft? Hat sie einen Mehrwert? Von Anfang an möchte ich klarstellen, dass das Dilemma, das auf diese Weise formuliert wird, ein falsches ist, welches aus einem irrtümlichen Ausgangspunkt entsteht. Ich bin der Meinung, dass die Frage der Wahl zwischen Religionswissenschaft oder Theologie problematisch ist. Sie impliziert, dass eine Wahl zwischen einer Außenperspektive auf Religion und einer Innenansicht getroffen werden sollte. Ich vertrete vielmehr den Standpunkt, dass eine objektive, wissenschaftliche Herangehensweise an die Religion durch eine eher empathische, theologische Klärung der eigenen Religion als intellektuelle Darstellung des eigenen Glaubens ergänzt werden kann. Umgekehrt können die theologischen Erkenntnisse, die von der Person stammen, die ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion bekennt, von einer externen Sicht der Dinge profitieren. Anerkennung widerspricht nicht Wissen. Die wechselseitige Beziehung zwischen der inneren und der äußeren Perspektive wird möglich, weil Religion selbst als kulturelle und soziale Manifestation, als konkret gelebt und kritisch reflektiert, sui generis und zugleich nie von anderen menschlichen Realitäten und kulturellen Manifestationen getrennt ist.1 1 Siehe Falk Wagner, Art. „Religion“, in Theologische Realenzyklopaedie. Band 28, hg. von Gerhard Müller et al., Berlin 1997, Sp. 537: „Im Interesse einer nicht bloss prinzipiell-begrifflichen, gar dogmatisch und berufstheologisch verengten, sondern empirisch gehaltvollen Erfassung der faktisch gelebten Religion sind die Binnenperspektive ihrer religionstheologischen (Selbst)Beschreibung und die Aussenperspektive ihrer externen Beobachtung aufeinander zu beziehen.“

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 Interreligiöse Theologie als eine neue Art von Theologie

Verschiedene Aufgaben Soweit es sich nicht um rein konfessionelle Theologie handelt, die einen bestimmten Glauben oder eine religiöse Ansicht in Hinblick auf eine bestimmte Religionsgemeinschaft verteidigt, entwickelt wissenschaftliche Theologie als die Untersuchung einer gelebten Erfahrung eine kritische Sicht auf das religiöse Phänomen. Andererseits ist ein objektives, deskriptives Studium der Religion ohne die konkret gelebte Praxis des religiösen Menschen eine blutleere und blasse Angelegenheit. Theologie spricht über das Unaussprechliche und seine Bedeutung für die konkreten Religionsgemeinschaften, während sich die Religionswissenschaft auf die Untersuchung der verschiedenen Aspekte von dem, was kulturell und gesellschaftlich zum Ausdruck kommt als Reaktion auf das Unaussprechbare beschränkt. Ich glaube nicht, dass Theologie als kritische Reflexion über die eigene Religion einen zusätzlichen Wert im Vergleich zum objektiven Blick der Religionswissenschaft, welche ihre eigene Daseinsberechtigung hat, besitzt. Die Religionswissenschaft hat den Vorteil Religion, wie sie täglich von Menschen gelebt wird, zu beschreiben und so einen „hochkirchlichen“ Zugang zu vermeiden. Theologie, die in die innere Erfahrung des Gläubigen eintritt, unterscheidet sich von der Religionswissenschaft darin, dass sie mehr als rein deskriptiv ist: sie beschäftigt sich mit Transzendenz und erklärt das Verhalten und Denken einer Religionsgemeinschaft von innen heraus. Theologie und Religionswissenschaft haben unterschiedliche Aufgaben, sodass die Frage der Wahl zwischen ihnen irrelevant wird. Beides sind legitime Ansätze und die Tatsache, dass man vom Anderen lernen kann, verhindert beim Studium der Religion extreme Standpunkte. Theologie lehnt es ab, Religion zu trivialisieren und lehrt uns, dass Wertschätzung mehr bedeutet als Information. Von der Religionswissenschaft kann man lernen, dass Religion Teil des menschlichen Lebens ist, der im Kaleido­ skop der Wissenschaften studiert wird. Die Religionswissenschaft analysiert reli­ giöse Äußerungen nicht im Hinblick auf ihre Wahrheit, sondern als Reflexionen sprachlicher, psychologischer, soziologischer, kultureller oder politischer Gegebenheiten. Wissenschaftliche Theorien geben Auskunft über das, was ist, Theologie erörtert das Ziel von allem, was ist. Erstere sind an dem interessiert, was ist, letztere an dem, was sein könnte und was jenseits des Seins „ist“. Doch bildet die Religionswissenschaft als Wissenschaft von dem, was „ist“, keine metabasis eis allo genos in Bezug auf die Theologie. Theologie als rationale Reflexion über Religion, die einer gelebten Praxis den Vorrang gibt, unterscheidet sich von der Religionswissenschaft als einem Theoriekomplex, der nicht nach den letzten Wahrheiten und Bedeutungen sucht. Man „weiß“ in der Theologie anders als in der Religionswissenschaft. Auf jeden Fall wird mit Kants subjektiver Wende



Die Frage der säkularen Wissenschaft 

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verhindert, dass Theologie objektiv die Existenz Gottes „beweist“. Eine postkantianische Theologie verbindet Gott mit dem Menschen auf dessen Suche nach Sinn. Religionswissenschaften untersuchen Religion wissenschaftlich mit Hilfe wissenschaftlicher Disziplinen wie Soziologie, Anthropologie oder Textkritik. Klassische Theologie konzentriert sich auf ein Jenseits und dessen Bedeutung in konkreten Religionsgemeinschaften. In einem hervorragenden Artikel plädierte Perry Schmidt-Leukel für zwei Ansätze in der Religionswissenschaft: einen atheistischen Ansatz und einen religiösen Ansatz.2 Er übernimmt einen „methodologischen Agnostizismus“, indem er sagt, dass beide Ansätze sich ihrer Voraussetzungen bewusst sein und auf apodiktische Äußerungen verzichten sollten. Kein Ansatz sollte sich als Erreichen der absoluten Wahrheit präsentieren. Aus meiner Sicht ähnelt die Position SchmidtLeukels Wilhelm Diltheys Unterscheidung zwischen „erklären“ und „verstehen“. Natürlich behielt Dilthey die letzte Kategorie den Geisteswissenschaften vor, während die erste Kategorie die Naturwissenschaften betraf. Einem Text wie der Bibel oder dem Zohar kann man sich zum Beispiel in seiner religiösen Bedeutung für heute von einem historisch-philologischen Standpunkt aus als auch von einem religiösen Standpunkt aus annähern. Die rein wissenschaftliche Untersuchung sollte nicht zugunsten der Theologie aufgegeben werden, genauso sollte konfessionelle Theologie niemanden davon abhalten, mit empirischem oder historischem Wissen zu arbeiten. Die Kombination beider Disziplinen verhindert Fundamentalismus sowie einen wissenschaftlichen Dogmatismus. Wenn Theologie eine bloße Funktion der religiösen Gemeinschaft ist, verliert sie ihren autonomen und wissenschaftlichen Charakter. Sie wird dann zum Parasiten essentialistischen Denkens. Wenn andererseits die Religionswissenschaft eine Monopolstellung einnimmt, geht die Bedeutung der Religion für konkrete Gemeinden gegen Null.

Die Frage der säkularen Wissenschaft Das falsches Dilemma, laut dem man verpflichtet ist, eine äußere Sicht oder eine innere Perspektive innerhalb wissenschaftlichen Denkens anzunehmen, ergibt sich vielleicht aus dem Bedürfnis heraus, säkulare Wissenschaft zu be- oder entwerten. Es könnte auch dem Wunsch, die Bedeutung der konfessionellen Theologie zu minimieren, entstammen. 2 Perry Schmidt-Leukel, „Der methodologische Agnostizismus und das Verhältnis der Religions­ wissenschaft zur wissenschaftlichen Theologie“, Berliner Theologische Zeitschrift 29,1 (2012), S. 48–72.

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 Interreligiöse Theologie als eine neue Art von Theologie

Von einem traditionellen religiösen Standpunkt aus wird säkulare, weltliche Wissenschaft oft als Bedrohung angesehen, als Relativierung der Religion mit ihrem Absolutheitsanspruch und mangelndem Respekt vor der Religion als Versuch, Antworten auf letzte existenzielle Fragen zu geben. Diesen Verdacht oder das frustrierte Gefühl einer Bedrohung durch die Verhaltens-, Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften gibt es wahrscheinlich nicht ohne Grund. Ein Psychologe könnte zum Beispiel Religion als Neurose diagnostizieren und Gläubige als Patienten mit zwanghaftem Verhalten auf die Psychologencouch legen. In einem anderen Bereich kann man die Bibel aus einer rein philologischen, historischen und literarischen Perspektive studieren und den aktuellen Wert vergessen, den ihr die Gläubigen im täglichen Leben zuerkennen und auf den sie ihr Leben stützen. Ich sehe hier keinen erkenntnistheoretischen Konflikt. Theologie und Religionswissenschaft sind beide gültige Möglichkeiten Religion zu untersuchen.

Komplementäre Standpunkte Gefühle der Bedrohung der Theologie aus der Sicht der Religionswissenschaft oder der Bedrohung der Wissenschaft aus der Sicht der Theologie werden ver­ ringert und können sogar nicht einmal entstehen, wenn man von Anfang an eine Vielzahl von Standpunkten einnimmt. In gewisser Perspektive ist das, was in Aschrams, Synagogen oder Moscheen passiert, Theater. Aus der Sicht derer, die an diesen Orten zuhause sind, ist es viel mehr als Theater. Es ist die Erfahrung der Tiefendimension im Leben. Noch ist Glaube, von innen gesehen, eine bloße Projektion von Bedürfnissen des Unterbewusstseins. Er ist ein spirituelles Ereignis, eine (Re-)Orientierung im Leben, ein Bewusstsein von und eine Sensibili­ tät für ein transzendentes Geheimnis oder eine letzte Wirklichkeit. Doch ist eine Innenansicht genug, und braucht es nicht auch eine Außenansicht, ebenso wie die Außenansicht ohne das Innen-Verständnis unvollständig ist? Theologie kann ohne die Religionswissenschaft nicht gedeihen, weil Religion auch eine kulturelle Erscheinung ist. Andererseits braucht Religionswissenschaft theologische Einsichten, wenn sie keine reduktive Wissenschaft sein will. Theologie erwächst aus der inneren Glaubenserfahrung, die reiner Objektivierung widerspricht. Ich verwende hier den Ausdruck „innere Glaubenserfahrung“ mit der größtmöglichen Bedeutung des Wortes, um die notwendige wissenschaftliche Freiheit zu garantieren. Dies schließt die Beschreibung der Erfahrungen des Erhabenen auf objektive Weise wie in William James’ Arbeit nicht aus. Eine solche objektive Darstellung des Phänomens des Glaubens erhält große Bedeutung, wenn man bedenkt, wie unterschiedliche Menschen ihre bestimmte



Die Fallstudie des Chassidismus 

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Religion auf eine Weise leben, die oftmals für die Anhänger einer anderen Religion unverständlich ist. Die Religionswissenschaft kann uns so mit der Tatsache konfrontieren, dass es mehr als einen Weg gibt, um die letzte Wirklichkeit zu leben. Sie ist nicht auf der Suche nach Werten, aber sie ist nicht unbedingt blind gegenüber Werten. Sie kann sogar die Augen öffnen gegenüber den Werten, die von den Menschen gelebt werden, die ihr Leben rund um das Unsagbare auf solche Weise organisieren, die sich wesentlich von einem herkömmlichen religiösen Blickpunkt unterscheidet. Religionswissenschaft ist verpflichtet einzugestehen, dass religiöse Erfahrungen nicht auf Tatsachen reduziert werden können, ohne das transzendente Element zu berücksichtigen, so wie Musik nicht auf ein akustisches Phänomen reduziert werden kann. Theologie kann von der Religionswissenschaft lernen, dass die einzigartige Erfahrung des Gläubigen zu einem gewissen Grad objektiviert werden kann. Theologie muss des Weiteren kritisch wie die Religionswissenschaft sein und sollte zum Beispiel akzeptieren, dass laut Kant „Beweise“ für die Existenz Gottes höchst problematisch geworden sind.

Die Fallstudie des Chassidismus Die falsche Dichotomie zwischen Theologie oder Religionswissenschaft offenbart sich in der berühmten Kontroverse zwischen Gershom Scholem und Martin Buber. Scholem, der Begründer der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Kabbala, kritisierte Bubers Deutung des Chassidismus scharf aufgrund dessen fehlender Berücksichtigung aller historischer Fakten. Buber verblüffte Scholem mit der Feststellung, dass er sich für Geschichte als solche nicht inter­ essiere; sein Ziel sei es, die heutige Kraft des chassidischen Glaubens hervorzuheben. Die Perspektiven beider waren völlig verschieden. Scholem war an historischer Wissenschaft interessiert, während Buber die belebenden Elemente im Chassidismus, die nicht auf rein objektiven Kenntnissen basieren können, erhalten wollte. Sie hatten beide recht. Wie Maurice Friedman in seinem letzten Buch feststellte: In der Schlussfolgerung, die ich für das Leo Baeck Annual zur Kontroverse zwischen Scholem und Buber über die Auslegung des Chassidismus schrieb, zitierte ich das bekannte talmudische Diktum: ‚Jeder Streit, der um des Himmels willen stattfindet, wird andauern.‘ Der Streit zwischen Scholem und Buber wird andauern, behauptete ich, ohne die Notwendigkeit, wie bei so viele solcher Kontroversen, entweder Scholem oder Buber recht zu geben.3 3 Maurice Friedman, My Friendship with Martin Buber, New York 2013, S. 77: „In the conclusion that I wrote for the Leo Baeck Annual on the controversy between Scholem and Buber over the

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 Interreligiöse Theologie als eine neue Art von Theologie

Interreligiöse Theologie Wir wollen nun den Leser einen Schritt weiter in die interreligiöse, dialogische, praxis- und prozessorientierte Theologie hineinführen. Theologie als Disziplin des Nachdenkens über Glauben, Ritual und spirituelle Praktiken kann akzeptieren, dass es viele Möglichkeiten gibt, um zu einem spirituellen, erleuchteten Leben zu gelangen. In diesem Fall neigt konfessionelle Theologie dazu, sich in interreligiöse Theologie zu verwandeln, die Pluralität als Tatsache und als wünschenswert annimmt und die sich in der dialogischen Praxis gründet. Konfessionelle Theologie ist die Reflexion über die eigene Religion, während die interreligiöse Theologie die Reflexion über die Bedingungen für einen Dialog darstellt, in dem Partner voneinander lernen und sich gegenseitig schätzen oder kritisieren. Nicht nur gegenseitige Bereicherung, sondern auch gegenseitige Veränderung könnte das Ergebnis interreligiöser Begegnung sein. Interreligiöse Theologie ist keine pluralistische Theologie oder Theologie im Plural. Es ist kein Niemandsland.4 Sie ist vielmehr eine neue Art des Umgangs mit verschiedenen religiösen Gruppen in der Gesellschaft und des Zugebens, dass Exklusivität, Inklusivismus oder toleranter Pluralismus nicht genug sind. Interreligiöse Theologie arbeitet weniger mit offiziellen Vertretern der religiösen Institutionen – was häufig langweilig und ohne Tiefe ist – als vielmehr mit dem Lernen in Momenten ohne Bücher von und mit Menschen, die unterschiedlich leben und denken. Statt mit einem festen Inhalt zu operieren ist interreligiöse Theologie offen und kontextuell. Da interreligiöse Theologie kontextuell ist, wird Wahrheit als etwas verstanden, das aus echtem Dialog entsteht, als etwas, das zu einem konkreten Dialog beiträgt. Daraus folgt nicht, dass alles gleichwertig ist. Vielmehr gibt es einen übergreifenden Wert im interreligiösen Dialog und dessen Theologie. Die seltene, aber bestehende, friedliche Kommunikation zwischen Menschen wird als normativ wahrgenommen. In der neu entstehenden Disziplin interreligiöser oder dialogischer Theologie werden Kernverpflichtungen nicht als Einschränkungen, sondern als Kriterien für die Unterscheidbarkeit wahrgenommen, die Kommunikation ermöglichen. Brückenschlagen und Übersetzung sind von wesentlicher Bedeutung in der interreligiösen Theologie.

interpretation of Hasidism, I cited the well-known Talmudic dictum, ‚Every controversy that takes place for the sake of heaven will endure.‘ The controversy between Scholem and Buber will endure, I asserted, without, as so many such controversies do, the need to pronounce either Scholem or Buber right or wrong.“ Zu einer genaueren Darstellung der Konstroverse siehe ebd., S. 72–77. 4 Perry Schmidt-Leukel, „Interkulturelle Theologie als interreligiöse Theologie“, Evangelische Theologie 71,1 (2011), S. 11 und 16.



Interreligiöse Theologie 

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Interreligiöse Theologie beschäftigt sich mit religiöser Vielfalt und ist Teil der Reflexion über Gemeinschaften, in denen Multikultur gelebt wird. Als solche ist diese Theologie kontextbezogen, dadurch, dass sie induktiv mit Zusammenhängen arbeitet, die auch in den Kulturwissenschaften untersucht werden. Sie hat gelebte Religiosität in einem bestimmten Kontext als Grundlage. Darüberhinaus arbeitet sie so, dass Theorie die Praxis beeinflusst, indem man nach Elementen in den religiösen Quellen sucht, die den Dialog mit Anderen inspirieren könnten. Interreligiöse Theologie könnte zu einer Restrukturierung der Positionen und zu einem kreativen Wiederlesen und Wiedervorstellung von Traditionen im Hinblick auf soziale Kohärenz und friedlicher Gesellschaften führen. Da sie in der dialogischen Praxis begründet ist, operiert diese neue Art von Theologie nicht „von oben“ mit Identitäten, die ein für alle Mal festgelegt sind, sondern sie arbeitet „von unten“ mit einer Analyse konkreter Situationen, in denen es alle Arten von Zugehörigkeiten gibt: Man kann zu mehr oder zu weniger gehören; es gibt teilweise, doppelte und mannigfache Zugehörigkeiten. Auf der Ebene der gelebten Religiosität gibt es auch totale Zugehörigkeit, doch auch diese ist letztlich einem breiteren Kontext zugehörig, in dem der Andere das Ich herausfordert. Interreligiöse Theologie ist daher in einer Praxis verwurzelt, die die theoretische Reflexion beeinflusst. Sie setzt voraus, dass sich verschieden religiöse Menschen nicht notwendigerweise gegenüberstehen und dass sie als Menschen wahrgenommen werden können, die zur „Nachbar-“ Religion gehören. Sie setzt voraus, dass religiös Andere zu wichtigen Bezugspersonen für das eigene theologische Selbstverständnis werden können. Interreligiöse oder dialogische Theologie arbeitet mit Kategorien, die Zugehörigkeit und Fremdheit, Regeneration von Gemeinden und eine ganzheitliche Haltung gegenüber dem Anderen bedeuten. Sie ist aufmerksam gegenüber konkreten Situationen, die theologisch interpretiert oder motiviert werden. Dialogische oder interreligiöse Theologie als Nachdenken über den interreligiösen Dialog impliziert weiteren Dialog zwischen Religion und Säkularität, Religion und Gesellschaft. Sowohl das Modell einer vollständigen Trennung zwischen Religion und Staat sowie das Modell der vollständigen Fusion und Konfusion zwischen Religion und Staat werden durch das Muster der religiösen Inspiration im Hinblick auf die Förderung der Gerechtigkeit und des Friedens und der Realisierung von gesellschaftlichem Zusammenhalt in Frage gestellt. Darüberhinaus sieht interreligiöse Theologie Religion nicht als Lösung aller gesellschaftlicher Probleme, weil sie kontextbezogen ist: sie ist in eine reale Situation eingebettet, die sowohl religiös als auch nicht religiös ist, und in der Religionen negativ oder positiv wirken. Es ist charakteristisch für interreligiöse Theologie, dass sie absolute und universalisierende Wahrheitsansprüche nicht akzeptiert. Sie berücksichtigt die

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 Interreligiöse Theologie als eine neue Art von Theologie

Notwendigkeit der Achtung der Andersheit, die sich totalisierenden Tendenzen widersetzt. Man berücksichtigt auch innerreligiöse Andersheit und Spannungen zwischen Religionen.5

Religionsphilosophie, Religionswissenschaft und ­interreligiöse Theologie Religionsphilosophie befindet sich als eine relativ junge Disziplin in der Philosophie in der Nähe der Religionswissenschaft, dadurch dass sie die Religion aus einem distanzierten, objektiven Standpunkt heraus untersucht. Dieser Zweig der Philosophie, der sich im 18. Jahrhundert etablierte, hat den Vorteil, dass er mit klaren Konzepten, Definitionen und Systemen arbeitet. Allerdings kann nicht alles in völlig klaren Begriffe ausgedrückt werden: das Transzendente oder die letzte Wirklichkeit kann nicht in die Zwangsjacke der Vernunft eingeschnürt werden. Vernunft, die sich ihrer Grenzen bewusst ist, kann auf das Grenzenlose hinweisen und letzteres wird von Theologen diskutiert. In der interreligiösen Theologie arbeitet man mit der Religionswissenschaft als der objektiven Untersuchung religiöser Daten sowie mit einem normativen Element des Dialogs: man befindet sich daher nicht nur auf der kognitiven Ebene, sondern auch auf der Ebene der Anerkennung. Wie bereits erwähnt, unterscheidet Schmidt-Leukel zu Recht in den Studien der Religionen zwischen der Religionswissenschaft und der wissenschaftlichen Theologie. Er leugnet absolute Wahrheitsansprüche beider Seiten, sowohl der Religionswissenschaft als auch der wissenschaftlichen Theologie: beide müssen sich ihrer eigenen Voraussetzungen bewusst sein.6 Wie die Religionsphilosophie beginnt die Religionswissenschaft mit ihren objektiven wissenschaftlichen Methoden nicht aus der Intimität, die in der Religion gelebt und in der Theologien der verschiedenen Religionen untersucht werden. In diesen Theologien wird die subjektive Sicht respektiert: man beleuchtet das Geheimnis, das im Leben einer bestimmten Religionsgemeinschaft greifbar ist. Die Religionswissenschaft kann sich von der Religion, wie sie konkret gelebt wird, entfremden. Andererseits kann Theologie im Vergleich mit der Religionswissenschaft mit ihrer großen Achtung für die gelebte Erfahrung nicht genügend kritisch werden. 5 Wie z. B. im Fall des nicht vegetarischen tibetischen Buddhismus und dem vegetarischen Hinduismus. 6 Perry Schmidt-Leukel, „Der methodologische Agnostizismus und das Verhältnis der Religionswissenschaft zur wissenschaftlichen Theologie.“



Kontextuelle interreligiöse Theologie 

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Interreligiöse Theologie, die sich auf lebendigen Dialog und die Interaktion zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen gründet, muss sowohl die objektive Perspektive der Religionswissenschaft als auch die subjektive Perspektive der Theologien der Weltreligionen berücksichtigen. Interreligiöse Theologie verbindet, während konfessionelle Theologien trennen. Interreligiöse Theologie basiert auf der Praxis des lebendigen Dialogs und untersucht sowohl die Unvergleichbarkeit der Religionen als auch die Vergleichbarkeit zwischen ihnen: sie baut Brücken.

Kontextuelle interreligiöse Theologie In seinen Theorien zu Religion und Theologie entwickelte Heinrich Schäfer eine praxisbezogene, kontextuelle Theologie, die sich als eine kritische Reflexion über die Glaubenspraxis präsentiert und sich der Theologie als menschliche Praxis nähert.7 Schäfer folgt dem soziologischen Denken von Pierre Bourdieu und berücksichtigt den menschlichen Kontext, in dem Religion wirkt. Er will nicht vergessen, dass ein Blickpunkt von unten durch einen Standpunkt von oben ergänzt werden muss.8 Dennoch liegt sein Fokus auf den Akteuren innerhalb des Gebiets der Religion, auf Makro-Zusammenhängen und sozialen Funktionen der Theologie. Sein Eintreten für eine kontextbezogene, kritische Theologie rechnet mit den Zusammenhängen, die Religionspraxis auch als Glaubensäußerungen und theologische Überlegungen und Theorien erklären. Meiner Meinung nach ist es eine große Erkenntnis einer solchen Methode wie der von Schäfer entwickelten, dass Theologie nicht mehr ohne Zusammenhang von Kontexten und anderen Theologien betrachtet werden kann. Da Theologie immer in genau definierten inner- und interreligiösen Zusammenhängen wirkt, in einem sozialen Beziehungsnetz, zeigt kontextuelle Theologie die Relativität von Positionen auf; sie ist offen für Selbstkritik und stimuliert kreative Interaktion 7 Heinrich Schäfer, Praxis – Theologie – Religion. Grundlinien einer Theologie- und Religionstheorie im Anschluss an Pierre Bourdieu, Frankfurt a. M. 2004. 8 Schäfer stellt fest, dass liberale Theologie, wie die von Adolph von Harnack, die historischen Situationen des Menschen berücksichtigte, in denen christliche Dogmen entstanden. Laut dieser Theologie musste man die Praxis und das Denken der Menschen erforschen, die auf Bibel und Tradition Bezug nahmen und auch nicht theologische Faktoren in die Überlegungen mit einbeziehen, um Theologie zu verstehen. Schäfer stellt ferner fest, dass in Reaktion auf einen liberal historistischen Ansatz, der die Religion in die Kultur eingliederte und die Schärfe der religiösen Botschaft neutralisierte, Karl Barth eine Theologie von oben entwickelte, die mit ­Offenbarung begann, die das Leben der Menschen unterbricht, und Rudolf Bultmann den nicht-­resorbierbaren „Skandal“ des Glaubens verteidigte.

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 Interreligiöse Theologie als eine neue Art von Theologie

mit Anderen. Insbesondere im Kontext interreligiöser Praxis und Theorie kann das Bewusstsein der immer positionsbedingten, besonderen Situation der Theologie zu der Schlussfolgerung führen, dass Dialog kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit darstellt. Was ich von Schäfers Theorien übernehme ist dies, dass Theologie als menschliche Praxis zum Dialog beitragen und erkennen kann, dass andere Theologien aus anderen Kontexten stammen, was im besten Fall zu einer unbedingt benötigten Demut in religiosis und zu einer Haltung der gegenseitigen Bezogenheit führen könnte.

Interreligiöse Theologie und komparative Theologie Auf der Grundlage des Vorhergehenden muss man zu dem Schluss kommen, dass alle Theologien immer in ihrem lokalen Kontext gesehen werden müssen, und als solche sind sie alle verschieden, aus unterschiedlichen Situationen entstanden. Natürlich kann eine Theologie Gemeinsamkeiten mit anderen Theologien aufweisen,9 aber sie alle haben ihre spezifischen Merkmale und ihren spezifischen Sitz im Leben. Eine Unterscheidung muss jedoch gemacht werden: interreligiöse Theologie ist nicht vergleichende Theologie. Während vergleichende Theologie objektiv verschiedenartige religiöse Denksysteme und Kulte beschreibt und zwischen ihnen vergleicht, hat interreligiöse Theologie zum Ziel die Interaktion zwischen den verschiedenen Religionen zu fördern und offenes dialogisches Lernen anzuregen, mit allem, was dies in Bezug auf Selbstkritik und Kritik am Anderen impliziert. Vergleichende Theologie beschreibt religiöse Phänomene und vergleicht zwischen ihnen. Interreligiöse Theologie untersucht religiöse Ideen, Lehren, Rituale usw. mit dem ausdrücklichen Ziel, theologische Einsichten zu gewinnen. Sie vergleicht bezüglich des Auffindens theologischer Wahrheit,10 doch auch im Hinblick auf echte Koexistenz. Sie stellt eine neue Art des Betreibens von Theologie dar, die die Vielfalt der Religionen berücksichtigt, von denen jede nur eine Farbe in einem bunten Wandteppich ist. Sie fühlt sich zu dem großen Licht der letztendlichen Wirklichkeit hingezogen, aber vergisst nicht die Vielfalt ihrer Spiegelung in den verschiedenen Religionen. Für die interreligiöse Theologie sind die Anerkennung des nicht vergleichbaren Anderen und der Respekt und die Offenheit gegenüber der Vielfalt und Einzigartigkeit von religiösen Erfahrungen eine conditio sine qua non.

9 Hans Küng achtet auf das, was alle Religionen gemeinsam haben. Siehe sein Projekt Weltethos, München 1990. 10 Perry Schmidt-Leukel, „Interkulturelle Theologie als interreligiöse Theologie“, S. 13.



Spezifischer oder universaler Pluralismus? 

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Übersetzen Die Kunst des Übersetzens ist von wesentlicher Bedeutung in interreligiöser Theologie, da dies die erhabene Möglichkeit der Formulierung der eigenen Vorstellungen und Begriffe in den Worten der Anderen und die Formulierung der Worte der Anderen in den eigenen Begriffen ist.11 Zum Beispiel betrat Prof. Anantanand Rambachan in einem öffentlichen interreligiösen Dialog in Hamburg am 27. Juni 2013 die Welt der jüdischen Bibel und wünschte sich, dass das Zelt Abrahams auch über nicht-abrahamitische Religionen ausgedehnt werden würde. Übersetzen als Kommunikationsform ist nicht immer einfach. Im Falle einer Hindu-Frau in London, die ihr Verständnis des einen Gottes (ekam sat) als alle Religionen einschließend vorstellte, fühlten sich zum Beispiel Anhänger nicht-hinduistischer Religionen bedroht. Wo war die Achtung der Vielfalt in den verschiedenen Möglichkeiten der Annäherung an den einen Gott? Die betreffende Frau hatte nicht vorausgesehen, dass ihre theologische Äußerung als Mangel an Respekt für die Spezifität des Anderen wahrgenommen werden könnte.

Spezifischer oder universaler Pluralismus? In seinem Artikel, der in einem Sammelband zu Alan Races pluralistischem Denken erscheinen wird, stellt Perry Schmidt-Leukel fest, dass Judentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus alle exklusivistische oder inklusivistische Überlegenheitsansprüche anführen.12 Pluralisten werden in ihren jeweiligen Traditionen eine gewisse Kontinuität finden, doch müssen sie auch kritisch gegenüber ihren eigenen Traditionen sein. Pluralismus wäre nur als spezifischer besonderer Pluralismus möglich: jüdischer Pluralismus, hinduistischer Pluralismus usw. In seinem Artikel macht Schmidt-Leukel ferner geltend, dass der Ausgangspunkt der abrahamitischen Religionen weiter vom pluralistischen Ziel als die genannten östlichen Religionen entfernt ist. Aber in Bezug auf den Zielpunkt bewegen sie sich stärker in Richtung des pluralistischen Ziels. Schmidt-Leukels Bemerkungen sind sicherlich nützlich für all jene, die ihrer pluralistischen Position Plausibilität verleihen möchten und die den Wunsch 11 Siehe Schmidt-Leukels Beitrag zu Offenbarung und Buddha, in dem er Offenbarung auf den Buddhismus ausweitet. Ders, „Buddha Mind – Christ Mind. A Christian Commentary on Śāntideva’s Bodhicaryāvatāra“ (Christian Commentaries on Non-Christian Sacred Texts) (in Kürze erscheinend). 12 Der Titel des Beitrages lautet „Pluralist Approaches in Some Major Non-Christian Religions“, in Twenty-First Century Theologies of Religions. Retrospection and New Frontiers, hg. von Elizabeth Harris / Paul Hedges / Shanthikumar Hettiarachi, Amsterdam / New York (in Kürze erscheinend).

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 Interreligiöse Theologie als eine neue Art von Theologie

haben, ihre Traditionen von innen heraus zu verändern. Aber ich bin nicht sicher, dass der Pluralismus spezifisch und nicht universell zu sein hat. Ich halte dafür, dass ebenso wie Religionswissenschaft und konfessionelle Theologie einander nicht widersprechen, spezifischer und universeller Pluralismus sich nicht gegenseitig ausschließen. Ich bezweifle, dass die Gleichberechtigung von Religionen nur innerhalb der verschiedenen konfessionellen Rahmenbedingungen angestrebt werden könnte. Ich stimme mit Schmidt-Leukel darin überein, dass Traditionen unterschiedlich sind und dass sie von innen heraus verändert werden müssen. Alles religiöse Denken ist kontextuell. Aber mein Punkt ist der, dass interne Veränderungen in Traditionen als Reaktion auf die Begegnung mit Menschen, die anders leben und anders denken, stattfinden werden. Nicht die Änderung von innen tritt zuerst ein; zuerst kommt eher der positive Schock der Konfrontation mit einer Herausforderung von außen, der zu Kritik an dem, was innen ist, führt. Das Äußere kommt zuerst und ist die Gelegenheit für innere Veränderung. Pluralität ist weniger das Ergebnis der eigenen Horizonterweiterung; es ist vor allem die eigene Perspektive, die plötzlich von Anderen durchbrochen wird. Wir sind alle miteinander in unserer Spezifität verbunden, aber die Vernetzung oder die gegenseitige Verknüpfung verpflichtet zu Selbstkritik und geht über die klassischen konfessionellen Grenzen hinaus.13 Ich gehe davon aus, dass man in der interreligiösen Theologie nicht von einem konfessionellen Standpunkt aus arbeitet, der später angesichts der Vielzahl von Standpunkten relativiert wird, sondern es handelt sich dabei vielmehr um einen aufstrebenden Bereich der Forschung, an dessen Anfang der Dialog steht, der notwendigerweise den eigenen spezifischen Standpunkt färbt. Interreligiöse Theologie als eine neue Art der Theologie setzt eine relationale Identität voraus, in der der „Zwischen“-Raum unerlässlich ist und die vom Anderen konstituiert wird, der das Ich herausfordert und verändert. Sie setzt ein Bewusstsein voraus, das auf realen Begegnungen basiert, und geht davon aus, dass Identitäten nicht unveränderlich, ein für alle Mal festgelegt sind, sondern dass sie offen sind und sich gegenseitig herausbilden.14 13 Meine Position unterscheidet sich also von der Schmidt-Leukels. Erst recht ist sie von der Rein­ hold Bernhardt unterschieden, der – gegen Schmidt-Leukel – behauptet, dass ­konfessionelle Theologien sich nicht unter interreligiöser Theologie subsumieren müssen. Für Bernhardt hat die interreligiöse Theologie einen Platz innerhalb konfessioneller Theologie. Seiner Ansicht nach werden konfessionelle Theologien interreligiöse Perspektiven entwickeln: konfessionelle Theologie ist das Zentrum, die interreligiöse Theologie der Horizont. Reinhold Bernhardt, „Theologie zwischen Bekenntnisbindung und universalem Horizont“, in ders. / Perry Schmidt-Leukel (Hg.), ­Interreligiöse Theologie. Chancen und Probleme, Zürich 2013, S. 47–48 und 62 . 14 In seinem Artikel über interreligiöse Theologie als Kommunikationstheorie beschreibt Ulrich Dehn interreligiöse Theologie als die Arbeit mit unterschiedlichen Standpunkten, mit religiöser Besonderheit und interreligiöser Universalität. Er erinnert an die berühmte Elefanten-Geschichte



Spezifischer oder universaler Pluralismus? 

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Ich habe verdeutlicht, dass konfessionelle Theologien, die über Pluralität nachdenken, sich von interreligiösen Theologien unterscheiden, die auch aus einem bestimmten Kontext heraus konstruiert sind, aber mit dem klaren Bewusstsein für die Relativität des eigenen Standpunktes angesichts des Mosaiks von Standpunkten. Interreligiöse Theologie unterscheidet sich von konfessioneller Theologie, die ihren Horizont erweitert, da sie Theologie im weitesten Sinne des Wortes darstellt. Sie ist dialogische Reflexion über Religionen in einem bestimmten Kontext, die die Begrenztheit der eigenen Sicht anerkennt und den Dialog mit anderen Perspektiven zur höheren Wirklichkeit braucht. In der Praxis des interreligiösen Dialogs, auf dem interreligiöse Theologie basiert, widersprechen sich Partikulari­ tät und Universalität nicht. Man denkt aus dem eigenen Kontext heraus, doch immer in Beziehung zu Anderen: der eigenen Kontext wird angesichts der stets stattfindenden Begegnungen von Anfang an verändert. Weil wir oft mit Identitätskonzeptionen dachten, die als rein und von Anderen unberührt angesehen wurden, bedeutet dialogische Theologie, welche notwendigerweise und ab initio mit der eigenen totalisierenden theologischen Sicht bricht, solch revolutionäres neues Denken. Der interreligiöse Dialog ist nur ein Teil des umfassenderen interkulturellen Dialogs in unserer zunehmend globalisierten Welt. In der Perspektive der dialogischen Philosophie setzt der Dialog die Begegnung von Partnern mit spezifischen und einzigartigen Sichtweisen und Lebensstilen voraus. In einem wirklichen Gespräch verändern sich die Partner gegenseitig. Auch auf der Ebene des interreligiösen Dialogs wird eine radikale Veränderung herbeigeführt, wenn man sich etwa bewusst wird, dass man Menschen trifft, die ihren eigenen Zugang zur letzten Wirklichkeit haben. Die meisten Religionen besitzen eine bedauernswerte Tradition von Exklusivität, Überlegenheit und Rivalität. Offenheit ohne Vorurteile, mit Eifer vom Anderen zu lernen, ist Teil der Treue nicht in erster Linie zur konfessionellen Vergangenheit, sondern zur künftigen, gegenseitigen Umwandlung und interreligiösen Interaktion. Interaktiver Dialog und interreligiöse Theologie werden immer das Ergebnis einer Begegnung zwischen bestimmten Menschen in bestimmten kulturellen Rahmenbedingungen sein. Doch das eigentliche Wunder, im Buddhismus und Jainismus. In der Jain-Geschichte erklärt ein weiser Mann den Blinden, die den Elefanten berühren, dass sie nur Teile des Elefanten berührten und dass sie daher nur einen Teil der Wahrheit besäßen. Folglich haben alle recht. In einer der Sufi-Versionen der Jain Elefanten-­Geschichte, die von Sama’i Ghazna (der im Jahre 1131 starb) erzählt wurde, repräsentieren die blinden Menschen die Menschen, die eine unvollständige Kenntnis von Gott haben. Mit Hinweis auf die Elefanten-Geschichte kommt Dehn zu dem Schluss, dass die interreligiöse Theologie offen ist für Universalität und offene Kommunikation voraussetzt. Ulrich Dehn, „Interreligiöse Theologie als Religiöse Kommunikationstheorie“, in Bernhardt / Schmidt-Leukel (Hg.), Interreligiöse Theologie. Chancen und Probleme, S. 113–127 .

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 Interreligiöse Theologie als eine neue Art von Theologie

das auftreten kann, findet in „trans-differenten“ Begegnungen statt, die Menschen radikal verändern. Der Pluralismus oder besser gesagt die Interreligiosität, die ich mir vorstelle, ist daher eine universelle, die den spezifischen Hintergrund und Kontext des interreligiösen Theologen nicht vergisst. Sie ist ein zwischenmenschliches Zusammentreffen, das Kritik an der eigenen Tradition herbeiführt und die Suche nach Elementen in der eigenen Tradition, die nicht nur zu einem liberalen Pluralismus, sondern zu höheren Ziele eines interreligiösen Dialog und Theologie beitragen könnten.

Erziehung und Anti-Diskrimierung Interreligiöser Dialog und Theologie setzen Erziehung voraus. In unseren Religionsgemeinschaften bilden wir oft Hierarchien heraus: Wir sind an der Spitze der Pyramide, die Anderen haben (noch) nicht unser Niveau erreicht, sodass sie weiter unten stehen. Allerdings ist die Übernahme einer anti-hierarchischen Haltung für eine erfolgreiche dialogische Praxis und Theologie notwendig. Mit anderen Worten: es gilt eine notwendige Offenheit für Andersheit, wobei Andere uns gleichwertig sind und rechtmäßig ihr Leben rund um die letztendliche Wirklichkeit organisieren. Abweichende Verhaltensweisen innerhalb oder außerhalb der eigenen Religion werden häufig verurteilt und gelten als Bedrohung für die Einheit der Gemeinschaft. In unserer israelischen Gesellschaft gibt es zum Beispiel viele Menschen, die nicht „alle“ Gebote in der religiösen Sphäre einhalten, sie tun aber auch nicht „nichts“; sie tun „etwas“, und dies muss von Menschen, deren Lebensstil streng religiös oder streng säkular ist, geschätzt werden. Eine Pluralisierung ist in unserer polarisierten und polarisierenden Gesellschaft sehr von Nöten. Eine solche Pluralisierung ist nicht das Ergebnis einer gewissen Toleranz, sondern eine echte dialogische Haltung, in der der Andere nicht diskriminiert oder – schlimmer – dämonisiert wird. Man muss davon ausgehen, dass alle auf die ein oder andere Weise zueinander gehören. Wir diskriminieren oftmals ohne es zu wissen, denn wir haben bestehende negative Einstellungen gegenüber Anderen geerbt. Es gibt auch erworbene negative Einstellungen des Kollektivs gegenüber Anderen, die es erschweren, nicht voreingenommen zu sein. Eine nicht-voreingenommene Haltung erwächst als Frucht aus einer Erziehung, die Pluralität als wesentlich in unserer Gesellschaft feiert: Wir sind eins und vereint, in großer Pluralität. Dieses Grundgefühl wird eine überlegene, predigende, ermahnende oder wütende Haltung gegenüber religiös oder säkular „Anderen“ scheuen. Unterscheidungen sind insoweit willkommen, wie sie nicht



Erziehung und Anti-Diskrimierung 

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diskriminieren: Die Unterscheidung zwischen Menschen ist gut unter der Bedingung, dass Brücken zu schlagen möglich bleibt. Aus dieser Perspektive ist Erziehung im Hinblick auf eine Welt mit Vielfalt als auch Einheit erforderlich, um zu beginnen, inner- und interreligiöse Dialoge zu entwickeln, die die Grundlage für eine trans-differente, dialogische Theologie bilden.

Kapitel 12 Jenseits der Grenzen Interreligiöse Theologie sollte nie vergessen, dass Einzigartigkeit immer unvergleichlich ist. Religionen behaupten, dass sie in dem Punkt einzigartig sind, dass Menschen anderer Religionen kaum verstehen, was in ihrer spezifischen Gemeinschaft gelebt wird. Eine gewisse Unübersetzbarkeit bleibt in jeder Religion. Doch Religionen sind Teil unserer gemeinsamen Welt und Kommunikation ist möglich und notwendig, jenseits der Grenzen der eigenen Religion. Wenn alle Religionen darin miteinander verknüpft sind, dass sie versuchen in die Nähe der letzten Wirklichkeit zu kommen, wie man in der interreligiösen Theologie annimmt, dann werden sie vergleichbar, ohne notwendigerweise ihre Einzigartigkeit zu verlieren. Jede Religion bleibt ein einzigartiges Phänomen und könnte von anderen Religionen lernen: in diesem Lernprozess und im lebendigen Dialog mit Anderen sucht man nach der Wahrheit, die realisiert wird. Die religiösen Erfahrungen des einen können die Erfahrungen des Anderen befruchten und sogar verändern. Interreligiöse Theologie ist, wie Wilfred Cantwell Smith schrieb, Buddhist „plus“, Christ „plus“, etc.1 In meinem Fall ist es ein jüdisches „plus“, das andere Weltanschauungen berücksichtigt, die möglicherweise für das Judentum relevant sind. Ohne die Praxis des Dialogs ist interreligiöse Theologie dazu verdammt, ein bloßes theoretisches Konstrukt zu bleiben. Das letzte Kapitel bietet daher vier interreligiöse Dialoge als Beispiele für dialogische Theologie im Labor.

Interreligiöse Dialoge In der Hamburger „Akademie der Weltreligionen“ hatte ich die Gelegenheit, eine Reihe von interreligiösen Dialogen zu führen. Die beiden ersten Dialoge wurden mit einem Hindu-Professor und einem muslimischen Professor durchgeführt. Sie fanden am 22. Juni 2013 im Rahmen eines Seminars über „Jüdische Bausteine für eine interreligiöse Theologie“ für MA-Studierende in Religion und Dialog statt. Ich halte solche interreligiösen Dialoge für wichtig, da interreligiöse Theologie ohne diese Dialoge wie eine Blume in einer Vase oder, schlimmer noch, wie in einem Buch aufbewahrt werden würde, abgeschnitten vom Feld, auf dem sie wächst. 1. In einer gemeinsamen Sitzung in der Akademie der Weltreligionen diskutierten Prof. Anantanand Rambachan und ich einen Veda Text und traten in 1 Wilfred Cantwell Smith, Towards a World Theology. Faith and the Comparative History of Religion, Philadelphia 1981, S. 125.



Interreligiöse Dialoge 

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einen interreligiösen Dialog ein. Dieser erste Dialog fand in englischer Sprache statt. Der untersuchte Text lautet wie folgt:2 Auf vier Viertel ist die Sprache bemessen; die kennen die nachsinnenden Brahmanen. Die drei Viertel, die geheim gehalten werden, bringen sie nicht in Umlauf. Das vierte Viertel der Sprache reden die Menschen. Sie nennen es Indra, Mitra, Varuna, Agni und es ist der himmlische Vogel Garutman. Was nur das Eine ist, benennen die Redekundigen vielfach. Sie nennen es Agni, Yama, Matarisvan.3

Anant erklärte, dass wir laut dem Text drei Viertel der möglichen Sprachen nicht sprechen, wir sprechen nur ein Viertel. Die Weisen (vipraha) verstehen. Die Tatsache, dass wir nur in der Lage sind, auf ein Viertel der möglichen Sprachen Zugriff zu haben, weist auf unsere Begrenztheit im Reden über das Unaussprechliche hin. Gott übersteigt unser Sprachpotenzial. Ich reagierte, indem ich auf eine parallele Wahrnehmung in der jüdischen Tradition hinwies: Gottes Name ist unaussprechlich, denn Er ist unfassbar für den menschlichen Geist. Wir haben dann einige Überlegungen über die Begrenztheit von Sprache angestellt. Wittgensteins letzter Satz im Tractatus Logico-Philosophicus: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ wurde in Erinnerung gerufen. Parallel dazu erwähnte Anant eine Geschichte, in der ein berühmter Hindu-Lehrer lehrte: seine Schüler wollten ihn hören, aber alles, was sie hörten, war absolute Stille. Wir 2 Online Sanskrit –Deutsch unter http://www.sanskritweb.net/rigveda/rigveda.pdf (Zugriff: 2. August 2015), S. 218 (1–164, Verse 45–46). Für die englische Übersetzung siehe Barend A. van Nooten / Gary B. Holland (Hg.), The Rig Veda: Metrically Restored Text, Cambridge 1994. 3 Speech hath been measured out in four divisions. The Wise who have understanding know them. Three kept in close concealment cause no motion; Of speech men only speak the fourth division. They call him Indra, Mitra, Varuna, Agni and he is The noble-winged Garutman. The One Being, the wise call by many names: They call it Agni, Yama, Matarisvan. Zu einer detaillierten Diskussion dieses Rigveda Textes (1.164.46) „Ekam sat vipraha bahuda vadanti“ (das eine Sein, das die Weisen mit vielen Namen nennen) bezüglich der Herausbildung einer inklusivistischen Denkweise und der Anerkennung der Gültigkeit anderer Religionen aufgrund der Erkenntnis des einen Gottes, ohne Vernachlässigung der Unterschiede zwischen den religiösen Traditionen siehe Anantanand Rambachan, „‚The One Being the Wise Called by Many Names‘. The Implications of a Vedic Text for Relationships between Hinduism and Other Religions“, in Anantanand Rambachan / A. Rishied Omar / M. Thomas Thangaraj (Hg.), Hermeneutical Explorations in Dialogue: Essays in Honour of Hans Ucko, Dehli 2008, S. 81–88.

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 Jenseits der Grenzen

merkten weiter an, dass die beschreibende Sprache nur eine Art von Sprache ist, dass es verschiedene Arten von Sprechen gibt, verschiedene Sprachspiele, die alle ihre eigene Legitimität haben. Wir beide wandten uns dann der Frage der verschiedenen Narrative über Gott zu. Anant widersprach der Erklärung des behandelten Veda Textes, dass alle Narrative ohne Unterschied derselbe sind: er akzeptierte die Erklärung, dass jede Erzählung relativ ist, nicht.4 Ich bekräftigte diese Idee, indem ich den Begriff, den ich im interreligiösen Dialog und Theologie verwende, erläuterte: „TransDifferenz“. Dieser Terminus schließt Verständnis und Kommunikation mit ein, ohne die eigene Besonderheit und den eigenen Narrativ preiszugeben. Wir beide widerlegten die Vorstellung, dass Gott von Bedeutung ist, während all die Unterschiede im Reden über Ihn bloße Semantik seien. Nicht alles ist dasselbe und die Unterschiede bleiben als solche. Wir berührten auch das Problem der GewaltNarrative, die zu Ungleichheit und Ungerechtigkeit führen. Anant bemerkte, dass Vielfalt daher rührt, dass Sprache begrenzt ist. Ich stellte fest, dass Differenzen in der „Trans-Differenz“ bestehen bleiben. „Trans-Differenz“ wird möglich, weil es etwas Transzendentes in allen unseren religiösen Narrativen gibt. Diese Transzendenz ermöglicht eine Vielzahl von Narrativen sowie Interaktion zwischen Narrativen im Hinblick auf die Schaffung von Verstehen und Frieden. Anant wies darauf hin, dass der „eine Gott“ (ekam sat) im Veda Text ein allgemeiner Name sei, der über allen spezifischen Namen steht. Ich bezog mich auf den Titel von John Hicks Buch „Gott und seine vielen Namen“ und auf die Wechselbeziehung aller Religionen. Bevor ich mein jüdisches Gebet in Israel bete, höre ich die Stimme aus einem nahe gelegenen Minarett. Trans-Differenz hebt Unterschiede zwischen den Menschen nicht auf; doch in trans-differenten Dialog und Theologie bin ich notwendigerweise mit dem Anderen verbunden. Das Studium eines Veda Textes mit Anant machte mir deutlich, dass in seiner Interpretation die Verehrung verschiedener Darstellungen des einen Gottes überhaupt nicht polytheistisch ist und dass man sich dem einen Gott (ekam sat), der überall gegenwärtig ist, auf verschiedene Weise nähert. Man könnte diese Position mit einigen jüdischen panentheistischen Positionen vergleichen.5 4 Auf der praktischen Ebene der religiösen Identitäten könnte eine solche alles einschließende, relativierende Interpretation als bedrohlich verstanden werden, da sie die eigene Spezifität in eine unerwünschte allgemeine Kategorie absorbiert bei dem Versuch, alle Religionen unter ein Dach zu bringen in einem Relativismus, der die Einzigartigkeit jeder einzelnen Religion nicht respektiert. Der persönliche kontextuelle Hintergrund und die konkreten spirituellen Horizonte sollten niemals vergessen werden. 5 Wie der Text aus Jesaja 6,3: „Die Erde ist voll seiner Herrlichkeit“ (Buber-Rosenzweig: „Füllung alles Erdreichs sein Ehrenschein!“). Siehe Alon Goshen-Gottstein, „Encountering ­Hinduism: Thinking Through Avodah Zarah”, in ders. / Eugene Korn (Hg.), Jewish Theology and World ­Religions, Oxford 2012, S. 272.



Interreligiöse Dialoge 

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Ich empfand den lebendigen und lebhaften Dialog mit Anant erhellend: wir berührten Elemente der jeweiligen Tradition des Anderen und philosophischtheologische Erkenntnisse außerhalb unserer eigenen Tradition.6 Eine Begegnung fand statt.7 6 In privaten Gesprächen diskutierten wir andere Themen wie die Anerkennung und die nicht Anerkennung des Anderen in den Religionen, Religion und Menschenrechte sowie Religion und Nationalismus als globale Phänomene mit Beispielen in Sri Lanka, Israel, Indien, Myamar und den USA. Ein Text der Bhagavad Gita (Kapitel 7, 16–17) zeigt interessante Parallelen zwischen jüdischem rabbinischen Denken, Dinge „lishma“ und nicht- „lishma“ zu tun und hinduistischem Denken auf. Der Text lautet: „Vier Arten guter Menschen gibt’s, die mich verehren, Arjuna: Wer Leid trägt, wer erkennen will, wer Gut erwirbt, wer wissend ist. Der Beste ist der Wissende, der andächtig nur eins verehrt; Ich bin der Freund des Wissenden vor allem, und er ist mein Freund.“ (http://12koerbe.de/hanumans/gita-7.htm) (Zugriff: 2. August 2015). Anants Text: „Four kinds of virtuous persons worship Me, the person in distress, the person desirous of wealth and power, the seeker of knowledge, and the wise. Of these, the wise person, constantly united with and devoted, excels. I am dear to the wise and the wise is dear to Me“. Auch im jüdischen Denken sind alle Anbeter Gottes gut, niemand wird verurteilt (im hinduistischen Verständnis gibt es Gleichwertigkeit aller Menschen, weil Gott derselbe ist in allen Wesen), aber es gibt einen Unterschied zwischen denen, die Gott funktionell sehen, für ihre eigenen Interessen (nicht lishma) und denjenigen, die Gott für Ihn selbst, für seinen göttlichen Wert (lishma) anbeten. 7 Der bekannte israelische Rabbi Adin Steinsaltz betrachtet den Hinduismus nicht als polytheistisch, sondern als kompatibel mit den noachidischen Gesetzen, die die Mindestanforderung der Juden gegenüber Nicht-Juden darstellen. Alon Goshen-Gottstein kommentiert dazu, dass Steinsaltz sich auf die Theologie und nicht auf Gottesdienst und Ritual konzentriere und dass in der Vedanta-Ansicht selbst niedrigere Formen des Verstehens und der Praxis akzeptiert werden, da dharma als Lehre und Praxis dessen, was ein Hindu zu tun hat, stetig abnimmt. Er kommt zu dem Schluss, dass es eine gewisse Geduld im Hinduismus selbst gibt und dass Hinduismus ein „kompromittierter Monotheismus und als solcher gültig sei“; ders., „Encountering Hinduism“, S. 289–290 und 295. Ich will hier nicht in eine halachische Diskussion über das Verhältnis zum Hinduismus einsteigen. Ich konzentriere mich eher philosophisch auf den Dialog mit dem NichtIch, das selbst die Bedingung für das, was Buber die Schaffung eines „Ich-Du“ nennt, konstituiert. Meine Aufmerksamkeit gilt einem Dialog zwischen den Religionen, der Interkulturalität fördert und Gewalt vermeidet. Folglich bin ich gegen jede Form von Gewalt, wie sie durch die Unterdrückung Anderer zum Ausdruck kommt, in sati (Witwenverbrennung zusammen mit ihren toten Ehemänner, deren Praxis gesetzlich im 19. Jahrhundert abgeschafft wurde) oder im patrilinearen Kastensystem (welches sich aufgrund der besseren Ausbildung der Menschen schnell ­ändert, die ihnen Gleichheit und Würde verleiht). Siehe ebd., S. 294 und Anantanand Rambachan, „Is Caste Intrinsic to Hinduism?”, Tikkun 23,1 (2008), S. 59–61. Rambachans Opposition gegen das Kastensystem beruht unter anderem auf einer theologischen Aussage zur garantierten Gleichheit aller Menschen, die in der Bhagavad Gita gefunden wird: „Gott ist derselbe in allen Wesen“ (5,19). Zu einer Beschreibung der Begegnungen zwischen Hindus und Juden siehe Barbara A. Hold­rege, „Hindu-Jewish Encounters“, in Catherine Cornille (Hg.), The Wiley-Blackwell Companion to Inter-­ Religious Dialogue, Oxford 2013, S. 410–437. Holdrege bezieht sich u. a. auf den Artikel von Yudit Greenberg Kornberg, „Hindu-Jewish Summits (2007–2008): A Postmodern Religious Encounter“, Interreligious Insight 7,1 (2009), S. 26–39. Als vergleichende Religionshistorikerin charakterisiert

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2. Ein zweiter Dialog an der Akademie der Weltreligionen, dieses Mal auf Deutsch, fand zwischen dem iranischen Prof. Mohammad Mojtahed Shabestari und mir statt. Wir trafen uns informell, bevor wir miteinander vor unserem Publikum in einen Dialog eintraten. Dabei sprachen wir über unsere theologischen Standpunkte und diskutierten die politischen Spannungen zwischen dem Iran und Israel. Ich gab der israelischen Angst vor dem Atomprogramm im Iran und vor den fanatischen Äußerungen Ahmadinedschads Ausdruck, und zugleich der Hoffnung, dass die Transparenz des Nuklearprogramms, wie von Irans neuem Präsident Hassan Rohani versprochen, vollständig umgesetzt werden würde. Shabestari distanzierte sich deutlich von Ahmadinedschads fanatischen Äußerungen und wir beide hofften auf weniger Spannungen und eine bessere Zukunft für unsere beiden Völker. Im Geiste des interreligiösen Dialogs zitierte ich Pirqe Avot (4,14): „Rabbi Jochanan ha-­ Sandlar sagte: Eine Gemeinde, die im Namen des Himmels zusammenfindet, wird dauern fort und fort.“ Als wir aus dem Fahrstuhl stiegen, sagte Shabestari zu mir: „Du zuerst.“ „Das ist wahr,“ antwortete ich, „aber nur chronologisch“. In unserem Dialog vor vierzehn Studenten der dialogischen Theologie und einigen anderen Gästen erklärte ich meinen Blick auf den interreligiösen Dialog und Theologie. Ich sagte dem Publikum, dass ich im Gespräch mit Martin Buber, Franz Rosenzweig, Abraham J. Heschel und Emmanuel Levinas eine neuartige Konzeption einer Selbstheit skizziere, die im dialogischen Denken geerdet ist, einen neuen Blick auf Identität bietet und sich auf Konzepte der „Selbst-­Transzendenz“, „Selbst-Differenz“ und „Trans-Differenz“ konzentriert. Der Prozess des Selbst, der den Anderen bestätigt, wird als Prozess der „Selbst-Transzendenz“ bezeichnet. „Selbst-Differenz“ ist die Krone auf dem Ich; sie ist das Ergebnis eines dialogischen Lebens, eines Lebens der Zuwendung zum Anderen. Der Andere macht das Selbst unterschieden, und das Selbst unterscheidet sich selbst vom Anderen. Zwischen dem Selbst und dem Anderen wird die erhabene Realität der „Trans-­ Differenz“ möglich. Ich habe die Auswirkungen meiner Sicht auf der religiösen Ebene als eine neue Art, Theologie zu betreiben, welche auf Einblicken in das Wesen des Dialogs basiert, präsentiert. Holdrege treffend die hinduistischen und jüdischen Gemeinden als „verkörperte Gemeinden“ (embodied communities), mit Formen körperlicher Praxis wie Reinheitsregeln, sexuelle Disziplin und Speisegesetze. „Anhand dieses Regimes der körperlichen Praxis werden die biologischen Körper derjenigen, deren zugeschriebenen Identität jüdisch oder Hindu ist, aufgrund der Geburt in einer Gemeinschaft, die sich in Bezug auf Abstammung definiert, als ‚religiös informierter Körper‘ neu konstituiert, welche in die sozio-religiösen Taxonomien der jeweiligen Gemeinden eingeschrieben sind.“ (S. 425). Holdrege merkt an, dass die hinduistische und jüdische Tradition nicht missionarisch sei, und sie jeweils Schriften (Veda und Tora) und Speisegesetze habe. ­Rituale, Praktiken und Reinheitsgesetze (dharma-Verfügungen und Halacha), Sprache (Sanskrit und ­Hebräisch), Volk und Land sind in beiden Religionen von Bedeutung.



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Shabestari antwortete, dass er mit meinem Konzept der Trans-Differenz übereinstimme. Er stellte die Frage, ob Moses, Jesus und Mohammed nicht auch eine interreligiöse Beziehung zu Anderen hätten. Die Anerkennung des einen Gottes, la-ilaha-illallah, impliziert, dass man sich auf Andere bezieht, und dass man sie nicht ausgrenzt. Ich bestätigte den Gedanken und erklärte, dass Moses, Jesus oder Mohammed sehr überrascht wären, wenn sie als „Gründer“ einer neuen Religion charakterisiert werden würden. Alle drei handelten nach einem Gesetz, das menschliche Spontanität begrenzt. Shabestari legte dar, dass der Islam mit dem Koran entstanden sei. Er betonte, dass der Koran ein Produkt des menschlichen Geistes8 sei und dass es viele Interpretationen davon gebe, einschließlich einer traditionell-­theologischen und einer mystischen. Er riet den Studierenden dringlich Sprachphilosophie zu studieren. Des Weiteren benötige man eine Hermeneutik, die die Anderen berücksichtigt. Ich bestätigte, dass der Aufbau einer dialogischen Hermeneutik eine der vordringlichsten Aufgaben bei der Konstruktion einer interreligiösen Theologie sei. Ein Student aus Afghanistan fragte, ob man nicht auf mystische Weise in Gott absorbiert werden könne. Shabestari antwortete, dass es ein Problem sei, wenn man sich selbst als Teil von Gott sehe. Ich fügte hinzu, dass seine Sicht fast ein Zitat aus Ich und Du sei, wo Buber mit jemandem in Dialog eintritt, der fragt, ob das Ich nicht in der mystischen Vereinigung ausgelöscht werde. Buber antwortete, er kenne nur Ich und Du, Dualität.9 Buber konnte sich keine Beziehung mit Gott ohne Beziehung zu Menschen vorstellen. Wir dachten weiter über die Bedeutung von emuna oder iman nach, welche nicht Religion oder Glauben, sondern Vertrauen, eine existenzielle Haltung widerspiegeln. Schließlich verwies ich auf die Tatsache, dass Arabisch sprechende Juden sich bisweilen auf Moses als Rasul Allah (den Propheten Allahs), auf die Bibel als Koran und Halacha als Scharia bezögen.10 Wechselbeziehung wurde von uns beiden als eine Notwendigkeit angesehen.11 8 Bezüglich dieser Ansicht verwies er auf Fred M. Donner und Josef van Ess. 9 Ich stimme Buber zu, dass der Dialog zwischen Ich und Du die höchste Form des menschlichen Lebens darstellt. Er führt zu Beziehung und Begegnung. Aus meiner Sicht sind jedoch auch unitive, nicht-dualistischen Ansichten wie im Hinduismus und Buddhismus legitim. 10 Paul B. Fenton, „The Banished Brother. Islam in Jewish Thought and Faith“, in Alon GoshenGottstein / Eugene Korn (Hg.), Jewish Theology and World Religions, Oxford 2012, S. 247. 11 In Wechselbeziehungen lernen Menschen vom Anderen. Maimonides Sohn Abraham erklärt zum Beispiel in seinem „Vollständiger Führer für die Diener Gottes“, dass Sufis in ihren Praktiken die Propheten imitieren und ihren Spuren folgen: sie beobachten alte Praktiken, die von Juden nicht mehr ausgeübt wurden, und Juden könnten aus diesen „wunderbaren Traditionen“ lernen (Fenton, „The Banished Brother“, S. 248).

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3. Ein dritter Dialog, auch in deutscher Sprache, fand mit der buddhistische Nonne Dr. Carola Roloff am 3. Juli 2013 statt. Ich begann unser Gespräch mit der Behauptung, dass es ein lebhaftes Interesse am Buddhismus, gewiss unter jungen Israelis gebe, die auf der Suche nach Spiritualität sind und in der buddhistischen Weltanschauung und in der Praxis der Meditation eine ergänzende Sicht oder sogar eine Art Therapie für ihren eher hektischen Alltag finden. Die Tugend der Barmherzigkeit ist dem Buddhismus und dem Judentum gemein: sie wird im Buddhismus karuṇā und im Judentum rahamim genannt. In der besten jüdischen Tradition wird das Selbst weiter relativiert oder auf den Anderen hin neu ausgerichtet und in diesem Sinne kommt man nahe an das buddhistische anatma (Pāli anattā) heran, das Nicht-Selbst oder gar ein Austausch zwischen dem Selbst und dem Anderen ist, in welchem die Grenzen zwischen beiden fließend geworden sind. Schließlich interessierten sich Juden mit ihrer langjährigen Leidensgeschichte für alternative Formen des Umgangs mit dem Leid. Sie ließen eine traditionelle Theodizee zugunsten eines leidenden Gottes hinter sich, einem Gott mit Pathos, der sich um die Menschheit kümmert, mit der er ein Abenteuer begann, das nicht unbedingt ein glückliches Ende hat. Levinas behauptet zum Beispiel, dass die klassische Theodizeefrage mit der Schoah unterging, da das menschliche Leid nicht gerechtfertigt werden kann. Parallel dazu entwickelte Hans Jonas die Ansicht, dass Gott sich zurückzog und dass durch seine Kontraktion (tzimtzum) die gesamte Verantwortung auf die Menschen fällt. Der Buddhismus ist nicht an Gott interessiert, doch stellt er eine kluge Art und Weise des Umgangs mit Leiden dar. Carola antwortete, dass in der Tat für den Buddhismus alles Bedingte mit Leiden verbunden ist, auch die guten Taten, solange die Person nicht ein Heiliger ist, und dass der Buddhismus selbst ein Weg aus dem Leiden sei. Dies kann zu der weit verbreiteten Ansicht von Außenseitern führen, dass der Buddhismus eine pessimistische Weltsicht lehre. Aber eigentlich – sagte sie – seien, zum Beispiel, tibetische Buddhisten trotz allem glückliche Menschen. Sie sind glücklich und tibetische Lamas betonen am Anfang jeder Lehre, dass alle fühlenden Wesen Glück und kein Leiden wollen. Sie erwähnte, dass es im Buddhismus auch die liebevolle, liebende Hinwendung zum Anderen (maitri) gibt. Während karuṇā als der Wunsch erklärt wird, Andere von Leiden zu befreien, bedeutet maitri liebevolle Güte; in der Meditation stärkt man den Wunsch sich selbst und Anderen Glück zu schenken. In der Tonglen-Meditation atmet man ein, um das Leiden und die Ursachen des Leidens Anderer auf sich zu nehmen, und man atmet aus, um ihnen das eigene Glück und das eigene positive Karma zu geben. Buddhisten halten dies für die Ursache des Glücks. Dies ist eine Form des Austauschs zwischen sich selbst und Anderen. Ich antwortete, dass es ein Sprichwort gebe, das geteiltes Glück doppeltes Glück ist, und dass auch das Judentum das Leid in der Welt zu verringern sucht.



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Allerdings gibt es auch ein Bewusstsein, dass die Verantwortung mit Leiden verwoben ist, das die Aufgabe Andere zu tragen beinhaltet, wie ein Vater sein Kind in der Wüste trägt (vgl. Dtn 1,31). Ich fügte hinzu, dass die Idee des Messias in Jesajas leidendem Gottesknecht gipfelte, der die Wunden und Leiden der Anderen trägt. Wir berührten die offene Wunde der Schoah und ich erwähnte, dass für uns Juden die Erinnerung wichtig ist, während im Buddhismus das Hier und Jetzt immense Bedeutung hat. Carola bestätigte, dass im Buddhismus die Vergangenheit vorbei und die Zukunft noch nicht gekommen und damit der gegenwärtige Moment, das Leben in Achtsamkeit, entscheidend ist. Mit Achtsamkeit bestimmt man karmisch die Zukunft. Sie erinnerte an einen Film, in dem buddhistische Nonnen, die in China gefoltert wurden, dachten, dass nichts Schlimmes mit ihnen geschehen könne, wenn es keine karmische Ursache auch von ihrer Seite gibt. Als Buddhist versucht man immer, die Hauptursache des Leidens auf der eigenen Seite zu sehen und nicht Anderen die Schuld zu geben, was nicht bedeutet, dass soziale Ungerechtigkeit akzeptiert werden soll. Ich reagierte darauf mit der Feststellung, dass die Opfer in der Schoah unschuldig waren. Carola gestand, dass einer der Gründe, warum sie zum Buddhismus kam, der war, dass das Konzept eines guten Gottes nicht mit Leiden in Übereinstimmung zu bringen war, während in einem Radio-Interview eine Person Reserviertheit gegenüber dem Konzept des Karma am Beispiel des Leidens eines unschuldigen Kind zum Ausdruck brachte. Sie erklärte, dass aus buddhistischer Sicht niemand mit einer leeren Festplatte geboren werde: es gibt angeborene und erworbene Fähigkeiten. Die angeborenen Fähigkeiten sind durch Taten in früheren Leben gebildet worden. Karma wird nicht als Strafe, sondern als ein Naturgesetz angesehen. Es kann auch positiv wirksam sein. Es ist gut, dass es kein negatives Karma gibt, das nicht durch aufrichtiges Bedauern und Erlösung gereinigt werden kann. In den „vier edlen Wahrheiten“, heißt es, dass es im Leben Leiden und einen Weg aus ihm heraus gibt. Leiden zeigt an, dass etwas von Gier, Hass und Illusion kontaminiert ist. Aber nach Carolas Ansicht beinhaltet Leiden auch eine Chance: wenn jemand aggressiv ist, hat man die Chance geduldig zu sein. Mentale Stärke und die Fähigkeit, Leiden ertragen zu können, werden nur dann weiterentwickelt, wenn man Herausforderungen meistern muss. Sie erzählte die Geschichte einer Mutter, die ihr totes Kind in ihren Armen hielt und sich nicht von dem Kind lösen konnte. Die Mutter fragte den Buddha nach Medizin, um das Kind wieder zu beleben. Der Buddha sagte zu ihr: frage nach Senfsamen von Leuten, in deren Haus es keinen Tod gibt. Die Frau realisierte dann, dass es ein solches Haus nicht gibt, und dass sie das Kind loslassen und die Situation akzeptieren musste, wie sie ist. Auf bemerkenswert dialogische Weise zitierte Carola aus Bubers Ich und Du, in dem das Ich als Ich-Du nicht erfährt: man bleibt in der Beziehung und das Ich wird zum Ich durch ein Du. Für sie gibt es einen Austausch zwischen Ich und Du.

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Ich behauptete, dass die Trennung zwischen beiden bleibt, denn es gibt Dualität, aber auch Orientierung vom Ich hin zum Du. Carola merkte an, dass im Mahāyāna-Buddhismus alle fühlenden Wesen die Buddha-Natur in sich tragen oder im Vergleich dazu in Theravāda das Potenzial erleuchtet zu werden. Eine andere Richtung im Buddhismus erklärt die Buddha-­ Natur nicht als vergängliches Potenzial, sondern betont, dass jeder nur eine dauerhafte Art von Buddha-Natur hat, die verborgen ist und durch die eigene Praxis realisiert werden muss (ich assoziierte diese Enthüllung der Buddha-Natur mit der Realisierung von Bubers „der ganze Mensch“). Sie stellte dann Überlegungen zum „Geist-Kontinuum“ an und wie der Geist mit dem Tode vom Körper getrennt wird. Mit einem neuen Körper kommt das Bewusstsein und die fünf Sinne, aber darüber hinaus spricht der Buddhismus über die sechste Art von Bewusstsein, subtiles Bewusstsein, das nach dem Tod weiter existiert und mit einem neuen Körper bis zur Erleuchtung verbunden ist. Erleuchtung geschieht dann, wenn Fehler unterlassen werden und das Gute verwirklicht wird. Dann haben wir einen klassischen Text des Mahāyāna-Buddhismus von ­Nāgārjuna (2. Jahrhundert)12 untersucht. Im ersten Absatz des 18. Kapitels heißt es: Wenn das Ich (ātman) die fünf skandhas ist, dann entsteht und vergeht ātman. Wenn ātman verschieden von den fünf skandhas ist, dann ist er ohne die Eigenschaft der fünf skandhas.13

Carola erklärte, dass die skandhas sich auf die fünf Aggregate beziehen, die vor allem in Körper und Geist aufgeteilt werden können. Was sind diese skandhas? Sind sie wie Teile eines Autos? Sind sie Teile des Wagens? Und gibt es ein Selbst ohne die Teile, gibt es ein abgetrenntes Selbst, einen Teile-Besitzer? Sind Körper (a) und Geist (b) getrennt (zwei Ichs) oder zusammen? Nach der buddhistischen Lehre sind sie voneinander abhängig. Das Ich existiert nur nominell in Abhängigkeit von seinen Aggregaten, aber nicht unabhängig oder inhärent. Mystiker, fügte sie hinzu, sinnen über die Leerheit (śūnyatā) nach, leer von unabhängiger, inhärenter Existenz. Dies bedeutet nicht, dass das Ich nicht existiert. Dies wäre eine 12 Nāgārjuna, The Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nāgārjuna’s Mūlamadhyamakakārikā, übers. und mit einem Kommentar von Jay L. Garfield, New York 1995, S. 48–49. Zur deutschen Übersetzung siehe Nagarjuna, Die mittlere Lehre des Nagarjuna. Vollständige deutsche Ausgabe, übers. von Max Walleser, ebook-Ausgabe, März 2014. 13 If the self were the aggregates, It would have arising and ceasing (as properties) If it were different from the aggregates, It would not have the characteristics of the aggregates.



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nihilistische Ansicht und würde die buddhistische Ethik überflüssig machen. Das abhängige Ich existiert, während das unabhängige Ich nicht existiert. Buddhisten sprechen von zwei Wahrheiten, der konventionellen Wahrheit und der absoluten Wahrheit. Dualistische Erscheinung ist konventionell oder relativ, wie eine Illusion. Leerheit von inhärenter Existenz ist die ultimative Wahrheit. Nur ein Buddha kann beide Wahrheiten innerhalb und außerhalb der Meditation erfassen. Sie sind keine unterschiedlichen Entitäten.14 Dann lasen wir einige Passagen aus Śāntideva (8. Jahrhundert): den Bodhisattva-Pfad.15 Beispielsweise: Zunächst entwickle man mit Fleiß [den Gedanken an] die Gleichheit von sich und dem Nächsten wie folgt: Alle fühlen das gleiche Glück und Unglück; ich muss sie wie mich selbst beschützen. (90) Wie der Leib vielfältig ist, da er aus Teilen – z. B. den Händen – zusammengesetzt ist, so ist er doch in einem zu behüten; ebenso ist auch in der ganzen, vielfach gesonderten Welt Unglück und Glück dem Wesen nach ungesondert. (91) Wenn auch mein Schmerz in den Körpern der anderen keine Qual verursacht, ist er dadurch nicht weniger mein Schmerz, der wegen der Beziehung auf das Ich peinvoll zu ertragen ist. (92)16

Ich bemerkte, dass Rabbi Aryeh Levin mit seiner Frau, deren Bein verletzt war, zum Arzt ging und sagte: „Unser Bein tut weh.“ Des Weiteren rief ich die gegenseitige 14 In einem späteren Schriftwechsel mit Carola Roloff erklärte diese des Weiteren die beiden Wahrheiten, wie sie von einem Buddha gesehen werden, nach der Vorstellung einiger führender buddhistischer Philosophen wie Tsongkhapa (1357–1419). Ich verglich eine Erkenntnis Buddhas der beiden Wahrheiten als voneinander verschieden aber eins seiend mit Maimonides’ Denken. Er unterschied zwischen „Wahrheit“, wie sie der durchschnittliche Jude versteht, und der höheren Wahrheit, die für die wenigen, philosophisch gebildeten Menschen, die ein hohes spirituelles Niveau erreicht haben, existiert. Diese Wahrheiten sind unterschiedlich und beide sind von Bedeutung, da sie sozusagen zu dem gehören, was wir heute mit Wittgenstein „Sprachspiele“ nennen würden. 15 William Edelglass / Jay L. Garfield, Buddhist Philosophy. Essential Readings, Oxford 2009, S. 397. Deutsch Shântideva. Anleitung zum Leben als Bodhisattva, übers. von Richard Schmidt, Frankfurt a. M. 2011, Position 1000. 16 At first one should meditate intently on the equality of oneself and others as follows: All equally experience suffering and happiness. I should look after them as I do myself (90); Just as the body, with its many parts from division into hands and other limbs, should be protected as a single entity, so too should this entire world, which is divided, but undivided in its nature to suffer and be happy (91); Even though suffering in me does not cause distress in the bodies of others, I should nevertheless find their suffering intolerable because of the affection I have for myself (92).

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Verbundenheit unter den Menschen in den chassidischen Gemeinden in Erinnerung, in denen das Leiden des einen von allen Anderen gefühlt wird. Wir schlossen unser Lesen mit zwei anderen Sprüchen ab:17 „Alle, welche hienieden unglücklich sind, sind es deshalb, weil sie [in einer früheren Existenz] ihr eigenes Glück gesucht haben; alle, welche hienieden glücklich sind, sind es deshalb, weil sie [früher] das Glück des Nächsten gesucht haben.“(129); „Wozu darüber noch viel reden? Sehet nur, welcher Unterschied besteht zwischen dem Narren, der sein eigenes Glück erstrebt, und dem Heiligen, der am Wohle des anderen arbeitet.“ (130). Eine falsche Wahrnehmung des Selbst schafft Leiden. Sie kommt aus Mangel an Wissen. Wir sprachen über Gewaltlosigkeit (ahimsā). Abhängiges Entstehen aller Phänomene von allem, was existiert, wie zuvor diskutiert (pratītya-samutpāda), und Gewaltlosigkeit gelten als die beiden Hauptsäulen der buddhistischen Lehre. Nach der tibetisch-buddhistischen Interpretation bedeutet buddhistisch ethische Disziplin, die für Laien aus der Einhaltung der fünf Regeln besteht, dem Leben, Eigentum, den Beziehungen oder Interessen der Anderen keinen Schaden zuzufügen. Die erste der fünf Regeln lautet, dass man nicht töten soll. Ich erklärte das Gebot „lo tirtsah“ als „du sollst nicht morden“. Aus jüdischer Sicht kann eine Tötung nicht guten Gewissens vollzogen werden, aber es kann in Notwehr geschehen. Carola antwortete, dass das Töten, auch in guter Absicht, karmisches Potential hat: ohne den Willen zu töten ist es unmöglich zu töten. Sie erklärte dann, dass der Religionsminister in Tibet ein Mönch war, er aber während der chinesischen Invasion auf seine Vorschriften verzichtete, um sich an GuerillaAktivitäten zu beteiligen, damit er dazu beitragen könne, des Leben des Dalai Lama zu retten. Er konnte danach wieder Mönch werden, da er durch den Verzicht auf seine Vorschriften nicht mehr an das Gebot nicht zu töten gebunden gewesen war. Er wusste, dass er aufgrund der außergewöhnlichen Umstände die Vorschriften nicht einhalten konnte oder wollte, und löste den inneren Konflikt durch den Verzicht auf die Verpflichtung, das bewusste Töten zu unterlassen. Allerdings erhielt er das Vertrauen seines Volkes, das ihn zum Minister ernannt hatte. Carola selbst, eine buddhistische Nonne, würde sich weigern, in der Armee zu dienen, aber während ihrer Zeit in Deutschland gab es überhaupt keine Wehrpflicht für junge Frauen, und sie war damals noch keine Buddhistin. Als Protestantin leistete sie ein Jahr lang freiwilligen sozialen Dienst ab. 17 Edelglass / Garfield, ebd. S. 398; Schmidt, ebd., Position 1064. „All those who suffer in the world do so because of their desire for their own happiness, All those happy in the world are so because of their desire for the happiness of others“ (129); „Why say more? Observe this distinction: between the fool who longs for his own advantage and the sage who acts for the advantage of others…“ (130).



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Im Verlauf unseres Gesprächs kamen wir auf Bubers Ich-Du zurück. Carola erklärte, dass das inhärente Ich aus den buddhistischen philosophischen Überlegungen ausgeschlossen werden muss; es gibt kein unabhängiges Selbst. Erweckung (bodhi) folgt. Bodhichitta ist ein Zustand des Geistes, der Wunsch nach Erleuchtung zum Wohle aller. Alle Buddhisten wollen Erleuchtung erlangen, aber man kann entweder auf eigene Faust danach streben oder die Haltung entwickeln, Erleuchtung zu erlangen, um Andere aus ihrem Zustand des Leidens zu befreien, indem man ihnen den Weg zur Erleuchtung zeigt. Bodhichitta basiert auf Gleichmut. Dieser Gleichmut, bemerkte sie, ist nicht Gleichgültigkeit, aber die Nähe zu allem aufgrund der Gleichheit zwischen dem Selbst und dem Anderen. In diesem Zusammenhang erörterte ich das Problem des Sokrates „Erkenne dich selbst“ (gnoti seauton) sowie Levinas’ nicht identische Identität, indem ich über Levinas’ Sicht des Ich als „hineni“, Ich bin der Eine-für-den-Anderen, sprach. In Bubers Perspektive sieht man, sobald man eine Ich-Du-Haltung entwickelt, die Grenzen zwischen dem Ich und dem Du nicht mehr, obwohl in Bubers Denken ein Unterschied bestehen bleibt. 4. Ein letzter interreligiöser Dialog fand mit Prof. Wolfram Weiße am Tag nach meinem Dialog mit Carola Roloff statt. Die Sitzung begann mit einigen Fragen und Anmerkungen von den Studenten, auf die wir antworteten. Wolfram zeigte eine historische Analyse des Christentums mit Akzent auf anti-dialogischen Ereignissen wie die Kreuzzüge auf. Es wurde daran erinnert, dass der erste Kreuzzug im Jahre 1095 unter Papst Urbanus II begann. Der Kreuzzug hatte zum Ziel, das Heilige Land zurückzuerobern, die Muslime zu besiegen und Jerusalem, die heilige Stadt Christi, zu erobern. Bei dieser und bei anderen Gelegenheiten wurden Juden in Europa massakriert. Menschen führten Krieg und vollzogen Pogrome mit Kreuzen auf der Brust. Am Ende seiner traurigen Übersicht erwähnte Wolfram den Schrecken der Schoah. Ich habe dann Raul Hilberg zitiert, der in seinem The Descruction of European Jews zwischen drei Stufen des Antijudaismus unterscheidet: erstens, Juden wird vorgeworfen die falsche Religion zu haben, danach werden sie in Ghettos, abgetrennt von anderen, gesteckt, und schließlich werden sie ermordet, weil ihnen die Daseinsberechtigung aberkannt wird. Ich behauptete, dass der Antisemitismus im Zweiten Weltkrieg ohne den langen christlichen Antijudaismus der vorherigen Jahrhunderte unmöglich gewesen wäre. Ich bezog mich auf Christoph Brownings Analyse der Polizei-Reserve-Abteilung 101 in Hamburg, doch stimmte ich mit seiner Schlussfolgerung, dass jeder das Böse getan haben könnte, das diese „normalen Menschen“ verübten, nicht überein. Ich behauptete, dass die Täter der Schoah darauf abgezielt hatten, Massaker unter Juden zu verüben und vom Antisemitismus geprägt waren. Ich habe dann eine Verbindung zwischen der christlichen Einstellung gegenüber Juden zur Frage der Identität hergestellt: kollektive christliche Identität wurde auf der negativen Folie jüdischer Identität herausgebildet. Aus Chrysostomos’ Kata Ioudaios kann man erfahren, dass Christen einstmals von Synagogen und jüdischer

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Religiosität angezogen worden waren, aber sie wurden ermahnt und man befahl ihnen, jede Beziehung mit der Religion, aus der sie kamen, abzubrechen. Ein Student bestätigte, dass die Herausbildung von Identität in einer positiven Art und Weise wichtig sei. In einer weiteren Bemerkung sagte ein Hindu-Student, dass er theoretisch Monotheist und praktisch Polytheist sei. Wolfram erklärte dann, dass psychologisch gesehen Religionen mit Angst spielten und Feindbilder schufen. Er bezog sich auf einen Politikexperten, der behauptete, dass je weniger wir über Religionen wissen, desto mehr Religion für politische Zwecke missbraucht werden kann. Er verwies weiter auf strukturelle Gewalt bei den Interpretationen. Doch bietet der aus der Bibel inspirierte prophetische Protest gegen schlechte soziale und politische Umstände auch eine Möglichkeit. In diesem Zusammenhang erwähnte er den mutigen Standpunkt Dietrich Bonhoeffers, der sein Leben lassen musste bei dem Versuch, Hitler zu beseitigen. Er führte auch die Tatsache aus, dass in Südafrika Anti-Apartheid-Bürger, die Christen, Juden, Muslime und Hindus waren, zusammen beteten. Religionen müssen daher interpretiert und in ihrer Funktion in der Gesellschaft gesehen werden. Ich stimmte zu, dass sich Religionen verändern und dass sie Bestandteil der sozialen, kulturellen und politischen Umstände sind. Eine aktive Erinnerung an die Schoah könnte zu einer Verbindung zwischen Religion mit Humanismus und Menschenrechten führen. Die Frage eines Studenten aus Afghanistan betraf die Geschichte: ist es nicht möglich, die Geschichte in der Religion auszulassen? Die Frage erhielt eine negative Antwort: alle Menschen sind historisch verortet. Trans-Differenz bleibt jedoch möglich. Eine andere Frage betraf die Beziehung zwischen den etablierten Religionen und denen, die von ihnen abgeleitet sind und dadurch als Apostasien bezeichnet werden. Ich antwortete, dass es Probleme mit jedem hier­ archischen Konzept von Religionen oder mit der Rede von Mutter-Religion und Tochter-Religionen gebe, mit Äußerungen wie „wir waren die ersten“ oder „wir sind die besten, da wir die letzten sind, die vorheriges enthalten, aber besser“. Wolfram erinnerte uns daran, dass man interreligiös und intrareligiös sich davor hüten sollte zu sagen, dass einer „authentisch“ sei und der Andere nicht. Aber die Zusammenarbeit mit Menschen, die andere einer Gehirnwäsche unterziehen, wie Scientologen, ist problematisch. Wolfram fuhr dann fort, die Gedanken seines einstigen Lehrers Hans-Jochen Margull, ein Professor für Missionswissenschaft und Ökumene in Hamburg, der international anerkannt war und zum Dialog zwischen den Religionen beitrug, zu erörtern.18 Drei Bedingungen waren für Margull im interreligiösen 18 Siehe Wolfram Weiße, „Dialogue from a Christian and Muslim Perspective. Early Visions of a Dialogical Theology“, in ders. / Katajun Amirpur / Anna Körs / Dörthe Vieregge (Hg.), Religions and Dialogue. International Approaches, Münster 2014, S. 115–119.



Interreligiöse Dialoge 

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Dialog entscheidend: a) Religionen mussten sich historisch verstehen und zukunftsorientiert sein; b) keine objektiven, absoluten Wahrheitsansprüche waren erlaubt; und c) alle Religionen mussten als besonders verstanden werden. Margull zählte einige Prioritäten im Dialog zwischen den Religionen auf: a) Unter Bezugnahme auf Buber betonte er, man müsse mit der Gleichheit zwischen den Dialogpartnern beginnen; b) Er konzipierte die christliche Identität selbst als wesentlich dialogisch; c) Man musste verstehen, was zwischen den Religionen gemeinsam ist; d) Der interreligiöse Dialog ist kein Synkretismus; e) Christen mussten lernen zuzuhören und im Dialog zu schweigen; und f) Theologie begann nicht mit dem Besitz der Wahrheit; sie wurde vielmehr aus dem Dialog geboren und in ihm entwickelt. Ich schließe diese Beschreibung von interreligiösen Zwiegesprächen mit der Bemerkung, dass sich die Dialoge mit Hinduismus, Islam, Buddhismus und Christentum an der Akademie der Weltreligionen im Juni-Juli 2013 als fruchtbar erwiesen haben. Sie förderten Verständnis und Frieden. Exklusivistische und traditionelle polemische Einstellungen wurden zugunsten des interreligiösen Dialogs und im Hinblick auf die Schaffung einer interreligiösen Theologie verworfen. Statt über den Anderen von einem totalisierenden Standpunkt aus zu reden, können und sollten Begegnungen von Angesicht zu Angesicht von unten hoch komplexe akademische oder kirchlich-theologische Theorien beeinflussen. In den Dialogen habe ich wachsende interreligiöse Religiosität nicht als Ersatz für meinen eigenen Glauben gewonnen. Auch habe ich keine Art von Fusion oder Konfusion erfahren. Doch kann und will ich nicht das Gefühl, dass diese Art des Dialogs mir verschiedene Perspektiven zeigte und sowohl mein Selbstbild als auch das des Anderen veränderte, ignorieren. Man kann nicht in einen echten Dialog eintreten, ohne sich zu verändern. Ich wünsche mir, die neu erworbenen Perspektiven, die sich sicherlich in Zukunft mehr und mehr ausweiten werden, zu behalten. Sobald man die eigene isolierte Position aufgibt, eröffnen sich neue Horizonte. Das Studium des Erbes des Anderen im Gegensatz zu jeder Blindheit gegenüber der Differenz und der Einmauerung des Selbst oder Arroganz lehrt uns, uns selbst und den Anderen ohne eine herablassende oder beurteilende Haltung als nur Teile der gesamten menschlichen Geschichte wahrzunehmen. Unterschiedlichkeit und eine Vielzahl von Welten bleiben in der zunehmend globalisierten Welt gültig. Das Wunder der Trans-Differenz kann jedoch auftreten, wenn man sich wirklich bemüht, für die Welt des Anderen und die Gültigkeit seiner Weltsicht offen zu sein. Nicht alles hat Gültigkeit, da einige Weltanschauungen gewalttätig oder unterdrückend sind und ausgeschlossen werden müssen, aber man muss sich bewusst sein, dass auch die Hegemonie nur einer einzigen Weltsicht unausweichlich zu Gewalt und mangelnder Anerkennung des Anderen führt.

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 Jenseits der Grenzen

Das Lesen und Diskutieren von buddhistischen und hinduistischen Texten mit Carola und Anant ging nicht auf apologetische Weise von statten. Kerntexte wurden nicht aus Perspektive der Frage, ob sie mit der jüdischen Tradition vereinbar seien, angegangen. Die Frage war eher, welche einzigartige spirituelle Weisheit in diesen Texten zum Ausdruck kommt und in welcher Weise sie begeistern und zur persönlichen Spiritualität beitragen. Das Lesen und Interpretieren dieser Texte aus verschiedenen Perspektiven machte es möglich, die engen Grenzen der eigenen Religion zu überwinden. Ich war z. B. von der buddhistischen Vorstellung von Gleichmut und dem Austausch zwischen Ich und Du fasziniert. Beim Lesen von Texten anderer Religionen öffnet man sich gegenüber spirituellen Schätzen, die in diesen Dokumenten und nur in diesen Dokumenten verborgen sind. Natürlich muss man sich dem eigenen unvollständigen Verständnis bewusst bleiben. Doch wird Lerneifer in immer neue Einsichten münden, die aus einer Vielzahl von Quellen, die alle als Wege zur letztendlichen Wirklichkeit notwendig sind, herrühren. Entscheidend ist, eine offene hörende Haltung, eine Bereitschaft zu haben, den Anderen in dem, was er / sie dem Gesprächspartner im Dialog zu sagen hat, zu hören. Aufmerksames Zuhören könnte zur Bereicherung der eigenen Tradition und eventuell zur Veränderung von Standpunkten führen. In jedem Fall wenn Texte anderer Religionen das Objekt der dialogische Lektüre werden, wenn sie anfangen zu „sprechen“, verwirklicht man die „zwischen“-­Sphäre, die jeden echten Dialog charakterisiert. Im Dialog kommen der Kontext des Interpreten der Texte seiner / ihrer eigenen Tradition und der Kontext des Lernenden, der nicht zu dieser Tradition gehört, in der Inter-Kontextualität zusammen, in der die Texte des Anderen sowie die eigenen Texte anfangen zu „sprechen“ und Bedeutung gewinnen. Wenn man ernst genommen werden will, muss man sich selbst konkret innerhalb der eigenen Religion ohne eine Meta-Position wahrnehmen. Das Fehlen eines eigenen Standpunktes und die Übernahme einer laissez-faire-Haltung sind im interreligiösen Dialog nicht konstruktiv.19 Nur die gegenseitige Anerkennung kulturell verankerter Personen garantiert einen erfolgreichen interkulturellen und interreligiösen Dialog. Dialog ist daher die Verbindung der Akzeptanz der Unterschiedenheit des Selbst und des Anderen mit der Bereitwilligkeit zur Kommunikation und zum Brückenbauen.

19 Heinrich Schäfer, Praxis – Theologie – Religion. Grundlinien einer Theologie- und Religionstheorie im Anschluss an Pierre Bourdieu, Frankfurt a. M. 2004, S. 353–354.

Postskript Zwischen ist nicht eine Hilfskonstruktion, sondern wirklicher Ort und Träger zwischenmenschlichen Geschehens […] (M. Buber)1

In dem vorliegenden Band habe ich mich bemüht zu buchstabieren, was die notwendigen Voraussetzungen für eine dialogische oder interreligiöse Theologie sind. Die Formgebung dieser neuen Disziplin erfordert die Entwicklung von unterschiedlichen neuen Einstellungen. Religionen ändern sich ständig, sie sind fluktuierende Konstrukte, die sich gegenseitig beeinflussen. Sie bleiben verschieden in Bezug zu einander, aber „Trans-Differenz“, Zwischensein, Brückenbauen, Übersetzen, Lernen, Gastfreundschaft und Anerkennung bringen sie zusammen. In der „Trans-Differenz“ wird ein Zwischenraum geschaffen. Lebendiger Kontakt mit anderen religiösen Personen kann dazu beitragen, die Anderen anzuerkennen, ohne ein Bild oder eine Vorstellung von ihnen in klischeehaftem Denken zu entwickeln. Wir müssen das Andere, das Un-Gedachte denken, das, was nicht problemlos in unsere eigenen Schemata passt. Darüber hinaus kann man sich ändern, wenn man mit Anderen in Kontakt tritt, um eine ewige Wiederkehr zu sich selbst zu vermeiden. Im Kontakt findet „Selbst-Transzendenz“ statt: man ist im Hinübergehen zum Anderen nicht allein mit sich selbst. Dies führt zur „SelbstDifferenz“ als die Entdeckung der Andersheit im Selbst. Die Frage lautet daher nicht „Wer bin ich“, sondern „Wie wird man zu einem Ich?“. Der Kontakt mit der Andersheit charakterisiert das Ich. Meine Überlegungen betreffen die erhabene oder höhere Identität eines Menschen, die in der Bereitschaft, Erfahrungen von sich selbst und von Anderen „zu übersetzen“ und die Gastfreundschaft zu üben, realisiert wird. Ich schließe mit der Aufzählung einiger Bedingungen für Koexistenz, genauer gesagt, für den interreligiösen Dialog und interreligiöse Theologie.

Die Notwendigkeit von Dialog Zunächst einmal muss das Ich im interreligiösen Dialog keine Angst haben, sich selbst in der Interaktion mit Anderen zu verlieren, weil gerade im Zusammenspiel mit dem Nicht-Ich das Ich zum Ich wird. So wie ein Mann zu einem Ehemann durch seine Frau wird, ein Vater zum Vater durch seine Kinder oder ein Großvater zu einem Großvater dank seiner Enkelkinder – das Ich wird zum Ich dank des Nicht-Ich. Das Ich ist ein relationales Ich, von Anfang an, oder 1 Martin Buber, Das Problem des Menschen, Gütersloh 72007, S. 165.

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 Postskript

besser gesagt, vor jedem Anfang. Die tiefgreifende Identität des Ich liegt in seinem Nicht-Identisch-Sein mit sich selbst, in der Akzeptanz und Förderung des Anderen. Dialog ist daher keine Möglichkeit, sondern eine Notwendigkeit innerhalb der menschlichen Existenz. Im Dialog verliert das Ich mit seinem spezifischen Beitrag nicht seine Identität, sondern es wird eher aus seiner Geschlossenheit zugunsten des Hörens auf den Anderen, der etwas zu sagen haben könnte, das für das Ich relevant ist, befreit. Die Blase des Ich wird aufgebrochen durch die Forderung des Anderen nach Liebe und Respekt und in der Aufmerksamkeit auf ihn. Im Dialog mit dem Anderen kann man feststellen, dass die eigene Intimität immer schon von einer unentrinnbaren Fremdheit besucht wurde: das Ich ist nicht denkbar ohne das Nicht-Ich. Die Anerkennung der Nicht-Ich im Ich erlaubt, dass das Ich nicht ewig zu sich selbst zurückkehrt, sondern auf Andere zugeht. Die Beziehung zwischen dem Ich und dem NichtIch ist daher keine Reise auf parallelen Wegen, sie findet vielmehr statt, wenn Menschen interagieren und Einheit in der Vielfalt verwirklichen.2

Vielfalt Feiern In der interreligiösen Beziehung sollte man immer im Hinterkopf behalten, dass das Ich sich vom Anderen unterscheidet und der Andere unterschieden bleibt vom Ich. Niemand ist dasselbe und Vielfalt muss gefeiert werden. Der grundlegende Unterschied zwischen dem Ich und dem Anderen muss beibehalten werden, da nur unter Anerkennung von Unterschieden die Schaffung einer gemeinsamen Welt, in der man vom Anderen lernt, zu einer realen Möglichkeit wird. „TransDifferenz“ oder Kommunikation und das Überschreiten der eigenen Grenzen, um dem Anderen zu begegnen, setzen die Existenz von Differenzen voraus. Im interreligiösen Dialog räumt man demütig ein, dass auch Andere ihr Leben in besonderer Weise um das Absolute organisieren. Man akzeptiert, dass die Vielfalt der Möglichkeiten bei der Annäherung an die höchste Wirklichkeit notwendig ist. Auch ähnelt kein Weg dem anderen. Das Aufstellen einer Hierarchie von Wegen, oder noch schlimmer, die Verurteilung anderer Wege behindert und schädigt das Wachstum einer dialogischen Theologie. Christliche Missionare in Afrika sollten 2 In der ersten Nummer von Die Kreatur schrieben Martin Buber, Viktor von Weizsäcker und ­Joseph Wittig: „Es gibt ein Zusammengehen ohne Zusammenkommen. Es gibt ein Zusammenwirken ohne Zusammenleben. Es gibt eine Einung der Gebete ohne Einung der Beter. Parallelen, die sich in der Unendlichkeit schneiden, gehen einander nichts an; aber Intentionen, die sich am Ziel begegnen werden, haben ihr namenloses Bündnis an der von ihren Wahrheiten aus verschiedenen, aber von der Wirklichkeit der Erfüllung aus gemeinsamen Richtung. Wir dürfen nicht vorwegnehmen, aber wir sollen bereiten.“ Die Kreatur. Erster Jahrgang, Heft 1 (1926 / 7), S. 1.

Gastfreundschaft 

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zum Beispiel über afrikanische Stammesreligiosität nicht geringschätzig denken: afrikanische Religiosität ist auch in ihrer christlichen Form anders. Wenn es um Formen der Religiosität geht, bleiben Differenzen bestehen und alle können von allen lernen.

Bereicherung des Selbst Die interreligiöse Theologie, die hier zum ersten Mal aus jüdischer Sicht in umfassenderer Weise vorgestellt wird, ist nicht mit vergleichender Theologie zu verwechseln. Sie untersucht die für jedes interkulturelle und interreligiöse Gespräch notwendigen Haltungen. Dialogische Theologie artikuliert jenseits des Vergleichs zwischen den Religionen die Bedingungen für interkulturelle und interreligiöse Verständigung und Interaktion. In einer xenologischen und nicht dichotomen Denkweise gehe ich über eine konfessionelle Theologie zugunsten einer interreligiösen Theologie hinaus, die mit Offenheit und Respekt für den Anderen operiert und mit der Idee, dass nicht alles über das Absolute im eigenen religiösen Narrativ gesagt worden ist. Was fremd und nicht unser Eigenes ist, stellt nicht unbedingt eine Bedrohung dar; es kann eine Bereicherung sein. Der religiös Andere kann zu jemandem werden, von dem ich lernen und der meine eigene Existenz anregen kann. Ein buddhistischer Zen-Meister kann zum Beispiel Meister Eckhart lesen und ein Muslim kann sich für die Hebräische Bibel interessieren. Ein Buddhist kann sich auf einen Christen und ein Juden auf einen Hindu beziehen. Ein Protestant kann einem Sufi begegnen, ein Bahai in Israel kann seinen jüdischen Landsmann besuchen. Es geht nicht unbedingt darum mehr Einzelheiten des Anderen zu kennen, sondern grundsätzlich um das Zusammenleben, um die Beziehungen und die Bildung des Ich im Kontakt mit dem Nicht-Ich.3

Gastfreundschaft Eine der Bedingungen für eine dialogische Theologie ist, dass man bereit ist den Andersgläubigen als Gast im eigenen Hause zu empfangen. Es ist ein großer menschlicher Akt Gastfreundschaft zu üben. Im Empfangen Anderer, in der Bestätigung ihrer Existenz bin Ich Ich selbst. In unseren Häusern führt die Anwesenheit Anderer zwangsläufig zu einer Veränderung des Ich: das Ich ist nicht 3 Volker Küster, Einführung in die Interkulturelle Theologie, Göttingen 2011, S. 138–139. Küster unterscheidet zwischen drei Arten von Dialog: Lebensdialog auf präkonzeptioneller Ebene, Vernunftdialog auf konzeptioneller Ebene und Herzensdialog auf der mystischen Ebene.

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mehr souveräner, autonomer Herrscher. Das Ich wird der Ort, an dem der Andere gedeihen und sich zu Hause fühlen kann. Es ist dazu eingeladen „sich zu beziehen“. Bei der Unterstützung Anderer und der Herausbildung einer zuhörenden Haltung auf das, was der Andere beizutragen hat, wird das Ich zum Ich. Man kann nur religiös werden im Zusammenspiel mit dem religiös Anderen. Der Preis, den man für diese Haltung zu zahlen hat, ist oft der, dass man in der eigenen Gemeinschaft als jemand angesehen wird, der Grenzen überschreitet4 und sogar als jemand, dessen Identität hybrid oder vielfältig ist. Allerdings kann niemand leugnen, dass die Anerkennung von Alterität der Bildung des eigenen Ich inhärent ist, in dem Kontakt mit und Interesse am religiös Anderen nicht der Loyalität zur eigenen religiösen Tradition widerspricht.

Dialogische Hermeneutik Eine der wichtigen Voraussetzungen für eine dialogische Theologie ist die Entwicklung einer dialogischen Hermeneutik. In einer interreligiösen Theologie wird man sich den eigenen religiösen Texten in einer Weise nähern, die dem Anderen nicht weh tut, sondern ihn bestätigt und ihn oder sie fördert. Dies ist eine herausfordernde Aufgabe, ein Gebiet, das noch nicht erforscht worden ist und die Entwicklung einer solchen Hermeneutik erfordert eine kopernikanische Wende im Denken. Dialogische Hermeneutik betrifft nicht nur Texte, sondern auch die gesamte Kultur, in der diese Texte historisch eingebettet sind. Ferner steht sie im Zusammenhang mit dem heutigen Kontext mit einer Vielzahl von Interpretationen. Intrakultureller und interkultureller Dialog ist anlässlich der Lektüre dieser Texte die Forderung des Tages.5

Auf dem Weg zu Begegnungen Wie ich bereits schrieb, sind im interreligiösen Dialog als die Praxis, welche die Grundlage für interreligiöse Theologie bildet, Andere nie bloße Repräsentanten 4 Ebd., S. 150. Küster verwendet den Begriff „Grenzgänger“. In der Nachfolge von Hans-Jochen Margull schreibt er über die „Verwundbarkeit“ einer solchen Person, sowohl in Bezug auf den anderen Glauben als auch in Bezug auf die eigene Gemeinschaft. 5 Küsters Idee einer „kontextuellen Hermeneutik“ legt viel Wert auf die interpretierende Gemeinschaft, in der Texte nachhallen (S. 82–85). Meiner Ansicht nach gehören grundlegende Texte in der Tat besonderen Gemeinschaften, aber sie sind auch Teil unserer Weltkultur, in der eine Vielzahl von Gemeinschaften Zugang zu einer Vielzahl von religiösen Texten hat, die nicht notwendigerweise die eigenen religiösen Texte sind.



Eine radikale Veränderung des Denkens 

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von Institutionen und Religionen. Sie repräsentieren sich selbst in all ihrer Konkretheit mit ihrer unveränderlichen Einzigartigkeit. Ein ethisches Lesen von religiösen Quellen in Offenheit gegenüber Anderen ist nicht genug. Von Nöten ist die lebendige Begegnung mit lebenden Menschen, die immer anders sind als das, was in Lehrbüchern geschrieben steht und welche Erwartungen Institutionen an sie stellen. Eine interreligiöse Theologie, die auf realen Begegnungen gründet, wird zur Bildung eines neuen „wir“ beitragen, das durch das Hinübergehen zum Anderen, durch Gastfreundschaft, durch permanente Übersetzung und vor allem durch die Bereitschaft für den Anderen gegenwärtig zu sein, charakterisiert wird.

Eine radikale Veränderung des Denkens Der Weg zu einer interreligiösen Theologie als die Erforschung von vielfachen Möglichkeiten, religiös zu sein, schließt eine völlig neue Haltung gegenüber anderen Religionen ein. Im dialogischen Lernen hat man viel zu verlernen. Man muss eine beurteilende Haltung, einen engen konfessionellen Standpunkt und Gewohnheitsverhalten beiseiteschieben. Man muss seine Annahmen in Klammern setzen und die Beschäftigung mit sich selbst unterlassen. Statt seinen eigenen Standpunkt allen anderen Standpunkten gegenüberzustellen, schafft wirklicher Dialog ein neues „wir“, eine Gemeinschaft, die dank der Aufmerksamkeit für den Anderen die Einzigartigkeit eines jeden einzelnen zulässt, wie auch weiter die vielfache Teilnahme an Religiosität und tiefere Einblicke in das Selbstverständnis. Echter Dialog setzt aufmerksames Zuhören, Demut, eine kritische Haltung gegenüber sich selbst und Anderen, eine gute Portion an Selbstrelativierung ohne radikalen Relativismus voraus (weil man sich immer konkret in einer Situation befindet) und … Humor. Man muss sich von einer ausschließlich professionellen Ansicht trennen, was nicht bedeutet, dass das Wissen unwichtig wird: es bedeutet, dass Wissen in der Begegnung selbst operiert. Interreligiöser Theologie geht es nicht um rein objektives Wissen, das den Moment der Begegnung verpasst, noch um subjektive Interpretationen, die das Anderssein des Anderen vermissen lassen. Es geht um Intersubjektivität, um Offenheit gegenüber dem, was der religiös Andere zu sagen und beizutragen hat. Es geht um das intensive Hören der Geschichte des Anderen und sein Leiden, um adäquate Antworten und dialogische Lektüre. Sie fordert uns auf, einen monologischen Standpunkt für den Dialog, die Gegenseitigkeit, Nähe, zwischenmenschliche Beziehungen, Engagement und Verbundenheit zu verlassen. Interreligiöse Theologie basiert auf dem interreligiösen Dialog, der nicht immer erfolgreich und oft farblos, oberflächlich, unpersönlich und überzogen „offiziell“ ist. Obwohl Dialog mit Selbstkritik und die Aufmerksamkeit für den

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 Postskript

Anderen selten ist, ist es dennoch so, dass das Wunder eines echten Dialogs mit dem religiös Anderen eine reale Möglichkeit bleibt. Menschen mit unterschiedlichen religiösen Hintergründen stimmen notwendigerweise nicht miteinander überein, aber wenn sie bereit sind, zu lernen und selbstkritisch zu sein, kann das Wunder des interreligiösen Dialogs und des interkulturellen Lernens eintreten. Anstatt sich selbst zu verteidigen und Andere auszuschließen, könnte eine entspanntere und respektvollere Haltung angenommen werden. In der neuen dialogischen Theologie wendet man sich dem Anderen zu. Man muss ihn oder sie nicht nur akzeptieren, man bemerkt nicht lediglich seine oder ihre Andersheit, sondern man macht ihn oder sie gegenwärtig und tritt in einen gegenseitig befruchtenden, selbsttransformierenden Dialog ein. In der hier vorgeschlagenen dialogischen Theologie situiert man sich neu, richtet sich neu aus und gestaltet sich im Zusammenspiel mit dem Anderen neu. Man erweitert die eigenen Grenzen und geht auf den Anderen zu, um in einer Bewegung, die das Ich nicht unverändert lässt, zurück zum Selbst zu kommen.

Nachwort von Wolfram Weiße Das vorliegende Buch von Ephraim Meir bildet einen Meilenstein für die Entwicklung einer interreligiös-dialogischen Theologie. Es baut auf dem Fundament jüdischer Protagonisten für den Dialog auf und entwickelt eine umfassend begründete interreligiöse Theologie, die ihre Kraft und Perspektive durch den Entwurf eines mehrperspektivisch angelegten interreligiösen Dialogs erhält. Ich kann mit meinen folgenden Bemerkungen nur andeuten, was mich besonders beeindruckt.

Impulse jüdischer Protagonisten für den interreligiösen Dialog Ephraim Meir kennzeichnet die Bedeutung jüdischer Denker, die den Dialog ins Zentrum ihrer Ansätze gestellt haben,1 indem er auf die lange Geschichte der Abgrenzung gegen andere Religionen im Judentum weist. Mit Abraham Joshua Heschel, Franz Rosenzweig, Martin Mordechai Buber, Emmanuel Lévinas u. a. werden Positionen dargestellt, die die Enge und die mangelnde Begründung einer sich selbst genügsamen Grundhaltung aufdecken und mit jeweils unterschiedlichen Akzenten, aber insgesamt mit starker Argumentationskraft auf die Notwendigkeit von Dialog dringen. Hierbei wird deutlich vor Augen geführt, dass eine Absolutsetzung der eigenen Religion theologisch unhaltbar und in der gegenwärtigen Weltgesellschaft unangemessen ist: Theologisch wird klar herausgearbeitet, dass im Licht jüdischen Denkens der Versuch, Gott nur für sich selber zu vereinnahmen, gegen die Grundauffassung grade des Judentums verstößt. Hierzu zitiert Meir u. v. a. die Aussage von A. J. Heschel: „Jeder Gott, der der meine ist, aber nicht der deine: jeder Gott, der sich um mich kümmert, aber nicht um dich, ist ein Götze.“ Und Ephraim Meir setzt hinzu, dass der göttliche Name entweiht werde, wenn man von einem Gegensatz des „eigenen Gottes“ zum „Gott der anderen“ ausgeht. Ebenfalls von Heschel stammt die bemerkenswerte Aussage, die die Überschrift und das Motto einer Ansprache in New York bildete: „Keine Religion ist eine Insel“. Ephraim Meir nimmt diesen Gedanken auf und formt daraus eine Brücke zu dem zentralen Anliegen seines Buches, der Entwicklung einer interreligiösen Theologie.

1 Vgl. dazu auch das grundlegende Buch von Ephraim Meir, Differenz und Dialog (Bd. 4 der Schriftenreihe der Akademie der Weltreligionen „Religionen im Dialog“), Münster 2011.

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 Nachwort von Wolfram Weiße

Bausteine für eine interreligiöse Theologie Ephraim Meir arbeitet die Prioritäten interreligiöser Theologie heraus und betont dabei besonders, dass es möglich ist, sich mit den theologischen Entwürfen anderer Religionen in einer Weise auszutauschen, dass es nicht darum geht, entweder die eigene Position durchzusetzen oder anderen gegenüber nachzugeben. Mit dem Terminus der „Trans-Differenz“ unterstreicht er die Möglichkeit, eigene Positionen zu wahren und im Dialog mit den Positionen anderer in einen Lernprozess zu treten, der auf die gemeinsame Entwicklung neuer Verstehensansätze gerichtet ist. Dabei tritt kein Verlust der jeweiligen „Besonderheit“ ein, vielmehr wird Raum für Denk- und Entwicklungsprozesse mit neuen Erkenntnissen für die je eigene Religion wie für neues gemeinsames Denken im Feld von Religion eröffnet. Interreligiöse Theologie ist ebenso auf religiöse Haltung wie auf religiöse Praxis gerichtet. Es geht darum, wechselseitig die eigene Tradition zu übersetzen und den anderen zuzuhören, es geht um die gelebte Praxis, um eine gemeinsame solidarische Ethik, um Gastfreundschaft. Eine solche Theologie, so Meir, ist nur gangbar durch die Entwicklung einer Hermeneutik, die von einer Anerkennung der Anderen getragen ist. Diese Hinweise können nur grobe Umrisse für eine interreligiöse Theologie im Sinne von Ephraim Meir liefern. Konturen gewinnt sein Ansatz zusätzlich dadurch, dass er sich klar von einer engen, einer „rein“ konfessionellen Theologie absetzt und auch eine komparative Theologie als im Ansatz defizitär einstuft. Darüber hinaus setzt er sich auch mit dem ihm näher stehenden Ansatz einer pluralistischen Theologie auseinander. Bei aller Wertschätzung des Grundanliegens dieses Ansatzes als einem ersten Schritt der Öffnung von Theologie unterstreicht er die Notwendigkeit von interreligiöser Begegnung, die er in der pluralistischen Theologie zu wenig eingelöst sieht. Interreligiöser Dialog in Form von Begegnung bildet bei Meir den Kern für seinen Ansatz von interreligiös-dialogischer Theologie. Hiermit sind wir beim nächsten Punkt, dem Dialogansatz der Theologie.

Mehrperspektivisch angelegter Dialog als Innovationspotenzial für gegenwärtige Theologie Auf mehreren Ebenen wird Dialog untersucht: Zum einen finden sich, wie erwähnt, die grundlegenden Gedanken hierzu von Protagonisten jüdischer Denker. Zum anderen wird eine kreative Form gesucht, diese Gedanken aus dem Judentum mit entsprechenden Ansätzen im Buddhismus in einen Zusammenhang zu bringen. Der imaginierte Dialog zwischen buddhistischem Denken und Heschels jüdischer Dialogphilosophie setzt ein interreligiöses Potenzial frei. Weiterhin wird am



Beitrag für die Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg 

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Beispiel von Paul Knitter gezeigt, wie fruchtbar es sein kann, nicht nur in einer Religion – bei Knitter der römisch-katholischen – zu bleiben, sondern auch einen Zugang zu einer anderen Religion, nämlich zum Buddhismus zu gewinnen.2 Zudem wird am Beispiel der Bibelübersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig der interreligiös-dialogische Charakter dieses Vorhabens herausgearbeitet. Ein dialogisches Vorgehen sieht er auch für die Exegese von Grundtexten als angemessen an, bei der es – wie von E. Lévinas vorgeschlagen – nicht nur um das geht, was der Text sagen will („veut dire“), sondern auch um das, was er sagen könnte („peut dire“). Zusätzlich zu diesen konzeptionell ausgerichteten Ansätzen wählt E. Meir einen weiteren, bemerkenswerten Zugang zum Dialog: Er verdeutlicht, wie interreligiöser Dialog in der Praxis angelegt sein kann und welche Schlussfolgerungen daraus möglich sind. Damit wird nicht nur über Konzeptionen von Dialog reflektiert, sondern Dialog wird wissenschaftlich praktiziert und reflektiert. Am Beispiel von Modulen, in denen Ephraim Meir mit Kolleginnen und Kollegen aus dem Hinduismus, dem Buddhismus, dem Islam und dem Christentum zusammen unterrichtet hat, wird die Relevanz des faktisch geführten Dialogs über die konzeptionellen Ansätze von Dialog hinaus deutlich. Ephraim Meir hat mit seiner Initiative und Verarbeitung von interreligiösem Dialog an der Universität ein Pilotprojekt für einen wissenschaftlich interreligiösen Dialog „von Angesicht zu Angesicht“ initiiert, das schon in der vorliegenden Form beeindruckend ist und noch weiter Gestalt gewinnen und für die Weiterentwicklung interreligiös-dialogischer Theologie große Relevanz entfalten wird. Als Summe formuliert E. Meir abschließend die Einsicht, dass der interreligiöse Dialog verändere, ohne aber die eigene Identität zu gefährden: „Man erweitert die eigenen Grenzen und geht auf den Anderen zu, um in einer Bewegung, die das Ich nicht unverändert lässt, zurück zum Selbst zu kommen.“

Beitrag für die Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg Die Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg verfolgt seit ihrer Gründung im Jahr 2010 einen dialogorientierten Ansatz, der neben Christentum und Islam weitere ausgewählte Religionen wie Judentum, Buddhismus, Hinduismus 2 Vgl. Paul Knitter, „Interreligiöser Dialog. Bleibende Differenz oder kreatives Potenzial? Am Beispiel des christlich-buddhistischen Dialogs“, in Wolfram Weiße / Katajun Amirpur / Anna Körs / Dörthe Vieregge (Hg.), Religion und Dialog in modernen Gesellschaften. Dokumentation der öffentlichen Auftaktveranstaltung eines internationalen Forschungsprojektes (Nr. 1 der Dokumentationsreihe der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg), Münster 2014, S. 39–60.

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 Nachwort von Wolfram Weiße

und Alevitentum einbezieht und sich dabei nicht auf das Nebeneinander der Religionen beschränkt, sondern auf die Wechselwirkungen zwischen den Religionen gerichtet ist. Damit löst sie ein, was auch der Wissenschaftsrat 20103 empfohlen hat, nämlich die religiöse Pluralisierung an der Universität. Und sie geht darüber hinaus, indem sie unterschiedliche Theologien nicht nebeneinander, sondern in ihrem wechselseitigen Bezug beachtet. Diesen Dialogansatz verfolgen wir in der Forschung und ebenso in Lehre und Praxis. Konkret bedeutet dies für die Lehre, dass die Theologien und Lehren der verschiedenen Religionen nicht nebeneinander, sondern – zumindest in Phasen – miteinander unterrichtet werden. Hierfür ist der Ansatz des oben genannten Pilotprojektes von Ephraim Meir ein herausragendes Beispiel. Dadurch werden die jeweiligen theologischen Entwürfe einer Weltreligion mit denen einer anderen Weltreligion in Verbindung gebracht, um Gemeinsamkeiten und Differenzen fundiert und umfassend zu thematisieren. So wird eine Basis geschaffen, um den interreligiösen Dialog wissenschaftlich zu verankern. Darüber hinaus wird der wissenschaftliche Horizont erweitert: Fragen des interreligiösen Dialogs werden an der Akademie der Weltreligionen nicht nur in grundlegenden Dimensionen, sondern in Bezug zu gesellschaftlichen Problemfeldern in modernen Einwanderungsgesellschaften erörtert, um einen praktischen Beitrag für das Zusammenleben in unserer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft zu leisten. Auch dieses Anliegen wird in der vorliegenden Publikation von Ephraim Meir vertreten. Vor diesem Hintergrund ist der Ansatz des europäischen Forschungsprojektes „Religion und Dialog in modernen Gesellschaften“,4 das an der Akademie der Weltreligionen angesiedelt ist, zu verstehen. Es widmet sich seit 2013 dem Thema des interreligiösen Dialog, an den hohe gesellschaftliche Erwartungen für die Gestaltung des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlichen religiösen und kulturellen Hintergrunds geknüpft sind, zu dem allerdings noch viel zu wenig wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen. Das Forschungsprojekt „Religion und Dialog in modernen Gesellschaften“ soll einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dieses Defizit zu überwinden und die Lücke zu schließen.5 Die 3 Die „Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen“ vom 29. Januar 2010 können eingesehen werden unter: http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/9678-10.pdf (Zugriff: 24. Februar 2015). 4 Vgl. Wolfram Weiße / Katajun Amirpur / Anna Körs / Dörthe Vieregge (Hg.), Religion und Dialog in modernen Gesellschaften. Dokumentation der öffentlichen Auftaktveranstaltung eines internationalen Forschungsprojektes (Nr. 1 der Dokumentationsreihe der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg), Münster 2014. 5 Vgl. dazu einen ersten Ansatz in Wolfram Weiße / Katajun Amirpur / Anna Körs / Dörthe Vier­ egge (Hg.), Religions and Dialogue. International Approaches (No. 7 of the series „Religions in Dialogue“), Münster 2014.



Dank und Perspektiven  

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Forschung erfolgt auf zwei verschiedenen Ebenen: Zum einen der „Dialogischen Theologie“ und zum anderen der „Dialogischen Praxis“. Vor dem Hintergrund bereits vorliegender Ansätze der pluralistischen, interkulturellen und interreligiösen Theologie entwickelt ein interdisziplinär und interreligiös zusammengesetztes Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern6 in einem an der Akademie der Weltreligionen angesiedelten „Forschungslabor“ Konzeptionen einer dialogischen Theologie. Ephraim Meir befördert im Kreise namhafter Kolleginnen und Kollegen7 maßgeblich diese Entwicklung einer „dialogischen Theologie“, wie die vorliegende Publikation zeigt. Im Rahmen einer Kontextorientierung spielt für die Forschungsebene der „Dialogischen Theologie“ der Bezug auf gelebte Formen von interreligiösem Dialog eine bedeutende Rolle, wie sie auf der zweiten Ebene – der „Dialogischen Praxis“ – von uns erforscht werden. Dieser Bezug zur Realität gelebter Religion ist wichtig, um theologische Neuansätze nicht im luftleeren Raum zu entwickeln, sondern sie rückzukoppeln an religiöses Denken und Handeln von Menschen unterschiedlicher religiöser Zugehörigkeit. Die vorliegende Publikation zeigt, dass Ephraim Meir auch diese Verbindung von akademischer Theologie und lebensweltlichem Denken als eine für seinen Ansatz hoch relevante Frage ansieht.

Dank und Perspektiven Es ist mittlerweile mehr als deutlich geworden: Ephraim Meir arbeitet nicht nur an der Bar-Ilan-University Ramat-Gan in Israel, sondern seit vielen Jahren auch als Gastprofessor an der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg. Durch die Veronika und Volker Putz Stiftung ist es möglich, dass er als „Emmanuel-­Lévinas Gastprofessor für jüdische Dialogstudien und interreligiöse Theologie“ regelmäßig pro Jahr für mehrere Monate nach Hamburg kommt. 6 Dies sind senior-researcher Dr. Carola Roloff für Buddhismus, Dialog und Gender, sowie die researcher Katja Drechsler für Islam, Andreas Markowsky für Judentum und Florian Jäckel (bis Januar 2016) sowie ab Februar 2016 Marius van Hoogstraten für Christentum. Für die Empirie sind dies senior researcher Dr. Dörthe Vieregge, senior researcher Dr. Anna Körs, sowie die re­ searcher Kim David Amon, Bianca Kappetijn, Anna Ohrt, Mehmet Kalender (bis Januar 2016) sowie Laura Haddad ab Februar 2016. 7 Dies sind für den Bereich dialogischer Theologie außer Prof. Dr. Ephraim Meir: Prof. Dr. T ­ horsten Knauth (Universität Essen-Duisburg und ReDi-Projektleiter der Rhein-­Ruhr-­Metropolregion), Prof. Dr. Volker Küster (Universität Mainz), Prof. Dr. Manuela Kalsky (Freie Universität Amsterdam), Prof. Dr. Reinhold Bernhardt (Universität Basel), Prof. Dr. Oddbjørn Birger Leirvik (Universität Oslo), Prof. Dr. Perry Schmidt-Leukel (Universität Münster), Prof. Dr. Paul F. Knitter (Union Theological Seminary, New York), Prof. Dr. Michael von Brück (Universität München), Prof. Dr. Peter L. Berger (Boston-University) u. a.

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 Nachwort von Wolfram Weiße

Dafür gilt dieser Stiftung ebenso Dank wie für die Unterstützung der Übersetzung dieser Publikation vom Englischen ins Deutsche. Ephraim Meir ist an der Akademie der Weltreligionen weit mehr als ein Gast – und auch das wäre ja schon sehr viel – , er ist nicht nur Teil der Akademie der Weltreligionen und ihrer Forschung, sondern er ist Protagonist für den Ansatz einer dialogisch-interreligiösen Theologie, den wir zusammen ausarbeiten. Die vorliegende Publikation bildet dafür – um zum Ausgangpunkt zurückzukommen – einen Meilenstein für die weitere Fundierung, Ausarbeitung und Zuschärfung einer dialogischen Theologie. Dafür sage ich großen Dank im Namen unserer Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg. Ich bedanke mich darüber hinaus auch ganz persönlich bei Ephraim Meir, dessen Freundschaft für mich außerordentlich wichtig ist – nicht nur für die professionelle Kooperation, sondern auch für den persönlichen Austausch mitsamt allen Hoffnungen und Anstrengungen, die wir beide teilen mit dem Ziel, einen Dialog zwischen Menschen verschiedener Religion zu fördern, der offen und kritisch, mit Ernst und Humor, mit Mut und in Demut, mit Anfragen an bestehende Wissenschaft und Vorschlägen für neue Wege geführt wird. Dies alles im Bestreben, Wissenschaft und tägliches Leben miteinander zu verbinden im Wissen um die eigene Unvollkommenheit und zugleich im Bewusstsein, wie wichtig, ja unabdingbar eine Verständigung zwischen Menschen unterschiedlicher Religion und Weltanschauung mit und über die eigenen Positionen hinaus – also mit Ephraim Meir gesprochen „transdifferent“ – ist, so dass es lohnt, hierzu die notwendigen wissenschaftlichen Arbeiten mit aller Kraft und Kreativität zu leisten. Hierfür ist Ephraim Meir ein Vorbild und deswegen sage ich: Merci beaucoup, cher Ephraim!

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Sachregister aggadisch / Aggada 112–113 ahimsa (Gewaltlosigkeit) 77, 220 Alevite 70, 234 anatta (Nicht-Selbst) 66, 70, 74, 190, 216 Antisemitismus 133, 150 Fn 8, 151–152, 221 apokalyptisch 35, 36, 110, 121 Fn 107, 123 Apostat 152 Fn 13 Assimilation 44–45, 131, 133, 136, 159–160 atman 67, 218 Aufklärung 134–135, 150, 152 Bahai 70, 227 Bhagavad Gita 12, 213 Fn 6 u.7 Bibel 31–32, 36, 40, 49–50, 89–91, 95–96, 98, 101, 109, 117, 121, 127, 132, 139–140, 157, 172–173, 197–198, 203 Fn 8, 215, 222, 233 – Hebräische / Jüdische 12–13, 25, 36, 53 Fn 95, 95–131, 140, 142–143, 157, 205, 227, 233 bittul ha-yesh (Aufhebung des Seienden) 67 bodhi (Erweckung) 221 Bodhichitta 221 Bodhisattva 66, 73, 75, 88, 219 Brahman, Brahmanismus 67, 211 Brücke, Brückenbauen 11, 13, 15, 18, 31, 36–37, 40, 43, 143, 183, 200, 203, 209, 224–225, 231 Buddhismus 1, 12, 25, 27, 39, 49 Fn 80, 54, 57, 64–69, 71–78, 88, 166, 202 Fn 5, 205, 215 Fn 9, 216–218, 223, 232–233, 235 Fn 6 – engagiert 65 – europäisch 65 – Mahayana 72, 75, 218 – Zen 74, 76 Bund 4, 45, 59, 107 Fn 61 Chassidismus, chassidisch 33, 47, 66–67, 86, 97 Fn 6, 101–102, 106–107, 120, 128, 143, 167, 176, 186, 189, 192, 199, 220 Christentum, christlich 2, 10, 12–13, 24–39, 44–56, 57, 65, 68, 70, 71–80, 86, 88–89, 95, 106, 109–111, 115, 117, 122–124, 128, 130, 135, 139–140, 142, 148, 150, 152 Fn 13, 153, 154, 157, 159, 161 Fn 34, 162, 166–167, 169–170, 180, 203 Fn 8, 210, 221–223, 226–227, 233, 235 Fn 6

Daoismus, Daoist, Tao, Taoismus 1, 2, 48–49 Fn 80 Demokratie 14, 28, 34, 71, 90, 91, 148, 161, 163 dharma 213–214 Dhimi 25, din (Recht) 69 Dissimilation 159–160 Druse 70 ekam sat (ein Gott) 205, 211 Fn 3, 212 Empathie 18, 54, 68, 155, 195 emuna (Vertrauen) 31–32, 34–35, 215 Erbarmen 61, 69 Erlösung 10, 13, 37–39, 44, 64–67, 96–98, 110, 140, 142, 150 Fn 8, 217 evangelikal 125 Fn 118 Exklusivität, exklusiv, exklusivistisch 2, 7, 10, 28 Fn 24, 35, 44, 52, 75, 81, 86, 133, 140, 150–151, 155–156, 181, 200, 205, 207, 223 Exegese, exegetisch 31, 33, 95–96, 99–104, 106, 112–113, 116–117, 121, 125, 128–129, 158, 233 – dialogisch 154, 157 – interreligiös 172, 178 Feminismus, feministisch 13, 65, 71 Friede 7, 27, 40, 50, 53, 57, 62, 64–65, 68–69, 76–77, 83, 88, 94, 126, 157, 162, 176, 182, 192, 201, 212, 223 – innerer 13, 66 – äußerer 13, 66 fünf Regeln 220 Fundamentalismus, fundamentalistisch 32, 48, 81, 90, 150, 161, 165, 197 Gastfreundschaft 13–16, 18, 42, 56, 154, 156–157, 161 Fn 34, 178, 180–181, 225, 227–229, 232 Gebote (siehe auch mitzwot) 15, 36, 54, 67, 103 Fn 51, 107 Fn 61, 135, 143, 154, 158, 172–174, 208 Gerechtigkeit, gerecht 8, 34, 55, 61, 64, 68–69, 77, 90, 106, 147, 157–158, 175, 182, 201

250 

 Sachregister

Gnosis, gnostisch 29–30, 33–35, 96, 109–110, 118–119 Götze, Götzendienst 47, 60, 67, 86, 129, 147, 150, 175, 191, 231 Halacha, halachisch 24 Fn 3, 112–113, 213 Fn 7, 214 Fn 7, 215 Hermeneutik, hermeneutisch 17–18, 89, 100, 104–105, 117, 126–127, 215, 228 Fn 5, 232 – dialogisch 17–18, 28–29, 39, 96, 120 Fn 106, 154, 157–161, 173–174, 215, 228 – ethisch 172 – humanistisch 161 Fn 34 – interreligiös 172 – der Demut 29 – des Fremden 131 – des Verdachts 3 Hinduismus, Hindu 1–2, 13, 25 Fn 9, 39, 67, 74, 76–77, 202 Fn 5, 205, 210–211, 213–214 Fn 6 u. 7, 215 Fn 9, 222–224, 227, 233 Hinübergehen 17, 40, 110, 165 Fn 3, 179, 225, 229 Holocaust, Schoah 33, 68, 98, 110, 123, 132–133, 154, 216–217, 221–222 Humanismus, humanistisch 87, 89, 101, 133–136, 143, 153–155, 157, 159, 161 Fn 34, 175, 182, 184–186, 189–190, 193–194, 222 Humanist – hebräisch 101, 189 – religiös 159, 182, 185–186 Identität 1, 3, 7, 11, 15, 17, 23, 40, 44–45, 52 Fn 91, 55, 69–72, 78, 81, 85 Fn 11, 92–93, 127, 132, 136–137, 144, 147, 155, 159, 164–171, 177–178, 180, 201, 206–207, 212 Fn 4, 214, 221–223, 225–226, 228, 233 – deutsch-jüdisch 132–133, 182 – gebrochen 133 – hybrid 55 Fn 78, 92, 228 – komplex 133–134, 138, 141 – multiple 11, 134, 137 ijtihad 90 iman 215 Inklusivität, inklusiv 2, 44, 50, 75, 81, 86, 134, 137, 140, 148, 154, 156–157, 200, 205, 211 Fn 3

Islam, islamisch 1, 24–27, 38–39, 48 Fn 79, 64, 90, 150, 152–154, 156, 161 Fn 34, 166, 205, 215, 223, 233, 235 Fn 6 Jainismus, Jain 207 Fn 14 jihad 152 Jubus 25 Judentum, jüdisch 1, 2, 4–5, 8–9, 12–13, 19, 23–27, 29–39, 44–54, 57–61, 64–69, 71, 73, 76, 78 Fn 49, 80, 83, 86, 88–89, 95–96, 98, 102–104, 106–107, 109–114, 116–117, 121–122, 126–144, 150–151, 153–158, 161 Fn 34, 166, 169–170, 172–174, 176–177, 179, 182, 189, 191–192, 195, 205, 210–214, 216, 220–221, 224, 227, 231–233, 235 karma 49 Fn 80, 74–75, 216–217 kartesianisch 142 karuna (Mitgefühl) 69, 73, 216 katholisch 30, 44, 47 Fn 75, 99, 233 Konfession, konfessionell 4, 47–48, 52–53, 57, 71, 92–93, 148, 154, 196–197, 200, 203, 206–207, 227, 229, 232 Konflikt 28, 53–55, 78 Fn 49, 147–150, 152, 162, 182–184, 187–188, 190, 193–194, 198, 220 Konfuzianismus 1, 25 Fn 9, 49 Fn 80, Konversion, Konvertit 14, 39 Fn 51, 72, 91, 139, 166 Koran 5, 12, 48 Fn 79, 161 Fn 34, 215 La-ilaha-illallah 215 Leiden 33, 49 Fn 80, 50 Fn 85, 57, 60–61, 64, 66, 68–70, 72, 76, 77 Fn 49, 103 Fn 51, 157, 179 Fn 16, 216–217, 220–221, 229 Leidender Gottesknecht, eved ha-Shem 32–34, 45, 98, 217 lernen 5, 7–8, 11–13, 16–18, 32, 36, 47, 50 Fn 85, 54, 65, 69, 71, 73, 77–78, 84, 87, 89, 93, 111, 114, 115 Fn 89, 129, 132, 139, 158–159, 177–181, 196, 199–200, 204, 207, 210, 215 Fn 11, 223–224, 227, 229–230 Magie, magisch 13, 30, 35, 150 Mahayana 72, 75, 218 maitri (liebende Hinwendung) 216

Sachregister 

Marcionismus, marcionitisch 107 Fn 61, 110, 115, 169 Mitgefühl / Mitleid 48 Fn 79, 54–55, 66, 68–70, 73, 76–77 Meditation 25, 27, 67, 69–70, 75, 77, 216, 219 – Metta 76 – Tonglen 76 – Vajrayana 76 – Vipassana 76 Menschenrechte 28, 58, 62–65, 71, 87, 153, 157, 160–163, 213 Fn 6, 222 meta-religiös 29, 53, 62 Midrasch 28, 105, 112–113, 123 miqra (Hebräische Bibel) 97–99, 109, 117 mitzwot (Gebote) 35, 135 Muslime, muslimisch 2, 13, 24 Fn 3, 25–27, 50, 56 Fn 101, 65, 70, 88, 90, 148, 159, 162, 167, 180, 210, 221–222, 227 Mystik 27, 189, 215, 218 neti, neti 74 Neues Testament 13, 26 Fn 11, 53 Fn 95, 110 Fn 67, 129, 140 „Neues Wir“ 92 Nirvana / Nirwana 44, 55 Fn 100, 64, 69, 72, 74–75 Noachidische Gesetze / Gebote 4, 23, 158, 213 Fn 6 Nostra Aetate 47 panentheistisch 73, 186, 212 Pathos 49 Fn 80, 179 Fn 16 – Gottes 48 Fn 80, 58, 61, 64, 68, 216 Paulus, paulinisch (biblisch) 4, 32, 34–36, 107 Fn 61 Pirqe Avot (Sprüche der Väter) 7, 23, 214 pistis (Glaubenslehre) 31–32, 34–35 Pluralismus, Pluralist, pluralistisch, im Plural 2, 4, 7–8, 10–11, 16–17, 48–49, 50–51, 54, 81, 83, 85–87, 93, 148–149, 156–157, 161, 164, 167, 200, 205–208 – religiös / theologisch 1–3, 10, 16, 46–47, 50–51, 54, 80–81, 85, 156, 159 Fn 30, 167, 200, 205–208, 232, 234–235 post-säkular 149, 153, 156 prajna (Weisheit) 73 proflektiv 179 Prophet, prophetisch 4, 23, 31, 33, 35–36, 38, 48–49 Fn 80, 50, 58, 60–61, 66,

 251

68–69, 86, 88, 91, 100, 106–107, 111, 116–117, 121, 123, 143, 155, 162, 170, 215, 222 Protestant, protestantisch 12, 30, 117, 137, 152, 220, 227 peshat (Literalsinn) 112–113, 122 rahamim (Erbarmen) 69, 216 Rationalität / Vernunft – des Herzens 187 – strategisch 187 Relativismus 161, 212 Fn 4, 229 Religion 2–4, 7–18, 23–32, 34–38, 44–65, 69–70, 74–75, 78–84, 86–94, 98, 111, 137, 141, 143, 147–163, 166, 167, 169–172, 175–177, 182, 195–208, 210–215, 220–226, 227, 229, 231–236 – abrahamitisch 1, 26, 48, 154, 156, 176 – Nachbar / Zwillings 37–38, 45–46, 80 – Religionsphilosophie 57–59, 66, 195, 202 – Religionswissenschaft 71 Fn 1, 195–199, 202–203, 206 Religiosität / Interreligiosität 10, 14–15, 23, 28–31, 34–36, 44–46, 50, 58, 71–72, 78–81, 84, 87, 93, 98, 137, 147–150, 152–153, 156, 160–163, 169–170, 173, 178, 201, 208, 222–223, 227, 229 – hybrid 72, 77–78 Rig-Veda 12, 211 saeculum 14 Säkularisierung 149–150, 153, 161–163 samsara 75 Fn 30 sati (Witwenverbrennung) 213 Fn 7 satyagraha (Gewaltlosigkeit) 77–78 Fn 49 Schabbat 89, 105 Fn 52, 132, 140, 174, 192 Scharia 215 Schoah (siehe Holocaust) Schöpfung, Schöpfer 1, 4, 38, 43, 54, 86, 96–98, 107–108, 118–119, 132, 137, 140–142, 158, 184, 188 Selbst-Differenz 42, 178 Fn 13, 214, 225 Selbst-Transzendenz 42, 178 Fn 13, 214, 225 shalom (Friede) 70, 162 Shekhina (Einwohnung Gottes) 68, 80 Fn 5 shfikhat damim (Blutvergießen) 60 shura 90 Sikh 70

252 

 Sachregister

Sufi 167, 207 Fn 14, 215 Fn 11, 227 Synkretismus 93, 160, 223 sunyata (Leerheit) 72–73, 76, 218 Talmud, talmudisch 23, 51 Fn 89 u. 90, 60, 80, 82, 89, 104–105, 114, 127, 151 Fn 12, 158 Fn 28, 164, 174, 199–200 Tao, Taoismus (siehe Dao, Daoismus) Theologie 2–5, 9, 12, 14–17, 19, 24–25, 29, 49–50, 54, 60, 62–63, 68, 71, 74, 79–80, 84, 87, 91–92, 96, 108–109, 125, 130, 150 Fn 8, 167, 195–204, 208, 213 Fn 7, 214, 223, 232, 234–235 – dialogisch 5, 8–15, 17, 19, 24–25, 29, 32, 35, 52, 78–79, 85, 93–94, 157, 200–201, 207–209, 214, 225–228, 230–233, 235–236 – konfessionell 47, 52, 57, 71, 196–197, 200, 203, 206–207, 227, 232 – kontextuell 92, 195, 203 – interkulturell 79, 125, 147 – interreligiös 3–5, 8–11, 16–17, 19, 24, 36, 38–39, 44, 46, 50, 52–55, 57–58, 62, 65, 69–71, 78–81, 83, 85, 93–94, 125, 147–150, 174, 176, 195, 200–210, 212, 214–215, 223, 225, 227–229, 231–233, 235–236 – pluralistisch 8, 10, 16, 46, 51, 54, 80, 83, 87, 93, 200, 232 – praxisbezogen 49 Fn 81, 200, 203 – prozessorientiert 200 – Tiefentheologie 47, 49–50, 53, 59, 62–63, 87 – traditionell 2, 4, 80, 195 – trans-different 15, 80, 209, 212 – vergleichend / komparativ 204, 227, 232 Theopaschismus 33, 68 Theravada, Theravadin 75 Fn 30, 218 tifèrèt (Pracht, Glanz) 69 tiqqun olam (Erlösung / Reparatur der Welt) 13, 65 torah she-be-al-pe (mündliche Tora) 116 Trans-Differenz, trans-different 5, 10–12, 14–15, 18, 31, 39–40, 42, 45, 55, 65, 80, 88–89, 93, 95, 102, 131, 147–150, 158–163, 169, 175, 178, 180, 208, 212, 214–215, 222–223, 225–226, 232 teshuva (Umkehr) 36, 98, 123 tzaddiq (Gerechter) 33, 189 tzèdèq (Gerechtigkeit) 64, 69

Übersetzung, übersetzen 13–14, 17–18, 32, 39–44, 50, 52, 55, 88–89, 95–99, 105–107, 109–132, 136, 143, 200, 205, 210, 225, 229, 232–233, 236 – dynamisch-äquivalent 125–126 – form-äquivalent 125–126 umma (Gemeinschaft) 90, 102 Fn 44 Unsagbare, Unaussprechliche 16, 51, 63, 80–83, 87, 93, 154, 156, 169, 176–178, 196, 199, 211 Veda (siehe auch Rig-Veda) 210–214 Wahrheit 1–3, 5, 7–8, 15, 28 Fn 24, 41, 46, 49, 51–52, 54, 64, 75, 80–81, 105 Fn 57, 136, 161, 170, 191–192, 195–196, 200–202, 204, 207 Fn 14, 210, 219, 223, 226 Fn 2 – absolute 154, 156, 169, 197, 219 – konventionell 219 – letzte / höchste 64, 91 Fn 30, 219 – vier edle Wahrheiten 217 Weiser / Gelehrter 9 Fn 5, 82, 105, 116, 127 Fn 125, 207 Fn 14, 211 Whiteheads Gesetz 4 Wirklichkeit 12, 30, 33, 35, 66–67, 73–76, 98, 114–115, 122, 130, 141, 169, 184, 189, 192, 194, 226 Fn 2 – absolute 8 – höhere / höchste 10, 12, 15–16, 28 Fn 24, 67, 81, 83, 158, 169, 207, 226 – letzte / letztendliche 2–3, 11, 15, 36–37, 52, 63, 69, 79–81, 91, 178, 198–199, 202, 204, 207–208, 210, 224 wu wei (Nicht-Handeln) 48 Fn 80 Zen (siehe auch Buddhismus) 71 Fn 1, 74, 76, 227 Zion 45, 106–107, 120, 151 Fn 12 Zionismus 62, 78 Fn 49, 103, 106–107, 127, 143, 152 Zugehörigkeit 32, 71–72, 92, 133 Fn 3, 160, 167, 180, 195, 201, 235 – doppelte 11, 71, 182, 201 – vielfältige 71, 78, 159 Fn 31, 182, 201 Zwischensein 165 Fn 3, 225

Personenregister Abraham (biblisch) 23, 33, 90, 117, 125, 141, 176, 205 Abu Zaid, Nasr Hamid 161 Fn 34 Agag der Amalekiter (biblisch) 91, 103 Alt Franz 182 Fn 1 Amir, Yehoyada 19 Anidjar, Gil 38 Arkoun, Mohammed 161 Fn 34 Assmann, Jan 28 Fn 24, 149–151, 155 Baal Shem Tov 67 Baeck, Leo 182 Barth, Karl 139 Fn 18, 167, 203 Fn 8 Barthes, Roland 104–105 Beek, Martinus A. 111 Beer-Hofmann, Richard 138 Ben Zoma 57 Berger, Peter L. 149, 159 Fn 30, 235 Fn 7 Bernhardt, Reinhold 10 Fn 6, 11 Fn 8, 206 Fn 13, 207 Fn 14, 235 Fn 7 Bhabha, Homi K. 55 Fn 99 Bloch, Jochanan 188 Bonhoeffer, Dietrich 222 Boorstein, Sylvia 27 Fn 20, 72 Bourdieu, Pierre 203, 224 Fn 19 Brekelmans, Chris 125 Brill, Alan 25–26, 71 Browning, Christoph 221 Brück, Michael von 71 Fn 1, 235 Fn 7 Buber, Martin 7, 19 Fn 20, 24, 29–55, 61 Fn 19, 74 Fn 18, 77–79, 83–87, 91, 95–130, 132, 134, 138, 141, 143–144, 147, 158, 162, 168 Fn 6, 169 Fn 8, 172 Fn 1, 174 Fn 7, 176 Fn 11, 179–180, 182–194, 199–200, 212–215, 217–218, 221, 223, 225–226, 231, 233 Buber, Rafael 127 Buddha 55 Fn 100, 66, 72, 75–77, 88, 189, 205 Fn 11, 217–219 Calvin, Johannes 130 Casanova, José 148–149 Chrysostomos 221 Cohen, Hermann 107, 134, 136–139, 141, 143–144

Cohn-Sherbok, Dan 24 Fn 5 Cornille, Catherine 25 Fn 9, 47 Fn 75, 213 Fn 7 Cristaudo, Wayne 38 Dalai Lama 27, 54–55, 182 Fn 1, 220 Dawkins, Richard 149, 153 Dehn, Ulrich 206–207 Fn 14 Deleuze, Gilles 85 Derrida, Jacques 104, 158 Deutscher, Isaac 132 Diamond, Malcolm L. 102, 128 Fn 129 Dilthey, Wilhelm 96 Fn 4, 101, 104, 197 Dreyfus, Théodore 101–102 Eckhart, Meister 227 Ehrenberg, Hans 39, 89, 115, 141 Fn 26 Ehrenberg, Rudolf 39 Elisha ben Abuyah 132 Esau (biblisch) 119–120, 138, 151 Faber, Roland 55 Fn 100 Falaturi, Abdoldjavad 79 Fn 2 Fischer, Franz 179–180 Fisher, Norman 72 Flusser, David 36 Friedman, Maurice 30, 32 Fn 37, 34 Fn 41, 74 Fn 18, 91 Fn 28, 96–97, 100, 103 Fn 52, 107 Fn 61, 111, 130 Fn 138, 187 Fn 27, 199 Gadamer, Hans-Georg 104–105 Galli, Barbara 40 Gandhi, Mahatma 77 Geiger, Abraham 136 Gellman, Jerome (Yehuda) 67 Fn 37 Gerhard, Michael 55 Fn 100 Gibbs, Robert 38 Girard, René 53 Fn 95 Glassman, Bernie 72 Goethe, Johann Wolfgang von 138 Goldman, David Paul 38 Gopin, Marc 28 Gordon, Peter 38, 142 Fn 28 Goshen–Gottstein, Alon 24–26, 47–48, 67 Fn 37, 212–213, 215 Fn 10 Greenberg, Hayim 78 Fn 49

254 

 Personenregister

Greenberg Kornberg, Yudit 213 Fn 7 Günther, Ursula 161 Fn 34 Habermas, Jürgen 149 Fn 5 Halevi, Jehuda 24, 37, 39–40, 43, 99, 127, 139, 167 Hamann, Johann Georg 41 Hartman, David 4, 26 Fn 10, 48 Fn 78 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 39, 139, 141–142 Heidegger, Martin 142 Heschel, Abraham Joshua 4, 12, 23–24, 26–27, 29, 33, 46–50, 52–54, 57–70, 83, 86–90, 102–103, 128 Fn 126, 147, 175, 214, 231–232 Heschel, Susannah 33 Fn 40, 46 Fn 71, 50 Fn 85, 68, 86 Fn 12 Hick, John 2, 8 Fn 3, 10–11, 49, 79 Fn 2, 91 Fn 30, 212 Hilberg, Raul 221 Hillel, der Ältere 164 Hirsch, Samson Raphael 112–113, 134–137, 143–144 Huntington, Samuel P. 55–56 Fn 101 Illman, Karl-Johan 99–100, 121 Ipgrave, Julia 52 Fn 91 Ishmael, Rabbi 51 Isaak (biblisch) 103 Fn 51, 117 Jacob, Edmond 112 Jacob, Benno 119 Jakob (biblisch) 119–120, 138, 151 James, William 198 Jesus (biblisch) 26, 30–34, 36, 45, 75, 189, 215 Jonas, Hans Jospe, Raphael 50–51 Jüngel, Eberhard 68 Kallenbach, Hermann 78 Fn 49 Kalmanovitch, Nehama 101 Fn 37, 104 Fn 55 Kalsky, Manuela 4, 82 Fn 6, 92, 235 Fn 7 Kant, Immanuel 15, 108, 136–137, 153, 196–197, 199 Kaplan, Edward K. 87 Fn 14 Kaplan, Mordechai 73 Fn 5 Kasimow, Harold 49–50, 86–87

Katz, Nathan 27 Kepnes, Stephen 96 Fn 3, 105–106 Khema, Ayya 12, 27 Kierkegaard, Søren 61, 103 Fn 51, 188 Kimchi, David 51, 112 King, Martin Luther 12, 58–60, 175 King, Sallie 70–71 Kippenberg, Hans G. 149–153, 170 Fn 9 Knitter, Paul F. 5 Fn 2, 8 Fn 2, 10–12, 49, 68–69, 71–79, 88, 233, 235 Fn 7 Koch, Eva-Maria 65 Fn 32 Kogan, Michael S. 4–5, 26 Fn 10 Kohn, Hans 194 Korn, Eugene 24–25, 67 Fn 37, 212 Fn 5, 215 Fn 10 Kotzker Rebbe 103 Krochmalnik, Daniel 19 Kuhn, Thomas Samuel 51–52 Landauer, Gustav 192, 194 Lao-Tzu 48 Fn 80 Lathouwers, Ton 12 Lavater, Johann Kasper 24 Lessing, Gotthold Ephraim 15, 87, 98, 135, 138, 161 Fn 34 Levin, Aryeh Lévi-Strauss, Claude 105 Levinas, Emmanuel 16, 23 Fn 1, 56, 82–87, 93, 96 Fn 4, 104–105, 112, 127 Fn 125, 158, 161 Fn 34, 164, 173, 180, 187 Fn 27, 214, 216, 221, 231, 233 Lipman, Kennard 27 Luther, Martin 91, 113 Fn 80, 117–118, 123–124, 167 Lyotard, Jean-François 159 Magnes, Judah L. 77 Fn 49 Magonet, Jonathan 25–26 Maimonides 24, 37, 167, 195, 215 Fn 11, 219 Fn 14 Margull, Hans-Jochen 79 Fn 2, 222–223, 228 Fn 4 Meinecke, Friedrich 139 Meir, Ephraim 3–5, 9 Fn 4, 19 Fn 20, 26–28, 33 Fn 40, 37 Fn 47, 39 Fn 52, 48 Fn 78, 53 Fn 94, 58 Fn 1, 65 Fn 33, 68 Fn 43, 88–89, 101–103, 128 Fn 126, 134 Fn 4,

Personenregister 

138 Fn 15, 157 Fn 27, 161 Fn 34, 162 Fn 36, 169 Fn 7, 178 Fn 13, 180 Fn 18, 187 Fn 27, 190 Fn 36, 231–236 Meir, Rabbi 132 Mendelssohn, Moses 24, 129–130, 134–136, 138 Mendes-Flohr, Paul 77 Fn 49, 99 Fn 24 u. 28, 121 Fn 110, 132, 134 Fn 6, 137, 141 Fn 27, 193 Fn 41 Merton, Thomas 12, 47 Meschullam Sussja von Hanipol, Rabbi 176 Meschonnic, Henri 114 Mohammed 88, 215 Moltmann, Jürgen 68, Moses (biblisch) 33, 66, 90, 114, 117, 119, 129, 155 Fn 21, 176, 215 Moyaert, Marianne 16 Fn 16, 47 Fn 75 Muilenburg, James 130 Fn 137 Munk, Elie 173–174 Nagarjuna 218 Niebuhr, Reinhold 47 Nobel, Anton Nehemia 138 Nyanaponika (Sigmund Feninger) 27, 72 Oppenheim, Michael 38 Origenes 157 Palmer, Gesine 38 Paulus (biblisch) 4, 36, 107 Fn 61 Plato 114 Prager, Joseph 138 Race, Alan 205 Ragaz, Leonhard 32 Rahner, Karl 73 Rambachan, Anantanand 205, 210–211, 213 Raschi 51, 105 Fn 57, 111–112, 118, 173–174 Roloff, Carola 57, 64–65, 216, 219 Fn 14, 221, 235 Fn 6 Rosenstock, Eugen 39, 138–139 Rosenstock-Huessy, Gritli 39, 45, 89 Rosenwald, Lawrence 103 Fn 53, 112 Fn 74, 126 Rosenzweig, Franz 11, 17 Fn 19, 19 Fn 20, 24, 28–29, 37–50, 53–55, 86, 88–89, 95–132, 134, 137–144, 172 Fn 1,

 255

174 Fn 7, 176 Fn 11, 182, 212 Fn 5, 214, 231, 233 Rumi 7 Samuel (biblisch) 91, 103, Santideva 205 Fn 11, 219 Sartre, Jean-Paul 148, 193 Saul, König (biblisch) 91, 95 Fn 1, 102–103 Shabestari, Mohammad Mojtahed 214–215 Schäfer, Heinrich 203–204 Schäfer, Peter 151, 155 Schleiermacher, Friedrich 104, 167 Schmidt-Leukel, Perry 10–11, 13 Fn 11, 16, 26–27, 52–53, 71, 75 Fn 30, 79 Fn 2, 88, 91 Fn 30, 93, 197, 200 Fn 4, 202, 204–207, 235 Fn 7, Schnädelbach, Herbert 153 Schneider, Lambert 99 Scholem, Gershom 95, 111, 126, 128, 199–200 Schravesande, Hans 120 Schwartz, Regina M. 149–151 Schwartz, Yossef 38 Shneur Zalman von Lyadi 101 Simcha Bunam von Pžysha, Rabbi 176 Simmel, Georg 29 Simon, Uriel 100 Smith, Wilfred Cantwell 91 Fn 21, 210 Sokrates 99, 135, 221 Sölle, Dorothee 167 Soloveitchik, Dov Baer 26 Fn 10, 48 Fn 78 Spinoza, Baruch 132, 135, 161 Strauss, Eduard 138 Susman, Margarete 40 Swidler, Leonard 10, 47 Fn 75 Talmon, Shemaryahu 100, 110 Fn 68, 113 Fn 82 Terenz 180 Teshima, Jacob Jurah 27 Thales von Milet 141 Theunissen, Michael 188 Tillich, Paul 32, 72–74, 79 Fn 2, 88 Fn 17 Treitschke, Heinrich von 136–137 Tsongkhapa 219 Fn 14 Urban II, Papst 221 Urban, Martina 61 Fn 19, 103 Fn 51

256 

 Personenregister

Waghid, Yusef 90 Waldenfels, Bernhard 178–180 Wangchuk, Dorji 57 Weiss, Meir 121–122 Weiße, Wolfram 10 Fn 6, 19, 28–29, 64 Fn 28, 79–80, 92 Fn 31, 149 Fn 5 u. 6, 157 Fn 27, 221–222, 233–234 Weizsäcker, Viktor von 30, 226 Fn 2 Wellhausen, Julius 99, 129

Willaime, Jean-Paul 150 Fn 7, 153 Wingate, Andrew 14 Fn 13 Wittgenstein, Ludwig 211, 219 Fn 14 Wittig, Joseph 30, 226 Fn 2 Wolf, Ernest M. 111 Yohanan ha-Sandlar, Rabbi 7, 214 Yousafzai, Malala 152