Alles, was atmet: Eine Theologie der Tiere 9783791772035, 3791772031

Kann man von Gott sprechen und zugleich vom Tier schweigen? Der Abschiedsblick der Tiere – in den Zoos, in den industrie

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German Pages 385 Year 2018

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Eine Theologie der Tiere? Zur Einleitung
I. TIERWISSEN
Alles nur Natur? Zum Problem der Anthropozentrik
Die paradiesische Wissenschaft. Der Mensch ist nicht allein mit sich
Den Drachen töten und die Spatzen füttern. Die Heiligung der Natur in der Legenda Aurea
Das Ich im Anderen. Die Nähe zwischen Tieren und Kindern
Wer täuscht hier wen? Kommunikative Verhältnisse zwischen Gott, Tier und Mensch
Tiere – Sakramente der Transzendenz. Auf der Suchen nach dem lebendigen Gott
II. TIERETHIK
Haustier, Nutztier, wildes Tier. Wie Beziehung Kategorien sprengt
Nackt unter Antilopen. Die Wüstenväter und ihre Tiere
Der Gott der Tiere. Über Tierleid, -angst und -schmerz
„Furcht und Schrecken …“ (Gen 9,2). Christen und das Töten und Essen von Tieren
Die Mücken des Makarios. Meditation über das Ungeziefer
Tote Tiere auf dem Altar? Erkundigungen über das biblische Tieropfer
III. TIERESCHATOLOGIE
Reine und unreine Tiere. Eine Zoologie der Heiligkeit
Christlicher Animismus? Zur Theologie franziskanischer Tierbeziehung
Bestiarium symbolicum. Die Christianisierung der Tiere in der Kunst der Romanik
Das Lamm Gottes. Ein Tier erklärt den Sinn der Welt
Animal ludens. Das Spiel als sakramentales Heilszeichen
Der Garten als Existenzweise. Eine trinitarische Perspektive auf die Tiertheologie
Literaturverzeichnis
Buchinfo
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Alles, was atmet: Eine Theologie der Tiere
 9783791772035, 3791772031

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Simone Horstmann / Thomas Ruster / Gregor Taxacher

Alles, was atmet Eine Theologie der Tiere

VERLAG FRIEDRICH PUSTET

Simone Horstmann Thomas Ruster Gregor Taxacher

Alles, was atmet Eine Theologie der Tiere

VERLAG FRIEDRICH PUSTET

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

eISBN 978-3-7917-7203-5 (pdf ) © 2018 by Verlag Friedrich Pustet, Regensburg Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg Umschlagmotiv: Oscar Schlemmer, Tierparadies (1939), © akg-images Satz und Layout: Martin Vollnhals, Neustadt a. d. Donau Tierskizzen: Alexandra Weber, Dortmund E-Book-Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich: ISBN 978-3-7917-3002-8 Weitere Titel aus unserem Verlagsprogramm finden Sie unter www.verlag-pustet.de

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Eine Theologie der Tiere? Zur Einleitung

I. TIERWISSEN

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Simone Horstmann Alles nur Natur? . . . . . . . . . . . . . . Zum Problem der Anthropozentrik Gregor Taxacher

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Die paradiesische Wissenschaft . . Der Mensch ist nicht allein mit sich Thomas Ruster

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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79

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Wer täuscht hier wen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikative Verhältnisse zwischen Gott, Tier und Mensch Simone Horstmann Tiere – Sakramente der Transzendenz . Auf der Suche nach dem lebendigen Gott Thomas Ruster 5

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. . . . . . . . . . . . . .

Den Drachen töten und die Spatzen füttern . Die Heiligung der Natur in der Legenda Aurea Gregor Taxacher Das Ich im Anderen . . . . . . . . . . . . . . . Die Nähe zwischen Kindern und Tieren Simone Horstmann

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Inhalt

II. TIERETHIK

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Thomas Ruster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Haustier, Nutztiere, wildes Tier . Wie Beziehung Kategorien sprengt Gregor Taxacher Nackt unter Antilopen . . . . . . Die Wüstenväter und ihre Tiere Gregor Taxacher

Der Gott der Tiere . . . . . . . . . . . . Über Tierleid, -angst und -schmerz Simone Horstmann

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . . . . . . .

204

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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„Furcht und Schrecken …“ (Gen 9,2) . . . . Christen und das Töten und Essen von Tieren Simone Horstmann Die Mücken des Makarios . . . Meditation über das Ungeziefer Gregor Taxacher

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Tote Tiere auf dem Altar? . . . . . . . . . . . . . . Erkundigungen über das biblische Tieropfer Thomas Ruster

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Inhalt

III. TIERESCHATOLOGIE

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gregor Taxacher

Reine und unreine Tiere . . Eine Zoologie der Heiligkeit Thomas Ruster

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Christlicher Animismus? . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Theologie franziskanischer Tierbeziehung Gregor Taxacher

. . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Animal ludens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Spiel als sakramentales Heilszeichen Simone Horstmann

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Garten als Existenzweise . . . . . . . . . . . . . . . . Eine trinitarische Perspektive auf die Tiertheologie Simone Horstmann Literaturverzeichnis

273

. . . .

Bestiarium symbolicum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Christianisierung der Tiere in der Kunst der Romanik Thomas Ruster Das Lamm Gottes . . . . . . . . . . . Ein Tier erklärt den Sinn der Welt Thomas Ruster

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Vorwort Es ist immer schön, wenn man für Heiterkeit sorgen kann. Wenn wir von unserer Theologie der Tiere erzählten, ist uns das fast immer gelungen. Vor allem in kirchlichen und theologischen Kreisen begegnete uns teils skeptisches, teils nachsichtiges, teils auch wohlwollendes Lächeln; einige glaubten uns aber auch ganz ernsthaft darauf hinweisen zu müssen, dass es doch zuerst nötig sei, sich um den Menschen zu kümmern. Das wollen wir auch tun. Aber was ist über den Menschen zu sagen ohne seine Beziehung zu den Tieren? Und der Tiere zu ihm? Und beider zu Gott? Und Gottes Beziehung zu beiden? Auf unserem von Skepsis, Nachsicht und Wohlwollen begleiteten Weg haben wir viel Unterstützung erfahren. Vielen haben wir zu danken: zuerst den Dortmunder Studierenden für ihr großes Interesse an der Tiertheologie. Sie haben uns immer wieder in unserem Anliegen einer Tiertheologie bestätigt und ermutigt, uns aber auch zu wichtigen Feinkorrekturen angeregt. Lisa-Marie Kaiser, die das Projekt von Anfang an begleitet hat, danken wir für ihre wertvollen Beobachtungen und Rückmeldungen zu den Beiträgen, für ihren Einsatz bei der Gestaltung des Manuskripts, ebenso wie für ihren umfassenden Blick auf das große Ganze, aber auch die Feinheiten der Texte. Anna Angendohr und André Suren haben wir für ihre wichtigen Kommentare und Einschätzungen sowie das unermüdliche Korrekturlesen der Beiträge zu danken. Julia Kleine-Bley und Carina Reinhard haben am Manuskript mitgearbeitet und die Erstellung der Druckvorlage begleitet. Freude und Dankbarkeit haben die Zeichnungen der Dortmunder Kunststudentin Alexandra Weber bei uns ausgelöst, die aus ihrer Nähe zu den Tieren erwachsen sind. Dr. Stefano Franchini (Düsseldorf ) und Dr. Birgit Grzesiek (München) danken wir für anregende und außergewöhnliche Gespräche über Gott, Mensch und Tier sowie für zahlreiche Hinweise. Dr. Rainer Hagencord, dem Leiter und (Mit-)Gründer des Instituts für Theologische Zoologie in Münster sind wir für die freundliche Begleitung unseres Projekts und für seine wohlwollende Unterstützung in dem gemeinsamen Anliegen für die Tiere tief verpflichtet. Besonderen Dank schulden wir unserem Lektor beim Pustet-Verlag, Herrn Dr. Rudolf Zwank, für sein 9

Vorwort

großes Interesse an dem Projekt, für wesentliche Rückmeldungen zu den Texten und seine ebenso engagierte wie verlässliche verlegerische Begleitung. Nicht wenige Tiere wären auch noch zu nennen, denen wir zu danken haben. Wenn man sich mit einem solchen Thema befasst, schaut man die Tiere mit anderen Augen an. Und es scheint, dass sie auch anders zurückblicken. Dies möge auch den Leserinnen und Lesern dieses Buches so ergehen. Dortmund, im Mai 2018

Simone Horstmann Thomas Ruster Gregor Taxacher

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Eine Theologie der Tiere? Zur Einleitung

Kein Platz für Tiere: Aus unserer Lebenswelt verschwinden die Tiere – langsam, aber sicher. Dort, wo sie einmal ihren festen Platz im Leben der Menschen besaßen, sind sie heute jenen schlechten Surrogaten gewichen, die in Form von Comicfiguren oder Stofftieren die heutigen Kinderzimmer bevölkern. Kein Platz für Tiere: Auch in der Theologie! Schlägt man die Register neuerer Lehrbücher systematischer Theologie auf, sind Tiere weitgehend abwesend. Selbst in ihrem Reservat in der Schöpfungstheologie kommen sie nur ganz am Rande vor, wenn überhaupt. Ist es nicht bedenklich, wie wenig die Theologie die Tiere beachtet? Die traditionelle Dogmatik kannte immerhin den Traktat der Angelologie, jedoch keinen der Animalologie: Nichtmenschliche Geschöpfe bevölkerten die Theologie also in Form von übernatürlichen Wesen, von Engeln, deren Existenz unserer Erfahrung eher zweifelhaft ist, während die uns nächsten natürlichen Mitgeschöpfe ignoriert wurden und werden. In jüngster Zeit, seit die Sintflut der ökologischen Krise die Menschheit bedroht und die Liste der ausgestorbenen und vom Aussterben bedrohten Arten immer länger wird, öffnet sich den Tieren wenigstens wieder eine Seitentür der theologischen Arche: die Ethik. Die Kritik an Massentierhaltung und Fleischkonsum ist zu einem öffentlichen Diskurs und die Erhaltung der Schöpfung zu einem moraltheologischen Thema geworden. Dennoch sind diese Diskussionen weit davon entfernt, das theologische Denken insgesamt zu erreichen und zu verändern. Auf der Suche nach den verlorenen Tieren Die Tiervergessenheit der Theologie ist kein modernes Phänomen. Gewiss hat die anthropozentrische Wende der Neuzeit sie noch verstärkt: Sie glaubt, die Welt nur vom Menschen aus und für den Menschen erkennen 11

Eine Theologie der Tiere?

und behandeln zu können. Sie macht im objektivierenden Zugriff alles Übrige zu Sachen – zu den berüchtigten Maschinen, für die René Descartes die Tiere hielt. Doch hier wurde nur verstärkt, was zuvor schon angelegt war: Bereits in ihrer antiken Kinderstube hat sich die christliche Theologie eng mit der Geist-Philosophie der griechischen Tradition verbunden. Nur im Geist, in Logos und Nous, findet der Mensch, was ihn mit Gott verbindet und zu Gott zieht. Gott ist Mensch geworden, damit der Mensch vergöttlicht werde. In dieser Bewegung nach oben bleiben die Mitgeschöpfe hoffnungslos zurück. Und so kommen sie auch in der späteren mittelalterlichen scholastischen Systematik meist nur in negativer Abgrenzung zur Geistseele und Gott-Kapazität des Menschen vor, wie Joseph Bernhart (einer der wenigen, der sich als Außenseiter der Theologie der Tiere ernsthaft annahm) schon 1961 konstatierte. Doch Joseph Bernhart sammelte auch Heiligenlegenden über Tiere, welche eine überraschende andere Seite christlicher Ressourcen deutlich machen: Abseits der rationalen, wissenschaftlichen Theologie wimmelt es in der Tradition geradezu von Tieren. In den Legenden, in der sog. Volksfrömmigkeit, in der religiösen Kunst sind sie so allgegenwärtig wie sie es eben in der Lebenswelt der Menschen waren. Von den Einsiedlern in der ägyptischen Wüste bis zu Don Bosco in der Großstadt des 19. Jahrhunderts bevölkern sie das Leben der Heiligen (also längst nicht nur das des Franz von Assisi). Von den altchristlichen Mosaiken über den Säulenschmuck der romanischen und gotischen Dome bis zu den Wimmelgemälden des Barock sind sie in der christlichen Kunst unübersehbar. In der bäuerlichen Kultur gehören sie selbstverständlich in die Prozessionen, werden geschmückt und gesegnet, sind offensichtlich des Sakramentalen fähig. Auch in der mystischen Schau der Schöpfung, nicht nur bei Hildegard von Bingen, haben sie ihren Platz. Nur wenn sich der Theologe (ein Mann zumeist) in sein Studierzimmer zurückzieht, bleiben sie ausgesperrt. Darüber nachzudenken, warum das so ist, gehört auch zu einer Theologie der Tiere. Gott hat mehrere Lieben In der Bibel jedenfalls  – wiewohl neuerdings immer wieder wegen ihres Herrschaftsbefehls an den Menschen in der Schöpfungserzählung gescholten – geht es gar nicht so abgeschlossen zu. Gott hat hier keineswegs nur 12

Gott hat mehrere Lieben

eine, nur die anthropozentrische Beziehung zu seiner Schöpfung. Die Tiere wie die Menschen belebt der gleiche Atem Gottes. In den Bund mit Noah bezieht er die Tiere der Arche ausdrücklich mit ein (Gen 9,12). In den Psalmen preisen auch sie ihren Schöpfer und rufen nach ihm um Hilfe und Nahrung, und er sorgt für sie. Der skeptische Prediger weiß den Menschen mit dem Tier in der Vergänglichkeit vereint (Koh 3,18 f.) und im zweiflerischen Buch Ijob erweist Gott seine Überlegenheit durch seine Vertrautheit mit den wilden Tieren, die der Mensch nicht kennt (Ijob 40 f.). Propheten erwarten einen neuen paradiesischen Frieden, in dem Tiere und Menschen miteinander leben, ohne einander zu schaden (Jes 11,4–11). Und Jesus lebt, als er die Versuchungen des Satans abgewiesen hat, zusammen mit Tieren und Engeln (Mk 1,13). Gott hat sicher Beziehungen zu seiner Schöpfung an uns vorbei. Alles Geschöpfliche ist auf seine Art unmittelbar zu Gott, in einer Weise, die über unser Begreifen geht. Denn natürlich lebt auch der Mensch in seiner Welt, die sich zwischen ihm und den Dingen in Wahrnehmen und Handeln als seine spezifische Umwelt konstelliert, so wie es Jakob von Uexküll für die Tiere gezeigt hat. Aber der Mensch ist herausgefordert und fähig zu einer Wahrnehmung seiner Wahrnehmung, zu einer Beobachtung zweiter Ordnung, die sich bewusst macht, dass seine Perspektive nicht mit der Wirklichkeit identisch ist. In theologischer Perspektive ist dies der Ruf zur Transzendenz, der dem Menschen in allen Dingen entgegenkommt. Die Tiere als seine nächsten, seine zugleich nahen und fremden Mitgeschöpfe, sind dabei – neben dem Mit-Menschen – wohl die kräftigsten Spuren von Transzendenz. Das manifestiert sich schon in der Religionsgeschichte, die voll ist von vergöttlichten Tieren, in denen sich Transzendenz verkörpert: Ist nicht die Erfahrung Gottes in vielerlei Hinsicht wie jene, die wir mit den Tieren machen? Wie Gott sind auch die Tiere uns so oft zugleich unbegreiflich und doch nah, zugleich gefährlich und doch voller Treue und Liebe, zutiefst stumm und doch so beredt. In der Bibel, die Gott solcher Verkörperung entzieht (auch der anthropomorphen!), findet sich diese Spur immer noch in der Vielzahl der Tier-Metaphern, in denen sie von Gott spricht, der als Adler oder als Taube, als Löwe oder als Lamm erscheinen kann. Eine Theologie der Tiere wird deren konkrete Transzendenz, ihr Anderssein, ihre Befremdlichkeit, die Entzogenheit ihres Inneren, achten und in ihr der Spur des GanzAnderen nachdenken.

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Eine Theologie der Tiere?

Gegen Labortiere Unsere Versuche schreiben nicht nur gegen die Anthropozentrik der Theologie, sondern zugleich auch gegen einen gewissen Naturalismus der zeitgenössischen Auffassung des Lebendigen an. Wir bestreiten dabei nicht die Forschungsergebnisse der Biologie und im speziellen etwa der Evolutionstheorie. Wir möchten jedoch Zweifel säen an der suggestiven Plausibilität, welche die mathematisch und experimentell definierten Phänomene mit der Wirklichkeit identifiziert, die doch nur in multi-dimensionalen Zugängen – und auch in ihnen nie ganz, nie wirklich – erfasst zu werden vermag. Von den neuen Lebenswissenschaften haben wir dabei viel gelernt. Die Moderne hat die Tiere zunächst zu Automaten erklärt, dann zu instinktgesteuerten Triebwesen. Erst in letzter Zeit dürfen Tiere unter Beobachtung und im Experiment vermehrt zeigen, wie erstaunlich flexibel, intelligent und auch seelisch komplex sie sind. Doch auch diese Vermessungen des Tieres erfolgen nach menschlichen Kriterien, sind definiert durch unsere Fragen und die Quantifizierbarkeit der Antworten. Hinzu kommen die großen Erklär-Paradigmen für die beobachteten Phänomene, die uns so geläufig geworden sind, dass in der breiteren Rezeption von Wissenschaft ihr konstruktiver Charakter kaum mehr bewusst ist und diskutiert wird: Plausibel erscheinen uns Erklärungen, die den konkreten Zweck, den strategischen Vorteil, die evolutionäre Rationalität eines Phänomens benennen. Alles andere, was auch noch am Phänomen erscheint, kommt in dieser Perspektive als anthropomorphe Projektion daher – als sei nicht auch die Maschine der Zweckrationalität eine geistesgeschichtlich und kulturell kontingente Entdeckung. Innerhalb dieser Plausibilitätsstruktur hat die Wahrnehmung der Schönheit, der Lebensfreude, des zweckfreien Spiels, der Freundschaft und Liebe von Tieren allenfalls ein poetisches Recht. Und für die Frage, ob nicht das Leben seinen eigenen Lebenssinn in sich selbst erfahre  – und nicht in seiner Erhaltung und Fortpflanzung  – fehlen uns geeignete Worte. Auch eine Theologie der Tiere wird sich hier nicht in leichtsinnige Fantasie flüchten. Aber sie beobachtet die Tiere im Licht der göttlichen Gnade und sieht in ihnen anderes als die Naturwissenschaften: Sie sieht, was die Tiere von Gott her sind und was sie von dort her für uns sein können.

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Anliegen und Aufbau des Buches

Eine Theologie der Tiere Unsere Ausgangsthese bei all dem lautet: Die Theologie der Tiere gehört nicht in ein Randkapitel der Schöpfungslehre, sondern ist ein Querschnittthema der gesamten Theologie. Gott ist nicht nur als Schöpfer mit den Tieren befasst, um dem Menschen eine Lebensbühne zu bereiten. Der Gott, der Mensch wird, nimmt inkarnatorisch (im Fleisch!) nicht nur das animal rationale, sondern alle Dimensionen des Geschöpflichen in sich an. Die Versöhnungs- und Erlösungslehre handelt auch von der kreatürlichen Welt, die in Seufzen und Wehen nach ihrer Vollendung lebt (Röm 8,19–22). Wer die Tiere mit theologischen Augen sieht, wird etwas Neues sehen – zugleich aber werden auch die Tiere die Theologie durcheinanderbringen. Die Theologie wird aus diesem Prozess nicht unverändert hervorgehen können. Anliegen und Aufbau des Buches Wer sich aufmacht, eine solche Theologie der Tiere zu schreiben, bearbeitet einen weitgehend ungepflügten Acker. Was wir in diesem Buch vorlegen, kann deshalb keine Animalologie, keine vollständig ausgeführte Theologie der Tiere sein. Unsere Bausteine zu einer Theologie der Tiere entsprechen einer doppelten Perspektive: Von heutigen Fragen und Problemfeldern blicken wir thematisch auf die Tradition und die Quellen der Theologie; andererseits graben wir im Acker der Tradition nach vergessenen Schätzen und bringen sie mit den heutigen Anliegen einer Tiertheologie ins Gespräch. Beide Perspektiven ergänzen sich gegenseitig und zeigen den Überschuss an Fragen und Inspirationen an, den es noch zu bearbeiten gilt. Wir möchten zudem eine Tiertheologie entwerfen, die das Gott-Mensch-TierVerhältnis nicht vorschnell in fragwürdige Harmonien überführt, sondern es in seiner z. T. dramatischen Bedeutung würdigt und die Fremdheitserfahrungen in diesem Verhältnis ernstnimmt. Die Ergebnisse unseres tiertheologischen Projekts haben wir dabei den drei Großkapiteln Tierwissen, Tierethik und Tiereschatologie zugeordnet: Unter das Kapitel Tierwissen fallen jene Fragen und Themen, die mit Erkenntnis und Wahrnehmung zwischen Mensch und Tier zu tun haben. Was können wir von Tieren wissen, welcher Art ist das Wissen der Tiere? 15

Eine Theologie der Tiere?

Welche Art von Wissen wird den Mitgeschöpfen gerecht? Was sieht die vom Glauben erleuchtete Vernunft? Im Kapitel Tierethik geht es um ein ethisches Verständnis des GottMensch-Tier-Verhältnisses. Welche z. T. auch missverstandenen Ideale im Umgang mit Tieren gibt es in der christlichen Tradition? Wie können wir angemessen auf das Leid der Tiere reagieren? Und welche ethischen Auskünfte kann es in christlicher Sicht auf das Thema des Fleischkonsums geben? Schließlich geht es im Kapitel Tiereschatologie um die Frage, was aus der christlichen Hoffnung auf Vollendung für die Tiere folgt: Was dürfen wir für die Tiere hoffen? Wie sieht eine Welt aus, die nicht von der Furcht und dem Schmerz des Todes erfüllt ist? Wie steht es mit Gottes Vorhaben, dass die ganze Welt zum Paradies werden soll? Unsere Wege zur Theologie der Tiere Unsere Texte führen nicht nur diese drei Kapitelthemen zusammen, sondern auch drei sehr persönliche Wege hin zu einer theologischen Auseinandersetzung mit den Tieren. An der TU Dortmund haben wir uns seit einigen Jahren in einem gemeinsamen Projekt darüber austauschen und unsere Kompetenzen bündeln können. Dennoch spiegeln die Beiträge an vielen Stellen auch wider, dass unser Engagement und unser Interesse an den Tieren noch weiter zurückreicht. Simone Horstmann hat sich lange mit ethischen und daher auch tierethischen Fragen beschäftigt: Theoretisch ebenso wie in unterschiedlichen praktischen Kontexten ging es für sie immer wieder darum, ein gelingendes Miteinander von Menschen und Tieren zu durchdenken und zu erproben. Dieser Traum von einer friedlichen und freundschaftlichen Koexistenz begleitet sie dabei seit jeher. Deswegen war es allzu oft auch eine schmerzliche Erfahrung, wie leichtfertig viele zeitgenössische Ethiken sich an den Tieren abarbeiten, aber auch, wie hilflos sie letztlich angesichts der Tiere agieren: Gerade dieses Praxisdefizit vieler Ethiken, die zwar hohe Ideale verkünden, deren gute Gründe aber vielfach wirkungslos verhallen, macht es in ihren Augen nötig, das Anliegen einer Tierethik mit den theologischen Motiven für ein gelingendes Leben zu verbinden. 16

Tierliebe

Thomas Ruster liest es mit Schmerz, wenn sein Namenspatron erklärt, in einer idealen Welt seien die Tiere dem Menschen „naturhaft unterworfen/ naturaliter subjecta“, der Mensch sei der „natürliche Beherrscher der Tiere/ naturaliter homo dominatur animalibus“ (Thomas von Aquin, S.  Th. I,96,1). Und dies auch noch ganz untheologisch mit Aristoteles begründet, nach dem der Mensch bei der Jagd nur in Anspruch nehme, was natürlicherweise sein eigen sei. Der Weg zur Wiederentdeckung des lebendigen Gottes führt für den Dortmunder Dogmatiker über die Theologie der Tiere. Denn wer die Lebendigkeit, Spontaneität und auch Widersetzlichkeit der Tiere für eine Unvollkommenheit hält, was kann der über die Lebendigkeit Gottes sagen? Tatsächlich hat die klassische Theologie, an der Thomas einen entscheidenden Anteil hatte, Gott alle möglichen Vollkommenheiten zugesprochen  – seine Lebendigkeit aber ist dabei auf der Strecke geblieben (um es in der Jägersprache zu sagen). So übergroß der Namenspatron auch über seinem Namensträger steht, an diesem Punkt will er über ihn hinauskommen. Gregor Taxacher hat sich über viele Jahre mit der apokalyptischen Situation der Gegenwart befasst: Wie konnte es geschehen, dass die Menschheit sich in eine Situation manövrierte, in der sie nicht nur sich selbst auslöschen, sondern auch für das Leben auf der Erde insgesamt zum tödlichsten Faktor geworden ist? Offenbar existiert eine Gebrochenheit zwischen uns und der Natur, unserer eigenen und der um uns. Diese zu heilen, scheint von den Anfängen der Geschichte an ein Hauptthema der Religion zu sein. Ohne die Frage nach unserem Verhältnis zur Natur bleibt auch die christliche Erlösungslehre eine abgehobene Theorie. Nirgendwo begegnet uns die Natur, unsere eigene und die fremde, anschaulicher und direkter als in den Tieren. Eine Theologie der Tiere ist deshalb eine zentrale Aufgabe für das christliche Denken im Anthropozän, für eine ökologische Wende unseres Glaubens und unserer Praxis. Tierliebe Dieses Buch ist aus Liebe zu den Tieren entstanden und will die Liebe zu den Tieren wecken. Nicht nur zu den Schoßhündchen und den Bewohnern der Streichelzoos, sondern zu allen Tieren: Gottes geliebten Geschöpfen. Wie das geht, Liebe zu wecken, das haben wir nach der Art der 17

Eine Theologie der Tiere?

Begegnung des Kleinen Prinzen mit dem Fuchs gelernt. Es ist ein Vertrautmachen. „Vertraut machen?“ „Natürlich“, sagte der Fuchs. „Du bist für mich nur ein kleiner Junge, ein kleiner Junge wie hunderttausend andere auch. Ich brauche dich nicht. Und du brauchst mich auch nicht. Ich bin für dich ein Fuchs unter Hundertausenden von Füchsen. Aber wenn du mich zähmst, dann werden wir einander brauchen. Du wirst für mich einzigartig sein. Und ich werde für dich einzigartig sein in der ganzen Welt …“ „Ich verstehe allmählich“, sagte der kleine Prinz. „Da gibt es eine Blume … ich glaube, sie hat mich gezähmt …“

Es ist der Fuchs, der gezähmt werden will, und es ist der kleine Prinz, der gezähmt worden ist. Als ein wechselseitiges Zähmen beschreibt Antoine de St. Exupéry die Liebe. Ach wenn doch die Menschen von ihrer Wildheit, Grausamkeit und Herzlosigkeit den Tieren gegenüber gezähmt werden könnten! Die biblische und christliche Geschichte ist voll von Geschichten über die wechselseitige Zähmung: Die Tiere zeigten sich Adam im Garten Eden und er gab ihnen ihre Namen, die Eselin Bileams zähmte ihren starrsinnigen Besitzer, für Jesus wurden die wilden Tiere in der Wüste zahm, und tausendfach haben es ihm die Einsiedler und Heiligen nachgetan, die mit den Tieren lebten. Die Weisheit des Fuchses im Kleinen Prinzen weiß darum, dass das Zähmen und Vertrautwerden Zeit braucht: „Die Zeit, die du für deine Rose gegeben hast, sie macht deine Rose so wichtig.“

Die Bausteine für eine theologische Animalologie, die wir hier vorlegen, sind aus einem Prozess des Vertrautwerdens hervorgegangen. Dafür haben wir viel Zeit gegeben, und wir laden die Leserinnen und Leser ein, sich ebenfalls Zeit zu nehmen um vertraut zu werden mit den Tieren. Daraus erwächst dann vielleicht ein Beitrag zur Tierethik, der tiefer geht als die Diskussion um die Fähigkeiten und die Rechte und die Würde der Tiere, der vielleicht mehr erbringt als eine abstrakte ökologische Verantwortung. Paulus erklärt: „Wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte; wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts“ (1 Kor 13,2). Die Liebe zu den Tieren wollen wir also erwecken. 18

I. TIERWISSEN

Im Hochsommer des Jahres 1922 schreibt Franz Kafka die kurze, erst posthum veröffentlichte Erzählung Forschungen eines Hundes. Obgleich man kein ausgemachter Kafka-Kenner sein muss, um dessen Vorliebe für denkende, dem Leben nachsinnende Tierfiguren wiederzuerkennen, fällt hier gleichwohl auf, dass der knappe Text im Möglichkeitsraum der Literatur etwas zusammenbringt, was nach alltäglichen Maßstäben doch streng zu trennen sein dürfte. Da ist einerseits die Forschung genannt, also der wissenschaftlich angeleitete Fortschritt in Erkenntnis und Wissen, und auf der anderen Seite, im nachfolgenden Genitivus subjectivus, eben jenes Subjekt dieser Forschungen – ein Hund. Die Narration erlaubt sich diesen ungewohnten Perspektivwechsel, dadurch wirkt er für die Lesenden unmittelbar plausibel. Er erschüttert aber zugleich unsere Gewohnheiten, über Tiere nachzudenken. Ein forschender Hund  – unsere Ausgangsfrage muss ein solches literarisches Bild unweigerlich angehen: Was wissen wir als Theologen und Theologinnen über Tiere? Und wie können wir so über Tiere und ihre Gottesbeziehung sprechen, dass sie in diesem Wissen zugleich als eigenständige Akteure, mit ihrer eigenen Agency vorkommen? Gestärkt von einer jahrtausendealten Tradition von Wissenschaftlichkeit sind wir es gewohnt, die Möglichkeit des Wissenkönnens aus der Sicht derjenigen monopolisiert zu haben, die Wissen finden, sammeln, ordnen, verwalten und womöglich zur Anwendung bringen – in der Regel also der Menschen. Die Frage nach unserem Tierwissen, wie möglich oder unmöglich dies auch immer ausfallen mag, mit Kafka zu stellen, bedeutet nun aber, bereits zu Beginn eine erste Verunsicherung im eigenen Erkennt19

I. Tierwissen

nisstreben wahrzunehmen – für die Theologie ist dies insbesondere auch eine schmerzliche Einsicht. Zwar dürfte es nur schwer möglich sein, Wissen über unsere Mitgeschöpfe gänzlich anders denn aus der uns immer schon eigenen, menschlichen Sicht gewinnen zu wollen – es wäre aber sehr wohl gründlich zu bedenken, was mit dieser unserer Sicht und Frageperspektive passiert, sobald wir auch nur die bloße Möglichkeit einräumen, das Privileg der Forschenden für eine Weile abzugeben und selbst zu Beobachteten, zu Befragten zu werden. In den Forschungen eines Hundes begegnen wir einem Hund, der dem Ursprung und der Beschaffenheit der Hundenahrung auf den Grund gehen will: „Ich begann damals meine Untersuchungen mit den einfachsten Dingen, an Material fehlte es nicht, leider, der Überfluss ist es, der mich in dunklen Stunden verzweifeln lässt. Ich begann zu untersuchen, wovon sich die Hundeschaft nährt. Das ist nun, wenn man will, natürlich keine einfache Frage, sie beschäftigt uns seit Urzeiten, sie ist der Hauptgegenstand unseres Nachdenkens, zahllos sind die Beobachtungen und Versuche und Ansichten auf diesem Gebiet, es ist eine Wissenschaft geworden, die in ihren ungeheuren Ausmaßen nicht nur über die Fassungskraft des einzelnen, sondern über jene aller Gelehrten insgesamt geht […].“1 Indem sich der Hund also auf die Suche nach jenem geheimnisvollen Ursprung der Hundenahrung begibt, wird diese zugleich immer deutlicher als Suche nach dem Grund der hündischen Existenz schlechthin erkennbar. Für den Hund bedeutet dies in der Konsequenz, dass er als forschender Beobachter und im Bewusstsein der Tragweite seiner Suche Distanz zu seinem Objekt gewinnen und diese beständig einhalten muss: Er verordnet sich daher selbst eine strenge Futter-Abstinenz und deutet seinen wachsenden Hunger als „das letzte und stärkste Mittel [s]einer Forschung“.2 Die Suche nach der Wahrheit des Hundefutters, mithin der Wahrheit seines eigenen Lebens, führt den Hund – eine durchaus häufige Pointe bei Kafka – geradewegs aus dem Leben heraus. Die Wahrheit des Erkennens kann also nur eine Wahrheit vom Standpunkt eines Außerhalb sein. Forschendes, auf Wissenserwerb zielendes Erkennen scheint unter diesen Bedingungen nur um den Preis zu haben zu sein, dass das Objekt der Beobachtung fortlaufend in seinem Objekt-Status bestätigt wird. Der Hund als Subjekt darf das Futter keinesfalls fressen – um des Wissens und der in Aussicht gestellten Wahrheit willen darf es kein Teil von ihm werden. Beachtet man schließlich auch den bescheidenen Erfolg dieser Wahrheitssuche, wie ihn die Erzählung vom forschenden Hund schildert, muss der Preis jenes Verzichts doppelt hoch erscheinen. Der Hund selbst bemerkt – halb resignativ, halb 20

Wissenschaftliche Objektivität?

triumphierend –, dass sich bei seinem Versuch „zwar nicht die Wahrheit“ gezeigt hätte  – immerhin aber „doch etwas von der tiefen Verwirrung der Lüge“3. Von außerhalb der Erzählung können wir als Lesende erschließen, was dies bedeutet: Der Hund hat seine Wahrheit nicht gefunden. Wissenschaftliche Objektivität? Aber auch wir können dieses harte Urteil nur fällen, indem wir uns entgegen der ambivalenten Einschätzung des Hundes von ihm selbst entfernen, seine noch im Lesen für einen kurzen Moment selbst eingenommene Perspektive verlassen und statt mit ihm nun einzig über ihn sprechen – überzeugt davon, damit den gegenüber der Hunde-Wahrheit privilegierten Standpunkt des Wissens eingenommen zu haben. In diesem Band wollen wir so von den Konturen einer Theologie der Tiere berichten, dass diese beständig zwischen ihren Doppelrollen als Subjekte und Objekte der Theologie changieren. Wenn von einer Theologie der Tiere die Rede ist, sind beide Verstehensweisen schließlich in ihr angelegt: Die Tiere können als Genitivus objectivus zum Gegenstand der Theologie werden – und zweifellos hat die Geschichte der Theologie diese Sichtweise einseitig hervorgehoben und in immer neuen Anläufen durchexerziert. Auch wir können und wollen ihr nicht ganz entgehen. Der Hinweis auf Kafka hat bereits darauf aufmerksam gemacht, dass wissenschaftliches Beobachten um einen Standpunkt des Außerhalb nicht umhin kommt. Wir wollen aber auch die andere implizite Lesart der Tiere als eines Genitivus subjectivus nicht untergehen lassen und danach fragen, welche Rolle Tiere als ‚theologische Agenten‘ haben können, die nicht notwendig nur Getriebene der Theologie sein müssen, sondern womöglich selbst zu theologisch fragenden, Theologie treibenden Subjekten werden. Die Versuchung, lediglich der ersten Perspektive zu folgen, ist dennoch überwältigend groß. Für dieses Kapitel soll mich daher eine Gedächtnisstütze begleiten und mich fortwährend daran erinnern, ihr nicht zu erliegen: Neben mir sitzt mein Hund Hermes. Dieses Kapitel über das Erkennen des Tieres, über das Wissen um das Tier schreiben wir nicht nur, um dieses Wissen zu referieren und kritisch zu beleuchten. Wir schreiben es mindestens gleichermaßen auch, weil wir neues Wissen gewinnen möchten. Zumindest möchten wir wissen: Wie können wir Wahres über die Beziehung von Menschen und Tieren mit Gott aussagen, wenn wir doch selbst auf einer dieser beiden 21

I. Tierwissen

Seiten stehen? Hermes und mich verbindet dabei zunächst ein ganz profanes Dokument: Sein spanischer Hundeausweis, der mich als ‚Proprietaria‘, als ‚Besitzerin‘ nennt und die wenigen bekannten ausweisrelevanten Merkmale des Hundes aufführt. Sein Ausweis trägt den Titel Pasaporte para animales de compañía  – die englische Übersetzung formuliert knapper: Pet passport. Der Ausweis wird seiner Funktion gerecht, indem er selbige für Hermes benennt. Das ‚ergon‘, die spezifische Funktion eines Wesens, war schon für die aristotelische Philosophie dessen entscheidendes Merkmal, und auch hier findet sich dieser Gedanke wieder. Die animales para compañía tragen diese Funktion offenbar bereits im Namen: Sie sollen Begleittiere sein, den Menschen Gesellschaft leisten. Der Blick, den das AusweisDokument auf meinen Hund erlaubt, ist zweifellos im Sinne der objektivierenden Erkenntnisform strukturiert und doch so beschaffen, dass er dabei vornehmlich Menschliches an die Oberfläche befördert. Er unterstellt, nicht zu Unrecht, dass auch wir Menschen der Tiere bedürfen. Ohne dies zu beabsichtigen, zeichnet der Ausweis meines Hundes das Bild eines Menschen, der Geselligkeit schätzt, diese pflegt und sich darin bewährt. Er zeichnet ein Bild, das uns gefällt. Voraussetzungen eines theologischen Tierwissens Führt der Weg der objektivierenden Erkenntnis also notwendig nur zum erkennenden Subjekt zurück? Um dies zu prüfen, werden wir im Folgenden genauer zu klären haben, wie und auf welchem Weg Tierwissen in der Traditionsgeschichte der Theologie zur Sprache kommt und kommen soll. Kafkas forschender, auf sein Futter verzichtender Hund begleitet uns dabei mit der mahnenden Erinnerung daran, dass wissenschaftliches Erkennen mit jenem Paradox umzugehen und womöglich unüberwindbar auszukommen hat, demzufolge Erkenntnis von einem Standpunkt des Außerhalb formuliert wird, der die Erkennenden zugleich vom Erkannten wegführt. Wir werden sehen, wie und ob sich dieses Dilemma auch in der Theologie niederschlägt. Zugleich dürfen wir uns begleitet wissen von einer anderen Wahrheit: dem wirklichen, neben mir sitzenden Hermes. Der melancholischen, einem nie überwundenen Trennungsschmerz entstammenden Einsicht des kafkaschen Hundes hält er die Hoffnung entgegen, dass es eine Form des Tierwissens geben kann, die den animales para compañía entspricht, ohne dass dafür eine grundsätzliche und unüberwind22

Voraussetzungen eines theologischen Tierwissens

bare Trennung von Subjekt und Objekt in Kauf zu nehmen wäre: als aufeinander verwiesene Form des Erkennens, die den anderen zuerst als Companion (von lat. cum panis: das Brot teilen!) betrachtet. Getragen vom vorgängigen Wissen um das geteilte Leben und das geteilte Brot, das nicht in Distanz gehalten werden muss, sondern Gemeinschaft stiftet. Der Beitrag Alles nur Natur? nähert sich eben dieser Frage: Ist die Anthropozentrik notwendige Voraussetzung, um eine Theologie der Tiere zu entwerfen? Der Beitrag verweist dazu auf die pneumatologische Wirklichkeit des Heiligen Geistes und lotet die Bedeutungen eines christlichen Animismus, aber auch eines perspektivischen Anthropozentrismus aus. Eine verschwommene Idee einer Gemeinschaft von Mensch und Tier mag auch Iwan Pawlow beschlichen haben, als er im Zuge seiner eigenen Experimente im frühen zwanzigsten Jahrhundert die folgenden Zeilen notiert: „Mit Bitterkeit muss man zugeben, dass das beste Haustier des Menschen, der Hund, gerade Dank seiner hohen intellektuellen und moralischen Entwicklung am häufigsten ein Opfer des biologischen Experiments wird. Nur im Notfall macht man Versuche an Katzen, ungeduldigen, schreisüchtigen und böswilligen Tieren. Für chronische Versuche, denen das operierte Tier, nachdem es sich von der Operation erholt hat, zu langdauernden Beobachtungen dient, ist der Hund unersetzlich, ja mehr noch – im höchsten Grad rührend. Es hat den Anschein, als sei er ein Teilhaber des Versuchs, der an ihm durchgeführt wird, da er durch seine Verständigkeit und Bereitwilligkeit das Gelingen der Untersuchung außerordentlich fördert.“4 Pawlow hatte in seinen eigenen Tierexperimenten vornehmlich mit Hunden gearbeitet. Er wollte nachweisen, dass durch gezieltes Lernen eine angeborene, unbedingte Reaktion um eine neue, bedingte und in diesem Sinne fremdgesteuerte Reaktion erweitert werden konnte. Der sprichwörtlich gewordene „Pawlow’sche Hund“ hat dieser Erkenntnis das Gesicht einer jener Kreaturen verliehen, die von Pawlow aufgrund ihrer vermeintlichen Aufopferungsbereitschaft so hoch geschätzt wurden. Im nach Pawlow benannten Museum in Ryazad (Russland) sind noch heute die konservierten Überreste einiger von ihnen zu finden, unschwer erkennbar an den ihnen implantierten und mit Schläuchen versehenen Speichelauffangbehältern. Nun lässt sich spekulieren, ob Pawlows Stilisierung der Hunde zu ‚Teilhabern‘ der Versuche der eigenen Gewissensberuhigung dienen sollte; deutlicher tritt 23

I. Tierwissen

der grundsätzliche Versuch vor Augen, die Versuchshunde über ihre (verhaltens-)biologischen Eigenschaften hinaus mit Merkmalen zu belegen, die in ihrer Tragweite über diese ersten Eigenschaften hinausgehen. Mit dem Reflex, der bedingten Konditionierung, auch dem von Pawlow erstmals nachgewiesene Placebo-Effekt, sind Kategorien benannt, die die Grenze zwischen Biologie und Erkenntnistheorie verwischen. Fast könnte man meinen, dass wir als Lernende längst schon selbst darauf konditioniert sind, jene Kategorien als in die Tiere selbst eingeschrieben wahrzunehmen. Die Bedeutung der Pawlow’schen Forschungen geht aber noch darüber hinaus. Benjamin Bühler und Stefan Rieger bemerken, dass der Pawlow’sche Hund mithin zum Symbol einer ganzen Forschungs- und Denkrichtung werden konnte: „Der Hund ist zum Inbegriff der Reflexmaschine geworden. […] Mit der Methode der Erzeugung bedingter Reflexe setzt eine umfangreiche experimentelle Tätigkeit ein, von nun an konnte die Psyche des Menschen in den Termini der Verhaltenspsychologie gefasst werden. Am Hund wurde auch der Mensch als Reflexwesen erzeugt.“5 Paradiesisches Erkennen Was ist nun das theologische Pendant zum Pawlow’schen Hund? Eine Theologie der Tiere muss, wenn sie über die Möglichkeiten ihres Erkennens und Verstehens Auskunft geben soll, ihre eigene Tierhistorie aufarbeiten. Unsere Beiträge tun dies, ohne dabei eine geschlossene und vollständige Darstellung dieser Geschichte sein zu wollen. Sie verweisen dennoch punktuell auf die zentralen Eckpunkte einer biblischen und traditionsgeschichtlichen Verortung der Tiere. Jenem Pawlow’schen Hund der Theologie, an dem der Mensch zugleich etwas über sich selbst erfährt, spürt der Beitrag Paradiesische Wissenschaft nach. Er deutet die Begegnung von Mensch und Tier im Paradies und bietet eine theologische Perspektive auf die Benennung der Tiere durch den Menschen an, die weit über eine bloße Herrschaftsgeste hinausgeht: Den Tieren im Paradies kommen, ganz anders als den namenlosen Pawlow’schen Hunden, Namen zu, die der Mensch ihnen in ihrem Angesicht gibt – keine Zahlen und Nummern, sondern RufNamen, deren responsive Bedeutung sich aus einer ebenfalls diskutierten Theologie der Schöpfung erschließt. 24

Paradiesisches Erkennen

Wenn eine Theologie der Tiere bei der Beziehung von Mensch und Tieren im Paradies ansetzt, dann erscheint der Kontrast zur alltagsweltlichen Realität dieser Beziehung umso schroffer. Während schon Pawlows Hunde von einem oszillierenden Wechselverhältnis zeugen, das Tierwissen und Anthropologie als ineinander verflochten beschreibt, ragen in ihrem historischen Schatten bereits jene Folgeexperimente auf, denen auch der Topos der Unsagbarkeit jenes zahllosen Tierleids nur unzureichend gerecht wird. Von diesen Tierexperimenten konnte der französische Tierexperimentator Jean Pecquet noch im 17. Jahrhundert voller Stolz berichten „Die Tiere, welche vom Schöpfer zum Gebrauch der Menschen geschaffen wurden, habe ich nicht im geringsten geschont.“6 Während wir diesen auf den Menschen erweiterten Bereich, auf den Pawlow bei der Herleitung der Konditionierungsmethoden gestoßen war, noch weitestgehend als ‚Zufallsfund‘ einstufen können, lässt sich für die Folgezeit und wohl ausnahmslos für heutige Tierexperimente feststellen, dass die Anwendbarkeit auf den Menschen zum nahezu alleinigen Kriterium geworden sein dürfte. Die paradiesische Beziehung ist dem reinen Kosten-Nutzen-Kalkül gewichen. Erschreckend anschaulich belegen diese Entwicklung auch die zwischen 1930 und 1950 durchgeführten Hundeexperimente des russischen Chirurgen Wladimir P. Demichow. In der Frühphase der Organtransplantationen entwickelte Demichow verschiedenste Operationstechniken für Herz- und Lungenverpflanzungen. Christiaan Barnard, dem 1967 die erste menschliche Herztransplantation mit einer 18-tägigen Überlebenszeit des Empfängers gelang, betrachtete Demichow als seinen Lehrer. Beiden war die Problematik der physiologischen Immunabstoßungsreaktionen noch unbekannt, so dass sie Misserfolge bei den Transplantationen fälschlicherweise auf unzureichende Operationstechniken zurückführten. Demichow experimentierte in der Folge mit Hunderten Versuchshunden. Die einer durchaus interessierten Weltöffentlichkeit präsentierten Ergebnisse sind wohl in das kollektive Gedächtnis eingegangen. Sie zeigen postoperative Tiere, denen jeweils Kopf und Vorderbeine eines weiteren Tieres auf den vorderen Rückenbereich transplantiert wurden. Akribisch hat Demichow die Überlebenszeiten dieser entstandenen Doppel-Kreaturen festgehalten. Sie alle starben nach einer Leidenszeit von mehreren Tagen. Ein Hybrid erreichte eine postoperative Lebensdauer von 32 Tagen. Für Demichow allerdings stand damit eines zumindest fest: Die Austauschbarkeit von Leben, von Organen und Körperteilen war in greifbare Nähe gerückt. Das Hamburger Abendblatt berichtete noch unter dem Eindruck der Tierbilder von 1959, Demichow 25

I. Tierwissen

hätte bereits Überlegungen dazu angestellt, wo beim Menschen ein zweites Herz angebracht werden müsste. „In die Brust kann man es wegen des geringen Raumes unter den Rippenbögen nicht einbauen“, so zitiert ihn die Zeitung. „Deshalb muß man es außen vor die Brust setzen und durch eine harte „Verpackung“ schützen.“7 Ähnlich abgeschirmt hat auch das theologische Herz für Tiere lange Zeit funktioniert und insbesondere die akademische Tradition bestimmt. Fast untergegangen sind dagegen jene Traditionsbestände, die eine andere theologische Sicht auf das Verhältnis von Tier und Mensch werfen: Der Beitrag Den Drachen töten und die Spatzen füttern widmet sich daher der Beziehung der Heiligen zu den Tieren. Die Hagiographie wird hier als wichtige Quelle für eine theologische Wahrnehmung der Beziehung von Tieren, Gott und Menschen erschlossen, die jenseits aller Kosten-Nutzen-Kalküle anzusiedeln ist. Von der Gemeinschaft der Heiligen mit den Tieren her fällt neues Licht auf die moderne Konvention, dass alles Wissen der Natur abgerungen werden müsse: Als Pionier eines modernen Wissenschaftsverständnisses hat Francis Bacon das Bild der auf die Folterbank gezerrten Natur zum Ideal erhoben. Auch unsere Erkenntnis vom Tier wird heutzutage nahezu ausschließlich contra naturam gewonnen. Hört man der letzten Bemerkung Demichows noch einmal genau nach, liegt der Verdacht nahe, dass dieses Vorgehen letztlich auch die menschliche Natur einschließt, die das Herz ihrer zweiten Natur ebenfalls mit einer ‚harten Verpackung‘ versehen muss, um diesem Ideal von Wissenschaftlichkeit folgen zu können. Der Philosoph Andreas Weber sieht in diesem Paradigma gleichwohl etwas anderes: „Die Idee, von den anderen getrennt zu sein wie der Forscher in seinem Labor von den Objekten, die er untersucht, ist vielleicht der fundamentale Irrtum unserer Zivilisation, und der allein ist es, der unsere sagenhafte Gleichgültigkeit gegenüber dem massenhaften Tod der Natur erst möglich macht.“8 So erscheint es fast folgerichtig, dass die moderne Tierwissen-Produktionsmaschinerie nicht ohne massive Widersinnigkeiten auskommt: Der Natur wird nachgespürt, indem Artefakte wie die Onko-Maus erzeugt werden; dem Geheimnis des Menschenseins bzw. eines menschlichen Alleinstellungsmerkmals kommt der Forschende nur auf die Schliche, indem er sich selbst von den Tieren ausnimmt und damit methodisch das voraussetzt, was er zu bestätigen sucht. 26

Säkulare und theologische Wissensordnungen

Die Theologie sollte daher von anderen Wahrnehmungskonventionen lernen und sich nicht scheuen, auch ungewohnte Perspektiven einzuüben. Der Beitrag Das Ich im Anderen diskutiert eine solche Perspektive, indem er das Verhältnis von Kindern zu Tieren beleuchtet. Die besondere Bedeutung, die Tiere für Kinder haben können, eröffnet eine ungewohnte Wahrnehmung: An Tieren lernen Kinder nicht zuletzt jene Eigenschaften kennen, die die Theologie zumeist für Gott „reserviert“ hat: unverdiente Liebe, gnadenhafte Zuwendung, aber auch unschuldiges und schrecklichstes Leid, bisweilen auch völlige Ignoranz. Kinder lernen dabei nicht nur „an“ Tieren, sondern – in der kindlichen Wahrnehmung einer noch durchlässigen Subjekt-Objekt-Trennung – häufig sogar, etwa spielerisch, „als“ Tier: Zu einer solchen Verbundenheit muss sich auch die Theologie verhalten. Wie sehr die theologische Deutung der Tiere immer auch mit dem eigenen Gottesverständnis verknüpft ist, zeigt der Beitrag Wer täuscht hier wen? anhand der Kommunikation zwischen Gott, Tier und Mensch. Er plädiert für einen weiten Begriff von Kommunikation, der sich analog zu einer Theologie der Offenbarung entfalten lässt: So wird deutlich, dass die Kommunikation zwischen Tier, Gott und Mensch stets auch Selbstmitteilung bedeutet, nie nur reine, abstrakte Informationsmitteilung. Ein systematischer Blick gilt schließlich der Diskussion theologischer Ordnungen, Kategosierungen und Klassifikationen von Tieren. Sie bilden einen beständigen Hintergrund aller Debatten um das Verhältnis von Mensch und Tier. Erschwert werden sie dadurch, dass diese Ordnungsstrukturen meist unausgesprochen bleiben oder einfach vorausgesetzt werden. Dies gilt in der Theologie ebenso wie in den anderen Disziplinen. Säkulare und theologische Wissensordnungen Wie schwierig sich die dafür nötige Distanznahme zu den eigenen, womöglich unhinterfragten Denkgewohnheiten gestaltet, zeigt auch der Kommentar des britischen Philosophen Bertrand Russell zu zwei verhaltensbiologischen Tierversuchen, die etwa zeitgleich an verschiedenen 27

I. Tierwissen

Tierarten durchgeführt wurden. Die erste Versuchsanordnung des USamerikanischen Behavioristen Edward L. Thorndike stellt eine sog. PuzzleBox, einen mit mechanischen Öffnungsmechanismen versehenen Käfig dar, in den eine Katze gesetzt wurde. Die Katze fand in der Regel durch meist sehr wildes, ungestümes und mit zunehmender Aggression und Angst verbundenes Verhalten den Öffnungsmechanismus. Im zweiten Versuch waren statt der Katzen Schimpansen als Protagonisten vorgesehen. Diese befanden sich in einem Raum, an dessen Decke einige Bananen in einer für die Schimpansen nicht zu erreichenden Höhe befestigt waren, ebenso wurden einige Bambusrohre im Raum verteilt. Der deutsche Verhaltensbiologe Wolfgang Köhler beschrieb, wie einer der Schimpansen die Bambusstäbe zunächst lange und bedächtig beobachtete, dann zaghaft zusammenstecke und mit den kombinierten Stäben schließlich die ersehnten Bananen erreichen konnte. Auf die Voraussetzungen dieses scheinbar objektiv gewonnenen Wissens über die Handlungsformen der verschiedenen Tierarten macht Russells Kommentar aufmerksam, er notiert dazu: „Alle Tiere, die […] beobachtet worden sind, […] zeigen sämtlich die nationalen Eigenschaften des Beobachters. Tiere, die von Amerikanern untersucht wurden, stürmen wie wahnsinnig heran, mit einem unglaublichen Schwung und mit Lebhaftigkeit, und erreichen dabei durch Zufall das gewünschte Resultat. Tiere, die von Deutschen beobachtet wurden, sitzen dagegen ruhig, denken nach und entwickeln letztlich die Lösung des Problems aus ihrem inneren Bewusstsein heraus.“9 Das, was wir beobachten, ist offenbar alles andere als neutral, sondern maßgeblich von unseren Erwartungen, kulturellen Kontexten und Wissenschaftsparadigmen geprägt. Ein solcher Zusammenhang zwischen theoretischen Wissensbeständen und kulturellen Prägungen allein muss noch kein Defizit darstellen, er kann aber problematische Folgen zeitigen, wenn die historische und kulturelle Relativität, die das jeweilige Wissen bedingt und beeinflusst, nicht mehr als solche reflektiert wird und Wissensmodelle stattdessen mit dem Nimbus überzeitlicher und absoluter Kontinuität und Unantastbarkeit versehen werden.10 Immer bleibt zu fragen, welche Ordnungsformen und Kategorisierungsgewohnheiten insbesondere gegenüber unseren Mitgeschöpfen zu unauffälligen Konventionen geronnen sind, und welche Grenzen des ordnenden Denkens andererseits so fremd wirken, dass ihre Annahme kaum konsensfähig erscheint. Der französische Philosoph Michel Foucault zitiert in seinem Werk Die Ord28

Säkulare und theologische Wissensordnungen

nung der Dinge eine von Jorge Luis Borges übernommene alte chinesische Enzyklopädie, die den Anspruch erhebt, alle bekannten Tiere in ein Ordnungsschema zu bringen: „a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f ) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörende, i) die sich wie Tolle gebärden, j) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, k) und so weiter, l) die den Wasserkrug zerbrochen haben, m) die von Weitem wie Fliegen aussehen.“11

Was uns an dieser ironischen Aufzählung stutzen lässt, ist eben jene literarische Bewegung der bereits von unseren Kafka-Überlegungen her vertrauten Kombination von Dingen, die nur im Rahmen des literarischen Kunstraumes zueinander finden können. Eine solche, für moderne Ohren willkürlich erscheinende Typisierung bringt gleichwohl die Frage nach den Grenzen unseres Denkens und den latenten Ordnungsformen und Kategorisierungsgewohnheiten unserer Welt ins Spiel, indem sie diese durch die Form der Ironie radikal kontingent setzt. Foucault fragt daran anschließend: „Was ist […] für uns unmöglich zu denken? […] Nicht die Fabeltiere sind unmöglich – sie werden als solche bezeichnet –, sondern der geringe Abstand in dem sie neben den Hunden, die herrenlos sind, oder den Tieren, die von weitem wie Fliegen aussehen, angeordnet sind. […] Was unmöglich ist, […] ist der Platz selbst, an dem sie nebeneinander treten könnten.“12

Mit Foucault lässt sich sagen: Selbst empirisches, vermeintlich objektives Wissen – auch das Wissen über die Tiere – unterliegt den Gesetzen eines ‚Wissenscodes‘13. Auch die Theologie kann in der Frage der Tiere nicht von einem vermeintlich klaren Apriori-Wissen ausgehen, sondern muss methodische Untersuchungsfragen im Blick haben: Von wo aus, d. h. von welchen Vorannahmen her, sind Erkenntnisse über Tiere möglich gewesen? Nach welchem Ordnungsraum hat sich das Wissen konstituiert? Auf welchem historischen Apriori haben Ideen erscheinen können?

29

I. Tierwissen

Der Beitrag Tiere – Sakramente der Transzendenz blickt daher auf die Entstehungsbedingungen unseres Tierwissens und fragt, warum die Tradition sich so lange so schwer getan hat mit den Tieren, wo doch die Gottesbilder anderer Religionen im jüdisch-christlichen Umfeld auf vielfältigste Weise mit Tieren assoziierbar sind. Die Enttierlichung des Jahwe-Glaubens gegenüber den umgebenden Naturreligionen versteht der Beitrag auch als eine Verlustgeschichte und begibt sich von Neuem auf die Suche nach der Verbindung zwischen dem lebendigen Gott und den Tieren als Zeichen einer lebendigen Transzendenz. Selbstverständlich stellen diese sechs Beiträge kein vollständiges Kompendium des theologischen Tierwissens dar. Sie bieten aber ein vielfältiges Panorama an theologischen Ressourcen an, um dem eigentlichen theologischen Erkenntnisziel näherzukommen: den Tieren gerecht zu werden. Simone Horstmann

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7

8

Kafka, Forschungen eines Hundes, 330. Ebd., 348. Ebd., 337. Pawlow, Art. Vivisektion, 14. Bühler/Rieger, Vom Übertier, 127; 130. Zitiert nach: Hoerster, Haben Tiere eine Würde?, 15. Schrader, Auch Herzen kann man verpflanzen.

9 10 11 12 13

30

Weber, Der Seele tausend Masken, 87. Russell, An Outline of Philosophy, 23. (eigene Übersetzung) Horstmann, Die Tiervergessenheit der Theologischen Ethik. Foucault, Ordnung der Dinge, 17. Ebd., 18 f. Vgl. Foucault, Ordnung des Diskurses.

Alles nur Natur? Zum Problem der Anthropozentrik

„ER aber bestimmte einen großen Fisch, Jona zu verschlingen. Jona war im Leib des Fisches, drei Tage und drei Nächte.“ (Jona 2,1)

Ein Prophet, der vor Gott und seinem Ruf geflohen ist, landet schließlich im Meer. Er hat sich verrannt, nun wird er verschluckt. Das Bild des Mannes, der im Bauch eines Fisches steht – und dort sogar noch zu Gott betet –, ist mir aus Kindergottesdiensten eindrücklich geblieben. Dort ist Jona ja der beliebteste Prophet, und dort heißt der Fisch stets „Walfisch“. Das ist zwar sowohl biblisch (da ist kein Wal) als auch zoologisch (da ist der Wal kein Fisch) falsch. Aber der Walfisch ist damit aus meinen Kindertagen ein ähnliches mythisches Ungeheuer geblieben wie in biblischen Zeiten der Leviathan, das Chaosungeheuer des Meeres, an das vielleicht auch im Jonabuch gedacht ist. Zwei schreckliche Walfische Der mythische Walfisch, von dem man verschluckt wird, wenn man sich allzu sehr verrennt, ist mir viel später zu einem Bild für die westliche, die abendländische philosophische Tradition geworden. Deren Gefahr des Verrennens lässt sich nämlich im Bild von gleich zwei Walfischen beschreiben, die sich gegenseitig zu verschlucken suchen: Der eine Walfisch steht für das Ich, das Subjekt, den Geist. Eine Grundrichtung abendländischen, zugespitzt dann neuzeitlichen Denkens lässt alles hier beginnen, bei der Erkenntnis, welche alles zum Objekt macht. „Nach diesem Paradigma tritt eine Auffassung des Subjeks hervor, das im 31

I. Tierwissen

Verlauf des logisch-rationalen Prozesses das außen liegende Objekt allmählich umfasst und es so besitzt.“1 Alles, was der Fall ist, alles was vorkommt, kommt einem Ich vor. Nichts ist sicherer als dass ich denke (Descartes), jenseits dessen weiß ich nichts von den Dingen an sich (Kant); die Welt ist Wille und Vorstellung (Schopenhauer). Alles ist Perspektive, ist Konstruktion. Im Anfang war das Ich – jenes, das Charles Taylor in seiner Analyse des neuzeitlichen Denkens das „punktförmige Subjekt“ nennt, hat es doch keine Wirklichkeit, auch in sich selbst, außer seiner Subjektivität selbst. Sie objektiviert selbst das Gegenständliche an sich selbst; der Walfisch Ich verschluckt selbst sich selbst. Aber dies ist schon der Umschlagpunkt, an dem der zweite Walfisch ihn zu schlucken versucht. Dies ist der Walfisch des Seins. Hier wird die GrundPlausibilität umgekehrt: Die Wirklichkeit ist ein Kontinuum, Ich ist nur ein Moment in ihm. Im Anfang war das Sein. Wirklich ist nicht das Erkennen, sondern nur das Erkannte, das Objektive. Aus diesem Primat der Ontologie, später des Realismus, des Empirismus oder Materialismus ist heute der gängige Naturalismus entstanden, für den alles Physik und Chemie ist. Wie dieser Walfisch auch den Walfisch des Ichs zu verschlucken sucht, kann man an manchen Interpretationen der Hirnforschung ablesen: Das Subjekt, in dessen Perspektive Objekte als Objekte überhaupt nur erscheinen können, wird selbst als Effekt eines materiellen Organs erklärt. Welcher Walfisch steckt nun im Bauch des anderen? Diese sicher grobe Karikatur abendländischen Denkens wurde aus der Perspektive Emmanuel Lévinas’ formuliert. Den Walfisch des Seins nennt er den „ontologischen Imperialismus“ der Philosophie2, angesichts des Walfisches des Ichs spricht er von „transzendentalem Imperialismus“3. Das Opfer dieser Imperialismen sind nicht der jeweils andere Imperialismus – die beiden Walfische sind inkompatibel, sie können sich nicht gegenseitig verschlucken. Das Opfer ist jeweils der konkrete Andere, der Nächste, das Individuum. Es steckt in jedem Fall im Bauch des Walfisches wie Jona. Es ist entweder nur wirklich in der auf es zugreifenden Perspektive des Ich, es wird Objekt – oder es ist ein Moment in der Kontinuität des Seins, es wird Exemplar. Beide Walfische sind totalitär, bei beiden wird der konkrete, inkommensurable Andere als solcher nicht wahrgenommen, wird deshalb entgegen Kants ethischer Grundregel jederzeit 32

Alles nur Natur?

auch als Mittel berechenbar  – als „Humanressource“, „Humankapital“ oder gar „Menschenmaterial“. Über Lévinas hinaus können wir im Zusammenhang dieses Buches feststellen: Bei beiden Walfischen sind auch die Tiere unter den Opfern. Tiere sind das konkret andere des Menschen, das nächste Individuelle jenseits seiner Selbstdefinition. In der Philosophie des Ich sind sie keine Subjekte und gehören deshalb auf die Seite der Dinge – res extensa gegenüber der res cogitans des Ich bei Descartes, und deshalb für diesen Philosophen gleich selbstbewegten Maschinen. In der Philosophie des Seins nehmen sie zunächst eine Stufe unter dem Menschen in der Kontinuität des Wirklichen ein, doch im Naturalismus verwischen diese Stufen, die Kontinuität siegt. Nun mag es sein, dass auch die Hirnwesen Menschen zusammen mit den Tieren auf der Maschinen-Stufe landen. Sie können dann gemeinsam hoffen, dass die Maschinen künstlicher Intelligenz – der jüngste Traum dieses Walfisches – gnädiger mit ihnen umgehen als sie bislang miteinander. Im Blick auf die Programmierer dürfte diese Hoffnung jedoch trügen. Zurück zu Jona: Nach drei Tagen und drei Nächten befielt Gott dem Fisch, Jona lebend ans Land zu speien. Er wird damit zum Vorbild Jesu, den Gott am dritten Tage aus dem Reich des Todes holte (Mt 12,40). Der Fisch ist also ein willfähriges Geschöpf in Gottes Hand, er ist ein Seeungeheuer jener Art, von dem es im Psalm heißt, Gott habe es gebildet, um mit ihm zu spielen (Ps 104, 26). Könnte dies darauf hindeuten, dass eine theologische Perspektive auf die Wirklichkeit uns auch aus den Bäuchen der ontologischen und transzendentalen Walfische zu retten vermöchte? Gaia bleibt stumm. Für eine perspektivische Anthropozentrik Um dieser Hoffnung näher zu kommen, müssen wir zunächst unsere Situation im Bauch der Walfische noch näher in den Blick nehmen. Die praktischen Konsequenzen des doppelten abendländischen Totalitarismus haben uns global in eine Situation geführt, welche mittlerweile schon die Geologen unter dem Titel Anthropozän diskutieren: ein Zeitalter, in dem der Mensch seinen Planeten in einer sich bis in Atmosphäre und Erdkruste einzeichnenden Weise prägt. Zu diesem Anthropozän gehört ein Artensterben, das vielleicht die letzte große evolutionäre Krise der Kreidezeit – mit dem berühmten Ende der Dinosaurier  – überbietet, und bei dem noch 33

I. Tierwissen

nicht ausgemacht ist, ob am Ende auch die Spezies Mensch ihm selbst durch die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen zum Opfer fällt. Damit ist die Lage des Lebens auf der Welt faktisch anthropozentrisch geworden: Der Mensch muss zwangsläufig, auf Gedeih und Verderb die Herrschaftsrolle einer „Krone der Schöpfung“ ausüben, weil er sich die Macht über den Zustand des globalen Ökosystems angeeignet hat. Die Reflexion dieser bedrohlichen Situation und ihrer Ursachen legt für manche ein grundlegendes Umdenken nahe, eine Abkehr von jedweder Anthropozentrik. „Kosmozentrismus, nicht Anthropozentrismus sollte unser Motto sein.“4 Das würde ein Ende des Walfischs Ich bedeuten: Das Maß aller Dinge sei dann nicht mehr das Subjekt, nicht mehr der Mensch. „Das Maß aller Dinge liegt eher in der großen kosmischen Natur.“5 Doch was bedeutet diese Umorientierung theoretisch wie praktisch? Hat dann unter dem Titel Kosmos nicht der ebenso totalitäre Walfisch des Seins gesiegt? Manche Anti-Anthropozentriker mögen dies offensiv begrüßen. Dieser Walfisch würde dann auch unsere Situation auf seine Weise lösen: „Nein, unser Planet wird nicht sterben“, tröstet Kenneth J. Hsu: „Gaia wird dafür sorgen, dass unsere Spezies, der Zerstörer, zerstört wird, bevor die Erde selbst unbewohnbar wird.“6 Der Kosmos oder Gaia, die Erde, werden hier gleichsam personifiziert – aber damit auch wieder totalisiert und sei es auf Kosten des in seine eigene Selbstvernichtung einwilligenden Menschen. Man mag diese New-Age-Philosophien in der Tradition eines Pantheismus oder auch nur als metaphysische oder religiöse Aufladung des Naturalismus sehen  – praktisch bieten sie keinen Anhaltspunkt für eine Umorientierung des Menschen im Umgang mit seiner Umwelt, so ökologisch-spirituell sie sich auch geben mögen. Denn Gaia schweigt: Identifiziert mit dem faktischen evolutiven Geschehen bietet sie keine Maßstäbe für unsere Orientierung.7 „Die Natur“ sagt uns von sich aus nicht, was gut und böse ist im Umgang mit ihr. Es sind unsere Perspektiven auf sie, die sie uns als großes Fressen und Gefressenwerden, als darwinistische Kampfbahn oder als ökologische Idylle von Kooperation und Gleichgewicht sehen lassen. „Eine Rückkehr zur Natur darf nicht auf Kosten der Freiheit und der Verantwortung des Menschen geschehen, der ein Teil der Welt ist mit der Pflicht, seine eigenen Fähigkeiten auszubauen, um die Welt zu schützen und ihre Potenzialitäten zu entfalten.“8 Man kann sich dies konkret an der gegenwärtigen Debatte um Tierrechte klar machen: Diese Rechte können nur formuliert werden durch 34

Alles nur Natur?

eine möglichst angemessene Einschätzung der Bedürfnisse von Tieren durch Menschen. Nur Menschen können diese Rechte zusprechen und im Zweifelsfall abwägen  – was keineswegs heißt, dass dies nicht wirklich Rechte der Tiere sind, d. h ihr ethischer An-Spruch an uns. Eine ökologische Ethik in notwendiger Weise anthropozentrischer Perspektive bedeutet auch keineswegs, dass die ökologischen Auswirkungen menschlichen Handelns allein auf ihre Folgen für den Menschen hin zu reflektieren sind. Auch ethisch dürfen also Perspektivität und das in ihr Erscheinende nicht verwechselt und gleichgesetzt werden. Konkret „genügt es nicht, an die verschiedenen Arten nur als eventuelle ‚Ressourcen‘ zu denken und zu vergessen, dass sie einen Eigenwert besitzen“, der theologisch letztlich darin besteht, dass sie „mit ihrer Existenz Gott verherrlichen“9. Nur ist dies eben eine mit objektivem, auf die Schöpfung selbst gerichtetem Anspruch ausgesprochene menschliche Glaubensperspektive. Diese Komplexität gilt für die menschliche ökologische Praxis insgesamt: Eine Regression in einen Zustand kosmischer Einbettung – falls es diesen je gegeben haben sollte  – ist dem Menschen des Anthropozän nicht möglich. „Es gibt keine Ökologie ohne eine angemessene Anthropologie“; deshalb darf ein „fehlgeleiteter Anthropozentrismus“ nicht in einen „Biozentrismus“ umschlagen. Denn: „Man kann vom Menschen nicht einen respektvollen Einsatz gegenüber der Welt verlangen, wenn man nicht zugleich seine besonderen Fähigkeiten der Erkenntnis, des Willens, der Freiheit und der Verantwortlichkeit anerkennt und zur Geltung bringt.“10 Dies ist inzwischen keine sich selbstgewiss am Humanum berauschende Erkenntnis mehr, sondern eher die eines ungemütlichen Humanismus: Wir können, nun da unsere Herrschaft uns selbst bedrohlich geworden ist, nicht die Verantwortung abtreten an die Selbststeuerung des Kosmos. Wir können unser Bewusstsein nicht bedauernd wieder an der Pforte der Natur ablegen, um paradiesische Unschuld zu spielen. In diesem Sinn bleibt Anthropozentrik unhintergehbar, nun im Sinne einer „kritischen Anthropozentrik“11: nicht als Anspruch, nicht als ein metaphysisches Konzept, sondern als unsere faktische Perspektivität. Jede ökologische Ethik und Spiritualität, die wir hoffentlich ausbilden werden, bleibt in diesem Sinne eine anthropozentrische Ethik und Spiritualität – nicht weil sie den Menschen rigoros in den Mittelpunkt aller Ansprüche stellen würde, sondern weil sie Ethik und Spiritualität von uns Menschen ist.12 35

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Gegen die theologische Anthropozentrik als Weltanschauung Dieses Plädoyer für eine perspektivische Anthropozentrik darf jedoch keineswegs mit jener metaphysischen und auch theologischen Anthropozentrik als Weltbild oder Weltanschauung verwechselt werden, welche die abendländische Geistesgeschichte geprägt hat. Dieser moderne Anthropozentrismus steckt in der Krise13, und dazu beigetragen hat auch eine „unangemessene Darstellung der christlichen Anthropologie“, eine theologische „falsche Auffassung der Beziehung des Menschen zur Welt“14. Die Schöpfungs- und auch die Heilsgeschichte des jüdisch-christlichen Glaubens setzt keineswegs eine Pyramide des Seins mit dem Menschen an der Spitze voraus – sei sie statisch ontologisch oder teleologisch als gerichtete Evolution gemeint. Der Protest gegen eine solche Gleichsetzung ist insbesondere deshalb wichtig, weil in ihr der unheimliche Grund dafür gesucht werden darf, dass der menschliche Umgang mit seiner Umwelt, insbesondere mit den Tieren „in der christlichen Ära schlimmer als in der Antike geworden ist“, dass auch in dieser Hinsicht ausgerechnet innerhalb des Glaubens an die Inkarnation Gottes zwischen Mensch und Mitwelt „alle Abgründe noch tiefer und schauriger geworden sind.“15 Nur eine einseitige Bibellektüre legt diese Verwechslung nahe, die allerdings in der christlichen Theologie, verschärft noch in der Neuzeit, stilprägend wurde. Der Mensch gilt als einziges eigentliches Schöpfungsziel Gottes, alles andere – gerade auch die Tiere – ist um ihn herum gruppiert und für ihn geschaffen. Die Schöpfung ist dann insgesamt Mittel, nur der Mensch ist Zweck. Dagegen „müssen wir heute mit Nachdruck zurückweisen, dass aus der Tatsache, als Abbild Gottes erschaffen zu sein, und dem Auftrag, die Erde zu beherrschen, eine absolute Herrschaft über die anderen Geschöpfe gefolgert wird.“16 Es sind nicht die Schöpfungstexte der Genesis und es ist nicht die Menschwerdung des Sohnes im Neuen Testament, sondern es ist erst eine bestimmte dogmatische Systematik, von welcher eine gerade Linie zur modernen Mentalität und Praxis führt, in welcher die Schöpfung zum Supermarkt einer Wachstumsökonomie geworden ist. Ihren vielleicht beredtsten Ausdruck hat diese christlich-westliche Weltanschauung in der Lehre von der Annihilatio mundi in der protestantischen Orthodoxie der frühen Neuzeit gefunden: In dieser – seinerzeit keineswegs unumstrittenen – Eschatologie vertrat man die Ansicht, nach dem jüngsten Gericht, nach der Rettung aller erwählten Menschen, werde die übrige 36

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Schöpfung von Gott vernichtet. Die Heilsgeschichte ist dann ein Drama zwischen Gott und den Menschen. „Die Welt wird zur bloßen Bühne, die am Ende ihren Sinn erfüllt hat.“17 Was ist auf dem Weg von den biblischen Texten bis zu dieser Systematisierung geschehen? Aus einem perspektivischen Anthropozentrismus, der seinen Blick als einen menschlichen natürlich auf die Situation der Menschen im Angesicht Gottes richtet, ist ein Weltbild geworden, das diese Perspektive mit der Gottes selbst identifiziert. Die biblische Perspektive ist dies nicht. Insbesondere in den Psalmen und den Weisheitsschriften zeigt sich eine „Spiritualität, in der es neben Gott und den Menschen noch Raum für eine eigenständige Natur und ihre Repräsentanten, die Tiere, gibt.“18 Hier gibt es eine Pluralität von Lebensweisen und Lebensräumen, die nicht alle nur um des Menschen willen da sind, und die deshalb auch ihr eigenes Gottesverhältnis haben (selbst wenn dies nicht im Mittelpunkt des biblischen Interesses steht). „Jedes Geschöpf ist also Gegenstand der Zärtlichkeit des Vaters, der ihm einen Platz in der Welt zuweist. Sogar das vergängliche Leben des unbedeutendsten Wesens ist Objekt seiner Liebe, und in diesen wenigen Sekunden seiner Existenz umgibt er es mit seinem Wohlwollen.“19 Gott liebt seine Schöpfung, auch am Menschen vorbei.20 Auf dem Weg zu einer tier-reichen Dogmatik Für die spät-neuzeitliche Theologie wäre schon einiges gewonnen, wenn sie sich wenigstens die Perspektivität theologischer Anthropozentrik klar machen würde. Eine Stichprobe in den Schöpfungstraktaten neuerer Dogmatiken (von Wolfhart Pannenberg bis zu Otto Hermann Pesch) zeigt jedoch, dass hier die Tiere nicht einmal als Stichwort auftauchen. Schöpfungslehre und Anthropologie sind weitgehend deckungsgleich. Fündiger wurde ich theologie-geschichtlich zurückblätternd in der Kirchlichen Dogmatik Karl Barths. Nun ist auch Barth via Christozentrik ein moderner Anthropozentriker: Von der Urgnadenwahl Gottes, seiner trinitarischen Selbstbestimmung zur Menschwerdung an geht es um das Verhältnis von Gott und Mensch. Aber Barth ist sich der perspektivischen Relativität dieser Theologie sehr bewusst. Schon in der Gotteslehre spricht er von der Kreatur als dem Spiegel göttlicher Herrlichkeit: Dieses Spiegeln ist der Existenzsinn aller Geschöpfe: „auch die geringste Kreatur tut dasselbe. Sie tut es mit uns und ohne uns. Sie tut es auch gegen uns, zu unserer Beschämung“.21 Barth 37

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reflektiert hier den Menschen als im Unterschied zu allen übrigen Geschöpfen gebrochene Kreatur, die ihren eigenen Existenzsinn zu verfehlen droht. Die gesamte heilsgeschichtliche Dramatik, die den Menschen so sehr in den Mittelpunkt stellt, gilt also gewissermaßen der Behebung dieses Schadens. Der Mensch ist in dieser theozentrischen Perspektive „wie ein beschämter Spätling“, der erst auf weiten Umwegen wieder eintritt „in den Chor der himmlischen und irdischen Schöpfung, dessen Jubel nie unterbrochen war“.22 In der Schöpfungslehre denkt Barth dann bescheidener, eben perspektivisch, eher „von unten“. Dazu gehört auch Barths auffällige – aber bisher kaum aufgefallene  – positive Zurückhaltung im theologischen Sprechen über die Tiere. Er geht von der biblischen Gemeinsamkeit aus, nach der Menschen und Tiere durch den Geist Gottes belebte, d. h. beseelte Wesen sind, so dass „auch vom Sein der Tiere zu sagen ist: Durch den Geist Gottes des Schöpfers … sind auch sie Seele ihres Leibes“23. Barth zieht daraus eine gegenüber der üblichen philosophisch-theologischen Tradition erstaunliche Konsequenz: „In der Beziehung Geist-Leben und also Geist-Seele-Leib als solcher besteht zwischen dem Menschen und dem Tier kein Unterschied.“24 Hier ist also anvisiert, was in einer weniger vom traditionellen ontologischen Sprachgebrauch geprägten Sprache heißen mag, „dass wir Tiere schlicht und einfach als Subjekte ihres Lebens behandeln“25. Weil er in die biblisch orientierte Theologie nicht schon a priori einen Aristotelismus oder eine neuzeitliche Geist-Natur-Theorie einliest, fallen hier Spekulationen über gestufte, unterschiedliche Seelen oder über die Identifikation von Geist und Bewusstsein aus. Tiere haben in schöpfungstheologischer Perspektive Geist von Gott und deshalb Seele, individuelles Leben. Wenn wir nun als Menschen einen tiefen Unterschied zwischen uns und den Tieren erfahren, folgt daraus für Barth kein fest umrissenes Weltbild gestuften Seins, keine Definition der Mensch-Tier-Differenz, sondern eine Zurückhaltung im Urteil: Wie das Tier seine Geist-Begabung vollzieht, „kann ich nicht wissen, weil mir das Tier gerade davon nichts sagen kann.“ Das Tier ist Seele seines Leibes, aber „wir wissen nicht, was wir sagen, wenn wir dieser Vermutung Raum geben“26. Diese Zurückhaltung im Urteil mag einer heutigen Mensch-Tier-Philosophie, die sich an den neuesten Einsichten der Verhaltensforschung orientiert, recht dünn erscheinen. Dass sie aber schon Mitte des 20. Jahrhunderts, zu einer Zeit theologisch noch sehr ungebrochener Anthropozentrik, innerhalb einer streng offenbarungstheologisch orientierten Dog38

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matik erscheint, bedeutet jedoch viel: Es gibt schlicht keinen Anlass zu einer systematisch-theologischen Anthropozentrik, welche dem Verhältnis des Menschen zu Gott ein definiertes Alleinstellungsmerkmal zuweist. Denn wir können bezogen auf die Tiere eben nicht wissen, „ob und in welchem Sinne auch sie nicht nur von Gott her, sondern zu Gott hin sind“. In jedem Fall gibt es auch in der Gottesbeziehung „die Nachbarschaft zwischen Mensch und Tier“27. Die theologische Zurückhaltung Barths im Sprechen von den Tieren ist also in ihrem betont theologischen Charakter zu würdigen: Sie hält etwas theozentrisch offen, das unsere ontologisierenden Systematiken vorschnell zu verschließen geneigt sind. „Als Wissenschaft betrachtet die Theologie alle immanenten Gegebenheiten unter der Perspektive der Transzendenz, sie setzt mit andern Worten alle irdischen Gewissheiten einem radikalen Zweifel aus, so dass auch vermeintliche Gewissheiten über die Natur der Tiere, über ihren moralischen Status und ihre Differenz zum Menschen stets kritisierbar bleiben und keinesfalls im Status eindeutiger, konventionell-eingeschliffener Erkenntnisroutinen verbleiben dürfen.“28 In seiner Schöpfungsethik übersetzt Barth dies „in einen sorgfältigen, rücksichtsvollen, freundlichen und eben vor allem: verständnisvollen, seinen Bedürfnissen und den Grenzen seiner Möglichkeiten nachfühlenden und Rechnung tragenden Umgang“ mit den Tieren.29 Das Wort für Wort ernst genommen, hieße auch heute, den in unserer Gesellschaft üblichen Umgang mit Tieren von unseren Zoos und Zoohandlungen, den Bauernhöfen und Wäldern bis hin zu den Versuchslaboren und Schlachthöfen umstürzend auf den Prüfstand zu stellen. Der Tatsache, dass die biblische Schöpfungsgeschichte für den ursprünglichen Menschen nur vegetarische Kost vorsieht, widmet Barth in seiner Auslegung von Genesis 1 ganze sechs Seiten.30 Ethisch folgt für ihn daraus, dass „Tiertötung im Unterschied zu allem Ernten von Pflanzen und Früchten Vernichtung ist: … Beseitigung eines Einzelseins, eines Einmaligen, in einer uns nicht durchschaubaren, von uns aber auch nicht zu leugnenden Individualität existierenden Lebewesens“, und deshalb stets eine Bedrohung des Schöpfungsfriedens, „der Menschentötung mindestens sehr ähnlich.“31 Barth beachtet natürlich, dass auch die Bibel die Realität der Tierhaltung und des Fleischkonsums als Normalität akzeptiert – aber eben als Normalität einer schon gefallenen, gestörten, von Gewalt durchzogenen Schöpfung, als etwas, was ursprünglich nicht zum Schöpfungssinn und deshalb sicher auch nicht zu ihrer Vollendung gehören wird. Der Mensch dürfe die Tiertötung „niemals als eine 39

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natürliche behandeln“; sie sei alttestamentlich stets eine Art Opferung des Tieres an unserer Stelle, Leben für Leben: „Der Mensch muss gute Gründe haben, mit solchem Anspruch ernst zu machen.“32 Schöpfung als Gabe – das pneumatologische Band Der Exkurs in die Tier-Theologie Karl Barths macht wohl zweierlei deutlich: Negativ: Die Theologie der Tiere ist der Test- und Ernstfall für die Überprüfung einer falschen  – nämlich unbiblischen, aus weltanschaulichen und nicht genuin theologischen Motiven erdachten – Anthropozentrik. Positiv: Die Nähe von Mensch und Tier gehört auch in die Reflexion ihres Gottesverhältnisses hinein. Barth bleibt zwar sehr zurückhaltend, darüber auch außerhalb der Schöpfungstheologie, also bei den großen Themen von Heilsgeschichte, Gnade und Vollendung zu sprechen. Aber sein Beharren auf der gemeinsamen Geist-Begabung und unserem NichtWissen, was dies für die Tiere theo-logisch „von innen“ betrachtet bedeutet, sollte die Theologie davon abhalten, hier anthropozentrisch die Türe zuzuschlagen  – als sei durch die Rede von einem Gottesverhältnis der Tiere über das reine Schöpfungsverhältnis hinaus ein heiliger Gral des nur dem Menschen Reservierten angegriffen. Immerhin ist biblisch klar – und systematisch-theologisch kaum reflektiert – dass Gott den ersten universalen Bund nach der Sintflut, also nach dem Bruch ursprünglichen Schöpfungsfriedens, via Noah ausdrücklich mit Menschen und Tieren schließt (Gen 9,9 f.).33 Das Tier ist theologisch nicht nur „die beseelte Kreatur neben dem Menschen“34, es ist auch die in der gefallenen, zerrütteten Realität der Welt bewahrte, beschützte und die in die prophetischen Visionen von der Vollendung der Welt einbezogene Kreatur. Der theologische Ort, um dies zu reflektieren, scheint mir – in bisher dogmatisch weitgehend unbearbeiteter Weise – die Pneumatologie zu sein, also die Lehre vom Geist Gottes. Dieser Geist verbindet die Schöpfungstheologie, eine Theologie der Natur, mit der Theologie der Gnade: Gottes Geist brütet über der Urflut, über dem ursprünglichen Chaos von allem, was ist (Gen 1,2), und er weht durch die Geschichte in einer von keiner Kirche und keiner Theologie zu de-finierenden, zu begrenzenden Weise (Joh 3,8). Er erforscht die Tiefen Gottes (1 Kor 2,10), er bezeugt uns, dass wir Kinder Gottes sind, aber er seufzt auch in aller Schöpfung in der Hoffnung auf das Reich Gottes, das 40

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Offenbarwerden der Söhne Gottes (vgl. Röm 8,15 f und 19–21 als einen Zusammenhang!) Die anthropozentrische Tradition der christlichen Theologie, mindestens ihrer westlichen Ausrichtung, hat noch kaum bedenken lassen, was dieser pneumatologische Bogen von der Schöpfung über die Berufung bis zur Hoffnung auf Vollendung für die kreatürliche Nachbarschaft von Mensch und Tier, überhaupt für das Wohnen des Menschen in der Natur bedeutet. Heilige als Kundschafter einer erlösten Existenz haben es offenbar immer wieder geahnt.35 Der theologische Richtungssinn dieser Ahnung liegt m. E. in einer Art „christlichem Animismus“36: Die Anima, die gemeinsame Beseeltheit von Mensch und Tier mit der Ruach, dem Pneuma Gottes, bedeutet Präsenz, Immanenz Gottes durch seine Lebewesen in der Welt. Wir begegnen Gott, wo wir Seelisches berühren. Die beseelten Lebewesen sind damit in der Welt berufen, diese Immanenz Gottes in seiner Schöpfung zu repräsentieren, zu fühlen und fühlbar zu machen. Dabei geht diese Immanenz sogar über die Lebewesen hinaus: „Der Geist des Herrn erfüllt das All“, heißt es in einem Kirchenlied von Maria Luise Thurmair, das damit die Spiritualität der Psalmen mir ihrem universalen, von der ganzen Schöpfung dargebrachten Gotteslob aufgreift. Eine solche „ökologische Pneumatologie“ als systematische Durchbrechung theologischer Anthropozentrik ist dogmatisch noch nicht wirklich durchbuchstabiert. Ich kann hier nur einen Ansatz andeuten, der deutlich machen soll, dass hier wirklich im Kern theologischer Systematik zu arbeiten ist, und nicht nur in einer gedanklich weniger ernst genommenen, gern der Spiritualität und Frömmigkeit überlassenen „Umgebung“ der Theologie: Karl Rahner hat das seinerzeit ganz heiße Eisen des Verhältnisses von Natur und Gnade zu lösen versucht durch den Begriff des „übernatürlichen Existenzials“37. Der Grundgedanke dieses in sich verdeckt paradoxen Begriffs lag darin, im Innersten des Menschen, in seiner Natur (existenzial) ein Angerufensein von und zu Gott zu denken, das selbst nicht einfach Natur ist (übernatürlich). Dahinter stand das dogmatische Problem, Gnade als Geschenk, als „ungeschuldet“ zu denken, und dennoch nicht als eine Zugabe zur Schöpfung, eine Art zweites Stockwerk, ohne dass man auch ganz gut zurechtkommen könnte. Das Ergebnis: Der berufende und begnadende Gott ist dem Menschen stets in einer Weise innerlich, die ihn über seine reine Natur, sein rein kreatürliches Funktionieren, hinausruft. Was Rahner mit den Mitteln einer über sich selbst hinausgeführten neuscholastischen Dogmatik begrifflich zu fassen suchte, hat die biblische 41

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Theologie schon seit Längerem in der Verschränkung von Schöpfungsund Bundestheologie entdeckt: Die alttestamentliche Genesis ist von Anfang an Berufungstheologie. Das biblische Interesse an der Schöpfung gilt nicht der abstrakten Frage, warum überhaupt etwas ist und woher alles kommt. Vielmehr ist die Schöpfung die Voraus-Setzung Gottes dafür, mit der Kreatur in Kontakt zu treten, sie zur Gemeinschaft, zum Leben mit ihm zu rufen. Die Theologie von Heilsgeschichte und Versöhnung ist dann die dramatische Ausführung dieses Versuchs Gottes trotz der Verweigerung der Geschöpfe. So wie bei Rahner „Natur“ dogmatisch als ein allzu abstrakter Restbegriff entlarvt wird (als: Schöpfung minus Gnade), so zeigt die biblische Theologie, dass Schöpfungstheologie als ein erster Teil der Dogmatik, der zur Not auch ohne Versöhnungstheologie auskäme, ebenfalls eine unbiblische Abstraktion darstellt. Wenn man nun beides miteinander verbindet, ließe sich die bei Rahner gegebene anthropozentrische Engführung der Theologie überwinden und zugleich die ökologische Theologie dogmatisch schärfer fassen. Es müsste dann von einer Art „übernatürlichem Existenzial“ der Schöpfung insgesamt gesprochen werden. Dieses Existenzial wäre pneumatologisch zu fassen: Der Geist Gottes ist jene Immanenz Gottes, in der er all seiner Schöpfung innerlicher ist als sie sich selbst. Ein davon absehender Begriff von Natur ist theologisch als Abstraktion, als ein Restbegriff zu betrachten – so wie ihn der methodische Atheismus der Naturwissenschaften notwendigerweise benutzt. Die Grundgefahr neuzeitlicher Theologie besteht in dieser Perspektive darin, diesen abstrakten Restbegriff von Natur unwillkürlich selbst zu übernehmen und mit der wirklichen Natur zu verwechseln. Als theologischer Ausweg aus einer strukturell gott-losen Welt bleibt ihr dann nur die anthropologische Wende (Karl Rahner!) der Theologie. In ihr wird der Mensch in seiner Subjekterfahrung zum Nadelöhr eines Auswegs aus dieser in sich geschlossenen, gott-losen Natur. Das ist die moderne theologische Anthropozentrik, und hier müsste man mit Rahners gnadentheologischer Intuition gegen deren eigene anthropozentrische Engführung andenken. Den Testfall dieser Pneumatologie des übernatürlichen Existenzials der Schöpfung stellt die Theologie der Tiere dar. Überall, wo Anima begegnet, Beseeltheit, da ruft den Menschen die lebende Präsenz des Pneuma Gottes in der Schöpfung, ruft ihn an über sich hinaus, da kommuniziert das übernatürliche Existenzial der Schöpfung. Solche Kommunikation ist Geistesgegenwart, Erfahrungsort Gottes. 42

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Von dieser Pneumatologie her wird die erkenntnistheoretisch-perspektivische Anthropozentrik, von der weiter oben die Rede war, nicht aufgehoben: Wir erblicken die Geist-Gegenwart weiterhin in unserer Blickrichtung, sind auf den Erhellungswinkel menschlicher Wahrnehmung und Vernunft angewiesen und von ihm eingeschränkt. Biblisch wird dies in der Genesis darin reflektiert, dass der Mensch die Tiere benennen muss und darin nicht seinesgleichen findet (Gen 2,20) und darin, dass er die Hegeund Pflege-Verantwortung in der Schöpfung wahrzunehmen hat. In diesem Sinn besteht schon in der Schöpfungswirklichkeit die Verantwortung des Anthropozän, die der Mensch an niemand abtreten kann. Barths Zurückhaltung in der Theologie der Tiere erklärt sich von hier aus: Sie entspricht der Benennung von außen ohne Erschließung von innen. Ob man über sie konkret hinausgehen kann, muss eine vorsichtige Sondierung des Verhältnisses theologischer Einsichten mit Erkenntnissen der Lebens- und Erfahrungswissenschaften zeigen. Warum sollte so nicht eine Phänomenologie unseres Tier-Verhältnisses möglich sein, die über Abstraktionen und Banalitäten hinausgeht? Immerhin lassen Verhaltens- und Gehirnforschung im Verbund deutlich werden, dass mindestens Affen „über die Vergangenheit nachdenken“38, dass sie ihr eigenes Wissen und Nichtwissen abwägend beurteilen und damit „Merkmale eines bewussten und reflektierenden Geistes“ aufweisen.39 Nun sind nicht alle Tiere Primaten – und umgekehrt: nicht alle Beseeltheit ist Bewusstsein. Es sind wohl gerade die fremderen Weisen von Beseelung, welche uns geheimnisvoll anziehen, weil sie unsere anthropozentrische Perspektive auf die Wirklichkeit begrenzen: „Beim Tier […] ist es, als blicke aus ihm bei aller physischen Nähe eine sprachlose Ferne aus den Tiefen der Evolution, in die wir nicht hineinfinden. Das macht seine Fremdheit aus.“40 Das macht aber auch den Anreiz aus, diese Fremdheit zu überschreiten. Das Tier ist „jenes Sein, welches gerade durch seine Unerreichbarkeit unser Bestreben in Gang hält, Zugang zu ihm zu finden“41, weil es diesen Zugang irgendwie doch vor uns hinhält wie einen beschlagenen Spiegel (wie es etwa die Fremdheit von Mineralien nicht tut). Das Tier wirkt darin wie der verlorene Schlüssel zu einer natürlichen Wirklichkeit, von der wir ausgeschlossen sind. Diese Begrenzung überschreiten zu können, scheint eine tiefe Sehnsucht in allen empirischen Erforschungen des dem Menschen Fremden – im Tier ebenso wie im Menschen selbst! – zu sein. „Derjenige, der den Pavian versteht, würde mehr zur Metaphysik beitragen als Locke“, notierte Charles Darwin42; und Claude Levi-Strauss, der 43

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Begründer der strukturalistischen Sozialanthropologie, nannte im Alter seinen sehnlichsten Wunsch: „Ich hätte mich gern einmal richtig mit einem Tier verständigt.“ Mit einem Vogel sprechen zu können, sei für ihn der Schlüssel zum Verständnis dessen, „wie die Materie beschaffen ist oder die Struktur des Universums“ (also geradezu jenes Faust’schen „Was die Welt im Innersten zusammenhält“!). Und Lévi-Strauss weiß beides: „Da ist die Grenze, die nicht überschritten werden kann. Diese Grenze zu überschreiten, würde für mich das größte Glück bedeuten.“43 Theologische Pneumatologie ist kein Mittel, methodische Anthropozentrik einfach auszuhebeln. Das scheint mir wichtig, um eine Theologie der Tiere nicht in den Ruf esoterischer Beliebigkeit zu rücken. Dennoch stellt eine ökologische Pneumatologie unsere Perspektivität auf die Wirklichkeit in einen weiteren Zusammenhang. Sie macht eine systemische, ontologische Anthropozentrik unmöglich. Die Wirklichkeit universaler Geist-Gegenwart kann nicht reduziert werden auf die Totalitarismen des Seins und des Ichs. Das heißt auf die Theologie übertragen: Sie muss den Totalitarismus einer alles beherrschenden und verdrängenden Konstellation „Gott und das Ich“ aufgeben, welcher hintergründig die abendländische Theologie beherrscht hat. Wir sind nicht allein mit dem gnädigen Gott, und wir werden seiner Gnade auch nur begegnen, wenn wir sie in den Konkretionen eines „christlichen Animismus“, des Geistes in allem begegnenden Leben, wahrnehmen. Dann entsteigen wir wie Jona dem Walfisch und können den Ruf wieder hören, der uns gilt. Gregor Taxacher Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Papst Franziskus: Laudato si’, 106. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, 53. Lévinas, Jenseits des Seins, 358. Mall, Mensch und Geschichte, 90. Ebd. 17. Hsu, Die Sterblichkeit des Planeten, 414. Ausführlicher begründet in: Taxacher, Apokalypse ist jetzt, 110–117. Papst Franziskus, Laudato si’, 78. Ebd. 33. Ebd. 118.

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Kaeser, Artfremde Subjekte, 7. Vgl. auch ebd. 29 und 154. Einen Ansatz zu einer solchen Ethik und Spiritualität bietet etwa: Gonzalez, Ökologische Werke der Barmherzigkeit, 473–483. Vgl. die Überschrift des Dritten Kapitels, III. Teil von Papst Franziskus, Laudato si’: „Krise und Auswirkungen des modernen Anthropozentrismus“. Papst Franziskus, Laudato si’, 116. So Bernhart, Die unbeweinte Kreatur, 211.

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Papst Franziskus, Laudato si’, 67. Kunz, Protestantische Eschatologie, 64; zum Zusammenhang ebd. 62–64. Hagencord, „Doch frag nur die Tiere, sie lehren es dich …“, 23–32; ebd., 25 – mit besonderem Blick auf das Buch Ijob. Papst Franziskus, Laudato si’, 77. Vgl. in diesem Buch die Bemerkungen zur biblischen Weisheit im Kapitel über „Haustier und wildes Tier“ (S. 150 f.). Barth, KD II,1, 731. Ebd. Barth, KD III,2, 431. Ebd. 432. Kaeser, Artfremde Subjekte, 9. Barth, KD III,2, 449 und 473. Barth, KD III,4, 396. Horstmann, Die Tiervergessenheit in der theologischen Ethik, 94. Barth, KD III,4, 400. Barth, KD III,1, 234–239. Barth, KD III,4, 401. Ebd. 403.

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Das bedachte etwa zur selben Zeit wie Karl Barth der katholische Theologe Joseph Bernhart: Vgl. Bernhart, Die unbeweinte Kreatur, 202 f. Bernhart, Die unbeweinte Kreatur, 7. Dazu in diesem Buch die Kapitel über die Wüstenväter und über die Legenda Aurea (S. 168–183 und 63–78). Dazu mein Kapitel „Christlicher Animismus“ in diesem Buch (S. 292–306). Vgl. Rahner, Grundkurs des Glaubens, 132–139; zum ursprünglichen Problem und Entdeckungszusammenhang: Ders.: Über das Verhältnis von Natur und Gnade, 323–345. Dehaene, Denken, 351. Ebd. 358. Kaeser, Artfremde Subjekte, 29. Ebd. 59. Darwin, Notizheft M (1838), zitiert nach: Dehaene, Denken, 349. All dies zitiert nach: Loyer, Lévi-Strauss, 7.

Die paradiesische Wissenschaft Der Mensch ist nicht allein mit sich

Nach dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland wanderten Alice Herdan-Zuckmayer und ihr Mann Carl Zuckmayer nach Amerika aus. Im Staat Vermont bewirtschaftete das Paar mit seinen beiden Töchtern über die Kriegsjahre eine Farm, die ihre Versorgung sichern sollte. Viele Jahre hatten sie in ihrer Heimat in der Nähe von Bauernhöfen gelebt, aber die bäuerliche Arbeit selbst war ihnen doch nie vertraut geworden. So erklärt sich die Lebendigkeit und Anschaulichkeit, mit der Alice die Existenz auf der Farm und vor allem das Zusammenleben mit den am Ende 93 Tieren (Hühner, Enten, Gänse, Ziegen, Schweine, Hunde und Katzen) beschreibt: Sie führt die Leser in eine fremde Welt, die sie selbst zum ersten Mal erlebt.1 Ihre Schilderungen sind geeignet, alle sentimentalen Vorstellungen über das harmonische Zusammenleben von Mensch und Tier, die heute durch die Köpfe von städtischen Tierfreunden geistern, gründlich zu zerstören. Da waren zum Beispiel die jungen Hähne, die einander die Augen aushackten und sich bis aufs Blut bekämpften, um dem Sieger den Anspruch auf die Hennen zu sichern. Da waren die Ziegen, die bei dem ihnen zugedachten Futter so äußerst heikel waren und dabei doch eine unstillbare Lust nach „Rosen, Schuhen, grünen Äpfeln, Liegestühlen, Wäschestücken und Zigarettenstummeln“ hatten; sie versuchten nicht nur, in den Gemüse- und Blumengarten einzubrechen, sondern fraßen auch den Hühnern ihr Futter weg. Da war der Gänserich, von dem Alice sagt: „Er war groß, verschlagen, maßlos jähzornig und sah einen tückisch mit seinen hellblauen Augen an.“ Er war indessen dem Liebreiz einiger junger Enten völlig verfallen und ließ sich nicht von ihnen trennen. Von seinen lebensgefähr46

Die paradiesische Wissenschaft

lichen Kämpfen mit dem Enterich hallte der Hof wider, und wenn nicht die Farmleute mit dem Besen immer wieder dazwischen gegangen wären, hätte wohl einer von den beiden nicht überlebt. Da waren schließlich die Wanderratten, die die Farm überfielen und bei ihrem ersten „Blitzkrieg“ gleich 32 kleine Enten, acht Küken und drei neugeborene Gänse erbeuteten. Sie nagten sich gegen alle Abwehrmaßnahmen zum Tierfutter durch, sie stahlen die Eier, kurz, sie standen an, die Farm zu ruinieren. Ohne Rattengift ging es gegen sie nicht ab, und das Überleben der Farm war erst wieder gesichert, als sie eines schönen Tages von selbst verschwanden. Die Zuckmayers gaben den meisten Tieren Namen. Mit den Tieren, die einen Namen bekommen hatten, entwickelte sich ein besonderes gegenseitiges Vertrauensverhältnis, so dass es schon der Protest der Töchter unmöglich machte, sie zu verkaufen oder gar zu schlachten und zu verzehren. Tiere, die geschlachtet werden sollten, bekamen mit Bedacht keinen Namen. Darunter war eine Gans, die „groß, fett, dick und phlegmatisch“ war und nach Alices Ansicht die Bezeichnung „dumme Gans“ in besonderer Weise verdiente. Sie versprach einen fetten Braten. Als sie aber einmal kurz vor dem Schlachttermin im Teich der Farm vor sich hin schwamm, geschah es, dass ein Auto vorfuhr und just die Frau ausstieg, von der die Zuckmayers die Gans bekommen hatten. Sie trat an den Teich heran und rief „Ssus-hie, Ssuss-hie“, und tatsächlich, Susi schwamm heran und watschelte ihrer früheren Herrin quakend und schnatternd um die Füße. So kam es, dass sie dem Bräter entging und ihre Tage im Kreise ihrer Artgenossen bis zu ihrem natürlichen Tod verbrachte. Eine Geschichte, die davon erzählt, wie jemand darauf reagiert, wenn andere den Tieren Namen geben, steht auch in der Bibel. Sie findet sich in der zweiten Schöpfungserzählung im Buch Genesis. Da wird erzählt: Er, Gott, bildet den Menschen aus Erde und bläst ihm seinen Atem ein. Dann legt er einen Garten an und setzt den Menschen dort hinein, dass er ihn bearbeite und behüte (insoweit befand sich Adam in einer ähnlichen Lage wie die Zuckmayers. Auch er musste das Bearbeiten und Hüten noch lernen). Im Garten wachsen wunderschöne Bäume und wasserreiche Flüsse durchziehen ihn, aber Tiere gibt es noch nicht. Da erkennt Gott, dass es nicht gut sei, dass der Mensch allein ist, und beschließt, ihm eine Hilfe zu machen, gleichsam sein Gegenstück. „Da bildete ER, Gott, von der adama jegliches Tier des Feldes und jeden Vogel des Himmels und führte sie dem Menschen zu, um zu sehen, wie er es nennen werde, und wie alles der Mensch als lebendes Wesen nennen werde, das sei sein Name“ (Gen 2,19).2 47

I. Tierwissen

Die Ähnlichkeit mit den Zuckmayers reicht auch noch so weit, dass nur von den Tieren des Feldes und den Vögeln des Himmels gesprochen wird, also nur von Tieren, mit denen man es bei der Feldarbeit zu tun bekommt. Gott will wissen, wie der Mensch die Tiere, die ihm begegnen, nennen wird, oder, wie es der jüdische Ausleger Benno Jacob sehr nah am Urtext ausdrückt, „was er dazu sagen, was er bei ihrem Namen ausrufen werde“.3 Und Joseph Bernhart, ein theologischer Ausleger der Stelle, fügt hinzu: welche Ausrufe des „Entzückens oder Grauens“ der Mensch wohl bei der Begegnung mit den Tieren äußern werde.4 Entzücken und Grauen, beides kam Alice Zuckmayer häufig über die Zunge. Jedenfalls geht die Erzählung so aus, dass Gott einsieht, dass die Tiere nicht die dem Menschen entsprechende Hilfe sein können und er sich daraufhin entschließt, die Frau zu erschaffen – die Frau, die der Mensch dann mit einem freudigen Ausruf begrüßt und als seinesgleichen erkennt. Die christliche Auslegungstradition hat sich mit dieser Erzählung schwergetan. Sie schien ihr zu anthropomorph. Gott wird wie ein Mensch dargestellt. Augustinus (354–430) erklärte bereits, die Stelle, an der es heißt, dass Gott die Tiere zu dem Menschen führt, könne nicht wörtlich aufgefasst werden, als wenn Gott „wie Jäger oder Treiber alle möglichen Tiere umstellen und in die Falle treiben [würde], oder daß sich eine Befehlsstimme aus der Wolke mit Worten vernehmlich gemacht [hätte], denn wilde Tiere und Vögel sind so etwas zu erfassen nicht imstande“. Er nahm an, dass Gott die Tiere durch ihren Instinkt geleitet hat, und zwar mit Hilfe der Engel, die den göttlichen Willen in die Sprache der Natur übersetzen.5 Thomas von Aquin (1225–1274) greift diesen Gedanken 800 Jahre später wieder auf, fragt aber noch über Augustinus hinaus, wie es möglich gewesen sein soll, alle Tiere in einem Augenblick zusammenzuführen. Er weiß auch keine bessere Antwort als sein Vorgänger: durch die überlegene Macht der Engel soll das erreicht worden sein, denn sie vermögen, was alle menschliche Gewalt nicht zustande bringt.6 Also die Engel, aber immerhin nicht Gott! Man will sich Gott nicht wie einen Viehtreiber vorstellen. Allerdings ist die Sache mit dem Zusammentreiben der Tiere ja noch nicht die gravierendste anthropomorphe Entgleisung des Textes. Viel schwieriger ist die Frage zu beantworten, warum Gott daran interessiert war zu erfahren, wie der Mensch die Tiere nennen würde. Wusste er kraft seiner Allwissenheit die Namen der Tiere nicht selber? War es wirklich nötig, dass er erst den ganzen Vorgang der Benennung durch den Menschen abwartet, bevor ihm klar wird, dass die Tiere nicht die dem Menschen 48

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entsprechende Hilfe sind? Augustinus: „Sollte Gott etwa nicht gewusst haben, daß er unter den Lebewesen nichts geschaffen hatte, was dem Menschen eine entsprechende Hilfskraft abgeben konnte?“7 Warum hat er dem Menschen nicht gleich gesagt, dass nur die Frau ihm entspricht, so wie er ihm ja auch gesagt hat, von welchem Baum er nicht essen darf? Diese Fragen sind für die klassische Theologie unbeantwortbar. Ein neues Verständnis der Schöpfung An dieser Stelle tut sich ein Problem auf, dessen Tragweite für die Vorstellung, die Menschen von Gott haben, und für das Verständnis seiner Beziehungen zu den Geschöpfen kaum zu überschätzen ist: Das klassische Gottesbild – wie es sich etwa bei Augustinus und Thomas äußert – passt nicht zu den Schöpfungserzählungen der Bibel! Das klassische Gottesverständnis dachte in den Kategorien von Ursache und Wirkung. Alles in der Welt wurde daraufhin beobachtet, ob es eine Ursache ist oder eine Wirkung oder auch beides. Wenn man so denkt, kommt man zwangsläufig zu der Idee einer ersten Ursache, die alles andere bewirkt hat und selbst nicht verursacht ist – und das ist Gott. Gott ist die erste und höchste Ursache, nicht nur, weil er die Schöpfung in Gang gesetzt hat, sondern auch weil er die höchste Fülle des Seins ist und alles Geschaffene an seiner Seinsfülle teilhat. Gott ist, so sagte man, reine Wirklichkeit (actus purus), er hat alle Möglichkeiten bereits verwirklicht. Damit ist klar, dass Gott durch die Schöpfung nichts hinzugewinnen kann. Dem Unendlichen kann nichts hinzugefügt werden. Gott ist wie ein Lehrer, der sein Wissen an die Schüler weitergibt. Das Wissen des Lehrers wird dadurch nicht vermehrt. So wie es nach dieser Vorstellung nicht möglich ist, dass das Wissen des Lehrers durch die Schüler verändert wird, so ist es auch nicht möglich, dass Gott durch die Schöpfung in irgendeiner Weise beeinflusst wird. Ein solches Beeinflusstwerden würde ja voraussetzen, dass in Gott noch einige Möglichkeiten nicht aktualisiert sind; das ist aber angesichts seiner Vollkommenheit unmöglich. Gott schafft die Schöpfung aus dem Nichts, und durch die Schöpfung gibt es nicht mehr Sein (da ja die Fülle des Seins bereits in Gott gegeben ist), es gibt nur mehr Seiende.8 Im Rahmen dieses Modells ist es unmöglich sich vorzustellen, dass Gott etwas davon gehabt haben soll, dass er hörte, wie der Mensch die Tiere benennt. Was immer der Mensch sich für Namen ausdenken würde, Gott kannte sie bereits. 49

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Diese in der Vergangenheit vorherrschende Art, über Gott und die Schöpfung zu denken, ist sicherlich einer der Hauptgründe für die heutigen Glaubenszweifel bzw. einfach für den Unglauben. Schon Kinder in der Grundschule wissen: Die Welt ist aus dem Urknall entstanden und das Leben ist das Ergebnis der Evolution. Eine erste Ursache ist dabei unnötig, es sei denn, man reserviere Gott einen Platz in den Wissenslücken, die bei der Erklärung gewisser Prozesse noch bestehen; aber ein solcher Lückenbüßergott ist gewiss nicht der Gott des Glaubens. So ist schon von Kindesbeinen an die Evidenz, die früher der Gottesglaube aus der Annahme einer ersten Ursache der Welt bezog, dahin. Dazu kommt, dass das heutige Denken das Kausalitätsschema und die damit einhergehende Grundunterscheidung von Sein und Nichtsein als eine bestimmte Konstruktion von Wirklichkeit durchschaut. Man kann die Welt auch ganz anders beobachten. Wir haben uns daran gewöhnt, verschiedene Beschreibungen der Wirklichkeit zuzulassen, die jeweils vom Standpunkt des Beobachters abhängen.9 Und schließlich können wir mit einem Gottesbild, nach dem Gott keine wirkliche Beziehung zu seiner Schöpfung hat, er auf die Geschöpfe nicht reagieren und von ihnen nichts lernen kann, ein Gott also, dem Lernfähigkeit grundsätzlich abgesprochen wird, heute wenig anfangen. Demgegenüber ist es nun eine wirklich befreiende Erkenntnis, dass die biblischen Schöpfungserzählungen ganz anders von Gott reden. In diesen Erzählungen – das gilt sowohl für die erste Schöpfungserzählung in Gen 1,1–2,4a wie für die zweite in Gen 2,4b–25 – tritt ein Gott in Erscheinung, der mit den Dingen der Welt korrespondiert, der sie wahrnimmt und anspricht und auf sie reagiert.10 Es ist nicht so, dass Gott alles alleine macht. Wer hat zum Beispiel die Pflanzen gemacht? Es heißt, dass Gott zum Land sprach: „Das Land lasse junges Grün wachsen, alle Arten von Pflanzen …“, und dann geschieht auch das, wozu er das Land aufgefordert hat: „Das Land brachte junges Grün hervor, alle Arten von Pflanzen …“ Es ist also das Land, das die Pflanzen hervorgebracht hat (ob das mit der Evolutionstheorie zu vereinbaren ist, ist eine Frage, die sich für die biblischen Verfasser noch nicht gestellt hat, aber wir heute dürfen durchaus auch daran denken). Gott schaut sich dann an, was das Land hervorgebracht hat, und es gefällt ihm. „Er sah, dass es gut war.“ (Gen 1,11 f.). Diese sog. Gutheißungsformel ist kein Selbstlob, sondern Lob und Anerkennung dessen, was andere gemacht haben. Ebenso spricht er zum Wasser, dass es von lebendigen Wesen wimmeln soll und Vögel über das Himmelsgewölbe dahin fliegen sollen, und zum Land, dass es alle Arten von 50

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lebendigen Wesen hervorbringen soll. Auf Gottes Wort hin geschieht das, wozu er aufgefordert hat, und Gott besieht sich dann das Ergebnis und findet es gut. Sein eigener Beitrag zur Erschaffung der Wasser-, Himmelsund Landtiere wird dadurch gekennzeichnet, dass es heißt: „Gott schuf alle Arten von großen Seetieren und anderen Lebewesen, von denen das Wasser wimmelt, und alle Arten von gefiederten Vögeln“, „Gott machte alle Arten von Tieren des Feldes, alle Arten von Vieh und alle Arten von Kriechtieren auf dem Erdboden“ (Gen 1,21; 25). Die Betonung liegt hier auf dem mehrfach wiederholten Wort „Arten“. Gott ist an der Unterscheidbarkeit und an der Vielfalt der Arten interessiert. Er will nicht, dass dieses wimmelnde Leben sich in ein riesiges Durcheinander auflöst, er schätzt jede Art für sich. Später hören wir ja auch bei der Sintfluterzählung, dass er sehr genau darauf bedacht ist, dass alle Arten von Tieren auf der Arche unterkommen. Die heutige Biologie vermittelt einen Eindruck davon, wie unendlich reichhaltig das Gewimmel der Wesen im Wasser des Meeres ist. Jede Handvoll davon beherbergt eine unfassbare Anzahl filigraner Mikrolebewesen in einem unermesslichen Reichtum an Formen und Farben. Viele dieser Lebewesen lassen sich gar nicht eindeutig einer Art zuweisen. Nach der Theorie des britischen Morphologen Don I. Williamson sind viele von ihnen nicht eine Art, sondern zwei oder sogar mehrere. Chromosomen verschiedener Arten vermischen sich; gerade im Meer, so Williamson, „ist eine solche Begegnung kein seltener Zufall, sondern fast unvermeidlich. Im Frühjahr entleeren unzählige Wesen ihre Samendrüsen und Eierstöcke einfach ins Wasser, das so zu einer dicken Suppe von Keimzellen und bald darauf von Embryonen wird.“11 Die biblischen Schriftsteller scheinen etwas von diesem Gewimmel lebender Wesen im Wasser geahnt zu haben,12 aber sie bestehen darauf, dass für Gott jede Art, jede spezifische Gestalt und Form wichtig ist: Er hat sie alle geschaffen. Gott verhält sich dem Gewimmel des Lebens gegenüber so, wie er sich gegenüber dem Tohuwabohu, der Öde und Leere des Anfangs verhalten hatte: Er ordnet es, setzt auf Unterscheidungen, schafft einen Lebensraum, in dem unterschiedliche Lebewesen miteinander und füreinander da sein können. Gott wird also als jemand geschildert, der das, was bereits da ist, aufruft und beruft zur Mitwirkung am Werk der Schöpfung. Und der auf das, was dann entsteht, reagiert. Er heißt es gut und benennt es, wie es z. B. vom Licht und der Finsternis heißt: „Gott nannte das Licht Tag und die Finster51

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nis nannte er Nacht“ (Gen 1,5); statt Benennen ist vom hebräischen Text her eher das Wort rufen angebracht: Er rief das Licht Tag … Es geht um Verbundenheit und Zusammenwirken, nicht um Abhängigkeit und Hierarchisierung, wie sie durch das frühere Schöpfungsverständnis nahegelegt wurden. Eine äußerst spannende Frage ist übrigens in diesem Zusammenhang, an wen eigentlich Gottes Wort „Es werde Licht“ gerichtet war und wer darauf reagierte. War dies nicht ein Art Hilferuf, den Gott in der absoluten und lichtlosen Finsternis des Anfangs äußerte? Und wer konnte ihn hören? Der Geist, von dem es in geheimnisvoller Weise heißt, dass er über den Urfluten schwebte, oder gar das Tohuwabohu des Anfangs selber? Oder haben wir es hier schon gleich am Anfang der Bibel mit der Dreifaltigkeit tun? Gott  – das Wort, das er spricht  – der Geist, der über den Fluten schwebt: Wo diese drei zusammenkommen, da wird das Chaos gebändigt, da entsteht Leben. Viel später, bei der Kreuzigung Jesu, treten sie auseinander, und die Finsternis kehrt zurück (Mt 27,45). Die Botschaft von der Auferstehung aber besagt, dass die Schöpfung neu beginnt. Die Namensgebung: Herrschaft oder Vertrautheit? Wie reagiert Gott nun aber auf die Tiere? Wir haben bisher nur gehört: Er freut sich an ihrer Artenvielfalt und findet sie gut. Hinzuzufügen ist: Er gibt ihnen seinen Segen mit – so wird es ausdrücklich von den Tieren des Wassers und von den Vögeln gesagt (Gen 1,22) –, auf dass sie fruchtbar seien und sich zu Wasser und zu Lande vermehren. Aber dies ist noch ziemlich allgemein. Wie reagiert Gott auf die einzelnen Tierarten in ihrer Vielfalt? Die Antwort auf diese Frage ist in der Erzählung enthalten, von der wir ausgegangen sind. Gott reagiert nicht selbst auf die Tiere, er reagiert darauf, wie der Mensch auf die Tiere reagiert. Er reagiert darauf, was die Tiere dem Menschen sind oder sein können. So wie Alice Zuckmayer darauf reagiert hat, dass die frühere Besitzerin der Gans sie bei ihrem Namen rief. Und so, wie Alice die durch den Namen gestiftete Beziehung zu der Gans sich zu eigen machte (und sie vor der Bratröhre verschonte), so macht sich auch Gott die Beziehung des Menschen zu den Tieren zu eigen. Eltern kennen das übrigens. Kinder wählen irgendeines der vielen Stofftiere zu ihrem Lieblingsschmusetier aus, oder sogar manchmal nur ein Stück Stoff oder eine Windel, sie geben ihm einen Namen, und dann hat das, was die Kinder da erwählt haben, auch für die Eltern eine besondere 52

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Bedeutung. Undenkbar, diese Windel einfach wegzuschmeißen; viel wahrscheinlicher, dass man die Zeit vor dem Zu-Bett-Gehen der Kinder damit verbringt, das Schmusetier oder die Windel umständlich zu suchen. So hält es Gott auch mit der Tierbeziehung des Menschen. Er sieht die Tiere mit den Augen des Menschen. Ob das nach dem „Sündenfall“, also heute, auch noch so ist, ist die große Frage, die die Menschen, die an Gott glauben, bewegt. Kann sich Gott auch heute noch unseren Blick auf die Tiere zu eigen machen, so wie wir die Tiere behandeln? Was bedeutet nun die Benennung der Tiere für den Menschen und sein Verhältnis zu ihnen? Schaut man unter dieser Frage die älteren und neueren Kommentare zur Stelle durch, so zeigt sich, dass die meisten, vor allem die älteren, auf die Übertragung von Herrschaft abheben. „Gott führte Adam die Thiere zu, um ihm die zu seinem Dienste geordneten Geschöpfe zu zeigen … Adam soll die Geschöpfe kennen lernen, seiner Stellung zu ihnen sich bewußt werden und durch Benennung derselben sich als ihren Herrn betätigen“, so ein Kommentar von 1878.13 Mehrere Kommentare sehen eine Analogie zwischen der Namensgebung der Geschöpfe durch Gott in der ersten Schöpfungserzählung und der Namensgebung der Tiere durch den Menschen in der zweiten. „Gott übergibt dem Menschen etwas von seiner Herrschaftsmacht, wenn er den Herrschaftsakt der Namensgebung dem Menschen überlässt.“14 Es sei altorientalische Auffassung gewesen, dass, wer den Namen eines Wesens kenne, auch Macht über ihn habe.15 Betrachte ich diese Äußerungen im Licht der Erfahrungen von Alice Zuckmayer, so ist nicht zu leugnen, dass „Herrschaft“ durchaus etwas Wesentliches im Verhältnis zwischen den Menschen und den ihnen anvertrauten Tieren (und nur um diese geht es ja hier) trifft. Natürlich müssen die Ziegen angepflockt werden, damit sie nicht den Gemüsegarten verwüsten oder den Hühnern das Futter wegfressen, natürlich müssen die kämpfenden Ganter getrennt werden, damit sie nicht zu Schaden kommen. Aber Alices Erfahrungen lassen auch die Frage aufkommen, wer hier eigentlich wen beherrscht. Schließlich haben die Zuckmayers keine ruhige Minute mehr, seit die Tiere auf der Farm sind, sie sind ständig für sie unterwegs. Ist die hierarchische Ableitung, die die Kommentare vornehmen – der Mensch beherrscht die Tiere so, wie Gott die ganze Schöpfung beherrscht, er ist gleichsam der Stellvertreter Gottes gegenüber den anderen Geschöpfen – stimmig? Schlägt hier nicht die Metaphysik des höchsten Wesens durch, die die ältere Schöpfungstheologie beherrschte? Was jedenfalls die Namensgebung betrifft, so deutet Alices Bericht eher auf Vertrautheit als auf Herr53

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schaft. „Man konnte an ihnen [den Tieren, denen Namen gegeben worden waren] wachsendes Vertrauen beobachten, das einerseits zu einer ungewöhnlichen Zahmheit und Vertrautheit führen mochte, oder auch zu einem soliden, zutraulichen Haß … Die namenlosen Tiere hingegen gaben ihr fahriges, verängstigtes Benehmen niemals ganz auf.“16 Claus Westermanns Auslegung der Stelle scheint mir diesen Erfahrungen zu entsprechen. Er bestreitet, dass Namensgebung gleich Herrschaft ist: „Es ist hier nicht, wie es die meisten Ausleger darstellen, gemeint, daß der Mensch Macht über die Tiere erlangt, indem er sie benennt, … hier ist vielmehr gesagt, daß der Mensch den Tieren Namen gibt und sie in diesen Namen seiner Welt zuordnet. … In der Benennung entdeckt, bestimmt und ordnet der Mensch seine Welt; die Namen der Tiere gliedern diese seiner Welt ein.“17 Diese Auslegung überzeugt auch deshalb, weil sie im Einklang mit dem Gesamtcharakter der Schöpfungserzählung steht. Gott schafft nicht allein; die Welt, die er für das Zusammenleben der Geschöpfe bereiten will, er schafft zusammen mit ihnen, und so eben hier das Zusammenleben des Menschen mit den Tieren als ein Verhältnis der Vertrautheit. Die Namensgebung ist dabei der Akt, mit dem der Mensch seine Welt gestaltet und die Tiere in sie eingliedert. Welche Namen wird der Mensch den Tieren wohl gegeben haben? Das wird an der Stelle nicht berichtet. Ein Überblick über hebräische Tiernamen zeigt indessen, dass diese nach dem Aussehen, der Stärke, der Funktion, den Verhaltensweisen, den Tierlauten oder dem Lebensraum gegeben wurden, also ganz so wie unsere Tiernamen auch.18 Alice Zuckmayer berichtet: „Wir benannten unsere Tiere nicht nach Laune und Willkür, vielmehr zwangen uns die Tiere dazu, sei es durch Aussehen, Benehmen, oder ein Schicksal, ihnen einen Namen zu geben.“19 Die Tiere zwangen uns dazu …: Das bedeutet, dass auch die Tiere ihren Teil zur Namensgebung beitragen. Sie sind nicht bloß Objekte unserer Benennungsvollmacht. Vieles, was die ältere Theologie über die Erhabenheit des Menschen über das Tier gesagt hat, die er vermöge seiner geistigen Natur innehat, scheitert schon an der Wechselseitigkeit, die sich im schlichten Akt der Namensgebung vollzieht. Joseph Bernhart hat das gut gesehen. Einerseits ist das Benennen „immer ein Akt der Urteilskraft aus der Ganzheit des Menschen“. Das Erschrecken und das Entzücken, alles das, was der Mensch bei ihrem Anblick ausrufen werde (wie Benno Jacob die Stelle übersetzt), spielt in den Akt der Benennung hinein. So subjektiv also die Namensgebung ist, so ist sie andererseits „auch vom Ding her bestimmt“, sie ist „immerhin so 54

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übereinstimmend“, dass wir das Tier in dem Namen wenigstens ansatzweise wiedererkennen können. 20 Es ist ein Zusammen- und Ineinanderwirken von Mensch und Tier, das zur Benennung der Tiere führt. Eben damit werden sie die Bewohner einer gemeinsamen Welt. Die Gabe der paradiesischen Wissenschaft Die mittelalterliche Theologie hatte aus den wenigen Angaben, die sich in der zweiten Schöpfungserzählung über den paradiesischen Menschen finden, gefolgert, dass ihm von Gott besondere Gnadengaben verliehen waren, Gaben also, auf die er von Natur aus keinen Anspruch hatte. Dazu gehört das sog. donum scientiae, die Gabe der paradiesischen Wissenschaft. Wie auch die anderen Gnadengaben ist die Gabe des Wissens der Ausdruck der ursprünglichen Gerechtigkeit (iustitia originalis), in der der Mensch im Paradies vor dem Sündenfall lebte. Der Mensch „im Unschuldsstande“ war in der Lage, sich selbst, seinen Mitgeschöpfen und Gott gerecht zu werden: das war eigentlich das Paradiesische an seinem Zustand, nicht allein der schöne Garten mit den Bäumen und Flüssen.21 Diese gerechte Art des Erkennens und Wissens sah man in der biblischen Erzählung hauptsächlich an drei Stellen angezeigt: Bei der Namensgebung der Tiere, bei der Erkenntnis der menschlichen Natur und bei der Erkenntnis der Frau. Dass Adam die Tiere benennen konnte, setzt die Erkenntnis über die wahre Natur der Tiere voraus. Zugleich erkannte er die Eigenart der Natur des Menschen, denn er erkannte, dass keines unter den Tieren eine ihm entsprechende Hilfe war. Als er Eva erkannte und sie mit Freuden begrüßte, bewies er seine Erkenntnis der Frau (dass man sie mit Freuden begrüßen soll), und indem er Vater und Mutter verließ, um seiner Frau anzuhängen, erkannte er das Wesen der Ehe. Von der Art der Erkenntnis des paradiesischen Menschen wird gesagt: Er konnte „mit Leichtigkeit und Richtigkeit die natürlichen Wahrheiten erfassen, sowie er denselben seine Aufmerksamkeit zuwendete und sie zum Gegenstand seines Denkens machte“. Die intellektuelle Tätigkeit des paradiesischen Menschen entsprach „seiner Unschuld und Heiligkeit“. „Daher war sie vor allem dem Göttlichen zugewendet, den kreatürlichen Dingen aber nur insoweit, als es zur Verherrlichung Gottes und zur gottgefälligen Einrichtung des eigenen Lebens und des Lebens der ihm von Gott Untergebenen notwendig oder nützlich war.“ 55

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Die Idee einer paradiesischen Erkenntnis(-art), die die Theologen aus den wenigen Angaben der Schöpfungserzählungen gezogen haben, will nicht nur historisch verstanden werden. Sie sagt vielmehr etwas über die wahre, die richtige Art von Erkenntnis: eine Erkenntnis, die dem Erkannten gerecht wird. Sie ist ja Teil der Urstandsgerechtigkeit. Sie ist, wie es heißt, dem Göttlichen zugewandt und dem Kreatürlichen nur insoweit, als es der Verherrlichung Gottes und der Einrichtung eines gottgefälligen Lebens dient. Sie vollzieht sich mit großer Leichtigkeit. Unsere heutige Art, Erkenntnis zu gewinnen, ist deshalb so mühselig, weil sie die Dinge (die Tiere, die Pflanzen) unter ganz anderen Gesichtspunkten untersucht. Sie wird dem Erkannten dadurch oft nicht gerecht. Eine Annäherung an diese Art paradiesischer Erkenntnis finde ich in dem Buch des amerikanischen Biologen David G. Haskell. Er hat ein Jahr lang ein kleines Stück Wald von etwa einem Meter Durchmesser im Südosten von Tennessee beobachtet und dabei eine neue Art von Erkenntnis gelernt: „Frei lebende Tiere, die sich miteinander vergnügen und an der Welt erfreuen, sind ein unglaublich starkes, unmittelbares und reales Erlebnis, finden aber in Lehrbüchern und akademischen Aufsätzen zu Tieren und Ökologie keine Erwähnung. Dabei offenbart sich hier eine Erkenntnis, die in ihrer Schlichtheit geradezu absurd ist. […] Die Natur ist keine Maschine. Tiere sind fühlende Wesen. Sie leben. Sie sind unsere Verwandten, und darum empfinden sie ähnlich wie wir. […] Die wissenschaftliche Objektivität mag manche Annahme ausschließen, akzeptiert jedoch andere, die, ins Gewand akademischer Strenge gekleidet, Hybris und Herzlosigkeit über die Welt bringen können. […] Ich habe versucht, ein Jahr lang die wissenschaftlichen Werkzeuge niederzulegen und genau hinzuhören: der Natur ohne Hypothesen zu begegnen, ohne Datenerhebungspläne, ohne Unterrichtspläne, ohne Geräte oder Proben. Ich habe gemerkt, wie wertvoll die Wissenschaft ist, aber auch wie begrenzt in Geltungsbereich und geistiger Haltung. Übungen im aufmerksamen Zuhören haben im Allgemeinen leider keinen Platz im universitären Lehrplan. Ein Mangel der Wissenschaft, der völlig unnötig ist. Er macht uns zu ärmeren und wohl auch verletzenderen Wesen.“22

Dem Biologen kamen diese Einsichten, nachdem er vier Grauhörnchen eine Stunde lang zugeschaut hatte. Sie „faulenzen in den leuchtenden oberen Zweigen eines toten Schuppenrinden-Hickorys, fünfzig Meter weiter unten am Hang. […] sie rekeln sich meistens in der Sonne, alle viere von 56

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sich gestreckt. Sie scheinen gesellig, immer wieder knabbern sie am pelzigen Hinterbein oder Schwanz eines anderen Tieres. Ab und zu unterbricht ein Grauhörnchen sein Sonnenbad, kaut an einem pilzverkrustetem Zweig und legt sich wieder still zu den anderen.“23 Eine faszinierende, schöne Welt. David Haskell merkt, dass auch er von den Hörnchen beobachtet wird. „Wenig später läuft das Hörnchen kopfüber den Baum hinab, mit einer Hickorynuss im Maul. Dann erblickt es mich aus seinen dunklen Augen und erstarrt. Während sich sein Kopf zur Seite neigt, streckt sich sein Schwanz parallel zum Stamm. Das Hörnchen beobachtet mich. Dann bewegt sich der Schwanz in zitternden Wellen. Der buschige Schwanz wird flach, der Pinsel zu einem welligen Fächer.“24 Was mag das Hörnchen wohl bei dem Anblick des Menschen empfinden und denken? Was bedeutet die „Sprache“ seines Schwanzes? Der Biologe weiß es nicht. Er ist, wie es auch das ganze Buch über ein Jahr der Beobachtung bezeugt, eingetreten in eine fremde Welt. Das Gefühl der Fremdheit, dass er je länger je mehr empfindet, wächst paradoxerweise zusammen mit dem der Vertrautheit, das sich in den hunderten Stunden der Beobachtung und Wahrnehmung eingestellt hat. Am Ende des Jahres sagt er: „Ich empfinde gleichzeitig eine große Nähe und eine unüberwindbare Distanz. Je besser ich das Mandala [so nennt er das Waldstück] kennenlerne, desto klarer sehe ich meine ökologische und evolutionäre Verwandtschaft mit dem Wald. […] Zugleich hat sich ein ebenso großes Gefühl des Andersseins eingestellt. Bei meiner Beobachtung des Mandalas habe ich auf bedrückende Weise begriffen, wie gewaltig meine Ahnungslosigkeit ist. […] Je länger ich das Mandala beobachte, desto mehr schwindet die Hoffnung, es jemals zu begreifen, und sei es auch nur in seiner grundlegenden Natur.“25

Aus der Mischung dieser Wahrnehmungen entsteht eine besondere Art von Glück. Haskell beschreibt es so: „Doch die Unabhängigkeit des Lebens im Mandala erfüllt mich auch mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl. Dies stellte sich erstmals vor einigen Wochen ein, als ich in den Wald ging. Ein Haarspecht ließ sich auf einem Baumstamm nieder und schmetterte seinen Ruf hinaus. Es traf mich bis ins Mark, wie anders dieses Lebewesen war. Seine Art hatte schon vor Jahrmillionen Spechtrufe ausgestoßen, als es den Menschen noch nicht gab. Sein Alltag war mit Rindenschuppen, verborgenen Käfern und den Geräuschen benachbarter Spechte ausgefüllt: eine andere Welt, die parallel zu meiner existierte. Und in einem 57

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Mandala gibt es Millionen solcher Parallelwelten. Irgendwie empfand ich eine Erleichterung, als mich der Schock des Getrenntseins durchströmte. Die Welt kreist nicht um mich oder meine Art. Der Urgrund der naturgegebenen Welt liegt an einem Ort, an dessen Erschaffung der Mensch keinen Anteil hat. Das Leben ist größer als wir. Es wendet unseren Blick nach außen. Als ich den Specht fortfliegen sah, spürte ich zugleich Demut und Erhabenheit.“26 Der Mensch ist nicht allein – mit sich Haskell hatte einen Blick ins Paradies getan. Er hilft zu verstehen, was Gott damit meinte, als er feststellte: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ In der Regel wird dies nur auf die menschliche Gemeinschaft, auf Geselligkeit und Liebe ausgelegt, wie sie der Mensch dann mit Eva findet. Der Umweg über die Tiere gilt dann als eine Art Testlauf mit negativem Ergebnis. Schon Augustinus hatte sich darüber gewundert, dass Gott diesen Test nötig hatte. Aber die Begegnung mit den Tieren hat ja doch ein Ergebnis: Dass es lebende Wesen gibt, die dem Menschen nicht die ihm entsprechende Hilfe sind, die nicht „gleichsam sein Gegenstück“ sind. Das ist die Erkenntnis, die die Wahrnehmung der Tiere vermittelt. Und nur mit dieser Erkenntnis wird man ihnen gerecht und kann ihnen die Namen geben, die ihnen entsprechen. Das ist mit der „Erkenntnis über die wahre Natur der Tiere“ gemeint, von der die Lehre von der paradiesischen Wissenschaft spricht. Sie setzt, das lehren die Erfahrungen David Haskells, in der Tat voraus, dass man „denselben seine Aufmerksamkeit zuwendet und sie zum Gegenstand seines Denkens macht“. Und es ist die Erkenntnis, die vorbereitet und überhaupt erst fähig macht zur Erkenntnis der Frau und dem freudigen Ausruf, der ihr Erscheinen auslöst. Erst in der Differenz verschiedener Wahrnehmungen wird das eigene deutlich. Mit der paradiesischen Wissenschaft geraten wir an den Urgrund der paradiesischen Ökologie. Die „Urstandsgerechtigkeit“, von der Gott wollte, dass sie sich über die ganze Erde ausbreitet, ist in den wenigen Zeilen der biblischen Erzählung ausgedrückt. Der Theologe und Religionswissenschaftler Johann Evangelist Hafner hat sie, übrigens nach einem gründlichen Abgleich mit anderen Konzepten einer ökologischen Ethik, in Worte gefasst. Die Tiere, so führt er aus, verdienen unsere Zuwendung nicht nur deshalb, weil sie ökologisch unersetzbar sind, weil unser Überleben von 58

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dem ihren abhängt oder auch einfach nur, weil wir Mitleid mit ihnen haben. Sie sind lebendige Wesen, und darum treten wir für ihren Erhalt ein.27 Lebendigsein aber heißt, Interesse am anderen zu zeigen. „Alle Wesen, die Interesse zeigen, setzen eine erste Differenz in die Gleichgültigkeit des Toten.“28 Das Lebendige nimmt seine Umwelt wahr und weiß zugleich, dass es von den lebendigen Wesen seiner Umwelt wahrgenommen wird. Das bedeutet für den Menschen, der Tieren seine Aufmerksamkeit zuwendet: Er „nimmt wahr, dass es andere Wahrnehmung als die eigene gibt“.29 Er weiß sich der Wahrnehmung anderer Lebewesen ausgesetzt; und es gehört eine Kunst dazu, das Bewusstsein dafür immer weiter zu schulen: Auch der Wald, nicht nur das Tier, das mich gerade anblickt, reagiert auf mich – nicht sofort, und nicht in dem Tempo von Reaktion, das wir als Menschen gewohnt sind, aber er tut es doch. Gefühle der Abhängigkeit, des Ausgeliefertseins können sich in der Begegnung mit Lebewesen einstellen (man denke an die Angst vor dem Wolf in den Märchen), aber auch solche der Freude, wie sie Haskell beim Anblick des Spechts empfand. Tiere „brauchen“ wir, um zu wissen, dass wir als Menschen nicht allein sind in der Welt. „Vielleicht sind die Grundbefindlichkeiten wie Angst oder Glück Erinnerungen an das Lebewesentliche im Menschen: die Angst vor dem Fremden und das Glück der Nachbarschaft. Denn nicht geringer als die Furcht vor dem Gefressenwerden ist die Angst davor, als einziges Wesen oder als einzige Art übrigbleiben zu müssen.“30 „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“, so hat Gott recht gesprochen – allein mit sich und seinesgleichen und seinen technischen Artefakten, die Lebendigkeit immer nur nachahmen können. Indem sich Menschen der Wahrnehmung der lebenden Wesen aussetzen, spricht sich aus, dass sie nicht allein sind in der Welt. Der „Sündenfall“ aber besteht darin, vom „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ zu essen, also zu meinen, der menschliche Verstand reiche aus, die ganze Welt zu erkennen. „Gefährlich wird es dann“, so formuliert es Haskell in Bezug auf die Naturwissenschaften, mit denen er übrigens bestens vertraut ist, „wenn wir den begrenzten Anwendungsbereich unserer wissenschaftlichen Methoden mit der vollständigen Wirklichkeit unserer Welt verwechseln“31 Und er bedauert, dass „die moderne Wissenschaft oft unfähig oder nicht gewillt [ist], sich vorzustellen oder nachzuempfinden, was andere erleben“.32 So oft hat die Theologie den Sündenfall als Hybris gegenüber Gott ausgelegt, in erster Linie ist es aber Hybris gegenüber den lebendigen Wesen, mit denen wir die Erde teilen. 59

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Daraus folgt, dass sich Naturschutz nicht aus unserem Interesse begründen sollte, das den Tieren und Pflanzen selbst immer äußerlich bleiben wird. Zu erhalten ist gerade die Fremdheit der Lebewesen, auf dass ihre Art der Wahrnehmung bestehen bleiben kann und wir in unserem Wahrgenommenwerden durch sie jene „Demut und Erhabenheit“ erspüren, von der David Haskell am Ende durchdrungen war. „Es gilt demnach, die Natur (so) zu schützen bzw. zu regenerieren, daß Lebewesen in ihr äußerungsfähig und wahrnehmungsfähig bleiben bzw. werden. Es gilt zudem, Natur (so) zu schützen bzw. zu regenerieren, daß Lebewesen in ihr wahrnehmbar bleiben. Natur ist zunächst die Umwelt der Lebewesen, in der diese sich von sich selbst her zeigen können.“33 Dass die Menschen die Tiere „brauchen“, habe ich oben in Anführungszeichen gesetzt. Wir brauchen sie, indem wir sie nicht brauchen, sondern sein lassen, was sie von sich her sind. Der kleine biblische Text von der Benennung der Tiere hat uns auf das Thema Wahrnehmung und Beobachtung geführt. Er etabliert ein komplexes System von Fremd- und Selbstwahrnehmung auf mehreren Ebenen. Der Mensch nimmt die Tiere wahr und weiß sich dabei von ihnen wahrgenommen; das Resultat davon ist die Namensgebung. Gott nimmt den Menschen wahr, wie er die Tiere wahrnimmt; das Ergebnis davon ist in dem Satz ausgedrückt, dass es nicht gut sei, wenn der Mensch allein ist. Er bildet ihm dann sein Gegenstück, das der Mensch als die Entsprechung zu sich erfahren kann, nicht ohne ihm die Erfahrung mit den Gegenstücken, die ihm nicht entsprechen, zu ersparen; das Letztere ist die Voraussetzung des Ersteren. Und da es ein Text ist, in dem all das zu lesen ist, sind auch die Leser und Leserinnen in die Wahrnehmung mit einbezogen: Sie beobachten, wie Gott den Menschen beobachtet, wie der die Tiere beobachtet. So gestattet der Text Gott selbst zu beobachten. Und durch ihn die Welt.34 Das passt zu der Art, wie er in beiden Schöpfungserzählungen geschildert wird. Vielleicht hatte die alte Theologie doch nicht so falsch gesprochen, als sie Gott als die erste und höchste Ursache des Seins bezeichnete. Gott ist die erste Ursache unseres In-der-Welt-Seins, unseres Uns-Zurechtfindens in einer gemeinsamen Lebenswelt mit anderen Lebewesen in der unaufhebbaren Mischung von Vertrautheit und Fremdheit. Durch sein Verbot, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, bewahrt er die Menschen davor, diese Mischung nach einer Seite hin, nach der Seite der Vertrautheit, aufzulösen. Zwar ist der Sündenfall geschehen. Das Paradies steht indessen immer offen, denn der biblische Text liegt ja vor und kann gelesen werden. Thomas Ruster 60

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Herdan-Zuckmayer, Die Farm in den grünen Bergen. Jacob, Das Buch Genesis, 95. Ebd. 96. Bernhart, Die unbeweinte Kreatur, 25. Augustinus, Über den Wortlaut der Genesis, cap. 14. Thomas von Aquin, Summa Theologica I,96,1, 122  f. Übrigens geht Thomas davon aus, dass die fleischfressenden Tiere auch im Paradies Fleisch gefressen haben. Wie hätte also eine solche Zusammenkunft ohne Blutvergießen möglich sein können? Augustinus, Über den Wortlaut der Genesis, cap. 12. Dieses Gottesverständnis ist samt seinen Folgerungen für das Verständnis von Schöpfung vielleicht in dem Werk von Garrigou-Lagrange, Dieu  – Son Existence et Sa Nature, in der größten Klarheit dargestellt worden. Angemerkt werden soll an dieser Stelle, dass die Rede von der „Schöpfung aus dem Nichts“ auch dann noch ihren guten Sinn behält, wenn man dieses Gottesverständnis hinter sich lässt; vgl. dazu Predel, Schöpfungslehre, 194–223. Die Rede von der „Schöpfung aus dem Nichts“ will negativ ausschließen, dass auch andere Kräfte als die Liebe Gottes an der Schöpfung mitgewirkt haben, zum Beispiel böse Mächte. Die Wendung hat also in erster Linie eine antidualistische Bedeutung. Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 893–912 und 926–931. Zum Lehrer-Schüler-Bild und seiner Dekonstruktion vgl. ebd. 976–978. Vgl. Welker, Schöpfung und Wirklichkeit, 15–41. Weber, Alles fühlt, 201. Vgl. Ps 104,25: „Da ist das Meer, so groß und weit, darin ein Gewimmel ohne Zahl: kleine und große Tiere.“

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Keil, Genesis und Exodus, 61. Zimmerli, 1. Mose 1–11, 140 f. So auch der neuere Kommentar von Susan Brayford: „in so doing, God confers on Adam the same kind of power or dominance that God had over everything that he named“: Genesis, 233. Vgl. Schwegler, Die Biblische Urgeschichte, 79–85. Herdan-Zuckmayer, Die Farm in den grünen Bergen, 96. Westermann, Genesis, 311; Herv. im Org. Vgl. Riede, Im Spiegel der Tiere, 165– 212. Herdan-Zuckmayer, Die Farm in den grünen Bergen, 96. Bernhart, Die unbeweinte Kreatur, 24; 22. Vgl. Guardini, Der Anfang aller Dinge, 50: „‚Paradies‘ ist die Welt, wie sie beständig um jenen Menschen her wird, atmet, sich entfaltet, der Ebenbild Gottes ist und immer vollkommener dieses Ebenbild verwirklichen will. Der Gott liebt, Ihm gehorcht und die Welt beständig in die heilige Einheit hereinholt.“ Zum donum scientiae vgl. Heinrich/Gutberlet, Dogmatische Theologie, 543–567; dort auch die folgenden Zitate. Haskell, Das verborgene Leben des Waldes, 289–291. Ebd., 289. Ebd., 240. Ebd., 296. Ebd., 296 f. Vgl. Hafner, Über Leben, 13. Ebd., 356. Ebd. Ebd., 361. Haskell, Das verborgene Leben des Waldes, 290. Ebd.

I. Tierwissen 33

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Hafner, Über Leben, 366. Diese Überlegungen lassen sich gut mit den Erkenntnissen Andreas Webers übereinbringen. Für ihn gilt: Leben ist nicht nur Selbsterhaltung, Leben ist Darstellung für andere. „Was es heißt, ein Lebewesen zu sein, lässt sich […] viel eher in den Tieren erfahren als in den Menschen. Tiere gehen so viel direkter in der Existenz auf als wir. Sie sind in jedem Augenblick ganz ihr Gefühl. […] Sie sind es, an denen unsere Kognitionsfähigkeiten, unsere Weltfähigkeit sich schärfen. […] In der Gegenwart des Tiers, sei es uns so nah verwandt wie ein Schimpanse oder so fern wie eine Kaulquappe, finden wir, was uns bekannt ist. Aber es ist stets mit etwas Fremden verflochten, das aus einem Abgrund von Neuheit strahlt“: Weber, Alles fühlt, 128 f.

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Die Architektur des biblischen Textes erschließt sich mit Hilfe der systemtheoretischen Unterscheidung mehrerer Beobachtungsebenen. So wie der Börsianer den Ernst eines Ereignisses an der Reaktion der Börse abliest, so der Christ an der Reaktion Gottes, vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 313. Durch die Unterscheidung verschiedener Beobachter und Beobachtungsebenen wird die Wahrheit kontingent gesetzt; es gilt nicht mehr die einfache wahr/falsch-Unterscheidung, die die klassische Philosophie leitete. Luhmann merkt dazu an: Es ist „kein Zufall, dass die These von der Kontingenz der Welt zuerst in der Theologie formuliert wurde, nämlich als Resultat der Bemühungen, Gott als Schöpfergott, also als Beobachter zu beobachten“, ebd., 1122.

Den Drachen töten und die Spatzen füttern Die Heiligung der Natur in der Legenda Aurea

„In Apulien gibt es einen Berg namens Gargano bei der Stadt namens Siponto“, erzählt die Legenda Aurea (LA)1. Dieser Berg habe seinen Namen nach einem reichen Bauern namens Garganus, der dort Ende des 4.  Jahrhunderts gelebt habe. Allerdings kommentiert der mitunter durchaus kritische Jacobus de Voragine, der Autor der berühmten Legendensammlung: „nach einigen Büchern war es umgekehrt“. Jedenfalls weideten die zahlreichen Schafe und Rinder dieses Mannes an den Hängen des Berges, und eines Tages „kam es, dass ein Stier die Herde verließ und den Gipfel des Berges erklomm.“ Nach einiger Suche findet der Bauer mit seinen Knechten den Stier hier am Eingang einer Höhle. Der Bauer scheint entweder jähzornig oder tatsächlich so reich zu sein, dass ihn der Verlust eines Stieres nicht berührt, jedenfalls „schoss er einen vergifteten Pfeil auf ihn ab, doch der Pfeil flog wie vom Wind gedreht sogleich zurück und traf den Schützen.“ Die bestürzende Geschichte erreicht auch den Bischof, der ein dreitägiges Fasten und eine Befragung Gottes im Gebet anordnet. Daraufhin erscheint dem Bischof der Erzengel Michael und erklärt: „Ich bin der Erzengel Michael und habe beschlossen, auf Erden diesen Ort zu bewohnen und zu beschützen, und wollte mit diesem Zeichen deutlich machen, dass ich Wächter und Hüter dieses Ortes bin.“ Die Erscheinung wirkt bis heute nach, am Gargano wird Michael verehrt, auch wenn die Höhle sich nicht ganz auf dem Gipfel befindet; sie „liegt 20 km von Siponto entfernt im heutigen Städtchen Monte S. Angelo auf 770 m Höhe am Hang des 1000 m hohen Monte Gargano“2. 63

I. Tierwissen

Ein Erzengel, der Grotten bewohnt, mag uns erstaunlich erscheinen, doch Michaelsgrotten gibt es gleich mehrere. Die LA berichtet noch von einer zweiten: Auch in Tumba nahe Avranches in der Normandie sei  – allerdings über 300 Jahre später – Michael einem Bischof erschienen und habe sich eine Kirche gewünscht, und zwar „dort, wo er einen Stier finde, den Räuber verborgen hätten“, und der Umriss des Baues richte sich danach, „wie er ihn von den Spuren des Stieres in den Boden getreten sehe“3. Daraus entstand das Heiligtum des Mont-Saint-Michel. Dass Heilige mit für sie typischen Attributtieren dargestellt werden, ist nicht ungewöhnlich4 – dass ein Engel, ein himmlisches Geistwesen, mit einem Stier an Berghöhlen konnotiert wird, schon. Wer möchte hier nicht – auch wenn eine klare religionsgeschichtliche Herleitung m. W. fehlt – an die Übertragung vorchristlicher Götter, ihrer tierischen Erscheinungsweisen und der Orte ihrer Epiphanien denken? Der himmlische Heerführer Michael als christianisierter Zeus? Die merkwürdige Geschichte vom Stier des Michael ist typisch für die Überlieferungsweise der LA: Das um 1260 abgeschlossene Werk ist eine Kompilation, eine nacherzählende Sammlung meist wesentlich älterer Überlieferungen. Die meisten hier wiedergegebenen Heiligenlegenden gehen auf die Spätantike zurück – auf biblische Apokryphe, Märtyrerakten, Heiligenviten –, viele auf das frühe Mittelalter. Nur ein geringerer Teil stammt aus der jüngeren Vergangenheit des Autors – so die Geschichten zu den Heiligen Franziskus (LA 149) und Dominikus (LA 113) und die längste Einzelgeschichte, die dem am 6. April 1252 von Katarern ermordeten Dominikaner-Inquisitor Petrus Martyr gewidmet ist (LA 63). Die Goldene Legende ist ursprünglich keineswegs ein volkstümliches Buch: Hier verfasst ein Dominikaner-Oberer (und späterer Bischof von Genua) zusammen mit einem Redaktionsteam ein Kompendium der Überlieferungen zum Festkreis des Kirchenjahres. Neben den Heiligengeschichten gibt es deshalb auch große Einführungen in die Hauptfeste.5 Legenda meint das, was gelesen, vorgelesen werden soll. Das Buch dient also der Lektürepraxis in den Klöstern, aber auch als Predigtvorlage. Und deshalb wurde die LA in ihren zahlreichen Übersetzungen denn doch ein volkstümliches Buch: Ihre Geschichten waren den Gläubigen mitunter fasslicher  – anschaulicher, ja auch unterhaltsamer  – als die biblischen. In der christlichen Kunst wurden die Szenen immer wieder gemalt. Die LA bebildert den Kosmos christlicher, später eher nur noch katholischer Frömmigkeit. 64

Den Drachen töten und die Spatzen füttern

Das Studium der LA ist deshalb ein Weg zu erkunden, was christliche Frömmigkeit, christliches Bewusstsein, vielleicht auch Unterbewusstsein geprägt hat. Zugleich bewahrt die Legenda dazu sozusagen Jahresringe aus Jahrhunderten. Sie ist in sich keineswegs einheitlich: Zwischen dem Stier von Gargano und den Vögeln des Franz von Assisi liegen Welten. Eine Spurensuche nach dem christlichen Verhältnis zu den Tieren sollte deshalb in diesen Überlieferungssteinbruch eindringen. Das ist bisher noch erstaunlich wenig geschehen. Hier sei eine theologisch fragende Beobachtung versucht, die sich (erstmals) auf alle Tiergeschichten des Werkes bezieht. Die Leitfrage lautet dabei: Wie werden Erlösung und Natur aufeinander bezogen? Wie verändert die Christianisierung den Umgang mit den Tieren, die Vorstellung von ihnen? Dabei werden wir mit durchaus widersprüchlichen, gegenläufigen Beeinflussungen zwischen den verschiedenen Überlieferungsschichten – dem bewahrten und verformten antiken, dem Evangelium, der neuen mittelalterlichen Welt  – rechnen müssen. Diese Widersprüchlichkeit prägt die abendländische „Ökologie“ und speziell das europäische Verhältnis zu den Tieren. Die übernatürliche Codierung der Tiere Der erste Eindruck eines Legenden-Lesers dürfte sein: Die Tiere sind gar nicht Tiere der Heiligen, sondern Tiere Gottes. So wie die Stiere des Erzengels Michael sind sie einer übernatürlichen Sphäre zugeordnet. Sie haben zu dieser Sphäre offenbar einen direkteren, ungebrocheneren Zugang als die Menschen, oder sie kommen geradezu aus dieser Sphäre auf den Menschen zu. Ganz bildlich-wörtlich gilt dies für die Nähe der Vögel zur himmlischen Sphäre, und so sind Vögel auffallend oft Boten und Werkzeuge Gottes: Ein Rabe versorgt den hl. Benedikt als Einsiedler6, ein Adler die Heiligen Modestus und Vitus auf ihrer Flucht vor der Verfolgung des Kaisers Diokletian.7 Sicher mag hier das Vorbild des Propheten Elias in seinem Versteck am Bach Kerit (1 Kön 17,2–6) eine Rolle gespielt haben. Vögel besingen aber auch die verstorbene hl. Elisabeth, womit „sie ihr gewissermaßen das Grabgeleit gaben“8. Und die Vögel werden nach Voragine bekannten Überlieferungen auch das nahende Jüngste Gericht ankündigen, indem sie sich „auf den Feldern sammeln, jede Gattung für sich, nicht fressen, nicht trinken, in Furcht vor der nahen Ankunft des Richters“9. 65

I. Tierwissen

Auch andere Tiere haben ein besonderes Sensorium für das Göttliche. Der Ochse und der Esel an der Krippe Jesu mögen das Heu nicht fressen, auf dem das göttliche Kind liegt, ja sie beten es sogar auf den Knien an10 – womit die Legende dem Prophetenspruch „Der Ochse kennt seinen Herrn und der Esel seine Krippe“ (Jes 1,3) einen übernatürlichen Sinn verleiht. Ein Hirsch kann als Wahrsager auftreten11 oder mit einer Kreuzerscheinung in seinem Geweih  – uns durch den hl. Hubertus (und durch ein Likörlogo) bekannter – den Jäger Placidus zum hl. Eustachius bekehren12. Das Sensorium der Tiere für das Göttliche und ihre Kommunikation mit den Heiligen lässt sich sicher christlich interpretieren: Schon Bonaventura dachte in seiner Deutung der Franziskus-Geschichten an ein „geheimes Gefühl“, einen besonderen Sinn (sensu quodam occulto) der Tiere13, ein moderner Ausleger spricht von einer Mensch und Tier gemeinsamen Geborgenheit „in dem göttlichen Logos, der ‚im Anfang war‘ (Joh 1,1)“14. Biblisch ist dies bezeugt durch den Esel Bileams (Num 22), der prophetischer wirkt als der Prophet, welcher auf ihm reitet. Und doch sind Zweifel an einem exklusiv biblischen und christlichen Hintergrund dieser Vorstellungswelt angebracht. Sie entzünden sich u. a. ausgerechnet an einem Motiv, das aus den Märtyrerakten in auffälliger Häufung in die LA eingewandert ist: Wilde Tiere als Werkzeuge der Bösen, als Hinrichtungsmittel, nämlich die gefährlichen Bestien der Arenen, verschonen die Christen. Sie erkennen deren Unschuld und bezeugen sie so gegen die Verfolger. Diese Verschonung durch die Tiere erzählt die Legende bei den Heiligen Primus und Felicianus, bei den schon erwähnten Vitus und Modestus, bei Abdon und Sennen, Euphemia, Eustachius samt Familie sowie beim Begräbnis des Apostels Jakobus. Als die hl. Daria ins Bordell geschickt wird, dient ihr ein aus dem Amphitheater entlaufener Löwe sogar als tatkräftiger Beschützer. Außer Löwen sind die beteiligten Tiere auch Bären und Stiere sowie Hunde und Vögel, welche die Leichen verschonen.15 Dieses Motiv wäre als christliche Apologetik gegen die heidnischen Verfolger verständlich – und wird ja auch so eingesetzt. Doch es basiert selbst auf nicht-christlichen antiken Vorbildern: Tacitus berichtet ganz nüchtern und distanziert von einer solchen Verschonung durch die Bestien im Fall des keltischen Aufrührers Mariccus16; das Motiv kommt aber auch in der heidnischen Legende vom Sklaven Androklus vor17, der sogar einem Löwen einen Dorn aus dem Fuß zieht. Die Märtyrerberichte haben diesen Wechsel der Bestien auf die Seite der Opfer also nicht erstmals beobachtet oder erfunden, sondern schildern ihn in christlicher Überbietung älterer Vorbilder. 66

Den Drachen töten und die Spatzen füttern

Auch die Beschreibung von Tieren als direkter Werkzeuge Gottes ist offenbar keine christliche theologische Besonderheit, sondern schöpft aus einem antiken Grundverständnis. Vielleicht ist es deshalb auch kein Zufall, dass Tiere als Werkzeuge Gottes häufig in Zusammenhängen auftauchen, die uns aus christlicher Sicht eher merk- oder gar fragwürdig erscheinen. Das zeigte sich schon beim Stier vom Berg Gargano, das wiederholt sich bei märchenhaften Anekdoten wie der vom schon verspeisten Schaf, das seinen Räuber durch Blöken aus dessen Magen heraus verrät18, insbesondere aber in jener Anekdote über den Apostel Thomas, in der dieser einen frechen Wirt, der ihn schlug, dadurch strafen lässt, dass ihn erst ein Löwe zerreißt, dann Hunde zerfetzen und schließlich einer von ihnen dem Apostel die Hand des Bösewichtes bringt. Auch Jacob de Voragine tut sich mit dieser Episode, die aus den manichäischen Thomasakten stammt, schwer: Er verweist zunächst darauf, dass schon Augustinus sie getadelt habe, lässt dann offen, „ob das eine wahre oder eine erfundene Geschichte ist“, rechtfertigt sie aber schließlich mit dem für einen Inquisitor nicht untypischen Schachzug, Thomas habe damit bewirkt, „den ungerechten Menschen in der künftigen Welt zu schonen, im gegenwärtigen aber das Unrecht nicht ungestraft zu lassen“19. Bemächtigung und Zivilisierung Die verschlungenen Überlieferungswege der Tier-Geschichten in der LA mögen also davor warnen, ihre Motive vorschnell theologisch zu romantisieren. Das verhindert noch stärker ein Motiv-Strang, der so gar nicht zu der beliebten Deutung der besonderen Nähe zwischen Heiligen und Tieren passt: Die Tiere sind und bleiben nämlich in zahlreichen Legenden fremde, wilde, ja gefährliche Tiere. Hält man diesen Strang mit dem bisher beobachteten zusammen, könnte man fast von einer Alternative der „Tiere als Dämonen oder als Diener Gottes“ sprechen.20 Doch bei näherem Hinsehen sind die wilden Tiere weniger dämonisch, als vielmehr auf recht natürliche Weise Gefährder und Gegner der Menschen: So rauben dem Eustachius – ausgerechnet jenem, dem später der Löwe in der Arena nichts antuen möchte! – ein Wolf und ein Löwe bei einer Flussüberquerung beide Kinder. Helfen können gegen diese „erbarmungslosen Tiere“ nur Hirten mit ihren Hunden und Bauern, welche die Raubtiere verfolgen.21 67

I. Tierwissen

Hier schlagen sich offensichtlich die Erfahrungen und Ängste einer vormodernen Welt nieder, in der Tiere der Wildnis noch etwas anderes darstellten als noch nicht ausgerottete Restbestände. Nicht zu übernatürlichen Wesen, sondern zu dieser als feindselig erlebten Natur gehören auch die berühmtesten Fabelwesen der Legenden, die Drachen. Jacob de Voragine berichtet von dem verbreiteten Brauch, zum Johannesfest (also dem Sonnwend-Termin!) die Knochen toter Tiere zusammenzusuchen und zu verbrennen. Und er erklärt die Funktion dieses Brauchs durch „das Festhalten an einer uralten Maßnahme. Es gibt nämlich eine Art von Tieren, die man Drachen nennt, die in der Luft fliegen, im Wasser schwimmen und auf der Erde wandeln. Wenn sie in den Lüften kreisten, wurden sie manchmal zur Lust gereizt und ließen ihren Samen in Brunnen und Flussläufe fallen, und dann folgte ein Pestjahr. Dagegen erfand man als bewährtes Mittel, die Tierknochen auf einem Scheiterhaufen zu verbrennen und mit dem Rauch jene Tiere zu vertreiben und weil das vor allem um diese Jahreszeit geschah, halten auch heute noch einige daran fest.“

Man liest deutlich eine gewisse rationalistische Distanzierung des Autors von dieser antiquierten Sitte. Nichtsdestotrotz spricht Voragine nicht von einer Mythologie oder Dämonologie, sondern von einer Biologie der Drachen samt einer ganz natürlichen Gegenmaßnahme gegen diese offenbar in jeder Hinsicht potenten Tiere. In diesem Licht sind denn auch die Drachenkämpfe von Heiligen wie dem berühmten Georg22 oder dem weniger bekannten Donatus23 als Befreiungsakte gegenüber einer übermächtigen tierischen Kreatur zu lesen. Die Botschaft ist dann die: Christen können das; sie töten Drachen per Lanze, Schwert und Peitsche oder auch mit einem Kreuz (mit welchem Jünger des Apostels Jakobus einem solchen Ungeheuer kurzerhand den Bauch aufschlitzen24). Christliche Heilige vertreiben gefährliche Tiere durch die Kraft ihrer Gottverbundenheit: Dieses Motiv zieht sich als ein roter Faden durch die LA. Manchmal geschieht dies, indem insbesondere Stiere oder auch Tiger gezähmt werden. So ist es bei den eben erwähnten Jüngern des Jakobus, so auch bei Simon und Judas.25 Hier handelt es sich jeweils um Geschichten um das Wirken von Aposteln in fremden Ländern. Die christliche Mission legt den Beweis von der überlegenen Wahrheit und Macht ihrer Religion also durch die Zähmung von Wildtieren vor. So hält es auch der hl. Patricius – Saint Patrick: Als er seine Mission Schottlands einleitet, „erreichte er für das ganze Land, dass kein giftiges Tier mehr dort leben konnte“26. 68

Den Drachen töten und die Spatzen füttern

Die giftigen Tiere, insbesondere die Schlagen, sind häufig das Ziel solcher Tötungs- oder (überwiegend) Vertreibungsaktionen: Amandus zwingt eine Riesenschlange auf dem Klostergelände mit Kreuz und Gebet auf immer in ihr Loch;27 der schon verstorbene Concordanius bindet Schlangen zum Schutz für die Menschen an sein Grab, der hl. Germanus weist sie dann aus.28 Der hl. Leonhard tötet Schlangen, die ihn beim Gebet stören, allein durch sein Wort.29 Auch der sanfte Sankt Martin schickt eine Schlange fort; außerdem weist er Haubentaucher „in verlassene Gegenden“ aus – zugunsten der Fische, die sie fressen!30 Auch Wölfe werden Ziel solcher Ausweisungsbefehle.31. Mitunter erhält diese Macht der Heiligen komische Züge, so etwa, wenn Bernhard von Clairvaux Mücken exkommuniziert,32 die ein Klostergelände plagen, oder wenn der hl. Benedikt eine Amsel per Kreuzzeichen vertreibt, einfach weil sie ihn stört.33 Doch auch hier geht es um Macht. Im Unterschied zu den Überlieferungen der Wüstenväter, wo solche Macht über die Tiere eher die asketische Vollkommenheit ausdrückt, welche die Natur sozusagen von innen erschließt,34 gehören diese Machttaten in der LA überwiegend zu Aposteln, Missionaren und Klostergründern. Der Sieg über die wilden Tiere geht mit der Ausbreitung und dem Sieg des Christentums einher. Gewiss lässt sich dies metaphorisch oder symbolisch deuten: Der Sieg über die wilden Tiere meint den Sieg über das Böse – was gerade bei den Schlagen ja nahe liegt. Und doch überwiegt in der Pragmatik der Erzählungen – wie schon bei den Drachenerzählungen gezeigt – eine durchaus buchstäbliche Ebene. Christianisierung erscheint hier als Bemächtigung der Natur, ja als Zivilisierung wilder Landstriche. Deshalb werden die gefährlichen Tiere auch häufig in noch wildere Gegenden ausgewiesen. Kann man dies nicht als den legendären Kommentar zu einer Christianisierung Europas betrachten, die auch eine Kultivierungsarbeit war, die mit Waldrodung, Kloster- und Städtegründungen und mit der „Befriedung“ bisher unabhängiger „Stämme“ einherging? Und könnte man dann diese Legenden sogar als die mittelalterliche Version jener späteren Parallelisierung von Mission, Eroberung und Kolonisierung deuten, mit der europäische Mächte die Globalisierung begründeten? Das mag weit ausgegriffen sein. Und doch scheint mir diese Linie vom Material der LA aus leichter zu ziehen zu sein als die hin zu einer franziskanisch-ökologischen Spiritualität (auch wenn Franziskus natürlich vorkommt bei Voragine). Jedenfalls enthält die christliche Legendenwelt deutliche Vorformen des europäischen herrschaftlichen Verhältnisses gegenüber der Tierwelt und hat ihr religiöse Weihen verliehen. 69

I. Tierwissen

Gegenprobe: LA und die Iren Machen wir eine Gegenprobe: Es findet sich in Heiligenlegenden, die nicht in die LA aufgenommen wurden, ein deutlich anders geartetes Verhältnis zu den Tieren, und dies ausgerechnet in einer ebenfalls stark missionarisch ausgerichteten Überlieferung  – nämlich bei den irischen Mönchen. Ein kurzer Blick auf diesen Kontrast verdeutlicht die tier-theologische Problematik, um die es bei meinen Textbeobachtungen geht. In dieser nordischen Überlieferung erfahren „die irischen Mönche die Tiere als Freunde“ – das „hat es in dieser Form früher nicht gegeben.“35 Schon in der Vita des hl. Columban heißt es programmatisch, „dass es besser für ihn wäre, das reißende Wesen der Tiere zu ertragen, das an ihnen keine Sünde ist, als die Wildheit der Menschen, die ihrer Seele zum Verderben wird.“36 So lädt denn der hl. Molua ausgerechnet Wölfe jedes Jahr einmal zu einem Gastmahl ins Kloster ein (wofür allerdings ein Kalb sein Leben lassen muss)37. Der hl. Kyaran will in der Wildnis ein Kloster gründen, doch in Ermangelung von Novizen nimmt er zunächst lauter Tiere auf: einen Eber, einen Fuchs, einen Dachs, einen Wolf und eine Hirschkuh, die mit ihm lebten „in allem wie Mönche.“38 Der hl. Kolumkille pflegt eine innige Freundschaft mit einem weißen Pferd und kümmert sich um einen erschöpften Kranich.39 Im Gegensatz zu dieser Vermenschlichung hat die posthume Kraft der Heiligen Beanus und Brandan in Irland zwei sozusagen magische Tierschutzgebiete entstehen lassen, in denen die Jagd auf wundersame Weise nicht funktioniert: „Wunderbare Gottesmacht – dass dank Verdienst der Heiligen weder die gefräßige Natur noch der Hetzruf des Jägers … an ihren Raub gelangen […]. An diesen beiden Zufluchtsstätten fliehen weder Vogel noch Wild den Verkehr der Menschen, weil hier seit alters ein gleichsam häuslicher Friede herrscht.“40

Reservate statt Austreibung, Gastfreundschaft und geradezu Nächstenliebe gegenüber Tieren statt deren moralisierende Veränderung oder „Bekehrung“: Dies ist nun ein tatsächlich genuin christlicher Zug in der irischen Spiritualität, der sich nach Ausweis der Forschung auch nicht aus der vorchristlichen Überlieferung der Region ableiten lässt.41 August Nitschke sieht darin eine Art Paradigmenwechsel, der sich zwischen der Antike und dem frühen Mittelalter vollzogen habe: Waren „die Christen in der späten Antike dazu aufgerufen, das Böse in seinen mannigfaltigen 70

Den Drachen töten und die Spatzen füttern

Erscheinungen zu bekämpfen“, … so beginnen Christen seit dem 7. Jahrhundert sich darum zu bemühen, in ihren Handlungen zu ‚zeigen‘, dass die von Gott herrührende Liebe sie tätig werden ließ.“42 Ich bin ein wenig skeptisch, ob man diese Linie so klar zeitlich ziehen kann. Dann hätte die Veränderung nämlich in Bezug auf die Tiere bis in die LA des 13. Jahrhunderts nur wenig Eingang gefunden. Sollte es sich auch um eine regionale Linie handeln: mediterrane gegenüber nordeuropäischer Welt? Die irische Tradition strahlt später auf den hl. Goderich aus, einen englischen Einsiedler des 12.  Jahrhunderts, der sogar mit Schlangen friedlich zusammenlebt und sich um Tiere wie um seine Geschwister kümmert.43 Doch der spirituell und zeitlich nächste Verwandte dieses Briten ist der Italiener Franziskus. Und vom Briten Patrick haben wir umgekehrt in der LA eine Tier-Austreibung gelesen. Offenbar gibt es keinen einfachen kultur- oder religionsgeschichtlichen Schlüssel, der diese Unterschiede erklären könnte. Vielmehr lässt sich eine innere Spannung, um nicht zu sagen: eine Dialektik innerhalb des christlichen Umgangs mit den Tieren beobachten – hin und her gerissen zwischen bewahrender Begegnung, ja Freundschaft mit der Natur zu ihrer Zivilisierung, ja Unterdrückung im Namen eines machtvollen Christus. Das Übernatürliche, das Heilige und das Natürliche stehen im Christentum in einem prekär-ambivalenten Verhältnis zueinander. Muss Gnade die Natur zügeln, geradezu besiegen – oder befreit sie diese zu sich selbst? Die Frage scheint in den Christen selbst so wenig aufgelöst wie in der Theologie. Heilige zwischen Tieren Trotz der weitgehenden Abwesenheit des irisch-britischen Überlieferungsstrangs hat diese Spannung ihre Spuren auch innerhalb der LA hinterlassen. Das bisher von ihr gezeichnete Bild verändert sich immer dort, wo die Heiligen wirklich zwischen die Tiere geraten, wo sie ihnen als Individuen begegnen. Manchmal geraten sie wörtlich zwischen die Tiere und müssen sich entscheiden – wie der hl. Thomas von Canterbury, den ein kluger Vogel anruft, als er gerade von einem anderen Vogel, einem Sperber gejagt wird. Thomas wählt die Option für die Verfolgten: „Und sogleich fiel der Sperber tot zu Boden, und der Vogel entkam.“44 Der hl. Martin besitzt so große exorzistische Kräfte, dass er einmal auch eine stößige 71

I. Tierwissen

Kuh von einem Dämon befreit, indem er ihm befielt: „Weiche von diesem Tier, du Unseliger, und hör auf, ein unschuldiges Wesen zu plagen.“45 „Ein persönlicher, nur menschlicher Kontakt zwischen Heiligen und Tieren“ lässt sich in den Legenden tatsächlich nur „in ganz seltenen Fällen“46 erahnen. Da ist etwa jener namenlose Einsiedler, der allen Besitz weggegeben hat „und nur noch eine Katze besaß, die er häufig streichelte und als seine Hausgenossin auf seinem Schoß hätschelte“47. Zwar geht es in der Pointe dieser Geschichte darum, dass wir auch bei völliger Armut immer noch an Weltlichem hängen – aber beim Leser hängen bleibt doch das wärmende Bild von einem Asketen, der sich mehr als über allen Prunk der Welt freut, wenn er „den Schwanz seiner Katze streichelt“. Ebenso anrührend wie völlig unspektakulär wirkt der hl. Remigius, der sich auch noch als Erzbischof von Reims darum bemüht, „dass die Sperlinge an seinen Tisch kamen und ihm die Speisereste aus der Hand fraßen“.48 Man muss wahrlich kein heiliger Wundermann sein, um das zu erleben. Aber die Legende notiert es ebenso wie das Leben des hl. Mamertinus als Hirte seines Klosters, der „zufrieden Ochsen und Kühe hütete“, dem „die Vögel des Waldes … aus der Hand fraßen“ und der einmal ein Wildschwein vor den Hunden rettete und einmal eine Bärin aus der Schlinge49 – und ebenso wie die Praxis des Bischofs Blasius, der schon ganz franziskanisch Vögel und wilde Tiere um sich sammelte, „ihnen die Hand auflegte und sie segnete.“50 Blasius hilft also nicht nur bei verschluckten Fischgräten. Er half auch seinen Tieren mit einem wundersamen Bann gegen die anrückenden Jäger. Dieses Motiv ist also nicht auf Irland und England beschränkt. Der hl. Ägidius lebt als Einsiedler sogar mit einer Hirschkuh „als Amme“ zusammen und schützt sie gegen Jäger, so sehr, dass er einmal selbst einen Jagdpfeil abbekommt.51 Überhaupt müssen Heilige immer wieder im Verhältnis zwischen Menschen und Tieren schlichtend, schützend und heilend eingreifen, und dann liegen die Motive des Tierschutzes und der sozialen Fürsorge nah beieinander. So sorgt der eben erwähnte Blasius einmal dafür, dass eine arme Frau ihr einziges Schwein wiederbekommt. Ein Wolf hatte es geraubt und Blasius bewegt ihn, es zurückzubringen.52 Der hl. Germanus geht da noch weiter: Als ein armer Sauhirte den Missionar gastfreundlich mit dem Fleisch seines einzigen Kalbes beköstigt hatte, ließ er anschließend „alle Knochen des Kalbes auf dem Feld sammeln, und auf sein Gebet hin stand das Kalb unverzüglich wieder auf.“53 Dies ist eine ebenso wundersame wie wunderliche Weise tierfreundlichen Fleischkonsums! Bezeichnenderweise befinden wir uns mit dieser 72

Den Drachen töten und die Spatzen füttern

Anekdote wiederum in Britannien. Germanus sorgt anschließend noch dafür, dass sein Wohltäter König wird, und „seither herrschen über das Volk der Britonen Könige, die aus dem Geschlecht der Sauhirten stammen.“ Ich weiß nicht, ob dies ein Seitenhieb der französischen Germanus-Quellen ist. Jedenfalls setzt Germanus unter dem ersten Sauhirtenkönig seine Praxis der Tierauferweckungen fort. So holt er, zu Besuch im Palast, einmal seinen gerade verstorbenen Reitesel ins Leben zurück, indem er ihn recht unsanft mit „Steh auf, du Schafskopf“ anredet.54 Gewiss: Hier wird es nun wirklich volkstümlich und wir erreichen den Bereich der Burleske. Aber könnte es nicht seinen Sinn haben, dass gerade in diesen am wenigsten theologisch überhöhten, diesen menschlich-allzumenschlichen Geschichten die größte Empathie mit den Tieren aufscheint? „Je mehr der Mensch sich seiner Armseligkeit und Beschränktheit vor Gott bewusst wird, umso enger weiß er sich mit den Tieren verbunden.“55 In wenigen Geschichten kommt diese Verbundenheit so lebendig zum Ausdruck wie in der vom berühmten Löwen des hl. Hieronymus, die erst Jahrhunderte nach dem Leben dieses tatsächlich eher unleidlichen Gelehrten erfunden wurde und ebenfalls „folkloristische Stoffe“ verarbeitet56. Der Löwe des Hieronymus schleicht sich hinkend ins Kloster. Die Brüder heilen seine verletzte Tatze, dann lebt er mit ihnen „wie ein Haustier“.57 Ihm wird sogar die Sorge für den Arbeitsesel des Klosters anvertraut. Irgendwann, als der Löwen-Hirte eingeschlafen ist, kommt eine Händler-Karawane vorbei und raubt den Esel. Natürlich vermuten die Mönche, der Löwe habe nun doch seiner Natur nachgegeben und den Esel gefressen. Zur Strafe muss er die Arbeitsrolle des Esels übernehmen, und der Unschuldige erfüllt sie mit Demut. Später aber kehrt die Karawane zurück, der Löwe erkennt den Esel, die Wahrheit kommt ans Licht. „Danach begann der Löwe, wie er gewohnt war, munter durch das Kloster zu laufen, warf sich den einzelnen Brüdern zu Füßen und wedelte mit dem Schweif.“ Diese Geschichte ist zugleich eine Fabel über das Zusammenleben, über die Uneindeutigkeit von Schuldvermutungen, über Demut und Versöhnung, und eine fabelhafte Weise, vom prophetisch verheißenen Tierfrieden mit den gefährlichen Tieren (Jes 11,6–8) zu erzählen. Gewiss fällt gerade dort, wo es besonders „fabelhaft“ zugeht, die Tendenz der Legenden auf, Tiere zu moralisieren: Es gibt in der LA gute und böse Tiere; es gibt jene, die man vertreiben oder gar, wie die Drachen, töten muss, und es gibt jene unschuldigen, verfolgten oder auch bekehrten und treuen 73

I. Tierwissen

Kreaturen, denen die Heiligen helfen. In dieser moralischen Zoologie liegt – wie unser Durchgang durch das Panorama der Legenden gezeigt hat – durchaus die Gefahr, das Tier als Tier nicht wirklich zu sehen. Es kann dann zum Opfer eines Zivilisierungsfeldzuges werden, der gewissermaßen die gewalttätigen Tendenzen christlicher Missionierung flankiert, es kann auch zur Vertretung aller schwachen Mitkreatur werden, der die christliche Nächstenliebe gilt. Es wird in seiner Fremdheit und Eigenheit aber eher verfehlt. Insofern ist ein großer Teil der gesammelten Legenden gerade in ihrer Ausweitung des Religiösen auf die Tierwelt doch wieder anthropozentrisch strukturiert. Aber kann das religiöse Verhältnis zum Tier letztlich anders strukturiert sein als anthropozentrisch, jedenfalls in dem Sinne, dass die Entdeckung des Tieres für Menschen Teil ihrer spirituellen Orientierung in der Welt insgesamt ist? Wo die Legenden Tiere nicht nur als Objekte des Machterweises der neuen Religion abhandeln, da erscheinen sie wie Spiegel für das menschliche Gottesverhältnis. „Sind die Menschen im Einklang mit Gott, dann auch mit den Tieren; lehnen sie sich gegen Gott auf, dann auch die Mitgeschöpfe gegen sie.“58 Und so sind gerade die volkstümlichen, die märchenhaften Geschichten von Heiligen „zwischen Tieren“ mehr als nur Fabeln, in welchen Tiere vermenschlicht und stellvertretend für menschliche Phänomene stehen. Die Tiere werden hier, auf den stärksten Seiten der Legenden, moralisiert, weil sie mit den Heiligen zusammen als ein Teil erlöster, zu sich selbst gekommener Natur aufscheinen. Nicht zufällig sind es überwiegend Kloster-Kommunitäten, in denen wilde Tiere wie Mitbrüder einbezogen werden. Solche legendären Orte sind Vor-Bilder eines Reiches Gottes, das nicht nur den Menschen gehört. Es gibt einen etwas dunklen Satz von Walter Benjamin, gemünzt auf einen russischen Legenden-Dichter: „Der befreiende Zauber, über den das Märchen verfügt, bringt nicht auf mythische Art die Natur ins Spiel, sondern ist die Hindeutung auf ihre Komplizität mit dem befreiten Menschen.“59 Die mythisch verzauberte, ja gebannte ebenso wie die den Menschen bannende und ängstigende Natur kommt in der christlichen Legende, wie gesehen, durchaus vor. Wo jedoch die Heiligen den Tieren wirklich begegnen, wird dieser Bann gebrochen. Die gläubigen Hörer der aus den Legenden schöpfenden Predigten werden dann Zeugen eines neuen, freien Verhältnisses zwischen Mensch und Natur: Heilige und Tiere werden zu Komplizen der Befreiung der Natur aus ihrer Entfremdung. Sie geschieht nicht mythisch, sondern ethisch und sozial. 74

Den Drachen töten und die Spatzen füttern

Tiere in der Legenda Aurea (Aufgeführt sind nur Tiere, die tatsächlich einen Auftritt als Tiere haben, keine reinen Symbole, Vergleiche oder „Ornamente“, auch nicht rein funktionale Erwähnungen wie Pferd als Reittier oder Ochse als Zugtier.) Auch Franziskus und die Wüstenväter (von mir ausführlicher behandelt in den Beiträgen „Christlicher Animismus“ und „Nackt unter Antilopen“) habe ich hier nicht berücksichtigt. Aber ein Satz der LA zu Franziskus kann doch als Motto dienen: „Fraterno nomine animalia cuncta vocabat.“ (LA 140, S. 1950) (Nr.  und Seitenzahlen nach der Neuausgabe von Bruno W. Häuptli, Freiburg i. Br. 2014) Tier

Heiliger/Legende

LA Nr. (S.)

Vögel

Advent

1 (84–87)

Marianus (bei Mamertinus) 129 (1720 f.) Elisabeth

168 (2198 f.)

Vogel, Sperber (oder Falke)

Thomas von Canterbury

11 (260 f.

Rabe

Einsiedler Paulus

15 (334 f.)

Benedikt

49 (658 f.)

Sperlinge

Remigius

16 (338 f.)

(Turtel-)Taube

Reinigung Mariens

37 (526 f.)

Amsel

Benedikt

49 (654 f.)

Adler

Vitus und Modestus

82 (1076–1079)

Haubentaucher

Martin

166 (2156–2159)

Vögel und wilde Tiere

Blasius

38 (540 f.)

Vögel und Hunde

Primus und Felicianus

80 (1060 f.)

Hund

Martin

166 (2150 f.)

Katze

Gregor

46 (622–625)

Kuh

Germanus

107 (1350 f.)

Martin

166 (2156 f.)

Weihnachten

6 (180 f. u. 192 f.

Ochs und Esel

75

I. Tierwissen

Tier

Heiliger/Legende

LA Nr. (S.)

Esel

Germanus

107 (1352 f.)

Donatus

115 (1452 f.)

Schaf

Patricius

50 (674 f.)

Schwein (und Wolf )

Blasius

38 (542 f.)

Wildschwein

Marianus (bei Mamertinus) 129 (1720 f.)

Stier

Jakobus der Ältere

99 (1280 f.)

Michael

145 (1880–1883)

Einsiedler Paulus

15 (334 f.)

Vedastus

40 (558 f.)

… u. Löwe“, „erbarmungslose Tiere“

Eustachius

161 2072 f.)

Löwe

Einsiedler Paulus

15 (334 f.)

Maria aus Ägypten

56 (776–779)

Primus und Felicianus

80 (1060 f.)

Vitus und Modestus

82 (1076 f.)

Abdon und Sennen

106 (1342 f.)

Chrysanthus und Daria

157 (2036–2039)

Eustachius

161 (2078 f.)

… mit Esel

Hieronymus

146 (1912–1917)

Tigerinnen

Simon und Judas

159 (2016 f.)

Bär

Primus und Felicianus

80 (1060 f.)

Abdon und Sennen

106 (1342 f.)

Wolf

Bärin

Marianus (bei Mamertinus) 129 (1722 f.)

„Bestien“ (Raubtiere)

Euphemia

139 (1820 f.)

Hase

Martin

166 (2150 f.)

Hirsch

Julianus

30 (468–471)

Eustachius

161 (2068–2071)

Aegidius

130 (1726 f.)

Hirschkuh

76

Den Drachen töten und die Spatzen füttern

Tier

Heiliger/Legende

LA Nr. (S.)

Schlange

Amandus

41 (562 f.)

Mamertinus

129 (1718–1721)

Leonhard

155 (2014 f.)

Martin

166 (2150 f.)

Giftige Tiere

Patricius

50 (674 f.)

Schnake und Hornissen

Makarius

18 (354 f.)

Mücke

Bernhard

120 (1588 f.)

Die Knochen toter Tiere

Geburt Johannes d.T.

86 (1114 f.)

Gregor Taxacher

Anmerkungen 1

2 3 4

5

6 7 8 9 10 11

12 13 14

15

Jakobus de Voragine, Legenda Aurea 145, 1880 f. Die Folgenden Zitate aus dieser Stelle; Abkürzung im Folgenden LA. Häuptli, ebd., 1892. Ebd., 1882 f. Vgl. die beeindruckende Übersicht bei Obermaier, Der Heilige und sein Tier, 58–63. Vgl. die Einführung von Häuptli, Bruno W. in: LA, insbesondere S.  14–23 und 35–37. LA 49, 658 f. LA 82, 1076 f. LA 168, 2198 f. LA 1, 86 f. LA 6, 180 f. und 192 f. LA 30, 468 ff. in der romanhaften Erzählung um den fiktiven Heiligen Julianus. LA 161, 2068 f. auch dies eher ein „Roman“. Zitiert bei Herzog, Vorschein der „neuen Erde“, 261. Ebd., 253.

16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32

33

77

Vgl. LA 80, 1060 f., 82, 1076 f., 106, 1342 f., 139, 1820 f., 161, 2078 f., 99, 1280 f., 157, 2036–2039. Vgl. dazu LA, 1077 Anm. 12. Vgl. ebd., 1061, Anm.  8 und 1343, Anm. 5. LA 50, 674 f. LA 5, 258 f. Nitschke, Tiere und Heilige, 76. LA 161, 2072 f. LA 58, 812–817. LA 115, 1452 f. LA 99, 1280 f. LA 159, 2060 f. LA 50, 674 f. LA 41, 562 f. LA 129, 1718–1721. LA 155, 2014 f. LA 166, 2150 f. und 2156–2159. LA 40, 558 f. zum hl. Vedastus. LA 120, 1588  f.; vgl. dazu in diesem Buch das Kapitel „Die Mücken des Makarios“ (S. 226–240). LA 49, 654 f.

I. Tierwissen 34 35

36

37 38 39 40 41 42 43

44

Vgl. in diesem Buch das Kapitel „Nackt unter Antilopen“ (S. 168–183). So das Urteil von Nitschke, Tiere und Heilige, 80, das ich mit Blick auf einige Wüstenväter ein wenig relativieren würde. Zitiert nach: Bernhart, Heilige und Tiere, 108. Zu Kolumban auch: Kompatscher Gufler, Heilige und Tiere, 45 f. Erzählt ebd., 80. Ebd., 85. Vgl. ebd., 89 f. und 92–95. Ebd., 87. Vgl. Nitschke, Tiere und Heilige, 88 f. Ebd., 90. Zu Goderich die Geschichten bei Bernhart, Heilige und Tiere, 167–181, und bei Kompatscher Gufler, Heilige und Tiere, 49–51; dazu Nitschke, Tiere und Heilige, 91–93.

45 46 47

48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59

78

LA 11, 260 f. LA 166, 2156 f. Nitschke, Tiere und Heilige, 78. LA 46, 622  f. „Dieselbe“ Katze taucht übrigens auch beim hl. Basilius auf (LA 26, 416 f.). LA 16, 338 f. LA 129, 1720–1723. LA 38, 540 f. LA 130, 1726 f. LA 38, 542 f. LA 107, 1350 f. LA 107, 1352 f. Nitschke, Tiere und Heilige, 99. So in LA, 1913, Anm. 22. LA 146, 1912–1917. So Ruster, Die katholische Lehre vom Urstand, 346. Benjamin, Der Erzähler, 404.

Das Ich im Anderen Die Nähe zwischen Tieren und Kindern

Lange Zeit bevor die frühesten Menschen die Welt bevölkerten, durchstreiften Tiere die Wüsten, Steppen, Wälder, Wiesen und Berge der Welt, durchzogen sie ihre Küsten, durchschwammen ihre Meere und Flüsse und kreisten über den Wipfeln der Bäume. Mag man auch die heutige Ausbeutung der Tiere und die gewaltsame Vernichtung ihrer Lebensräume als ein erdzeitgeschichtliches Lehrstück darüber verstehen wollen, dass die pure Möglichkeit einer Menschheitsgeschichte ohne Tiere in greifbare Nähe rückt und den meisten Zeitgenossen gleichwohl nur wenig Bedauern abnötigt, so lässt zumindest der rückwärtsgewandte Blick nicht den Hauch eines Zweifels: Eine Geschichte des Menschen ohne die Tiere hat es bis zum heutigen Tag nie gegeben. Schon die erste Schöpfungserzählung blickt ganz ähnlich auf die Erschaffung des Menschen: Er wird in den Kreis der übrigen Geschöpfe hineingeboren (Gen 1,24–28), so wie dann auch Christus als Kind in der Krippe, einem Futtertrog für Tiere, Ruhe findet (Lk 2,12). Schaut man auf eine solche menschheitsgeschichtliche Weise auf die Tiere, kommt es uns bisweilen vor, als sei die augenzwinkernde (und wunderbar plattdeutsch getönte) Antwort des Igels in der Fabel vom Hasen und Igel immer auch jene Antwort aller Tiere auf die fragenden Blicke der ersten Menschen, die mit so großem Erstaunen der Fülle und Schönheit der sie umgebenden Tierwelt begegnet sein müssen: „Ick bin allhier!“ – Sie sind schon längst, immer schon, da. Gute Gründe sprechen also dafür, nach einer nicht nur evolutionsbiologisch zu verstehenden oder rein genetisch fassbaren Verwandtschaft 79

I. Tierwissen

von Menschen und Tieren zu fragen. Als unsere „ältere[n] Brüder“1, aber auch als „alte Eltern“ mögen sie uns bisweilen erscheinen, „gegen die wir eine Weile revoltiert haben, und die eines Tages, geschwächt, der ehemaligen Macht beraubt, unseren Schutz verlangen“2. Gelegentlich  – und deutlich vermehrt offenbar in zeitgenössischen Kontexten – wirken sie auf uns auch als verkindlichte und auf diese Weise die phylogenetischfamiliären Bande erhaltende Wesen. Die Nähe zwischen Menschen und Tieren wird vielleicht am sichtbarsten in den Beziehungen, die Kinder zu Tieren haben können. Selbsterfahrungen, Tiererfahrungen, Gotteserfahrungen In der Tat kann man unterstellen, dass Tiere in den einprägsamsten Kindheitserfahrungen der allermeisten Menschen unmittelbar eine Rolle spielen. Das theologische Potential in diesen Erfahrungen ist wohl noch unausgelotet und liegt doch so nah: Schließlich lernen Kinder an Tieren nicht zuletzt jene Eigenschaften, die in der Theologie lange für Gott reserviert waren  – die vollkommen unverdiente Gnade, die Kinder erleben, wenn Tiere sich ihnen freundschaftlich zuwenden, bedingungslose Liebe unabhängig von aller Leistung, bisweilen aber auch eine erschreckende Fremdheit und Andersartigkeit. Vielleicht verbindet aber noch eine weitere theologische Dimension die Beziehung zwischen Kindern und Tieren: Die Erfahrung unschuldigen Leidens, und die des eigenen Schuldigwerdens. Der Schriftsteller Ferdinand von Schirach berichtet von solch einem frühen Erlebnis: „Als es passierte, war ich noch sehr jung, elf oder zwölf Jahre alt. Wir übernachteten auf einer großen Holzhütte, die zu unserem Internat gehörte. Die Hütte war auf einem Berg, vier Stunden zu Fuß entfernt, aber dort oben war eine andere Welt, es gab nur die Bäume und die Wiesen und den Himmel und nichts sonst. Es hatte die ganze Nacht geschneit. Am Morgen trat ich vor die Tür, ich sollte Holz für den Kamin holen. Das Reh lag hinter dem Holzstapel. Es lebte noch, sein linker Hinterlauf war in der Eisenfalle eingeklemmt, der Knochen war gesplittert, und es hatte zu viel Blut verloren. Wir hatten die Falle auf dem Dachboden gefunden. Wir hatten sie aufgeklappt und Sonnenblumenkerne und Haferflocken davorgelegt, wir hatten uns vorgestellt, dass wir einen Wolf fangen würden oder einen Bären. Eigentlich hatte keiner daran geglaubt, dass wir überhaupt etwas fangen würden, 80

Das Ich im Anderen

weil solche Dinge ja nie funktionieren. Aber jetzt lag dort das Reh, und wir waren schuld. Ich rief den Pater und die anderen. Der Pater war ein alter Mann. Er war im Krieg gewesen und erst danach zu den Jesuiten gegangen. Er sagte nichts. Er nahm einen Stein, kniete sich in den Schnee und schlug den Schädel des Rehs ein. Dann ging er in die Hütte, holte Schaufeln und gab sie uns. Wir gruben den ganzen Tag, der Boden war hart gefroren, aber es war gut, etwas für das Reh zu tun, das wir getötet hatten. Schließlich standen wir vor dem Erdhaufen, in dem das Reh jetzt lag. Wir waren müde, und wir schämten uns. Der Pater sagte nichts von einem Geschöpf Gottes, er stellte auch kein Kreuz auf, und er sprach kein Gebet. Er hatte noch Blut an seiner Soutane und an seinen Händen. Er sagte nur einen einzigen Satz an diesem Tag. […]3“

Ein Prototyp der ersten Tiererfahrungen, die Kinder machen, ist das: Sie umfassen das Schuldigwerden, auch aus purer Unkenntnis oder Unvermögen, die erschütternde Erfahrung des versehrbaren Lebens, die Kinder zu Anfang wohl weniger an Menschen als an Tieren erleben. Von Schirachs Bericht reicht zu Beginn sogar in einen tieferen biblischen Resonanzraum zurück und scheint entlang dieses ‚Fallen-Unfalls‘ die große Erzählung vom Sündenfall zu variieren, die ebenfalls dem menschlichen Hang nachrätselt, zwar freiheitlich wählen und entscheiden zu können, sich aber gleichwohl prompt zu verwählen. Auch sie kennt das hier anklingende Motiv somnambuler Entscheidungen, die auf den ersten Blick zwar frei, aber doch von anderen Einflüssen begünstigt erscheinen. In ihren Folgen strahlen sie auf die Handlungen anderer Beteiligter aus: Auch der herbeigerufene Pater lässt sich, wenngleich aus tiefem Mitgefühl für das Reh, in den Sog des Tötens hineinziehen. Auf diese Weise begegnen wir in von Schirachs kurzem Kindheitserfahrungsbericht dem Reh nicht zuletzt auch als einer Chiffre geheimnisvoller Schuld, die für sich allein genommen zweifellos einer sehr pessimistischen und bedrückenden Lektüre dieses Berichts das Wort reden würde. Zugleich aber schafft es etwas im Text, uns noch eine andere Bewertung des kindlichen Handelns nahezubringen. Bei sorgsamer Lektüre beobachten wir im Verlauf des Berichts einen auffälligen Umschwung, der die Beziehung zwischen dem jungen Protagonisten und dem Reh betrifft. Mit dem Aufstellen der Falle reproduziert der Junge zunächst eine der ältesten Mensch-Tier-Konstellationen, indem er sich als Jäger der zunächst noch ungenau definierten wilden Tiere entwirft („… uns vorgestellt, dass wir einen Wolf fangen würden oder einen Bären“); genauer noch: als ein Kollektiv von Jagenden, deren Mitglieder mit Ausnahme des durch seine 81

I. Tierwissen

Erzählhaltung herausragenden Jungen nicht weiter individualisiert werden. In ihrem zwar spielerischen Jagdverhalten kommt die Gruppe jenem Moment der Auflösung der bekannten Formen der Subjektidentität nahe, die Felix Guattari und Gilles Deleuze mit der Denkfigur des „Tier-Werdens“ beschrieben haben: Tiere sind für die beiden französischen Philosophen bzw. Psychoanalytiker weniger eine ontologische oder biologische Größe als vielmehr ein Moment des nicht-identitären Denkens, das wir als Beschreibung für jene Momente des Verschwimmens gebrauchen, in denen vermeintlich eindeutige Subjektivitäten durcheinander geraten: Nicht selten sind doch die ersten Worte von Kindern in ihrer Muttersprache (!) ein freudiges „Miau“ oder „Wauwau“. Auch im Text wird das kindliche Subjekt mit den anderen zur jagenden „Meute“4, sie treten besonders in der auffälligen Kollektiv-Anapher des „wir“-Personalpronomens als solche hervor: „Wir hatten die Falle auf dem Dachboden gefunden. Wir hatten sie aufgeklappt und Sonnenblumenkerne und Haferflocken davorgelegt, wir hatten uns vorgestellt,…“. Nun endet die Pointe des Tier-Werdens bei Guattari und Deleuze gerade nicht in der puren Auflösung aller Subjektivität, sondern führt dialektisch immer wieder auch zu ihr zurück: „Denn der Affekt ist kein persönliches Gefühl und auch keine Eigenschaft mehr, sondern eine Auswirkung der Kraft der Meute, die das Ich in Aufregung versetzt und taumeln lässt. Wer hat nicht die Gewalt dieser Tiersequenzen erlebt, die einen wenn auch nur für einen Augenblick, aus der Menschheit herausreißen und einen sein Brot wie ein Nagetier zusammenkratzen lassen oder einem die gelben Augen einer Raubkatze verleihen? Eine schreckliche Involution, die uns zu ungeahnten Arten des Werdens treibt.“5 Erst am Anderen entwickelt sich das eigene Ich, dies mag besonders für die Begegnung von Kindern und Tieren gelten. Alle erkennbaren singulären SubjektFormulierungen vor dem ‚Fallen-Unfall‘ im Text erscheinen so besehen mit einem Mal merkwürdig blass: Einmal erscheint das Ich als von einer vorgegebenen Norm geleitet („Am Morgen trat ich vor die Tür, ich sollte Holz für den Kamin holen“), ein weiteres Mal sichtlich unschlüssig („Eigentlich hatte keiner daran geglaubt, …“). Erst im Angesicht des sterbenden Rehs treten sowohl dessen Individualität wie auch die des Erzählers am bislang klarsten hervor – er ruft die (nun als solche von ihm unterschiedenen) Anderen und den Pater. Und plötzlich erleben wir, wie sich auch die Beziehungsebene zwischen dem Erzähler und dem sterbenden Reh verändert: Was im Text als Jäger-Beute-Beziehung, als Abgrenzungsverhalten, begann, kippt in ein Verantwortungsverhältnis, der erzählende Junge schafft sich 82

Das Ich im Anderen

eine beziehungsfähige, das heißt auch als Subjekt erlebte Version der vormals bejagten Tierwelt, er erweist sich in diesem letzteren Sinne gar als Subjekt einer schöpfungstheologisch fundierten Beziehungsethik, im erlebten Wissen um die Wandelbarkeit der (Beziehungs-)Verhältnisse. Eben diese Dialektik von Innen und Außen, Selbstheit und Fremdheit, Ich und Anderen scheint für das Verhältnis von Kindern und Tieren von entscheidender Bedeutung zu sein. Mit der Geburt erfahren sich Kinder der permanenten Spannung zwischen dem Ich und dem Du ausgesetzt, die zugleich konstitutiv für den Aufbau der eigenen Identität ist, die sich an anderen Identitäten herausbildet, bekräftigt, aber eben auch verflüssigen kann. Die klassischen Bildungstheorien waren nicht in der Lage, dieser Dialektik insofern etwas Positives abzugewinnen, als diese eben nicht nur das beständige und sich stetig vertiefende Herauskristallisieren der eigenen Identität beschrieb, sondern auch den rückwärtsgewandten Prozess des Verschwimmens dieser vermeintlichen klaren Subjektgrenze. Insbesondere die Entwicklungspsychologie verfolgte lange Zeit eine solche Defizitdeutung der kindlichen Ambivalenz gegenüber der für die Erwachsenen scheinbar so klaren Subjekt-Objekt-Trennung, und sie tut dies bis heute, wenn sie die kindliche Fähigkeit des Changierens zwischen diesen beiden Polen als Ergebnis jenes unverarbeiteten Bruchs mit der vorgeburtlichen Muttersymbiose pathologisiert. Diese Deutung lebt fort in der pädagogischen Leitlinie, der zufolge Kindern und Jugendlichen jede Form anthropomorphen Denkens abzugewöhnen sei. Wenn Kinder von der Belebtheit der sie umgebenden Tiere in einer Form überzeugt sind, dass diese als Träger von Gefühlen, Sehnsüchten, Hoffnungen oder gar Denkprozessen erscheinen, dann fordert die moderne Pädagogik zu energischer Intervention auf. Im Gefolge der Entwicklungstheorien von Lawrence Kohlberg und Jean Piaget hat sich diese pädagogische Kampflinie dahingehend verschoben, dass sie die erzieherische Toleranz gegenüber kindlichen Anthropomorphismen um den Preis ihrer gleichzeitigen Banalisierung erhöht hat: Der erfahrene Lehrer, dem Kinder von lachenden Hunden oder weinenden Ochsen berichten, muss diese nicht mehr unbedingt maßregeln, weiß er doch insgeheim: Ein Weilchen noch, dann wird auch diese Phase vorbeigehen. Sie wird von den Modellen der Entwicklungspsychologie in der Regel als basalste Stufe aufgefasst, die es im Verlauf der kindlichen Entwicklung durch ein vermeintlich höherwertiges, da abstraktes, naturwissenschaftlich angelegtes Verstehensmodell abzulösen gilt. Das Ergebnis können wir bei nicht wenigen Kindern und Jugendlichen und allzu oft auch bei uns selbst 83

I. Tierwissen

beobachten, wenn das jeweilige Naturverständnis auch in Folge letztgenannter Theorieideale derart abstrakt ist, dass wir keinerlei sinnliche Verbindungspunkte mehr für sie haben oder Natur nur noch als ein bloßes Verfügungsgut betrachten. Die Beobachtung, dass unser Naturverständnis, wie wir es Kindern vermitteln, immer mehr zu einem bloß intellektuellen Konzept zusammenschrumpft, ist besonders von Richard Louv kritisiert worden: Selbst ausgewiesene Erfahrungsorte von Natur wie etwa die Naturschutzgebiete lassen paradoxerweise kaum noch Möglichkeiten für eigene kindliche Naturerfahrungen, da sie (aus durchaus nachvollziehbaren Gründen) mit Verboten überfrachtet sind.6 Entgegen unserer Intuition ist Natur also nicht automatisch dort, „wo Papa ein Lagerfeuer anmacht“7; viele Orte können sogar sehr künstlich sein und kaum Entfaltungsfreiraum lassen, insbesondere, wenn sie mit gut gemeinten Regulierungsbemühungen verbunden sind, wie sie der elterliche Blick auf das Lagerfeuer mit all seinen potentiellen Gefahren zu Tage fördern mag. Die Folgen einer verzweckten Natur Gerade in letzterem Sinne können wir also nicht bloß eine Vernichtung tierlicher Lebensräume feststellen, sondern wir verzeichnen auch, dass diese Entwicklung gleichermaßen die Erfahrungsräume von Kindern (und Erwachsenen) tangiert. Die neuere Entwicklungspsychologie beharrt allerdings darauf, dass Kinder freie und unverzweckte Naturräume brauchen – der US-amerikanische Psychologe Sebastiano Santostefano meint etwa, dass Kinder im Umgang mit Natur und Tieren ihre Probleme bewältigen und Natur entsprechend ihrer emotionalen Lage interpretieren. Weil dieser Zuschreibungsprozess allerdings offen ist, bedarf er einer ebenso offenen Umwelt.8 John Dewey, der vielleicht prominenteste US-amerikanische Pädagoge, hat schon früh vor der Abspaltung der Sekundärerfahrungen von den Primärerfahrungen gewarnt: Wenn der neuzeitlich zusammengekürzte, naturwissenschaftlich fassbare Erfahrungsbegriff des Quantifizierbaren (d. h. die Sekundärerfahrungen) nicht mehr mit den Primärerfahrungen hinter ihnen, dem Sehen, Tasten, Hören, Riechen und Schmecken zu vermitteln seien, drohe, so Dewey, eine Entpersönlichung des menschlichen Lebens.9 Das mag auch mit einem wissenschaftstheoretischen Defizit zusammenhängen, schließlich verfügte erstaunlicherweise gerade die Biologie, also die Lebenswissenschaft, bis etwa ins 19. Jahrhundert hinein über 84

Das Ich im Anderen

keinen eigenen elaborierteren Begriff davon, was Leben überhaupt bedeutet. Natürlich entstehen derartige blinde Flecken in allen unterschiedlichsten Wissenschaftsbereichen, dennoch lässt sich aufgrund dieser lange Zeit unklaren Bedeutung des Lebensbegriffs innerhalb der Biologie beobachten, dass biologische Modelle womöglich aus diesem Grund starke Anleihen bei physikalischen Theorien machten: Erkenntnisse über das, was Leben bedeutet, wurden analog zu kosmischen oder mechanischen Modellen entwickelt, die nach physikalischen Kräfteverhältnissen fragten und in der Folge entsprechende Antworten beförderten: Leben schien dann ein Ausdruck kausaler, aufeinander wirkender, messbarer Kräfte zu sein, so wie es selbst noch etwa unser Bild der Genetik bestimmt. Bis heute zehrt auch der schulische Biologieunterricht von dieser Überzeugung: „Biologie ist eine von vielen Übungen des Logos, des Denkens, aber sie hat sehr wenig mit Bios zu tun, mit Leben.“10 Mittlerweile sind auch andere Stimmen laut geworden, die die Einschätzung eines den Kindern zu vermittelnden abstrakten, bisweilen mechanischen Naturbegriffs sehr kritisch betrachten. So meint etwa die US-amerikanische Psychologin Louise Chawla, dass die kindliche Wahrnehmung von Tieren als durchaus autonomen Wesen, die über eigene Gefühle und eigene Formen des Bewusstseins verfügen, notwendige Bedingung eines autonomen und fühlenden Agierens und Interagierens sei11 – damit ist sie noch nicht allzu weit von den Entwicklungsmodellen Piagets und Kohlbergs entfernt, markiert aber deutlicher als diese die herausragende Leistung kindlicher Wahrnehmung. Zu fragen wäre, wie wir mit dieser Perspektive auf Tiere (und man kann ergänzen: auf die uns umgebende Natur insgesamt) jenseits von Theoriebildungsbelangen umzugehen haben. Es scheint jedenfalls so zu sein, dass diese besondere Perspektive vermehrt als Schlüssel zu dem vielleicht gravierendsten Problem unserer Umweltwahrnehmung taugt, jener sagenhaften Gleichgültigkeit gegenüber anderen Formen des Lebens. Der US-amerikanische Ökopionier Theodore Roszak sieht daher in der modernen Konvention, Innen- und Außenwelt sauber voneinander trennen zu wollen, die Ursache für diese Haltung der Ignoranz, die uns den ebenso naiven wie bequemen Gedanken erlaubt, mit der ‚natürlichen‘ Welt um uns herum selbst gar nichts zu tun zu haben.12 Unterschiedlichste Formen tiergestützter Therapie bauen auf der Erkenntnis auf, dass dieser Weg der vollständigen Trennbarkeit von Innen und Außen, Selbst- und Fremdsein vermehrt Pathologien befördert, die über den wiederhergestellten Kontakt mit Natur, mit Tieren und Pflanzen zu heilen sind. Entsprechende 85

I. Tierwissen

Forschungen weisen darauf hin, dass beispielsweise allein schon das bloße Betrachten eines Aquariums blutdrucksenkende Funktion hat,13 und ganz ähnlich belegen auch die Erfolge der tiergestützten Therapie die herausragende Bedeutung der Nähe zu den Tieren. Kenotische Erfahrungen Aber wie genau ist diese Wirkmächtigkeit zu erklären? Auf zwei Antworten beziehe ich mich im Folgenden, wobei spätestens mit der zweiten Antwort auch unser theologisches Anliegen genauer an Kontur gewinnen soll. Die erste Antwort ist zunächst neurobiologischer Natur und geht zurück auf die italienischen Mediziner Rizzolatti und Gallese, die 1992 mit ihrer Entdeckung der sog. Spiegelneuronen für Aufsehen sorgten. Diese Spiegelneuronen sind in der Großhirnrinde zu finden, nachgewiesen wurden sie bei Menschen sowie bislang bei einigen (anderen) Tierarten. Spiegelneuronen wirken, indem sie dafür sorgen, dass ein Individuum beim Anblick anderer Individuen deren körperliche Befindlichkeiten unmittelbar an sich selbst erfährt. Gemeint sind jene Widerfahrnisse, die uns unwillkürlich überkommen, wenn wir etwa mit Schmerz verzerrtem Gesicht zurückzucken, sobald jemand anderes sich aus Versehen die Hand an einer heißen Herdplatte verbrennt, vielleicht auch dann, wenn wir an der Ampel neben einem überfüllten Tiertransporter zum Stehen kommen und hinter den Blicken zusammengepferchter Schweine deren Pein erahnen, über die auch kein LKW-Aufdruck mit grinsenden Comicschweinen hinwegtäuschen kann. Eine solche Erkenntnis scheint immun gegen die Anfeindungen jenes modernen wissenschaftstheoretischen Generalverdachts, der alle Formen intuitiver Evidenz mit einem schnellen „aber eigentlich …“ relativiert. Die Entdeckung der Spiegelneuronen war gerade aus diesem Grund bemerkenswert, weil sie unser Bild von den möglichen Formen verändert hat, mittels derer wir beim Anderen sein können. Die bis dato wohl einleuchtendste Antwort hat dafür in der Hauptsache kognitive Wege vorgeschlagen: Wir können natürlich an den oder die jeweils Andere/n denken, uns vorstellen, wie es ist, eine andere Person zu sein. Die Wirkung der Spiegelneuronen geht aber darüber hinaus, indem sie eine spiegelbildliche Nähe im unmittelbaren Erleben behauptet, eine Form der Stellvertretung, die uns beim Anblick der Schlachtschweine ebenso überkommen mag wie beim Erblicken spielend herumtollender Lämmer. 86

Das Ich im Anderen

Es verwundert nur auf den ersten Blick, dass gerade die Theologie darin eine ihr gut vertraute Tradition erkennt, schließlich behauptet sie mit der theologischen Entfaltung des Sühnetods Christi, also einer Kernaussage des christlichen Glaubens, eben diesen Gedanken: Leben kann für einander einstehen, ohne dabei die jeweilige Individualität der Wesen zu verletzten, ohne beliebig oder austauschbar zu werden. Der Philipperhymnus (Phil 2,5–11) bringt diese Gedanken auf die christologische Formel der Kenosis, der Selbstentäußerung. Auch sie ist uns in ähnlicher Form bereits begegnet, als wir die Dialektik von Selbstsein und Fremdsein in der Begegnung von Tieren und Kindern betrachtet haben. Selbstentäußerung kann dann ganz Ähnliches bedeuten, nämlich das Selbstwerden durch die Entäußerung, das heißt auch am Äußersten: am je anderen Wesen. Die spezifisch theologische Form dieses Gedankens scheint mir hier sehr wichtig zu sein, um einem Missverständnis der zuvor genannten Dialektik vorzubeugen, schließlich ließe sich dieser Gedanke in einen rein funktionalistischen Mechanismus umdeuten, der das jeweils Andere als reines Mittel zur Selbstwerdung versteht. Diese Logik mag mit der Geschwindigkeit der Falle aus unserer Geschichte zuschlagen, aber sie untergräbt de facto die Bedeutung des Anderen, indem sie ihn, konsequent zu Ende geführt, nicht er selbst sein lässt, sondern sich den Fremden zu eigenen Zwecken aneignet, womöglich sogar: einverleibt. Kenosis meint dagegen etwas grundverschiedenes, indem der Begriff die Riskiertheit der sicher schwerer zu verstehenden Paradoxie auf sich nimmt, dass gerade jener sein Leben gewinnt, der es verliert (Mt 10,39). Die sich hinter diesem Begriff abzeichnende Erfahrung ist dennoch außerordentlich und erschüttert unsere alltäglichen Deutungskategorien: Wir sind es gewohnt, dass wir unser Selbstsein gerade dann als besonders wertvoll erleben, wenn es sich möglichst stark von allen anderen abhebt. Man könnte die moderne Logik des Individualismusdiktats in der Formel zusammenfassen: „Wer von allen anderen maximal unterschieden, also maximal individuell ist, der/die ist zugleich maximal sie/er selbst.“ Selbstsein und Anderssein sind (spätestens in der Moderne) miteinander konkurrierende Größen. Die Kenosis-Erfahrung verdeutlicht, dass diese Konkurrenzlogik nicht zutrifft. Dass Christus sich entäußert, heißt auch, dass er in seinem Leben tatsächlich ans Äußerste geht, an die Grenze dessen, was er ist. Die Moderne würde diese Erfahrung womöglich als Auflösung des Selbst, zumindest als eine Gefahrensituation der eigenen Identität deuten, ganz anders aber der Philipperhymnus: Gerade weil Christus ans Äußerste seiner selbst geht, wird er als der erkennbar, der er wirklich ist: Selbstsein 87

I. Tierwissen

und Anderssein sind hier nicht mehr als Konkurrenz gedacht, sondern bedingen einander. Wir können theologisch davon ausgehen, dass die Erfahrung der Selbstentäußerung Christi auch deswegen als sinn- und bedeutungsstiftend erlebt wurde, weil sie eine Grunderfahrung des Volkes Israel mit Jahwe neu kontextualisiert: Im AT bzw. in der rabbinischen und auch kabbalistischen Tradition begegnet uns der Gedanke der Schechina Gottes, d. h. der Einwohnung Gottes in der Welt und unter den Menschen. Gott gibt sich weg an sein Volk, er leidet seine Leiden mit, er zieht mit ihm durch Elend und Fremde: Er entäußert sich, um zu dem zu werden, der er ist.14 Kenosis fordert von Christinnen und Christen also eine andere Sicht auf die Schöpfung: In ihr soll, selbst noch im Geringsten (vgl. Mt 25), Gott selbst erkannt werden. Zu dieser verwegenen, da Subjekt und Objekt transzendieren Sicht, gelangt die Formel wohl letztlich auch aus einem schöpfungstheologischen Grund: Denn das Wiederkennen Gottes in den Geschöpfen ist keine reine menschliche Eigenleistung, zu der es lediglich ausreichender kognitiver Reflexion bedürfte, sondern vorgeprägt dadurch, dass Gott sich in seinem Geschöpf, dem Menschen, selbst erkannt hat: Die Gottesebenbildlichkeit – „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn.“ (Gen 1,27) – bildet die Grundlage dafür. Die Grenze von Gott und Welt, von Schöpfer und Geschöpf wird dadurch aber nicht aufgehoben – der Philipperhymnus vertritt keinen Pantheismus. Gerade die Annäherung Gottes an die Welt, seine Kenosis, verwischt die Grenze zwischen Schöpfer und Geschöpf nicht bis zur Unkenntlichkeit, sondern zeigt, wie sie beibehalten, aber neu verstanden werden muss. Der evangelische Theologe Henning Luther hat mit aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass auch die Kenosis nicht so auszulegen sei, dass es einem christlichen Verständnis gelungenen Lebens darauf ankäme, selbsterbrachte Vollendung, ein in sich geschlossenes, rundes Bild von sich selbst zu erschaffen. Jesu Leben lässt sich mit Henning Luther nur als „Fragment“ begreifen, und gerade darin als exemplarisch: „Das eigentümlich Christliche scheint mir nun darin zu liegen, davor zu bewahren, die prinzipielle Fragmentarität von Ich-Identität zu leugnen oder zu verdrängen. Glauben hieße dann, als Fragment zu leben und leben zu können.“ Und weiter: „Es ist nicht wahr, dass der Glaube den Menschen mit sich selbst identisch macht. Der Sünder will mit sich selbst identisch werden. Der Glaubende unterscheidet sich vom Sünder nicht dadurch, dass er der endlich mit sich selbst identisch gewordene Mensch ist. Sondern vom Sünder unterscheidet sich der Glaubende dadurch, dass 88

Das Ich im Anderen

er nicht mehr mit sich identisch zu werden braucht. Als Glaubender ertrage ich die Unterscheidung des Menschen von sich selbst, indem ich Gott zwischen mir und mir wohnen lasse.“15

Für die Bedeutung, die Tiere (nicht nur) für Kinder haben können, ist dieser Gedanke auch aus einem weiteren Grund wertvoll. Es bedarf nicht allzu viel Fantasie, um die weniger schönen Bilder von frühen Kind-TierBegegnungen wachzurufen: Bilder von sterbenden Haustieren, von den eingeschüchterten Blicken der in Tierheimen zurückgelassenen Katzen und Hunde, von auf Autobahnen achtlos überfahrenen Mardern oder Hasen, Bilder aus grausamen Schlachthof-Dokumentationen, die im Fernsehen nicht schnell genug weggeschaltet wurden, von blutenden Rehen in Jagdfallen. Der französische Philosoph George Bataille schrieb dazu: „Durch das Tier öffnet sich vor mir eine Tiefe, die mich anzieht und die mir vertraut ist. In gewissem Sinne ist diese Tiefe mir bekannt: es ist die meine.“16 Wenn dies zutrifft, erblicken Kinder (und wir tun es gleichermaßen) besonders im Leid der Tiere immer auch die Möglichkeit radikal eigener Zerstörung. Der Lauf der Schöpfung wird im Blick, den Kinder auf Tiere werfen, nicht nur in der sich immer weiter entfaltenden Richtung betrachtet, sondern auch mit der Möglichkeit konfrontiert, dass er bis an den Rand der Dunkelheit vor der Schöpfung ins Nichts zurückgedreht werden könnte. Angesichts dessen kann es kaum wundern, dass die kindliche Gabe des Einfühlungsvermögens zuweilen in ihr Gegenteil umschlagen muss: Führt unsere Gesellschaft den Kindern an den Tieren nicht immer aufs Neue und beinahe drohend vor Augen, dass sie allzu häufig keinerlei Erbarmen kennt, wenn es darum geht, Lebewesen um ihr Lebendigsein zu bringen und einem sinnlosen Sterben zu überlassen? Die Solidarität des Lebendigen Wenn Kinder also, um diese Selbstblockade zu verhindern, die Erfahrung machen müssen, dass ihr Mitgefühl nicht nur lähmend, sondern viel eher auch bereichernd sein kann, ohne dass sich dabei das Herz verkrampft, wie es die Entwicklungspsychologen Gerald Hüther und Herbert Renz-Polster vorschlagen17, dann ist die von Hennig Luther zuvor formulierte Einsicht in die Würde des fragmentarischen Lebens womöglich entscheidend. Vielleicht können uns die Tiere eben dieses lehren: Leben verliert, auch wenn 89

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es (biologisch) scheitert, nicht an Würde – diese Erkenntnis scheint auch den jungen Erzähler in unserem eingangs erwähnten Bericht zu beschleichen, schließlich beharrt er im Angesicht des sterbenden Tieres darauf, dass es gut sei, „etwas für das Tier zu tun, das wir getötet hatten“. Schon syntaktisch findet hier zusammen, was vormals unvereinbar schien, dass es Gutes im Angesicht des Schlimmsten geben kann. Ähnlich, wenngleich abschiedlicher, scheint auch der herbeigerufene Jesuiten-Pater zu denken, dessen wortkarge Reaktion sein kriegsgeprägtes Wissen um die Verletzlichkeit des Lebendigen begleitet. Fast erscheint es, als habe er im Krieg ganz ähnliche und ebenso schreckliche Erfahrungen sammeln müssen wie der französische Philosoph Emmanuel Levinas, der in Nazi-Deutschland lange Zeit inhaftiert war. Wie Levinas scheint auch der Jesuiten-Pater in dem sterbenden Reh beim Blick in dessen Antlitz der Erfahrung ausgesetzt zu sein, dass das Ethische eben dort in uns aufbricht: Das Antlitz des anderen ist nicht, so Levinas, gleichbedeutend mit dessen Gesicht (Levinas erahnte wohl schon den späteren Generalverdacht des Anthropomorphismus), sondern mit dem Ausdruck der nackten Tötbarkeit des je Anderen.18 Einen einzigen Satz spricht der Jesuiten-Pater an diesem Tag. In meinen wenigen Stunden schulischen Religionsunterrichts habe ich diese Stelle gern als ‚Soll-BruchStelle‘ des Textes verwendet, und die Schülerinnen und Schüler einen eigenen Schlusssatz schreiben lassen, den sie dem Pater in den Mund legen sollten. Viele von ihnen erkannten die Nähe des Textes zu den ihnen curricular bedingt bereits vertrauten Fabeln, so dass sich bisweilen moralisierende Schlusssätze ergaben, vor denen die Kinder und Jugendlichen weniger zurückschreckten als wir es vielleicht zu tun pflegen. Im Schlusssatz, wie von Schirach ihn formuliert, scheint sich eine ähnlich starke, wenngleich sprachlich nicht sofort als solche erkennbare Normativität auszudrücken: „Wir alle“, sagte der Pater, „haben nur dieses eine Leben.“ Ich habe das nie wieder vergessen.

Wenn es stimmt, dass Kinder heute in einer Zeit ohne absolute biologische Gewissheiten aufwachsen19, dann liest sich der Satz des Paters durchaus als Gegenrede dazu: Das Leben und die Lebendigkeit selbst erscheinen als Gewissheit, die zugleich andere vermeintliche Gewissheiten im Umgang mit ihnen fragwürdig erscheinen lassen. Im Unterricht haben wir einmal darüber diskutiert, ob der Pater sich mit diesem Satz nicht als regelrecht unchristlich outet – wo schließlich bleibt hier der hoffende Glaube an ein den Tod überwindendes Gottesreich, wenn zugleich alles erwartbar Christli90

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che – es gibt keine Grabrede über die Geschöpflichkeit, kein Gebet, kein Kreuz – außen vor bleibt? Sein Satz fordert eine Solidarität des Lebendigen untereinander, ohne dass dies als notwendig oder ausschließlich christliche Konsequenz erscheint. Wir werden in den späteren Kapiteln noch danach fragen müssen, ob es eine Hoffnung über den Tod hinaus geben kann, die die Welt notwendig hinter sich lässt, und damit letztlich auch die Schöpfung in ihrer wenngleich versehrten Verfasstheit selbst, die Tiere, Pflanzen, und womöglich auch die Menschen. Der Pater in unserem Bericht scheint davon jedenfalls wenig überzeugt zu sein. Gerade für unsere Frage nach dem Verhältnis von Kindern und Tieren ist es spannend zu beobachten, wie diese von Louv angestoßene Diskussion um die ‚biologischen Gewissheiten‘ verhandelt wird. Louv notiert: „In unserer Kindheit gab es keinen Zweifel, dass eine Maus eine Maus war, ein Mensch hingegen ein Mensch.“20 Der Verlust dieser Eindeutigkeit, wie er ihn für die heutige westeuropäische Kultur konstatiert, mag ebenso viel Positives bewirkt haben, etwa ein klareres Verständnis von biologischen Zuschreibungs- und Konstruktionsprozessen, wie sie sich in der Genderdiskussion abbilden, er scheint aber auch neue Probleme mit sich zu bringen: Ein Folgephänomen mag darin liegen, dass die verloren gegangenen Gewissheiten nun offenbar dazu drängen, sie neu und womöglich deutlicher als je zuvor aufzurichten und insbesondere die Demarkationslinie zwischen Tier und Mensch neu zu betonen. In den USA, aber nicht nur dort, lässt sich seit einigen Jahren der Trend beobachten, Kinder in dem Sinne besonders naturnah zu erziehen, dass ihnen das Töten von Tieren von klein auf nahegebracht wird: Sie sollen erkennen, wie natürlich es sei, zu töten. Vielleicht ist es der Lackmus-Test einer naturnahen Pädagogik, auf solche Phänomene angemessen zu reagieren. Selbstwirksamkeit erfahren Und noch eine zweite Antwort war angekündigt für die Frage nach der tieferen Bedeutung, die Tiere für Kinder haben können. Dazu halten wir uns vor Augen, wie die Begegnungen zwischen Kindern und Tieren häufig stattfinden. Mit dem Kindheitsbericht Ferdinand von Schirachs ist uns eine Möglichkeit dieses Aufeinandertreffens bereits begegnet, die Mehrheit von ihnen dürfte glücklicher enden. Gleichwohl mögen sie auf Außenstehende nicht selten ausgesprochen unauffällig wirken. Auch in den schon 91

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angesprochenen Formen tiergestützter Therapie finden sich kaum jemals spektakuläre Übungen, die aufgrund ihrer Kompliziertheit besondere Extreme von Mensch oder Tier verlangen. In der Regel bestehen diese Therapien darin, dass die Tiere ganz einfach da sind. Auf unterschiedlichste, gelegentlich therapeutisch vermittelte Art reagieren sie auf die Kinder und Jugendlichen und belegen auf diese Weise auch die von den Psychologen Hüther und Renz-Polster formulierten „zwei Segel“ eines gesunden kindlichen Wachstums: Kinder benötigen den beiden Forschern zufolge neben der Erfahrung ihrer selbstorganisatorischen Fähigkeiten vor allem das Erleben der eigenen Wirksamkeit: „Bindet man einem Säugling eine Schnur ans Füßchen und verbindet diese mit einem Mobile über seinem Bettchen, so bekommt er schnell heraus, wie er das Mobile in Bewegung setzen kann. Und die Messungen seiner körperlichen Reaktion zeigen, dass ihn das so richtig begeistert. Es gefällt ihm, wirksam zu sein, sich in die Abläufe der Welt einzubringen. Diese Erkenntnis ist erstaunlicherweise ziemlich neu: Noch vor wenigen Jahrzehnten ging man davon aus, dass Säuglinge eher als eine Art lebendes Gemüse zu verstehen seien, das zufrieden ist, wenn es nur ausreichend versorgt ist. Heute sehen wir Säuglinge als aktive Gestalter, die ihre eigene Wirksamkeit lernen und erproben müssen.“21 Wie beide Autoren hervorheben, trägt die Auseinandersetzung mit den Fragen der Bedeutung einer kindlichen Beziehung zu Tieren wesentlich dazu bei, auch das lange Zeit vorherrschende Verständnis von Kindern zu verändern, das unserer Verstehensgeschichte von Tieren erstaunlich nahe kommt: Noch vor nicht allzu langer Zeit dachte man von Kindern als limitierten Instinktmaschinen, eben jenem schon genannten „lebenden Gemüse“, oder auch als einer zu erziehenden tabula rasa, die beinahe beliebig den pädagogischen Launen und Trends ausgeliefert wurde. Mit dem Hinweis auf das notwendige Erleben der eigenen Wirkmächtigkeit, der Resonanzfähigkeit im Wechselspiel mit anderen Lebewesen, steht ein gänzlich anderes Bild vom Kind zur Diskussion. Ein ähnlicher Paradigmenwechsel in unserer Wahrnehmung von Tieren steht hingegen noch aus, auch wenn sich in ersten Ansätzen der Versuch andeutet, Tiere vermehrt als eigene Akteure zu betrachten (so z. B. in Bruno Latours Actor-Network-Theory). Die eigene Wirksamkeit können Kinder in besonderer Weise an Tieren erfahren. Einen Respons zu erfahren, bedeutet für Kinder nicht mehr und nicht weniger, als sich vom Tier gemeint zu fühlen, in einem elementaren, nichtsprachlichen Sinne angesprochen zu sein Eine solche Responsivbeziehung scheint also am Anfang kindlicher Tierbegegnungen zu stehen. 92

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Die Widerständigkeit des Anderen Ist die Annahme einer solchen Responsivbeziehung aber letztlich nicht heillos naiv? Was bleibt von dieser Annahme, wenn man nicht nur die Empfindlichkeit, sondern auch die mitunter schreckliche Gleichgültigkeit von Natur an sich, aber auch von Tieren berücksichtigt – hat auch sie eine Bedeutung für Kinder? Hüther und Renz-Polster verweisen auf ein USamerikanisches Experiment aus dem Jahr 1980: Die Forscher beobachteten eine signifikante Korrelation zwischen der kindlichen Fähigkeit zum vorläufigen ‚Triebverzicht‘, in diesem Fall dem Verzicht auf ein Marshmallow, und den klassischen Vorstellungen eines erfolgreichen Lebens. Die ehemaligen Testkinder, die also auf ihr erstes Marshmallow verzichten konnten, hatten i. d. R. die besseren Ausbildungen durchlaufen, hatten anspruchsvolle Berufe, lebten in stabilen Partnerschaften und Freundeskreisen und waren weniger oft krank. Hüther und Renz-Polster deuten die Fähigkeit zu warten in diesem Experiment als Ausdruck für die Metakompetenz, die eigenen unmittelbaren Wünsche zurückstellen zu können – dies, so die beiden Forscher, lernen Kinder nirgendwo besser als im Umgang mit anderem Lebendigen, also „dort, wo man nichts mitbekommt und nichts zustande bringt, wenn man nicht geduldig abwarten kann. Wo man darauf warten muss, bis die Vögel zum Futterhaus kommen, die Maus aus ihrem Loch herauskommt oder der Frosch seine Backen aufbläst. Wo ein in die Erde gelegtes Samenkorn nicht auf Knopfdruck auskeimt“22. Die Begegnung mit Tieren bedeutet für Kinder also in gleichem Maße das direkte Gemeintsein, wie es auf der anderen Seite die Widerständigkeit des je Anderen belegt. Die tierlichen Geschöpfe erweisen sich so ein weiteres Mal als jene Wesen, die nicht dem menschlichen Maß entsprechen und auch nicht vollständig seinem Einfluss gehorchen. Als solche sind die der beständige Stachel im Fleisch des menschlichen Absolutheitsstrebens. Der antikapitalistische Hamster Wenn also die womöglich sogar gegenseitige Faszination zwischen Tieren und Kindern auf der Erfahrung eben dieses Gemeintseins in seiner gleichzeitigen Unverfügbarkeit beruht, lohnt es sich, dem noch etwas tiefer nachzugehen. Was macht diese fast unheimliche Faszination aus? In meiner eigenen Kindheit war ich zeitweise von dem Wunsch besessen, ein eigenes 93

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Tier zu haben. Meine Eltern wollten zu dieser Zeit keinen weiteren Hund (zu zeitaufwendig, zu dreckig, der erste war schon reichlich merkwürdig), so dass wir irgendwann bei einer vermeintlich weniger aufwendigen Version landeten – ich sollte, so das Ergebnis des Familienrats, von nun an also einen Hamster wollen. Heute kann ich nicht verstehen, warum meine Eltern sich damals auf dieses beinahe tierquälerische Unterfangen einließen, jedenfalls aber besuchten wir nicht allzu kurz nach diesem Beschluss eine der heute glücklicherweise nicht mehr so verbreiteten „Zoo-Handlungen“. Hamster gab es selbstverständlich auch, und wir hatten Glück: Es gab sie, wie die Verkäuferin erklärte, an besagtem Tag sogar im Sonderangebot – einen Hamster für damals vielleicht vier oder fünf D-Mark. Diese Szene ist mir bis heute sehr einprägsam in Erinnerung geblieben, und ich vermute (und hoffe), nicht nur aufgrund der Aufregung ob des neuen Haustiers. Schon damals schien mir die Logik, die uns die Verkäuferin servierte, seltsam verquer zu sein: Konnte es sein, dass das gleiche Tier an diesem Tag tatsächlich weniger als sonst kosten sollte? Wie konnte es überhaupt sein, dass ein Tier etwas kosten sollte? Bei dem Philosophen und Biologen Andreas Weber finde ich einen Hinweis, der diese Fragen zu bestätigen scheint. Er ist der Ansicht, dass das Angesprochensein, das Kinder bei Tieren erleben, in der Hauptsache daher rührt, dass Tiere kein erkennbares Interesse haben, Menschen (zumindest entlang deren eigener Vorstellungen) zu bewerten: „Darin sind sie so, wie man sich einst die Gnade Gottes vorgestellt hat. Der Schulversager, der von Schwermut gepeinigt wird, hat für seinen Hund denselben Wert als Kumpan und Bezugsperson, als wäre er ein Überflieger. Die beißenden Regeln menschlicher Sozialbeziehungen sind teilweise außer Kraft gesetzt.“23 Wenn das zutrifft, dann belegt diese Erkenntnis auch den Widersinn in einer Logik, die Tiere und das Finanzkapital in einer Weise vereinbaren möchte, wie sie dem Hamster im Sonderangebot auf den Leib geschrieben wurde. Das Gemeintsein, das der Blick der Tiere (nicht nur den) Kindern vermitteln kann, ist womöglich sogar die im Bereich der Natur zu findende Gegenrede zu jener der kapitalistischen Marktwirtschaft: In einer Welt, in der es nichts geschenkt zu geben scheint, bezeugen Tiere gerade die Möglichkeit unverdienter Gunst. Das Erleben einer in dieser Form erfahrbaren Gnade, wie Weber sie beschreibt, scheint mit guten Gründen unverzichtbar für die Entwicklung von Kindern zu sein, mehr womöglich als der Kohlberg’sche Erwerb eines möglichst abstrakten Naturverstehens. Und auch biblisch findet sich ein klares Bewusstsein dafür vorgeprägt, wie das System endlosen Gewinnstrebens auf Kosten 94

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anderer sich immer wieder selbst als Logik des Todes enttarnt. Speziell für die Tiere vermag die Perikope der Tempelreinigung (Mk 1,15–19 parr.) dies sehr deutlich auf den Punkt zu bringen: Geldwechsler und Taubenhändlern, Vertreter einer Logik des Geldes, die bei den Taubenhändler selbst Lebendiges vereinnahmt, sind mit dem Anbruch des Reiches Gottes nur schwer zu vereinbaren – ganz anders, als es für die kindliche Logik in Mk 10,15b heißt: „Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.“ Nutzloses Spiel? Vielleicht ist ein Phänomen, das Kinder und Tiere verbindet und sie radikal von allen Logiken des Gewinnstrebens trennt, besonders erhellend: Kinder und Tiere spielen mit einer solchen Leidenschaft, dass diese oft mit großem Ernst daher kommt. Hüther und Renz-Polster bemerken mit Blick auf das kindliche Spiel, dass dieses gerade keine „Selbstbespaßung“ sei: „Es ist ihnen ernst, und oft genug ist das Spielen mit Grenzerfahrungen verbunden – Eltern wissen, wie abgekämpft viele Kinder nach dem Spielen nach Hause kommen.“24 An den pädagogischen bzw. verhaltensbiologischen Deutungen dieser Art des Spielens lässt sich dabei sehr schön ablesen, dass mit der Bedeutung des Spiels die schon vorher genannte Unterscheidung von (geldwirtschaftlicher) Verzweckung und (gnadenhafter) Zweckfreiheit verhandelt wird. In diesem Sinne hat man häufig versucht, gerade das Spielverhalten von Tieren als zweckmäßig zu deuten. Da es scheinbar unnötig Energie verbraucht, stünde es dem teleologischen Imperativ des Selbsterhaltungsstrebens entgegen, so dass das Spiel in den antizipierten Ernstfall uminterpretiert wurde: Im Spiel trainieren, so die Annahme, Kinder wie Tiere ihre später einmal notwendigen Fähigkeiten für den Überlebenskampf. Einige Vorreiter der pädagogischen Reformbestrebungen des frühen 19.  Jahrhunderts  – Johann B. Basedow, Joachim H. Campe und Christian G. Salzmann – prägten die eingängige Formel, dass kein Spiel frei von Nutzen sei und entwickelten in der Folge mit großem Eifer Unmengen an pädagogisch vermeintlich wertvollen Lernspielen. Dies mag die anfangs aufgeworfene Frage beantworten, woher die unverschuldete Tier- und Naturferne vieler Kinder rühren mag: Vor dem Hintergrund des zuvor Gesagten liegt es auf der Hand, dass dort, wo ein klares Ziel herrscht, Natur als solche auf dieses Ziel hin ausgelegt oder gar 95

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ausgeklammert wird. Und wie viele Naturprogramme gerade für Kinder übersehen die Gefahr der Verzweckung, indem sie Kinder zu kleinen ‚Naturforschern‘ ausbilden wollen, sie über die Bedeutung der Bienen für unsere Nahrungsmittelproduktion informieren oder mahnend auf die ökologischen Folgen von Plastikflaschen verweisen. Selbstverständlich sind diese Hinweise nicht falsch, aber sie dürften nicht in der Lage sein, Natur oder Tiere in ihrem Eigenwert zu erfassen. Sie begreifen sie als ein Mittel, wo sie von Kindern als Zweck erlebt werden müssten. Wenn kindliche Begeisterung dann spätestens in der Jugendzeit anderen Dingen gilt, ist diese Folge pädagogisch hausgemacht und erntet doch immer nur resignatives Kopfschütteln der Erwachsenen. Naturerleben und Wissenserwerb sind für nahezu alle pädagogischen Muster in unseren Schulen unvereinbar. Lebewesen werden dort maschinenartig, funktional in ihrem Aufbau analysiert, sie werden darin, so formuliert David Sobel, regelrecht als etwas Verachtenswertes betrachtet.25 Als Objekte, die sie hier sind, haben sie selbstverständlich nichts mehr mit den Schülern und Schülerinnen zu tun. Von ihnen gibt es in den Schulen rein gar nichts zu lernen, sie sind Mittel für Erkenntnisse, die letztlich unabhängig von ihnen funktionieren sollen. Den vielleicht einprägsamsten Vergleich dafür liefert Weber, wenn er den naturwissenschaftlichen Blick, wie er auch in Schulen eingeübt wird, mit dem König Midas der griechischen Sagenwelt in Verbindung bringt: „Der Maßstab der Wissenschaft macht den Beobachter zu einem König Midas der Leichen: Er kann alles berühren und analysieren, aber dabei wird es zu einem toten Objekt.“26 Die verwandelnde Kraft des Spiels Dagegen stehen schon mit dem deutschen Idealismus geprägte Vorstellungen der vollkommenen Zweckfreiheit des Spiels, wie Friedrich Schiller sie an vielleicht prominentester Stelle entwarf und die von unserer Intuition so oft bestätigt wird: Nahezu alles am Spiel scheint über Nützlichkeitserwägungen hinauszugehen und alle Effizienzkalküle hinter sich zu lassen – und eben deswegen so wertvoll für Kinder zu sein, und nicht, weil es eine plumpe oder tollpatschige Vorübung auf den späteren vermeintlichen Ernst des Lebens sei. In diesem Sinne finden sich auch innerhalb der Biologie Stimmen, die die Relationen zwischen Spiel und Ernst (wenn man es so nennen mag) umkehren, so etwa beim niederländischen Biologen Frederik J. Buy96

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tendijk, der fordert, dass wir gegenteilig zu unserem bisherigen Denken gerade das erwachsene Leben als Residuum, als Restsubstanz wahrnehmen sollten, die von der Fülle des kindlichen Spiel übrig geblieben ist.27 Bei Andreas Weber findet sich noch ein weiterer wichtiger Gedanke, wenn er die kindliche Logik in der Aussage „Das ist nur Spiel“ in die Aussage „Ich kann daran nicht sterben“ übersetzt.28 Es scheint mir auch theologisch nur folgerichtig, den Gedanken des zweckfreien Spiels als Kontrapunkt zu einem Zweckstreben zu betrachten, das potentiell alles zum Mittel zu degradieren und auf diese Weise dem höheren Zweck zu opfern vermag. Warum eigentlich sehen Eltern es so gern, wenn ihre Kinder gedankenverloren im Spiel vertieft sind? Weil sie ihren Kindern diese Momente unverzweckter Zeit wünschen? Sicher auch das. Vielleicht aber auch, weil sie an ihren Kindern und bisweilen an ihren Tieren sehen, dass es ein Leben geben kann, das den Tod nicht fürchtet. Wenn ich meinen Hund beobachte, wie er mit einem vom Baum abgefallenen Apfel spielt, gibt es dabei jene Momente, in denen er den Apfel vor sich ab legt, ihn mehrere Sekunden mit schiefgestelltem Kopf ansieht – um ihn dann mit einem Schwung seiner Nase durch die Gegend zu schubsen und ihm hinterherzujagen. So geht es meist mehrere Male, und immer wird der Apfel angesehen, als sei er lebendig, als würde mein Hund auf das Signal des Apfels zum Spielen warten. Wenn ich dieses Spiel beobachte, fällt mir die gerade genannte ‚Übersetzung‘ von Weber ein. Im Spiel scheinen Kinder wie Tiere der Gefahr des Todes nicht bloß immun gegenüber zu stehen, es scheint fast so, als seien sie in der Lage, allem vermeintlich Toten oder Leblosen mit schöpferischer Kraft zu begegnen, sie zu verwandeln: Äpfel werden so zu Spielkameraden, Unbelebtes wird lebendig. Kinder und auch Tiere sind das Gegenteil eines Königs Midas der Leichen. Simone Horstmann

Anmerkungen 1 2 3 4 5

Münch, Tiere und Menschen, 14. Kronauer, Natur und Poesie, 22. von Schirach, Der Pater und das tote Reh. Deleuze/Guattari, Intensiv-Werden, 203. Deleuze/Guattari, Intensiv-Werden, 205.

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Louv, Das letzte Kind im Wald, 171 f. Hüther/Renz-Polster, Wie Kinder heute wachsen, 63. Santostefano, Clinical Child Psychology. Dewey, Erfahrung, Erkenntnis und Wert.

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Nabhan/Trimble, The Geography of Childhood, 39. Chawla, In the First Country of Places. Roszak, Ökopsychologie. Louv, Das letzte Kind im Wald, 65 f. Moltmann, Gott in der Schöpfung, 29. Luther, Religion und Alltag, 174 f. Bataille, Theorie der Religion, 24. Hüther/Renz-Polster, Wie Kinder heute wachsen, 110. Levinas, Nom d’un chien, 55–59. Louv, Das letzte Kind im Wald, 39.

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Ebd., 39. Hüther/Renz-Polster, Wie Kinder heute wachsen, 16 f. Ebd., 168. Weber, Mehr Matsch, 85. Hüther/Renz-Polster, Wie Kinder heute wachsen, 35. Sobel, Childhood and Nature, 13. Weber, Mehr Matsch, 102. Buytendijk, Wesen und Sinn des Spiels, 54. Weber, Mehr Matsch, 171.

Wer täuscht hier wen? Kommunikative Verhältnisse zwischen Gott, Tier und Mensch

Meist zu Beginn einer Mensch-TierBeziehung, etwa bei neuen Haustieren, gibt es häufig jenen Moment, in dem sich das Tier, das von ‚seinem‘ Menschen gerufen, gelobt oder sonst wie angesprochen wird, mit einem Mal wie fasziniert dem menschlichen Gesicht nähert, das dort zu ihm spricht. Gerade bei größeren, noch unbekannten Tieren kann es durchaus beängstigend wirken, wenn sich der Kopf eines Tieres solchermaßen interessiert der Quelle der Laute nähert. Und oft hallt diese Begegnung im eigenen Überlegen nach: Interessiert sich ein Tier wirklich für menschliche Sprache, ist sie ihm suspekt, fremd, oder jenseits der Worte doch eigentümlich bekannt? In dem Maße, in dem alle AnthropomorphismusHemmungen fallen, erlaubt man sich angesichts dieser Erfahrung allerlei Fragen: Was interessiert das Tier an unserer Sprache, ist es sich ihrer überhaupt bewusst? Erlebt ein Tier die Sprache der Menschen als etwas ihm zutiefst Verwehrtes? Bedauert es die scheinbar endgültige Trennung, die sie zugleich markiert? Diese beiderseitigen Unsicherheiten im Verstehen des je Anderen mögen spekulativ bleiben, aber schon diese einfachsten Beobachtungen scheinen eine Grundannahme zu bestätigen, die bereits auf Aristoteles zurückgeht: Die menschliche Sprache markiere, so behauptet Aristoteles, die differentia specifica, das einmalige Unterscheidungsmerkmal des Menschen zu allen anderen Wesen. Als ζῷον λόγον ἔχον sei der Mensch aufgrund seiner Fähigkeit zu sprechen (und zu hören!) von allen anderen Wesen verschieden. Schon sehr früh rücken mit einer solchen Anthropologie zwei 99

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Dinge zusammen: Die Sprache als Gemeinschaft und Verständigung stiftendes Mittel einerseits und die Erfahrung des Ausschlusses des Sprachlosen; mit anderen Worten: Kommunikation und Exklusion. Es scheint naiv, der Sprache einen lediglich kommunikativen Charakter zu unterstellen, wo sie doch zugleich extreme Ausschließungseffekte zeitigt; die moderne (Zoo- bzw. Bio-)Semiotik hat vermehrt darauf hingewiesen, dass die Reduktion von Sprache auf die menschliche Sprach- und Zeichenkonventionen zugleich die Zeichensysteme von etwas mehr als zwei Millionen anderer lebender Arten unter den Tisch fallen lässt.1 Von dem französischen Kardinal de Polignac etwa ist ein Ausspruch kolportiert, der eine ganz ähnliche Logik erkennen lässt: „Sprich, und ich taufe Dich!“, soll er angesichts der Affen im Pariser Zoo des 18. Jahrhunderts behauptet haben. Sprachfähigkeit ist hier die scheinbare Bedingung für die Teilhabe an der (Tauf-)Gemeinschaft; sie wurde dem so angesprochenen Affen, wie man sich unschwer vorstellen kann, unter diesen Bedingungen verweigert. Und dennoch: Gänzlich scheint die Frage nach einer Kommunikation mit Tieren aller aristotelischen Eindeutigkeit zum Trotz noch nicht beantwortet zu sein; selbst der polemische Tauf-Konditionalis des französischen Kardinals erinnert schließlich frappant an jene Formel aus der Eucharistiefeier, die bei der Einladung zur Kommunion gesprochen wird: „Sprich nur ein Wort“, so heißt es in der Formel, „so wird meine Seele gesund.“ Offenbar warten wir auf ein solches Wort, das gerade nicht Exklusion, sondern heilsame Gemeinschaft zu bewirken vermag, und bemerken dabei doch immer wieder, wie wenig uns dieses Vermögen selbst zukommt; die babylonische Sprachverwirrung zwischen den Spezies jedenfalls wartet noch immer auf ihre Aufhebung. Gefährliche Ähnlichkeiten Ein ähnlicher Verdacht mag den Science-Fiction-Autor Phillip K. Dick beschlichen haben, als er 1968 seinen Roman Do Androids dream of electric sheep? veröffentlichte, der später (inhaltlich stark abgewandelt) unter dem Titel „Bladerunner“ von Ridley Scott verfilmt wurde (unter diesem Titel erschien er auch in der deutschen Übersetzung) und ein ganz ähnliches Problem erzählerisch entfaltet. Der „Bladerunner“ Rick Deckard jagt auf einer postapokalyptischen Erde Androiden – von Menschen geschaffene, organische Arbeitsroboter, die ihren Erbauern zum Verwechseln ähneln. Obwohl 100

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die Androiden ursprünglich im All für die Menschen Arbeiten verrichten sollten, sind einige von ihnen zur Erde geflüchtet, um dort unerkannt und frei unter den Menschen zu leben. Die Gesellschaft, die sie dort vorfinden, erscheint dabei beinahe fremder als die menschenähnlichen Androiden: Auf der verseuchten und nahezu zerstörten Erde, die von keiner Sonne mehr beschienen wird und deren Bewohner sich in der Mehrheit längst zu anderen Planeten aufgemacht haben, sind auch die Tiere am Rande ihres endgültigen Aussterbens, nur noch wenige existieren in exklusiven Zoohandlungen. Sie sind dort, um es mit den Worten John Bergers zu sagen, zu lebenden Monumenten ihres eigenen Untergangs geworden.2 Unwillkürlich rücken diese Schilderungen dabei immer wieder in die Nähe der eigenen Erfahrungswirklichkeit: „[Deckard] stand lange Zeit da und starrte die Eule an, die auf einer Stange hockte und vor sich hin döste. Tausend wirre Gedanken schossen ihm durch den Kopf, er musste an den Krieg denken, an die Tage, da die Eulen vom Himmel fielen. Er erinnerte sich, wie in seiner Kindheit eine Tiergattung nach der anderen als ausgestorben gemeldet wurde – täglich berichteten die Zeitungen darüber. Eines Morgens war es der Fuchs, am folgenden der Dachs, bis die Leute aufhörten, die Tier-Nachrufe zu lesen.“3 Die wenigen noch lebenden Tiere avancieren im Roman schnell zum begehrten Luxusgut – jeder Mensch trägt einen ‚Sidney-Katalog‘ stets griffbereit bei sich, der regelmäßig aktualisiert wird und die genauen Handelspreise der Tiere auflistet. Die weniger betuchten Bürger begnügen sich hingegen mit elektronischen Tieren, die gegenüber ihren Vorbildern allerdings nahezu ununterscheidbar sind. Die Sozialbeziehungen zwischen den Menschen bauen regelrecht auf dieser Verwechselbarkeit zwischen den echten und künstlichen Tieren auf: „Die Frage ‚Ist Ihr Schaf echt?‘ hätte mehr gegen die Regeln des Anstands verstoßen als die Erkundigung nach der Echtheit der Zähne, Haare oder inneren Organe eines Mitbürgers“, und selbst auf dem Wagen der technischen Reparaturfirma „steht natürlich ‚Tierklinik Sowieso‘, und der Fahrer trägt einen weißen Kittel wie ein Tierarzt.“4 Während die Unterscheidung von „echten“ und „unechten“ Tieren also absichtlich möglichst eingeebnet wird, entscheidet sie bei den Androiden über Leben und Tod. Deckard und seine Jäger-Kollegen verwenden den vom ‚Pawlow-Institut‘ entwickelten ‚Voigt-Kampff-Empathie-Test‘, um Androiden zu enttarnen. Empathie, so die tragende Überzeugung, sei das Alleinstellungsmerkmal des Menschen, das kein noch so menschenähnlicher Androide zu imitieren in der Lage sei. Der Test umfasst dabei ausnahmslos Schilderungen oder Fragen nach mehr oder weniger offensicht101

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lichem Tierleid, auf das die Probanden angemessen zu reagieren haben, um wiederum ihre eigene Menschlichkeit unter Beweis zu stellen: „Sie bekommen zum Geburtstag eine kalbslederne Handtasche geschenkt“ – unterstellt Deckard einer Testperson, und die Probandin reagiert prompt: „So ein Geschenk würde ich nicht annehmen!“5 Die Menschen dieser Romanwelt bewahren sich ihre Empathiefähigkeit nicht zuletzt durch sog. ‚Einswerdungsboxen‘, technischen Vehikeln, die Gefühle jeglicher Art unter den Menschen vermittelbar werden lassen: „Solange ein Geschöpf Freude empfand, war für alle anderen Geschöpfe die Voraussetzung für einen Anteil an dieser Freude gegeben. Wenn jedoch ein Lebewesen litt, konnten auch alle anderen den Schatten nie ganz abstreifen.“6 Die mysteriösen Einswerdungsboxen sind ein Folgephänomen des Mercerismus, jener Philosophie, die dieser dezimierten Gesellschaft den Anstrich von Menschlichkeit verleiht und das Mitleid bereits im Namen trägt, auch wenn sie dies zugleich durch ihre oberste Maxime („Du sollst nur die Mörder töten“) konterkariert.

Erzwungene Authentizität Die Romanvorlage wie auch die Verfilmung lassen kaum einen Zweifel daran, dass die Unterscheidung zwischen Menschen und Androiden, allen Eindeutigkeitssuggestionen zum Trotz, mehr als brüchig ist. Selbst Deckard gerät immer wieder in den unausgesprochenen Verdacht, ein Androide zu sein; gleichermaßen sind auch die Ergebnisse des Empathie-Tests an den vermeintlichen Androiden bestenfalls vage und willkürlich in der Auslegung durch die Bladerunner. Dennoch lässt sich an ihnen ablesen, wie auch heute vielfach die Frage nach der Möglichkeit tierlicher (oder auch: technischer, d. h. computerbasierter) Sprache zu klären versucht wird, schließlich verbindet den Voigt-Kampff-Test mindestens ein entscheidender Punkt mit heutigen Turing-Tests, die die Authentizität einer Person aus ihren sprachlichen Äußerungen ableiten sollen. Beide verhandeln die Frage nach der Echtheit schließlich im Modus der Künstlichkeit, sie sind Tests – dort, wo sie der Wirklichkeit von Kommunikationsbeziehungen auf die Spur kommen sollen, legen sie mit Absicht falsche Fährten. Die moderne Kommunikationstheorie hat dafür die Bezeichnung mixed messages gefunden: Die in Laborbedingungen geschaffene Kommunikationssituation, in der sich Mensch und Tier so oft begegnen, ähnelt mit anderen Worten der Situation eines Patienten, dessen Therapeut ihn auffordert, jetzt endlich einmal ganz 102

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ungezwungen und authentisch über sein Leben zu berichten. Mixed messages sind zwar Messages, also kommunikative Handlungen, unterbinden in letzter Konsequenz aber tatsächliche Kommunikation – der Aufforderung, jetzt mal endlich authentisch zu sein, lässt sich ebenso schwer nachkommen wie der Forderung „Sei doch mal spontan!“ oder der Loriotesken Bitte „Ich würde mich freuen, wenn du mich mal wieder mit einem schönen Blumenstrauß überraschen würdest!“. Von ihrem ironischen Unterton entkleidet, führen uns solche Situationen besonders deutlich vor Augen, wie sehr unsere (verhaltensbiologischen und kommunikativen) Maßstäbe von der durch René Descartes vorgeprägten Angst vor einer elementaren Täuschung durchtränkt sind: An den Laborbedingungen der Experimente können wir wohl weniger eine authentische Antwort des je Anderen als vielmehr unser eigenes grundlegendes Misstrauen allem Fremden gegenüber ablesen. Vielleicht ist das die erste Paradoxie in unserem kommunikativen Umgang mit Tieren: Gerade jenen Wesen, denen wir (ob zu Recht oder nicht) gerne unterstellen, einen besonders ungetrübten, unmittelbaren Zugang zu allem Natürlichen zu besitzen, begegnen wir doch sehr häufig nur im Modus der Simulation und Künstlichkeit, des tiefen Misstrauen.7 Descartes’ Angst vor der Täuschung Die Descartes’sche Angst fußt auf der gedanklich-rekonstruierten Möglichkeit eines deus malignus, eines dem Menschen böse gesinnten Täuschergottes, der den Menschen alle vermeintliche Erkenntnis nur vorgaukelt. Beinahe alle tiertheologischen und tierphilosophischen Folgen, die das Descartes’sche Denken bis heute nach sich zieht, sind in letzter Konsequenz in dieser für ihn denkbaren theologischen Möglichkeit eines Täuschergottes beheimatet. Dieser deus malignus (gelegentlich auch: genius malignus) ist Anlass für die Descartes’sche Selbstrettung in Form des subjektiv-gesicherten Zweifels: Dort, wo ich alles bezweifeln kann, so unterstellt Descartes, beginnt erst das rettende Ufer der zweifelsfreien Sicherheit, die der Mensch sich nur selbst geben kann. Ganz anders hingegen das biblische Denken: Von der jüdischen Tradition lernen wir Gott als einen bindungs-, und gerade nicht täuschungswilligen Gott kennen, der sich mitteilt und offenbart, insbesondere auch im Neuen Testament sogar „in der Sprache des Fleisches“8. Von hier aus mag man begründet fragen dürfen, ob nicht alle katastrophalen Folgen, die Descartes Denken für jene Tiere hatte, die er als 103

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bloße mechanische Maschinen beschrieb, nicht letztlich in einem falschen Gottesbild ihren Ursprung haben. Martin Luther hat den Gedanken eines sich in der „Sprache des Fleisches“ offenbarenden Gottes in die verwegene Formel gebracht, dass Gott sich sub contrario offenbare  – unter bzw. im Gegenteil dessen, was wir üblicherweise von ihm erwarten.9 Sicher entscheidet sich die theologische Sinnhaftigkeit dieser Aussage auch daran, inwieweit sie als ausschließliche Aussage über Gottes Wirken zu verstehen ist; für unsere Zwecke jedenfalls deutet sie einen produktiveren Weg an als der Generalverdacht eines Descartes. Zwar ist auch ihr nicht daran gelegen, den Zweifel Descartes’ in sein pures Gegenteil zu überführen und zu behaupten, dass sich etwa nur an den offenbarungstopologisch unüblichen Tieren Gott selber zeige (und eben nur deshalb, weil sie als Offenbarungsort unüblichen seien). Aber Luthers Formel schafft es, dieser vorschnellen Gewissheit einerseits wie auch der radikalen Täuschungsangst auf der andere Seite zu entkommen, indem er beiden den Geheimnischarakter von Offenbarung vor Augen führt; er schafft mithin eine Heuristik, eine Suchanleitung für das, worauf wir christlicherseits besonders gründlich achten sollten. Auch die moderne Theologie hat aus diesem Grund unsere ‚kommunikative Beziehung‘ zu Gott vor dem Hintergrund ihrer Geheimnishaftigkeit begriffen: „Offenbarung ist also“, so formuliert Karl Rahner, „gerade keine durch Gott selbst gewährte gnostische Überwindung des Geheimnisses […], sondern Geschichte der immer radikaleren Erkenntnis Gottes als des Geheimnisses.“10 Und ganz ähnlich fasst es auch Paul Tillich: „Nur was wesensmäßig verborgen ist, teilt sich durch Offenbarung mit. Es hört dadurch, dass es sich offenbart, nicht auf, verborgen zu sein.“11 Vom Geheimnis der übermächtigen Religion der Romanwelt jedenfalls bleibt gegen Ende der Erzählung ausgesprochen wenig übrig. Die Ausstaffierung der Stifter-Figur des Mercerismus, Wilbur Mercer, der über die ‚Einswerdungsboxen‘ digitale Unsterblichkeit erlangt zu haben scheint, erweist sich als ein groß angelegter Bluff. Mercer entpuppt sich als alter, trinkfreudiger Mann, der seine Rolle für Geld spielt, seine Auftraggeber bleiben unklar. Noch nach seiner Enttarnung empfiehlt Mercer Deckard, die Androiden auch weiterhin zu töten – dies sei zwar falsch, aber unvermeidbar. Für Deckard und für viele andere Menschen behält Mercer selbst nach seiner Enttarnung seinen gottähnlichen Rang, nur wenige Bewohner rätseln bis zum Schluss und fragen nach Mercers Echtheit, auf der die Grundrelation ihrer Welt beruht: An seiner Echtheit hängt die Echtheit der Welt, die Echtheit der Unterscheidung von echt und unecht. 104

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Morgans Kanon: Der institutionalisierte Zweifel gegenüber den Tieren Bleiben wir dennoch einen Moment bei der Frage, wie sich der Descartes’sche Zweifel an der Wirklichkeit mit Blick auf die Möglichkeit kommunikativen Austausches zwischen Mensch und Tier ausgewirkt hat. Descartes selbst hat eine bis heute wirksame Grundlage vorgegeben. In seinem Discours de la Méthode greift er einmal das Gedankenspiel auf, dass man sich während eines langen Waldspazierganges verlaufen habe und keine Anhaltspunkte für den richtigen Weg mehr erkennt – ein klassischer Moment des Zweifels.12 Was soll man tun? Descartes zufolge kann es in einer solchen Situation nur angeraten sein, immer weiter in die gleiche, aber beliebige Richtung zu gehen  – so würde man schon irgendwann zumindest wieder auf Zivilisation treffen. Seine Antwort nimmt vorweg, was die Moderne seitdem als Merkmal wissenschaftlichen Denkens betrachtet hat: Legitimität erzielen Handlungen durch die ihr zugrunde liegende Methode, und korrekt sind wissenschaftliche Ergebnisse genau dann, wenn sie entlang einer bestimmten Methode gefunden wurden. Die Wahrheit, die wir uns wissenschaftlich versprechen und auf die auch Descartes das Wissenssubjekt verpflichtet sieht, wird von den Dingen und Wesen getrennt, sie ist alleiniges Resultat der Methode. Der modus operandi ist die moderne Antwort auf die als vormodern apostrophierte „Lesbarkeit der Welt“ (Blumenberg), der man unterstellen konnte, selbst noch etwas zu sagen zu haben. Wie weit diese Denkrichtung auch unser Nachdenken über Tiere bestimmt, demonstrieren zwei Beispiele. Der Versuch, tierliches Verhalten, also u. a. auch ihre Sprachfähigkeit, zu deuten, ist bis in die heutige Zeit von einer Richtlinie normiert worden, die unter dem Namen „Morgans Kanon“ bekannt wurde. Der britische Zoologe Conwy L. Morgan hat sie 1894 formuliert: Wenn ein tierliches Verhalten X (z. B. der Warnruf der Meerkatze) entweder als höheres Verhalten (z. B. als Kognition) oder auch als niederes Verhalten (z. B. als Instinkt) gedeutet werden kann und diese Entscheidung uneindeutig ist, dann soll das Verhalten stets als niederes Verhalten eingestuft werden. Morgans Kanon ist eine Heuristik für verhaltensbiologische Unsicherheitssituationen, und seine Logik ist bestechend klar: Das Risiko einer Fehleinschätzung zugunsten des jeweiligen Tieres wird als wissenschaftlich untragbar angesehen, ganz anders als dessen Degradierung bis hin zur Reflexmaschine. Auch nach gut dreihundert Jahren scheint hier die Descartes’sche Angst in wissenschaftlich hoffähiger Form zu regieren. Nicht 105

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zuletzt dieser Norm ist es zu verdanken, dass wir mit jedem kurzen Blick in (naturwissenschaftliche) Veröffentlichungen immer wieder die eigene Überraschtheit beobachten können, mit der wir Meldungen über tierliche Fähigkeiten zur Kenntnis nehmen: Die Zeichensprache der Bienen, der Nachweis des Selbstbewusstseins etwa von Kühen oder die bei Blaumeisen beobachtete Fähigkeit, nur durch Beobachtung zu lernen, erscheinen so als Ergebnisse der jüngsten Biologie. Eine zweite Folge kann grob mit dem Begriff des Skeptizismus umschrieben werden und stellt eine erkenntnistheoretische Antwort auf das gleiche Grundproblem dar: Was können wir an und von Tieren überhaupt verstehen? Der Philosoph Thomas Nagel hat 1974 mit seinem Aufsatz „Wie es ist, eine Fledermaus zu sein“ für Aufsehen gesorgt und die Diskussion um die Nähe im Erleben zwischen Mensch und Tier damit für lange Jahre vorgeprägt. Der Frage, ob die sog. Qualia, also die subjektspezifischen Erlebniszustände, über naturwissenschaftliche Methoden reduktionistisch zu erklären seien, erteilt Nagel eine abschlägige Antwort: Auch wenn wir den Echolot-Sinn der Fledermäuse auf dem Papier nachvollziehen können, bleibt deren phänomenales Bewusstsein und subjektives Erleben für uns immer unerreichbar und einzigartig, insofern sie von keiner anderen Art nachvollzogen werden können. Nicht ganz zu Unrecht hat man Nagel daher auch als den „Kant der Tiere“ bezeichnet. Die Aussicht darauf, jemals ein artverschiedenes Bewusstsein zu verstehen, tendiert Nagel zufolge damit gegen Null, und jeder Versuch, diesen erkenntnistheoretischen Abgrund dennoch überbrücken zu wollen, führe in den Bereich des unreflektierten Anthropomorphismus. Beide Beispiele verdeutlichen das scheinbare Dilemma in der Frage einer Mensch-Tier-Kommunikation, das zwischen den Polen der Morgan’schen Übergeneralisierung und der Nagel’schen Zurückweisung der Frage besteht. Der kommunikative ‚schwarze Peter‘ Auch die Ergebnisse des Verhaltensbiologen Michael Tomasello belegen, warum die Ausgangslage in den Kommunikationsbeziehungen zwischen Mensch und Tier, wie wir sie bislang beschrieben haben, problematisch erscheinen muss.13 Sein Argument ist weniger aus einer grundsätzlichen kommunikationstheoretischen Erwägung heraus entwickelt, sondern nimmt Bezug auf die Evolution menschlicher Kommunikation in Abgrenzung zu Kommunikationsformen sog. ‚höherer Primaten‘. So kommt To106

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masello zu dem Ergebnis, dass menschliche Kommunikation davon geprägt ist, dass die Teilnehmer/innen zusammen eine gemeinsame Absicht erzeugen und sich aufeinander einstellen, die kommunikativen Akte in einem gemeinsamen Verständnis der Situation verankert sind und aus grundsätzlich prosozialen Motiven vollzogen werden. Menschliche Kommunikation bestehe darüber hinaus in den geteilten Erwartungen bezüglich der Kooperation aller Beteiligten und darin, dass alle Beteiligten die kommunikativen Konventionen einheitlich verwendeten. Während also Menschen ihren kommunikativen Beziehungen auf Kooperation und in geteilter Intentionalität anlegten, sei dies bei Tieren, so Tomasello, nur äußerst bedingt der Fall: „Sie versuchen schlicht, die individuellen Ziele, Wahrnehmungen und Handlungen anderer vorherzusagen oder zu manipulieren.“14 Es bleibt dem subjektivem Urteil überlassen, die Realitätsnähe dieser beiden Annahmen zu bewerten; deutlich wird aber, dass mit der Einschätzung einer modernen Kommunikationstheorie, wie Tomasello sie hier vertritt, die Rolle des kommunikativen ‚Schwarzen Peters‘, die bei Descartes noch der deus malignus innehatte, offenbar auf die Tiere übergewechselt zu sein scheint: Sie sind die Täuschenden und Manipulierenden. Man erahnt langsam, welcher Akteur aus der Trias von Gott  – Tier  – Mensch bislang vollkommen unbehelligt vom Vorwurf der kommunikativen Täuschung blieb. Die menschliche Kommunikation ist jedenfalls auch für Tomasello unverdächtig, etwas anderes als reibungslose Kooperation zu bezwecken; dies gilt bei Tomasello insbesondere für die kulturellen Institutionen, „angefangen bei der Ehe über das Geld bis hin zur Regierung, die einzig wegen der kollektiven Praktiken und der Überzeugungen menschlicher Gruppen existiert“.15 Auch die Postapokalypse des „Bladerunners“ führt vor Augen, dass es bisweilen nicht immer nachvollziehbar scheint, aus welchen Gründen kommunikative Verdachtsmomente bzw. umgekehrt auch generelle Annahme von Unverdächtigkeit sozial einnormalisiert werden. Die Tiere sind Letzteres in Philip K. Dicks Roman jedenfalls nicht (mehr), so ähnlich sie in ihrer künstlichen Form den verfolgten Androiden auch sein mögen. Kommunikation als Selbstoffenbarung Allerdings bleibt natürlich zu fragen: Täuschen wir uns nicht letztlich, wenn wir unterstellen, Tiere seien überhaupt für die Unterscheidung von authentischen bzw. künstlichen Kommunikationssituationen empfänglich? 107

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Die Psychologin Barbara Smuts berichtete Mitte der 1970er Jahre von ihrem Forschungen mit Pavianen in freier Wildbahn. Um möglichst genaue und gut verwertbare Daten sammeln zu können, versuchte sie zunächst, sich möglich neutral und regelrecht ‚unsichtbar‘ für die Affen zu verhalten.16 Sie konnte allerdings sehr bald feststellen, dass die Tiere von ihrem Versteckspiel wenig beeindruckt waren und häufig den Blickkontakt suchten: Je öfter Smuts ihre Blicke ignorierte, umso stärker reagierten die Tiere wiederum mit ihren Kontaktversuchen. So dämmerte es der Psychologin nach einiger Zeit, dass das Ignorieren sozialer Signale aus Sicht der Paviane alles andere als ein neutrales Verhalten war, so dass sie in der Folge ihr Verhalten gänzlich umstellte und versuchte, die kommunikativen Konventionen der Tiere – ihre „Pavianart“ für sich zu adaptieren. Kommunikation mit Tieren, so Smuts, bestimmt sich wesentlich durch ihre Beziehungsfähigkeit  – jenen zwei zentralen Kommunikationsseiten „Appell“ und „Ausdruck“ aus dem Organon-Modell Karl Bühlers. Das dritte Moment der „Darstellung“, also der inhaltlichen Referenz, scheint innerhalb einer Tier-Mensch-Kommunikation eine weniger große Rolle zu spielen, auch wenn es gleichwohl den Fokus der meisten tierkommunikativen Experimente ausmacht (beispielsweise in den einschlägigen Versuchen, Primaten eine Zeichensprache zu vermitteln). Tier-Mensch-Kommunikation ist demnach, so könnte man in Anlehnung an das theologische Offenbarungsverständnis formulieren, mehr Selbstoffenbarung denn belehrend-instruktive Mitteilung. Smuts formuliert mit ihren Beobachtungen zugleich ein tierkommunikatives Pendant zu den zentralen Einsichten Paul Watzlawicks in die Bedingungen gelingender Kommunikation: Man kann nicht nicht kommunizieren – auch nicht mit Tieren. Hier scheint eine weitere Paradoxie der Tier-Mensch-Kommunikation zu liegen: Sie bleibt selbst noch in ihrer theoretischen Aufarbeitung hinter den Einsichten der gängigen Kommunikationsmodelle zurück und vernachlässigt oftmals besonders die Dimensionen von Ausdruck (Selbstauskunft) und Appell, indem sie sich auf den vermeintlich einfacher zu operationalisierenden Moment der kommunikativen Darstellung (d. h. des verhandelten Inhalts) beschränkt. Eine weitere Beobachtung ergänzt das bisher Gesagte und bringt die Frage mit ins Spiel, warum diese kommunikativen Konventionen trotz ihrer offensichtlichen Defizite so erfolgreich sein konnten. In unserem RomanBeispiel muss Deckard in einer der bereits erwähnten Tierreparatur„Kliniken“ anrufen. Die Klinik meldet sich am anderen Ende der Leitung: „Hier spricht die Tierklinik ‚Glücklicher Hund‘“, sagte eine männliche Stim108

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me. Auf Ricks Videoschirm erschien ein kleines glückliches Gesicht. Im Hintergrund hörte man Tiere schreien.“17 Nun ist das (Video-)Telefon bekanntermaßen ein durchaus heikler Ort der Kommunikation – wir merken dort besonders deutlich, wie sich der Ausschluss der nur scheinbar nebensächlichen Körpersprache, von Mimik und Gestik, auszuwirken vermag. Auch wenn die Situation für Deckard selbst wenig Irritationspotential besitzt, drängt sich spätestens beim Lesen die Diskrepanz zwischen dem nach außen getragenen (visuell angedeuteten) Glück der Tiere auf dem Bildschirm und ihrem (hörbaren) Schreien auf. Dass der Besitzer der Tierklinik dann noch den sprechenden Namen Hannibal Sloat trägt, dessen phonetische Nähe zum englischen Verb ‚(to) slaughter‘ (‚schlachten‘) sich hörbar aufdrängt, mag für weiteres Unbehagen sorgen. Offenbar weiß der Roman sehr genau, dass insbesondere die Schaltstellen, an denen die elementaren Unterscheidungen zwischen echt – unecht, Mensch – Tier, sprachfähig – sprachlos, beseelt – unbeseelt usf. zusammenlaufen, wie sie es in der Tierklinik des Romans tun, mit besonderer Vorsicht zu beobachten sind. Ihnen obliegt es mitunter, die Differenzen einzuebnen, zu betonen oder als moralisch (ir-) relevant zu markieren. Aus diesem Grund kann auch Elisabeth Costello, Protagonistin in J. M. Coetzees Kurzroman „Das Leben der Tiere“ von sich sagen: „Ein Philosoph, der behauptet, ob man zur menschlichen Rasse gehört oder nicht, hängt davon ab, ob man weißer oder schwarzer Hautfarbe ist, und ein Philosoph, der behauptet, ob man zur menschlichen Rasse gehört oder nicht, hängt davon ab, ob man Subjekt und Prädikat unterscheiden kann, haben für mich mehr Gemeinsames als Unterscheidendes.“18 „Der Mangel an Vernunft hat keine Worte“ Wie sehr die Handhabung der genannten Unterscheidungen menschlichen Machtinteressen unterliegt, haben auch Theodor W. Adorno und Max Horkheimer immer wieder hervorgehoben. In ihrem Werk Dialektik der Aufklärung schreiben sie dazu: „Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus. Mit seiner Unvernunft beweisen sie die Menschenwürde. Mit solcher Beharrlichkeit und Einstimmigkeit ist der Gegensatz von allen Vorvorderen des bürgerlichen Denkens […] hergebetet worden, daß er wie wenige Ideen zum Grundbestand der westlichen Anthropologie gehört. […] Die Behavioristen haben ihn bloß scheinbar 109

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vergessen. Daß sie auf die Menschen dieselben Formeln und Resultate anwenden, die sie, entfesselt, in ihren scheußlichen physiologischen Laboratorien wehrlosen Tieren abzwingen, bekundet den Unterschied auf besonders abgefeimte Art. Der Schluß, den sie aus den verstümmelten Tierleibern ziehen, paßt nicht auf das Tier in Freiheit, sondern auf den Menschen heute. Er bekundet, indem er sich am Tier vergeht, daß er, und nur er in der ganzen Schöpfung, freiwillig so mechanisch, blind und automatisch funktioniert, wie die Zuckungen der gefesselten Opfer, die der Fachmann sich zunutze macht. […] Dem Menschen gehört die Vernunft, die unbarmherzig abläuft; das Tier, aus dem er den blutigen Schluß zieht, hat nur das unvernünftige Entsetzen, den Trieb zur Flucht, die ihm abgeschnitten ist. Der Mangel an Vernunft hat keine Worte.“19

Die Entscheidung über die Handhabung der Differenz von sprachfähigen und sprachlosen Wesen erscheint als ein letzter Triumph der Descartes’schen Angst vor einer großen Täuschung über die Wirklichkeit der Dinge: Sie überwindet die angstvolle Unsicherheit, indem sie Fakten schafft. Die Fragen nach Sprache und Kommunikation sind demnach stets in Kontexten von Machtstrukturen zu sehen, darauf hat besonders auch der französische Philosoph Michel Foucault aufmerksam gemacht. Seine Antwort besteht auch in dem Ansatz, unser Wissen zu impersonalisieren – während Descartes noch in der Kognition des Subjekts den Fixpunkt aller erkenntnistheoretischen Sicherheit sah, weist Foucault daraufhin, dass Wissen durchaus unabhängig von den einzelnen Subjekten existieren kann. Er findet dafür den Ausdruck des ‚Diskurses‘, der zwar subjektunabhängig funktioniert, aber eben doch von den sozialen Strukturen kontrolliert, selektiert und kanalisiert wird. Zuschreibungen wie jene der Echtheit oder Unechtheit, Sprache oder Sprachlosigkeit, beseelten oder unbeseelten Wesen, Mensch oder Tier, sind aus der Sicht Foucaults in erster Linie als soziale Praktiken denn als tatsächliche ontologische Aussagen zu verstehen – sie sind, um es für unser Anliegen zu spezifizieren, immer auch Handhabungsformen von Kommunikation und Exklusion. Auch diese Beobachtung sei an zwei Beispielen verdeutlicht. 2011 hat die US-amerikanische Biologin Peggy Mason die Ergebnisse eines Tierexperiments veröffentlicht, das große Beachtung auch über die Biologie hinaus fand.20 Mason hatte in ihrer Versuchsreihe jeweils eine Ratte in einen durchsichtigen Plastiktubus gesperrt, in dem sich das Tier weder selbst bewegen noch sich befreien konnte. Zuvor hatten die Tiere allerdings gelernt, den Tubus von außen durch einen Mechanismus zu öffnen. Wenn Mason 110

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zu der jeweils gefangenen Ratte nun jeweils eine weitere freie Ratte in die Versuchsanordnung setzte, wurde diese mit der Möglichkeit konfrontiert, den Mechanismus zu betätigen, um die gefangene Ratte zu befreien oder alternativ ein Stückchen ihres Lieblingsfutters zu erhalten. Masons Experiment fand auch deshalb so große Beachtung, weil sie nachweisen konnte, dass ein erstaunlich hoher Anteil der Tiere sich für die Betätigung des Öffnungsmechanismus entschied; das Experiment wurde in der Folge daher bisweilen als Nachweis von rattenspezifischer Empathie bzw. Altruismus gedeutet. Ungeachtet aller möglichen weiteren Fragen, die sich im Anschluss an dieses Experiment sicher ergeben, scheint auch hier unsere Ausgangsunterscheidung von Kommunikation und Exklusion eine gewichtige Rolle zu spielen, denn auch hier können wir beobachten, wie die Dialektik zwischen beiden Polen regelrecht zuschlägt: Zwar befördert das Experiment ein in tierfreundlichen Kreisen sicher gern zu Kenntnis genommenes Ergebnis zu Tage, indem es die Ratten als empathiefähig ausweist – in unserem Romanbeispiel hätten sie damit gute Chancen, in die Communio der ‚echten‘, womöglich sogar der menschlichen Wesen aufgenommen zu werden. Aber selbst ein solches Experiment kommt nicht umhin, gleichermaßen Ausschließungseffekte zu produzieren: Um der sicher wertvollen Erkenntnis willen müssen die Durchführenden ihre eigene Empathie zumindest methodisch ausklammern und den Tieren die Angst in den engen Röhren zumuten. Die Gretchenfrage: „Beseelt werden“ oder „eine Seele haben“? In einem Kapitel dieses Bandes diskutiert Gregor Taxacher den christlichen Animismus und deutet ihn als Ausdruck der Gottesbeziehung aller kreatürlichen Wesen. Ich möchte diese Erkenntnis für die Frage des kommunikativen Verhältnisses von Gott, Tier und Mensch aufnehmen. Weder die Sprach- noch die Empathiefähigkeit dürfte die Grenzziehung zwischen bzw. die Verbindung von Tier und Mensch schließlich so sehr theologisch geprägt haben, wie die Diskussion um die Seele von Mensch und Tier. Die Antwort der Tradition ist dabei klar und eindeutig: Einzig der Mensch hat eine ewigkeitsfähige Vernunftseele, dem Tier kommt lediglich eine anima vegetativa zu, die der Vergänglichkeit anheimgegeben ist. In dieser Hinsicht markiert die Seelenfrage die elementarste Unterscheidung von Mensch 111

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und Tier. Eine Theologie der Tiere muss vor der Seelenfrage dennoch nicht vorschnell kapitulieren. Einen klugen Ausweg zeigt der Aufsatz des Berliner Kulturwissenschaftlers Thomas Macho auf.21 Macho stellt infrage, dass die Rede von der Seele als einer Substanz, die allzu oft ebenfalls als ein Unterscheidungskriterium zwischen Tier und Mensch herangezogen wurde, ihrem Entstehungskontext tatsächlich entspricht. Dass wir bis heute noch die Annahme einer Seele in einer Form festhalten, dass sie als eine Substanz erscheint, die ein Wesen besitzen oder schlicht haben oder nicht haben könne  – diese Denkweise erscheint für Macho als Indiz für eine machtüberformte und zudem ihrem Ursprungskontext entfremdete Gewohnheit: Demnach sei „die Beschreibung der Seele als Substanz, als ‚Besitz‘ eines Eigentümers historisch sehr viel später aufgekommen als die Erfahrung von Beseelungen.“ Die Unterscheidung zwischen der Rede von einer Seele, die etwa ein Tier besitze oder nicht besitze, und der Rede von der Beseelung markiert für Macho den entscheidenden Unterschied zwischen einer besitzmarkierenden ontologischen und einer funktionalen Verstehensweise des gleichen Phänomens: „Kein Ding besitzt eine Seele, doch kann es beseelt werden oder selbst beseelen.“ Macho zeigt dabei auch, dass selbst noch die bei Descartes als Hervorhebung gedachte Auszeichnung des Menschen mit einer solchen Seele durchaus nicht dem später als aufklärerisch-deklarierten Ideal der Autonomie und Selbstbestimmung entsprechen muss, schließlich wird den Staatsregierungen bis heute „ein gewisser Anspruch auf die Seelen der (meist männlichen) Bevölkerung zugestanden: Bei Kriegseintritt wird auch die aufklärerische Idee des Selbstbesitzes kassiert und auf Fahnenflucht steht nicht umsonst die Todesstrafe. […] Das Gewicht der Überzeugung, Menschen seien exklusive Eigentümer ihrer Körper und Seelen, lässt sich mühelos verringern“22. Das, was Macho hier unter den Begriff der Beseelung fasst, scheint mir eine überaus geeignete Antwort auf unsere Frage nach angemessenen Beschreibungen für kommunikative Verhältnisse, wie sie Trias von Gott – Tier – Mensch ausmachen (können), nach einer Sprache, die den Wesen und Dingen gerecht wird, ohne sie zu vereinnahmen. Auch mit methodisch unverstelltem Blick auf die Tiere der eigenen Umgebung bestätigt sich mitunter die These Thomas Machos, dass längst bevor wir überhaupt auf die Idee kommen, dass Tiere, andere Menschen oder man selbst eine Seele besäße, uns zuallererst die Erfahrung einholt, dass wir selbst beseelt werden: Ein kurzer Blickwechsel zwischen mir und meiner Katze oder meinem Hund kann das bewirken – dennoch liegt sein Zustandekommen außerhalb der eigenen Macht. Dies 112

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scheint ein weiteres Indiz zu sein, dass die Rede von der Beseelung eine weitaus passendere Redeweise für die Communio von Tier, Gott und Mensch darstellt und vorschnellen Dressur- oder Programmierungsabsichten widersteht. Mit diesem Begriff scheint etwas sehr ähnliches bezeichnet zu sein wie jene von Thomas Ruster bereits erwähnten Beobachtungen zu den paradiesischen Beziehungen von Gott, Tier und Mensch: Es geht um Resonanzverhältnisse, um das Ansprechen und Antworten, nicht um Besitz oder unterdrückende Herrschaft. Beseelungen, so notiert Macho, „entstehen aus Unterbrechungen und Störungen einer gewohnten Routine, Funktionen der Beseelung können erfahren werden, sobald etwas nicht mehr funktioniert. […] Wer von Beseelung spricht, kann stets nur […] den Rücken der Ereignisse, Dinge, Räume oder Personen zeigen.“ Was soll es bedeuten, nur den Rücken zeigen zu können und doch von Beseelung zu sprechen? Macho erklärt diesen Gedanken mit dem Hinweis auf ein Zitat Ernst Blochs: Vom „Rücken“ der Dinge und Personen zu sprechen, bedeute demnach, von ihren Spuren zu sprechen, von der Unterstellung eines Inneren dort zu reden, wo doch nur das Äußere, eben jener Rücken der Dinge und Personen sichtbar ist. Bloch schreibt: „Was ‚treiben‘ die Dinge ohne uns? Wie sieht das Zimmer aus, das man verlässt? Das Feuer im Ofen heizt, auch wenn wir nicht dabei sind. Also, sagt man, wird es dazwischen wohl auch gebrannt haben, in der warm gewordenen Stube. Doch sicher ist das nicht und was das Feuer vorher getrieben hat, was die Möbel während unseres Ausgangs taten, ist dunkel. Keine Vermutung darüber ist zu beweisen, aber auch keine, noch so phantastische, zu widerlegen. Eben: Mäuse tanzen auf dem Tisch herum, und was tat oder war inzwischen der Tisch?“23

Offenbar passt der Beseelungsbegriff, wie Macho ihn hier in Anlehnung an Bloch verwendet, auch zu einer ganz typischen Alltagserfahrung mit Tieren: Gelegentlich verschwindet mein Hund im nicht ganz übersichtlichen Garten – und während ich ihn umherblickend suche und dabei nie ganz der Furcht entkomme, er könnte durch ein mir unbekanntes Loch im Zaun verschwunden sein, sehe ich ihn plötzlich in einem entfernten Winkel des Gartens umherstreifen; durch einige Äste sehe ich seine Hinterbeine, seinen Rücken durch mein Blickfeld huschen. Zu sehen, dass ‚mein‘ Hund in diesen Moment völlig allein ist, ein Eigenleben besitzt, in dem er gut und gerne ohne mich auskommt und sich nur für die Mäuselöcher, Sträucher und Erdhaufen des Gartens interessiert  – diese Erfahrung ist 113

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sicher auch für mich eine ‚beseelende‘ Erfahrung. Wir merken auf diese Weise immer wieder, dass insbesondere Tiere wie auch die Natur im Allgemeinen uns etwas zu sagen haben, oder genauer: dass wir uns von ihnen bzw. von ihr angesprochen fühlen – sie besitzen offenbar die Fähigkeit, „jemanden unerwartet, und am Bewusstsein vorbei anzurühren“24. Dennoch klingt mit der Rede von jenem Rücken der Wesen und Dinge theologisch noch mehr an Gehalt an, erinnert sie doch überdeutlich an ein Kapitel aus dem Buch Exodus: Auf die Ankündigung Gottes, nicht in der Mitte des israelitischen Volkes ziehen zu können, bittet und fleht Mose für sein Volk. Über der Szene liegt der Schatten jener zuvor von Gott ausgesprochenen Möglichkeit, dass sein Zorn das israelitische Volk verbrennen und verzehren werde. Angesichts dieser radikalen Grenzaussage erinnert Mose an die Verheißung und bittet Gott, ihn seine Herrlichkeit sehen zu lassen – er bittet, so darf man wohl sagen, um eine kommunikative Bestätigung der Verheißung. Dazu heißt es: „Dann sprach der Herr: Hier, diese Stelle da! Stell dich an diesen Felsen! Wenn meine Herrlichkeit vorüberzieht, stelle ich dich in den Felsspalt und halte meine Hand über dich, bis ich vorüber bin. Dann ziehe ich meine Hand zurück und du wirst meinen Rücken sehen. Mein Angesicht aber kann niemand sehen.“ (Ex 33,21 f.)

Der Rücken und (das nicht erkennbare) Angesicht Gottes treten also hervor als das, was die Theophanie hier auszeichnet. Im Hebräischen bezeichnen die beiden Begriffe zudem nicht nur räumliche (vorne – hinten), sondern auch zeitliche Dimensionen (früher  – später). Der Text legt nahe, dass die Offenbarung an Mose gerade im zeitlichen Vorüberziehen Gottes besteht: Gott wird offenbar an den Spuren, die er in der Geschichte hinterlässt und hinterlassen wird. Der Rücken, der Mose zu sehen erlaubt wird, ist die angemessene Antwort auf seine Bitte um Kontinuität, auf die Bitte, dass die Geschichte seines Volkes mit JHWH nicht beendet sein möge. Geschichte und Kontinuität  – was bedeuten diese theologischen Aussagen zur Selbstoffenbarung Gottes für unser Nachdenken über Tiere? Zunächst wohl das: Sie sind eine Antwort auf die Angst vor der großen Täuschung, die Descartes allen Dingen und Wesen (zumindest methodisch) unterstellte. Wenn wir diesem Kernbestand jüdisch-christlicher Theologie trauen, lesen wir ihn als ein Veto gegen den Generalverdacht gegenüber aller Wirklichkeit, der uns bisweilen soweit geführt hat, eigenen Intuitionen grundsätzlich zu misstrauen, eben weil sie mit jenem Maß an 114

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Evidenz aufleuchten, die Intuitionen eigen ist. Schon im „Bladerunner“ lässt sich an unzähligen Stellen ablesen, wie sehr Menschen gerade im Umgang mit Tieren immer wieder gegen ihre Intuition ankämpfen: Einer der Angestellten der Tierklinik, Isidore, bringt etwa in der Romanmitte eine kranke elektronische Katze als Notfall in die Tierklinik.25 Er bemerkt mit zunehmender Irritation sein eigenes Mitleid mit dem schreienden Tier, nur um sich immer wieder zur Räson zu rufen. Als er es nicht mehr aushält, beschließt er, die kaputte Elektronik des Tiers noch unterwegs zu reparieren. Mit zunehmender Verzweiflung sucht er die elektronischen Krankheitsrelais und die versteckten Armaturen der Katze, bleibt aber erfolglos. Als er die Tierklinik schließlich erreicht, stirbt die – wie sich herausstellt: echte – Katze. Und auch Rick Deckard bemerkt, nachdem er die letzten drei flüchtigen Androiden getötet hat, dass dies wohl nur möglich war, weil er seine eigene Empathie mit den Androiden stets unterdrückt hat: „Was ich getan habe, ist mir jedoch zuwider. Alles um mich herum ist unnatürlich geworden. Ich selbst bin ein unnatürliches Wesen.“26 Es ist allerdings keine verabsolutierende Gewissheit, die hier in den Begriffen von Intuition und Evidenz, von Geschichte und Kontinuität zur Sprache kommt, es geht nicht um die Notwendigkeit eines die Weltgeschichte ordnenden Geistes, sondern eine vorsichtig aufkeimende Hoffnung: Kontinuität und Geschichte sind möglich und erfahrbar, den Dingen ist zu trauen so wie bisweilen auf die Fährten der Tiere Verlass sein kann. Die Hoffnung dazu (wie auch bei Descartes die Angst vor der großen Täuschung) liegt auch darin begründet, dass Mose Gott hinterhersehen darf – der „sagbare[n] Spur des Unsagbaren“27. Simone Horstmann Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7

Sebeok, Theorie und Geschichte der Semiotik, 80. Berger, Warum sehen wir Tiere an?, 34. Dick, Bladerunner, 45. Ebd., 14 f.; 18. Ebd., 50. Ebd., 34 f. Zu Descartes’ Folgen für die Tiertheologie vgl. besonders Hagencord, Diesseits von Eden, 56 ff.

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von Balthasar, Gott redet als Mensch. Luther, Scholien zum Römerbrief, 376 f. Rahner, Über die Verborgenheit Gottes, 299. Tillich, Offenbarung und Glaube, 33 f. Descartes, Discours de la Méthode, 43. Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Ebd., 120.

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Ebd., 254. Smuts, Sex and Friendship in Baboons. Dick, Bladerunner, 36. Coetzee, Das Leben der Tiere, 74. Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, 219. Mason/Bartal, Empathy and Pro-Social Behavior in Rats, 1427–1430. Macho, Beseelungen, 401–408.

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Ebd., 405 ff. Bloch, Der Rücken der Dinge, 172  f., zitiert nach Macho, Beseelungen. Minssen, Zur Phänomenologie des Windes, 235. Dick, Bladerunner, 76  ff. Ebd., 211. Lehnert, Korinthische Brocken, 21.

Tiere – Sakramente der Transzendenz Auf der Suchen nach dem lebendigen Gott

Offenbar ist es für Tiere leichter, Götter zu werden als Menschen. Das ist jedenfalls der Eindruck, den unsere Dortmunder tiertheologische Arbeitsgruppe nach dem Besuch der Ausstellung tiere. unterwerfung harmonie respekt im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg hatte.1 Schon das älteste Exponat, der Bernsteinelch von Weitsche aus dem 14. Jahrtausend v. Chr., verdeutlicht, dass der Elch, der den Menschen jener Zeit Nahrung, Fell und das Geweih zur Herstellung von Werkzeugen und Waffen lieferte, eine gottähnliche Stellung hatte. Die Physis und das breite Geweih verleihen dem Tier Dominanz. Im 4. Jahrtausend v. Chr. ist das Tier ganz nah an die Götter herangerückt. Der auf einem altägyptischen Amulett dargestellte Pelikan wurde als Mutter des Pharaos bezeichnet und war wahrscheinlich der der Muttergöttin Nut beigefügte Seelenvogel. Überhaupt ist die Ausstellung in Ägypten vielfach fündig geworden. Aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. stammt das Exponat des Horusfalken: Der falkenköpfige Horus ist der Sohn der Himmelsgöttin Isis und ihres Bruders Osiris. Der Gott Thot dagegen wird im 3. Jahrhundert v. Chr. in Gestalt eines sitzenden Pavians dargestellt: Der Mantelpavian war das heilige Tier des Thot, des Gottes des Mondes, der Magie, Wissenschaft und Weisheit sowie der Schreiber. Gleich mehrfach stoßen wir auf Statuetten der katzenköpfigen Göttin Bastet. Aufgrund ihres sanften Wesens und ihrer nützlichen Jagd auf Mäuse und anderes Kleingetier nahm die Katze die Stellung eines Hausgötzen ein. Frühe Höhlenmalereien aus Afrika wie der schreitende Mann mit Elefantenkopf scheinen einer animistischen Kultur anzugehören, in der die Sphären des Menschlichen, Tierlichen und Göttlichen nicht klar geschieden 117

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sind. Ob der schreitende Mann einen schamanischen Mittler zwischen tierlicher und menschlicher Sphäre darstellt oder die chimärenhafte Figur eine mystische körperliche Verbindung zum Tier ausdrückt, kann nur vermutet werden. Die Ausstellung führt uns weiter ins europäische Mittelalter. Das Sirenen-Aquamanile (liturgisches Gefäß zum Waschen der Hände) aus dem Stift Hildesheim von 1230 bildet die Sirene als bekrönte Bestie mit Frauenkopf und Greifvogelkörper ab. Den Sagen zufolge locken Sirenen vorbeifahrende Seeleute arglistig mit ihrem betörenden Gesang an, um sie zu ermorden und anschließend zu verspeisen; ihre Bannung an das liturgische Gerät soll demgegenüber die Herrschaft des Guten über das Böse und gleichsam die des Menschen über das Tierreich artikulieren. Eine ganze Reihe weiterer Exponate bis ins 19. Jahrhundert hinein verbinden Tiere mit sexueller Enthemmung und Überwältigung, so Der Kuss der Sphinx des Franz von Stuck von 1895. Solche Darstellungen repräsentieren oftmals den archaischen Kampf ums Dasein oder den Kampf der Geschlechter, wie im Fall der Sphinx mit menschlichem Ober- und löwenartigem Unterkörper. Die tierisch-triebhafte Gefahr kann von der Frau oder dem Mann ausgehen, Letzteres etwa bei dem Gorilla, eine Frau raubend des Emmanuel Frémiet von 1887. Diese sexuellen Konstellationen werden in vielen Variationen wiederholt. Das Tier, ehemals dem Göttlichen verwandt, wandert offenbar in der Neuzeit entweder ins Bedrohliche und Unheimliche und, wie wir später sehen werden, ins Groteske ab, oder es wird Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung. Von dieser zeugen wiederum zahlreiche Exponate, als eines der frühesten zum Beispiel die Arca Noë des Jesuiten Athanasius Kirchner (1602–1680), der in Bezug auf die Frage, welche Tiere wohl auf der rettenden Arche Platz gefunden haben, eine eingehende Klassifikation entfaltet, die gleichwohl zwischen wissenschaftlicher Zoologie und tradierter Mythologie mitunter changiert. Im 19. Jahrhundert sind dann die Reste der tradierten Mythologie ganz aus der Wissenschaft verschwunden. Man sieht Thomas Henry Huxleys Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur von 1863, Charles Darwins Evolutionsdiagramm über die Entstehung der Arten von 1867 und Ernst Häckels Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen von 1874. Etwa zur gleichen Zeit zeigen bürgerliche Tierschausammlungen wie die Firma Hagenbeck in Hamburg Primaten bei der Imitation menschlicher Tätigkeiten. „Nachgeäfft“ werden etwa europäische Tischkultur, das Motiv des Affen als Musikanten, sowie zirkusreife Rollschuh- und Fahrradszenen. Grotesk-komisch ist es, wie da Affen als Menschen agieren und doch mit ihren 118

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schlecht sitzenden Anzügen, ihren unvollkommenen Tischsitten und ihrer affenartigen Behändigkeit immer Affen bleiben. Die humoristische Lesart dieser Imitationen speist sich aus der darin sichtbaren Differenz gegenüber dem erwachsenen, vernunftbegabten Menschen. Im 20.  Jahrhundert haben Tiere dann eine große Karriere in den Comics gemacht. Einen ganzen Gang lang präsentiert das Museum Comics, in denen menschliche Charaktere als lustige Tiere gezeichnet sind; erstaunlich, wie viele es davon gegeben hat. Die Comic-Tier-Figuren verhalten sich wie Menschen gegenüber Tieren. Die Ente Donald und seine Neffen Tick, Trick und Track werden von keinerlei Skrupeln geplagt, wenn sie zum Thanksgiving-Fest einen Truthahnbraten verspeisen. Das Begleitheft kommentiert wieder klug: Hier werde die von Widersprüchen gekennzeichnete soziale Interaktion zwischen Mensch und Tier deutlich. Durch eine willkürliche Hierarchisierung als Freund oder Futter ist der Mensch in der Lage, die gleiche Spezies Tier mit unterschiedlichem Maß zu messen, sie zu töten oder zu hegen. Der Mensch stammt vom Affen ab, wie man sagt. Seit Darwin steht dies fest. Aber wo ist die Erinnerung an die tierliche Herkunft des Menschen in der Kulturgeschichte geblieben? Haben die Menschen ihr evolutionäres Gedächtnis verloren? Haben sie ihre tierliche Vergangenheit verdrängt? Die Ausstellung in Hamburg könnte als Beleg dieser These gelten. Tiere können Götter werden, das zeigen die frühesten Darstellungen bis in die vorchristliche Antike hinein. Aber niemals verwandeln sie sich in Menschen. In der antiken Literatur ist keine Beschreibung einer Verwandlung von Tieren in Menschen bekannt, es sei denn als Rückverwandlung, wenn ein Mensch aus irgendeinem Grunde ein Tier geworden war. Für die europäische Kultur repräsentiert das Tier dann überwiegend das Untermenschliche, besonders eindringlich in der Darstellung tierhaft-triebhafter Sexualität, von der die Ausstellung zeugt. Nach der Entdeckung Darwins hat sich die Lage insofern gewandelt, als nun die tierliche Herkunft des Menschen nicht mehr geleugnet werden konnte. Weder den Tieren selbst noch dem Bild des Tieres hat dies gut getan. Die Wissenschaft schritt voran und zerlegte die Tiere auf dem Seziertisch, die Wirtschaft schritt voran und nutzte sie als Ressourcen wie andere Erdengüter auch, in Kunst und Unterhaltungskultur fungieren sie überwiegend als groteske Gegen- und Zerrbilder des Menschen. Nimmt man die wenigen literarischen Zeugnisse, die von der Verwandlung von Tieren in Menschen handeln – Franz Kafkas Bericht 119

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für eine Akademie (1917), Michael Bulgakovs Hundeherz (1925), Pierre Boulles Planet oft he Apes (1963) – so geht diese Verwandlung immer böse aus. Der evolutionäre Vorgang findet keine adäquate Spiegelung in der Kultur. Die Tiervergessenheit, die wir in diesem Buch der Theologie attestieren, ist doch zugleich auch die Tiervergessenheit des Menschen überhaupt. Seine Animalität ist dem Menschen ein Problem, mit dem er bis heute nicht zurechtkommt. Die Ausstellung in Hamburg zeigt wenig bis nichts vom Bild des Tieres im Christentum. Vielleicht wäre einiges zu holen gewesen bei den Heiligen und ihren Tieren, bei christlichen Volksbräuchen, bei der Darstellung der Schöpfung wie etwa jener berühmten von Lucas Cranach dem Älteren, dem Zeitgenossen und Freund Martin Luthers. Zur Frage nach dem Übergang vom Tier zum Menschen hat das Christentum jedoch nichts zu sagen. Denn nach christlicher Auffassung stammt der Mensch nicht vom Affen ab, sondern von Gott. Daraus muss nicht notwendig eine Absage an die Evolutionstheorie folgen, wohl aber sagt es etwas aus über das Bild des Menschen und sein Verhältnis zum Tier. Die Menschen sind nach dem Bilde Gottes geschaffen. Sie üben an Gottes Stelle die Herrschaft über die Tiere aus. Der „wahre Mensch“ ist, wie es das Konzil von Chalcedon 451 n. Chr. definierte, zugleich der „wahre Gott“. Christen sollen Christus imitieren. Und damit Gott selbst. Das Dogma von der Menschwerdung Jesu Christi löst den Menschen von seiner tierlichen Vergangenheit. Das kann man als die vielleicht größte kulturelle Revolution der Menschheit bezeichnen. Der Mensch braucht sich nicht mehr als Tier zu fühlen. Aber gleich muss man weiterfragen: Ist das der Grund dafür, dass das christliche Abendland zu einer Klärung des Mensch-Tier-Verhältnisses so wenig beigetragen hat? Dass die industrielle Ausbeutung der Tiere auf dem Boden des Christentums erwachsen ist? Dass der Mensch nun in Gottes Namen über die Erde herrscht – und am Ende auch über Gott selbst, den er, der Mensch, nach seinem Bilde erschafft? Hat der christliche Glaube Gott das Tierliche ausgetrieben, das doch die Götter nach Ausweis der Religionsgeschichte immer an sich gehabt haben? Ist vielleicht die Verarmung, die Schattenhaftigkeit des christlichen Gottesbildes heute die Folge davon? Das sind die Fragen, die uns in diesem Kapitel beschäftigen werden. Zuerst möchte ich mir das Verhältnis zwischen Mensch und Tier näher anschauen: Ab wann ist der Mensch ein Mensch? Dann geht es um das Verhältnis der Götter zu den Tieren, mit besonderer Rücksicht auf den Gott der Bibel. Dass Tiere etwas mit Transzendenz zu 120

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tun haben, ist ein Gedanke, den Thomas Mann äußerte. Indem wir diesem Gedanken nachgehen, kommen wir vielleicht zu einem tieferen Verständnis von Lebendigkeit. Und erkennen dann womöglich genauer, was die Lebendigkeit des lebendigen Gottes ausmacht. Der Mensch: Das Tier, das sich als Tier erkennt Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Die Frage ist gar nicht einfach zu beantworten. Blickt man in die Evolutionsgeschichte zurück, dann ist durchaus nicht klar, wo und wann sich der Übergang von der Affen- zur Menschenebene vollzogen hat. Im Blick auf die intensive Diskussion zu dieser Frage, an der Paläontologie, Anthropologie, Biologie und Kulturwissenschaft beteiligt sind, hat Gregor Taxacher die Argumente geprüft und gefunden, dass weder aus dem genetischen Material noch aus der Zuordnung zu einer biologischen Spezies noch aus kulturellen Fähigkeiten wie etwa der Sprache oder sozialer Fürsorge eine eindeutige Antwort zu finden ist. Es gibt keine determinierbaren äußeren Faktoren, die den Menschen vom Tier unterscheiden. Der Mensch kann sich in seiner Unterscheidung zum Tier nicht objektivieren. Vielmehr braucht es immer schon menschliche Selbsterfahrung, um in einem anderen Wesen – und seien es die frühesten Funde von menschlichen Überresten in der jahrmillionenlangen Evolutionsgeschichte – einen Menschen zu erkennen. Taxacher formuliert: „Menschsein ist dort, wo anderes Menschsein es wiedererkennt, wo es sich begegnet“2. Oder mit Giorgio Agamben gesprochen, an den sich Taxacher hier anschließt: „Der Mensch hat keine spezifische Identität außer derjenigen, daß er sich selbst erkennen kann. Den Menschen aber nicht durch eine nota characteristica, sondern durch Selbsterkenntnis zu definieren, bedeutet, daß nur derjenige ein Mensch sein wird, der sich selbst als solcher erkennt, daß der Mensch dasjenige Tier ist, das sich selbst als menschlich erkennen muß, um es zu sein“3. Eine überraschende Bestätigung dieser Aussage findet sich ausgerechnet bei Carl von Linné, dem Erfinder der Klassifikation der natürlichen Arten. Der schwedische Forscher reiht den Menschen wie selbstverständlich unter die Primaten ein, zu denen auch die Gattung der sog. Menschenaffen gehört. Zur Gattung Homo führt er in seinem Werk Systema naturae im Unterschied zu allen anderen Gattungen keine spezifische Kennzeichen auf, sondern nur den alten philosophischen Sinnspruch nosce te ipsum  – erkenne dich selbst! 121

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Hier ist, wie Agamben bemerkt, keine Gegebenheit, sondern ein Imperativ die spezifische Differenz. Erst ab der 10. Auflage seines Werkes benutzt Linné die heute noch geläufige Bezeichnung homo sapiens, die ja aber genau genommen dasselbe besagt wie der alte Sinnspruch: Der Mensch soll weise sein, um Mensch zu sein4. Der Mensch wird Mensch durch Erkenntnis seines Menschseins. Diese Definition scheint sich im Kreis zu drehen, denn die Frage ist ja, was Menschsein ist. Agamben ist diesem Problem weiter nachgegangen und dabei auf eine Vorlesung Martin Heideggers von 1929/30 gestoßen, in der der Freiburger Philosoph die Beziehungen von Menschen und Tieren zu ihrer Umwelt untersucht. Tiere leben jeweils in ihrer eigenen Welt, in einer geschlossenen Einheit, in der die Dinge für sie ihre ganz spezifische Bedeutung haben. Der Zoologe Jakob von Uexküll, der diese Erkenntnis verbreitet hat, macht dies am Beispiel eines Blumenstiels deutlich. Für ein blumenpflückendes Mädchen, das sich einen Strauß bunter Blumen bindet, hat der Blumenstiel eine andere Bedeutung als für eine Ameise, für die er der Weg zur Nahrung in der Blüte ist, oder für die Zikadenlarve, die sich ein Loch in den Stiel bohrt und ihn als Zapfstelle benutzt, oder für die Kuh, die ihn als Nahrung kaut und schluckt5. Es gibt, so Uexküll, keine einheitliche, für alle Lebewesen gleiche Welt. Heidegger setzt diese Erkenntnis voraus, wenn er – in seiner eigenwilligen Sprache – das Weltverhältnis der Tiere als Benommenheit bezeichnet6. Das soll sagen: Das Tier kann sich gegenüber seiner Umwelt nicht frei verhalten, es kann sich ihr gegenüber nur benehmen. Es sieht die Dinge nicht als etwas, die Dinge offenbaren sich ihm nicht in ihrem eigenen Sein, sondern es geht mit ihnen als Elementen seiner Umwelt um. Nun würde man erwarten, dass Heidegger so weitergeht, wie es die gesamte philosophische Tradition vor ihm gemacht hat: Dass er im Unterschied zum Tier das Weltverhältnis des Menschen als Offenheit für das So-Sein der Dinge erklären wird. Dass er sagen wird, dass der Mensch Vernunft hat, die es ihm ermöglicht, zur Welt in Distanz zu gehen und die Dinge objektiv zu erkennen. Aber der Philosoph geht einen anderen Weg. Auch der Mensch ist benommen. Auch für ihn ist die Welt stets nur seine Umwelt. Auch er sieht die Welt nur mit seinen eigenen Augen. Er kann nicht sehen, wie er die Welt sieht, denn das Auge sieht sein Sehen nicht; und wenn es es sehen könnte, wäre es wieder nur das Sehen dieser Augen. Wenn Heidegger in seinen Werken (so schon in Sein und Zeit von 1927) immer wieder von der Angst und der Furcht als den Existentialen des 122

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menschlichen Daseins spricht, so ist das aus dieser Blindheit des Menschen gegenüber der Welt zu erklären: Sehe ich die Welt eigentlich richtig? Lebe ich realitätskonform? Die meisten Verhaltensweise der Menschen, ihre Suche nach Bestätigung oder der Drang, sich so zu verhalten wie die anderen auch, kann man aus dieser Grundangst ableiten. Der Mensch aber kann im Unterschied zum Tier wissen, dass es so ist. Er kann um die eigene Benommenheit wissen. Heidegger hat das in einer tiefgehenden, mehrere hundert Seiten umfassenden Analyse der tiefen Langeweile herausgearbeitet. Sein Beispiel dafür ist das mehrstündige Warten auf einen Zug in „einem geschmacklosen Bahnhof einer verlorenen Kleinstadt“. Da wird deutlich, dass wir „gebunden und ausgeliefert an das sind, was uns langweilt“7. In seinen Worten: „Das Dasein findet sich durch diese Langeweile gerade vor das Seiende im Ganzen gestellt, sofern in dieser Langeweile das Seiende, das uns umgibt, keine Möglichkeit des Tuns und Lassens mehr bietet. Es versagt sich im Ganzen hinsichtlich dieser Möglichkeiten. … Das Dasein findet sich so ausgeliefert an das sich im Ganzen versagende Dasein“8. In dieser Erfahrung des Ausgeliefertseins ist der Mensch den Tieren gleich. Nur dass das Tier sich dabei nicht langweilt, sondern einfach in seiner Welt lebt. Im Labor Jakob von Uexkülls hat eine Zecke achtzehn Jahre lang ohne Nahrung und in absoluter Isolierung überlebt9. Wir wissen nicht, wie sie sich dabei gefühlt hat. Hat sie sich gelangweilt? Der Mensch aber kann sich langweilen. Der Mensch ist „einfach ein Tier, das gelernt hat, sich zu langweilen, das aus der eigenen Benommenheit in die eigene Benommenheit erwacht ist“10. Er kann im Unterschied zum Tier die nicht genutzten Möglichkeiten in der Zeit der Langeweile erkennen, aber er kann sie nicht ergreifen. Die Umwelt des Tieres dagegen ist so beschaffen, „daß sich in ihr niemals so etwas wie eine reine Möglichkeit eröffnen kann“11. Das bedeutet nun nach Heidegger nicht, dass der Mensch über alles Gegebene hinausgehen, dass er sich mit seiner Vernunft gleichsam aufschwingen und wie die Engel die Welt von oben sehen kann. Es ist ja gerade das Ausgeliefertsein, wie es sich in der Langeweile offenbart, das ihm seine besondere menschliche Konstitution deutlich macht – und die er mit den Tieren teilt. Heidegger kann deshalb sagen (in den Worten Agambens), „daß die Öffnung der menschlichen Welt … nur auf dem Weg durch das Nicht-Offene der animalischen Welt erreicht werden kann“12. „Das eingefasste Juwel im Zentrum der menschlichen Welt … ist nichts anderes als die animalische Benommenheit“13. Der Mensch erkennt sich selbst, indem er das Tierliche in sich erkennt. Das Menschliche ist die Erkenntnis des Tieres im Menschen. 123

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Sicher hat Heidegger in dieser Sache das letzte Wort noch nicht gesprochen. Aber er hat doch der eingefahrenen Vorstellung nachdrücklich widersprochen, dass der Mensch sich durch seine Vernunft weit über die Tiere erhebe, dass er eher den Engeln und den Göttern gleicht, wenn er – in den wenigen Zeiten seines Lebens, in denen er die „animalische“ Bedürftigkeit nach Nahrung und Sexualität hinter sich lässt – zu objektiver Welterkenntnis fähig ist. Ich sehe die in der Hamburger Ausstellung dokumentierten durchwegs missratenen Versuche, den Menschen zum Tier ins Verhältnis zu setzen, als Beleg für eine mangelnde Selbsterkenntnis des Menschen. Und das auch noch nach der Entdeckung Darwins, der doch die Nähe von Mensch und Tier unwiderleglich aufgezeigt hat! Mit der Selbsterkenntnis des Menschen stehen wir ganz am Anfang. Sie hat bei der Verwandtschaft mit den Tieren anzusetzen. Vielleicht können uns die Götter weiterhelfen, die ja ausweislich der Kulturgeschichte ihre Nähe zu den Tieren nicht verleugnet haben. Götter und Tiere Im August 1990 schockierten die beiden Alttestamentler Othmar Keel und Christoph Uehlinger die zu ihrer Jahrestagung in Luzern zusammengetretenen deutschsprachigen katholischen Alttestamentler und Alttestamentlerinnen durch einen mehrstündigen Dia-Vortrag, in welchem sie eine Fülle von Bildmaterial zu Gottesbildern im vorexilischen Israel präsentierten.14 Der Fokus der Tagung lag auf der Frage, ob es nicht neben dem Gott Jahwe auch die Verehrung von Göttinnen, vor allem der verschiedentlich genannten Göttin Aschera gegeben hatte; leitend war dabei eine feministische Perspektive. Aber das Bildmaterial brachte auch zahlreiche Abbildungen zum Vorschein, auf denen Götter und Göttinnen als Tiere oder zusammen mit Tieren zu sehen waren. Der Ursprung der meisten Darstellungen lag in Ägypten oder im syrischen Raum, sie waren aber in Israel im Umlauf oder wurden dort selbst hergestellt. Aus der mittleren Bronzezeit (ca. 1750– 1550 v. Chr.) sind Skarabäen (kunstvolle Nachbildungen des als heilig verehrten Mistkäfers bzw. Pillendrehers) überliefert, die Capriden (Ziegenund Schafartige), Boviden (Rinderartige) sowie Löwen und immer wieder nackte Göttinnen allein oder zusammen mit Tieren und Pflanzen (Bäumen, Zweigen) zeigen. Seltener finden sich Krokodile, Nilpferde und Tauben. Eine religiöse Bedeutung ist schon durch ihre Darstellung auf den 124

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heiligen Skarabäen, oft aber auch durch den ikonographischen Zusammenhang erkennbar. Man erblickt Personen in Gesten der Verehrung. Die Bildmotive konnten offenbar recht frei kombiniert werden. Mal ist die nackte Göttin als Herrin der Tiere inszeniert, mal zusammen mit den Tieren, deren Symbolik (Fruchtbarkeit, Agilität, Liebeskraft) ihre Eigenschaften charakterisieren. Die Darstellung des Löwen hatte wohl zunächst eine apotropäische, das Unheil abwendende Funktion, er konnte aber auch ebenso wie der Horusfalke zum Attribut eines Herrschers werden. Das Krokodil stand vermutlich für eine Unheilsmacht, die dann von Göttern oder lokalen Herrschern metaphorisch überwunden wurde. Die sog. Nilpferdgöttin ist eindeutig dem weiblichen Bereich zuzuordnen. Ihre Aufgabe war es, das Böse von Mutter und Kind fernzuhalten. In der späten Bronzezeit (ca. 1550–1200 v. Chr.) nimmt in den Darstellungen kriegerische Symbolik zu, analog zu den Kriegen, die zahlreich geführt wurden. Nun taucht auch das Pferd im Zusammenhang mit Streitwagen auf. In der Eisenzeit (ab ca. 1200 v. Chr.) bleiben die religiösen Tiersymbole konstant, zuweilen mit einem erkennbaren Interesse am Gedeihen der Tiere bzw. der Herden. Hinzu kommen abstraktere Symbole und astrale Symbolik. Ab dem 9. Jahrhundert v. Chr. finden sich in Israel Darstellungen, die die Göttin Aschera, oft dargestellt in Gestalt eines stilisierten Baumes, zusammen oder jedenfalls im Umkreis von Jahwe zeigen. Sollte Jahwe eine göttliche Gattin gehabt haben? Dass die Alttestamentler und Alttestamentlerinnen des Jahres 1990 so schockiert von der Präsentation waren – die Wellenschläge dieses Schocks gelangten bis an den dogmatischen Lehrstuhl, an dem ich damals tätig war – kommt daher, dass die Forschungsergebnisse von Keel und Uehlinger die bisher fraglos bestehende Auffassung erschütterten, der Glaube Israels sei klar von den umgebenden heidnischen Religionen geschieden gewesen. Naturgottheiten, weibliche Fruchtbarkeits- und Liebesgöttinnen insbesondere fielen unter das Idolatrieverbot. In den Texten der Bibel ist nichts davon zu lesen, dass es in der Religion Israels die Verehrung anderer Gottheiten gegeben hat, oder wenn doch, dann eben unter dem Vorzeichen des Götzendienstes. Aus dem zahlreichen Vorkommen der Tier- und Göttinnenbildnisse im Palästina des 9. bis 6. Jahrhundert v. Chr. war jedoch zu schließen, dass der Jahweglaube auch im orthodox-gläubigen Israel nicht so rein praktiziert worden ist wie die biblischen Texte glauben machen. Zwar wiegeln Keel und Uehlinger ab: Der „Befund einer jahwistisch orientierten Religion [werde] weder durch die onomastisch-epigraphische [durch die 125

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Namen auf Inschriften] noch durch die ikonographische Dokumentation widerlegt“; die anderen Gottheiten einschließlich der Aschera „galten nicht als Jahwe gleichrangige Größen, sondern als ihm unterstellte, seinen Schutz und Segen vermittelnde Instanzen“15. Doch wie auch immer, Tatsache ist, dass die biblischen Schriften Jahwe aus der mythologisch-naturnahen Vorstellungswelt der vorderorientalischen und ägyptischen Religion herausgelöst haben. Wohl wird Jahwe gelegentlich metaphorisch zu Tieren in Beziehung gesetzt (wie ein Löwe …, wie ein Adler …), im Ganzen überwiegt jedoch im Alten Testament eine kriegerische, herrschaftliche und richterliche Gottessymbolik. Bis heute meinen viele, dass der Gott des Alten Bundes ein strenger, strafender Gott war, im Gegensatz zu dem Gott der Liebe im Neuen Testament. Im Blick auf die zahlreichen Aussagen im Alten Testament, die die Barmherzigkeit und Freundlichkeit Gottes hervorheben, ist dies zweifellos eine Überzeichnung. Aber von dem, was die vorderorientalischen Religionen in großer Einigkeit aus der Erfahrung mit den Tieren und mit der Sexualität in das Bild der Götter übernommen haben, ist doch in Bezug auf Jahwe wenig erhalten geblieben. Er ist der Vater-Gott, und sehr oft ist er ein sehr strenger Vater. Die enge Verbindung zwischen Tier-Erfahrung und Religion hat sich im Alten Testament weitgehend aufgelöst. Was Tiere von der Transzendenz sagen können, in der Hebräischen Bibel bleibt es ausgespart. In diesem Zusammenhang soll die Forschungsarbeit des italienischen Religionswissenschaftlers Stefano Franchini nicht unerwähnt bleiben, die zwar von der alttestamentlichen Forschungscommunity noch nicht rezipiert worden ist, die aber helfen kann, die Enttierlichung und Entweiblichung des biblischen Gottesbildes besser zu verstehen. Im Tal des Sohnes Hinnoms bei Jerusalem soll es einen Kult gegeben haben, bei dem man Kinder durchs Feuer gehen ließ und sie dem Gott Moloch opferte. Für das Buch Levitikus, aber auch für den Propheten Jeremia war dies der Inbegriff heidnischer Abscheulichkeit. „Sie errichteten die Kulthöhen des Baal im Tal Ben-Hinnom, um ihre Söhne und Töchter für den Moloch durchs Feuer gehen zu lassen. Das habe ich ihnen nie befohlen und niemals ist mir in den Sinn gekommen, solche Gräuel zu verlangen und Juda in Sünde zu stürzen“ (Jer 32,35). Aber was geschah wirklich im Hinnom-Tal? Was verbirgt sich hinter den Auseinandersetzungen um den Moloch-Kult? Franchinis linguistische und etymologische Analysen des Textmaterials, gestützt durch geographische, archäologische und religionsgeschichtliche Befunde rücken den MolochKomplex in ein völlig neues Licht. Im Hinnom-Tal, im sog. tafet wurden 126

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keine Kinder „geopfert“, sie wurden den Göttern und Göttinnen durch Einäscherung zurückgegeben. Die ägäisch-anatolischen Ursprünge dieser Praxis, über die es reiches archäologisches Material gibt, deuten auf die Einäscherung von Embryonen, Fehlgeburten, früh verstorbenen oder durch Missbildung lebensunfähigen Kindern, die der Gottheit anempfohlen wurden. Dieser Befund bestätigt sich auch biblisch, denn nicht nur Kinder, sondern auch Leiber von Verstorbenen und von kleinen Tieren, die in irgendeiner Weise einen Defekt hatten, wurden im tafet beigesetzt, u. a. die Könige Saul, Asa, Usija und Zedekija. Der als „König“ des tafet verehrte Gott Baal Ha-mon ist korrekt als „Gott der Versehrten bzw. des Fehlerhaften/Il Signore della deformità“ zu übersetzen. Über das Thema Geburt war das tafet-Heiligtum auch mit dem Motiv der Fruchtbarkeit verbunden, und hier kommt die Göttin Aschera ins Spiel, deren Name in diesem Zusammenhang immer wieder genannt wird. Der tafet-Kult war größtenteils ein Kult der Frauen. In Anbetracht der dramatischen Kindersterblichkeit jener Zeit ist es nur zu verständlich, dass sie gerne die Möglichkeit wahrnahmen, ihre früh verstorbenen oder irgendwie versehrten Kinder an die himmlische Sphäre zurückzugeben, aus der sie gekommen waren. Eine im Buch des Propheten Jeremia (Jer 44) ausführlich berichtete Szene deutet darauf hin, dass diese kultische Praxis der Frauen sogar mit Billigung ihrer Männer über sehr lange Zeit in Israel ausgeübt wurde. Der Prophet Jeremia, so wird dort erzählt, wendet sich nach der Zerstörung Jerusalems an in Ägypten lebende israelitische Exilanten und Exilantinnen und fordert vor allem die Frauen dazu auf, damit aufzuhören der „Himmelskönigin“ Rauch und Trankopfer darzubringen und für sie Opferkuchen zuzubereiten. Wenn sie davon nicht abließen, würden sie die schlimmsten Strafen Gottes treffen. Die Frauen aber erwidern ihm: „Wir hören nicht auf dich. … Vielmehr werden wir der Himmelskönigin Räucheropfer und Trankopfer darbringen, wie wir, unsere Väter, unsere Könige und unsere Großen in den Städten Judas und in den Straßen Jerusalems es getan haben. Damals hatten wir Brot genug; es ging uns gut und wir haben kein Unheil gesehen. … Wenn wir der Himmelskönigin Räucheropfer darbringen und ihr Trankopfer ausgießen: Geschieht es denn ohne Wissen unserer Männer, dass wir für sie Opferkuchen mit ihrem Bild zubereiten und ihr Trankopfer ausgießen?“ (Jer 44,16–19). Hier stoßen wir wohl auf einen typischen Frauenkult, der vermutlich auf das Thema Geburt bzw. Umgang mit Fehl- oder Frühgeburten zentriert war. Denn bei dem im Text erwähnten „Opferkuchen“ handelt es sich nach Franchinis etymologischer Analyse um den Mutterkuchen, die Plazenta. 127

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Wie konnte es aber dazu kommen, dass dieser offenbar lange Zeit unangefochten praktizierte Kult so in Misskredit kam und als barbarische Opferung von lebenden Kindern diskriminiert wurde? Franchini zufolge geschah dies erst, als man lange nach der Rückkehr nach Jerusalem die bei der Eroberung der Stadt verschüttete tafet-Kultstätte wiederentdeckte und fälschlicherweise für den Ort heidnischer Kinderopfer hielt, die im vorexilischen Israel stattgefunden haben sollen. Man fand dort Urnen mit verbrannten Überresten von Tieren sowie von unbestatteten Leichen, die im Zuge der Belagerung Jerusalems angefallen waren (vgl. Ez 38,11–16), aber vor allem von anscheinend „geopferten“ Kleinkindern. Darin erblickte die nachexilische Gemeinde die Gräuel, die dem Herrn missfallen hatten und um derentwillen er die Stadt Jerusalem der Hand ihrer Feinde überantwortet hatte. Entsprechend wurden bei der großen nachexilischen Endredaktion der heiligen Schriften die entsprechenden Zeugnisse der Vergangenheit umgedeutet, nun in einem eindeutig negativen Sinn. Der reine Jahwe-Kult durfte mit all dem nichts zu tun gehabt haben. „Reinheit“ wurde nun das Leitwort des neuen Israel nach dem Exil. Waren im tafet kranke und beschädigte Menschen und Tiere vor die Gottheit gebracht worden, so galt nun – in den Reinheitsgesetzen des Buches Levitikus wird das greifbar – alles, was irgendwie krank oder versehrt war, wie zum Beispiel Menschen mit Hautkrankheiten oder Tiere mit körperlichen Defekten, als unrein und damit als kultunfähig. Unter der Vorherrschaft der Reinheitsidee wurde die Religiosität der Frauen, die einen religiösen Ausdruck für ihre verstorbenen Kinder gesucht hatten, aus der offiziellen Religion Israels verbannt. Zusammen damit ein großer Teil der „heidnischen“, naturnahen Religion, die bis dahin in Israel immer ein Hausrecht gehabt hatte. Es ist gut vorstellbar, dass dabei auch der religiöse Bezug zu den Tieren verloren ging; schließlich fand man im tafet auch die Urnen von beigesetzten Tieren. Aus der Sicht einer Theologie der Tiere ist die Geschichte der rigorosen Unterscheidung zwischen Jahweglauben und heidnischer Naturreligiosität jedenfalls auch als Verlustgeschichte zu lesen. So konstitutiv diese Unterscheidung für die Herausbildung des Glaubens an den Gott der Befreiung und der Gerechtigkeit auch war, ist es doch nicht ausgemacht, dass sie die jahrtausendealten Erfahrungen der Menschheit mit den Tieren als Zeichen der Transzendenz verwerfen musste. Was war es, was die Alten dazu brachte, ihre Göttinnen und Götter als Tiere darzustellen, ja selbst in Tieren Göttliches zu sehen? 128

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Tiere: Sakramente der Transzendenz Unsere Ausgangslage ist: Die biblisch-christliche Tradition hat den Menschen von seiner Herkunft aus der Tierwelt abgelöst.16 Sie hat zugleich Gott aus seiner Nachbarschaft mit der Tierwelt gelöst und sich damit des Erfahrungs- und Bilderreichtums der vor- und außerchristlichen Religionen begeben. In diese Lage trifft das Wort von Thomas Mann: „Das Tierische transzendiert. Alle Transzendenz ist tierisch“17. Ein erstaunliches Wort. Es kann als Anregung genommen werden, die Beziehung der Tiere zum Göttlichen neu zu bedenken. Bei Mann findet es sich in einem Aufsatz über Goethe und Tolstoi. An beiden Dichtern erkennt Mann eine besondere Nähe zu den Tieren. Zu Goethe: „Von Goethe’s Wetterempfindlichkeit war schon die Rede. Sie ist jener fast schon übertriebenen sinnlichen Begabtheit zuzurechnen und geht ins Okkult-Natursichtige über, wenn er nachts in seinem Schlafzimmer in Weimar das Erdbeben von Messina wittert. Auch der nervöse Apparat der Tiere vermag ja dergleichen Ereignisse vor- und mitzufühlen“18. Mann bleibt indessen nicht bei der Feststellung einer besonderen, gleichsam übersinnlichen Begabung des Dichterfürsten stehen. Bei Goethe ist diese Begabung in seiner Weltsicht verwurzelt. „Man weiß, daß es Goethe war, der mit dem Gedanken, daß ‚der Mensch aufs nächste mit den Tieren verwandt‘ sei, Ernst machte auf eine Weise, wie der Wissenschaft bis dahin nicht beigekommen war, es zu tun; und das Erfülltsein von diesem Gedanken, seine tiefe, wirkliche Anschauung, ist bezeichnend für das Naturkind und seine Sympathie mit dem Organischen“19. Goethes Anschauung der Verwandtschaft von Mensch und Tier hat ihn also erst diese weit über die wissenschaftliche Naturerkenntnis hinausgehenden Fähigkeiten ausbilden lassen, und Mann folgert: „Die Entdeckungen der Wissenschaft sind immer das Ergebnis einer ideellen Voraussetzung; das mittelalterliche Wort ‚Ich glaube, damit ich erkenne‘ wird ewig recht behalten“20. Das Tierisch-Transzendente ist mithin bei Mann bzw. bei Goethe das Übersinnliche, über die normale menschliche Wahrnehmung hinausgehende. Als solches verdankt es sich einer Idee, einem Glauben, der die Verwandtschaft von Mensch und Tier ernst nimmt. Im Jahr 1930 hat der Arzt und Dichter Gottfried Benn Goethes Wort in einem Vortrag aufgenommen. „Eine der klassischen Erkenntnisse der nachnietzscheschen Epoche stammt von Thomas Mann und lautet: ‚alles Transzendente ist tierisch, alles Tierische transzendiert‘“21. Benn erläutert den Gedanken anders als er von Thomas Mann gemeint war: „Wenn es nämlich noch eine 129

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Transzendenz gibt, muß sie tierisch sein, wenn es noch irgendwo eine Verankerung im Überindividuellen gibt, kann es nur im Organischen sein. Der Mensch … findet … von einer gewissen Organisationsstufe an keine andere Realität mehr als seine Triebe; sie allein, die organische Masse allein trägt eine Transzendenz, die Transzendenz der frühen Schicht. Die primitiven Völker erheben sich noch einmal in den späten“ (ebd. 436 f.). Benns Vortrag wendet sich gegen die „Zerebralisation“ (Verkopfung) des modernen Menschen, seine Bewusstseinslastigkeit, die ihn von seiner Natur entfernt und ortlos macht. Die Transzendenz des Tierischen dagegen verweist ihn auf seine Triebe, seine organische Masse, die Benn mit Rausch und Ekstase verbindet. Die Transzendenz des Tierischen „durchstößt die Bewußtheitsepoche und stellt neben die Begriffsexazerbationen [Aufstachelung, Verschlimmerung der Symptome] eines formalistischen Späthirns die prälogische Substanz des Halluzinatorischen“22. Benns Vortrag von 1930 atmet den Geist von ‚Blut und Boden‘, den Geist der Nazi-Bewegung, der sich Benn wenig später in einem nachträglich bitter bereuten Irrtum vorübergehend anschloss. In diesem Sinne können wir theologisch nicht von der Transzendenz des Tierischen reden. Dennoch hat auch Benn etwas Wichtiges gesehen: Der ewige Kampf des europäischen Menschen zwischen Pflicht und Begehren, zwischen Geist und Körper, ist er nicht die Folge seiner Abspaltung von seiner animalischen Natur? Wo wird die Rede von der Transzendenz des Tierischen theologisch anschlussfähig? Ernst Jünger, ein Autor, der Benn gar nicht einmal so fernsteht, in Bezug auf die Transzendenz des Tierischen aber deutlich anders denkt, gibt einen Hinweis, der ins Theologische führt. In einem Der Grünspecht überschriebenen Stück aus seinem tagebuchartigen Werk Das abenteuerliche Herz ergeht sich Jünger in genauen Beobachtungen des genannten Vogels. Es sind Beobachtungen, die man in keinem ornithologischen Lehrbuch findet. „Es handelt sich hier um ein Tier, das während der Schöpfung an einem seltsamen Orte gestanden haben muß, nämlich dort, wo der Trennungsstrich zwischen Rhythmus und Melos [dem Wohlklingenden, Gesanglichen] auf das Schärfste gezogen war. Auf diese Weise wurde in ihm ein Rhythmiker ersten Ranges geschaffen, und zwar von so hoher Begabung, daß für den Wohlklang nichts übrig blieb“23.

Im Blick auf die Beschreibungen des Gesangs, des Federkleids, des Klopfens und Hämmerns des Spechts kommt man nicht umhin, Jünger recht zu geben. Er fügt hinzu: 130

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„Ich habe den Eindruck, daß unsere Ausbildung in allen entscheidenden Punkten versagte oder sich ihnen vielmehr nicht einmal näherte und daß sie sich inzwischen noch verschlechtert hat. So mußte man etwa den Naturwissenschaftlern noch dankbar sein, daß sie das Theologische gewissermaßen im Nebenfach mitverwalteten; sie hatten da einen Kontakt, der immerhin noch besser schloß als der der Theologen selbst“24.

Soll heißen: Wenn auch „unsere Ausbildung“, also die naturwissenschaftlich bestimmte, versagte, weil sie solche Naturbetrachtungen wie in Bezug auf den Specht nicht gefördert hat, so muss man doch den Naturwissenschaftlern noch dankbar sein, dass sie die andere, die theologische Art der Betrachtung immerhin noch irgendwie ermöglichten, und zwar besser als die Theologie selbst. Und was ist nun dieses Theologische? Jünger nennt es im Folgenden ein „ins Niemandsland der Gedanken vordringen“25. Es ist die Fremdheit, die Undurchdringlichkeit der Lebenswelt des Spechts, in die Jünger einen kleinen Blick hatte tun dürfen. Der Specht lebt in einer eigenen Welt (der Welt des Rhythmus ohne Melos), und indem ein Mensch ihn betrachtet, wird er sich der Unzulänglichkeit seines menschlichen Blicks, der Begrenztheit seiner Perspektive bewusst: „Die naturwissenschaftliche Betrachtung versagte in allen entscheidenden Punkten, ja sie hat sich ihnen noch nicht einmal genähert“. Das lehrt Jünger die Betrachtung des Spechts. Und das ist die Art von Transzendenz, die von den Tieren kommt. Sie zeigt uns ein Leben jenseits unserer menschlichen Welt. Sie führt aus der Begrenztheit einer hominisierten Welt hinaus. Sie zeigt, dass es noch andere Weisen des Lebendigseins gibt. Die Grenze zu den anderen Welten ist nicht undurchdringlich. Ein „Naturkind“ wie Goethe konnte sie zuweilen überwinden. Jünger ist ihrer beim Grünspecht ansichtig geworden. „Die Vorkommen der Andersheit gehen zur Neige, wir haben den Anderen als Rohstoff aufgebraucht.“26 Dieses Wort des französischen Philosophen Jean Baudrillard hebt ans Licht, wie kostbar und selten die andersartige Lebendigkeit des Tieres heute geworden ist. Die Alten haben recht daran getan, ihre tierlichen Götter und ihre göttlichen Tiere auf ihren Skarabäen festzuhalten, denn was könnte besser das fremde Leben der Unsterblichen ausdrücken als die Tiere? Allerdings waren ihre Vorkommen der Andersheit noch reichlicher. Der numinose Berg, die heilige Quelle, das Geheimnis des Begehrens und das der Fruchtbarkeit, auch der andere Mensch, in dem vielleicht die Seele eines Ahnen wohnte, oder der 131

I. Tierwissen

Speer, in dem die siegreiche Kraft des Häuptlings sich manifestierte, sie gehörten zu diesen reichlichen Vorkommen. In unserer menschengemachten Welt gehen diese Vorräte zur Neige, darüber können auch Reisen in die entferntesten Winkel des Globus nicht hinwegtäuschen. Der Blick in die Augen des stummen Tieres, die unerfindlichen Tanzbewegungen des Mückenschwarms, die unerschöpflichen Farben und Formen der Gefieder der Vögel, sie sind und bleiben Sakramente27 der Transzendenz – solange es sie noch gibt. Lebendige Wesen Die Tierdarstellungen der antiken Religionen, das haben wir bemerkt, nahmen die Tiere nicht bloß als Emblem, als reine Zeichen, sondern sie suchten ihre Lebendigkeit einzufangen. Ihre Agilität, ihre Liebeskraft, ihre kämpferische Energie faszinierten sie. Ein Besuch im Zoo oder gar in den Labors der Tierversuchsindustrie, den Mast- und Milchproduktionsanlagen, den Legebatterien oder den Schlachthöfen wird diese Faszination der tierlichen Lebendigkeit nicht mehr aufkommen lassen. Die Vorkommen der Andersheit gehen zur Neige… Aber immer noch verwalten die Naturwissenschaften das Theologische gewissermaßen im Nebenfach, wie sich Ernst Jünger ausdrückte, und vielleicht sogar besser als zu seinen Zeiten. In David G. Haskell, der ein Jahr ein kleines Stückchen Wald intensiv beobachtete, haben wir einen Biologen kennengelernt, der diese Nebenfachverwaltung ausgeübt hat, ohne übrigens die Theologie jemals zu erwähnen. Der Ertrag seiner Erfahrungen, von dem bereits die Rede war (im Beitrag „Paradiesische Wissenschaft“; s. o.) soll noch einmal kurz angeführt werden: „Frei lebende Tiere, die sich miteinander vergnügen und an der Welt erfreuen, sind ein unglaublich starkes, unmittelbares und reales Erlebnis, finden aber in Lehrbüchern und akademischen Aufsätzen zu Tieren und Ökologie keine Erwähnung. Dabei offenbart sich hier eine Erkenntnis, die in ihrer Schlichtheit geradezu absurd ist. […] Die Natur ist keine Maschine. Tiere sind fühlende Wesen. Sie leben. Sie sind unsere Verwandten, und darum empfingen sie ähnlich wie wir“28. In einem damit erlebte Haskell die Fremdheit dieses Stückes Natur, das er doch so gut kannte wie kein zweiter. „Ich empfinde gleichzeitig eine große Nähe und eine unüberwindbare Distanz. Je besser ich das Mandala [so nennt er das Waldstück] kennenlerne, desto klarer sehe ich meine ökologische und evolutionäre 132

Tiere – Sakramente der Transzendenz

Verwandtschaft mit dem Wald. […] Zugleich hat sich ein ebenso großes Gefühl des Andersseins eingestellt. Bei meiner Beobachtung des Mandalas habe ich auf bedrückende Weise begriffen, wie gewaltig meine Ahnungslosigkeit ist. […] Je länger ich das Mandala beobachte, desto mehr schwindet die Hoffnung, es jemals zu begreifen, und sei es auch nur in seiner grundlegenden Natur“29. In diesem Ineinander von Vertrautheit und Fremdheit liegt die sakramentale Präsenz der Erfahrungen mit Tieren. Geradezu eine Hymne auf die Lebendigkeit des Lebens hat der Lebenswissenschaftler Andreas Weber mit seinem Buch Alles fühlt verfasst. Er bestreitet mit neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen, dass in der Natur alles dem Zwang zum Überleben gehorcht. Zwar gibt es diesen Zwang; er ist für die Natur so nützlich wie die Säulen und Stützen der Architektur. Doch wie in der Architektur zwischen den Säulen und auf den Dreiecksflächen zwischen den Bögen oft die bedeutendsten Kunstwerke entstanden, so in der Natur zwischen den Zwängen zum Überleben all die Vielfalt und Schönheit der Pflanzen und Tiere30. Die „Biosphäre folgt einem Drang zur schöpferischen Freiheit“31. Womöglich ist die oben angeführte Rede Heideggers von der Benommenheit der Tiere heute zu korrigieren. Natur ist weit mehr als schicksalsblindes Funktionieren und Benehmen, sie ist der Niederschlag unvorhersehbarer, unerschöpflicher, unbestimmbarer Lebenskraft. Darin ist sie uns verwandt, darin erkennen wir uns in ihr wieder. „Warum erstarren auch Großstadtkinder in der dritten Generation im Angesicht eines Fisches, eines Hundes, eines Löwen? Warum, wenn nicht deshalb, weil sie im noch lockeren Gewebe ihrer Seele infiltriert sind von Tierheit, weil die Grazilität, die nach außen strahlende Lebensfreude des fremden Wesens, ein Ausdruck ihrer eigenen Möglichkeiten ist: nämlich Form gewordene Seele, Innen im Außen, und so erst zu erfassen?32. Erst zu erfassen also im Widerspiel von Nähe und Fremdheit, oder in einem Wort gesagt: als Geschehen der Freiheit, die meine eigene Freiheit nur sein kann in dem Maße, wie ich die Freiheit des anderen Wesen erkenne und anerkenne. Das ist nun ein philosophischer, letzten Endes ein theologischer Satz. Denn der wahre Grund der Freiheit gegenüber allen Daseinszwängen liegt in Gott. Von dieser Freiheit gegenüber allen Daseinszwängen erzählt die Geschichte von Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi. Es ist ein Satz über den Heiligen Geist, von dem das Glaubensbekenntnis sagt, dass er lebendig macht. Er ist uns hier als ein Satz aus der biologischen Lebenswissenschaft zugekommen. Immer noch und immer besser verwaltet die Naturwissenschaft die Theologie im Nebenfach. Und die Theologie selbst? 133

I. Tierwissen

Der lebendige Gott Der Gott des christlichen Glaubens ist nicht frei. Weil er nicht frei ist, kann er auch nicht frei machen. Jedenfalls nicht nach Auskunft der klassischen abendländischen Theologie, die unser heutiges Gottesbild immer noch in entscheidendem Maß bestimmt. Nach dieser Theologie, die die theistische genannt wird, existiert Gott in absoluter Notwendigkeit. Notwendigkeit ist das Gegenteil von Freiheit. Gott ist absolut unveränderlich, unbetroffen von den Veränderungen in Raum und Zeit. Er hat eine unbegrenzte und absolute Erkenntnis – nichts kann ihn überraschen. Er hat einen absoluten Willen. Was er will, das setzt er durch. So ist auch seine Vorherbestimmung absolut. Nichts geschieht in der Welt, nichts wird geschehen, ohne dass er es will. Da kann es keine Freiheit neben ihm geben. Zuletzt und zuerst verfügt er über absolute Allmacht. Mit den Zufälligkeiten, den Kontingenzen des Lebens, mit denen sich alle lebendigen Wesen auseinander setzen müssen – und eben dies macht ihre Lebendigkeit aus  – hat er nichts zu schaffen. Er ist absolut, das heißt von allem losgelöst, und darum auch absolut unfrei33. Es ist dieser theistische Gott, gegen den sich der berechtigte Protest des Atheismus erhebt. Dieses Gottesbild stand immer schon in unübersehbarer Spannung zu den biblischen Erzählungen von Gott, die ihn als reagierend, als hörend, als verhandlungsbereit, als kontingenzoffen beschreiben. Es ist vielleicht nur eine Projektion von Menschen, die sich gegen das Unbestimmbare, das Fremde, das Kontingente schützen wollten. Gegen das also, was ihnen in den Tieren entgegenkommt. Es ist Ausdruck und Resultat der Tiervergessenheit, von der die Hamburger Ausstellung zeugt. Der vom Tierlichen abgekoppelte Mensch erschafft sich einen vom Tierlichen abgekoppelten Gott. Dieser Gott ist tot. Die Theologie der Tiere behandelt nicht irgendein abwegiges Spezialthema. Sie ist auf dem Wege zur Entdeckung des lebendigen Gottes. Thomas Ruster

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Anmerkungen 1

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Die Ausstellung, kuratiert von Sabine Schulze, fand vom 3.  11.  17 bis zum 4. 3. 2018 statt. Die folgenden Erläuterungen zu den Exponaten (in kursiv) stammen aus dem Begleitheft zur Ausstellung. Taxacher, Bruchlinien, 364. Agamben, Das Offene, 36. Herv. im Org. Vgl. ebd., 36. Vgl. ebd., 51. Vgl. zum Folgenden ebd., 57–80. Ebd., 73. Heidegger, zitiert nach: ebd., 74. Vgl. ebd., 56. Ebd., 79. Ebd., 77. Ebd., 71. Ebd., 77. Vgl. Keel/Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Ebd. 320. Religionswissenschaftlich gesehen kann man das Auftreten von Mischwesen aus tierischen und menschlichen Körperteilen auf die Unsicherheit hinsichtlich der menschlichen Identität deuten: Wo ist die Grenze zwischen Mensch und Tier? Solche zoomorphen Menschenwesen gelten immer als „Grenzgänger“, Erscheinungen im Traum, in Trance oder Visionen, Bewohner einer „verkehrten“

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Welt jenseits der alltäglichen Erfahrung (vgl. Wiggermann, Art. Mischwesen), an denen die Grenze zwischen Tier- und Menschenwelt reflektiert wurde. Mann, Goethe und Tolstoi, 141. Ebd. Ebd., 145. Ebd. Benn, Gesammelte Werke, Bd. 1, 436. Ebd., 437. Jünger, Sämtliche Schriften, Bd.  9, 270 f. Ebd., 271 f. Ebd., 272. Baudrillard, Transparenz des Bösen, zitiert nach Brandt, Opfer als Gedächtnis, 456. Der Begriff Sakrament wird hier im Sinne von Lumen gentium, der Kirchenkonstitution des II. Vatikanischen Konzils verstanden: Das Sakrament ist Zeichen und Werkzeug (instrumentum). In Bezug auf die Tiere: Sie zeigen Transzendenz an und führen zu ihr hin. Haskell, Das verborgene Leben des Waldes, 289 f. Ebd., 296. Vgl. Weber, Alles fühlt, 156. Ebd., 152 Ebd., 167 Vgl. Diekamp, Katholische Dogmatik, 144–262.

II. TIERETHIK

Sehr diskret war das nicht, aber ich konnte mich von dem Schauspiel, das sich mir von meinem Fensterplatz aus bot, nicht losreißen. Unser Nachbar tollte mit seinem Hund im Garten herum. Der junge, tapsige, große Hund, der nicht mehr ganz junge Nachbar, sie tobten wie die Kinder. Ein Hin- und Herlaufen war das, ein Sich-Verstecken und Suchen, ein Antäuschen und Ausweichen, begleitet vom Lachen des Mannes und dem Schwanzwedeln des Hundes. Sie wälzten sich auf dem Boden, kamen wieder hoch, begannen das Spiel aufs Neue. Dann sprang der Hund an dem Mann empor, auf seinen Hinterläufen zu voller Größe aufgerichtet, und legte seine pelzigen Vorderpfoten wie ein Mensch um seinen Hals. Der Nachbar schmiegte seinen Kopf an die Schulter des Hundes, sein Gesicht war nicht mehr zu sehen; so blieben sie einige Sekunden. Bei uns in der Gegend halten es die Menschen, vor allem die Männer, für angebracht, stets ein mürrisches und verdrossenes Gesicht zur Schau zu tragen. Schließlich will man zeigen, dass man es nicht leicht hat im Leben. Es soll nur keiner denken, man hätte Grund glücklich zu sein. Jetzt aber war der Nachbar glücklich. Der Hund hatte ihn verwandelt. Von Geschichten, in denen Menschen durch Tiere zum Guten verwandelt werden, sind nicht nur die persönlichen Erinnerungen, sondern auch die Literatur und das Filmschaffen übervoll. Ich denke zum Beispiel an den Film Besser geht’s nicht (James L. Brooks 1997), in dem der unsympathische, grobe und schwulenfeindliche Schriftsteller Melvin (Jack Nicholson) durch das Zusammenleben mit einem kleinen Hund zu einem besseren, am Ende sogar liebesfähigen Menschen gewandelt wird. Oder an Daniel Kehlmanns jüngsten Roman Tyll (2017), in dem die Kindheit des Tyll 137

II. Tierethik

Ulenspiegel in einem von bäurischer Härte, Armut und Stockschlägen geprägten Dorf geschildert wird. Nur der Esel ist gutartig. „Eine Weile lenkt er [der junge Tyll] sich ab, indem er den Esel an den Ohren zieht. Rechts und links und rechts, jedes Mal gibt das Vieh ein trauriges Geräusch von sich. Warum ist er so geduldig, warum so gutmütig, warum beißt er nicht? Er sieht ihm ins rechte Auge. Wie eine Glaskugel liegt es in seiner Höhle, dunkel, wässrig und leer. Es blinzelt nicht, es zuckt bloß ein wenig, als er es mit dem Finger berührt. Er fragt sich, wie es wohl ist, ein Esel zu sein. Eingesperrt in eine Eselsseele, einen Eselskopf auf den Schultern, mit Eselsgedanken darin, wie mag sich das anfühlen?“1 Die Motive des späteren Aufstiegs des Schelmen liegen in dieser Szene schon beschlossen. Gegenprobe: Ein Bauernhof in Norddeutschland bewarb seine Ferienwohnungen mit dem Hinweis auf Kälberzucht, und so wählten wir die Unterkunft für die Ferien mit den Enkeln. Die wuscheligen Kälber mit ihren rosa Schnauzen waren wirklich süß. Die Kinder durften sogar mit ihnen spielen. Aber sie durften nicht die Ställe betreten, in denen einige Hundert Rinder (ehemalige Kälber) und Schweine ihrem Schlachttermin entgegendämmerten. Die Stahltüren der Mastanlagen waren ebenso verschlossen wie die Mienen der Bauersleute; selten sind wir so unfreundlich empfangen worden. Als wir doch einmal in die Ställe vordrangen, bot sich uns ein deprimierendes Bild: überfüllte Gehege, eine ständige Aggressivität zwischen den Tieren, künstliche Beleuchtung, automatisierte Fütterung … Die Besitzer verboten uns, noch einmal in die Ställe zu gehen, denn die Tiere könnten durch das Erscheinen von Menschen erschreckt werden und Schaden nehmen. Nachts hörten wir das Muhen und Keuchen der Rinder, das Klirren der Ketten, mit denen die Balken des Geheges befestigt waren. Im Unterschied zu uns würden die Rinder und Schweine die Sonne am nächsten Tag nicht sehen, niemals mehr würden sie sie sehen. Tierethik und Agency In diesen Geschichten und Begebenheiten steckt sehr viel Ethik, die Wissenschaft vom moralischen Handeln. Die Tierethik ist eine Ethik der Beziehung, der Gegenseitigkeit, der Achtsamkeit, der Wahrnehmung, des Sichgegenseitig-Veränderns. In den Worten des Fuchses aus dem Kleinen Prinzen geht es in der Beziehung zwischen Tieren und Menschen um ein Zähmen, oder – nach dem Sinn des von Saint Exupéry gebrauchten Wortes 138

Tierethik und Agency

s’apprivoiser – um ein Vertrautwerden, ein Zutraulichwerden. Die Frage der Tierethik lautet: Wie muss die Beziehung zwischen Menschen und Tieren beschaffen sein, dass sie sich gegenseitig zähmen und miteinander vertraut werden – und nicht einander fremd bleiben, wie es eben auch vorkommt. Denn dann bedeuten sie sich gegenseitig nichts mehr und behandeln sich wie Sachen, zum beiderseitigen Schaden. Sonst „bin ich für dich ein Fuchs unter Hundertausenden von Füchsen“, sagt der Fuchs im Kleinen Prinzen. Für die Tierethik ist ein Konzept der Human Animal Studies, die sich der Erforschung der Beziehungen zwischen Menschen und Tieren widmen, zentral: die Agency von Tieren. Agency besagt, dass Tiere nicht nur Gegenstand der Beobachtung und Beeinflussung von Menschen sind, sondern dass sie auch selbst Handlungsmacht ausüben und mithin als Akteure zu verstehen sind. Es ist unzureichend, Tiere dem Bereich der Natur zuzuordnen und Menschen dem Bereich der Kultur, sondern was Kultur ist, ist und war immer aus dem Zusammenwirken tierlicher und menschlicher Agency entstanden. Heute leben in deutschen Haushalten ca. 22 Millionen Tiere, der Hund unseres Nachbarn ist nur eines davon. Wie sollten sie unsere Welt nicht mitbestimmen? Eine Tierethik hat ihren eigenen wissenschaftlichen Ort als Lehre von der symmetrischen Agency von Mensch und Tier und der darin enthaltenen Moral, andernfalls geht sie an ihrem Gegenstand vorbei. Material einer Tierethik sollten darum in erster Linie Geschichten von Tieren und Menschen sein. Sie hebt an mit dem Erzählen bzw. dem Sammeln von Erzählungen, denn da Tiere keine schriftlichen Äußerungen hinterlassen, ist ihre Agency darauf angewiesen, in menschengemachten Erzählungen ans Licht zu kommen.2 Eine auf Erzählungen, Anekdoten, Erinnerungen basierende Wissenschaft kann nicht abstrakt sein. Schon die Verwendung der Allgemeinbegriffe Tier bzw. Mensch sollte sich verbieten; es handelt sich immer um dieses und jenes Tier, diesen und jenen Mensch, von dem da erzählt wird. Wie sich die Beziehungen einer Frau zu verschiedenen Tieren – man kann sagen: Tierpersönlichkeiten – gestalten, zeigt unser Beitrag Haustier, Nutztier, wildes Tier an dem Roman Die Wand von Marlen Haushofer. Die Beziehungen zum Hund, zur Kuh, zur Katze, zum Wild usw. enthalten jede eine eigene Art von „Tierethik“. Diese geht in jedem Fall über eine bloße Nutzenbeziehung hinaus. Es handelt sich um nichtteleologische Verhältnisse zwischen Mensch und Tier, und eben diese beschreibt auch die Bibel zum Beispiel in Psalm 104. 139

II. Tierethik

Erfolgreiche Tierethiker Der wohl erfolgreichste Tierethiker aller Zeiten, zumindest in unseren Breiten, ist immer noch der hl. Franziskus. Er lebte vor über 700 Jahren, aber die Erzählungen davon, wie er den Wolf von Gubbio zähmte, wie er den Vögeln eine Predigt hielt, wie er in einem anderen Fall die kreischenden Schwalben um Ruhe bat, um selbst predigen zu können, haben sich tief im kollektiven Gedächtnis des christlichen Kulturkreises verankert. Immer noch macht er im Religionsunterricht seine Karriere, die Kinder kennen ihn. Papst Franziskus hat ihm nicht nur durch seine Namenswahl, sondern noch mehr durch seine Enzyklika Laudato si’ in unsere Zeit geholt. Vielleicht liegt das gerade daran, dass seine „Tierethik“ in Geschichten daherkommt. So naiv und simpel sie auch zu sein scheinen, sie enthalten doch in narrativer Form tiefe Einsichten, die gerade für eine christliche Tierethik von Bedeutung sind. Vielleicht hätte der Papst besser daran getan, mehr von seinem Namenspatron zu erzählen! Nehmen wir die Geschichte von der Auslösung des Lammes: „Da traf er auf dem Feld einen Hirten, der eine Herde Ziegen und Böcke weidete. Unter der Menge der Ziegen und Böcke befand sich ein Lämmlein, das ganz demütig dahinzog und ruhig weidete. Als es der selige Franziskus sah, blieb er stehen, und von tiefem innerem Schmerz erfasst, seufzte er laut und sprach zum Bruder, der ihn begleitete: ‚Siehst du das Lamm, das dort unter den Ziegen und Böcken so sanft einhergeht? Ebenso, sage ich dir, wandelte unser Herr Jesus Christus sanftmütig und demütig zwischen Pharisäern und Hohepriestern. Ich bitte dich deshalb bei deiner Liebe, mein Sohn, teile mit mir das Mitleid mit diesem Lämmlein. Wir wollen einen Lösepreis dafür zahlen und es wegbringen aus der Mitte dieser Ziegen und Böcke‘.“3

Wieviel lebendige Ethik steckt doch in jedem Satz dieser Geschichte! Die Liebe zu dem Lämmlein um Christi Willen, der selbst war wie ein Lamm, das ist ein Spitzensatz christlicher Tierethik. Wie weit aber, wie umständlich müsste man ausholen, um diesen Satz in argumentativer Form zu vermitteln. An Franziskus nehmen wir in diesem Buch Maß, indem wir uns in jedem Beitrag bemühen, unser Argument narrativ zu fundieren. Neben Franziskus ist wohl Albert Schweitzer (1875–1965) die prominenteste Gestalt einer christlichen Tierethik. Von ihm stammt der berühmte Ausdruck von der Ehrfurcht vor dem Leben. Ein Prinzip wird das oft genannt, aber hält man sich das bewegte Leben des Musikers4 und Theologen5, des Gründers 140

Christliche Tierethik heute

des Urwald-Hospitals Lambarene in Gabun und seine langjährige Tätigkeit als Arzt ebendort vor Augen, dazu sein Engagement gegen Krieg und Atomwaffen, das ihm 1953 den Friedensnobelpreis einbrachte, dann wird klar, dass die Ehrfurcht vor dem Leben kein Prinzip, sondern Niederschlag gelebter Erfahrung ist. Für Schweitzer besteht die Philosophie nicht in zweckfreier theoretischer Erkenntnis, sondern in der „Hingebung des menschlichen Lebens an alles lebendige Sein, zu dem es in Beziehung treten kann“.6 „Wahrhaft ethisch ist der Mensch nur, wenn er der Nötigung gehorcht, allem Leben, dem er beistehen kann, zu helfen, und sich scheut, irgendetwas Lebendigem Schaden zu tun. […] Er reißt kein Blatt ab, bricht keine Blume und hat acht, daß er kein Insekt zertritt. Wenn er im Sommer nachts bei der Lampe arbeitet, hält er lieber das Fenster geschlossen und atmet dumpfe Luft, als daß er Insekt um Insekt mit versengten Flügeln auf seinen Tisch fallen sieht.“7 Hier sieht man gleichsam Schweitzer selbst dort in Afrika bei der Lampe arbeiten. Auch sein berühmter Satz „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“8 kann schwerlich zum zeitlosen Grundsatz einer Tierund Pflanzenethik stilisiert werden, sondern verweist auf ganz konkrete Erfahrungen, die Schweitzer in Bezug auf die lebendigen Wesen, mit dem er in Beziehung getreten ist, gemacht hat. Als Arzt im Urwald war ihm sehr wohl bekannt, dass manchmal Leben gegen Leben steht, wenn sich zum Beispiel wilde Tiere oder Tiere, die Krankheitserreger übertragen, nahen. Schweitzer hat es sich dann oft nicht nehmen lassen, die gefährlichen Eindringlinge selbst zu töten und die Schuld dafür auf sein Gewissen zu nehmen.9 Von Franziskus und Albert Schweitzer haben wir uns anregen lassen, nach konkreten Erfahrungen der Begegnung mit Tieren in der christlichen Tradition zu suchen. Bei den Asketen der frühchristlichen Zeit, die Haus und Hof verließen, um in der Wüste Gott zu suchen, sind wir überreich fündig geworden. Sie suchten Gott und stießen auf Tiere, und beides verbindet sich in ihren Geschichten und Aussprüchen. Der Beitrag Nackt unter Antilopen. Die Wüstenväter und ihre Tiere erzählt davon. Mit solchen unerschöpflichen Geschichten kann eine christliche Tierethik immer neu anfangen. Christliche Tierethik heute Die gesellschaftliche Debatte über den Umgang mit Tieren hat weltweit breit eingesetzt. In der Philosophie, in der philosophischen Ethik insbe141

II. Tierethik

sondere, in der Biologie, in den Kultur- und Geschichtswissenschaften vollzieht sich unübersehbar ein Paradigmenwechsel in Bezug auf die Mensch-Tier-Beziehung. Ein Meilenstein in dieser Debatte ist die Schrift des italienischen Philosophen Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier. Agamben stellt fest, dass seit Mitte des 19. Jahrhunderts die bisher als unverrückbar geltende Unterscheidung zwischen Mensch und Tier infrage gestellt wird. Menschsein wurde stets in Abgrenzung zum Tiersein definiert. Was aber ist, wenn man auf der einen Seite auch Tiere als handlungsfähige Subjekte entdeckt und ihnen, zum Teil jedenfalls, Bewusstsein und Intentionalität zuschreiben muss, und auf der anderen Seite der Mensch immer mehr als biologisches Wesen erkannt wird, der sich von den Tieren nicht grundsätzlich unterscheidet? Die Debatte über das Mensch-Tier-Verhältnis steht an, die letzte Leitunterscheidung der europäischen Denktradition aufzulösen, mit unabsehbaren Konsequenzen für die menschliche Identität, für den Umgang mit Tieren, letztlich überhaupt für Politik und Gesellschaft. In dieser Debatte hat sich eine bemerkenswerte Sprachregelung durchgesetzt. Man spricht nicht mehr von Menschen und Tieren, sondern von human animals und non human animals bzw., wenn man die Bezeichnung als nicht-menschliche Lebewesen als zu anthropozentrisch empfindet, von other animals. Die Unbeholfenheit dieser Formulierung spricht für den Klärungsbedarf, den es diesbezüglich noch gibt. Tatsächlich ist die Menschheit mit ihrem Nachdenken über die Relation zwischen Menschen und Tieren ins Offene gewiesen wie selten in einer Frage. Sie wird noch komplexer, wenn man neben Menschen und Tieren noch die Maschinen mit einbezieht. Diese werden immer „menschlicher“, sie übernehmen zunehmend Aufgaben, die früher dem menschlichen Intellekt vorbehalten waren. Man kann mit ihnen kommunizieren. In mancher Hinsicht scheinen sie in die frühere Dienstfunktion der Tiere einzutreten. In der Human-Animal-Debatte erhebt auch die Theologie immer vernehmbarer ihre Stimme. Noch ist die „Theologie der Tiere“ ein zartes Pflänzchen. Theologie ist die Rede von Gott. Wenn sie sich zu den Tieren äußert, dann unter der Voraussetzung, dass die Mensch-Tier-Beziehung ohne den Bezug auf Gott nicht zureichend erfasst werden kann. Im Gegenüber zu Wissenschaften, die dem methodischen Atheismus folgen, hat die Theologie wie immer einen schweren Stand. Aber mindestens der Umstand, dass auch bei der säkularen Rede von der Natur von „Schöpfung“, von den Tieren als „Mitgeschöpfen“ die Rede ist, zeigt doch, dass die Leerstelle, die 142

Christliche Tierethik heute

das Zurücktreten des Glaubens an Gott offengelassen hat, nicht so leicht zu schließen ist. Wenn die Theologie etwas zu sagen hat, was andere Wissenschaften nicht sagen können, wenn sie damit der Verbesserung des Verhältnissen zu den Mitgeschöpfen dienen kann, dann sollte sie es tun. Und sie tut es. Aus der Vielzahl von Veröffentlichungen seien hier nur die Werke von Michael Rosenberger, Die Traum vom Frieden zwischen Mensch und Tier (2015); Kurt Remele, Die Würde des Tieres ist unantastbar. Eine neue christliche Tierethik (2016) und Martin M. Lintner, Der Mensch und das liebe Vieh (2017), herausgegriffen. Bei aller Unterschiedlichkeit ist diesen theologischen Entwürfen einer Tierethik gemeinsam, dass sie vernunftgemäß argumentieren wollen. Sie suchen den Kontakt mit der säkularen Tierethik und argumentieren in den ethischen Denkmustern, die dem Stand der Wissenschaften entsprechen. Dementsprechend geht es um die Frage der Begründung der Würde der Tiere – ob sie ihnen intrinsisch zu eigen ist oder ob sie ihnen von Menschen zugesprochen wird; um die Frage der Tierrechte – wie sie begründet werden können, wo doch das Recht eine ganz vom Menschen als Rechtsträger her gedachte Institution ist, worauf sie sich konkret beziehen und wie sie mit den Rechten anderer abzuwägen sind; um Berechtigung und Grenzen der anthropozentrischen Perspektive und schließlich um die ethischen Handlungsfelder wie die Haus- und Nutztierhaltung, die Tierversuche, die Jagd und den Konsum von Tierprodukten. Ein roter Faden ist stets die Problematik des Tötens von Tieren. Rosenberger bezieht sich auf das Gerechtigkeitskonzept des Philosophen John Rawls, das er in Bezug auf die Tiere spezifisch erweitert. Im Kern seiner Tier-Gerechtigkeits-Ethik stehen zwei Sätze: „(1) Jedes Tier soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen Tiere und für alle Menschen verträglich ist. (2) Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten zwischen menschlichen und tierlichen Lebewesen sind so zu gestalten, das vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu beiderseitigem Vorteil dienen.“10 Lintners Ansatz beruht auf einer Erweiterung des Kategorischen Imperativs von Kant. Er definiert: „Handle so, dass du die Tiere nie bloß als Mittel zur Befriedigung eigener Interessen und Bedürfnisse brauchst, sondern ihnen zugleich auch entsprechend ihren je eigenen artspezifischen und individuellen Bedürfnissen, emotionalen und kognitiven Fähigkeiten gerecht wirst.“11 Es fällt auf, wie allgemein diese Grundsätze gehalten sind. Der spezifisch theologische Anteil kommt darin nicht zur Geltung. Diese Sätze hätten auch von Philosophen formuliert sein können. Von den ge143

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nannten Autoren ist Remele am stärksten darauf bedacht, das theologische Element einer Tierethik zu betonen. Sein Ansatz ist darum am besten in seinem Vorschlag für die Neuformulierung des entsprechenden Paragraphen im Katechismus der Katholischen Kirche zu erfassen. Laut Remele soll es dort in Zukunft heißen: „Sämtliche Geschöpfe des Universums sind von ein und demselben Vater erschaffen worden und durch unsichtbare Bande verbunden.“12 Auch dies bleibt sehr allgemein. Krüger/Steinbrecher/Wischermann liefern vielleicht nicht nur eine Karikatur, wenn sie die theologischen tierethischen Ansätze unter die „universalistischen Ansätze“ einreihen und folgendermaßen charakterisieren: „Die Sprachebene ist missionarisch gefärbt … Akteure sind immer ‚die‘ Menschen und es geht immer um ‚die‘ Tiere, und dabei sind die geliebten und bekannten Tiere schnell ‚alle Tiere‘.“13 Schaut man dann auf die ethischen Anwendungsfelder, dann kann man leicht enttäuscht sein von den Ergebnissen dieser theologischen Ethiker. Rosenberger gibt in Bezug auf die Frage der Erlaubtheit des Tötens von Tieren zu bedenken: Es muss „das dem Tier Gerechte (Soziales) stets in Abhängigkeit von den wirtschaftlichen Möglichkeiten einer Gesellschaft (Ökonomie) und den Möglichkeiten des Ökosystems der Erde (Ökologie) definiert werden“, und fügt hinzu: „Wie alle Tiere lebt der Mensch – ob Vegetarier, Veganer oder nicht – von der Tötung anderer Lebewesen. Daher lässt sich nur ein relativer Unterschied zwischen vegetarischer und nicht-vegetarischer Ernährung machen.“14 Viele werden sagen, dass der „Traum vom Frieden zwischen Mensch und Tier“ damit doch wohl ausgeträumt ist; realpolitische und ökonomische Argumente überlagern die christliche Motivation, der Rosenberger im ersten Teil seines Buchs so beredt Ausdruck verliehen hat. Lintner weist zur gleichen Frage ähnlich wie Rosenberger auf die Komplexität der Sachlage hin. „Die Verquickung von ökologischen, ökonomischen und sozialen Fragen macht […] deutlich, dass Lösungsansätze nie einfach sind.“15 Er sieht voraus, dass eine Konsensbildung zur Frage des Tötens von Tieren „auf breiter gesellschaftlicher Basis in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist“ und plädiert für eine „Politik mit dem Einkaufswagen“: „den Fleischkonsum reduzieren, einen angemessenen Preis für das Fleisch bezahlen und auf die Qualität des Fleisches achten. Für die Reduzierung des Fleischkonsums gibt es viele Gründe. Ein erster ist die Achtung auf die eigene Gesundheit.“16 Remele ist hier radikaler. Nach seiner Ansicht ist die Tötung von Tieren zu Nahrungsund Bekleidungszwecken nur in absoluten Ausnahmefällen erlaubt, „wenn Menschen sonst verhungern, erkranken oder erfrieren würden.“17 Wegen der 144

Christliche Tierethik heute

besonderen Verantwortung des Menschen für seine Mitgeschöpfe fordert er den kompletten Verzicht auf Fleisch und die Abschaffung der Massentierhaltung. Dies sei eine moralische Norm, „die zumindest in den wohlhabenden Ländern dieser Erde ein für alle Gläubigen geltendes Zielgebot und einen für alle Bürger geltenden Zielimperativ darstellt.“18 Der Umsetzungsprobleme dieses Gebots bzw. dieses Imperativs ist sich Remele wohl bewusst. Wer abwägt zwischen den Bedürfnissen der Menschen und den Rechten der Tiere, muss immer bereit sein, ein gewisses Maß an Leid und Schmerz der Tiere in Kauf zu nehmen. Der Beitrag Der Gott der Tiere. Über Tierleid, -angst und -schmerz macht empfindsam für die „Qual ohne Sinn und Zweck“ (J. Bernhart), die Menschen Tieren zufügen. Hat nicht das Leiden der Tiere eine Evidenz, die nicht zur Verhandlungssache gemacht werden kann? Wenn Menschen sich in Freiheit entscheiden, Tiere leiden zu lassen, dann gerieren sie sich wie deren Gott. Das aber ist nicht gemeint, wenn es heißt, dass der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen ist. Wir können und wollen es nicht besser machen als die hier vorgestellten Entwürfe einer theologischen Tierethik. Aber anders. Wir nehmen wahr, dass der Anspruch auf philosophische Vernünftigkeit und zugleich auf universale Geltung es schwer, wenn nicht unmöglich macht, einen spezifisch christlichen Beitrag in die tierethische Debatte einzubringen. Aber muss eine Ethik gleich universal sein? Entspricht es nicht viel eher einer pluralen Gesellschaft, wenn verschiedene Akteure ihre je eigene ethische Position leben und sodann versuchen, andere für sie zu gewinnen? Wenn Christen aus ihrer „story“, ihrer identitätskonstitutiven Geschichte heraus zu bestimmten ethischen Haltungen finden, dann stehen sie zwar in der Pflicht, diese gegenüber der Gesamtgesellschaft zu rechtfertigen, sie müssen aber nicht beanspruchen, dass sie für alle gilt. Eine „breite gesellschaftliche Basis“ muss nicht jede ethische Position haben, wohl aber besteht die Chance, andere zu finden, die sich von der christlichen Praxis anstecken lassen und ihr, vielleicht von ganz anderen Voraussetzungen her, folgen. Unser Beitrag zur tierethischen Debatte ist es deshalb, die christliche „story“ zu erinnern und für die Gegenwart zu aktualisieren. Normative Ansprüche sind damit nicht verbunden. Im Sinne einer „reflektierten Positionalität“ kommt die Vernunft ins Spiel, wenn es darum geht, die Anschlussfähigkeit für andere zu plausibilisieren bzw. von anderen Konzepten das zu übernehmen, was für Christen anschlussfähig ist.19 145

II. Tierethik

Der Beitrag Furcht und Schrecken … (Gen 9,2). Christen und das Töten und Essen von Tieren rückt der Selbstverständlichkeit der Gegenüberstellung von Verzehr und Verzicht zu Leibe. Ist es ausgemacht, dass die sich zu rechtfertigen haben, die auf Fleisch verzichten, und nicht die, die töten um zu essen? Das biblische Zeugnis legt eine normative Lösung der Frage des Fleischkonsums nicht nahe, das heißt es gibt darüber keine eindeutige Weisung in der Tora. Die biblische Weisheit empfiehlt jedoch den Fleischverzicht. Und immer steht die Möglichkeit des prophetischen Zeichens offen. Eine Ethik aus dem Glauben? Neben den vernunft- und verständigungsorientierten Ansätzen zur Tierethik gibt es solche, die mit der Sprache des Glaubens sprechen. Anton Rotzetter († 2016), eine der führenden Stimmen der christlichen Tierschutzbewegung, entwirft in Prosa und Poesie eine Vision vom „Tanz der Schöpfung“: „Überfluss des Lebens, der Farben und Formen, die keinen sichtbaren und erkennbaren Zwecken dienen. Sie sind einfach da, umsonst, gratis. Geheimnis des überfließenden Lebens! Und Hinweis auf einen Gott, aus dem das Viele stammt und der als einende Kraft in allen Vorgängen der Schöpfung gegenwärtig bleibt.“20 Margret Hille, die als theologische Autodidaktin ein hinreißendes Buch über Die Tiere und Jesus geschrieben hat, rückt der christlichen Festkultur auf den Leib. „Weihnachten muss ein Fest des Friedens sein. Es darf nicht länger zum heidnischen Schlachtfest degradiert werden, um ‚stille Nacht‘ zu feiern. Würden Christen auf Tierstimmen hören, dann würden sie die Totenstille in den Ställen bemerken. Rinder, Schweine, Schafe, alles wird vor dem Fest umgebracht. Die Gatter sind leer. […] Ostern, das Fest der Auferstehung des guten Hirten … Die Osterlämmchen sehen sie [die vegetarischen Christen] lieber lebendig auf den Wiesen bei ihren Müttern herumspringen. […] Pfingsten … Können wir erwarten, dass heiliger Geist einen Kopf erleuchtet, dessen Körper ein Tiergrab ist?“21 Und Rainer Hagencort, der Begründer des Instituts für Theologische Zoologie in Münster, spricht von der „Gottunmittelbarkeit der Tiere“, die, da ohne Sündenfall, das Paradies nie verlassen haben. Von ihnen können die Menschen das Leben in der reinen Gegenwart, eine gleichsam mystische Wahrnehmung und ein distanzloses Leben als Beheimatet-Sein lernen: Tiere, „reine Exis146

Christliche Selbstkritik

tenz, welche noch die Freiheit des Paradieses haben“ (R. Guardini).22 Die Sprache des Glaubens ist zugleich die Sprache der Liebe. Die Grenze zwischen einer Theologie und einer Mystik oder Spiritualität der Tiere ist fließend. Wir versuchen diesseits dieser Grenze zu bleiben, denn wir schreiben eine Theologie der Tiere. Wir können nur auf die hinweisen, die diese überschritten haben. Kann man das Ungeziefer lieben? Ist das eine Art der Feindesliebe? Kann man dann überhaupt noch von Ungeziefer sprechen? Ägyptische Wüstenmönche haben das Experiment gemacht und die Liebe Gottes zu dem Kleinen und Unscheinbaren bis zu den Insekten getragen. Davon berichtet der Beitrag Die Mücken des Makarios. Meditation über das Ungeziefer. Ganz erstaunliche Erfahrungen kommen da zur Sprache, die Anlass geben, über die Beziehung Gottes zum angeblich Nichtigen nachzudenken. Christliche Selbstkritik Beim Einsatz für eine christliche Tierethik sind wir uns bewusst, dass das Christentum in Geschichte und Gegenwart keinesfalls immer auf der richtigen, das heißt der tierfreundlichen Seite stand und steht.23 Es gibt die positiven Erfahrungen der Heiligen, die sich durch alle Jahrhunderte ziehen, es gibt die tiefen Texte der Mystiker und Mystikerinnen, es gibt die enge Lebensgemeinschaft zwischen Mensch und Tier in der ehemals bäuerlich geprägten christlichen Kultur, die bis in die christliche Festkultur reichte.24 Und doch: Die Tiervergessenheit und Tierfeindschaft unserer Zivilisation geht zu großen Teilen auf das Konto der christlichen Theologie. Die scharfe Distinktion zwischen der anima vegetativa der Tiere und der anima rationale der Menschen, die von sich aus unsterblich ist und das ewige Leben schauen wird, dazu die Gleichsetzung der animales mit dem Animalischen, das heißt mit körperlicher Maßlosigkeit und sexueller Begierde, die noch in zahlreichen Sprichwörtern und Redensarten weiterlebt, haben das Meiste dazu getan. Die positiven Hinweise der Bibel auf die Gemeinschaft von Mensch und Tier wurden in der Theologie kaum aufgegriffen. Der sog. Herrschaftsbefehl von Gen 1,26 wurde durchgängig im Sinne von Herrschaftsausübung des überlegenen Lebewesens über die ihm untergegebenen Tiere aufgefasst. Bezeichnend ist, dass die Abstufungen 147

II. Tierethik

zwischen Mensch und Tier und innerhalb der Tierwelt stets auch Modell und Metapher für soziale Hierarchisierung abgaben. Auch für die Gegenwart ist weitgehend ein Ausfall tierethischer Sensibilität bei den Christen zu verzeichnen. Papst Benedikt trat öffentlich mit einem Hermelinpelz an der Wintermütze auf. In Spanien scheiterte 2006 eine Gesetzesinitiative zum Schutz der Menschenaffen am Widerstand vor allem der katholischen Bischöfe. In christlichen Gemeinden lässt sich im Allgemeinen kein besonderer Einsatz für Tierrechte und Tierschutz beobachten. Andere Gruppen sind hier der Kirche weit voraus. Papst Franziskus Enzyklika Laudato si’ ist ein Hoffnungszeichen, das jedoch allem Anschein nach innerhalb der christlichen Gemeinden kaum wahrgenommen worden ist. Es wäre naiv, der Tiervergessenheit der christlichen Tradition eine angeblich durchgehend tierfreundliche Haltung der Bibel entgegenzuhalten. „Einen naiven Ökobiblizismus können wir uns nicht leisten.“25 Die Lage der Haus- und Nutztiere wird in der eisenzeitlichen Bauern- und Hirtenkultur der biblischen Welt nicht anders gewesen sein als in der vorderorientalischen Umwelt.26 Einige bemerkenswerte Ansätze zum Tierschutz fallen immerhin auf, so die Bestimmung: „Du sollst dem Ochsen beim Dreschen das Maul nicht verbinden“ (Dtn 25,4) oder „Die Mutter sollst du nicht über den Jungen wegnehmen“ (Dtn 22,6); wie immer verweisen diese Verbote auf Zustände, in denen es notwendig erschien, sie zu erlassen. Am weitesten geht Ex 23,12 mit der Bestimmung, „dein Rind und deinen Esel“ an der Sabbatruhe teilhaben zu lassen wie „den Sohn deiner Magd und den Fremdling“ auch. Mit solchen Bestimmungen ist die Bibel auch anschlussfähig an die moderne Diskussion über Tierrechte. Die große Hypothek des biblischen Tierzeugnisses ist jedoch die Opferpraxis im Tempel. Wie kann man einer Religion Tierfreundlichkeit attestieren, in der täglich Tiere geopfert wurden, an besonderen Festtagen sogar ganze Massen von Tieren? „Zweiundzwanzigtausend Rinder und hundertzwanzigtausend Schafe ließ Salomo als Heilsopfer für den Herrn schlachten“, so heißt es beim Fest der Tempeleinweihung (1 Kön 8,63). Christliche Tierethiker haben mit den Tieropfern im Tempel die größten Schwierigkeiten, und deswegen soll das Thema hier nicht ausgespart werden.

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Anmerkungen

Der Beitrag Tote Tiere auf dem Altar? Erkundigungen über das biblische Tieropfer will eine Praxis nicht nachträglich rechtfertigen, die sowohl im Judentum wie im Christentum – aus unterschiedlichen Gründen – aufgegeben worden ist. Doch gilt es, den Vollzug und den Sinn der Tieropfer genauer zu ergründen. War es nötig, den Zorn des Herrn durch das Töten von Tieren zu besänftigen? Ist das biblische Tieropfer nach der Art heidnischer Opfer zu verstehen, oder lässt sich eine andere Sinngebung aufspüren, von der aus es erklärlich wäre, dass auch nach dem Ende der Tieropfer die biblische Religion weitergehen konnte? Thomas Ruster

Anmerkungen 1 2

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Kehlmann, Tyll, 58. Vgl. Krüger u. a., Zugänge und Konzepte einer Geschichte zwischen Menschen und Tieren, 9–15; 23–25; Wirth u. a., Handeln der Tiere. Thomas von Celano, Vita des hl. Franziskus, 246. Er spielte die Orgel in Konzerten und veröffentlichte zusammen mit Charles Marie Widor eine kommentierte Gesamtausgabe der Orgelwerke Johann Sebastian Bachs, auch entwickelte er neuartige Konzepte zum Orgelbau, die in vielen Kirchen, u. a. in der Dortmunder Reinoldikirche, umgesetzt wurden. Schweitzers Geschichte der Leben-JesuForschung von 1913 ist bis heute ein theologisches Standardwerk. Schweitzer, Kultur und Ethik, 328. Ebd., 331. Ebd., 330. Vgl. ebd., 339 f. Rosenberger, Der Traum vom Frieden zwischen Mensch und Tier, 141. Lintner, Der Mensch und das liebe Vieh, 100.

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Remele, Die Würde des Tieres ist unantastbar, 140. Der entsprechende § 2417 im Weltkatechismus lautet: „Gott hat die Tiere unter die Herrschaft des Menschen gestellt, den er nach seinem Bild erschaffen hat. Somit darf man sich der Tiere zur Ernährung und zur Herstellung von Kleidern bedienen. Man darf sie zähmen, um sie dem Menschen bei der Arbeit und in der Freizeit dienstbar zu machen. Medizinische und wissenschaftliche Tierversuche sind in vernünftigen Grenzen sittlich zulässig, weil sie dazu beitragen, menschliches Leben zu heilen und zu retten.“ Krüger u. a., Zugänge und Konzepte einer Geschichte zwischen Menschen und Tieren, 22. Rosenberger, Der Traum vom Frieden zwischen Mensch und Tier, 185. Der Autor sieht sich gehalten, an diese Aussagen einen „Brief an alle vegetarisch und vegan Lebenden“ anzufügen (187 f.), in welchem er sie davon überzeugen will, erst einmal den Weg einer nachhaltigen Reduzierung des Fleisch-

II. Tierethik

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konsums mitzugehen und die Grundsatzfrage „‚Tiertötung ja oder nein‘ mindestens vorläufig zurückzustellen“. Lintner, Der Mensch und das liebe Vieh, 215. Ebd., 220. Remele, Die Würde des Tieres ist unantastbar, 140. Ebd., 140 f. Das ethische Konzept der „reflektierten Positionalität“ geht auf Niklas Luhmann zurück. Für die theologische Ethik hat es Dallmann, Vom Nutzen des Dissenses, 147–160, ausformuliert. Zur Frage, ob eine christliche Ethik universal sein muss oder ob sie eine Ethik für Christen ist, vgl. Frieling, Christliche Ethik oder Ethik für Christen, bes. 419–448. Rotzetter, Streicheln, mästen, töten, 158. Die poetische Kraft seiner Gedichte und der von ihm präsentierten Quellen kann an dieser Stelle keinen Ausdruck finden.

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Hille, Die Tiere und Jesus, 218 f. Vgl. Hagencord, Diesseits von Eden, 33–36. „Das Christentum war in seiner bisherigen Geschichte keine explizit tierfreundliche Religion“ (Remele, Die Würde des Tieres ist unantastbar, 88) – das ist noch glimpflich ausgedrückt, wie die Ausführungen Remeles (88–119; dort auch die folgenden Angaben) selber zeigen. Vgl. dazu Fischer, Frömmigkeit der Kirche, 297–304. Fischer legt Quellen vor, nach denen Tieren der Tod des Hofherrn angekündigt wurde. Auch die christlichen Jahresfeste, Bistumsfeste und häusliche Feste wurden den Tieren in Ställen kundgetan. Besondere Zärtlichkeit und Zuwendung wurde dabei den Bienen zuteil. Liedke, „Tier-Ethik“, 199–213. Vgl. Keel, Allgegenwärtige Tiere, 155– 193.

Haustier, Nutztier, wildes Tier Wie Beziehung Kategorien sprengt

In der Bibel kommt ein merkwürdiges Tier vor, dass man zunächst nicht recht zu identifizieren weiß: der „Klippdachs“. Heutige Biologen nehmen an, dass es sich um das von ihnen als „Klippschliefer“ bezeichnete Säugetier handelt, welches in Afrika und Westasien verbreitet ist. Es ähnelt äußerlich dem Murmeltier, doch die Familie der Schliefer ist evolutionär weder mit ihnen noch mit dem Dachs näher verwandt, sondern überraschenderweise mit dem Elefanten. Die nur kaninchengroßen Tiere leben in Rudeln in felsigen Gegenden. Genau deshalb besingt sie der 104. Psalm: Da ist zunächst die Rede von den Zedern des Libanon, die Gott gepflanzt hat, damit „darin Vögel nisten“

Und dann heißt es gleich anschließend: „der Storch, sein Haus ist Wacholder. Berge – für die Steinböcke sind die hohen, Klüfte sind der Klippdachse Schutz.“

Offensichtlich geht es hier um Lebensräume  – heute würden wir vielleicht auch sagen: um ökologische Nischen –, die bestimmte Arten besetzen, und zwar Räume, die der Mensch nicht besiedelt: Weder in Bäumen noch in Bergen baut er seine Häuser. Gott hat offenbar Räume eingerichtet, die anderen Wesen als uns selbst nützlich sind. Dasselbe gilt auch für die Ordnung der Zeiten: Der Mensch ist tagaktiv, viele Tiere jedoch nachtaktiv: 151

II. Tierethik

„Die Junglöwen brüllen nach Raub, vom Gottherrn ihre Nahrung zu fordern; strahlt die Sonne auf, ziehen sie heim, lagern sich in ihre Gehege, hervor kommt, an seine Arbeit, der Mensch, an seinen Dienst bis zum Abend.“

Gut so, mag man ergänzen: Denn so kommen sich Mensch und Löwe nicht so leicht ins Gehege. Zu nichts nütze: Der Klippdachs Was den Klippdachs oder -schliefer angeht, wäre das für den Menschen wohl kein Problem, wie das Buch der Sprichwörter weiß: „Klippdachse sind ein Volk ohne Macht“ (Spr 30,26). Aber auch umgekehrt würde jedenfalls der biblische Mensch dem Klippschliefer nicht gefährlich: Denn die Thora rechnet ihn zu den unreinen Tieren, „weil er zwar wiederkäut, aber keine gespaltenen Klauen hat“ (Lev 11,5; ebenso Dtn 14,7). Das ist zwar aus biologischer Sicht falsch – aber dem Klippdachs mag es recht sein. Er hat damit das Glück, kein essbares Tier zu sein. Er ist auch nicht zu domestizieren, er ist also – in einer nicht biblischen, aber immer noch verbreiteten Kategorie zu sagen – kein „nützliches Tier“. Wie kommt er dann in den Psalm? Man darf wohl antworten: gerade deshalb! Weder nützlich, noch gefährlich, nicht einmal besonders imponierend, in keiner direkten Berührung zum Menschen, steht der Klippdachs einfach für das quirlige Leben der Schöpfung Gottes. Denn Psalm 104 besingt die Schöpfung nicht „anthropozentrisch“. Der Mensch ist hier weder Ziel noch Krone der Schöpfung, er lebt vielmehr in ihr mit all den vielen Tieren, die Gott auch geschaffen hat und für die er auch sorgt; er vermittelt das „Bild einer Gottheit, die sich um die Tiere sorgt, die nicht arbeiten, produzieren oder etwas leisten.“1 Tiere in der Vorsehungsökonomie Auf seine Weise ist Psalm 104 eine lyrische Antwort auf Gottes Feststellung im Schöpfungslied der Genesis, „dass es sehr gut war“ (Gen 1,31), nur dass der Psalm ganz ohne die Unterstellung der Pflanzen und Tiere unter die 152

Haustier, Nutztier, wildes Tier

Aufsicht des Menschen auskommt. Aber lässt sich die Güte der Schöpfung aus sich selbst begründen, „einfach so“? Karl Barth hat in seiner Dogmatik gezeigt, wie schwer sich das neuzeitliche Denken mit dieser Begründung tut. Im ersten Band seiner Schöpfungslehre setzt er sich mit dem Optimismus der frühen Aufklärung auseinander, welche – wie Leibnitz in seiner „Theodizee“ – vernünftig zeigen wollte, dass unsere Welt „die beste aller Welten“ sei. Dabei kommt Barth auch auf den Gedichtband von Barthold Heinrich Brockes von 1721 zu sprechen: „Irdisches Vergnügen in Gott“. Der Hamburger Senator besingt ebenfalls die Schöpfung in einer Art Psalmen. Aber um die gute Einrichtung der Natur zu zeigen, darf sie gerade nicht nutzlos und „einfach so“ erscheinen. Deshalb kommt bei ihm auch nicht der Klippschliefer zu Ehren, umso mehr jedoch die Kuh, von der es etwa in schönen Reimen heißt: „Liebstes Vieh, da ich hier stehe / Und wie man dich melke, sehe / Fällt mir bei / Auf was Weise es möglich sei, / Daß in dir das Gras für mich / Auf so wundersame Weise / So zum Trank als auch zur Speise / Zubereitet wird und sich / als in lebendigen Öfen sich / gleichsam selber destilliere / Sprich nun, Mensch, ob in der Tat / Dem, der es geordnet hat / Nicht unendlich Lob gebühre?“2

Hier wird Gott also für die Erschaffung eines lebendigen „Destillationsofens“ gepriesen, dessen Produkt – obwohl die Kuh direkt angesprochen wird –nicht primär für den tierischen Nachwuchs bestimmt zu sein scheint, sondern eben „für mich“! Ebenso wird das Fallenstellen bei der Vogeljagd damit gerechtfertigt, dass es ja wohl nicht angehe, die Tiere einfach anderen Tieren oder dem sinnlosen natürlichen Tod zu überlassen: „… ist der Vögel Orden / weniger als andre Tier, uns zum Nutz erschaffen worden? / Sollten sie denn uns nichts nützen? Sollten sie vielleicht allein / Des ergrimmten Habichts Klauen und der Sperber Beute sein? / Oder sich zu häufig mehren? Müssen sie nicht alle sterben“?3

Die Natur einfach der außermenschlichen Natur überlassen, gibt offenbar keinen Schöpfungssinn, wäre eine unverständliche Verschwendung. Deshalb gehört die Jagd sozusagen in die Theodizee, in die Rechtfertigung des Daseins der Tiere: „Jagen, fischen, Vogel stellen / Sind dem lauter Anmutsquellen / Der dabei mit Lust bedenket: / Daß es Gott sei, der sie schenket“.4 153

II. Tierethik

Barth kommentiert sehr schön: Aus der „Vergnüglichkeit“ der Schöpfung ist unter der Hand ihre „Essbarkeit geworden“.5 Darüber hinaus geht es dem Schweizer Theologen allerdings vor allem darum, dass dieser aufgeklärte Optimismus die Güte der Schöpfung vernünftig aus sich selbst, aus der Anschauung heraus glaubt beweisen zu können, also nicht in biblischer Perspektive, nicht theo- oder gar christozentrisch. Damit steht diese Theodizee wehrlos da, sobald man den Blick ernsthaft auf den Schrecken, die Sinnlosigkeit, das Leid der Schöpfung lenkt. Der Optimismus kann dann – geistesgeschichtlich etwa nach dem Erdbeben von Lissabon – leicht in einen ebenso überzeugenden Pessimismus umschlagen. Und Gott als Stütze eines angeblich so einleuchtenden Optimismus verflüchtigt sich mit diesem gleich mit, hängt er doch letztlich von ihm ab. Einen späten ironischen Reflex auf Brockes’ Buch hat der Dichter Peter Rühmkorf geschrieben (der übrigens Barths Patenkind war6): „Irdisches Vergnügen in g“ heißt ein Gedichtband von ihm. Was das „g“ bedeutet, bleibt darin ungesagt – eine Tonart vielleicht, g-Moll? Im Spiel mit barocker Sprache – sogar Drucktype – schlägt Rühmkorf den Brockes’ frommer Vernünftelei gerade entgegengesetzten Ton an: Eine Welt voller Erotik und Extase schenkt alles und nimmt alles – außer Sinn. „Skepsis? Guuut!“ heißt es programmatisch.7 „Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindungen Pracht, / mit entspanntem Munde gepriesen“, heißt es in einer Variation auf Friedrich Wilhelm Klopstock, um dann gleich die Epigonen solchen Preisgesangs zu ironisieren: „schöner ein künstlich Gebiß, / das den großen Gedanken / einer Schöpfung noch einmal käut.“8

Es geht also nicht mehr ums Begreifen, nicht mehr ums Rechtfertigen – dies, wo Tod und Schrecken stets nur einen Halbvers entfernt sind. Was bleibt, ist eben das irdische Vergnügen am Abgrund, ist ein dionysisches Lebensgefühl, und damit auch eine Schöpfungsmetapher ohne Schöpfer: „Hut ab vor der Schöpfung! Hinein ins Unaussprechliche! Der sich beteiligt, will nicht erkennen.“9 Und doch scheint mit der Barth’schen Frage, wie das Vorzeichen  – „Gott“ oder „g“ – den Optimismus oder Pessimismus regiert, nicht alles gesagt zu sein. Barths Kritik stellt einseitig auf die theologische Perspektive ab, in der die Güte der Schöpfung erscheinen soll: in einer Analyse der Schöpfung selbst durch menschliche Vernunft oder in der Offenbarung des 154

Haustier, Nutztier, wildes Tier

Schöpfungswillens Gottes, der nicht mit den Phänomenen identisch ist. Weil das neuzeitliche Bewusstsein glaubte, den Schöpfungssinn vernünftig ausrechnen zu können, musste auf den Hochmut der Fall in die Skepsis folgen. Übersehen wird bei dieser theologischen Kritik jedoch, dass es auch einen Perspektivunterschied in der biblischen und der aufgeklärten Schöpfungssicht gibt, also innerhalb der Klammer, vor der die Vernunft oder die Offenbarung stehen mag: Es ist der Unterschied zwischen einer Art spiritueller Ökologie alles Lebendigen und einer hierarchisch-teleologischen Ordnung, deren Maßstab und Ziel letztlich nur der Mensch sein kann. Für die erste Perspektive ist der Klippdachs das Wappentier, für die zweite die Hochleistungskuh. Auch fromme Offenbarungstheologie hat die biblische Natursicht vielfach von der Genesis aus im zweiten Sinn verengt. Und diese Sichtweise ist mit dem Zusammenbruch des aufgeklärten oder auch des gläubigen Optimismus keineswegs verschwunden. Die alte Vorsehungsteleologie, nach der Gott alles zum Guten ordnet (und wir nachvollziehen können, wie er das tut), findet sich gegenwärtig säkularisiert im Evolutionismus: Auch in dessen Perspektive ist alles für etwas gut – aber alles ist auch nur gut als „für etwas“. Jedes Leben ist nur Glied einer Kette und jede Lebensfunktion, jede Gestalt der Anpassung, jede Variation genetischer Möglichkeiten lässt sich strategisch erklären, als Finte im Überlebenskampf. Diese Erklärperspektive ist zweifellos so mächtig, weil sie tatsächlich viel erklärt – doch „kann eine nützliche methodologische Maxime auch zum Dogma mutieren: Erkläre Tierverhalten im evolutionären Paradigma. Alles andere ist keine Erklärung.“10 Der Klippdachs mag in dieser Weltanschauung noch ganz gute Karten haben. Aber – wie mir einmal ein Biologe und Wissenschaftsjournalist sagte: „Wozu die Zecke gut sein soll, hat mir noch niemand erklären können.“ Leben mit Tieren In Marlen Haushofers Roman Die Wand gerät die Erzählerin in einem Alpenseitental in völlige Isolation. Eine unsichtbare, undurchdringliche Wand  – vermutlich in einem militärischen Vernichtungsschlag über Nacht niedergelassen – schneidet sie von der Welt ab. Durch Zufall war sie am Abend allein auf der Jagdhütte zurückgeblieben, nur den Hund des Jagdpächters hat sie bei sich. Es beginnt eine Robinsonade in den österreichischen Alpen, die weitgehend ein Bericht über ein Leben mit Tieren 155

II. Tierethik

ist – und eine Meditation über das menschliche Verhältnis zu Haus- und Wildtieren, wie es in der Literatur wohl nur wenige gibt. Die zweite Hauptperson neben der Ich-Erzählerin ist zweifellos der Hund „Luchs“, „ein bayrischer Schweißhund“11. Gleich bei seiner ersten Erwähnung wird von seiner Perspektive aus erzählt: „Mich behandelte er mit freundlicher Neutralität, hielt sich aber gern in meiner Nähe auf.“ Aus seiner Perspektive heißt nicht, dass Luchs vermenschlicht oder sich die Erzählerin psychologisierend in ihn hineinversetzen würde. Sie vermag auch nur ihre Beobachtung des Hundes zu notieren, dies jedoch scharf, genau, nah. Es ist wirklich die Beobachtung dessen, was ihr von diesem Tier entgegenkommt, was ihr dieses Tier entgegenbringt: „Luchs kam aus dem Haus und legte den Kopf auf meine Knie. Er hatte Zuspruch nötig.“12 Aus solcher Begegnung entsteht Gemeinsamkeit, Zusammengehörigkeit, sogar ein Wir in der Einsamkeit: „Wir hatten beide Angst und versuchten, einander Mut zu machen“, „wir waren nicht ganz verloren, weil wir zu zweit waren.“13 Später notiert sie das wohl tiefste, was sich über eine Beziehung zwischen Mensch und Tier sagen lässt: „Luchs stand mir am nächsten, er war bald nicht nur mein Hund, sondern mein Freund“; natürlich ist diese Erfahrung radikalisiert durch die Isolation der Erzählerin – „mein einziger Freund in einer Welt der Mühen und Einsamkeit“ –, doch diese Erfahrung teilen ungezählte Menschen mit Hund, und sie ist wahr, trotz allem Naserümpfen, aller Häme, die darüber von anderen gern ausgegossen wird. Dieses Wir von Mensch und Hund wird bei Haushofer niemals kitschig überzeichnet. Die Erzählerin weiß sehr wohl, dass der Hund seiner Art und Züchtung nach ein Gefährtentier ist. Sie beobachtet die unbändige Freude, die der Hund durch ihre Zuwendung erfährt und reflektiert über den Unterschied des Haustiers zum Wilden: „Ich glaube nicht, dass wildlebende erwachsene Tiere glücklich oder auch nur fröhlich sind. Das Zusammenleben mit den Menschen muss im Hund diese Fähigkeit geweckt haben.“14 Der Gefährte Hund scheint ein Tier zu sein, das nicht mehr ohne den Menschen sein kann, das gerade emotional vom Menschen abhängt – und die Erzählerin ahnt, „dass dies die einzige große Angst seines Hundelebens war, allein zurückgelassen zu werden“15. Dies, was sie selbst erleidet und mit ihm auch zu ertragen vermag, wäre für den Hund der Tod. Sein ganzes Leben ist auf den Menschen ausgerichtet: „Luchs kannte keine geregelten Schlafzeiten; sobald ich mich mit ihm befasste, war er hellwach; wenn ich mich nicht um ihn kümmerte und er mich auch nicht dazu bewegen konnte, schlief er einfach ein.“16 156

Haustier, Nutztier, wildes Tier

Manchmal empfindet sie ihr Ungenügen seinen Erwartungen gegenüber: „Luchs hätte einen starken, heiteren Herrn verdient. Ich war seiner Lebenslust oft nicht gewachsen und musste mich dazu zwingen, fröhlich zu scheinen, um ihn nicht zu enttäuschen.“17 Natürlich hält der Hund so auch sie emotional aufrecht. Sie sind sich gegenseitig Stütze. Das Leben mit dem Hund ist wirklich, nicht nur sentimental eingebildet, eine Beziehung, die keineswegs nur menschliche Projektion ist: „Luchs … überschwemmte mich mit Liebesbezeigungen. Einmal brachte er mich zum Weinen, und wir saßen nachher beide beklommen auf der Bank.“18 Als sie sich zu sehr einem jungen Kater widmet, wird „Luchs ein wenig eifersüchtig“19. Am Ende stirbt Luchs, erschlagen bei dem Versuch, sie zu verteidigen gegen den einzigen Menschen, der in der Einsamkeit auftaucht wie eine Katastrophe: „…  mehr als sein Leben konnte er nicht für mich einsetzen.“20 Das Buch ist also aus einer noch tieferen Einsamkeit heraus geschrieben, im Rückblick auf die Zeit mit Luchs. Der Leser erträgt diese ganze hoffnungslose Geschichte vielleicht nur, weil dieser Rückblick bis zum Schluss aufrecht erhalten wird, weil Luchs erst ganz am Ende der Geschichte stirbt, obwohl in ihr immer wieder die viel tiefere Isolation der Erzählerin nach seinem Tod durchscheint. „Luchs liegt auf der Alm begraben.“21 Danach hat sie keinen Gefährten mehr. Der Hund wird als das älteste Haustier des Menschen bezeichnet. Die Geschichte macht deutlich, dass er eigentlich mehr ist, als die Kategorie „Haustier“, erst Recht die des „Nutztieres“ hergibt. Dies wird deutlich im Kontrast zur zweiten Tierbegegnung des Buches: Nach dem Hund taucht zunächst eine Kuh auf, „eine brüllende und lebendige Kuh. Sie kam auf mich zu und schrie mir ihren ganzen Jammer entgegen.“22 Auch hier wird die Begegnung vom ersten Satz an aus der Perspektive des Tieres erzählt, von ihrem Entgegenkommen, ihrem Bedürfnis her. Die Kuh ist nicht gemolken worden, deshalb leidet sie. Auch die Kuh braucht den Menschen, doch weniger emotional, mehr biologisch: „Es war ganz klar, dass ich die Kuh nicht zurücklassen konnte.“23 Macht der Hund die Erzählerin zur Gefährtin, so wird sie durch die Kuh zur Hüterin, zur Bäuerin. Mit der Kuh, deren Milch ihr das Überleben sichert, scheidet auch die Idee aus, auf Wanderschaft einen Ausweg aus der Isolation zu suchen oder wenigstens die Landschaft innerhalb der „Wand“ zu erkunden. Denn die Kuh „verlangt einen sesshaften Herrn. Ich war der Besitzer und der Gefangene einer Kuh.“24 Mit dieser Wende vollzieht die Robinsonade sozusagen die große Wende der Menschheitsgeschichte in der Jungsteinzeit nach: Der Hund war Gefähr157

II. Tierethik

te schon des Sammlers und Jägers. Erst mit dem Vieh und dem Ackerbau wird der Mensch sesshaft. Beides hängt zusammen: Für die Kuh beginnt die Erzählerin Heu zu ernten, mit deren Mist düngt sie ihren Gemüsegarten. Bald stellt sie fest, dass die Kuh trächtig ist, und hofft auf ein Stierkalb: Das würde nicht nur dafür sorgen, dass die Kuh zunächst weiter Milch gibt, sondern auch für weiteren Nachwuchs. Die Erzählerin plant also den Beginn einer Zucht aus diesem einzelnen zugelaufenen Tier, aus einer Inzucht heraus. Die Geburtshilfe, die sie der Kuh leistet, gehört zu den dramatischen Höhepunkten des Romans: Die Aufzucht des Stiers gelingt, auch sein späterer Einsatz als Zuchtbulle. Gegen Ende des Buches, kurz bevor auch der Stier gewaltsam ums Leben kommt, beobachtet die Erzählerin auf ihrer Sommeralm die Paarung in einer Weise, mit der die Wahrnehmung des Viehs als Haus- und Nutztier schon wieder überschritten wird: „Als ich die beiden großen Geschöpfe vor dem rosigen Abendhimmel miteinander verschmelzen sah, glaubte ich zu wissen, dass es diesmal ein Kalb geben würde. So musste es geschehen, auf einer großen Wiese, vor dem Abendhimmel, ohne die Einmischung eines Menschen.“25 Diese Szene macht anschaulich, dass auch Zuchttiere keine Geschöpfe des Menschen sind, dass sie Abkömmlinge, Verwandte der wilden Tiere bleiben, uns entzogen. Andererseits ist auch die Kuh ein Individuum und einer Beziehung zum Menschen fähig. Die Erzählerin gibt ihr einen Namen und die „Kuh begriff bald, dass sie nun Bella hieß“26. Die Verantwortung, welche die Bäuerin und Hüterin für ihre Kuh übernimmt, übersteigt das Kalkül ihrer Nützlichkeit: „… selbst wenn Bella keine Milch gegeben hätte, wäre es mir unmöglich gewesen, nicht ebenso gut für sie zu sorgen. Sehr bald war sie mir mehr geworden als ein Stück Vieh, das ich zu meinem Nutzen hielt.“27 Tierethik hängt offensichtlich auch von der Beziehung ab, welche die Haltungsbedingungen zwischen Mensch und Vieh ermöglichen. Für eine Kuh mit Namen kann man sich verantwortlich fühlen, für das Exemplar in einer Massentierhaltung ist das weit schwieriger. Bella, so still, selbstgenügsam, in sich ruhend sie auch wirkt, wird ebenfalls zu einem Du für ihre Besitzerin, die schließlich hofft, sie habe „für Bella alles getan, was ein Mensch für seine einzige Kuh tun kann. Sie hatte es gern, wenn ich zu ihr sprach.“28 Und so nennt die Erzählerin auch ihren Hund und ihre Kuh gemeinsam, wenn es um das geht, was sie in ihrer Einsamkeit und Ausweglosigkeit vom Selbstmord abhielt: „Hauptsächlich hielt mich auch der Gedanke an Luchs und Bella davon ab“29– eine Notiz, wie man sie sonst bei verzweifelten Menschen nur im Blick auf ihre Kinder kennt. 158

Haustier, Nutztier, wildes Tier

Auch das dritte Tier, das in der Einsamkeit auftaucht, sprengt die üblichen Kategorien von wildem Tier, Haus- und Nutztier und begegnendem Individuum: „An jenem Abend kam die Katze in mein Haus … eine magere, grauschwarz gestreifte Bauernkatze“30. Die Katze hat sich ihre Bleibe, ihre Gastgeberin selbst ausgesucht, ist vorher länger um das Haus geschlichen – ganz so, wie sich die Forschung auch die Selbst-Domestikation der Hauskatzen vorstellt. Katzen sind Tiere mit komplex und selbstständig austarierter Nähe und Distanz zu ihren Wirten, sie sind launisch und wählerisch, vorsichtig und auf ihre Autonomie bedacht. Die Nähe, die eine Katze gewährt, scheint deshalb viel weniger „Natur“ zu sein als die des Hundes, sie will erworben sein: „… als sie sich Ende Juni zum ersten Mal von ihrem Platz erhob, über den Tisch auf mich zukam und ihr Köpfchen an meiner Stirn rieb, empfand ich dies als großen Erfolg.“31 Kurz nach dieser Szene steht daher auch der Satz, den wohl alle Katzenhalter (die nie sicher sind, ob sie sich wirklich als „Halter“ bezeichnen sollten) unterschreiben können: „Ich glaube nicht, dass die Katze mich so nötig braucht wie ich sie.“32 So bleibt es auch: Die Katze ist der anspruchsvolle, gewissermaßen auch der initiative Part in der Beziehung. Sie fängt an, „gewisse Forderungen zu stellen“, sie will „jederzeit, auch nachts, kommen und gehen, wie es ihr gefiel“33. Dieses dominante Verhältnis bezieht sich auch auf den tierischen Mitbewohner des einsamen Hauses: Köstlich treffend beschreibt die Erzählerin die allmählich entwickelte Freundschaft zwischen Hund Luchs und der Katze (die übrigens nie einen Namen erhält): „… sie fing an, ihn zu behandeln wie ein launenhaftes Weib einen Tolpatsch von Ehemann behandelt.“34 So ist die Katze unseren Tierkategorien noch stärker enthoben als Hund oder Kuh: gewiss Haustier, aber mit Freigang. Auch ein Nutztier, aber doch nur in einer streng begrenzten, wenn auch wichtigen Hinsicht: „Es gibt ja so viele Mäuse im Wald. Hätte ich nicht eine Katze, wäre das Haus längst von ihnen überschwemmt.“35 Dies war wohl auch der Anlass für die erste Symbiose von Mensch und Katze im alten Ägypten: Kost und Logie bei den Getreidespeichern gegen Mäusejagd. Genau dieser begrenzte Nutzaspekt rückt aber auch die bleibende Fremdheit und Wildheit der Katze in den Blick: Sie bleibt ein Raubtier, lässt sich das viel weniger verwehren als der folgsame Hund. Und dann ist ihr Umgang mit der Beute befremdlich mehr als nur Nahrungserwerb: „Ich habe nie unschuldigere Augen gesehen als die Augen meiner Katze, die gerade eine kleine Maus totgequält hatte. Sie hatte keine Ahnung, dass sie dem kleinen Ding Schmerzen bereitet hatte. Ein geliebtes Spielzeug hatte aufgehört, sich zu bewegen, und die 159

II. Tierethik

Katze klagte darum.“36 Auch hier wird nicht vermenschlicht, eher die Fremdheit der Natur fokussiert: „Was verstehe ich überhaupt von ihrem Leben?“37 Und doch ist das komplexe Verhalten einer Katze nicht zu beschreiben, ohne dass unsere Kategorien von Schuld und Unschuld, unsere Frage auch nach dem Ursprung des Bösen auftauchen. Vielleicht liegt das daran, dass komplexe, intelligente Tiere zwar nicht unsere Erfahrungen mit Freiheit und Entscheidungen wiedergeben, aber doch irgendwie an deren Rand oder in deren Vorfeld angesiedelt zu sein scheinen. Gerade dies – Persönlichkeit ohne eigentliche Person  – macht sie uns so anziehend und fremd zugleich, so geheimnisvoll. Zur Wildheit der Hauskatze gehört ihr Rückzug in den Wald, oft tageund nächtelang. Kommt sie zurück ins Haus, ist das wie ein erneutes Überschreiten der Schwelle von der Wildheit zur Häuslichkeit: „Sie schrie und schrie und wollte mir erzählen, was ihr widerfahren war.“38 Die langen Ausflüge gelten schließlich einem stets unbekannt bleibenden Kater und bringen so mehrfach Nachwuchs ins Haus. Und dies bringt ein neues Drama in das einsame Haus: „Eine neue Sorgenlast war mir auferlegt worden“39, notiert die Erzählerin, denn nun begleitet sie ständig die Angst um die kleinen Geschöpfe. Und tatsächlich: Keine dieser neuen Katzen überlebt auf Dauer. Einige sterben schon schnell nach der Geburt. Zwei aber erhalten sogar einen Namen: Die erste ist Perle, die „langhaarige, weiße Katze“, die gerade wegen ihrer auffälligen Schönheit im Wald „gar keine Chancen“ hat40 und bald eines Tages schwer verletzt von einem Ausflug zurückkommt und stirbt. Ihr folgt der Kater Tiger, der länger überlebt und schließlich spurlos verschwindet. Angesichts dieser Dramen wird fühlbar, wie tief emotional uns Tiere angehen. Von Perle heißt es: „Ihr Tod war der erste Verlust, den ich im Wald erlitt“41; später angesichts neuer Katzenkinder nimmt sich die Erzählerin deshalb vor, „sie nicht liebzugewinnen, aber es war vorauszusehen, dass es mir nicht gelingen würde“42. Tatsächlich notiert sie die schönsten Beschreibungen katzenhafter – bzw. katerlicher – Individualität angesichts des später geborenen Tiger. An ihm beobachtet sie die „geheimnisvollen Zustände“ der Katzen, etwa seine Vorliebe für Düfte: „Er konnte die längste Zeit vor einem wohlriechenden Kraut sitzen, den Schnurrbart gespreizt, die Augen geschlossen“43. Als Junge liebt er natürlich das Spielen, versteckt sich und erschreckt die Erzählerin: „Es fehlten ihm nur kleine Hände, in sie zu klatschen, wenn ich entsetzt zur Seite sprang.“44 Später wird daraus ein differenziertes Rollenspiel: „Seine Leidenschaft war Theaterspielen, mit 160

Haustier, Nutztier, wildes Tier

den gleichbleibenden Hauptrollen wütendes Raubtier, gräßlich und furchterregend; sanftes, sehr junges Kätzchen, hilflos und zu bemitleiden; stiller Denker, erhaben über den Alltag (eine Rolle, die er nie länger als zwei Minuten durchstand), und tiefbeleidigter, in seiner Mannesehre gekränkter Kater.“45 Natürlich ist das eine Beschreibung menschlicher Projektion: Kann ein Tier, und sei es für zwei Minuten, einen stillen Denker mimen, wo es doch in unserem Sinne gar nicht „denkt“? Und doch weiß jeder, der schon einmal mit Katzen lebte, wie solche präzisen Beobachtungen zustande kommen. Sie sind Interpretation, Übertragung – und doch präzise. Unzweifelhaft haben diese Tiere individuelle, komplexe Charaktere und bringen sie in die Kommunikation mit Menschen ein. Deshalb ist der Verlust eines solchen Tieres auch nicht auszugleichen, durch die nächste Katze, den neuen Hund … „Tiger kam nicht zurück. … Ich werde nie wissen, was mit Tiger geschehen ist, und das quält mich noch heute.“46 Das einsame Leben im Wald bringt jedoch nicht nur die Nähe zu Haustieren. Die Jagd- und die Almhütte, die beiden wechselnden Domizile der Einsiedlerin, sind von Wildnis umgeben. Und hier lebt, was wir auch so bezeichnen: Wild. Doch die mit dem Begriff primär gemeinten Tiere – hier Rehe, Hirsche und Gämsen – sind ebenfalls durch ihre Tierkategorie nicht wirklich zu erfassen: Wie „wild“ sind Tiere in einer landwirtschaftlich vorgeprägten Umwelt, hier zudem in einem Jagdrevier wirklich noch? Die Erzählerin ist nun die einzige Jägerin im Tal. Und sie muss die Rolle eines Jägers bewusst einnehmen: Sie schießt gezielt „nur schwache Böcke. Ich fürchtete, das Wild, nur noch in meinem Revier zu wenig dezimiert, würde überhandnehmen und in einigen Jahren in einem abgefressenen Wald wie in einer Falle sitzen.“47 Die vermeintliche Wildnis ist eben keine unberührte Natur, kein sich selbst überlassenes Ökosystem mehr: „Es rächt sich jetzt, dass alles Raubzeug längst ausgerottet worden ist und das Wild außer dem Menschen keinen natürlichen Feind mehr hat.“48 Doch diese Förster-Logik – aus Diskussionen um Jagdgesetze, Wildregulation und Naturreservate bekannt – vermag die Erzählerin nicht durchzuhalten. Die einzige verbliebene Hüterin des Wildes wird nicht zur emotionslosen Wildhüterin. „Ich machte mir Sorgen um das Wild“, notiert sie über einen langen harten Winter: „Es lag mehr als ein Meter Schnee, und es gab keine Fütterung mehr.“49 Also beginnt sie, mit dem mühsam erarbeiteten Heu auch Wildraufen zu füllen. Sie weiß selbst: „Es wäre ja vielleicht klüger, es nicht zu tun, das Wild vermehrt sich ohnedies zu sehr, aber ich kann es einfach nicht verhungern und so elend umkommen lassen.“50 161

II. Tierethik

Ist dies nun falsche menschliche Sentimentalität? Jedenfalls zeigt sich hier, dass unser Verhältnis auch zu den wilden Tieren nicht einer automatisch gegebenen biologischen Logik folgt und deshalb ohne ethische Entscheidungen nicht zu gestalten ist. Es gibt zwischen uns und den Tieren keine feststehenden, einfach zu befolgenden Sach-Regeln. Die Erzählerin erfasst dies präzis, indem sie angesichts ihres Verhaltens gegenüber dem Wild unsere Tier-Kategorien auch begrifflich unterläuft: Sie erzählt von einer Lichtung, die den Rehen als Futterstelle dient und die sie deshalb als Jagdrevier ausklammert, was sogar der Hund übernimmt: „Luchs hatte längst begriffen, dass Rehe auf der Lichtung kein jagdbares Wild waren, sondern eine Art ganz entfernter Hausgenossen.“51 Was bleibt, ist dennoch das Töten. Die Erzählerin muss jagen, primär nicht wegen der Bestandsverringerung, sondern für ihre und des Hundes Ernährung. Sie tötet also Tiere – doch sie verdrängt niemals die Problematik dieses Tuns: „Es fällt mir auf, dass ich in meinem Kalender nie vermerkt habe, wann ich ein Stück Wild schoss. Jetzt erinnere ich mich auch, dass es mir einfach zuwider war, es aufzuschreiben“52. Was sie unter dem Überlebenszwang tut, erscheint ihr nicht als natürlich und normal, sondern „fast wie ein Verrat“53. Diese Problematik teilt sie – im Unterschied zu modernen Hobbyjägern und Fleischproduzenten – mit den ursprünglichen Jägerkulturen, die alle magische, kultische, religiöse Vorkehrungen treffen mussten, um das Sakrileg des Tötens von Tieren zu rechtfertigen. Auch in der Bibel ist die Jagd im Paradies nicht vorgesehen; es braucht für sie eine Notstandsgesetzgebung erst nach der Sintflut (vgl. Gen 1,29 f mit 9,2–4). Und so zieht sich ein Vorbehalt wie ein Refrain durch den Roman: „Ich werde mich nie daran gewöhnen.“54 „Diesen Abscheu vor dem Töten verlor ich nie.“55 Doch was Wild heißt, ist in der vertrauten Umgebung eines Alpentals im Grunde das am wenigsten wilde, am wenigsten fremde Element der Fauna. Die Erzählerin fängt auch Forellen, und im Vergleich zu ihrer Aversion gegen die Jagd auf Rehböcke gibt sie unumwunden zu: „Es machte mir weniger aus, sie zu töten.“56 In den Fischen treffen wir auf eine fremde Welt, der wir jedoch auch nicht neutral gegenüberstehen; sie mag uns faszinieren oder auch erschrecken und schaudern lassen: „Eine Forelle stand regungslos im grünbraunen Tümpel, und bei ihrem Anblick fing ich an zu frieren.“57 Offensichtlich gibt es Tiere, die uns näher stehen, und solche, die stärker die uns fremd gegenüberstehende Natur verkörpern: „Mein Vorstellungsvermögen ist sehr begrenzt, es reicht nicht bis ins glatte, weiße Fleisch der Kaltblütler.“58 162

Haustier, Nutztier, wildes Tier

Doch dieser Schauder vermag sich auch zu wandeln, und dies dann nicht durch eine Annäherung der wilden an die Haustiere, sondern gerade durch die Erkenntnis ihrer Unabhängigkeit, ihres fehlenden Bezogenseins auf uns. Die Erzählerin schildert dies ausgerechnet anhand eines Tieres, dass nicht nur mythisch (bis theologisch!) negativ, sondern aus verständlichen Gründen höchst angstbesetzt ist: der Schlange. Auf der Alm findet sie eine Kreuzotter, eine Giftschlange also, die sich auf einer Geröllhalde sonnt. „Von da an fürchtete ich mich nie mehr vor einer Schlange. Die Kreuzotter war sehr schön, und als ich sie so liegen sah, ganz der gelben Sonne hingegeben, war ich sicher, dass sie nicht daran dachte, mich zu beißen. Ihre Gedanken waren weit weg von mir“59. Wilde Tiere, gerade gefährliche, sind meist in diesem Sinne „weit weg“ vom Menschen, so wie die Löwen im Psalm 104, die des Nachts jagen. Sie wollen nichts von uns. Wenn wir ihnen nicht ins Gehege kommen, schaden sie uns nicht. Und diese Ferne ermöglicht dann auch die Wahrnehmung ihrer Schönheit. So heißt es auch von einem Raubvogel: „Der Bussard gefiel mir sehr … Er sah sehr schön aus, und ich folgte ihm mit meinen Augen, bis er sich im Blau des Himmels verlor oder in den Wald niederstieß.“60 Es gibt natürlich Tiere, die uns noch fremder sind, auf die auch unsere ästhetischen Kategorien nur schwer anzuwenden sind: „Wie fremd sind mir die Insekten.“61 Aber selbst angesichts dieser Fremdheit entwickeln wir, sobald wir genauer hinschauen, Emotionen – mitunter überraschende: „Die großen Waldameisen wurden wieder sehr unternehmungslustig und zogen in grauschwarzen Prozessionen an mir vorüber. Sie schienen äußerst zielbewusst und waren nicht abzulenken von ihrer Arbeit. Sie schleppten Fichtennadeln, kleine Käfer und Erdstückchen und plagten sich sehr. Sie taten mir immer ein wenig leid.“62 Mitleid mit Ameisen? Das mag uns absurd erscheinen, aber in ihrer Einsamkeit erfährt sich die Erzählerin in einer Rolle, die früheren Menschen, Kulturen, die enger als wir im Naturzusammenhang lebten, durchaus nah war: Sie ist so etwas wie die Herrin des Waldes, Herrin des Wildes, die einzige betrachtende, urteilende Instanz. „Das einzige Wesen im Wald, das wirklich recht und unrecht tun kann, bin ich. Und nur ich kann Gnade üben.“63 Die Rolle des „Herrn der Tiere“ wird bei „Naturvölkern“ mitunter bestimmten mythisch besetzten Tieren übertragen, mit ihnen kommunizieren Schamanen, auch der Gott der Bibel hat wie in Psalm 104 Züge eines solchen Herrn der Tiere64, und auch der Mensch im Paradies wird gewissermaßen in diese Rolle eingeführt: als hütender Herrscher (Gen 1,26) und als Namensgeber (Gens 2,19 f ). 163

II. Tierethik

Doch der Mensch ist mit dieser Rolle auch überfordert. Als der Kater ihr einmal eine totgebissene Eidechse vor die Füße legt, weiß die Erzählerin nicht recht, ob sie ihn tadeln oder loben soll. „Was hätte ich tun sollen? Ich bin nicht der Gott der Eidechsen und nicht der Gott der Katzen. Ich bin ein Außenseiter“65. Das ist die vielleicht härteste Feststellung im Buch, in der bei aller Nähe und Kommunikation die tiefe Einsamkeit der Erzählerin fixiert wird: Als Mensch in diesem Wald erfährt sie auch das menschliche Herausgefallensein aus aller natürlichen Selbstverständlichkeit  – ähnlich Adam, der im Paradies kein Gegenüber findet, bevor nicht Eva erschaffen wird. „Ein Mensch kann niemals ein Tier werden, er stürzt am Tier vorüber in einen Abgrund.“66 Dass der einzige Mensch, der schließlich auftaucht, brutale Gewalt anwendet und von der Erzählerin erschossen wird, macht den Roman auch zu einer modernen Geschichte über den Sündenfall und die Unmöglichkeit des Paradieses. „Ich glaube, es hat nie ein Paradies gegeben. Ein Paradies könnte nur außerhalb der Natur liegen, und ein derartiges Paradies kann ich mir nicht vorstellen.“67 Theologische Überlegungen hätten hier anzusetzen. Doch das Buch endet nicht mit diesen Feststellungen. Es endet mit einem bisher noch nicht erwähnten Tier: mit einer Krähe. Krähen sind ebenfalls fremde, wilde Tiere, doch auch sie sprengen von sich aus diese Kategorie, weil sie intelligente Kulturfolger sind. Die Erzählerin beobachtet ihr „aufregendes Doppelleben“68: Nachts fliegen sie an unbekannte Orte, am Tag jedoch versammeln sie sich bei ihrem Haus, um sich von Abfällen zu ernähren. „Sie schienen mich als prächtige Einrichtung zu betrachten, als eine Art Sozialversicherung, und wurden von Tag zu Tag fauler.“69 Die Erzählerin nimmt diese ihre Rolle an, sie zählt nun auch die Krähen zu den „entfernten Hausgenossen, die unter meinem … Schutz standen“70. Und sie wünscht sich manchmal, dass ihre Fremdheit gegenüber diesen Tieren sich „in Vertrautheit verwandelte, aber ich bin weit entfernt davon“71. Dann aber taucht eine ganz besondere Krähe auf: Sie ist weiß, und deshalb von den anderen Krähen ausgestoßen, abgesondert, „ein trauriges Unding“72. Dieser Außenseiter wird zahm, lässt die Annäherung der Erzählerin zu: „Jeden Tag warte ich auf die weiße Krähe und locke sie, und sie betrachtet mich aufmerksam aus ihren rötlichen Augen.“73 Diese Begegnung der beiden Außenseiter im Wald ist eine Beziehung, die alle Verluste und Katastrophen der Geschichte überdauert. Am Ende wird die Erzählerin „auf die Lichtung gehen und die weiße Krähe füttern. Sie wartet schon auf mich.“74 Das sind die letzten Worte des Romans. 164

Haustier, Nutztier, wildes Tier

Eine neue Kultur zwischen Menschen und Tieren? Wenn ich Marlen Haushofers Roman lese, fallen mir immer wieder ganz konkrete Diskussionen zum Umgang mit wilden Tieren in unseren heimischen Wäldern ein: der Problembär Bruno, die Wisente im Rothaargebirge, die Wiedereinwanderung von Wölfen. Ich denke auch an das mitunter überzüchtete und überzüchtende Verhältnis von Großstädtern zu ihren Haustieren, und ich denke an die Industrie des Tiere-Tötens. Der Roman bietet so etwas wie eine Phänomenologie unseres Verhältnisses zu Tieren, die Diskussionen um die genannten Themen vertiefen könnte. Natürlich ist der Roman noch mehr – nämlich eine große Parabel über die Situation des Menschen „jenseits von Eden“. Gibt es einen Weg aus unserer Entfremdung voneinander und von der Natur? „Es gibt keine vernünftigere Regung als Liebe“, notiert die Erzählerin einmal, sie sei „unsere einzige Möglichkeit, unsere einzige Hoffnung auf ein besseres Leben“75, doch sie notiert dies in der Vergangenheit, als schon verpasste Chance. So ergeht es uns heute auch im Umgang mit der Natur: Der zivilisatorische Weg war der von Entfremdung, Versachlichung, Vernichtung. Er wurde längst zementiert. Eine einfache Beschwörung von Tierliebe wird da wenig ändern. Einmal notiert die Erzählerin, dass sie im Traum Tierkinder zur Welt bringt – „Katzen, Hunde, Kälber, Bären und ganz fremdartige pelzige Geschöpfe“76, ohne dass sie dabei erschreckt oder abgestoßen reagieren würde. Der Traum erscheint wie ein Bild für eine Überwindung unserer Fremdheit gegenüber der Natur – einer unmöglichen Überwindung? Jedenfalls kann sie diesen erträumten Weg nicht in Menschenworten ausdenken und aufschreiben. „Vielleicht könnte es ein Genie, aber ich bin nur ein einfacher Mensch, der seine Welt verloren hat und auf dem Weg ist, eine neue Welt zu finden. Dieser Weg ist schmerzlich und noch lange nicht zu Ende.“77 Ich meine, dass es sich lohnt, auch theologisch über diesen Weg nachzudenken. Ein Anfang könnte darin bestehen, unsere teleologische Perspektive auf die Natur zu durchbrechen, in der wir die Tiere nur evolutionär und anthropozentrisch zuordnen und einteilen, in Haus-, Nutz und Wildtier, in Nützling und Schädling, wichtig und unwichtig. Damit sind wir wieder am Anfang der Überlegungen: bei Psalm 104 als Kontrast zu der teleologischen Naturbehandlung der Neuzeit a la Brockes. Haushofers Robinsonade zeigt hier einen konkreten, erfahrbaren Weg von der Verzweckung der Tiere zur Begegnung mit ihrem Eigenleben und -wert. Denn die einsame Frau ist ja auf Tiere angewiesen, muss sie sehr genau nach ihrem Nutzen taxieren, nach dem materiellen (bei Kuh, Stier oder Reh), aber 165

II. Tierethik

auch nach ihrem emotionalen (bei Katze und Hund). Sie kann körperlich und seelisch nicht überleben ohne diese Gefährten. Aber aus dieser Nutztierperspektive heraus erlebt sie die Tiere eben als Gefährten und darüber hinaus als fremd bleibende, ihr eigenes Leben führende Kreaturen. Durch diese Erfahrung überschreitet sie die Grenzziehungen teleologischer Tier-Definitionen, und konsequenterweise kommen dann auch die nutz-losen Tiere in den Blick, bis hin zur weißen Krähe. Und aus der Angewiesenheit auf die Tiere wird gleichsam unter der Hand eine Verantwortung für sie, – Sorge, und auch diese bis hin zur weißen Krähe. Gregor Taxacher Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Schroer, Tiere in der Bibel, 21. Barth, KD III,1, 459. Ebd., 461. Ebd. Ebd., 463. Busch, Karl Barths Lebenslauf, 197. Rühmkorf, Irdisches Vergnügen in g, 13. Ebd., 31. Ebd., 35. Kaeser, Artfremde Subjekte, 49. Haushofer, Die Wand, 11. Ebd., 26. Ebd., 20, vgl. ebd. 19. Ebd., 127. Ebd., 291. Ebd., 190. Ebd., 105. Ebd., 171. Ebd., 182. Ebd., 199. Ebd. Ebd., 33. Ebd. Ebd., 35. Ebd., 291. Ebd., 41. Ebd., 51. Ebd., 206. Ebd., 44. Ebd., 52.

31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60

166

Ebd., 54. Ebd., 55. Ebd., 56. Ebd., 54. Ebd., 92. Ebd., 119. Ebd., 118. Ebd., 160. Ebd., 81. Ebd., 80. Ebd., 135. Ebd., 172. Ebd., 118. Ebd., 181. Ebd., 211. Ebd., 265. Ebd., 111. Ebd., 112. Ebd., 151. Ebd., 153. Ebd., 259. Ebd., 58. Ebd., 59. Ebd., 59. Ebd., 135. Ebd., 59. Ebd., 138. Ebd., 276. Ebd., 94. Ebd., 229.

Haustier, Nutztier, wildes Tier 61

62 63 64 65 66 67 68

69

Ebd., 276.  – Dazu mehr im Kapitel „Die Mücken des Makarios“ in diesem Buch (S. 226–240). Ebd., 241. Ebd., 140. Vgl. Schroer, Tiere in der Bibel, 21. Haushofer, Die Wand, 202. Ebd., 47. Ebd., 85. Ebd., 166 f.

70 71 72 73 74 75 76 77

167

Ebd., 171. Ebd., 259. Ebd., 276. Ebd. Ebd., 277. Ebd., 303. Ebd., 261 f. Ebd., 258. Ebd.

Nackt unter Antilopen Die Wüstenväter und ihre Tiere

Es ist eine regelrechte Abenteuergeschichte, die ein namenloser Einsiedler seinen Brüdern im oberägyptischen Raithou erzählt: Er sei einmal (hoch symbolische) vierzig Tage und Nächte in die Wüste gezogen. Schließlich stieß er auf eine Höhle und darin auf einen Menschen. Der regte sich aber nicht: „Er war nämlich tot. Ich war unbekümmert, trat ein und fasste ihn an der Schulter. Und sofort löste er sich auf und wurde zu Staub.“ Der mutige Einsiedler wandert weiter, findet noch eine Höhle mit Spuren eines Menschen. Also wartet er dort, ob sich der Bewohner zeigen werde. „Als aber der Tag zu Ende ging, sah ich Antilopen kommen und den Diener Gottes nackt. Mit seinen Haaren bedeckte er die unschicklichen Glieder des Leibes.“1 Der nackte Mann stellt sich als Einsiedler vor und erzählt seinem Gast denn auch seine Geschichte: Früher lebte er als Leinenweber in einem Kloster in der Thebais, also nah des Nils. Dann empfand er die Berufung zum Einsiedler, baute sich ein eigenes Monasterion. Doch dort lernt er eine Frau, eine Kundin seiner Tuchherstellung kennen – und lieben. Er fällt also von seiner Berufung ab. Später aber überkommt ihn Reue (und Höllenangst). Also lässt er alles zurück und wandert tief in die Wüste hinein. Er findet eine Höhle, eine Quelle, eine Palme  – und die Tiere. Was braucht es mehr? „Nach vieler Zeit wuchsen meine Haare und meine Kleider verdarben“. Und so lebte er denn nackt unter Antilopen. 168

Nackt unter Antilopen

Kampfplatz Wüste Schon seit der Mitte der 3. Jahrhunderts beginnt zunächst in Ägypten, bald auch in Palästina und Syrien eine Bewegung, die neu ist im jungen Christentum: Asketen ziehen sich in die Einöde außerhalb der Ortschaften zurück, leben ihr Christentum als Einsiedler. Ab der konstantinischen Zeit, als die Kirche ansonsten zunehmend „bürgerlicher“ und staatstragend wird, entwickelt sich das Mönchtum – ob in Einsiedeleien oder in Klöstern – geradezu zu einer Massenbewegung. Davon berichten Heiligenviten, Reiseberichte, spirituelle Bücher und die späteren Sammlungen ursprünglich mündlich überlieferter Mönchssprüche und -anekdoten, die sog. Apophtegmata. Und all diese Quellen sind in erstaunlichem Ausmaß nicht nur von Mönchen, sondern auch von Tieren bevölkert, und das keineswegs nur nebenbei, nur am Rande. Was diese Bewegung eigentlich antrieb, ist in der Forschung immer noch umstritten bzw. unklar. Philosophische, religiöse und asketische Weltverneinung lag offenbar in der spätantiken Luft. Auch Nichtchristen praktizierten sie in unterschiedlichen Formen. Außerdem gab es durchaus handfeste soziale Gründe für die Flucht in die Einöde. „Das Wort Anachorese“ – später die griechische Bezeichnung für das Einsiedlertum neben der des Monachos, des Mönchs – „bezeichnet in Ägypten ursprünglich den Anstieg aus dem Niltal hinaus zur Wüste sowie die Flucht solcher in die unzugänglichen Einöden, die vom Fiskus oder von Gläubigern verfolgt wurden, weil sie sich öffentlichen Aufgaben oder dem Militärdienst entziehen wollen.“2.Tatsächlich deutet Athanasius von Alexandrien, Patriarch und Biograf des frühen Mönchsvaters Antonius, Steuerflucht als ein Motiv dieser Aussteiger an. Einige Wüstenväter – wie etwa Mose, der Äthiopier – waren im früheren Leben gar Straßenräuber und andere Kriminelle.3 Dennoch erklärt dies weder zahlenmäßig noch qualitativ die Kraft dieser Bewegung: Niemand, der vor Polizei, Militär oder Steuerfahndung flieht, nimmt deshalb dauerhaft den Lebensinhalt der christlichen Anachoreten auf sich: „Fasten, Nachtwachen, Lesen und Meditieren der Hl. Schrift, Almosen und Handarbeit.“4 Liest man die Quellen, so stellt der Rückzug der Mönche eine Art Kampfhandlung dar. „Sich in allem Gewalt anzutun, das ist der Mönch“, sagt in aller Härte Abbas Zacharias5. Einöde oder Wüste sind der Kampfplatz, auf dem „ganze Kerle“, Männer also6, gegen ihre Vergangenheit, ihre bösen Leidenschaften, gegen Versuchungen und Dämonen kämpfen und um Vollkommenheit ringen, mit dem Ziel der Ruhe (Hesychia oder Ana169

II. Tierethik

pausis) in Gott. Auf dem Weg zu diesem Ziel „schuf der Asket langsam seinen Körper neu. Er verwandelte ihn in ein genau geeichtes Instrument.“7 Das Ziel dieser Askese, die Vollkommenheit, hat durchaus etwas utopisches, nah an dem Anspruch, den paradiesischen, verlorenen Urstand wiederherzustellen auf einer „langen Rückkehr des Menschen, der Gemeinschaft von Leib und Seele, zu einem ursprünglichen, natürlichen und unverdorbenen Zustand“8. Die Asketen sind dabei aber keineswegs ganz allein mit Gott. Buchstäblich als Mönch kann niemand überleben. Die Einsiedeleien befinden sich anfangs eher am Ortsrand. Später geht man tiefer in die Einöde: Die berühmtesten ägyptischen Mönchsgegenden, die Nitria und die Sketis, liegen 40 und 50 Kilometer südwestlich von Alexandria.9 Dass sich die Einsiedeleien immer tiefer in die Wüste schieben, liegt aber auch am Erfolg der Bewegung: Die Wüste lebt, ja sie ist an den Hotspots der Asketenbewegung bald geradezu überbevölkert. Es bilden sich Einsiedlerkolonien. In deren Mitte befinden sich „Gebäude zur gemeinsamen Nutzung, nämlich Kirchen, Bäckereien, Herbergen und sogar eine Bibliothek“10. Und auch die wirklich allein siedelnden Mönche haben häufig einen Schüler oder Gehilfen, und die Apophtegmata sind voll von Berichten über Wanderungen zwecks gegenseitiger Besuche. Außerdem lebt man davon, Seile, Körbe und Matten herzustellen – und muss diese an Marktflecken verkaufen. Das Anachoretentum steht also praktisch stets in einer Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Ideal und Alltag, mitunter auch Fiktion und Realität. Und hier kommen nun die Tiere ins Spiel. Tatsächlich sind sie natürlich nahe, wenn man sich in abgelegene Gebiete zurückzieht. Aber die Begegnung mit ihnen erhält in den Quellen schnell auch fiktionale, legendäre Züge. Reales und ideales Leben kommunizieren sozusagen in den Texten, gerade auch in Bezug auf die Tiere. Und in dieser Kommunikation des Mönchs mit der „stummen Kreatur“ lässt sich deshalb eine Menge über Wirklichkeit und Utopie dieser christlichen Extremisten lernen, die als Außenseiter die spätere christliche Spiritualität doch zutiefst geprägt haben. Da die Wüstenväter keine Theoretiker waren, haben sie auch keine systematische Theologie der Tiere hinterlassen. Ihre Tiergeschichten spiegeln ganz unterschiedliche Ebenen der Begegnung mit den Mitgeschöpfen, mitunter widersprechen sie einander auch. Doch es lassen sich mehrere Ebenen der Tierbegegnung herausschälen, die einander überbieten, auf denen man also zu einer jeweils wesentlicheren, innigeren Kommunikation aufsteigt. 170

Nackt unter Antilopen

Erste Ebene: Die Tiere gehorchen den Heiligen „Die Unterordnung mit Enthaltsamkeit unterwirft wilde Tiere“, sagt der Einsiedlervater Antonius11. Wilde Tiere als zahme Gefährten der Einsiedler spiegeln also deren gelungene Askese, ihren eigenen Gehorsam, die Zähmung ihrer Leidenschaften wieder. Die Zähmung der Tiere gelingt nicht durch eine an den Tieren angewandte Technik, sondern durch die moralischen und asketischen Übungen der Mönche, sie ist gewissermaßen deren Lohn und Bestätigung. Das Tier erscheint hier also zunächst als Symbol für den ungeordnet seinen Leidenschaften folgenden Menschen, als nach außen projizierter Seelenzustand – „getrieben, frei und gedankenlos wie ein wildes Tier zu wandern“12. Das Animalische ist der auf dem Weg zur Vollkommenheit in Zucht zu nehmende Bereich des Humanen. Und dass diese Übung gelingt, wird wiederum symbolisch nach außen verlagert in die Erzählung vom beherrschten Tier. Die Tugend schlechthin, die den Menschen zähmt, ist der Gehorsam. Mitunter wird der Zusammenhang von mönchischem und tierischem Gehorsam mit dem den Vätersprüchen eigenen trockenen Humor geschildert. Da schickt etwa Abbas Johannes seinen Schüler, den damals noch jungen Abbas Paulos, zu einem alten Grabmal, um dort Mist als Brennstoff einzusammeln. Paulos zögert, denn dort lebt auch eine Hyäne. „Wenn sie dich anfällt, binde sie und bringe sie her“, sagt Abbas Johannes scherzend. Soll wohl heißen: Hab doch keine Angst vor einer einzelnen Hyäne! Paulos aber nimmt es in mönchischem Gehorsam wörtlich: Als die Hyäne ihn angreift, sucht er sie zu fassen; weil sie dann flieht, verfolgt er sie sogar und bringt sie schließlich gebunden zu Johannes. Der spottet noch über diesen Kadavergehorsam: „Narr! Einen verrückten Hund hast du mir hier her gebracht? Der Alte band die Hyäne sofort los und ließ sie entkommen.“13 Als Narren, als verrückte Hunde im Namen Gottes verstehen sich die Wüstenväter tatsächlich. So ruft Abbas Makarios, als er einmal den Fluss (wohl den Nil) überqueren muss, ein nicht näher bezeichnetes Wassertier herbei, damit es ihn übersetze. Anschließend befielt er ihm: „Tu dir Gewalt an und tauche deinen Kopf ein.“ Das Wassertier gehorcht und fängt sofort als Lohn einen großen Fisch.14 Nur ein Dankeschön – oder eine Art Zeichenhandlung, eine Taufe des Tieres und der Fisch als christliches Symbol? Ich weiß es nicht, aber warum sollte sonst davon die Rede sein, dass sich ein Wassertier beim Untertauchen „Gewalt antut“, so wie es die Einsiedler in ihrer Askese tun? 171

II. Tierethik

Üblicher als Fähr-Tiere sind Krokodile. Ein Abbas aus Theopolis überquert mittels eines solchen den Nil sogar bei Hochwasser.15 Ein besonders vollkommener Asket wird sogar von den Krokodilen „angebetet“.16 Abbas Helles überquert nicht nur per Krokodil den Fluss, er hält am Ende sogar Gericht über die Bestie: „‚Dir wäre es besser zu sterben, als durch so viele Mordtaten dich mit Verbrechen zu beladen.‘ Und im selben Augenblick brach das Krokodil zusammen und verendete.“17 Hier schlägt die Erzählung vom Gehorsam in das Motiv der Unterwerfung der gefährlichen Tiere um. Denn die Wüstenväter vollstrecken dann den Schöpfungsbefehl aus Genesis 1,28, über die Tiere zu herrschen: Von Abbas Ben heißt es, dass er ein Krokodil und ein Nilpferd vertrieb, als sie die Dörfer der Umgebung unsicher machten – und zwar nur mit einem Befehl, „ganz sanft“18. So auch gegenüber dem seit der Genesis symbolisch böse besetzten gefährlichen Tier schlechthin, der Schlange: Abbas Zenon tadelt eine Schlange, weil sie ein Kind biss, und nur von dieser Zurechtweisung stirbt sie.19 Rabiater geht da Abbas Paulos vor: Er „packte eine Hornschlange … und zerriss sie in der Mitte“ – und er begründet diese Fähigkeit ganz ausdrücklich als eine zeichenhafte Wiederherstellung der Verhältnisse im Paradies: „Wenn jemand die Reinheit gewinnt, ist ihm alles unterworfen, wie dem Adam, als er im Paradiese war, bevor er das Gebot übertrat.“20 Diese Unterwerfung gilt dann auch für den sprichwörtlichen König der Tiere, den Löwen, der auch in den Geschichten der Wüstenväter eine herausragende Rolle spielt. Symeon der Ältere vom Sinai befiehlt bei einer Wanderung einem Löwen, der die Begleiter in Angst versetzt, sich zu entfernen – doch zu ihrem Nachtlager „kam er wieder und legte sich in einiger Entfernung zum Schlafen nieder“, wie zum Schutz.21 Ein Einsiedler am Jordan sucht in der Hitze Schutz in einer Löwen-Höhle, und der Löwe geht einfach hinaus, weil es ihm zu eng wird.22 Einem anderen Einsiedler frisst eine Löwin Datteln aus der Hand, „so zahm, wie es nicht einmal ein Haustier tun würde“23. Hier wird die Unterwerfung der Tiere zum Idyll – und weist damit darauf hin, dass die paradiesische Herrschaft auf anderes und mehr zielt als auf Unterwerfung. Zweite Ebene: Tiere wie Engel Die Tiere der Wüstenväter sind nicht nur gehorsame oder in ihrer Bedrohlichkeit gebannte Kreaturen. Mitunter ähneln sie im Gegenteil übernatürlich informierten Wesen, fungieren als Boten Gottes. Auch hier ist wieder ein Löwe hervorzuheben: Ein römischer Maultiertreiber bei Jericho verursacht durch 172

Nackt unter Antilopen

Unachtsamkeit den Tod eines Jungen. Über den Schock wird er Einsiedler, verzweifelt aber weiter an seiner Schuld, und als er einmal einem Löwen begegnet, reizt er ihn, „damit er sich erhebe und ihn fresse“. Aber der „übersprang ihn mit aller Ruhe und berührte ihn überhaupt nicht. Da war der Alte überzeugt, dass Gott ihm die Sünde vergeben hatte.“24 Ganz ähnlich ergeht es dem Einsiedler Pachon: Der ist von den ständigen inneren Versuchungen seines einsamen Lebens so zermürbt, dass er sterben möchte, und legt sich nackt in eine Hyänenhöhle. Doch die Hyänen „berochen mich von den Füßen bis zum Kopf und beleckten mich“, taten ihm jedoch nichts. Als er später in der Wüste umherirrte, immer noch verzweifelt, fand er eine kleine Schlange. „Ich bringe sie zu meinen Geschlechtsteilen“ (offensichtlich der neuralgischen Stelle seiner Versuchungen), erzählt er, doch er wurde wieder nicht gebissen. Da erkennt er endlich das Urteil Gottes, seine Vergebung im Verhalten der Tiere „und fand Frieden in jenem Kampf für die restlichen Tage.“25 Oft wird die Botenfunktion der Tiere viel ausdrücklicher. Der hl. Antonius hört, wie eine Straußenmutter ihren Kindern, als sie vor ihm fliehen, zuruft: „Werft Steine, damit man euch nicht fängt“. Er deutet den klugen Rat auf sich: So soll er mit den bedrängenden Dämonen umgehen26. Ein anderer Abbas wird von einem Adler auf seiner Suche nach einer Einsiedelei tagelang bis zu einer Höhle mit Palmen und Wasserstelle, also einer kleinen Oase, geführt. Der Adler fliegt vor, stubst ihn mit den Flügeln an, wartet wieder, und Brüder, die das miterleben, sagen ausdrücklich: „Sieh dein Engel, steh auf und folge ihm.“27 Dass Tiere mitunter mehr wissen als die Menschen, dass sie Gottes Urteile vollstrecken, kann auch mit dem trockenen, oft harten Humor der Väter erzählt werden – wenn etwa ein Krokodil einen Bruder beim Baden erwischt und frisst und ein anderer Bruder, „ein Durchschauer“, das Krokodil sprechen hört: „Ich fresse keinen Abbas. Ich fand einen Weltlichen, und den fresse ich.“28 Das Opfer war also offenbar heimlich abgefallen, in Sünde gefallen und hatte damit die Macht über die wilden Tiere eingebüßt. Dritte Ebene: Tiere helfen den Heiligen – Die Heiligen helfen den Tieren Doch die Wüstenväter und die Tiere treten noch weit enger und freundlicher in Kommunikation: Sie helfen einander. Makarius erhält einmal von einer Hyäne ein Schaffell geschenkt: Sie bringt es ihm in die Einsiedelei, 173

II. Tierethik

doch er nimmt es nur gegen das Versprechen an, dass sie künftig keine Schafe mehr reißt.29 So berichtet auch Sulpicius Severus von einem Einsiedler, der einen Wolf zum Vegetarier umerzieht.30 Die Wüstenväter leben eben selbst vegetarisch31, für sie erfüllt sich an den Raubtieren aber auch ein Teil der prophetischen Weissagung über das Heil der erlösten Zeit, in der Wolf und Lamm, Panther und Bock, Löwe und Kalb friedlich zusammen leben (Jes 11,6–9). Abbas Iakobos berichtet sogar von einer geradezu wörtlichen Erfüllung dieser Prophetie: Er habe beobachtet, wie ein Kind (!) darum betete, „dass es mit den wilden Tieren friedlich leben könne“. Danach geht das Kind zu einer Hyäne mit ihren Jungen: „Das Kind legte sich darunter und begann, mit ihnen zu saugen.“32 Dieses Kind ist gewissermaßen ein Neugeborenes des verheißenen Paradieses.33 Wenn sich die Wüstenväter also „mit dem Raubtierhaften im Raubtier nicht so einfach abfinden“ konnten,34 dann kommt ihnen die faktisch existierende Natur „gar nicht so natürlich vor wie einem Philosophen“, sie behandeln (therapieren!) sie vielmehr als „‚gefallene‘ Schöpfung“35, so wie sie es ja auch in anstrengender Askese mit ihrer eigenen Natur tun. Die so auf ihr Ziel, ihre Erlösung hin angesprochene Natur dankt es den Heiligen: Der – von Hieronymus wohl erfundene – Ur-Einsiedler Paulus hat einen Raben, der ihn (wie in der Bibel den Propheten Elija und später, laut Gregor dem Großen, den hl. Benedikt) mit Brot versorgt36. Dem hl. Antonius weist einmal ein Wolf und sogar das Fabelwesen eines Hippokentauren den Weg durch die Wüste37. Und immer wieder findet sich das Motiv, Löwen hätten sich beim Tod der Heiligen eingefunden, um bei ihrem Begräbnis zu helfen, indem sie die Grube aushoben: So berichtet es Hieronymus (dem später selbst der Löwe als Begleittier zugesellt wird) von seinem Einsiedler Paulus38, so wird es auch von der ebenfalls legendären Maria aus Ägypten erzählt39. Die Heiligen wiederum nehmen sich auch der Tiere an. Wie für Menschen aus den umliegenden Siedlungen, so werden die Einsiedler offenbar auch zum Ziel tierischer Wallfahrten. So kommt einmal eine weinende (!) Gazelle zu Abbas Makarios und führt ihn zu ihren missgebildeten drei Jungen, deren Köpfe verkehrt herum angewachsen sind. Makarios heilt sie durch ein Kreuzzeichen, und er begründet diese Wunderheilung an Tieren auch: Jesus Christus sorge sich auch um die Tiere, es gelte „die Fülle seines Erbarmens für alle Kreatur, die er geschaffen hat.“40 Ganz ähnlich berichtet Sulpicius Severus von einem Einsiedler, den eine „Löwin von ungeheurer Größe“ aufsucht und ihn zu ihren fünf blind geborenen Jungen führt, die 174

Nackt unter Antilopen

der Wüstenvater ebenfalls heilt41. Und von Theon aus der Thebais wird überliefert, „dass er bei seinen nächtlichen Wanderungen in der Wüste von vielen Tieren begleitet werde“, von Büffeln, wilden Ziegen und wilden Eseln. Er „schöpfte ihnen Wasser aus seinem Brunnen und tränkte sie.“42 Besonders beeindruckt mich, dass in dieses Idyll auch jene Fabelwesen einbezogen werden, die in der sonstigen Sagenwelt eher das Böse und den Schrecken verkörpern, den berühmte Heilige wie etwa Georg oder auch Helden wie Siegfried töten müssen: die Drachen. In den Geschichten der Wüstenväter erscheinen diese Wesen wie ganz gewöhnliche tierische Bewohner der Wüste. Es gibt sie hier wie eben auch Hyänen und Löwen. Als Abbas Makarios einmal in einer Höhle „einen großen Drachen“ findet, zeigt der ihm einen „Strohhalm in seinem rechten Auge“. Makarios hat „Erbarmen mit der Erkrankung dieses Tieres“. Durch sein Gebet fällt der Halm heraus, und der Drache „betet“ Makarios an und küsst ihm die Füße!43 Ebenfalls in einer Höhle stößt Abbas Agathon auf einen großen Drachen, der im Lauf der Erzählung auch als Schlange bezeichnet wird. Weil Agathon die Höhle bewohnen will, möchte das Tier sich schon entfernen. Aber Agathon befielt ihm zu bleiben und richtet sich auf ein gemeinsames Leben ein, indem er die nahe Nahrungsquelle aufteilt: „Abbas Agathon machte einen Einschnitt in den Maulbeerfeigenbaum und er teilte ihn mit ihm so, dass die Schlange von der einen Seite des Maulbeerfeigenbaums esse, und er, der alte, von der anderen Seite.“44 Man kann also auch mit Drachen friedlich koexistieren. Vierte Ebene: Leben mit Tieren – eine paradiesische Landschaft „Ein Bruder fragte den Abbas Poimen und sagte ihm: Wie kann der Mensch in Frieden leben mit dem Bruder, der bei ihm wohnt? Abbas Poimen sagte ihm: Wenn der Mensch seine Gesellschaft erträgt, kann er mit den Tieren wohnen und nicht nur mit den Menschen.“45

Wie dieser Spruch aus der äthiopischen Überlieferung zeigt, waren sich die Einsiedler sehr bewusst, wie schwer es für Menschen ist, friedlich miteinander auszukommen – sogar (oder gerade?) für zwei benachbarte Einsiedler. Wer mit dem Bruder zurechtkommt, der wird auch mit den wilden Tieren leben können – die Herausforderung ist nicht größer. 175

II. Tierethik

Im Gegenteil: Wüstenvater sein heißt, „sich unter den unvernünftigen Wesen zu befinden und zu wissen, dass sie nicht gerichtet werden“, wie es Abbas Alonios ausdrückt46. Abbas Xanthias wird noch deutlicher: „Der Hund ist besser als ich, weil er die Liebe (agape) hat und nicht ins Gericht kommt.“47 Nicht nur ihre Vernunftlosigkeit, auch ihre von Sünde ungebrochene Liebe rettet also die Tiere vor dem Gericht. Sie sind unschuldig, Kreaturen ohne Sündenfall. Und sie haben ihr eigenes Gottesverhältnis. So treibt ein heulender Wolf Abbas Makarios die Tränen in die Augen, und zur Erklärung gesteht er seine Rührung darüber, dass „die fleischfressenden Tiere einen Verstand haben, wenn sie zur Güte unseres Herrn Jesus Christus schreien, dass er sie alle ernährt“48. Die Wüstenväter sind nach eigenem Zeugnis auf der Suche nach so etwas wie einem engelgleichen Leben, möglichst den Sorgen, den Bindungen, den Leidenschaften des Menschseins enthoben. Erstaunlicherweise finden sie dieses Leben der Engel in der Gemeinschaft mit Tieren. Deshalb leben die Radikalsten von ihnen nur noch bei ihnen in der Wildnis. Denn die Einleitungsgeschichte vom nackten Mann unter Antilopen ist keineswegs ein abenteuerlicher Solitär. Man begegnet in den Überlieferungen auch einem „Mann, der weidete wie die wilden Tiere“; auch er „war nackt, … verängstigt“ und er „konnte den Geruch der Menschen nicht ertragen.“49 Dieser Mann erscheint also selbst schon wie ein scheues Tier. Von einem anderen Anachoreten heißt es, dass er „sich zusammen mit den Antilopen ernährte.“ Dieser Mann tritt später in ein Kloster ein, wo ihn die jungen Brüder jedoch nur mobben: „Mach dies, Idiot, und mach jenes, närrischer Alter.“ Daraufhin betet der Alte: „Herr, ich kenne den Dienst der Menschen nicht, schick mich wieder zu den Antilopen“50 – was auch erfüllt wird. Von Abbas Makarios wird berichtet, dass er sich auf seinen Wanderungen von einer wilden Kuh ernährte, er habe seine „verdorrten Lippen an die wilden Brüste gelegt und Milch aus ihnen getrunken“51. Makarios selbst erzählt, wie er in der Wüste „einen Wassersee und mittendrin eine Insel“ fand: „Da kamen die Tiere der Wüste, um daraus zu trinken. Und mitten unter ihnen sah ich zwei nackte Menschen.“ Er erfährt dann, dass diese Wüstenväter schon seit Jahrzehnten so leben und beendet seine Erzählung mit den Worten: „Deshalb sage ich euch: Ich bin noch nicht Mönch geworden, sondern habe Mönche gesehen. Verzeiht mir, Brüder.“52 Makarios, einer der großen Wüstenväter, rückt das reale Leben der Einsiedler damit in den Status eines unvollkommenen Versuchs. Was eigentlich gemeint ist, lässt sich nur in diesen Geschichten der nackten, gänzlich 176

Nackt unter Antilopen

mit der Wüste verschmolzenen Gestalten ausdrücken, die stets namenlos, schemenhaft bleiben. Ihre Existenz hat utopische Züge, „so als schaute man durch ein Guckloch in den Garten Eden hinein.“53 Dieser Garten Eden wird aber gerade in der unwirtlichsten Wildnis gefunden, in deren nichtkultiviertem Zustand. „Die Wüste war das Land, in dem einst Menschen und Tiere in einem Zustand vorgesellschaftlicher Freiheit miteinander verkehrt hatten.“54 Irritierend ist diese Utopie der Nackten unter den Antilopen gerade auch für das klassische theologische Schema der Scheidung von Natur und Übernatur, an dem die Mönche eigentlich einen starken Anteil haben: Sie kämpfen gegen die natürlichen Neigungen zur Sexualität, schränken die natürlichen Bedürfnisse von Essen und Schlafen asketisch ein, wollen sich gewissermaßen vorbereiten auf ein ewiges Leben ohne irdischen Körper. Andererseits wirken die Wüstengeschichten um Mönche und Tiere für den modernen Leser wie eine frühe Verwirklichung des rousseauschen Rufes „zurück zur Natur“. Die Nackten unter den Antilopen – die einzig wahren Mönche für Makarios – wirken nicht mehr wie die Psalmen meditierenden Eisiedler in ihrer Hütte, dem Kellion. Sie treten auch immer unterwegs, draußen auf. Die Befreiung vom Irdischen und die Rückkehr in eine geradezu animalische Natürlichkeit erscheinen hier wie zwei Extrempunkte, die einander berühren. Der Philosoph Giorgio Agamben hat die „Erzeugung des Humanen mittels der Opposition Mensch/Tier“ als „die anthropologische Maschine“ bezeichnet, die das abendländische Bewusstsein in Antike und Neuzeit bestimme. Diese Maschine erzeugt stets auch eine Spaltung im Menschen selbst, „indem sie das Nicht-Humane im Menschen absondert“: Anthropologie ist dann stets die Definition des Menschen durch Abspaltung dessen, was er mit dem Tier gemeinsam hat. Diese Spaltung geht so weit, dass sie schließlich auch Menschen aus dem wahren Menschsein ausschließt: das Nicht-Humane „des Sklaven, des Barbaren, des Fremden“ in der Antike, oder modern „den Juden“ oder den „Ultrakomatösen“.55 Agamben sucht deshalb nach einer Möglichkeit, diese anthropologische Maschine stillzulegen, also nach der Utopie: „Leben in heiterer Beziehung zur eigenen Natur“. Dazu müsste der Mensch jedoch von der eigenen Geschichte, ja dem Projekt des Geschichte-Machens Abschied nehmen, „jegliches Projekt zur Beherrschung des animalischen Lebens völlig vergessen“.56 Agamben ist sich des tastenden, utopischen Charakters seiner Überlegungen sehr bewusst: Die „Umrisse einer neuen, nicht mehr mensch177

II. Tierethik

lichen und nicht mehr animalischen Kreatur“ wären ja „ebenso wie andere mythologisch“  – und erinnerten vielleicht an den Hippokentauren, dem einmal der Wüstenvater Antonius begegnete. Und doch hofft Agamben auf einen „Shabbat sowohl des Tieres als auch des Menschen“, auf die „Möglichkeit, wie sich Lebewesen an die messianische Tafel der Gerechten setzen können, ohne eine historische Aufgabe zu übernehmen oder die anthropologische Maschine in Gang zu setzen“57. In diesen Schlusspassagen seines Buches bemüht Agamben also religiöse, jüdische Bilder der Erlösung: den Shabbat, das messianische Mahl – Bilder, die auch Jesus und das Neue Testament kennen. Geht es hier vielleicht um jenen eben angesprochenen Zusammenfall der Extreme, wie ihn die Wüstenväter ausmalen, wo die erlöste und die endlich wieder ganz natürliche Natur identisch werden? Auch die Wüstenväter traten ja aus einer anthropologischen Maschine aus, indem sie die Gesellschaft, die Politik, das Geschichte-Machen verließen wie Aussteiger. Auf dem Kampfplatz Wüste stellten sie sich allerdings einem Riss in der Natur, der in Agambens anthropologischer Maschine nicht vorkommt: dem Sündenfall. Agamben spricht – mit einem Ausdruck von Walter Benjamin – von einer „‚geretteten Nacht‘ dieses ewigen, unrettbaren Überlebens der Natur (und im Speziellen der menschlichen Natur)“58. Warum ist dies nur so paradox ausdrückbar, warum erscheint uns die Natur „unrettbar“, und geborgen nur auf der Nachtseite des menschlichen Treibens, sozusagen in ihrer völligen Verborgenheit? Aus der Perspektive der Wüstenväter müsste man antworten: Weil diese „gerettete Nacht“ nur entsteht, wo die von Sünde und Dämonen, von Zerfall mit sich selbst, von falschem Einschluss in sich selbst verdorbene Natur geheilt ist. Dazu bereiten sich die Mönche in – uns mitunter unverständlicher und in ihrer Leibfeindlichkeit teilweise weder biblisch noch christlich fundierter – Askese vor. Doch erwarten sie diese Heilung letztlich nur von Gott, als Gabe, auf die sie sehnsüchtig hinleben. Der Philosoph scheint mir den Faktor des Falls, des Bruchs in unserer Natur allzu leicht zu übersehen. Die Theologie mit ihrer „dogmatischen Maschine“ hat aber umgekehrt allzu leicht die natürliche, ja animalische Natur im Erlösungsgeschehen übersehen. Was heißt es, die Erlösung wirklich als Erlösung der Natur zu denken – theologisch, spirituell, praktisch? Vielleicht stehen wir mit einer Theologie der Tiere erst am Anfang, eine christliche Weise des „Zurück zur Natur“ zu begreifen und zu ersehnen. Die Geschichten um die Tiere der Wüstenväter bieten jedenfalls reichlich Anregung für diese Sehnsucht. 178

Nackt unter Antilopen

Übersicht: Die Tiere der Wüstenväter Natürlich habe ich in dieser Skizze das Quellenmaterial nur ganz ausgewählt und kurz zitieren können. Für alle, welche die Zoologie der Wüstenväter selbst näher erkunden wollen, ergänze ich die Ausführungen hier durch eine Übersicht meiner Fundstellen. Dabei wird jeweils die in der Forschung übliche Nummer des Apophtegma zusammen mit der Stelle in der deutschen Ausgabe von Erich Schweitzer angegeben. Außerdem vermerke ich, welche Geschichten sich auch in der Legenda Aurea verarbeitet finden und füge solche hinzu, die sich nur dort finden. Schließlich sind einige Erzählungen aus dem Auswahlband von Sartory hinzugefügt, die sich nicht in den Apophtegmata, sondern in Heiligenviten finden. Die Reihenfolge in der Tabelle richtet sich nach dem ersten Auftreten des entsprechenden Tieres in der Ausgabe von Schweitzer. Tier

Wüstenvater

Thema/Typos

Fundstelle

Hyäne

Abbas Johannes

Leben mit Tieren, Gehorsam

421 (Schweitzer I, 158 f.)

Iakobos

Leben mit Tieren, „Utopie“

963 (Schweitzer II, 19)

Pachon

Tiere vermitteln den Willen Gottes

Guy 5,54 (Schweitzer III, 31–33)

Makarius

Heilige helfen Tieren; Tiere helfen den Heiligen, Gehorsam

Palladius, Historia Lausiaca (Sartory 45)

Abbas Makarios der Ägypter

Leben mit Tieren, „Utopie“

455 (Schweitzer I, 175 f.)

Ein Anachoret

Leben mit Tieren, „Utopie“

1132 D, (Schweitzer II, 79)

Abbas Xoios

Gottesbeziehung der Tiere

570 (Schweitzer I, 217); ebenso anonym in 1434 (Schweitzer II, 190)

Gottesbeziehung der Tiere

615 (Schweitzer I, 233)

Die Tiere der Wüste

Hund

Tiere Abbas Alonios allgemein

179

II. Tierethik

Tier

Wüstenvater

Thema/Typos

Fundstelle

Schlange

Abbas Paulos

Herrschaft über die Tiere

791 (Schweitzer I, 276 f.)

Abbas Zenon

Unterwerfung der Tiere

1627 C (Schweitzer II, 338)

Pachon

Tiere vermitteln den Willen Gottes

Guy 5,54 (Schweitzer III, 31–33)

Schlange/ Abbas Agathon Drache

Leben mit Tieren

Ch 235 (Schweitzer III, 259)

Drache

Abbas Makarios

Die Heiligen helfen den Tieren

Am 194,4 (Schweitzer III, 317 f.)

Hippokentauren

Antonius

Tiere helfen den Heiligen

Legenda Aurea 15 (S. 332 f.)

Krokodil

Abbas und Scholar von Theopolis

Tiere gehorchen den Heiligen

1046 (Schweitzer II, 48 f.)

Ein Durchschauer Tiere vermitteln Gottes Urteil

Guy 18,53 (Schweitzer III, 83)

Ein Asket

Tiere gehorchen den Heiligen

Am 22,5 (Schweitzer III, 269)

Abbas Helles

Herrschaft über Tiere

Rufin, Geschichte der Mönche in Ägypten (Sartory 55 f.)

Ein Anachoret

Leben mit Tieren

1062 (Schweitzer II, 56)

Ohne Name

Leben mit Tieren, „Utopie“

1132 A (Schweitzer II, 74–76)

Ein Anachoret

Leben mit Tieren, „Utopie“

1516 (Schweitzer II, 242)

Gazelle

Abbas Makarios

Die Heiligen helfen den Tieren

Am 134,8 (Schweitzer III, 286)

Löwe

Ein Alter

Unterwerfung der Tiere

1333 (Schweitzer II, 154)

Ein römischer Maultiertreiber

Tiere vermitteln den Willen Gottes

M.G. 3,109 (Schweitzer III, 138)

Antilope

180

Nackt unter Antilopen

Tier

Wüstenvater

Thema/Typos

Fundstelle

Symeon der Ältere Tiere gehorchen den Heiligen

Theodoret von Cyros, Historia religiosa (Sartory 63 – 67)

Ein Einsiedler

Tiere gehorchen den Heiligen

Sulpicius Severus, Dialoge (Sartory 76 f.)

Ein Einsiedler

Die Heiligen helfen den Tieren

Sulpicius Severus, Dialoge (Sartory 78 f.)

Einsiedler Paulus

Tiere helfen den Heiligen

Legenda Aurea 15 (S. 334 f.)

Maria aus Ägypten

Tiere helfen den Heiligen

Legenda Aurea 56 (S. 776 f.)

Adler

Ein Alter

Tiere vermitteln den Willen Gottes

Guy 7,31 (Schweitzer III, 35 f.)

Strauß

Abbas Antonios

Tiere vermitteln den Willen Gottes

Am 24,7 (Schweitzer III, 270)

Rabe

Einsiedler Paulus

Tiere helfen den Heiligen

Legenda Aurea 15 (S. 334 f.)

Wolf

Abbas Makarios

Das Gottesverhältnis der Tiere

Am 153,10 (Schweitzer III, 296)

Antonius

Tiere helfen den Heiligen

Legenda Aurea15 (S. 334 f.)

Ein Einsiedler

Leben mit Tieren; Das Gottesverhältnis der Tiere

Sulpicius Severus, Dialoge (Sartory 80 f.)

Wassertier

Abbas Makarios

Tiere gehorchen und die Heiligen helfen ihnen

Am 191,3 (Schweitzer III, 316)

Kuh

Makarius von Alexandrien

Leben mit Tieren

Palladius, Historia Lausiaca (Sartory 41 f.)

Nilpferd

Abbas Ben

Unterwerfung der Tiere

Rufin, Geschichte der Mönche in Ägypten (Sartory 49)

181

II. Tierethik

Tier

Wüstenvater

Thema/Typos

Büffel, wilde Ziegen und wilde Esel

Theon der Räuber Leben mit Tieren; Heilige helfen den Tieren

Fundstelle Rufin, Geschichte der Mönche in Ägypten (Sartory 50 f.)

Gregor Taxacher

Anmerkungen 1

2 3

4 5 6

7 8 9 10 11 12 13

Zitiert wird immer die Nummer in den Apophtegmata Patrum und die Fundstelle in der Ausgabe von Erich Schweitzer. Maraval, Das Mönchtum im Osten, 819. Vgl. dazu ebd., 819 und 823 sowie Zander, Als die Religion noch nicht langweilig war, 54 und 62–80. Maraval, Das Mönchtum im Osten, 818. Nr.  243; Schweitzer, Apophtegmata Patrum I, 104. Wüsten-Mütter gab es nur ganz ausnahmsweise. Zander, Als die Religion noch nicht langweilig war, 115–131 bestreitet ihre Existenz ganz, bezieht sich aber nur auf sicher legendäre Berichte. In den Apophtegmata tauchen immerhin Sprüche von drei Frauen auf, vgl. Maraval, Das Mönchtum im Osten 842. Brown, Die Keuschheit der Engel, 236. Ebd., 237. Maraval, Das Mönchtum im Osten, 822 f. Ebd., 823. Nr. 36; Schweitzer, Apophtegmata Patrum I, 31. Brown, Die Keuschheit der Engel, 233. Nr.  421; Schweitzer, Apophtegmata Patrum I, 158 f.

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Nr.  Am 191,3; Schweitzer, Apophtegmata Patrum III, 316. Nr.  1046; Schweitzer, Apophtegmata Patrum I, 49. Nr. Am 22,5; Schweitzer, Apophtegmata Patrum III, 269. Sartory/Sartory, Ich sah den Ochsen weinen, 55 f. Ebd., 49. Nr. 1627 C; Schweitzer, Apophtegmata Patrum II, 338. 791, Schweitzer, Apophtegmata Patrum I, 276 f. Sartory/Sartory, Ich sah den Ochsen weinen, 67. Nr.  1333, Schweitzer, Apophtegmata Patrum II, 154. Sulpicius Severus, zitiert nach: Sartory/ Sartory, Ich sah den Ochsen weinen, 76. Nr. M.G. 3,109; Schweitzer, Apophtegmata Patrum III, 138. Nr.  Guy 5,54; Schweitzer, Apophtegmata Patrum III, 32 f. Nr.  Am 24, 7; Schweitzer, Apophtegmata Patrum III, 270. Nr.  Guy 7,31; Schweitzer, Apophtegmata Patrum III, 36. Nr. Guy 18, 53, Schweitzer, Apophtegmata Patrum III, 83. Sartory/Sartory, Ich sah den Ochsen weinen, 45 (zitiert aus der Historia Lausiaca).

Nackt unter Antilopen 30 31

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Ebd., 80 f. Wie zu ihrer Zeit viele strenge Christen. Vgl. dazu Zander, Als die Religion noch nicht langweilig war, 17 f. Nr.  963; Schweitzer, Apophtegmata Patrum II, 19. Übrigens heißt es in derselben Überlieferung (964) weiter, dieses Kind habe auch darum gebeten: „Gib mir die Gabe (Charisma), mit dem Feuer Freund zu sein.“ Wer denkt da nicht an Franziskus, der ebenso mit wilden Tieren und mit dem Feuer als freundlichem Element verkehrt? (Vgl. dazu in diesem Buch das Kapitel „Christlicher Animismus“, S. 292–306.) Sartory/Sartory, Ich sah den Ochsen weinen, 20. Ebd., 22. de Voragine, Legenda Aurea, 15. Ebd. Ebd. Ebd., 56. Nr. Am 134, 8; Schweitzer, Apophtegmata Patrum III, 286. Sartory/Sartory, Ich sah den Ochsen weinen, 78 f. Ebd., 51. Nr.  Am 194,4; Schweitzer, Apophtegmata Patrum III, 317 f.

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Nr. Ch 235; Schweitzer I, 259. Nr.  EthColl 14,2; Schweitzer, Apophtegmata Patrum III, 350. Nr.  615, Schweitzer, Apophtegmata Patrum I, 233. Nr.  568, Schweitzer, Apophtegmata Patrum I, 217. Nr. Am 153,10; Schweitzer, Apophtegmata Patrum III, 296. Nr. 1132 D; Schweitzer, Apophtegmata Patrum II, 29. Nr.  1062, ebenso 1516; Schweitzer, Apophtegmata Patrum II, 56;242. Historia Lausiaca; zitiert nach: SartorySartory, Ich sah den Ochsen weinen, 42 Nr.  455; Schweitzer, Apophtegmata Patrum I, 175 f. Sartory/Sartory, Ich sah den Ochsen weinen, 13. Brown, Die Keuschheit der Engel, 340. Brown beschränkt diese Sichtweise auf die syrische Überlieferung  – mit Blick auf die hier beigebrachten ägyptischen Beispiele m. E. zu Unrecht. Alle Zitate: Agamben, Das Offene, 46 f. Ebd., 99. Ebd., 100 f. Ebd., 98.

Der Gott der Tiere Über Tierleid, -angst und -schmerz

Auf den Inseln des Nordatlantiks lebte bis zum 19. Jahrhundert ein eigenartiger Vogel. Der Riesenalk war ein pinguin-ähnlicher, flugunfähiger Vogel, dessen Flügel eher den Flossen eines Fisches ähnelten. Riesenalke waren geschickte Fischer, schnell und wendig unter Wasser. Sie lebten überwiegend auf dem Wasser und verließen es fast nur, um an Land zu brüten. Ein Riesenalk-Paar zog in der Brutsaison nur ein einziges Küken auf. Dazu legten die Vögel riesige Brutkolonien an, deren einzelne Nester so dicht aneinandergrenzten, dass die erwachsenen Vögel sich kaum noch bewegen konnten. In riesigen Kolonien war der Riesenalk auf vielen nordatlantischen Inseln und Küsten zu finden; prähistorische Nachweise belegen, dass er vor zehntausenden Jahren selbst in Kontinentaleuropa anzutreffen war. Seine Knochen fanden Archäologen in den Küchenabfällen der Jungsteinzeit. Ab dem 10. Jahrhundert etwa begannen die Menschen, den Riesenalk nicht nur aufgrund seines Fleisches zu töten, sondern vor allem wegen seines Trans und seiner begehrten Federn. Dies führte dazu, dass der Riesenalk im 16. Jahrhundert nur noch einige verstreute Brutkolonien besaß. Nur hundert Jahre später hatte sich auch diese Zahl rapide verkleinert. Dem Riesenalk war eine letzte Brutkolonie auf der unwirtlichen, und daher vor dem Menschen zunächst sicheren Insel St. Kilda verblieben. Bis ein Expeditionsbericht die Tierindustrie auf die dortigen Riesenalke aufmerksam machte. Ihr Schicksal war damit besiegelt. Am 3. Juni 1844 taucht der Riesenalk ein letztes Mal in der Geschichtsschreibung auf. Er gilt zu diesem Zeitpunkt längst als so gut wie ausgestorben, als mit einem Mal das Gerücht die Runde macht, ein Brutpärchen des Riesenalks sei auf der verlassenen Lavainsel Eldeys gesichtet worden. Drei isländische Fischer finden die Riesenalke tatsächlich dort vor. Die Vögel, 184

Der Gott der Tiere

die kaum Scheu vor dem Menschen haben, machen keinerlei Anstrengungen zu fliehen, so dass die Fischer sie ohne große Anstrengung töten konnten. Bei dem Versuch, seiner habhaft zu werden, zerbricht schließlich auch das Ei des Alkpaares, das letzte in der Geschichte dieses Vogels. Die Jäger zogen ohne die ersehnte Trophäe von dannen. Der kanadische Öko-Pionier Farley Mowat hat in seinem Buch Der Untergang der Arche Noah ausführlich über den Riesenalk berichtet. Mit beeindruckender Akribie hat er historische Dokumente ausgewertet: Jagdund Reiseberichte, Tagebucheinträge, biologische Veröffentlichungen und Nachrichten der Tagespresse. Sie alle zeugen davon, wie der Mensch des 18. und 19. Jahrhunderts einen zusehends erbarmungsloseren Krieg gegen den Riesenalk führte, an deren Ende die vollkommene Vernichtung dieser Spezies stand. Die ernüchternden Dokumente geben Zeugnis von schierer Gleichgültigkeit, von der ungezügelten Lust am Gemetzel und blinder, grenzenloser Grausamkeit. Einige der von Mowat zusammengestellten Dokumente seien als Beleg in chronologischer Reihenfolge zitiert1: „[Auf diesen Inseln gibt es] solche Mengen von […] Vögeln, dass es wunderbar anzusehen ist und manchem geradezu unglaublich erscheinen mag. Wir kamen an einigen dieser Inseln vorbei, wo wir binnen einer Viertelstunde unser Beiboot mit ihnen beluden. Wir brauchten sie nur mit Stöcken zu erschlagen, bis wir des Schlagens müde wurden.“ (1615) „Einen ganzen Monat lang erschlagen sie sie mit Knüppeln mit Eisenspitzen in solcher Menge, dass es nicht zu glauben ist.“ (1705) „[Die Vögel sind] im Frühjahr in Schwärmen bei ihren Legeplätzen auf den Vogelinseln. […] Zu dieser Zeit findet ein so gewaltiges Gemetzel statt, dass wir jeden Tag bis zu 1000 Schuss abfeuerten.“ (1750) Wenn man wegen der Federn kommt, macht man sich nicht die Mühe, sie zu töten, sondern man packt einen und rupft ihm die besten Federn aus. Dann lässt man den armen Penguin [ein anderer Name des Riesenalks, Anm. SH] einfach mit seiner halb nackten und zerrissenen Haut liegen, damit er nach Belieben verenden kann. Das ist keine sehr menschliche Methode, aber so ist es allgemein Brauch.“ (um 1785) „Während man auf dieser Insel weilt, ist man ständig Zeuge entsetzlicher Grausamkeiten, denn man häutet [die Vögel] nicht nur lebendig, sondern verbrennt sie auch lebendig. […] Man nimmt einen Kessel mit und zündet das Feuer darunter an, und dieses Feuer wird ganz aus den unglücklichen Penguins selbst gemacht.“ (um 1790) 185

II. Tierethik

Mowats sorgsame Zusammenstellung geht indes weit über die Geschichte der Ausrottung des Riesenalks hinaus. Auf gut 500 Seiten zeichnet er ein hoffnungslos deprimierendes Bild menschlicher Tötungslust, die bisweilen furchtbar banal, bisweilen unverstellt kaltblütig daherkommt. Kaum ein Bericht versucht überhaupt erst, diese Tatsache zu verhehlen. Während einer der zitierten Jäger darauf verweist, dass er bei der Jagd auf Vögel besser als anderswo für das Tontaubenschießen üben könne, wird ein anderer mit den Worten zitiert: „Das Wetter ist um diese Jahreszeit so reizend und die Arbeit so leicht, und die Vögel sind eine so köstliche Speise, dass es sich lohnt, [dieser Betätigung] nachzugehen. Und manchmal bieten sie einem wirklich einen sehr hübschen Sport, wenn sie über den Lockspeisen kreisen. Einmal schoss ich einen in einem Sumpf. Sein Gefährte flog kurz auf, ging dann wieder neben dem toten Vogel nieder und wartete dort ruhig, bis ich meine Flinte nachgeladen hatte und für ihn bereit war.“ (71)

Aus der Geschichte gelernt? Die zitierten Berichte sind viele Jahre, sogar Jahrhunderte alt. Gemessen an der heutigen Situation können wir feststellen, dass der Mensch aus der Geschichte gelernt haben dürfte. Das offenherzige Eingeständnis purer Tötungslust ist in den meisten Gesellschaften kaum mehr salonfähig. Verschwunden ist sie dennoch nicht. Die Orte moderner Grausamkeit sind weniger jene geografisch ausmachbaren Inseln der Riesenalke, als vielmehr sozial-abgeschottete Inseln, auf denen die Verhaltensstandards kultivierter Gesellschaften abgelegt werden können: Delfinbuchten und Schlachthöfe, Tiertransporter und Robbenstrände sind nur einige jener Orte, an denen Menschen auch heute noch unter weitestgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit Ausnahmen von den Regeln sozialen Anstands beanspruchen können, um zum vermeintlichen Wohl aller den einengenden Mantel der Kultur abzuwerfen. Vom gesellschaftlichen Leben bleiben diese Orte gleichwohl sorgsam exkludiert. Die Lektion der Vergangenheit besteht also überwiegend darin, das eigentliche Problem zu verschieben, einzugrenzen und zu kaschieren. Die Strategie scheint darin zu bestehen, sozial akzeptierte, vermeintlich subtilere Formen generiert zu haben, die den Menschen dennoch seiner ungebrochenen Herrschaftsgewalt über die Tiere versichern. Noch im 186

Der Gott der Tiere

Studium berichtete mir ein Kommilitone, dass er gerne einmal ein Tier schlachten würde. Diese Erfahrung schien ihm enorm wichtig zu sein. Natürlich, so versicherte er, ginge es ihm dabei nicht um irgendeine stumpfsinnige Tötungslust, aber die bloße Erfahrung, einmal zumindest Herr über Leben und Tod sein zu können, schien eine eigenartige Faszination auf ihn auszuüben. Ich weiß nicht, ob der damalige Kommilitone seine Fantasie verwirklichen konnte und sie ihm den gewünschten Erfahrungsgewinn beschert hat. Wie auch immer aber die Motivlagen der Menschen dafür aussehen mögen, auf den „hübschen Sport“ des Tötens verweisen nur noch die wenigsten in dieser Ausdrücklichkeit. Angefangen beim Jäger bis hin zum Metzger und dem modernen Tierexperimentator wird man heute sogar überwiegend Zustimmung ernten, wenn man darauf verweist, dass das Leiden der Tiere ein moralisches Problem darstellt. Diese Anerkennungsleistung scheint ein moderner Konsens zu sein. Fragt man nach den Konsequenzen dieser Tatsache, sind die Reaktionen gleichwohl unterschiedlich. Jäger verweisen womöglich auf genauere Schusstechniken oder auf gesetzliche Regulierungen und Einschränkungen, in denen sie ihr Eingeständnis gegenüber dem Leid der Tiere verorten, während der Metzger zumindest dem Papier nach auf die Strategie setzen mag, ein sog. „schmerzfreies Töten“ zu praktizieren. Wer an Tieren experimentiert, kann durch das obligatorische Ausfüllen eines „EthikBogens“ dem moralischen Problem gewissermaßen auf dem Dienstweg entkommen, oder er naturalisiert den Begriff des Leidens so sehr, dass er nur noch auf eindeutige, noxische Reize (d. h. Gewebeschädigungen) angewendet werden kann. Alle Strategien kommen wohl in dem Punkt überein, dass das Leid der Tiere zwar moralisch schlecht, aber dennoch unvermeidlich sei. Eine scheinbar höhere Notwendigkeit rechtfertigt in allen Versionen ihr Leid, sei es die Notwendigkeit der Nahrung, die des Wohlstandes oder jene der Forschung. Am Ende der Gedankenkette steht der Mensch als Profiteur. So schmerzlich das Eingeständnis sein mag, muss doch mit aller Deutlichkeit festgestellt werden, dass auch die scheinbar so leidsensible Theologie nur selten zu anderen Schlussfolgerungen kommt. Es ist bislang nur sehr wenigen Vertretern und Vertreterinnen vorbehalten geblieben, die Leidfrage im Angesicht der Tiere nicht in vorschnelle Rationalismen zu überführen: Einer dieser Autoren ist Josef Bernhart. 187

II. Tierethik

„Das der Schöpfung eingezeichnete Kreuz“ Unde malum – woher kommt das Schlechte, das Leid der Welt? Josef Bernharts Werk Die unbeweinte Kreatur entstand, so das Vorwort, „aus dem lebendigen Leben selbst“2. Ein bayrischer Pfarrer ersucht Bernhart um theologischen Rat. Ihn bedrückt und quält das winterliche Leiden und Sterben der Wildtiere in den bayrischen Wäldern, eine stille und sinnlose Tragödie von Hunger und Kälte, die zumeist abseits des menschlichen Blicks stattfindet, unbemerkt und unbeweint bleibt. Es mag sein, dass die Eindrücklichkeit dieses Bildes Bernharts Umgang mit der Frage prägt. Sie unterscheidet sich jedenfalls merklich von den Antworten der Tradition, deren Verweis auf die Offenheit der Theodizee oft in Studierzimmern ohne Fensterblick ausgeklügelt worden zu sein scheint. Auch für die Tiere sind die klassischen Wege der Theodizee seltsam unergiebig. Eine Problemdarstellung von Christoph J. Amor, der verschiedene neuere Theodizee-Ansätze daraufhin untersucht hat, kommt zu einem ganz ähnlichen Schluss.3 Die Ansätze zur Theodizee sind lang und können hier nicht erläutert werden, zumal damit auch wenig gewonnen wäre: In den unterschiedlichen Versuchen, die klassischen Gottesattribute (Allmacht, Allwissenheit, Allgüte) mit dem faktischen Leid zu vermitteln, zeigt sich immer nur aufs Neue das Scheitern einer Theologie, die Gott in das Format einer Rechenoperation und die Aussagelogik des Theismus zwingen will. Joseph Bernhart hat sicher etwas Richtiges gesehen, wenn er vom Tierleid als der „wahre[n] Qual ohne Sinn und Zweck“ sprach. Insbesondere im Leid der Tiere sieht er einen Maximalpunkt des Leids erreicht, da „der Schmerz des Tieres in seiner Unschuld […], ja eben dieser Schmerz des Unteren, dieser Schmerz an sich, dem nicht Glaube, Hoffnung und Liebe zu Hilfe kommen, […] der reinste Aufschluß über das der Schöpfung eingezeichnete Kreuz [ist]“4. Es zeichnet Bernhart aus, diesen Umstand benennen zu können, ohne gleich darauf die Wege der Theodizee einzuschlagen. Dennoch bringt es für eine Theologie der Tiere reichlich wenig, menschliches und tierliches Leid gegeneinander auszuspielen; auch menschliches Leid wird als sinn- und zweckfrei wahrgenommen. Beide mögen sich hinsichtlich ihrer Ursachen und Qualitäten unterscheiden, in grundsätzlicher, struktureller Hinsicht sind beide dennoch von vergleichbarer Natur. Bevor es also in einem erneuten Anlauf darum gehen soll, den theologischen Schlüssel für das Phänomen tierlichen Leids zu erkunden, sei vom Phänomen des Leids her gefragt: Worüber sprechen wir überhaupt, wenn wir vom Leid der Tiere sprechen? 188

Der Gott der Tiere

„Die wahre Qual ohne Sinn und Zweck“ Leid und Schmerzen sind beim Tier wie beim Menschen Grenzfälle der Erkenntnis. Sie sind, wie der Philosoph S.  Kitagawa formuliert, „ebenso maximal wie minimal evident“5. Man kann dem Gegenüber den Schmerz glauben – oder auch nicht; objektiv und direkt ist er jedenfalls nicht erkenn- oder messbar, da es sich um ein Bewusstseinsphänomen handelt. Wer einmal am eigenen Leib erfahren hat, wie leidvoll starke Schmerzen wirken können, der hat damit zugleich erfahren, wie sehr der Schmerz den Einzelnen auf sich selbst zurückwirft. Die Welt, die der Leidende wahrnimmt, schrumpft auf das Unmittelbare zusammen und erfüllt seinen gesamten Horizont, so dass er sich letztlich als vollkommen isoliert begreift. Leid und Schmerz können, weil sie so sehr an das Individuum gebunden sind, allen guten Absichten zum Trotz nicht sozial geteilt, wohl aber anerkannt und bezeugt werden. Aus der menschlichen Erfahrung wissen wir, dass Schmerz und Leid, die von anderen nicht geglaubt und nicht anerkannt werden, vielleicht zum Schlimmsten zählen, was einem Menschen passieren kann. Der Betroffene selbst ist außer Stande, sein Leiden zu beweisen. Und häufig ist es gerade der verzweifelte Versuch, Ausdrucksformen für den eigenen Schmerz zu finden, der selbst für die eigenen Angehörigen unerträglich wird. Schmerzensschreie, die Klage oder das Weinen von Leidenden können das soziale Band mitunter schneller überstrapazieren, als man denkt.6 Für die Tiere wäre ganz Ähnliches zu konstatieren. Das Leid der Tiere, von dem Joseph Bernhart bereits behauptet hatte, dass es das Leid gewissermaßen in Reinform repräsentiere, scheint keinem ernsthaften Zweifel zu unterliegen. Man kann vermuten, dass kaum jemand die Panik und Angst, aber auch den Schmerz in den Augen eines geschundenen Tieres übersieht. Über diesen unmittelbaren Eindruck hinaus sprechen auch die einschlägigen Forschungsergebnisse für eine Anerkennung tierlichen Leids. Während Charles Darwin in seiner Veröffentlichung Über den Ausdruck der Gemüthsbewegung bei dem Menschen und den Tieren noch auf die grundsätzliche Ähnlichkeit verwiesen hat, die zwischen den Ausdrucksformen des Schmerzes bei Mensch und Tier besteht, um von dort her auf eine strukturanaloge Ursache zu schließen, hat die zeitgenössische Biologie das Phänomen des Schmerzes unter anderen Vorzeichen untersucht. Ihr geht es weniger um den Nachweis von Ähnlichkeit im Ausdruck des Schmerzes, als gerade um die Unähnlichkeit: Viele Tiere zeigen gerade ein dem Menschen unähnliches Schmerzver189

II. Tierethik

halten, ohne dass dies die Realität ihres Schmerzes in Abrede stellt. Tiere können Schmerzen demnach in einer Weise ausdrücken, die dem Menschen augenscheinlich nur schwer zugänglich ist: Das Ausstrecken des Halses, Muskelkontraktionen, aufgeregtes Schwimmen bei Fischen, Teilnahmslosigkeit oder sichtbare Unruhe sind nur wenige Merkmale. Einige Tiere (darunter die sog. Beutetiere) tendieren darüber hinaus dazu, gerade keine sichtbaren Schmerzausdrücke zu zeigen und ihn nach Möglichkeit zu verbergen.7 Die Fähigkeit zu leiden scheint, so kann man die biologische Sicht abkürzend zusammenfassen, beinahe eine Universalie des Lebens zu sein. Leiden Tiere anders? Und dennoch: Erstaunlicherweise hat gerade die Theologie den Tieren ihr Leid allzu oft schlicht nicht glauben wollen. Noch 1978 hat der US-amerikanische Autor C. S. Lewis in dem bekannten Band Über den Schmerz aus dezidiert christlicher Sicht Stellung zum Leid der Tiere genommen. Auf die selbstgestellte Frage, ob und was Tiere überhaupt leiden, antwortet Lewis: „Wir wissen es nicht. […] Wenn du einem Tier zwei Schläge mit der Peitsche gibst, dann sind da wohl zwei Schmerzempfindungen; aber es fehlt das koordinierende Selbst, das erkennen könnte: ‚Ich habe zwei Schmerzempfindungen gehabt‘. […] Die korrekte Beschreibung müsste also lauten: ‚In diesem Tier findet Schmerz statt‘, und nicht, wie wir gewöhnlich sagen: ‚Dieses Tier empfindet Schmerz‘. […] Die Tatsache, dass Tiere auf Schmerz sehr ähnlich reagieren wie wir, ist wirklich kein Beweis dafür, dass sie sich dessen ‚bewusst‘ sind.“8 Lewis hat – dies sollte man zugestehen – in einem gewissen Sinne sogar Recht mit seiner sonderbar klingenden Feststellung, denn auch er stößt auf das Problem des unzugänglichen Bewusstseins, das er in diesem Fall ganz in Abrede stellt. Ob sein Argument damit allerdings wissenschaftlich tragfähig ist, kann mit guten Gründen bezweifelt werden: Es ist zunächst nicht falsifizierbar und genügt nicht den Standards moderner Wissenschaftstheorie. Wir werden nie erfahren, wie und ob Tiere Schmerz wahrnehmen – wer daraus aber den Schluss zieht, dass Tiere keinen Schmerz empfinden, immunisiert sein Argument auf unzulässige Art und Weise. Ob die alternativ vorgeschlagene Beschreibung „In diesem Tier findet Schmerz statt“ dem Phänomen eher gerecht wird, darf wohl ebenfalls bezweifelt werden, sie setzt sich zumindest dem Vorwurf aus, ausgesprochen kontraintuitiv formuliert zu sein. 190

Der Gott der Tiere

Ganz ähnliche Versuche, das Leid der Tiere in Abrede zu stellen, lassen sich auch außerhalb der Theologie allenthalben entdecken. Dies betrifft zunächst die Differenzierung von Schmerz und Leid. Der Ausdruck des Leidens scheint Lebewesen mit (Selbst-)bewusstsein zu privilegieren, so dass Tieren sehr häufig zwar zugestanden wird, Schmerz empfinden zu können, ohne dass diese Erfahrung zugleich als Leid benannt werden kann. Leid wird auf diese Weise einem physiologischen Reduktionismus unterworfen, was in mehrfacher Hinsicht fragwürdig ist. Dieses verkürzte Verständnis ist außerstande, beispielsweise Haltungsbedingungen von Tieren als leidvolle Faktoren anzuerkennen, sofern diese nicht unmittelbare physiologische Schädigungen bewirken. Als vor einigen Jahren auch medial darüber diskutiert wurde, ob Käfighennen darunter leiden, dass viele von ihnen mittlerweile absichtlich blind gezüchtet werden, um der Reizüberflutung und der dadurch bedingten Aggression in den engen Käfigen besser standzuhalten, stand genau diese Frage im Vordergrund: Den Tieren wurde schließlich kein objektiver Gewebeschaden zugefügt, so dass das Argument der bloßen Schmerzvermeidung nicht mehr zu greifen schien. Gegenüber einem solch verkürzten Konzept des Schmerzes begreift der Begriff des Leidens das Phänomen der blind-gezüchteten Hühner besser, da er wesentlich integraler gefasst ist. Die künstlich erzeugte Blindheit ist dann zwar keine physiologische Schädigung, wohl aber ein unzulässiger Eingriff in die Integrität der Tiere – und in diesem Sinne durchaus berechtigt als Leid zu beschreiben. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem wohl noch gravierenderen Problem, ob Tiere – wie es in der Tierindustrie gerne behauptet wird – leidfrei getötet werden können. Viele findige Methoden hat man sich dazu erdacht, die allesamt in höchstem Maße fragwürdig sind, aber das soziale Gewissen ausreichend beruhigen. Wer einmal nur erlebt hat, wie selbst in modernen Laboratorien noch heutzutage Mäuse enthauptet oder mit einer Spritze ins Herz getötet werden, wie Schweine, die unzulänglich betäubt wurden, lebendig in kochendes Wasser geworfen werden, dem mögen dezente Zweifel an den Mythen der Tierindustrie kommen. Dennoch prägt die reduktionistische Vorstellung, dass Schmerzen identisch mit noxischen Schädigungen seien, nach wie vor auch die tierethische Diskussion. Der 2005 erschienene Band „Vom Schmerz der Tiere“ von Thorsten Galert ist nur ein Beispiel dafür, wie die eigentliche Tiefendimension des Schmerzes selbst in neueren Veröffentlichungen immer noch pragmatisch entschärft wird.9 Und selbst wer sich auf die empirisch längst wi191

II. Tierethik

derlegte These einlassen will, dass es ein schmerzfreies Töten geben könne, wird einsehen, dass mit der Frage nach der Leidfreiheit eine andere Dimension der Tiere berührt ist, die nicht einfach mit der Schmerzfreiheit in eins geworfen werden kann. Erstaunlich ist am Argument des physiologischen Reduktionismus schließlich noch eine weitere Beobachtung: Die avisierte Fokussierung auf den physischen Schmerz, der sich vom bewusstseinsexklusiven Leidensbegriff abhebt, lässt durchaus den Schluss zu, dass Tiere in ihrem Schmerz der Tendenz nach sogar bevorteilt werden müssten. Tierlicher Schmerz wäre moralisch demnach wesentlich gravierender, da Tiere, denen ein (Selbst-) Bewusstsein abgesprochen wird, sich anders als Menschen gerade nicht vom Schmerz distanzieren können. Sie wissen dann anders als wir womöglich nicht, dass der kurze Schmerz z. B. einer Spritze ein Ende und einen Sinn haben wird, so dass sie diesen Schmerz in einer dem Menschen unbekannten Dramatik und Tiefe wahrnehmen müssten. Le Breton formuliert daher treffend, wenngleich noch exklusiv auf den Menschen bezogen: „Die althergebrachte Versuchung, den Schmerz als rein physiologische Reaktion zu definieren, die stets die gleichen Empfindungen und Abwehrmechanismen hervorruft, muss revidiert werden. Der Schmerz verhält sich nicht proportional zur Schwere der Verletzung: Eine Schramme, eine Verbrennung oder Zahnweh verursachen mehr Schmerzen als organische Störungen, die das Leben des Menschen bedrohen.“10 Eines der entscheidenden Ergebnisse der modernen Schmerzforschung, so schreibt Le Breton weiter, sei die Einsicht in die außerordentliche Kulturbedingtheit des Schmerzes: „Der Kontext, den der leidende Mensch mit seinem Schmerz assoziiert, beeinflusst seinen Umgang und sein Verhältnis zu ihm entscheidend. Der Mensch reagiert nicht so sehr auf den eigentlichen Schmerz als vielmehr auf den Sinn, den dieser für ihn annimmt.“11 Wer also von Schmerzen spricht, diskutiert immer auch kulturelle Praktiken. Die Tatsache, dass die Moderne den Kampf gegen das Leid in Form einer verbesserten und bis in den Alltag ausgeweiteten Anästhesie geführt hat (man denke nur an den üblich gewordenen Konsum von Schmerztabletten), ist eine praxeologische Antwort auf den Schmerz. Auch Ijobs Leidensgeschichte insinuiert weniger eine Erklärung, als vielmehr eine kulturelle Praxis des Leids in Form der Klage, die von Gott bestätigt wird. (Ijob 42,7) Viel wäre gewonnen, wenn auch die theologischen Antworten diese Aussage viel stärker als bislang mit dem Leid der Tiere verknüpften. Die Klage über Leid und Schmerz ist ein ra192

Der Gott der Tiere

dikaler Einspruch gegen die vermeintlichen Notwendigkeiten, gegen die scheinbar ewigen Kreisläufe und die Mechanisierung des Tötens. Es wäre der Theologie zu wünschen, dass sie ihre prophetische Aufgabe wiederentdeckt, die auch Klage, Anklage und Selbstanklage beinhaltet, wie sie bislang in der Regel von säkularen Gruppen und Institutionen übernommen werden musste. Tiere dürfen von der Theologie nicht länger unbeweint bleiben. „Warum schlägst du mich?“ Der Schmerz und das Leiden sind Einsprüche gegen die Wirklichkeit, sie verweisen auf etwas, das nicht sein soll. Erschöpft sich die theologische Antwort dann darin, diesen Einspruch zu artikulieren und ein Ethos der Leidvermeidung hochzuhalten? Es soll gar nicht bezweifelt werden, dass gemessen an vielen bisherigen theologischen Ansätzen selbst eine solche rein ethische Positionierung hinsichtlich der Tiere sehr wünschenswert wäre. Dennoch haben weder der Angang über die klassische Theodizee noch über die phänomenologische Deutung von Leid und Schmerz bislang einen wirklichen Mehrwert der theologischen Sicht auf das Leid der Tiere erkennen lassen, der so nicht auch durch die (Religions-)Philosophie geleistet werden könnte. Daher soll in einem dritten Anlauf erneut danach gefragt werden, worin nun eine theologische Antwort auf das Leid der Tiere bestehen kann. Die Frage, die zu klären wäre, ist biblisch vorformuliert in der Klage von Bileams Eselin: „Warum schlägst du mich?“ Die Art und Weise, wie hier nach dem Leid der Tiere gefragt wird, unterscheidet sich doch sehr stark von theologischen Systementwürfen, in denen die Theodizee auf das Problem reagiert. Die Frage der Eselin ist konkreter, auf das Hier und Jetzt bezogen, und vor allem ist sie eine Frage, die unmittelbar an den Menschen gestellt wird. Sie ist die Frage an Bileam innerhalb des biblischen Erzählzusammenhangs, und sie ist zugleich die Frage, die im sprachlosen Schrei aller Tiere zu allen Zeiten an den Menschen herangetragen wird. Sie lässt sich vernehmen im Schrei der Eselin wie in jenem des Riesenalks. Wenn dieser Schrei der Tiere, mit der schon genannten Formulierung von Joseph Bernhart, Signum des der Schöpfung eingezeichneten Kreuzes ist, dann ist auch die theologische Antwort ebendort zu suchen: In der Schöpfungstheologie und näherhin in der Differenz von göttlicher und menschlicher Macht. 193

II. Tierethik

Allmacht und Allmachtsfantasien Gute Gründe sprechen dafür, das Handeln des Menschen insbesondere gegenüber den Tieren als durch und durch machtförmig anzusehen. Etwas davon klingt bereits in der verharmlosenden Bezeichnung des „Herrchens“ oder „Frauchens“ von Haustieren durch. Dort, wo der Mensch es mit Tieren zu tun hat, handelt er nahezu immer aus einer Position der Macht heraus. Das Extrem ist jene schon angesprochene Macht, die über Leben und Tod der Tiere zu verfügen trachtet. Damit rückt die menschliche Machtausübung gegenüber den Tieren in die Nähe zu jener Vorstellung göttlicher Allmacht, von der die Schöpfungstheologie spricht. Sie verhandelt vielleicht am klarsten innerhalb der gesamten Dogmatik einen theologischen Begriff von Macht. Wer also verstehen will, warum Menschen in der Lage sind, derartiges Grauen auch unter den Tieren zu bewirken, der wird sich mit einem theologischen Verständnis von Allmacht auseinandersetzen und fragen müssen, in welchem Verhältnis göttliche und menschliche Macht zueinander stehen. Gottes Allmacht ist zunächst einmal schöpferische Allmacht. Wie ist das zu verstehen? Eine klassische Antwort verweist darauf, dass Gottes Allmacht eine Souveränitäts-, mithin also eine Machtfrage verhandelt: Als höchstes und vollkommenes Sein schafft Gott alles niedere Sein, das von ihm abhängig bleibt (die creatio continua steht demnach in unmittelbarer Verbindung zur creatio ex nihilo). Alles geht auf ihn zurück, Gott ist als Schöpfer kausal auf die Schöpfung bezogen, die dann als seine Wirkung verstanden wird. Diese erste traditionelle Lesart der göttlichen Allmacht favorisiert ein Machtverständnis in einem autoritären Sinne. Gottes Allmacht ähnelt zumindest in einigen Zügen dem Durchregieren eines weltlichen Despoten. Sie funktioniert, da sie dem kausalen Denken abgeschaut ist, in einem mechanistischen Paradigma, dem eine Theologie entstammt, die Gott als denjenigen versteht und verkündet, der sich gegen weltliche und menschliche Mächte durchsetzt, dessen Macht prinzipiell in Konkurrenz zu anderen Mächten steht. Problematisch wird dieses Modell zudem, weil eine solche Vorstellung von Gott als absolutem Sein keinen Platz für Kontingenz lässt: Gott ist reine Wirklichkeit (actus purus), in ihm gibt es keinen Spielraum, keine Entwicklungsmöglichkeiten, die man immer zugleich als etwas Defizitäres, weil unerfülltes betrachtet hat. Alles ist immer schon in ihm verwirklicht – eine Vorstellung die Nietzsches späteres Urteil eines toten, leblosen Gottes theologisch regelrecht vorwegnimmt. 194

Der Gott der Tiere

Der Theismus, der eine solche mechanistische Gotteslehre zum übergreifenden Konzept erhoben hat, ist das bis heute nachwirkende Erbe einer Theologie, die dadurch groß von Gott sprechen wollte, indem sie die bekannten menschlichen Erfahrungsdimensionen von Macht ausgeweitet, aber nie grundsätzlich neu gedacht hat. Wie vielleicht kein anderer Theologe bisher hat Romano Guardini auf die fatalen Folgen eines solchen theistischen Gottesbildes hingewiesen, wie er auch heute noch ungebrochen gelehrt und gelernt wird, bis sich dann die Theodizee daran die Zähne auszubeißen hat: Der Theismus, so Guardini, führt geradewegs in den Atheismus! Er kippt dialektisch in sein Gegenteil, weil Gott und Mensch als Konkurrenten erscheinen und ein Glaube an Gott als „den Anderen“ letzten Endes menschenunmöglich ist. „Gott ist aber nicht ‚der Andere‘, sondern Gott“, so schreibt Guardini und ergänzt: „Daran, dass das erkannt wird, hängt die Erkenntnis der Schöpfung und das Selbstverständnis des Menschen. […] Von jedem Wesen sonst gilt der Satz: Es ist nicht ich, also ein Anderes. Von Gott gilt dieser Satz nicht; und eben dass er nicht gilt, drückt Gottes Wesen aus. In dem Verhältnis, von dem wir sprachen, wird Gott ein Anderer gemacht, der größte von allen: der Andere schlechthin. Ist er das, dann muss der Mensch den schrecklichen Kampf der Befreiung gegen ihn aufnehmen, und Nietzsche hätte recht. Gott ist aber nicht der andere, deshalb, weil er Gott ist. Als Gott steht er dem Geschöpf so gegenüber, dass die Kategorie des Anderer-Seins auf ihn ebenso wenig angewendet werden kann wie die des Gleicher-Seins.“12 Die moderne Theologie hat daher andere Ansätze gesucht, Gottes Allmacht jenseits dieser mechanistischen Kausal-Schemata zu verstehen. Allmacht kann demnach und in starkem Kontrast zum ersten Verständnis bedeuten, dass Gott seine Macht teilt, ohne dabei an Göttlichkeit zu verlieren. Er schafft und lässt das Geschaffene nicht macht- und kraftlos, regelrecht erschöpft zurück, sondern ermächtigt andere. Seine Macht ist wirklich kreativ, ihre Kraft ist nicht nur aufseiten der Ursache, sondern auch auf der Seite der Wirkung zu finden, ohne darin einen Widerspruch erleben zu müssen. Wir lernen Gott in den biblischen Schriften als ein Wesen kennen, dessen Macht in dem Sinne allmächtig zu nennen ist, dass sie keinerlei Tendenz zum Destruktiven hat. Sein Wirken ist anders als die Macht despotischer Zwingherren nie nur passives Widerfahrnis, der gegenüber das Subjekt letztlich hilflos zurückbleibt, sondern zumindest immer auch neu belebend. Schöpferische Allmacht ist in diesem Sinne dynamisch, sie wirkt weiter und verpufft nicht bloß. Ihre Wirkung ist 195

II. Tierethik

sinnvollerweise nur „interdependent“, d. h. im Kontext von Beziehungen verstehbar, so kann man es in der Schöpfungstheologie des evangelischen Theologen Michael Welker nachlesen.13 In diesem beziehungshaften Verstehenszusammenhang wird deutlich, dass Gottes Allmacht zutiefst mit dem Ja zum Leben und zum Lebendigen verbunden ist. Sie will niemals den Tod. Sie lässt Raum für Leben und bejaht die Lebendigkeit anderer Wesen. Gottes Allmacht sieht in der Möglichkeit, anderem Leben Freiräume zu schaffen, gerade keinen Machtverlust. Schon von hierher ist einsehbar, dass Gottes Allmacht allen historischen Vereinnahmungsprozessen zum Trotz niemals mit der Macht herrischer Despoten vergleichbar ist, die wie selbstverständlich Leid und Tod von Mensch und Tier einkalkulieren und zum Ausbau ihrer Herrschaft benötigen. Schöpfungstheologie delegitimiert jede Herabstufung eines lebendigen Wesens zur toten Maschine und hätte ihr Veto überall dort zu sprechen, wo die eigene Macht dem jeweils anderen, sei es Tier oder Mensch, die Luft zum Atmen nimmt: In jeder Mastanlage, jedem Schlachthof, jedem Labor und Zoo. Eine Schöpfungstheologie, die Gottes Allmacht allein als eine formale Bestimmung, als quantifizierendes Ausmaß seiner Mächtigkeit versteht und ihn entlang der Gottesebenbildlichkeit in zwar abgeschwächter aber doch analoger Weise auf menschliche Macht übertragen will, missversteht seine Allmacht letztlich, weil sie neben der formalen Seite zugleich immer auch material, also mit einer inhaltlichen Aussage verknüpft ist: Gott ist der Gott des Lebens – in diesem Sinne ist er tatsächlich allmächtig. Allmacht ist eine Selbstauskunft Gottes, die aber gerade nicht an ihm ablesbar ist, sondern an seinem Gegenüber eingelöst wird. Der Gott der Tiere Von hier her fällt neues Licht auf das Leid der Tiere – und es schmeichelt der (zumindest traditionellen) Theologie ausgesprochen wenig. Man wird immerhin nach einer theologischen Mitschuld fragen müssen, sobald man zur Kenntnis nimmt, wie sehr sie die Rolle des Menschen, seine Gottesebenbildlichkeit, nur allzu oft auf den Fixpunkt des theistischen Gottesbildes hin ausgelegt hat. Es erscheint in der Tat nur folgerichtig, menschliche Macht analog zur Allmacht Gottes zu verstehen. Eine Theologie, die diese Allmacht Gottes allerdings in mechanistischen Kausalmustern entwirft, und Gottes Macht zu den geschöpflichen Mächten in 196

Der Gott der Tiere

notwendige Konkurrenz setzt, wirkt mit am Mythos des Menschen als jenem Gott der Tiere, der seine eigene Macht in einem beständigen Kampf gegen die Tiere durchzusetzen hat – so wie Gott sich als Gott der Menschen gegen deren Machtbestrebungen durchsetzt. Neben einem solchen „Ich“, das sich seiner eigenen Mächtigkeit nur dadurch versichern kann, dass es die Ohnmächtigkeit der anderen wollen muss, haben andere Wesen keinen Platz – Farley Mowats Geschichte des Riesenalks ist nur ein Beispiel für die desaströsen, aber zwangsläufigen Folgen eines theistischen Allmachtsbegriffs, der sich in den tiefsten Sedimenten des menschlichen Selbstverständnisses festgesetzt hat. Um es ganz klar zu sagen: Das Problem besteht nicht, wie man gelegentlich vernimmt, in der jüdisch-christlichen bzw. biblischen Tradition, sondern genauer in ihrer theologischen Auslegung. Es greift zu kurz, die jüdisch-christliche Tradition insgesamt (oder die aus ihrem Kontext herausgelöste Formel der Gottesebenbildlichkeit) für die Machtergreifung des Menschen über die Natur verantwortlich zu machen, weil deren Schöpfungsbegriff die Welt profaniert habe. Jürgen Moltmann führt gegen dieses Argument auch die Beobachtung an, dass die moderne, ausbeuterische Entwicklung, wie wir sie auch beim Riesenalk festgestellt haben, erst vor ca. 400 Jahren beginnt. Für Moltmann ist diese Entwicklung durch das neue Gottesbild der Renaissance und des Nominalismus bedingt, das Gott als die potentia absoluta feiert: „Darum muss auch sein Ebenbild auf Erden nach Macht streben. Nicht Güte und Wahrheit, sondern Macht wurde zum vornehmsten Prädikat der Göttlichkeit.“14 Die Lehre von der Gottesebenbildlichkeit ist nicht einfach rundheraus abzulehnen, im Gegenteil: Sie erscheint uns heute vielleicht als Zumutung, gerade weil sie an daran festhält, dass der Mensch Macht hat fast wie Gott selbst. Otto Hermann Pesch ordnet diese Aussage in den zeitgenössischen Kontext ein und zeigt, dass sie gegen die Göttermythen der antiken Welt gerichtet ist: „Deren Götter können sich keinen mächtigen Menschen leisten – die Tat des Prometheus bedeutet für sie eine mittlere Katastrophe. Der Gott der Bibel aber fürchtet den Menschen nicht als Konkurrenten.15 Entscheidend bleibt daher für den Menschen, seine Mächtigkeit theoretisch wie praktisch so zu denken und zu leben, dass sie an Gottes lebendiger und belebender Macht orientiert bleibt. Die Gottesebenbildlichkeit erinnert den Menschen an seine Macht, um vorschnellen Selbstentpflichtungen des Menschen entgegenzuwirken: Seine Macht darf er nicht vorschnell in Abrede stellen, er hat sie für andere und in deren Sinne auszuüben. 197

II. Tierethik

Eine Macht, die andere ermächtigt Die schöpfungstheologische Lehre von der Allmacht Gottes ist im Wesentlichen Beziehungslehre. Sie ist der Ethik durchaus verwandt, aber vorgeordnet. Sie nötigt zunächst zu der grundsätzlichen Einsicht, dass alle Beziehungen immer auch machtförmiger Natur sind. Dies muss nichts Schlechtes sein. Entscheidend ist nur, wie der Mensch seine Macht ausübt. Seine Beziehung zu den Tieren ist vielleicht der deutlichste Kristallisationspunkt seiner Macht, an dem sich zeigt, ob er sie despotisch oder schöpferisch verwirklicht, ob er seine Macht im Kampf aller gegen alle knechtisch gegen anderes Leben durchsetzen muss, oder ob er bereit ist, die Ermächtigung anderer Wesen und deren Freiräume als eine Bereicherung seiner eigenen Mächtigkeit zu begreifen und sich an ihrer Lebendigkeit zu erfreuen. Auf die Frage der Eselin – „Warum schlägst du mich?“  – deutet sich somit eine erste Antwort an. Der Schrecken und das Leid, das der Mensch verbreitet, entspringen einer (wenn auch sicher nicht immer explizit als solcher reflektierten) schöpfungstheologischen Grundentscheidung: Wer glaubt, seine Macht nur so ausüben zu können, dass er andere Wesen notwendig klein hält und im Extremfall tötet, ist weit entfernt von jenem Verständnis einer Macht, die in der Bemächtigung anderer einen Gewinn für sich selbst erblicken kann. Von hier her fällt neues Licht auf die Beziehung des Menschen zu den Tieren. Was sagt es über Menschen aus, wenn sie ihnen ein Leben in winzigen Gitterkäfigen zumuten, sie aus Prestigegründen durch Wälder zu Tode hetzen oder sie als Versuchsobjekte missbrauchen? Wenn seine Macht in Gewalt umschlägt, dann steht sie im maximalen Widerspruch zur lebensbejahenden Allmacht Gottes. Sie ist im Letzten das Eingeständnis völliger Ohnmacht. Der Psychoanalytiker Erich Fromm hat eine brillante Analyse menschlicher Destruktivität vorgelegt, die auch die theologische Perspektive auf das Verständnis von Macht und Allmacht außerordentlich bereichert. Fromm zufolge gibt es für das Verständnis menschlicher Machtausübung keinen schärferen Gegensatz als den zwischen den zwei Grundhaltungen der Biophilie und der Nekrophilie. Menschen können – in unterschiedlichste Varianten und nur selten in Reinform – das Lebendige oder das Tote lieben. Fromm bezeichnet den menschlichen Wunsch, ein lebendiges Wesen völlig und absolut unter Kontrolle zu bringen, als nekrophilen Sadismus; ihm liegt die Freude an der völligen Beherrschung des anderen zugrunde, die das Gegenüber dafür zur Maschine degradieren, in etwas Totes verwandeln muss. 198

Der Gott der Tiere

Nekrophile verteidigen ein Ethos, das auf den ersten Blick gar nicht pathologisch erscheinen muss, aber deutlich von der Tendenz der Mechanisierung des Lebendigen durchzogen ist: Sie bestehen auf Recht und Ordnung, verstehen sich als konservativ, sind grundsätzlich an der Vergangenheit orientiert, weil sie die Unklarheit der Zukunft nicht aushalten; sie verstehen Gerechtigkeit als gerechte Aufteilung, wie jene Frau, die in der Geschichte vom salomonischen Urteil darauf besteht, die Hälfte des Kindes zu erhalten, die also lieber ein totes Kind haben will als ein lebendiges zu verlieren. Fromm betont immer wieder, dass die Nekrophilie in all ihren Ausprägungen „die gefährlichste unter allen Lebensorientierungen [ist], deren der Mensch fähig ist. Obwohl man lebendig ist, liebt man das Tote.“16 Wer das tut, wird nach und nach auch die biophile Seite, die das Leben liebt und sich von Wachstums- und Lebensprozessen in allen Bereichen angezogen fühlt, in sich selbst abtöten. Besteht demnach keinerlei Hoffnung für Menschen mit einer solchen nekrophilen Orientierung, die ihre eigene Macht nur dadurch ausleben können, dass sie andere in den Zustand der Ohnmacht versetzen? Fromm bemerkt dazu zunächst, dass jeder, der diesen Prozess an sich selbst bemerkt, dies zugleich als heilsam erfahren kann. Wer allerdings keinerlei „Ähnlichkeit zwischen sich und den anderen erkennt“, so formuliert es der Philosoph Tzvetan Todorov, „wer nur das fremde Böse, aber nicht das eigene sieht, der ist (tragischerweise) dazu verurteilt, seinen Feind zu imitieren. Wer hingegen das Böse auch in sich selbst zu erkennen vermag und folglich merkt, daß er dem Feind ähnlich ist, gerade der unterscheidet sich wirklich von ihm.“17 Das Erschrecken darüber, dem anderen durchaus nicht ganz unähnlich zu sein, kann die eigene Existenz mit neuem Leben erfüllen und auf diese Weise den nekrophilen Tendenzen entgegenwirken. Es gilt nicht zuletzt auch allen, die das theistische Gottesbild ob seiner despotischen Gehalte ablehnen  – auch sie sind nicht vor der Gefahr gefeit, dass diese Ablehnung zugleich in Ressentiment umschlägt. Töten, um lebendig zu sein? Fromm weist auch darauf hin, dass eine jede Ausprägung nekrophilen Verhaltens paradoxerweise gerade dem Bedürfnis entspringt, lebendig zu sein. Die Liebe zum Toten ist das Unvermögen, produktiv und schöpferisch mit dem Lebendigen zu interagieren; Fromm beschreibt sie als eine Form der Impotenz: „Der Impotente braucht nur ein Messer oder einen Revolver, und 199

II. Tierethik

er kann das Leben transzendieren, indem er es zerstört. Der Mensch, der nichts erschaffen kann, will zerstören.“18 Wer Tiere oder Menschen quält, missbraucht oder tötet, tut dies nicht selten in der verzweifelten Anstrengung, seine eigene Lebendigkeit zu behaupten. Häufig passiert das auch deswegen, weil eben diese Lebendigkeit infrage gestellt wurde, weil diese Menschen sich als zutiefst ohnmächtig erleben mussten. Dem Psychologen Jürgen Körner zufolge kann etwa Tierquälerei durch Kinder häufig auch durch eigene Leiderfahrungen bedingt sein, oft auch durch sexuellen Missbrauch. Diese Menschen „halten es damit, sich eher mit den Täter zu identifizieren, das bringt ihnen Entlastung aus der extremen Hilflosigkeit, legt ihnen aber auch nahe, später selbst zu quälen“19. Die Verantwortung des Menschen gegenüber den Tieren beginnt, so Körners Fazit, demnach zumindest gleichermaßen auch bei seiner Verantwortung für andere Menschen. Wie so oft gilt also auch hier: Wer versucht, menschliches und tierliches Leid gegeneinander auszuspielen, verläuft sich in einen Scheinwiderspruch. Die Beobachtungen zur menschlichen Nekrophilie scheinen nun treffsicher auch jene Gewalt an Tieren zu erklären, die bereits in den Berichten der Riesenalk-Jäger angeklungen ist. Sie stellen eine sinnvolle analytische Ergänzung zur schöpfungstheologischen Dimension von Macht dar und erlauben eine exemplarische Re-Lektüre des ersten, zuvor bereits zitierten Ausschnitts der Reiseberichte. Wenn dort die Rede davon ist, dass die Vögel auf der Insel „wunderbar anzusehen“ waren und „geradezu unglaublich“ in ihrer Menge erschienen, aber dennoch von den Menschen brutal erschlagen wurden, dann lässt sich hier unschwer der von Fromm benannte Grundwiderspruch entdecken, dass Menschen die Fülle fremden Lebens bisweilen nicht ertragen oder zulassen können, dass ihnen das Töten als einzige Möglichkeit erscheint, um die eigene Lebendigkeit zu behaupten. Schon für Fromm stand fest, dass das einzige Gegenmittel für diese Grundhaltung in der Entwicklung des schöpferischen Potenzials im Menschen liegt, seiner Fähigkeit, produktiv und nicht destruktiv von seinen Kräften Gebrauch zu machen – er empfiehlt also eine Haltung, die dem zweiten Verständnis göttlicher Allmacht sehr entspricht, weil sie belebt und nicht vernichtet. Leben in Angst Wer über das Leid von Tieren spricht, kann von ihrer Angst nicht schweigen. Eine theologische Deutung tierlichen Leids ist nur dann annähernd 200

Der Gott der Tiere

umfassend zu leisten, wenn sie neben dem Schmerz auch die Angst von Tieren aufgreift. Eugen Drewermann hat sich wie kaum ein anderer Theologe mit der Analyse der Angst und Angstüberwindung im Kontext der christlichen Religion hervorgetan und immer wieder darauf aufmerksam gemacht, wie sehr sich das Christentum auch einem Ethos der Angstüberwindung verpflichtet sieht, das nicht nur auf die menschliche Angst als existentieller Sorge abzielt.20 Man unterschätzt angesichts eines reduktionistischen Leidbegriffs womöglich, wie sehr insbesondere auch das Leben der Tiere durch und durch von Angst geprägt ist. Die Erbarmungslosigkeit, in der sich die Natur zeigen kann, fordert gerade von den Tieren eine ständige Wachsamkeit, die in alle Bereiche ihres Lebens hineinwirkt. Hunger und Sexualtrieb können für eine Weile zurückgestellt werden, aber die Angst erlaubt keinen Aufschub. Sie ist bis in den oftmals seichten Schlaf der Tiere hinein wirksam. An der Angst der Tiere zeigt sich mit ganzer Deutlichkeit, was biblisch schon vorweggenommen ist, wenn Gen 9 beinahe prophetisch verlauten lässt: „Furcht und Schrecken vor euch soll sich auf alle Tiere der Erde legen“ (Gen 9,2a)  – die Folgen des Sündenfalls sind auch die Folgen menschlicher Allmachtsfantasien, die erbarmungslos an den Tieren durchexerziert werden. Jens Soentgen hat in einem bemerkenswerten Artikel darauf aufmerksam gemacht, dass Tiere zumindest ihre Angst vor dem Menschen erlernt haben. Unsere moderne Alltagserfahrung, dass Tiere vor dem Menschen flüchten, sobald sie ihn erblicken, wird hier als Folge einer historischen Entwicklung ausgewiesen, die zumindest vorläufig in einer Moderne mündet, die zugleich ein Thanatozän, eine Epoche des menschengewirkten Todes ist: „Im Zuge des Kolonialismus wurden die effizienten europäischen Feuerwaffen und Fallen auf alle Kontinente exportiert. 1864 montierte der Norweger Svend Foyn die von ihm entwickelte Kanonenharpune auf ein Boot. […] Mit Feuerwaffen wird nahezu überall auf der Welt Jagd auf Tiere gemacht, zu Wasser, zu Land und in der Luft. Es kann also nicht überraschen, dass die Tiere panische Angst vor Menschen haben.“21 Die Hoffnung auf ein angstfreies Miteinander ist dennoch keine Utopie: Soentgen verweist auf historische Berichte, die Tierwelten – man denke auch an Mowats Berichte zum Riesenalk! – schildern, die noch keine Angst vor dem Menschen hatten. Auch für das Leben der Tiere untereinander lassen sich durchaus Ausnahmen von der permanenten Angst finden: Selbst Raub- und Beutetiere leben bisweilen friedlich beieinander. Einzig der Mensch scheint ausnahmslos Angst und Schrecken zu verbreiten – sein Terror ist durchaus kein modernes Phänomen. 201

II. Tierethik

Wer heute die letzten Reservate von Wildtieren beobachtet und einen Blick auf die Wald- und Wiesenflächen im eigenen Umland wirft, der findet sie bewacht von den allgegenwärtigen „Jagdkanzeln“, die wie die Wachtürme von Lagern, Kasernen und Gefängnissen als dämonische Zeichen menschlicher und oftmals spezifisch männlicher Allmachtsfantasien in die Luft ragen. Sie tragen durch den Schrecken, den sie – durchaus nicht nur in der Tierwelt – verbreiten, wesentlich dazu bei, die gegenseitige Angst zu schüren. „Territus terreo“ – schon Augustinus war sich bewusst, dass Angst immer neue Angst schürt und so weiteres Leid bewirkt. Vielleicht mehr noch als die Freiheit von unnötigen Schmerzen ist es die Freiheit von Angst, die das Leid von Tier und Mensch zu mindern vermag. Arglos wie die Tauben Nach Mt 10,16 hat Jesus die Jünger „wie Schafe unter die Wölfe“ gesandt und sie dazu gemahnt, „klug zu sein wie die Schlangen und arglos wie die Tauben“. Gerade mit den Tauben, also durchaus häufigen Beutetieren, muss er ein Bild von Tieren verbunden haben, die angesichts permanenter Bedrohung dennoch arglos scheinen, also frei von Angst vor heimtückischen Angriffen leben können. Auch diese Tierszenerie ist eine (wenngleich kleinformatigere) Version von Jes 11 – ein Tierfrieden, der den Jüngern als Handlungsvorbild anempfohlen wird und ausdrücklich auf die Bedeutung der Angstfreiheit von Menschen und Tieren verweist. Selbst die Klugheit, die in der Nennung mit der Schlange unmittelbar an den menschlichen Wunsch im Paradies erinnert, sein zu wollen wie Gott, kann hier in Verbindung mit der Angstfreiheit gewollt werden; sie kann für Mensch und Tier heilsam sein, wenn sie angstfrei ist und nicht bei der Erkenntnis stehen bleibt, dass der Tod das letzte Wort habe und über das Handeln bestimmen sollte. Womöglich trifft das ebenfalls auf den Riesenalk zu – knapp zehn Jahre nach der Zerstörung des letzten Eis wurde er ein weiteres Mal gesichtet; erst 2011 wurde dieser Bericht als authentisch anerkannt.22 Das Kreuz, so bleibt zu hoffen, scheint der Schöpfung gerade nicht eingezeichnet zu sein. Simone Horstmann

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Der Gott der Tiere

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Mowat, Der Untergang der Arche Noah, 19–117. Bernhart, Die unbeweinte Kreatur, 6. Amor, Das Leid der Tiere. Bernhart, Die unbeweinte Kreatur, 229. Kitagawa, Sinnlosigkeit des Schmerzes, 197. Le Breton, Schmerz, 41. Aaltola, Art. Leid, 220  ff; Dies., Art. Schmerz, 312 ff. Lewis, Über den Schmerz, 133 f. Galert, Vom Schmerz der Tiere. Le Breton, Schmerz, 124. Ebd., 159. Guardini, Welt und Person, 40 f.

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Welker, Schöpfung und Wirklichkeit. Moltmann, Gott in der Schöpfung, 40 f. Pesch, Katholische Dogmatik aus ökumenischer Erfahrung, Bd. 1, 201. Fromm, Die Seele des Menschen, 31– 44, hier: 48. Todorov, Angesichts des Äußersten, 242. Fromm, Die Seele des Menschen, 30. Körner, Bruder Hund und Schwester Katze, 95. Drewermann, Heilende Religion. Soentgen, Im Funktionskreis des Feindes, 24. Hume/Walters, Extinct Birds, 131 ff.

„Furcht und Schrecken …“ (Gen 9,2) Christen und das Töten und Essen von Tieren

Der US-amerikanische Autor Jonathan Safran Foer schreibt 2009 einen ungewöhnlichen Bestseller: Sein Buch Tiere essen wird auch in Deutschland zum Überraschungserfolg und sorgt dafür, dass eine breite Diskussion über Ernährung, über das Töten und Essen von Tieren, über schlimmste Haltungsbedingungen und ökologische Folgen, über das Grauen der Schlachthöfe, die Gier und Ignoranz der Konsumenten auch hierzulande Fahrt aufnimmt. In einem Interview mit der FAZ zieht Foer zudem einen nicht nur tierethisch, sondern auch tiertheologisch interessanten Vergleich: „18 Prozent der amerikanischen Studenten sind Vegetarier. An den Unis gibt es also mehr Vegetarier als Katholiken. Mehr Vegetarier als jedes Hauptfach Studenten hat. Es wird zu einem Umdenken kommen, weil die heutigen Verhältnisse radikal unhaltbar sind. Die Hoffnung ist, dass dieses Umdenken einsetzt, bevor zu viel verloren ist.“1 Mehr Vegetarier als Katholiken – diese Beobachtung ist hier offenbar Anlass zu bescheidener Hoffnung. Was sehr holzschnittartig in der Gegenüberstellung wirken mag, ist gleichwohl bedenkenswert: Es reicht wahrscheinlich schon aus, mit unverstelltem Blick ein Gemeindefest oder katholische Feierlichkeiten zu besuchen und genau hinzuschauen, um der Evidenz dieser Gegenüberstellung ansichtig zu werden  – die Tonnen an Fleisch, die auf Gemeindefesten gedankenlos über die Grills wandern (hinter denen dann meist nur Männer stehen), rituelle Formen wie die sog. „Fleischweihe“, die Kurt Remele vollkommen zu Recht mit einem Wort von Karl Rahner als Ausdruck eines nur noch folkloristisch zu verstehenden „Trachtenvereinskatholizismus“ geißelt2, oder auch die obszöne Finanzierung einer Hildesheimer Sakristei, von der Guido Knörzer erschüttert 204

„Furcht und Schrecken …“ (Gen 9,2)

und erschütternd berichtet: „Ich sehe vor mir einen Zeitungsartikel aus der Kirchenzeitschrift des Bistums Hildesheim mit der Überschrift: ‚Die ‚Gemeindesau‘ hilft beim Sparen für die neue Sakristei‘. Man hat die Sau Auguste ein Jahr lang gemästet, um sie es dann zu schlachten. Der Erlös dieses „Schlachtessens“ soll dem Neubau einer Sakristei dienen.“3 Wie viele „Bastionen“ des Katholischen können demgegenüber fallen – nur das Fleisch lässt man sich nicht nehmen. Der vegetarische Katholik oder die vegetarische Katholikin, so viele es de facto auch geben mag, sind immer noch misstrauisch beäugte Randfiguren, im wahrsten Wortsinne sind sie „U-topisten“: Es gibt bislang keinen realen Raum für sie. Wer binnenkirchlich die Gier nach Fleisch kritisch zur Sprache bringen will, hat das Schwergewicht einer zur Normalität geronnenen Gewohnheit gegen sich, ein solch massives Gravitationszentrum, das alles an sich selbst ausrichtet und jeden Ansatz zu einer Gegenrede zu verschlingen droht. Die Diskussion um das Fleisch trifft alle Beteiligten ins Mark, nicht nur die Fleischesser. Viel, viel mehr wird hier verhandelt als nur eine belanglose Gewohnheit, ohne dass dieses „Mehr“ immer auch als solches erkennbar wäre. Es scheint beinahe, als zeichnete sich ein neuer „Antiochenischer Zwischenfall“ in der Moderne ab: Kann es eine Tisch- und Mahlgemeinschaft von Christinnen und Christen geben, deren Ansichten darüber, was auf den Tischen zu liegen habe, derart auseinander gehen? Schon das Urchristentum hat um die Frage gerungen, was die Voraussetzungen einer friedlichen Mahlgemeinschaft sein sollten: Die jüdischen Reinheitsvorschriften, die insbesondere für Paulus Ausdruck des überkommenen Gesetzes waren, oder ein heidenchristliches „anything goes“? Sind die Fronten tatsächlich so verhärtet, ist es wirklich so unendlich schwer, den eigentlich so viel selbstverständlicheren Vegetarismus (bzw. Veganismus) gegen das scheinbar selbstverständliche Fleisch zur Sprache zu bringen? Umgekehrte Evolution: Vom Fressen und Ausspeien Vielleicht ist es aber auch überraschend leicht! Diesen Eindruck könnte man zumindest gewinnen, wenn man die Unbefangenheit und elegante Einfachheit zur Kenntnis nimmt, mit der etwa in den Heiligenlegenden vom Verzicht auf die Logik des Fleisches, jener Logik des Fressens und Gefressenwerdens, erzählt wird. Vom irischen Bischof Moling (auch: Molyng), der eine intensive Beziehung zu Tieren pflegte, berichtet eine 205

II. Tierethik

Erzählung, dass eines Tages ein Vogel zu ihm geflogen kam, der eine „lebende und schreiende Mücke“ in seinem Schnabel trug. Weiter heißt es: „Vor den Augen des Mannes Gottes verschlang das Vögelchen die Mücke, ein Mäusebussard fasste das Vögelchen, tötete es sogleich und begann es wild zu fressen.“ Was hier passiert, beobachtet nicht nur der Bischof Moling. Wir kennen es alle aus der tagtäglichen Wahrnehmung der Wirklichkeit, die wir meinen, wenn wir von der natürlichen und oft so erbarmungslosen Nahrungskette sprechen. Der Protest der Mücke scheint sich aberwitzigerweise gegen diese Konstante der Natur selbst auszusprechen. In der Erzählung bleibt er nicht ungehört: Der heilige Moling – der an dieser Stelle erstmals als ‚heilig‘ bezeichnet wird – sah „dieses Elend und wurde vom Erbarmen bewegt. Er befahl dem Mäusebussard, dass er das Vögelchen wieder aus seinem Schlund herausgebe. Und der Mäusebussard hörte auf der Stelle die Stimme des Heiligen und warf mit Furcht und Zittern das tote, halb aufgefressene Vögelchen aus seinem Hals auf die Erde. Der heilige Bischof tat sein Zeichen auf den Kadaver des Vogels, der erhob sich lebendig und gesund und von seinem Blut überronnen. Und der Heilige befahl ihm, dass er die Mücke, die er verschlungen hatte, vor ihm ausspeie. Sogleich spie das Vögelchen die Mücke aus, wie ein Stäubchen Unrat aus seinem Bäuchlein. Und der Heilige segnete jenes kleine Untier, und die Mücke erhob sich darauf gesund und flog summend umher. Der Vogel aber flog freudig zwitschernd heim. Der Diener des heiligen Molyng sah das, ging zu den Brüdern und erzählte ihnen diese wunderbaren [Ereignisse], indem er gleichnishaft sagte: ‚Brüder, ich habe eben die Auferstehung von den Toten aus engen Gräbern gesehen.‘“4 Mit spielerischer Leichtigkeit kehrt der Bischof das Gesetz des Fressens und Gefressenwerdens um. Mit einem Mal herrscht nicht mehr das gegenseitige, tödliche Verschlingen, sondern das pure Gegenteil: Die Tiere entsteigen wie selbstverständlich und nur auf den Befehl des Heiligen hin den Mägen ihrer Fressfeinde, den „engen Gräbern“, wie es der Diener Molings ausdrückt: Gerade die Tiere, jene scheinbar reinen Naturwesen, widersprechen der evolutionären Logik, sie fressen nicht mehr auf Gedeih und Verderb, sondern sind Zeichen einer heilsamen Unterbrechung – so wie Daniel von den Löwen verschont und Jona vom Walfisch ausgespien wird, zeigen auch die Tiere des hl. Moling jene andere Möglichkeit auf, die selbst aus Sicht der Heiligenlegende wohl am Tier aufscheinen muss, nicht aber am Freiheitswesen Mensch, der doch freiwillig immer noch allzu gern auf 206

„Furcht und Schrecken …“ (Gen 9,2)

die Einhaltung des unerbittlichen Gesetzes des Fressens und Gefressenwerdens pocht. Hier zeigt sich an den Tieren: Die Evolution ist mit einem Mal und wie selbstverständlich keine todbringende Einbahnstraße mehr. Der (Ab-)Grund der Gründe Nun gehört für viele Lesende wohl eine Menge an naivem Optimismus dazu, um von einer Heiligenlegende Antworten auf die drängende Frage zu erhoffen, ob Christ/inn/en Fleisch essen sollten. Passen Frage und Antwort überhaupt zusammen? Zumindest dies scheint in der Erzählung vom hl. Moling auffällig: All die ethischen Gründe, mit denen heute hantiert wird, um Argumente für oder gegen das Fleischessen auszutauschen, haben hier keinen unmittelbar erkennbaren Platz. Die Wirklichkeit der Moral ist hier überhaupt nicht in Form von mehr oder weniger guten Gründen sichtbar, so wie wir es heute gewohnt sind. Moling reagiert auf die Beobachtung des gegenseitigen Fressens der Tiere untereinander nicht mit einer tiefgründigen tugendethischen Einlassung, einer profunden utilitaristischen Abwägung, nicht mit einem Plädoyer für Tierrechte oder ähnlichen Begründungen. Es heißt ganz schlicht: Er „sah dieses Elend und wurde vom Erbarmen bewegt.“ Das Passiv verstärkt hier noch den Eindruck, dass das ethische Urteil gänzlich unvermittelt, und zudem mit wunderbarer Leichtigkeit eintritt: Sehen und bewegt werden, das unmittelbare Erkennen des Gebotenen hat die Theologie nicht grundlos den paradiesischen Gaben zugerechnet. Die Erzählung ist ein Beispiel dafür, dass das moralische Urteil nicht durch den bloßen Austausch von mehr oder weniger guten Gründen zustande kommt, sondern immer schon einen moralischen Standpunkt voraussetzt – in den Worten der Philosophin und Tierethikerin Ursula Wolf: „[…] die Begründung einer Moralkonzeption kann die Moral nicht aus etwas Nicht-Moralischem herleiten.“5 Der Kontrast zum heutigen ethischen Diskurs über das Fleischessen könnte daran gemessen kaum größer sein. Wir mühen uns mit allerhand ethischen Gründen, die eine präzise Antwort auf die Frage liefern sollen, ob wir Fleisch essen dürfen. Das Problem dabei ist nur: Was würde es ändern, wenn hier sachlich sauber ein Argument für den christlichen Vegetarismus bzw. Veganismus durchexerziert würde? Mein Eindruck ist leider: Es würde nahezu nichts ändern. Nirgendwo sonst lässt sich der moderne Mensch die Kritik an seinem Lebenswandel derart folgenlos unter die 207

II. Tierethik

Nase reiben wie im Diskurs über das Fleischessen. Der bloße Gedanke an einen christlichen Fleischverzicht scheint aus Sicht der meisten Menschen die moralische Messlatte derart hoch anzulegen, dass die allermeisten angesichts der scheinbar so erdrückenden Schwere dieser Forderung nur noch darunter durch zu springen vermögen. Dass gerade in Sachen Fleischverzicht kirchlich wie theologisch immer wieder die Angst vor der moralischen Überforderung der Menschen angeführt wird, wirkt angesichts der Rigidität, mit der andere normative Setzungen verteidigt werden, beinahe schon belustigend. Der Verweis auf die Notwendigkeit guter Gründe zeigt aber vor allem eins: Das Selbstverständnis des modernen Menschen ist nach wie vor das eines vernünftigen, d. h. für gute Gründe ansprechbaren Wesens. Doch die Wirklichkeit zeichnet ein anderes Bild: Gründe scheinen viel zu oft zu jenem Staffage-Material verkommen zu sein, das dann gebraucht wird, wenn es darum geht, die ohnehin feststehende eigene Meinung zu unterfüttern. Gegenüber den eigenen Überzeugungen sind Gründe oftmals ausgesprochen nachträglich, und wohl auch nachrangig; sie kommen ins Spiel, wenn es darum geht, die eingefleischten Überzeugungen im Nachgang kosmetisch zu verschönern. Bis in das eigene Mark reicht ihre Kraft aber in der Regel nicht mehr. Was das in der Praxis und für die Frage des Fleischessens bedeutet, kann man in den Texten von Michael Rosenberger exemplarisch beobachten: Seitenlang finden sich hier überwiegend gründlich recherchierte Fakten rund um den Fleischverzehr: Angefangen mit den sozialen Voraussetzungen (Fleisch als Wohlstandssymbol), über die katatrophischen ökologischen Folgen des exzessiven Fleischkonsums durchschnittlicher (West-) Europäer/innen, dem zunehmenden Treibhauseffekt, der Abholzung der Regenwälder, dem fulminant wachsenden Fleischmarkt der asiatischen Länder, der Bildung von Antibiotika-Resistenzen, bis hin zur unsäglichen, in keine Worte zu fassenden stillen Qual der sog. Nutztiere in ihren viel zu kleinen Mastställen und ihrem billionenfachen leidvollen Tod in den Megaschlachtanlagen der Tierindustrie. Dies alles nimmt man atemlos zur Kenntnis, und liest dann wenige Seiten später gleichwohl, dass sich „eine allgemeine ethische Pflicht zum Vegetarismus nicht begründen lässt“6. Da ist er also wieder, der Foer’sche Gegensatz von Vegetariern und Katholiken. Und wie weit ist dieser devote Kniefall vor den fleischliebenden Mächtigen der Kirche erst recht von jener Unmittelbarkeit des hl. Moling entfernt, der sieht  – und entsprechend handelt. Eine monströse Ethik des 208

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romantisierenden Schächtens und Schlachtens hat sich bei Rosenberger zwischen das Sehen und Handeln geschoben, die archaischen Gefallen an durchschnittenen Kehlen und dem todesängstlichen Blick jener Tiere findet, die bedenkenlos einem solchen, von Rosenberger zudem als „tiergerecht“ verhöhnten Schicksal ausgeliefert werden. Rigoros übergeht er eine weitreichende vegetarische Tradition des Christentums, so dass seine Aufmerksamkeit einzig dem jüdischen „Schächtritual als tierethisch bedeutsame[m] Symbol“7 gilt – hier findet der Leser eine absonderliche Mixtur aus abseitigen, barbarisch anmutenden Vorgaben („Wird ein krankes Tier geschlachtet, muss es nach dem Schlachten zucken, wenn es als koscher gelten soll“8) und einem schützend-technizistischem Vokabular, das die schockierende Deutlichkeit des Tötens zu ummanteln sucht („… die notwendige Schärfe des Schlachtmessers wird als entscheidendes Kriterium festgeschrieben“9). Ein Ethos der Gerechtigkeit, wie Rosenberger es auf diesem fragwürdigen Weg zu etablieren versucht, krankt nicht nur an einem nahezu beliebigen Gerechtigkeitsbegriff, sondern an dem praktischen Problem, dass Fragen der Gerechtigkeit erfahrungsgemäß unbeachtet bleiben, wenn die wirklichen Opfer ihm gegenüber sprach- und wehrlos zurückbleiben. Inmitten einer solchen Containerbegriffsethik überrascht dann doch eine gewisse Nähe zur Legende des hl. Moling: Denn auch Rosenberger scheint zutiefst von der visuellen Wirksamkeit dieser Tötungsszenerie überzeugt zu sein – ein moralisch wirksamer Zusammenhang von Sehen und Handeln, das bedeutet für ihn: „Wenn Biometzger oder ÖkolandwirtInnen mit Direktvermarktung an der Verkaufstheke Bilder von Haltung und Schlachtung aufhängen, oder […] einladen, einmal bei einer Schlachtung zuzuschauen“10 – solche „positiven Bilder“ seien geeignet, ein gemeinsames „Ethos aller Fleisch Essenden“ zu schaffen. Alles ganz natürlich? Die Normalität des Fleischverzehrs Wie kann es sein, dass zwei christliche Stimmen offenbar auf eine vergleichbare Szenerie schauen und doch etwas Grundverschiedenes darin erkennen? Da ist der hl. Moling, der vom Mitleid ergriffen wird und der Logik des Fressens und Gefressenwerdens nicht das letzte Wort überlassen kann (dass dieses Ergriffensein in der schon erwähnten Passivkonstruktion herausgestellt wird, verdeutlicht ja gerade, dass ihn diese Einsicht wie eine Naturgewalt überkommt, die im engeren Sinne keine eigene Entscheidung 209

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ist), und die moraltheologische Sichtweise Michael Rosenbergers, der die Tötung eines Lebewesens als ein „positives Bild“ wahrzunehmen vermag. Es sind Momente wie diese, in denen ich merke, dass ich „von Hause aus“, wie man im akademischen Sprech gern sagt, auch dem Fach der Moraltheologie zugehöre – denn sie erinnert mich gegenüber dem, was Rosenberger hier als so schlichte Auskunft anbietet, an eine wichtige Erkenntnis: Es geht um die Abscheu vor dem Töten, um die tiefe moralische Grundintuition, dass der Tod eines Wesens niemals gewollt sein kann und niemals getan werden soll. Dies ist für mich immer wieder ein neues Erweckungserlebnis klassisch katholischer Moraltheologie, so viel auch gegen die streng kasuistischen, auf die Bewertung von einzelnen Handlungen hin konzentrierten Ausprägungen zu sagen wäre. Zumindest dies eine hält sie in ihrem Kern aber fest umschlossen: die Hochachtung vor dem Leben, und zugleich: die fundamentale Einsicht, dass das Töten niemals und unter keinen Umständen gut zu heißen ist. In den einzelnen, insbesondere auch die Tiere betreffenden kasuistischen Entfaltungen ist auch die offizielle Lehre gleichwohl schnell wieder davon abgewichen, das soll nicht verhehlt werden. Dennoch ist an dem Grundsatz festzuhalten: Es gibt Handlungen, die unter Absehung aller Umstände unbedingt und „in sich“ schlecht zu nennen sind – wo gewinnt dieser Satz mehr Plausibilität als im Angesicht jener Urszene, in der einem Wesen die Kehle durchschnitten wird? Diese Abscheu vor dem Töten ist kein endlos verästeltes ethisches Prinzip, nichts abstrakt Arkanes, sondern etwas vollkommen Alltägliches: Die Erfahrung jener Wirklichkeit, in der wir das Sein der anderen wollen können, und gerade nicht als Bedrohung oder als Mittel zur eigenen Existenzsicherung wahrnehmen. Von diesem Glutkern katholischer Morallehre kann keine christliche Ethik abrücken. Das bedeutet zugleich aber nicht, dass selbst das Töten angesichts verschiedener Umstände nicht als Handlungsoption denkbar wäre: Es ist in der Tat eine, wenngleich furchtbare Möglichkeit. Es ist wahr: Das Leben auf und in dieser Welt kennt unter all seinen Möglichkeiten immer auch die der Tragik. Die natürliche Welt ist immer auch natura lapsa, gefallene Schöpfung, sie ist eben nicht perfekt und lässt sich schon gar nicht restlos in rationale ethische Kalküle überführen, ihre Rechnungen gehen nicht auf. Moralische Konflikte lassen sich, selbst mit dem ausgefeiltesten ethischen Instrumentarium, nicht einfach überschussfrei auflösen. Diese Feinunterscheidung ist wichtig, damit aus der Achtung vor dem Leben keine fundamentalistische Lebensethik wird. 210

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In der Ethik und der ethischen Entscheidungsfindung klingt diese Grundeinsicht an, wenn zugestanden wird: Ein lebendiges Wesen zu töten ist immer etwas Schlechtes. Es kann aber dennoch, im tragischen Ausnahmefall, geboten sein (ohne es dadurch gleichzeitig als richtig zu deklarieren). Der feine Unterschied zwischen dieser tragischen Grundkonstellation, in der sich alles irdische Leben bewegt, und dem, was der Alltagsverstand vieler, insbesondere westeuropäischer Menschen daraus gemacht hat, wurde jedoch verwischt: Die tragische Möglichkeit ist zu einer Normalität geronnen, die gern als natürlich deklariert wird, um mit ihr alles Verschlingen und Vernichten zu legitimieren. Kein tragischer Ausnahmefall rechtfertigt mehr unseren Fleischkonsum, sondern die bisweilen nur fadenscheinig übertünchte Faulheit und Trägheit, der pure Hedonismus als Abgrund der guten Gründe, mit denen er sich notdürftig zu umkleiden sucht. Diese unmerkliche Verschiebung vom tragischen Einzelfall zur vorausgesetzten Normalität des Tötens hat zur Folge, dass sich die ethische Aufgabe, vor der wir heute in der Frage nach dem Fleischverzehr stehen, ebenso unerkannt verändert hat. Wer Michael Rosenbergers Auseinandersetzung mit der Frage nach einem christlichen Vegetarismus verfolgt, gewinnt den Eindruck, dass die Möglichkeit einer solchen Lebensweise gegen die Selbstverständlichkeiten des Fleisches in ersten, sehr zaghaften Ansätzen verteidigt werden soll. Die Quintessenz, die sich auf diesem Weg ergibt, lässt sich dann darin zusammenfassen, dass ein solcher christlicher Vegetarismus zumindest nichts Schlechtes sei. Eine solche Aussage kann nur in eine Gesellschaft hineingesprochen sein, die von der grundsätzlichen Selbstverständlichkeit des Tötens und Essens von Tieren ausgeht  – für mich liest sie sich wie eine halbherzige Verteidigung jenes Quoten-Vegetariers, den Rosenberger vor der gefräßigen Meute schnitzelkauender Karnivoren hervorbringt, die sich vom scheinbar moralinsauren Verhalten des anderen nicht das eigene Essen verderben lassen wollen. Die einzelnen Argumente, die dabei aufkommen, müssen für sich genommen noch nicht einmal verkehrt sein  – aber sie leiden unter dem viel grundsätzlicheren Problem, dass sie die moralische Ausgangslage dieser Diskussion vollständig verkennen: Sie haben sich einnehmen lassen von der Normalität des Tötens, die sie selbst nicht infrage stellen können oder wollen, obgleich eben dies ihre christliche Aufgabe wäre.11 Damit stehen wir vor der aus christlicher Sicht eigentlich zu klärenden Frage: Was ist denn eigentlich rechtfertigungs- und begründungsbedürftig – der Verzicht auf das Töten und Essen von Tieren, oder doch der Kon211

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sum von Fleisch und die Tötung von Lebewesen? Doch wohl Letzteres! Dennoch kann sich jede/r, die oder die heute Zeitschriften und Bücher zum Thema aufschlägt, oft genug vom Gegenteil überzeugen lassen. Immer noch sind Vegetarier und Veganer, besonders in kirchlichen Kreisen und gern auch am gemeinsamen Essenstisch, merkwürdig verdächtig, man erwartet im Mindesten doch eine Erklärung für ihr scheinbar so absonderliches Ernährungsverhalten, das allen anderen „Normalessern“ die Laune verdirbt. Ironischerweise gilt der bedenkenlos verzehrende Omnivore in den Augen vieler Menschen als wesentlich sozialverträglicher als jene Menschen, die Tiere von ihrer Speisekarte gestrichen haben. Dieser soziale Automatismus täuscht aber darüber hinweg, welches Verhalten de facto wesentlich erklärungsbedürftiger wäre: Warum brauchen und wollen Menschen den Tod anderer Wesen – und wer kann im Angesicht eines Tieres wirklich sagen: Ich will, dass Du für mich stirbst? Und langfristig gesehen: Ich will, dass Du nur für mich lebst, dass das Ziel deines Lebens mein Überleben (oder in den allermeisten Fällen: mein kulinarisches Luststreben) ist? Nun sag, wie hältst Du’s mit der Nahrungskette? So kann nur jemand sprechen, dem sich die Logik der „umgekehrten Nahrungskette“ des hl. Moling nicht erschließen will, der auf die unerbittliche Einhaltung der evolutionären Nahrungskette pocht, an deren Ende er sich praktischerweise zugleich wähnt. Diese Logik des Moling ist demgegenüber – nicht grundlos haben wir es schließlich mit einem Heiligen zu tun – die Logik des Paradieses. Man kann theologisch nicht vorschnell der Einsicht enteilen, dass die eigentliche Natur der Schöpfung eine vegetarische/ vegane Natur ist: Getragen ist diese konkret auf die Ernährung hin bezogene Deutung der paradiesischen Wirklichkeit von der Vorstellung eines Lebens, das den Tod der anderen Wesen nicht braucht und nicht will. Der den Fleischverzehr rechtfertigende Gedanke, dass die Vernichtung lebendiger Wesen im Rahmen des Richtigen oder Gebotenen läge, steht dieser schöpfungstheologischen Deutung jener Wirklichkeit entgegen, wie sie ursprünglich gemeint war. Man muss es mit aller Klarheit sagen: Die Weltwirklichkeit und die Natur der Schöpfung, wie sie von Gott gewollt war und ist, arrangiert sich nicht mit dem Töten und Vernichten. Dies gilt ebenso für Gott selbst: Am Anfang des jüdisch-christlichen Denkens steht gerade kein Götterkampf, keine Vernichtung. Dem Mythos von der erlö212

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senden Funktion der Gewalt wird mit der schöpfungstheologischen Lehre von der creatio ex nihilo eine deutliche Absage erteilt: Gott muss nicht zuerst töten, um Leben zu ermöglichen. Die Schilderung einer solchen Wirklichkeit, wie wir sie exemplarisch in der ersten Schöpfungserzählung in Gen 1 vorfinden, rückt diese paradiesische Utopie zugleich ganz nah an die Erfahrungswirklichkeit heran. Unmittelbar dürfte dies für den sechsten Schöpfungstag gelten: „Nachdem alle Lebewesen am fünften Tag einen eigenen Lebensraum erhalten haben, passiert am sechsten Tag etwas Neues: Hier müssen sich zwei Arten von Lebewesen, die Landtiere und die Menschen, einen Lebensraum teilen.“12 Diese dem Menschen vertraute Nähe von Tier und Mensch, die allzu oft in beidseitige Bedrohung mündet, nimmt der Text auf und erlaubt sich dennoch, die Vision eines friedvollen Miteinanders zu zeichnen. Vielleicht nimmt der Text der Schöpfungserzählung bei allem utopischen Gehalt aufgrund dieser Nähe zur realen Erfahrungswirklichkeit auch die vermeintliche Inkonsequenz in Kauf, dass zumindest die Pflanzen zum Verzehr freigegeben werden. Dennoch nennt der Text erstaunlicherweise nur jene Pflanzen, die Samen tragen, sowie Pflanzen mit samenhaltigen Früchten (Gen 1,29) als Speise für den Menschen. Der doppelte Hinweis auf die Pflanzensamen ergibt sich einerseits aus dem Folgevers: Dort werden die „grünen Pflanzen“ den Tieren zur Nahrung übergeben. Vielleicht liegt in der Betonung der Pflanzensamen, der Möglichkeit ihres Fortlebens also, andererseits aber auch der Gedanke verborgen, dass ihr Verzehr nicht endgültig, nicht vollkommen vernichtend sein kann und darf: Eine ausgearbeitete Hoffnungslehre für die Pflanzen steht theologisch wohl noch aus, dieser zu behebende Mangel ist gleichwohl nicht geeignet, das grundsätzliche Plädoyer für eine Wirklichkeit, die ohne den Tod des anderen auskommt, zu übergehen. Nun bedarf es keiner allzu tiefgreifenden Auffassungsgabe, um zu erkennen, dass diese paradiesische Schilderung nicht identisch ist mit jener Welt, in der wir leben. Unsere Natur (das, was wir üblicherweise mit diesem Begriff belegen) ist in theologischer Hinsicht die (unter die Macht der Sünde) gefallene Natur, natura lapsa. Schon diese Gegenüberstellung der paradiesischen Natur und der gefallenen Natur erinnert uns daran, dass wir nicht einfach vereinheitlichend von „der Natur“ sprechen können. Schon gar nicht ist es theologisch angemessen, „die Natur“ zu verherrlichen: Die Ambivalenz in unserer Naturwahrnehmung führt uns doch immer wieder – und wie ich meine: schmerzlich – vor Augen, dass viele Seiten der von 213

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uns wahrgenommenen Natur in der Tat der natura lapsa zuzurechnen sind: Jene Seiten der Wirklichkeit, die von Leid und Tod geprägt sind, die also unter der Macht der Sünde stehen. Externalisierte Gewalt – der Preis des Friedens? Von dieser Verschiebung erzählt auch die Bibel: Das ursprünglich friedliche Verhältnis der Geschöpfe, das zudem streng vegetarisch gedacht war, verändert sich nach dem sog. Sündenfall. Nach der Sintflut wird schließlich das Verbot des Fleischverzehrs in den noachidischen Geboten aufgehoben  – allerdings, wie Kurt Marti anmerkt, mit Worten, „die verraten, dass es sich hier um eine Art Kriegsausbruch handelt“13: Denn in Gen 9,2 f werden die Worte zur Ernährung der Menschen in starker Anlehnung an Gen 1 wiederholt, aber mit der tiefgreifenden Veränderung, dass es nun heißt: „Furcht und Schrecken vor euch soll sich auf alle Tiere der Erde legen, auf alle Vögel des Himmels, auf alles, was sich auf der Erde regt, und auf alle Fische des Meeres; euch sind sie übergeben. Alles Lebendige, das sich regt, soll euch zur Nahrung dienen.“ Arrangiert sich Gott mit dem Schlechten, dem Töten? Ist das Zugeständnis des erlaubten Fleischverzehrs jener Preis, den die Welt zu zahlen hat, um nicht wieder ins Chaos der Sintflut zu stürzen? Was den noachidischen Geboten vorangeht, war schließlich die Erfahrung schier endloser, stetig anwachsender Gewalt. Dass Tiere fortan getötet werden können, soll wohl zur Verminderung von Gewalt führen. Die Gewalt im Inneren der menschlichen Gemeinschaft wurde beherrschbar, indem sie externalisiert und zudem reglementiert wurde. Eine solche „Blitzableiter-Funktion“ hat der französische Religionsphilosoph René Girard beschrieben und darin einen grundsätzlichen Mechanismus moderner wie vormoderner Gesellschaften erkennen wollen.14 Für die Frage nach dem Fleischverzehr weist Girard eine Fährte auf, die das Essen von Tieren unmittelbar mit der Kanalisierung von menschlicher Gewalt in Verbindung bringt. Derartige Deutungen machen sich angreifbar, weil sie mit starken Generalisierungen arbeiten und die Konstanz (oder zumindest anhaltende Wirkmächtigkeit) archaischer Lebens- und Verhaltensformen behaupten. Dennoch sind sie nicht einfach von der Hand zu weisen. Einen vergleichbaren Weg hat Max Horkheimer eingeschlagen, um die Gewaltförmigkeit der Tier-Mensch-Beziehung zu rekonstruieren. Gewalt, 214

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die auf ein scheinbares Außen verlagert wird, in diesem Fall also in die Sphäre der Tiere, deutet Horkheimer in einer Notiz als Identifikations- und zugleich Externalisierungsmechanismus für die eigenen Naturanteile, die den Menschen bisweilen erschrecken. Der „Blutdurst“ der Schafsbauern gegenüber den Wölfen stellt für Horkheimer dar, dass die erschreckende Einsicht, dass die eigene Tendenz zur Gewalt im Inneren nicht einfach überwunden werden kann, auf ein Außen verlagert, aber nur scheinbar besänftigt wird. Der Hass auf den gewalttätigen, räuberischen Wolf ist Horkheimer zufolge dabei aber immer auch Ausdruck dafür, dass „man den eigenen Fraß, dem die Schafe ausschließlich vorbehalten sein sollen, insgeheim als die grauenvolle Praxis empfindet, die sie wirklich ist.“15 Noch pointierter bringt Horkheimer diesen Zusammenhang in seiner Kritik der instrumentellen Vernunft zum Ausdruck: „Das Über-Ich, in seinem eigenen Haus ohnmächtig, wird der Henker in der Gesellschaft.“16 Die Bibel hält das Bewusstsein dafür wach, dass das Fleischessen nicht ohne Weiteres als normal oder gar natürlich gelten kann. Wer die Welt vom Paradies her versteht, nimmt zwar die schmerzliche Diskrepanz zu unserer Realität wahr, kann aber das Sollen nicht übergehen, dessen Anspruch sich mit dem paradiesischen Frieden verbindet. Der Tod und das Töten, die Feindschaft zwischen den Geschöpfen, das alles soll nicht sein. Dieses Sollen, das sich nicht zuletzt gegen das Leiden und Sterben jener Tiere ausspricht, die unsere Gesellschaft zu bloßen Fleischlieferanten degradiert, ist Ausdruck jener Transzendenz, die der jüdische Religionswissenschaftler Steven S. Schwarzschild unmittelbar mit Gott selbst assoziiert hat.17 Diesen Sollensanspruch, das ethische Moment schlechthin, teilt das Christentum mit seinen jüdischen Wurzeln: Das Sollen entspricht deswegen dem Moment der Transzendenz, weil es das bezeichnet, was noch nicht ist, aber sein soll und getan werden soll. Darin liegt auch der Gedanke verborgen, dass ein einfacher Verweis auf die scheinbar so selbstverständliche Natur diesem Sollensanspruch zumindest standhalten muss. Wo das nicht der Fall ist, beruft man sich auf ein Verständnis von Natur, Natürlichkeit, und natürlichen „Nahrungsketten“, das sich weit von seinen jüdisch-christlichen Ursprüngen entfernt hat (dafür aber, für katholische Verhältnisse, erstaunlich kompatibel mit den darwinschen Ansätzen der Evolutionstheorie ist). Der Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff etwa argumentiert für das Recht der Menschen, „die Tiere als Teile der natürlichen Nahrungskette zu betrachten und sich ihrer zu bedienen, um seine eigene Ernährung auf eine schmackhafte, abwechslungsreiche und gesunde Basis zu stellen“.18 Dies ist nur ein 215

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Beispiel dafür, dass selbst eine Ethik des Lebens erstaunlich flexibel über das Lebensrecht anderer Wesen disponieren zu können glaubt. Schnell weicht der Sollensanspruch eines friedlichen Miteinanders den eigentlichen Motiven, die Schockenhoff sehr ehrlich anführt: Kulinarische Vorlieben und der Wunsch nach einem entsprechenden Abwechslungsreichtum auf dem Teller scheinen zu genügen, um ein solches Recht zu begründen. Zwischen Pragmatik und Utopismus: Gibt es einen dritten Weg? Insgesamt scheint die Frage nach dem Fleischkonsum also zwei (Un-)Möglichkeiten offenzulegen: In einer gefallenen Welt scheint das Modell der „umgekehrten Nahrungskette“ des hl. Moling utopisch anzumuten. Wie sollte ein solches Lebensmodell aussehen, dass sich mit den realen Gegebenheiten zu arrangieren hätte? Immer wieder ist der Einwand vernehmbar: Diese Konsequenz ist schlicht und ergreifend nicht lebbar – und beweist nicht letztlich jede/r Vegetarier/in, dass auch er/sie zumindest pflanzliches Leben verzehren muss, um zu überleben? Das zweite Modell, wie es zuvor bei Rosenberger, aber auch bei Schockenhoff angeklungen ist, scheint eine andere Antwort anzubieten: Sie naturalisieren die natura lapsa soweit, dass ein Einspruch gegen die scheinbar so selbstverständliche Logik des gegenseitigen Verschlingens unfassbar naiv erscheinen muss. Unter dieser Prämisse fügt sich selbst der Christ/die Christin in die unerbittliche Logik des Fressens und Gefressenwerdens ein, wenngleich unter dem sittsamen Deckmantel des „spirituellen Schlachtens“. Ist das die Entscheidung, vor der wir in der Fleisch-Frage christlicherseits stehen? Anders als es der Mainstream des heutigen Christentums vermuten lassen würde, schien insbesondere der leichtere Ausweg entlang der zweiten Lösung nicht immer allzu überzeugend zu sein. Insbesondere im Hoch- und Spätmittelalter mit seiner ausgeprägten Frömmigkeitskultur finden wir immer wieder Überlieferungen darüber, dass Menschen (überwiegend wohl Frauen) beinahe gänzlich auf Nahrung zu verzichten suchten: Das schlichte Arrangement mit der Logik der natura lapsa schienen sie nicht eingehen zu wollen. Immer wieder finden sich Berichte von Heiligen, die nahezu nichts aßen oder zumindest vorgaben, keine irdische Nahrung zu sich nehmen zu können. Nan Mellinger berichtet in ihrer beeindruckenden Studie über das Fleisch von diesen Frauen: „Die bekannteste unter 216

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ihnen war Katharina von Siena (1347–1380), von der berichtet wird, dass ihre tägliche Nahrungsration aus einer Hand voll Kräutern bestand und alles, was sie darüber hinaus gezwungenermaßen zu verzehren hatte, durch Erbrechen wieder ausgeschieden wurde. Marie von Dignes und Beatrice von Nazareth mussten sich erbrechen, wenn sie Fleisch nur rochen, beim Anblick von Nahrung schwoll ihnen die Kehle zu. Manche weibliche Heilige verhüllten beim Anblick von Nahrung ihr Gesicht und weigerten sich, an den Mahlzeiten der Familie teilzunehmen – oder verhungerten, wie Columba von Rieti im 15. Jahrhundert, aus freien Stücken. 200 Jahre später, im 17. Jahrhundert, lebte die heilige Veronika, die stets drei Tage am Stück fastete – nur freitags kaute sie in Erinnerung an die fünf Wundmale Christi fünf Orangenkerne. Die Unfähigkeit, etwas anderes als die Abendmahlhostie zu sich zu nehmen, wird während des gesamten Mittelalters überwiegend bei weiblichen Heiligen beobachtet […].“19 Ein dritter Weg ist auch ein solches Lebensmodell wohl nicht, zeugt aber von dem unbedingten Willen, sich mit der Logik des Verzehrens und Vernichtens nicht einfach abzufinden (und wie leicht und beinahe anforderungslos wirkt demgegenüber ein ethischer Vegetarismus!). Derartige Verzichtsmodelle wahren den biblischen Sollensanspruch, um den es nun weiterhin gehen soll. Biblische Weisungen zum Fleischverzehr Das Erkenntnisinteresse, mit dem wir auf biblische Grundlagen blicken, ist keine Steinbruch-Methode, die sich einzig an Einzelversen orientiert. Diese könnte den falschen Eindruck vermitteln, dass die Frage nach einer Ethik des Fleischverzehrs bereits eindeutig beantwortet wäre. Sinnvoller ist es hingegen, die biblischen Texte als Heuristiken zu verstehen, die Deutungsmöglichkeiten für die aktuellen Fragen der Gegenwart eröffnen. Das Alte Testament kennt (ausgehend von der Ordnung der Hebräischen Bibel) die Aufteilung der Einzelschriften in die Abfolge von Tora (Gesetz), Prophetie und Weisheit („TaNaK“).20 Mit diesem Schema lassen sich die biblischen Weisungen zum Fleischverzehr bzw. allgemein zum Umgang mit den Tieren näher einordnen, wenn man diese Auffächerung nicht nur im Sinne dreier literarischer Großgattungen versteht, sondern als Ausdrucks- und Kommunikationsformen des biblischen Wirklichkeitsverständnisses. Die Gebote der Tora stehen für den konkreten und lebenspraktischen Ausdruck der Bundesgemeinschaft zwischen JHWH und dem Volk Israel, 217

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zu dem seit dem Noah-Buch auch die Tiere gezählt werden. Die dortigen vielgestaltigen Normen lassen sich verstehen als „Präsenz einer heilsamen Alternative“21, so Gudula Frieling in ihrer Ethik, die sich dezidiert auf das dreifache Schema der biblischen Weisungen beruft. In der Bundesgemeinschaft zwischen JHWH und Israel zeigen sich die Gesetze als lebendige Tora – auch in den einzelnen Texten zum Verhältnis von Mensch und Tier klingt diese fundamentale ethische Einsicht an, dass dem anderen seine Lebendigkeit zu lassen ist. Ein biblisches Grundethos von Konfliktlösung und konkreter Solidarität zeichnet sich darin ab, in das auch die Tiere (in unterschiedlicher Weise) eingebettet sind. Noch in Lev 17,3 f ist das Töten von Tieren allein um des Fleischverzehrs willen verboten; es gibt unzählige Vorschriften, die im Sinne eines frühen Tierschutzes gedeutet werden können (beispielsweise Ex 23,4 über den Umgang mit den Tieren des Feindes, oder Dtn 5,14 zur Sabbatruhe der Tiere, ebenso die Deutung von [Arbeits-]Tieren als moralischen Akteuren mit eigenen moralischen Pflichten z. B. in Ex 21,28)22, obgleich sie inhaltlich noch nicht an die modernen Formen von Tierrechten heranreichen. Eingebettet sind diese Normen dabei stets in die entscheidende Exodus-Erfahrung: Israel hat Gott als Befreier erlebt, das spiegelt sich im Verständnis der einzelnen Normen. Wer dieses Fundament der Befreiung übergeht, läuft Gefahr, das dichte normative Gefüge der Tora als überreglementierte Gesetzesethik misszuverstehen. Dieser Zusammenhang zeigt sich vor allem an der Begründungslogik der Tora-Normen: Die Begründung der einzelnen Normen besteht gerade nicht darin, dass JHWH Gehorsam verlangt und mit Strafe droht, sondern vielmehr darin, dass durch die Erinnerung an JHWHs Barmherzigkeit und sein Befreiungshandeln eine positive Motivation gegeben ist, um ebenso befreiend und barmherzig an den Mitmenschen, den Schwachen und eben auch den Tieren sowie der gesamten Schöpfung zu handeln. Damit wird zugleich die übliche Begründungsrelation, wie wir sie in der Moderne gewohnt sind, auf den Kopf gestellt: Der Mensch MUSS nicht mehr so oder so handeln, weil Gott es will, sondern er KANN so oder so handeln, weil Gott ihn dazu freiheitlich befähigt hat. In dieser Hinsicht kann es eine moralische Überforderung kaum geben (zumindest sollte eine solche Behauptung nicht vorschnell aufgestellt werden).23 In diesem Sinne erscheint der moralische Gehalt der Tora-Normen auch als ein sich entwickelnder persönlicher Entdeckungszusammenhang plausibel zu sein, der den/die Einzelne/n immer wieder mit der Frage konfrontiert, warum ein scheinbar herausfordernder moralischer Anspruch nicht doch einlösbar sein sollte. 218

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Die prophetische Kritik am Fleischverzehr ist die wohl stimmgewaltigste der gesamten Bibel. Sie kündet vom Untergang ebenso wie vom Anbruch einer neuen Natur. Die Kritik verbindet sich überwiegend mit der Verurteilung der Tieropferpraxis, so beispielhaft in Jes 1,13 ff: „Bringt mir nicht länger sinnlose Gaben, Rauchopfer, die mir ein Gräuel sind. Neumond und Sabbat und Festversammlung – Frevel und Feste – ertrage ich nicht. Eure Neumondfeste und Feiertage sind mir in der Seele verhasst, sie sind mir zur Last geworden, ich bin es müde, sie zu ertragen. Wenn ihr eure Hände ausbreitet, verhülle ich meine Augen vor euch. Wenn ihr auch noch so viel betet, ich höre es nicht. Eure Hände sind voller Blut.“ Dieser deutlichen Ansage steht die Realität einer „Priesterschaft von Schlächtern und einer Kundschaft von Fleischessern“24 vor Augen. Jesaja gilt oft als Lieblingsprophet Jesu, wohl auch, weil sich bei ihm in aller Klarheit eine neue Sicht auf eine gewaltfreie Wirklichkeit erhaschen lässt, die zugleich aber bitterste Kritik der bestehenden Verhältnisse fordert. Tritojesaja stellt zudem einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Gewalt an Tieren und an Menschen her: „Man opfert Rinder  – und erschlägt Menschen; man opfert Schafe  – und erwürgt Hunde; man bringt Speiseopfer dar  – und auch Schweineblut; man spendet Weihrauch – und preist einen Götzen.“ (Jes 66,3) Die Bundestheologie der Tora findet ein Echo beim Propheten Hosea, der diesen Bund jedoch auf die Beziehung von Gott und den Tieren konzentriert (Hos 2,20 ff ). Der Mensch, dessen zügellose Gewalt die Erde überzieht, hat hier keinen Platz mehr. Die prophetischen Mahnworte verbinden sich dabei zumeist mit der Vision jener neuen, gewaltfreien Wirklichkeit im Miteinander von Mensch und Tier, wie sie an prominentester Stelle wohl Jes 11 zeichnet: „Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter, das Kind streckt seine Hand in die Höhle der Schlange. Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg.“ (Jes 11,6–9a) Die weisheitlichen Texte der Bibel zeugen von dem beständigen und zumeist optimistischen Bemühen, den Menschen und seine Gottesbeziehung in einem umfassenden, die gesamte Lebenswelt mit einbeziehenden Sinn zu verstehen und ordnend zu erfassen – sie leisten, mit den Worten Gudula Frielings, eine Form der innerbiblischen „Vernunftkritik“25. Keine abstrakt begründende Vernunft ist hier am Werk, sondern vor allem eine 219

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empathische Urteilsfähigkeit (man denkt sogleich an das empathische, unmittelbare Bewegtwerden des hl. Moling). Im Hinblick auf das Verhältnis von Mensch und Tier erwächst diese Form der empathischen Wirklichkeitsdeutung nicht zuletzt aus den weisheitlichen Versen, die an exponiertester Stelle wohl bei Kohelet auf das gemeinsame Schicksal von Mensch und Tier verweisen: „Denn jeder Mensch unterliegt dem Geschick und auch die Tiere unterliegen dem Geschick. Sie haben ein und dasselbe Geschick. Wie diese sterben, so sterben jene. Beide haben ein und denselben Atem. Einen Vorteil des Menschen gegenüber dem Tier gibt es da nicht. Beide sind Windhauch. Beide gehen an ein und denselben Ort. Beide sind aus Staub entstanden, beide kehren zum Staub zurück. Wer weiß, ob der Atem der einzelnen Menschen wirklich nach oben steigt, während der Atem der Tiere ins Erdreich hinabsinkt?“ (Koh 3,19 ff ) Und im Buch der Sprüche wird immer wieder darauf verwiesen, dass die Haltung des Menschen gegenüber den Tieren Indikator ihrer Frömmigkeit ist: „Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs; aber das Herz der Gottlosen ist unbarmherzig.“ (Spr 12,10) Beide Ansichten kommen in einem entscheidenden Punkt überein, denn sie behaupten in je unterschiedlicher Weise: Am Anderen, am Tier, offenbart sich etwas über den Menschen – es gibt eine geschöpfliche Permeabilität, die die moderne Trennung von Mensch und Tier in dieser Form noch nicht kennt.26 In diesem Sinne bewahrheitet sich am weisheitlichen Mensch-Tier-Verhältnis erstaunlicherweise gerade die theologische Krise der Weisheitsliteratur, nämlich der Plausibilitätsverlust des sog. Tun-Ergehen-Zusammenhangs in der (nach-)exilischen Zeit – er wirft neues Licht auf das Verhältnis von Mensch und Tier, wenn er gar nicht so sehr moralisch gedeutet wird, wie es bislang meist getan und dann zu Recht kritisiert wurde, sondern wenn er demgegenüber als Aussage über die Wirklichkeit und ihre Ordnung aufgefasst wird. So gesehen besagt der Tun-Ergehen-Zusammenhang dann letztlich: Das, was der Mensch den Tieren bzw. allgemein den anderen Wesen (an-)tut, tut er sich zugleich immer auch selbst an. Sobald der stark temporale/konsequentialistische Index in dieser Aussage entfällt, stellt sie sich in neuem Licht dar. So widerspricht der Tun-Ergehen-Zusammenhang auch der Logik der noachidischen Gebote – denn das scheinbar externalisierte Handeln an den Tieren ist stets auch eine Handlung am Subjekt selbst, es kann mithin keinen wahren Frieden geben, solange Menschen Tiere töten und essen. Auch uns ist diese Einsicht bei näherem Hinsehen gar nicht so fremd: Unsere westeuropäische Gesellschaft ist schließlich re220

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flexartig dazu bereit, etwa eine Verbindung von Gewalt in Videospielen mit faktisch ausgeübter Gewalt oder Gewaltbereitschaft anzunehmen; wir schließen vom bloßen Konsum gewalthaltiger Filme, die Menschen sich selbst antun, auf die Folgen für das zwischenmenschliche Handeln. Was aber die Wenigsten bislang durchdacht haben, sind die Auswirkungen des Tötens und Essens von Tieren auf den so handelnden Menschen. Ist nicht jede Tiertötung zumindest in Teilen auch eine Selbsttötung, zumindest doch verbunden mit der psychischen Notwendigkeit, sich von diesem Geschehen innerlich so abzuschotten, dass man sich einreden kann, demgegenüber gleichgültig zu sein? Die Teilnahmslosigkeit, die wir heute im Umgang mit dem Töten von Tieren allenthalben beobachten können, ist nicht nur Voraussetzung, sondern immer auch unmittelbare Folge des Tötens. Die Weisheitsliteratur ist ein Protest gegen diese grundfalsche Auffassung, die im Angesicht der getöteten Tiere fälschlicherweise behauptet: Das hat nichts mit mir zu tun. Dieser biblische Rahmen bietet eine Heuristik zur angemessenen Deutung eines christlichen Vegetarismus: Als prophetisches Zeichen ist der Verzicht auf das Fleisch von Tieren lebbar und realisierbar, als Vorzeichen des anbrechenden Gottesreiches (das ist gesagt gegen die viel zu oft und zu voreilig geäußerten Vorwurf, dass ein Fleischverzicht überfordernd oder gar utopisch wäre). Als Norm bleibt er daran gebunden, dass er die befreiende, lebendigmachende Wirkung der Tora-Gebote zu transportieren und einsichtig zu machen hat. Seine weisheitliche Plausibilität gewinnt er schließlich aus der Wirklichkeit des geteilten Lebens, der Unmöglichkeit, das Schicksal der Geschöpfe grundsätzlich auseinanderzudividieren. Von hier aus bleibt schließlich noch zu klären: Wie wird dieses Ethos mit der jesuanischen Botschaft verknüpft? „Nehmt und esst“ – Der Umgang Jesu Christi mit dem Fleisch Die wildesten Spekulationen ranken sich dabei seit jeher um das Zentrum des jesuanischen Umgangs mit dem Fleisch: „Nehmt und esst; das ist mein Leib“ (Mt 26,26) – man kann einen Großteil der Theologiegeschichte als Verstehen bei allzu oft stets größerem Missverstehen dieser sog. Einsetzungsworte Jesu Christi auffassen. Das Sakrament der Eucharistie, das sie begründen, ist strukturell womöglich das schwierigste: Wie sind diese Wor221

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te zu verstehen, huldigen sie etwa einem latenten Kannibalismus? Oder stehen sie ungebrochen in der Tradition jener archaisch-antiken Vorstellung des zerstückelten und gegessenen Gottes, wie sie der polnische Literaturwissenschaftler Jan Kott in seinem Buch Gott-Essen rekonstruiert27  – eine Zerstückelung, wie sie prototypisch am griechischen Gott Dionysos sichtbar wird, dessen Tod in seiner rituellen Wiederholung Stück für Stück, Bissen für Bissen, den Zusammenhalt der mahlhaltenden menschlichen Gesellschaft erneuert? Offensichtlich stehen die Worte Jesu zumindest in einem ambivalent changierenden Zusammenhang mit der einverleibenden Grundlogik, die wir zuvor schon angesprochen haben. Bestätigt das biblische Zeugnis etwa diesen fatalen Kreislauf der verzehrenden Vernichtung, die allem Leben zuzugehören scheint, bringt es das gemeinschaftliche Leben in eine notwendige Verbindung zu einer Symbolik, die immer auch den Tod bedeutet? Der Salzburger Dogmatiker Gottfried Bachl betont bewusst diese unmittelbare Nähe der Eucharistie zum „natürlichen“ Zusammenhang von Verzehr und Vernichtung  – um von dort her aber gerade auf das Neue hinzuweisen, das christlicherseits gegen diese Logik zu sagen und zu erfahren ist.28 Der Magen, so stellt Bachl fest, ist ganz offenbar das erbarmungsloseste und zugleich das trennendste Organ im menschlichen Leib. Alle anderen Sinneseindrücke können wir teilen  – etwa das hören, was auch andere hören, das sehen, was andere erblicken – aber niemals können wir das essen und schmecken, was andere verzehren. Insofern täuscht jede Tischgemeinschaft womöglich über diese Individuierungsleistung des Essens hinweg: Ich oder der andere, das scheint die Grundlogik des Verzehrens zu sein. Da überrascht es dann auch nicht, dass „Allmacht und Ewigkeit, die Kennzeichen des alles überbietenden, königlich göttlichen Seins des ägyptischen Gottkönigs, vom Verschlingen her definiert [werden]. Der König ist in Bezug zu allen anderen Schlund und Bauch, daher kommt seine Omnipotenz und daran ist seine Dauer begründet. Niemand, weder ein Gott noch ein Mensch, hat ihm gegenüber Stand und Leben. Er nimmt und verdaut alle, und alle haben das Schicksal, seine Nahrung zu sein“29. Dieser Zusammenhang von Machtausübung und Fleisch zeigt sich vom Menschenopfer bis hin zum heutigen Fleischverzehr, wie es auch die Studie von Mellinger bestätigt: „Im Verzehr von Menschenfleisch dokumentiert sich die Macht über Leben und Tod, die Bestätigung des eigenen Lebens, der eigenen Position, durch den Tod eines anderen Menschen in eindeutiger und nicht überbietbarer Weise.“30 Der Erweis fundamentals222

„Furcht und Schrecken …“ (Gen 9,2)

ter, unverbrüchlicher Macht, aber auch Hoffnung bindet sich an diese fleischliche Logik – paradoxerweise ist gerade das Motiv des zerstückelten Selbstopfers der antiken Götterfiguren (Dionysos, Osiris, Odin, u. v. m.) stets verbunden mit dem „Versprechen des Heils, d. h. des Endes der blutigen, zerrissenen und zerstückelten Körper […], das über eine Stufenleiter der Sublimination eingelöst werden soll: Statt der menschlichen Körper die Tiere, dann die Pflanzen, dann seelische Anstrengungen […].“31 Die unüberwindbare Paradoxie „lag in der Kontinuität des Lebens, die gerade mittels absichtsvoller Diskontinuität erreicht wurde: Selbsterhaltung durch wiederholte Selbstvernichtung, im Schattenwurf allerdings einer kaum noch begreifbaren Schuld […].“32 Der Philosoph Dietmar Kamper betont aber auch: Diese Selbstopfer-Typologie bleibt stets mit der unheilvollen Drohung des Widerrufs im Falle des Vergessens, der Abkehr vom Ritus behaftet. Schon von daher geht die Parallelisierung mit Jesus Christus nicht auf: „Sein Leib ist nicht zerrissen, sondern nur geschunden und gekreuzigt worden und schließlich als verklärter zum Himmel aufgefahren. Er ist dem archaischen Schrecken gleichsam schon entkommen […] und hat damit das Versprechen hinterlassen, dass die Macht der BlutopferRealität zu Ende ist.“33 Auch Bachls Beobachtung zur Eucharistie weist in diese Richtung, er kontrastiert das Bild des zur Selbsterhaltung verzehrten Körpers mit der Beobachtung, dass sich in der christlichen Trinitätslehre erstaunlicherweise keine ausgearbeitete Mahl-Symbolik findet: „Es gibt keine Erzählungen dieser Art, auch in der christlichen Lehre von der Trinität findet sich kein Gleichnis vom gemeinsamen Essen, in dem sich drei Personen gegenseitig nähren würden. Wohl aber ist vom Atem, Zeugen und gezeugt werden die Rede. Die Weise der Selbsterhaltung Gottes wird in abstrakten Formen gesagt, als Allmacht, Ewigkeit, unbegrenzte Fülle.“34 Das Christentum durchzieht so gesehen eine mal mehr, mal weniger unbewusste und subtile Erschütterungserfahrung gegenüber dem scheinbar Selbstverständlichen, dem beständigen und so normalen Verzehren und Vernichten, die zunächst noch untergründige Ahnung, dass der schreckliche Selbsterhalt auf Kosten anderer auch durch keine gemeinschaftsbildende Mahlerfahrung zu übertünchen ist. Und so sehr die Eucharistie anfänglich auch als Fortführung der Logik des Verzehrs aufgefasst werden kann, um wie viel deutlicher zeigen sich in ihr nicht erst recht die Brüche dieser Logik. Als Zeichen interpretiert die Eucharistie, wie Jesus sich in jene Welt des Verzehrens und Fressens begibt: „Die Befreiungsaktion des Messias setzt 223

II. Tierethik

an im Bannkreis der Eingeweide, die alles auflösen. Das Symbol ist daher nicht in geradliniger Verwendung brauchbar, als bliebe diese Wirkweise unberührt über die verändernde Gnade hinweg in Gang. Schon in der frühen und mittelalterlichen Überlieferung gab es dazu den Gedanken, dass sich die logische Figur umdreht. Nur gebrochen ist das Zeichen brauchbar.“35 Das heißt vor allem: Die Verwandlung in der Eucharistie verläuft gewissermaßen asymmetrisch, denn das Ziel dieses Mahls ist nicht mehr die vernichtende Einverleibung, sondern funktioniert mit Bachls trefflicher Metapher wie eine „Schubumkehr“: Jesus reiht sich scheinbar bedingungslos in die Objekte des Appetits ein, zieht allen Hunger und Durst auf sich: „Aber wer nach ihm langt, wer ihn nimmt, um ihn zu verzehren, berührt den nicht Verzehrbaren, wer ihn schluckt, um ihn zu verdauen, öffnet sich dem Unverdaulichen, wer ihn im eigenen Leib verwenden will, dem begegnet eine öffnende Macht, die sich nicht umgreifen lässt.“36 Dieses Aufbrechen einer neuen Wirklichkeit ist für Bachl Ausdruck jener messianischen Schubumkehr, die die Logik des verzehrenden Lebens aufnimmt und sie in der ihr eigenen Dynamik mit neuer Richtung in die Freiheit lenkt. Das ist gerade kein abrupter Abbruch des scheinbar Natürlichen, sondern immer schon sichtbar: In all jenen paradoxen Erfahrungen des nicht Verzehrbaren, des Unverdaulichen, all dessen, was sich nicht restlos hat aneignen lassen: der Widerspruch gegen die Logik des vernichtenden Konsums. Davon können Christinnen und Christen jederzeit schon prophetisch Zeugnis geben. Simone Horstmann Anmerkungen 1 2 3 4 5 6

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Adorján, Schluss mit Schnitzeljagd. Remele, Gedankenlose Völlerei, 38. Knörzer, Fressen und töten?, 19. Plummer, Vitae Santorum Hiberniae, 200. Wolf, Ethik der Mensch-Tier-Beziehung, 21. Rosenberger, Im Brot der Erde den Himmel schmecken, 320; inhaltlich ähnlich ders., Wie viel Tier darf ’s sein? Rosenberger, Im Brot der Erde den Himmel schmecken, 313. Ebd., 314.

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Ebd., 314. Ebd., 320. Aus diesem Grund verfolgt beispielsweise auch der kulturwissenschaftliche Ansatz von Melanie Joy eine wichtige Fährte: Joy spricht vom „Karnismus“ als einem System aus gelernten und einnormalisierten Überzeugungen, die sich zur dominanten Ideologie der modernen Gesellschaften entwickelt hat. Vgl. Joy, Warum wir Hunde lieben. Marti, Schöpfungsglaube, 63. Ebd., 35.

„Furcht und Schrecken …“ (Gen 9,2) 14 15 16 17 18 19 20

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Girard, Das Heilige und die Gewalt. Horkheimer, Notiz zum „Wesen des Menschen“, 220. Horkheimer, Kritik der instrumentellen Vernunft, 129. Vgl. Schwarzschild, The Unnatural Jew, 347–362. Schockenhoff, Ethik des Lebens, 596. Mellinger, Fleisch, 153. Da der Aufbau des (christlichen) ATs im Osten durch die Septuaginta, im Wesen durch die Vulgata bestimmt wurde (die ihrerseits wiederum von der Septuaginta und der Hebräischen Bibel bestimmt ist), ist die Reihenfolge der Schriften zu Anfang noch nicht fest; hinzukommen theologische Fragen um die Hierarchie der drei Bestandteile, ebenso wie innerbiblische Unklarheiten  – Lk 24,44 erwähnt etwa die Trias von „Gesetz und Propheten und Psalmen“, ebenso findet sich häufiger das Dual von „Gesetz und Propheten“. Zur Vertiefung dieser Schematisierung vgl. Söding, Einheit der Heiligen Schrift?. Frieling, Christliche Ethik oder Ethik für Christen?, 449 ff. Vgl. detaillierter dazu: Schroer, „Du sollst dem Rind beim Dreschen das Maul nicht zubinden“, 38–56.

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Vgl. Ernst, Grundfragen christlicher Ethik, 59–69. Hille, Die Tiere und Jesus, 64. Frieling, Christliche Ethik oder Ethik für Christen?, 528  ff.; sie bezieht sich dabei neben Jon Sobrino vor allem auf Taxacher, Apokalypse ist jetzt, 174. Klaas Huizing, dessen 2016 erschienene Ethik dezidiert weisheitlich verankert ist (den Tun-Ergehen-Zusammenhang aber dennoch kritisch einordnet), deutet auch den Parallelismus membrorum als die „wichtigste, erkenntnisbindende Form der Weisheitsliteratur“, die auf die Verschränkung von sich entsprechenden, aber auch widersprechenden Aussageteilen verweist. Vgl. Huizing, Scham und Ehre, 126. Vgl. Kott, Gott-Essen. Bachl, Eucharistie. Ebd., 47. Mellinger, Fleisch, 56. Kamper, Das Phantasma vom ganzen und vom zerstückelten Körper, 134. Ebd., 127. Ebd., 134. Bachl, Eucharistie, 24. Ebd., 119. Ebd., 125.

Die Mücken des Makarios Meditation über das Ungeziefer

Als grosser Bruder einer kleinen Schwester musste ich in meiner Kindheit manchmal den Helden spielen. Meine Schwester hatte große Angst vor Spinnen und vor Fliegetieren wie Schnaken und Mücken. Wenn sich welche in ihrem Zimmer fanden, verließ sie es sofort und beauftrage mich mit der Beseitigung. Ich selbst hatte auch Angst vor Spinnen, aber nicht so große, und wie alle großen Brüder kleinerer Schwestern gab ich das auch nicht zu. Ich ging also auf die Jagd und erschlug den Gegner meist mit einer größeren Waffe (weil man dabei auf Distanz bleiben kann). Manchmal aber waren die furchtbaren Tiere auch verschwunden, hatten sich versteckt oder waren so klein, dass ich sie nicht wiederfand. Dann kam es vor, dass ich behauptete, ich hätte sie aus dem Fenster geworfen, nur um meine Ruhe zu haben. Doch meine Schwester durchschaute das schnell und konterte meine Ausflüchte mit einem Satz, der in die Familienüberlieferung eingegangen ist: „Ich will die Leiche sehen!“ Viel später fand ich mich als Vater kleiner Kinder in einer ganz ähnlichen Rolle wieder. Nun versuchte ich Spinnen möglichst lebend zu beseitigen. Bei Mücken ist das allerdings kaum möglich, und so wurden sie – insbesondere bei Ferienreisen in den Süden – weiterhin erschlagen oder gar chemisch bekämpft. Schließlich ist dieser Gegner ja unangenehm und bei Allergien oder durch Krankheitsübertragung auch gefährlich. Doch als Held fühle ich mich bei dieser Tätigkeit nicht mehr. Makarios gegen Bernhard Der Umgang von Helden des Glaubens, von Heiligen, mit dem Ungeziefer fällt in der christlichen Überlieferung recht unterschiedlich, mitunter ge226

Die Mücken des Makarios

gensätzlich aus. Von Bernhard von Clairvaux wird in der Legenda Aurea diese kleine Anekdote überliefert: „Als ein Kloster, das der Gottesmann gebaut hatte, von einem unglaublichen Schwarm von Mücken heimgesucht wurde, so dass alle schwer darunter litten, sagte er: ‚Ich exkommuniziere sie.‘ Am nächsten Morgen fand man sie allesamt tot.“1

Ich gestehe, dass ich diese Geschichte typisch finde für die unsympathischen Seiten dieses Heiligen: für seine Hetze gegen intellektuelle Abweichler wie Peter Abaelard, für seine fanatische Kreuzzugspredigt2 und seinen asketischen Rigorismus. Bezeichnenderweise werden die Mücken hier ja behandelt, als seien sie Mitglieder der Kirche. Aber wenn Bernhard sie ausschließt, kommt dies einem Bannfluch, einer Todesstrafe gleich. Ob man in dieser Erzählung auch ein ironisches Augenzwinkern mithören darf? Jedenfalls findet sich in derselben Überlieferung an ganz anderer Stelle eine Art Gegengeschichte. Berichtet wird sie ausgerechnet von einem ebenso rigorosen Asketen, von dem Wüstenvater Abbas Makarios, in der lateinischen Überlieferung Makarius: „Als Makarius eine Schnake, die ihn in die Hand gestochen hatte, tötete und das Blut aus ihr herausspritzte, tadelte er sich, dass er sein eigenes Unrecht (an ihr) gerächt habe, blieb sechs Monate nackt in der Wüste und kam, von Hornissen völlig zerstochen, von da zurück.“3

Hier wird die Schnake als vollwertiges Mitgeschöpf angesehen, und der Heilige schaut genau hin: Er sieht das spritzende Blut, das Leiden der Kreatur. Sein Verhalten gegenüber dem Ungeziefer stellt Makarius – für unser Empfinden sicher völlig überzogen – als verbotene Rache auf eine Stufe mit einer Reaktion auf einen gleichgestellten Feind. Makarius verhält sich der Schnake gegenüber gemäß der Bergpredigt, und als Wüstenasket geht er flugs auch noch darüber hinaus und hält zur Buße weit mehr als die andere Wange hin, indem er sich anderen strafenden Insekten aussetzt. Die Geschichte der Legenda Aurea geht auf eine Erzählung aus der antiken Historia Lausiaca des Palladius von Helenopolis zurück, der Überlieferungen der Wüstenväter nacherzählt hat. In dieser ursprünglicheren Version sind es keine Hornissen, die Makarius bestrafen, sondern viel passender wiederum Mücken, die nur mit Hornissen verglichen werden (wodurch wohl später die Verwechslung geschah): 227

II. Tierethik

„Er gab seinen Leib ungeschützt den Mücken und Schnaken preis, wie sie an solchen Orten in großen Mengen sind und sie so grausam die Leiber auch der wilden Tiere zerstechen, dass sie, zornigen Hornissen gleich, sogar die Haut der Wildschweine durchbohren und deren Fleisch jämmerlich zurichten.“4

Hier erscheint die Selbstbestrafung noch drastischer, wird doch die schreckliche Natur dieses Ungeziefers für Tiere und Menschen deutlich hervorgehoben. Geht man noch weiter zurück, so findet sich in den Apophtegmata Patrum, den wohl ursprünglichsten – zunächst mündlich überlieferten – Sprüchen und Geschichten der Wüstenväter eine weitere Version der Geschichte. Und hier erscheint sie in einem weiteren spirituellen Kontext, der sie wie eine direkte Entgegnung auf die (viel spätere) Geschichte des Bernhard von Clairvaux erscheinen lässt. Dort hat der (nun griechisch genannte) Abbas Makarios nämlich zuvor zwei Brüder, die sich irgendwie schwer verfehlt hatten, aus der Einsiedlergemeinschaft ausgeschlossen, also sozusagen exkommuniziert. Ein anderer Abbas Makarios, der Große genannt, tadelt dies und schließt seinerseits zur Strafe den ersten Makarios („der Städter“ genannt) aus. Es geht hier also um einen Konflikt um Strenge oder Barmherzigkeit in der Mönchsgesellschaft. Die Geschichte plädiert eindeutig für die Barmherzigkeit und gegen das Exkommunizieren. Denn als nun Makarios der Städter von dem Urteil des Großen über ihn hört, bereut er und flieht an einen See. Und dort, in der Nähe des Wassers, ereilt ihn die Strafe: „Abbas Makarios, der Große, ging nun hinaus und fand ihn zerstochen von den Mücken.“5 Es folgen Buße und Versöhnung. Wenn diese Geschichte der Ursprung der späteren Versionen sein sollte, dann hat sich Makarios eigentlich nicht gegen eine Mücke versündigt und sich auch nicht freiwillig den Mücken ausgesetzt. Vielmehr hat er gegen Brüder gesündigt, indem er sie verurteilte, und als er vor den Folgen flieht, ereilen ihn zur Strafe die Mücken. In diesem Licht erscheinen die späteren Mückengeschichten wie Fabeln, wie Gleichnisse über den barmherzigen Umgang miteinander. Und dann darf man die MückenGeschichte des Bernhard erst Recht als ein ironisches Gleichnis über seinen unbarmherzigen Umgang mit Gegnern lesen. Der Erzählstrang solcher Parabeln führt weiter bis zu Franz Kafkas berühmter Erzählung „Die Verwandlung“. Jemanden ächten, jemanden ausschließen, bedeutet, ihn unter das Ungeziefer zu rechnen. So wird Gregor Samsa tatsächlich zum 228

Die Mücken des Makarios

Ungeheuer, zum Rieseninsekt seiner Familie. Und es ist ausgerechnet die geliebte, ihn noch lange umsorgende Schwester, die schließlich den eindeutigen Bannfluch ausspricht: „Ich will vor diesem Untier nicht den Namen meines Bruders aussprechen.“6 Geschöpfe, die es nicht geben sollte? Und doch geht es in den Mücken-Geschichten um mehr als um Gleichnisse. Es geht – wie stets im Umgang mit echten Feinden – um die Frage, ob es Geschöpfe geben kann, die es eigentlich nicht geben sollte – die man also verneinen und vernichten kann. Wir reden vom Ungeziefer. Das ist eine dieser Wortbildungen, die es nur in der Verneinung gibt. Wir kennen Ungeheuer, aber keine Geheuer; selbst adverbial sagen wir nur, dass uns etwas „nicht geheuer“ vorkommt. Gibt es Geziefer? Es gibt ja auch Tiere und „Untiere“7. Sind letztere negative Tiere, böse Tiere, Tiere, die eigentlich nicht sein sollten? Faktisch, also in der Praxis denken wir so. Selbst der radikale Ökologe und Ameisenforscher Edward O. Wilson, der fordert, die Hälfte der Fläche unseres Planeten unter Naturschutz zu stellen, und beklagt, dass die Wirbellosen in unserem Alltagsbewusstsein „reduziert auf ‚Getier‘ und ‚Ungeziefer“ seien8, denkt anthropozentrisch genug, um sich bestimmte Arten wegzuwünschen  – wobei er den menschlichen Wunsch allerdings vorschnell mit dem einer personifizierten Natur identifiziert: „Die Biosphäre würde den Stechmücken der afrikanischen Gattung Anopheles gambiae keine Träne nachweinen“. Wilson hätte auch nichts „gegen die Ausrottung des afrikanischen Medinawurms einzuwenden“.9 Die Mücke überträgt bekanntlich Malaria (so dass, nebenbei bemerkt, eigentlich der Malaria-Virus und nicht seine Überträgerin der Feind sein müsste – doch der wäre noch schwerer zu treffen). „Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation tötet Malaria jedes Jahr 1,5 Millionen Menschen.“10 Der Medinawurm lässt seine Larven in Geschwüren an menschlichen Füßen und Beinen aufwachsen. Wilson schätzt insgesamt „die Zahl der Arten, deren Ausrottung oder Unschädlichmachung in Flüssigstickstoff wünschenswert wäre, auf weniger als tausend“11. Wer wollte, angesichts des menschlichen Leids, das sie auslösen, hygienischen Vernichtungsfeldzügen etwa der WHO gegenüber ausgewählten Kandidaten unter diesen Tausend ernsthaft widersprechen? Doch den 229

II. Tierethik

Theologen stellt dies vor noch größere Probleme als den leidenschaftlichen Artenschützer, der hier eine Ausnahme macht. Er denkt nicht nur an die furchtbare Geschichte der Übertragung dieser hygienischen Vernichtungsfeldzüge auf Menschen, wenn aus Juden oder Zigeunern Flöhe und Parasiten wurden12 – eine Semantik des Rassismus, die keineswegs ausgestorben ist. Er denkt auch daran, dass jede Identifikation „lebensunwerten Lebens“ unser Zutrauen in die Schöpfungswirklichkeit untergräbt. Arten auf eine Liste der Vernichtung zu setzen – was mehr ist, als sie dort zu bekämpfen, wo sie uns bedrohen – kündigt die Einwilligung in die Schöpfung auf. Exkurs: Schreckliche Zoologie bei Reinhold Schneider Aber ist Glaube stets gleichzusetzen mit völliger Einwilligung in die Schöpfung? Wie verständlich hier der Zweifel angesichts der realen Schrecken der Natur ist, kann man in Reinhold Schneiders düsterem Spätwerk Winter in Wien nachlesen. Eigentlich, also in erster Linie, über seine weitesten Strecken ist dieses Tagebuch ein kulturpessimistischer Abgesang auf das christliche Abendland. In einer uns heute (mir jedenfalls) recht fremden Mystifikation der Habsburger Geschichte als einer Art Statthalterschaft des Christlichen in Europa leidet Schneider an deren Untergang. Diesem konservativen, sogar ausdrücklich monarchistischen Phantomschmerz korrespondiert eine scharfe Wahrnehmung der apokalyptischen Situation der Gegenwart: Schneider reflektiert neben Abgründen der modernen Medizin vor allem die Atombewaffnung und den militärischen Griff nach dem Weltall. Er sieht wenig Wahrscheinlichkeit, dass die Menschheit aufhört, Geschichte zu machen, um ihre drohende Selbstvernichtung abzuwenden. Eingestreut in den Fluss dieser Themen und durch sie wenig darauf vorbereitet, stößt man dann plötzlich auf immer neue Beispiele einer schrecklichen Zoologie. Zum ersten Mal überrascht Schneider seine Leser mit zoologischen Notizen, als er vom Beten spricht und von der Schwierigkeit, Gott Vater zu nennen. Da taucht dann unvermittelt die „Geschichte von dem im Gedärme gewisser Vögel lebenden Schmarotzern“ auf: Ihre Eier wandern in den Kot, von dort in bestimmte Schnecken, die geschlüpften Tiere kriechen in deren Fühler, lassen sie anschwellen und farbig werden, so dass Vögel Appetit bekommen und sie abreißen und der Kreis sich schließt.13 230

Die Mücken des Makarios

Bald darauf berichtet Schneider vom Besuch im Naturhistorischen Museum: Was er sieht, ist ein Panoptikum von Fressen und Gefressenwerden: Egel, die Frösche aussaugen; Vögel, die Schmetterlingen im Flug die Flügel ausreißen – und hier mündet die Schilderung in die Frage, die in der ersten Notiz die Zoologie heraufbeschwor: „Und das Antlitz des Vaters?“14 Es ist nicht der übliche Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Glaube, zwischen Schöpfung und Evolution, der Schneider umtreibt, sondern der Zweifel an einer allzu schönen, allzu glatten Schöpfungstheologie und -frömmigkeit: „Genug, es ist ein Gott, es ruft es die Natur, / Der ganze Bau der Welt zeigt seiner Hände Spur“, zitiert er Albrecht von Haller, um hinzuzufügen: „Wie schwer ist es geworden, diesen ehrwürdigen Naivitäten beizupflichten.“15 Die zoologische Schreckenskammer zieht sich durch das gesamte Buch, gewissermaßen immer wieder den Fluss von Geschichtsreflexionen und Wien-Impressionen unterbrechend – jäh unterbrechend, scheint das Thema doch fremd inmitten von Architektur, Theater, Operette und Habsburger Genealogien. Plötzlich sind da aber die berüchtigten Gottesanbeterinnen, welche ihre Männchen beim Geschlechtsakt verzehren; Fächerfliegen, die sich mit Bienenlarven zusammen verpuppen, um sich von ihnen zu ernähren; Krebse, die Krabben aussaugen; tagelange Ameisenschlachten – und ein Süßwasserpolyp, der teilweise zerschnitten zwei Köpfe ausbildet, „die sich um die Nahrung streiten  – für denselben Magen“16. Die letzte zoologische Notiz, in der sich Schneider bitter ironisch direkt an die Leser wendet, widmet sich mit Ingrimm den Egeln: „Man unterrichte sich – es ist wirklich zu raten! – über Plattwürmer, Strudelwürmer, Saugwürmer, das Geschlecht der Egel; der Leberegel entwickelt 45000 Eier und placiert etwa 1660 Sprößlinge in einer Rinderleber – von allem weiteren, der tückischen Raffinesse des dreifachen Generationswechsels, der die Larven durch Schnecken über Gras und Schilf in die Körper, in Leber und Galle schmuggelt, wo sie sich dann gütlich tun, zu schweigen.“17 Tatsächlich schweigt Schneider ab da von den unheimlichen Tieren. Er hat übrigens in dem Buch auch sehr liebevoll von ihnen gesprochen, von den Spatzen, Meisen und Tauben der winterlichen Stadt, von Hunden, denen er begegnet, und besonders von dem Lipizzanerhengst Maestoso Alea aus der Hofreitschule, dessen Bild er stets mit sich führt.18 Was Schneider an der Natur zutiefst beunruhigt, ist ihre Gleichnishaftigkeit nicht für die gute Schöpfung, sondern für die Höllenqualen. Das geschilderte Tier-Panoptikum lässt ihn an Bilder von Hieronymus Bosch denken, der doch nicht 231

II. Tierethik

Natur, sondern Schrecken des Menschen, des Bösen in phantastische Gleichnisse fasste. Doch Schneider erblickt in diesen Schreckensgemälden das Leben selbst: „Bosch hat nicht um Haaresbreite übertrieben. Er blieb noch hinter der Natur zurück.“19 Leben erscheint hier als „die Verdammnis zum Dasein, eine rotierende Hölle, das Nichts in der Erscheinungsform der Qual.“20 Dies ist Schneiders bohrende, schmerzende Glaubensfrage: dass der Nihilismus nicht erst in der Geschichte als einer Geschichte von Sünde und Schuld, sondern schon in der Betrachtung der Schöpfung seinen Anhalt findet: „Die Natur, auch die unterm Sündenfall, müsste doch vom Bilde Gottes beantwortet werden. Aber Offenbarung und Theologie sind uns dieses Bild schuldig geblieben.“21 In Nachbarschaft zum Nichtigen Ganz offensichtlich ist die Schöpfung nicht einfach die beste aller Welten, keine romantisierbare Idylle, deren Wunderwelt nur das Lied von ihrem guten Schöpfer singt – wie es Schöpfungstheologen immer noch gern beschwören. Solche Beschwörung kann ebenso nach hinten losgehen wie die liebevolle Beschreibung der Ammophila-Wespe durch den gläubigen AntiEvolutionisten Jean-Henri Fabre22, einer Wespe, welche Raupen in einem komplizierten Verfahren lähmt, damit die Wespenlarven diese später als Frischevorrat bei lebendigem Leibe allmählich aufzehren. Fabre will das Staunen lehren, doch seine Leser lernen ebenso das Gruseln. Die Natur ist auch schrecklich, voll von gegenseitig bereiteter Qual, voll von Grauen. Die Ammophila taucht übrigens auch bei Reinhold Schneider im Winter in Wien auf, dort einfach als „Raubwespe“, und durch andere Raubspezialisierungen ergänzt; und auch hier geht es um das Umschlagen von Faszination in Grauen: „Die Bewunderung der Zweckmäßigkeit, mit der ein Tier zur Vernichtung des anderen ausgestattet ist, der Bienenwolf zum Verderb der Bienen, die Wasserspinne zum Fischfang, der Ameisenbär für die Ameisen, grenzt an Verzweiflung.“23 Der evangelische Schweizer Theologe Karl Barth hat dies in seiner Schöpfungslehre in einem Kapitel über „Das Nichtige“ zu bedenken versucht. Wenn alles, was existiert, von Gott erschaffen wurde, woher stammt dann das Wider-Göttliche, das Böse? Es kann nicht erst durch die Sünde der Menschen in die Welt kommen, denn es gibt da offensichtlich etwas, was der sündige Mensch wählt und was ihn in seinen Bann schlägt, gerade232

Die Mücken des Makarios

zu beherrscht, als sei es größer als er. Das Böse ist keine Schöpfung, aber auch „kein zweiter Gott, … darum ‚ist‘ es so problematisch … nur als Widerspruch in sich selbst, nur als die unmögliche Möglichkeit“ da: „Das Nichtige ist das, was Gott nicht will … das Chaos, die Welt, die Gott nicht wählte, nicht wollte und also nicht schaffen konnte“.24 Indem Gott die Welt schafft, erhält auch dieses Negative seine paradoxe Nicht-Existenz. Denn die Welt ist nicht Gott, ist endlich, begrenzt, kontingent, und mit der Differenz zu Gott bringt sie notwendig die Möglichkeit der Loskoppelung, des Widerspruchs mit sich – die ein „frei gelassenes“ Wesen wie der Mensch dann auch realisieren kann. Barths Lösungsansatz geht damit einen anderen, einen dezidiert theologischen Weg gegenüber Gottfried Wilhelm Leibnitz’ berühmter Theodizee. Bei Leibnitz sind die Übel der Welt die notwendige Konsequenz aus der Differenz der Schöpfung zu Gott.25 Für Barth dagegen wurzelt das Übel in Gottes Nein zu dem, was um Gottes Willen nicht sein soll. Dieses Nicht-SeinSollende ist das Nichtige. Die Übel der Welt bezeugen nicht einfach die notwendige, logische Kontingenz der Schöpfung, sondern ihre prekäre Nachbarschaft zu diesem Ausgeschlossenen. Erst im freien Bösen wird es gewählt. Barth geht es nicht um eine logisch abschließende theologische Rechtfertigung Gottes, sondern um den Nachvollzug des paradoxen, geradezu gebrochenen Redens der Bibel über das Verhältnis von Gott, Schöpfung, Chaos und Bösem. Deshalb unterscheidet er die Übel in der Schöpfung vom Nichtigen selbst. Die Übel sind als solche nicht das Böse. Kein Geschöpf ist als solches böse, mit dem Nichtigen identisch; doch es lässt sich nicht leugnen, „dass zum Dasein, Leben und Wirken des Geschöpfes auch das gehört, dass es ins Nichtige verflochten ist“26. Dies gilt für die Schöpfung selbst, auch „vor“ dem oder ohne den Sündenfall. Barth nennt dies die Schattenseite der Schöpfung: „Auf dieser Schattenseite grenzt das Geschöpf an das Nichtige“27, ohne mit ihm zusammenzufallen. Die „Geschöpfwelt, auf ihre negative Seite gesehen, (ist) dem Nichtigen gewissermaßen benachbart und zugewendet“, so es in ihr einen „dunklen Aspekt“ gibt: „nicht nur ein Ja, sondern auch ein Nein: nicht nur Höhen, sondern auch Tiefen, nicht nur Klarheiten, sondern auch Dunkelheiten … Düsternis, … auch Unwerte.“28 Könnten unter jene Düsternisse und Unwerte auch die durch die Evolution des Lebendigen entstandenen Qualen des Lebens am Leben fallen, und damit auch das, was für uns Teile der Tierwelt zu Ungeziefer macht? So konkret wird Barth nicht. Zweifellos denkt er an Krankheiten und Leiden durch „natürliche“ Ursachen (also nicht durch böse Taten), an die Hinfäl233

II. Tierethik

ligkeit, die Todesverfallenheit der Kreatur. Barths Schöpfungslehre ist nicht verharmlosend oder oberflächlich abstrakt. Indem sie eine negative Seite der Schöpfung selbst benennt, in der ihre Differenz von Gott dem Nichtigen, dem Bösen also, benachbart ist, erhält sie sogar eine tragische Note – eine Tragik, die Gott in Kauf nimmt für das Wagnis, Wirklichkeit wirklich selbst-ständig von ihm sein zu lassen. Wem das allzu spekulativ oder gar mythisch erscheint, der mag sich mit dem Sozialanthropologen Hugh Ruffles die Frage stellen, wie man „von Schmerz, Leid und offenbar sinnloser Grausamkeit in der Tierwelt“ denken solle. Ruffles sieht im Grunde „nur zwei Wege offen“. Dem heutigen evolutionistischen Denken „geläufiger“ sei „die moralische Entzauberung der Natur“29, sie sei nun einmal „außermoralisch“30, weder gut noch böse also. Diese Anschauungen tragen nur wir an sie heran. Doch ist das bei näherem Hinsehen nicht nur eine Scheinlösung, eine Denkverweigerung? Denn natürlich wird man die Ammophila-Wespe nicht moralisch böse nennen, weil sie selbst wohl kaum moralisch herausgefordert ist (also auch anders handeln könnte). Natürlich ist Ethik an Freiheit gebunden. Aber wo Freiheit ist, wird Ethik umgekehrt auch unumgänglich. Man kann die praktische Vernunft nicht je nach Gegebenheit an- und ausschalten. Es geht also nicht um einen naiven Anthropomorphismus gegenüber der Natur, sondern um die dem Menschen unumgängliche, notwendige Stellungnahme zu ihr. Und in dieser werten wir notwendigerweise auch natürliche Phänomene: Wir „finden“ etwas gut oder nicht gut. Wir wollen, dass in diesem Sinne die Wirklichkeit nicht so sei wie die Wirklichkeit der Ammophila. Wir begreifen dieses Leid in der Welt nicht – selbst wenn es nicht das Böse, nicht in Barths Sinn das Nichtige selbst ist. Wir klagen vor Gott über das Leid auch der stummen Kreatur. Wir sind nicht einverstanden. Der Schrecken der Natur vergeht nicht, indem wir sie biologisch korrekt ethisch neutral betrachten. Ruffles nennt dies „die schmerzhafte Einsicht“ des anderen Weges, der „zu einem unausweichlich nächsten, entschlossenen Schritt“ führe: „das Tierische zu überwinden und das Versprechen der Menschlichkeit durch Güte zu erfüllen“31. Der Schrecken der Heuschrecken Lässt sich dies Spekulative rückbinden an die biblische Tradition? Die Bibel kennt kein Sammelwort für Ungeziefer32, erst recht natürlich kein zoologisches für „Insekten“. Aber unsere Ambivalenz zu diesem so kleinen 234

Die Mücken des Makarios

und mitunter doch so bedrohlichen Gewimmel kennt sie auch. Es gibt das bis heute geläufige Gleichnis von den fleißigen Ameisen (Spr 6,6–8), während die Motte geradezu das Symbol für Zerstörung und Vergänglichkeit darstellt: Das Leben des Menschen vergeht wie durch die Motte das Kleid (Ps 39,12; ähnlich Ijob 13,28), weshalb auch Jesus rät, sich Schätze dort zu sammeln, wo „weder Motte noch Wurm sie zerstören“ (Mt 6,19 / Lk 12,33; ähnlich: Jak 5,2). Am pointiertesten treten Insekten und anderes Ungeziefer vor dem Exodus Israels, bei den berühmten ägyptischen Plagen (Ex 7–11) auf: Gut die Hälfte von ihnen werden durch Kleingetier ausgelöst, durch Frösche, Stechmücken, Ungeziefer (was vielleicht Fliegen oder auch geflügelte Ameisen meint) und schließlich Heuschrecken. Auf Letztere folgen dann nur noch die große Finsternis und schließlich der Tod der Erstgeburt Ägyptens. Die Reihe ist offenbar als Steigerung gedacht: Die Frösche sind zunächst nur eklig. Die Stechmücken schon gefährlich, ebenso wie das nur unklar bestimmte weitere Ungeziefer. In Ägypten sind neben der Stechmücke Culex auch die Malaria verbreitende Anopheles heimisch, ebenso die Glossininae, die Tse-Tse-Fliege, welche die furchtbare Schlafkrankheit verbreitet. Diese Plagen waren also viel mehr als nur lästig. Und es handelt sich exegetisch betrachtet auch nicht einfach um Plagen, sondern um „Zeichen“33: Gott bricht mit ihnen den Widerstand der Ägypter gegen seine Befreiung Israels, er zeigt aber auch an, welchen Einbruch des Chaos der Widerstand gegen Gottes Willen verursacht. „Auch die Schöpfung ist mitbetroffen, wenn Menschen sich schwer vergehen.“34 In den „Plagen“ manifestiert sich, was verkehrt ist im Hause Ägypten. Vor dem letzten Eingreifen Gottes kommen die Heuschrecken. Um die biblische Ambivalenz der Begegnung mit Insekten zu begreifen, lohnt sich ein näherer Blick auf diese Tiere (die in ganz unterschiedlichen Arten vorkommen, weshalb es für sie „nicht weniger als neun hebräische Namen gibt“35). Zunächst ist die Heuschrecke als einzelnes Tier winzig, scheinbar schwach und harmlos; ein klagender Beter kann „klappern wie ein Heuschreck“ (Ps 109, 23 – nach Martin Buber). Dann sind Heuschrecken auch ein Nahrungsmittel, nicht nur für Johannes den Täufer in der Wüste (Mk 1,6): Als einzige Insekten werden sie von der Thora für rein erklärt, dürfen also verzehrt werden (Lev 11,21). Doch wenn sie in riesigen Schwärmen über das Land herfallen, sind sie unbesiegbare Feinde, die Hungersnöte auslösen. Das ist keineswegs Vergangenheit, insbesondere in Afrika: 1954 wurde in Kenia ein Heuschreckenschwarm gesichtet, der „mit insgesamt 10 Mil235

II. Tierethik

liarden Tieren“ 200 Quadratkilometer bedeckte, und der Zoologe Ousame Moussa Zakari „schätzt, dass es in Niger seit 1780 dreizehn größere Heuschreckenplagen gegeben hat“.36 D. h.: Diese katastrophalen Ereignisse, ausgelöst durch periodische Übervermehrung der Wüstenheuschrecken in ihren Rückzugsgebieten im Sahararaum, treten etwa in jedem Menschenalter erneut auf, selten und häufig genug, um daraus eine traumatische Erinnerung und Überlieferung werden zu lassen. Dabei stimmt die Wahrnehmung dieser überfallartigen Plagen heute wie in biblischer Zeit erstaunlich überein. Von der letzten Heuschreckenplage in Niger im Jahr 2005 berichten einheimische Zeugen, die Heuschrecken hätten sogar die Pestizide versprühenden Flugzeuge angegriffen: Die „houaradange, Vernichtungsheuschrecken“ verhielten sich wie eine Armee, „als hätten sie einen Kommandeur und … ihren Arbeitstag. Wie die Weißen“37. Ganz ähnlich die Wahrnehmung in der Bibel: „Die Heuschrecken werden oft wie eine Kavallerie der Lüfte, eine eigentliche Luftwaffe, beschrieben, schnell, unaufhaltsam, laut und gefährlich. Obwohl sie keinen König haben, ziehen die kleinen Tiere wohlgeordnet wie eine Armee daher.“38 So eignet sich dieses Bild als Schilderung eines Gerichtshandelns Gottes, des eigentlichen Kommandeurs der Plage: Gott straft damit die Ägypter, aber bei den Propheten straft er damit auch das abtrünnige eigene Volk.39 In der Apokalyptik schließlich werden Heuschrecken mythisch überhöht zu übernatürlichen Monstern, welche das letzte Gericht einläuten; sie sehen dann aus „wie Rosse, die zur Schlacht gerüstet sind … ihr Gebiss ist wie ein Löwengebiss, ihre Brust wie ein eiserner Panzer und das Rauschen ihrer Flügel ist wie das Dröhnen von Wagen, von vielen Pferden, die sich in die Schlacht stürzen.“ (Offb 9,7–11) Dazu haben sie dann noch die stechenden Schwänze von Skorpionen, einem weiteren gefährlichen Ungeziefer. Diese apokalyptische Assoziation ist an den Schwarmheuschrecken hängen geblieben. So berichtet die Mönchsgeschichte des Theoderet von Cyros, der Wüstenvater Aphraates habe zumindest einen Acker „gegen das feindliche Kriegsheer der Heuschrecken“ verteidigt, und zwar durch Weihwasser. Die Schrecken erscheinen hier also schon wie Abgesandte der Hölle, denn wie der Teufel „fürchten sie das geweihte Wasser“40. Doch all diese Tiere und Untiere sind in biblischer Sicht selbstverständlich Geschöpfe Gottes; gerade wenn sie Schrecken verbreiten, erscheinen sie ja als Werkzeuge in seiner Hand, stellen die dunkle, strafende, Gericht haltende Seite Gottes dar. Harmloser und alltäglicher sind sie Zeugen und Lehrmeister für Schwäche, Hinfälligkeit und Vergänglichkeit aller Ge236

Die Mücken des Makarios

schöpfe, auch des Menschen. Offenbar ist das Ungeziefer in all seiner Wunderlichkeit und seinem problematischen Verhältnis zu uns Menschen jedenfalls für uns tatsächlich ein lebendiges Symbolgeschehen für die dem Nichtigen benachbarte Seite der Schöpfung, für ihre Bedrohung durch das Chaos, schließlich sogar erlebbare Metapher für das, was Menschen droht, wenn sie sich in dieses Chaos vergaffen, wenn sie das Nichtige selbst heraufführen – was wohl nirgends so massiv geschieht wie im Krieg (als dessen Imitatoren die Schwarmheuschrecken erscheinen). Leben mit dem Ungeziefer Was heißt dies nun für unser Leben mit Ungeziefer? Es heißt unter „spirituellem“ Aspekt, mit Geschöpfen zu leben, die uns wie vieles andere auch unsere Nachbarschaft zum Nichtigen, unsere Hinfälligkeit, Gefährdung, Vergänglichkeit anzeigen. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir uns nicht gegen Krankheit und Plagen wehren sollten. Aber es wird unsere Haltung und unsere Praxis doch anders prägen als das (scheinbar) rein rationale, rein anthropozentrische Kalkül. In einer Spiritualität des Lebens mit dem Ungeziefer wird ohne jede theoretische oder praktische Romantisierung die Entfeindung der Bergpredigt auch gegenüber der Natur gelebt: Kein Geschöpf ist einfach nur Ungeziefer. Im Großen: Die Bekämpfung bedrohlicher Geschöpfe schlägt leicht um in Abschaffungs- und Vernichtungspläne, die man als Allmachtsfantasien entlarven kann. Die großflächigen Feldzüge mit Pestiziden gegen Schädlinge sind eher Symptome unserer ökologisch unvernünftigen Anbauweise als eine nachhaltige Lösung von deren Problemen. Hier gilt, was insgesamt zum globalen Geo-Engineering zu sagen ist: Menschlicher Totalitarismus im Umgang mit der Ökologie ist eher ein Faktor als der Ausweg aus unserer ökologischen Krise.41 Und wo sollte diese Demut leichter zu lernen sein als im Umgang mit dem Ungeziefer, das in der ökologischen Krise sicher den längeren Atem gegenüber dem Menschen haben wird. Insbesondere die Insekten wird unsere Art in die von ihr angerichtete ökologische Katastrophe sicher nicht vollständig hineinreißen, allem Artensterben auch in diesem Bereich zum Trotz. „Wir werden irgendwie zusammenleben müssen. Irgendwie werden wir uns zur Freundschaft entschließen müssen.“42 Und im Kleinen: Gerade die kleinen, die unscheinbaren, die fremden, ja die ekligen Wesen um uns können uns Achtsamkeit im Umgang mit der 237

II. Tierethik

Schöpfung lehren. Das Ungeziefer ist uns so fremd, dass es keine Empathie auf sich zieht. Insekten seien „vogelfrei“, sagte Elias Canetti: „Die Zerstörung dieser winzigen Geschöpfe sind die einzigen Akte der Gewalt, die auch in uns ganz ungestraft bleiben“43 – also keinerlei Gewissensregungen auslösen. So haben auch die Kampagnen gegen Tierversuche Affen, Katzen und noch Ratten im Blick, aber niemand denkt an „Abermilliarden von Drosophila“ (Fruchtfliegen), die andauernd in Laboren grotesken „erzwungenen Mutationen unterzogen“ werden, worin ja ein paradoxes Kalkül steckt: Die Fliegen sind „uns so ähnlich“, dass sie im medizinischen Versuch als unsere Stellvertreter gelten können, doch „gleichzeitig so völlig unähnlich, dass es nicht weniger natürlich erscheint, sie ohne Gewissensbisse und ohne auch nur einen Gedanken zu verschwenden, grenzenloser Vernichtung auszusetzen“44. Ich bin mir nicht sicher, welche ethischen praktischen Konsequenzen aus diesen Überlegungen zu ziehen sind, denn sicher sind hier stets GüterAbwägungen auf die Ziele der Forschung hin anzustellen. Doch die Gedankenlosigkeit gilt es zu unterbrechen. Aber dazu müsste man eben genau hinschauen  – so genau, wie es etwa Robert Musil in seinem Text „Das Fliegenpapier“ tut, in dem er gnadenlos ausführlich den Todeskampf von Fliegen auf den (mir noch aus ländlichen Stuben meiner Kindheit bekannten) Klebefallen schildert: das Erschrecken beim ersten Haften an den Füßen, die immer verzweifelteren Befreiungsversuche, die schrittweise Niederlage, wörtlich, nämlich durch immer mehr verklebte Körperstellen, schließlich der mitunter noch am nächsten Tag fortgesetzte Todeskampf. Allein im genauen Hinsehen, im Mitvollziehen ihrer Marter erschließt sich ohne jede metaphorische Mühe Musils Bemerkung, sie seien „in diesem Augenblick ganz menschlich.“45 Darin schließlich scheint mir der tiefste spirituelle Nutzen in einer Aufmerksamkeit für das Ungeziefer zu liegen: Wir schulen „in der Begegnung mit der biologischen und sozialen Marginalität dieser Tiere“46 unsere Achtsamkeit für das Unscheinbare, Kleine, Schwache, Fremde, Hässliche, Verletzliche. Der japanische Neurowissenschaftler Yoro Takeshi etwa empfiehlt eine Pädagogik der Insektenkunde, weil „die ungeteilte Aufmerksamkeit, die im Umgang mit einem anderen winzigen Leben gefordert ist, unbekannte Wege des Sehens und Fühlens eröffnet, dass die vergrößernde Betrachtung eines Details Größenordnungen und Hierarchien ins Wanken bringt und dass aus diesen Erfahrungen schließlich eine Ethik erwächst“47. 238

Die Mücken des Makarios

Hugh Ruffles schildert dafür ein faszinierendes historisches Beispiel: Der flämische Zeichner Joris Hoefnagel bildete Ende des 16. Jahrhunderts in einem naturkundlichen Werk gleich neben Insekten Menschen ab: den an angeborenem, erblichen Hirsutismus leidenden Pedro Gonzáles aus Teneriffa mit seiner (gesunden) Frau und seinen ebenfalls am ganzen Körper behaarten Kindern. Hoefnagel tut dies jedoch nicht mit der in dieser Zeit häufig anzutreffenden voyeuristischen Lust am Absonderlichen, wie sie noch lange auf Jahrmärkten anzutreffen war. Hoefnagel zeichnet die fremdartigen Menschen fein und voller Empathie wie auch die dann folgenden Insekten-Sammlungen, und er gibt dem Bild einen Spruch aus dem Buch Ijob bei: „Ein Mann aus einer Frau geboren, ein kurzes Leben, ein Leben voller Elend.“ Der Zeichner macht durch diese Zusammenstellung darauf aufmerksam, dass diese als wild und hässlich geltenden Menschen und die Insekten etwas gemeinsam haben: „etwas Wundersames, das auf brutale Weise als unvollkommen abgestempelt wurde, eine gewöhnliche Existenz am Rande der Natur“48. In diesem Sinne hat unser Umgang mit dem Ungeziefer etwas mit dem Evangelium zu tun, welches uns einen Gott vorstellt, dem die Kleinen, die Übersehenen, die Unscheinbaren seiner Schöpfung besonders am Herzen liegen: „Das Niedrige und das Verachtete hat Gott erwählt, das, was nichts ist.“ (1 Kor 1,28) Diesen Zusammenhang hat für die gesamte Schöpfungstheologie Abbas Makarios offenbar besser begriffen als der große Bernhard von Clairvaux. Und auch jene Moskitos, welche Rosa von Lima in ihrer Hütte nicht nur von Stichen verschonen, sondern auch bei ihrem geistlichen Gesang harmonisch mitsummen, bieten ein Gegenzeugnis zu seiner Insektenvernichtung.49 Überhaupt waren es Aussteiger und Außenseiter nach Art der Wüstenväter, welche besonders stark in einer ethischen Symbolik den Umgang mit marginalisierter Schöpfung lehrten – so wie etwa jener Abbas Johannes, von dem die „Geistliche Wiese“ des Johannes Moschus berichtet, er habe – „schon weit über achtzig Jahre“ – nicht nur die Hunde um die Mönchssiedlung herum jeden Morgen gefüttert, sondern „er gab auch den kleinen Ameisen Mehl und den großen Ameisen Getreidekörner“50. Gregor Taxacher

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de Voragine, Legenda Aurea 120, 1589 (im Folgenden: LA). Bezeichnender Weise übergeht die Legenda Aurea diese Aspekte. Vgl. dazu dort S. 1571 die kommentierende Fußnote 4. LA 18, 355. So in der Übersetzung: Sartory/Sartory, Ich sah den Ochsen weinen, 44. Schweitzer, Apophtegmata Patrum I, 183. Kafka, Die Verwandlung, 66. Vgl. Sartory/Sartory, Ich sah den Ochsen weinen, 17. Wilson, Die Hälfte der Erde, 34. Ebd., 61. Raffles, Insektopädie, 73. Wilson, Die Hälfte der Erde, 61. Diese Passagen muss man vielleicht spiegelbildlich dazu lesen, dass Wilson an anderer Stelle – in seinem Buch Ameisenroman – ebenso leichtfertig anthropozentrisch von der Ameisenforschung auf menschliche Sozialmodelle schließt. Vgl. Raffles, Insektopädie, 136–154. Schneider, Winter in Wien, 119 f. Ebd., 131. Ebd., 138 f. Ebd., 222; 201; 212. Ebd., 276. Vgl. ebd., 131. Ebd., 143. Ebd., 212. Ebd., 222. Vgl. Raffles, Insektopädie, 48–70. Schneider, Winter in Wien, 178. Barth, KD III,3, 405–407. Eine moderne theologische Rezeption von Leibnitz versucht neuerdings wieder Andrés Torres Queiruga. Vgl. ders., Die Theodizee neu denken. Barth, KD III,3, 329.

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Ebd., 403. Ebd., 335 f. Alle Zitate des Absatzes bisher: Raffles, Insektopädie, 69. Ebd., 70 mit Bezug auf Stephen Jey Gould. Ebd., 69. Falls nicht „arob“ in Exodus 8,17 ff. so etwas bedeutet (wie die Einheitsübersetzung es auffasst). Vgl. dazu Utzschneider/Oswald, Exodus 1–15, 215  f. (zustimmend) und Fischer/Markl, Das Buch Exodus, 111 (unentschieden). Fischer/Markl, Das Buch Exodus; 104 ff. Ebd., 104. Schroer, Tiere in der Bibel, 135. Raffles, Insektopädie, 204 f.; 224 f. Ebd., 221 f. Schroer, Tiere in der Bibel, 135. Etwa Joel 1–2 und Amos 7,1 f. Sartory/Sartory, Ich sah den Ochsen weinen, 70. Vgl. meine ausführlichere Stellungnahme: Taxacher, Apokalypse ist jetzt, 48; 124 f. Raffles, Insektopädie, 307. Ebd., 118. Ebd., 117. Als künstlerisches Pendant zum Text Musils schaue man Lois Weinbergers „Fliegenfänger“ von 1976 an, Original im Städel-Museum Frankfurt a. M.: https://sammlung.staedelmuseum.de/de/ werk/fliegenfaenger. Hier wird diese Marter zur Kreuzigung. Ebd., 125. Raffles, Insektopädie, 299. Ebd., 130. Vgl. Bernhart, Die unbeweinte Kreatur. Sartory/Sartory, Ich sah den Ochsen weinen, 102.

Tote Tiere auf dem Altar? Erkundigungen über das biblische Tieropfer

Wenn es in einer tierfreundlichen Kirche der Zukunft noch Heiligsprechungen gibt, Margret Hille wäre eine Kandidatin dafür. Den sog. heroischen Tugendgrad, der bei Heiligsprechungsprozessen belegt werden muss, könnte in ihrem Fall durch ihr authentisches, mutiges, beharrliches und kluges Eintreten für einen anderen Umgang mit Tieren in Kirche und Welt mühelos nachgewiesen werden. Wunder würden sich auch finden lassen. Zum Beispiel ist es ein Wunder, wie Margret Hille, die doch keine Fachtheologin ist, in ihrem Buch Die Tiere und Jesus. Der vergessene Tierschutz der Bibel mit größter Akribie allen, aber auch wirklich allen Spuren einer positiven Sicht auf Tiere in der Bibel und im frühen Christentum nachgegangen ist. Die sog. Fachtheologie hat so etwas noch nicht zustande gebracht. Ihr rosa eingebundenes Buch kann geradezu als die Bibel der Tiertheologie gelten. Als sie sich aber den Tieropfern im alten Israel zuwendet, da kann sie ihr Entsetzen nicht verbergen. Sah denn wirklich „alles rosig für die Tiere aus“ im biblischen Israel, fragt sie und antwortet: „Nein, das war es nicht. Es gab auch dort Dinge, die schrecklich für die betroffenen Tiere waren.“ Sie beschreibt, wie ein Tier getötet wurde. „Ganz gleich ob zur Nahrung oder zum Ritus oder für beides, die Tötung der Opfer war brutale Gewalt. Das sich wehrende Tier wurde gefesselt und unbetäubt durch das Aufschneiden der Kehle und der Halsschlagader, den Schächtschnitt, geschlachtet. Der Tod trat langsam durch Ausbluten ein und das Tier spürte den Schmerz bei vollem Bewusstsein, bis auch das Gehirn blutleer war. Es war ein grausamer Akt und eines edlen Menschentums unwürdig, aber es war so alte Sitte und Gesetz, und man hatte jede mitleidige Regung zu unterdrücken.“ 241

II. Tierethik

In Israel waren das religiöse Tieropfer und der Fleischkonsum meistenteils miteinander verbunden; man durfte nur das Fleisch essen, das vorher geopfert worden war. Hille vermutet deshalb hinter den häufigen Opfern das Motiv, möglichst oft Fleisch zu haben. „Damit es oft Fleisch gab, wurde bei jedem Anlaß geopfert und in den meisten Fällen gleich mehrere Tiere.“ Und sie kommentiert aus heutiger Sicht: „Der Sinn des Tieropfers ist unserer heutigen Kultur und unserem Verständnis völlig fremd. Er erscheint uns abwegig und unmenschlich. Das darf man sicher als ein gutes Zeichen für einen ethischen Fortschritt der Menschheit werten. Doch seien wir nicht überheblich. Bei uns geschieht trotzdem noch genug Schlimmes auch in den Schlachthöfen. Tieropfer gibt es, wenn auch nicht mehr für Gott, so doch in mancherlei Form und aus vielerlei Gründen, und oftmals sind sie noch grausamer“1.

Schwerwiegende Fragen entstehen aus der biblisch bezeugten Praxis des rituellen Tieropfers für eine Theologie der Tiere. Wie konnte die Religion Israels, die im Namen Gottes für Befreiung, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit eintritt, in ihrem Zentrum, dem Tempel, einen Kult zulassen, dem täglich eine große Zahl von Tieren zum Opfer fiel? Was sind dann alle die Aussagen über die Schöpfungsgemeinschaft von Mensch und Tier noch wert? Wie konnte man annehmen, dass Gott ein Wohlgefallen daran hat, wenn Tiere für ihn getötet wurden; Tiere, die er geschaffen und gesegnet hatte? Es ist gut zu wissen, dass diese Fragen auch schon in der Bibel selbst gestellt wurden. Heftige Opferkritik übten die Propheten, zum Beispiel Jesaja, der Gott sprechen hörte: „Was soll ich mit euren vielen Schlachtopfern? Die Brandopfer von Widdern und das Fett von Mastkälbern habe ich satt und am Blut der Stiere, Lämmer und Böcke habe ich kein Gefallen. … Bringt mir nicht länger nutzlose Gaben, Räucheropfer, die mir ein Gräuel sind! … Lernt, Gutes zu tun! Sucht das Recht!“ (Jes 1,11.13.17). Im gleichen Sinn Hosea: „Denn an Liebe habe ich Gefallen, nicht an Schlachtopfern, an Gotteserkenntnis mehr als an Brandopfern“ (Hos 6,6). Dennoch wurde die tägliche Opferung von Tieren im Tempel von Jerusalem bis zu dessen Zerstörung im Jahr 70 n. Chr. weiter ausgeübt, übrigens trotz der mitunter großen Schwierigkeiten, das geeignete Schlachtvieh und das Brennholz zu beschaffen (vgl. Esra 6,9). Die ersten Christen hatten sich schon vor der Zerstörung des Tempels von den Opfern abgewandt, vielleicht angeregt von der sog. Tempelreinigung Jesu, die auch die Befreiung der dort für den Opferdienst gehaltenen Tiere beinhaltete: „Er machte eine 242

Tote Tiere auf dem Altar?

Geißel aus Stricken und trieb sie alle aus dem Tempel hinaus samt den Schafen und Rindern“ (Joh 2,15). Aber das Thema der blutigen Opfer war damit nicht aus dem Christentum verschwunden! Ausgerechnet die Tieropfer dienten als Vorbild, um den Tod Jesu am Kreuz zu deuten. Jesus brachte nicht Tiere, er brachte sich selbst als Opfer dar, um Gott zu versöhnen. Das blutige Opfer Jesu war notwendig, um die Erlösung zu bewirken. Gott fordert das blutige Opfer seines Sohnes, um sich mit uns zu versöhnen. Damit steht das Opferthema im Zentrum des Christentums wie kein anderes. An ihm hängt die gesamte traditionelle Lehre von der Erlösung. Wie können wir heute damit umgehen? Aus meiner Sicht sind es vor allem drei Fragen, die in diesem Zusammenhang zu klären sind: 1. Was ist und bedeutet überhaupt ein Opfer? 2. Warum konnte das Thema Opfer eine solche Karriere im Christentum machen? Wird und wurde damit nicht die Gewalt, die mit den Opfern verbunden ist, geheiligt und gerechtfertigt? Und 3. Wie können wir heute die Rede vom Opfer so verstehen, dass sie nicht auf Zerstörung und Tod, sondern auf Leben und Lebendigkeit gerichtet ist, und damit auch auf das Leben der Tiere, die damals wie heute  – siehe Margret Hille im letzten Abschnitt – die ersten und häufigsten Opfer sind? Raubtiere, Menschen und Götter Auf die Spur der ersten Frage führt die Erzählung von Chaka Zulu. 1925 veröffentliche der afrikanische Schriftsteller Thomas Mofolo (geb. 1876 in Khoojane/Lesotho, gest. 1948) den gleichnamigen Roman. Er handelt von dem sagenumwobenen Häuptling Chaka, einer historischen Figur, die im 19. Jahrhundert ein riesiges Reich im südlichen Afrika zusammeneroberte. Mofolo wertet nicht nur die Quellenlage zu seinem Stoff gründlich aus, er ist auch bestens vertraut mit alten afrikanischen Traditionen, ohne die man den Aufstieg des „schwarzen Napoleon“ (so wurde Chaka oft genannt) nicht verstehen kann. Aus dessen Jugend erzählt er etwas, was auf den Ursprung des Opfers in der Menschheitsgeschichte hindeutet: „In jenen vergangenen Zeiten machten die wilden Tiere den Menschen sehr zu schaffen. Abends, wenn man beisammen saß oder wenn man sich schon in die Hütten begab, schlich sich etwa eine Hyäne, die keine Ziege erwischt hatte, ins Dorf, schnappte einen Menschen und schleppte ihn 243

II. Tierethik

fort, ohne daß ihr jemand nachsetzte und sie zwang, von der Beute zu lassen. Und immer ertönte dann die Stimme des armen Menschen, der durch die Nacht rief: ‚Sie schleppt mich fort! Sie setzt mich nieder! Sie schleppt mich wieder fort. Jetzt setzt sie mich nieder! Jetzt frißt sie mich!‘. Durch dieses wiederholte Rufen wollte er den Leuten bekanntgeben, wo er sich befand, und sie aufstacheln, ihm zu Hilfe zu eilen. Aber keiner half, und der Mensch wurde gefressen. Da die Hüttentore nicht dicht gemacht werden konnten, erhielt ein Junge von der Art Chakas seine Schlafstelle in der Hütte des Jungvolks mit Vorliebe neben dem Eingang, damit die Hyäne, wenn sie käme, ihn packte und die anderen leben ließe. Chaka mußte also neben der Tür schlafen, damit die Bedrohungen von Nacht und bösen Geistern ihn als ersten träfen. Er wurde zum Riegel gemacht, der die anderen von der Gefahr abriegelte. … Zwei- oder dreimal wurden Chaka die Hände zusammengebunden, wurde ihm, dermaßen gefesselt, der Schlafplatz außerhalb des Hüttentors zugeteilt. Die Hyäne sollte ihn dann schon beim Anschleichen bemerken. Dies geschah an Tagen, an denen sie in der Nähe des Dorfes gesichtet worden war und man annehmen konnte, sie werde abends einen Menschen schnappen. … Das Großwerden wurde Chaka in der Tat nicht leicht gemacht“2.

Chaka bleibt verschont, denn er ist von Zauberkräften geschützt. Der Text gibt Aufschluss über die archaische Urangst der Menschheit vor den Raubtieren. In der Zeit des Homo erectus, der ersten Form des Frühmenschen, dessen älteste Funde ca. zwei Millionen Jahre alt sind und der bis vor ca. 300000 Jahren in Afrika und Europa verbreitet war (sein Gehirn war nur etwa halb so groß wie das des heutigen Menschen), entwickelte sich der Mensch „vom Aasfresser zum spezialisierten Jäger“3.An den Lagerstätten des Homo erectus fand man nicht nur die Überreste der Beutetiere, „sondern auch Überreste der für den Menschen gefährlichen Raubtiere, wie beispielsweise Säbelzahnkatzen, Hyänen, Wölfe, Bären usw. Sie waren seine Konkurrenten in der Jagd auf Beute und fielen ihm dabei offenbar auch gelegentlich selbst zum Opfer“4. Die Entwicklung von Waffen, die Nutzbarmachung des Feuers, das Erlernen kooperativer Jagdtechniken, alles das fällt in diese 1,7 Millionen Jahre währende Phase der Menschheitsgeschichte. Dass und wie auch die Raubtiere den Menschen gelegentlich zum Opfer fielen, erzählt der Chaka-Roman anschaulicher als unser Gewährsmann für die Prähistorie. Einmal wurde nachts eine junge Frau von der Hyäne geholt, und so sehr sie auch schrie („Sie schleppt mich fort! Sie setzt mich nieder!“), niemand rührte eine Hand für sie, noch nicht einmal der Mann, der sie liebte. „Denn die Hyäne fürchtet man über die Maßen, selbst den 244

Tote Tiere auf dem Altar?

Tapferen jagte sie Schrecken ein.“5 Es ist Chaka, der Held, der sie dann befreit. Ein anderes Mal (noch vor der Geschichte mit der Hyäne) bedrohte ein Löwe das Dorf. Die Männer des Dorfes, schwer bewaffnet und doch „mit Gänsehaut und im kalten Schweiß“, nahen sich ihm in einem großen Halbkreis. Doch als der Löwe die Stimme erhebt und anfängt zu brüllen, da stieben sie auseinander und eilen in wilder Flucht zum Dorf zurück, wo sie sich im bestgeschützten Männerhaus verschanzen, Frauen und Kinder außen vor lassend. Chaka ist es dann, der alleine den Löwen mit seinem Dolch (Assegai) tötet. Sein Ruhm im Dorf steigt ins Grenzenlose. Die Frauen im Dorf singen Loblieder auf ihn und Spottlieder auf die anderen Männer, die von da an mit Hass gegen Chaka erfüllt sind. Chaka wird sich furchtbar rächen. Wie ein Löwe wird er über seine Gegner kommen und sie vernichten. „Du, du Männerverzehrer, der du Pranken hast gleich denen eines Löwen, du, der dem Himmel gleicht, der über uns steht“, so wird man über ihn singen.6 Hier haben wir eine, der Sache nach vermutlich die Ursprungsgeschichte des Opfers vor uns. Einer muss sterben, damit die anderen leben. Die Logik des Opfers folgt einem naturwüchsigen Zwang zum Überleben. „Es ist besser, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht“ (Joh 11,50; 18,14), so drückt es der Hohepriester Kajaphas in Bezug auf Jesus aus. Im Hintergrund steht eine große Bedrohung, bei Chaka die Bedrohung durch die Raubtiere, bei Kajaphas wohl die durch die Römer, derer man aus eigener Kraft nicht Herr werden kann. Jahrmillionenlang hat die Angst vor den wilden Tieren die Menschheit begleitet, Zeit genug, die effiziente Strategie des Opfers zu entwickeln. Man erfüllt das Begehren des Raubtiers, weil es anders keine Rettung gibt, aber so, dass es nur das ausgewählte Opfer trifft. So werden die anderen geschützt. Ihr Leben verdankt sich dem Tod des Opfers. Zugleich wird deutlich, wie sich um die Gefahr und ihre Abwehr eine soziale Gliederung und eine Achtungshierarchie aufbauen. Chaka wird als Opfer auserwählt, einer aus der Hütte des Jungvolks und dazu auch ein wegen seines Erfolgs Geächteter. In seinem Volk werden Rinder gehalten, aber man nimmt kein Rind als Opfer, sondern einen jungen Mann, dessen Wert offenbar geringer ist als der eines Rindes. Die spätere Ersetzung der Menschen- durch Tieropfer verdankt sich vermutlich nicht einem humanen Impuls, sondern der Veränderung der ökonomischen Wertigkeiten. Die, die da auswählen, haben die Macht im Dorf. Wer andere zu Opfern erklären kann, ist mächtig. Chakas Aufstieg gründet sich dann auf seinen Erfolg über das Bedroh245

II. Tierethik

liche. Er nimmt selbst die Züge des Raubtiers an, das er überwunden hat. Löwen, Greife und andere Raubtiere schmücken übrigens seit jeher die Wappen der Mächtigen. Beinahe wird Chaka, von einem geheimnisvollen Zauber der Ahnen umgeben, eine göttliche Macht. Einmal an die Macht gelangt, wird er es sein, der bestimmt, wer die Opfer sind. Leicht kann man sich denken, wie das archaische Opferschema in die Religion eingewandert ist.7 Hat sich die Erfahrung verfestigt, dass es außer den Raubtieren auch andere mächtige Instanzen gibt, die das Leben bestimmen, ohne dass man über sie bestimmen könnte – die Sonne, die Gestirne, die Fruchtbarkeit, das Meer, die Liebe, der Krieg, die Zeit, das Schicksal – und ist man dazu gelangt, diese Instanzen nach dem Modell der Raubtiere zu personifizieren – die Ahnen, die Geister, die Götter und Göttinnen – dann liegt es nahe, ihnen gegenüber die bewährte Strategie des Opfers zur Anwendung zu bringen. Die Götter wollen Opfer, also werden sie sie bekommen. Sei es, um ihr Missfallen und das Unglück, das von ihnen kommen könnte, abzuwehren, sei es, um ihre Gunst und besondere Wohltaten zu erreichen, das Opfer ist der Weg der Wahl. Indizien deuten darauf hin, dass die Viehzucht, die in der Zeit des Neolithikums einsetzt, nicht zuerst der Gewinnung von Nahrungs- und Kleidungsressourcen diente, sondern der Bereitstellung von Tieren, die man für das Opfer zur Hand haben wollte. Ihre Zähmung diente vielleicht in erster Linie dazu, sie menschenähnlicher zu machen, damit sie als Substitut des Menschenopfers genutzt werden können.8 Das Opfer kann als ein Tribut an die Götter angesehen werden, als etwas, worauf sie ein Anrecht haben; dann genügt es in der Regel, ihnen das Geforderte zu geben, ohne dabei innere Anteilnahme zu investieren. Handelt es sich aber um die Vergebung von Schuld, die man sich durch die Übertretung von Regeln oder die Zerstörung von Sachen zugezogen hat, dann genügt die materielle Opfergabe allein nicht mehr. Sie soll nun Ausdruck einer inneren Haltung sein. In allen Religionen kennt man die Gefahr, die Opfer bloß als materiellen Tauschhandel zu vollziehen, und mahnt Opfergesinnung und Hingabebereitschaft an. Die Religion bringt ein Element in den Opfervollzug ein, der in Chakas Kultur keine Rolle spielt: die Freiwilligkeit des Opfers. Erst der, der ohne Zwang etwas aufopfert, was ihm wertvoll ist und was dann durch das Opfer dem eigenen Gebrauch entzogen wird, opfert wirklich.9 Das größte Opfer bringt der, der sich freiwillig selbst opfert. In der Regel nahm man aber mit Tieren als Vertretern des Menschen vorlieb. 246

Tote Tiere auf dem Altar?

Der Übergang des Opfers aus der Auseinandersetzung mit den Raubtieren in den Verkehr mit den Göttern hat gleichwohl grundsätzliche Bedeutung. Das Opfer ist, wenn es mit dem Tod des Opfers verbunden ist, ein Akt der Gewalt. Wird nun den Göttern geopfert bzw. verlangen die Götter das Opfer, dann wird die Gewalt in den Bereich des Heiligen verschoben und erhält dadurch seine Rechtfertigung. Was im Verhalten gegenüber den Göttern richtig ist, kann in sich nicht verkehrt sein. Oder: Wenn das getötete Opfer den Göttern zugeeignet wird, dann ist das Töten gut und erlaubt. Durch den religiösen Vollzug wird das Opfer heilig gemacht. Das ist die Bedeutung des lateinischen Wortes sacrificare: etwas heilig machen. Was heilig ist, ist unantastbar und darf nicht aufgegeben werden. Im Falle der Opfer: die Gewalt. Die Religion sakralisiert die Gewalt. Walter Burkert, dessen Opfertheorie zu den einflussreichsten gehört, sieht den Ursprung des Opfers in der Jagd. Menschen töten Tiere, um sie zu verspeisen. Dürfen sie das überhaupt? Setzt man ein animistisches Weltbild voraus, das die Tiere prinzipiell für gleichartig mit den Menschen hält, stellt sich die Frage umso mehr. Schließlich will man das Umgekehrte nicht: dass Tiere Menschen fressen. Es gibt also einen hohen Rechtfertigungsbedarf. Und diesen erfüllt die Religion. Das Opfer ist etwas Heiliges, Außerordentliches, es ist von den Göttern geboten, darum ist es erlaubt. Tiere opfern nicht, sie haben kein Recht, Menschen zu fressen.10 Solange es Religionen gibt, solange gibt es religiöse Opfer. Religionen sakralisieren und legitimieren Gewalt; immer schon haben sie das getan! Das ist der heiße Kern der Opferproblematik in theologischer Sicht. Macht denn das Christentum dabei eine Ausnahme? Allem Anschein nach nicht, denn es verkündigt, dass Jesus Christus, der Sohn Gottes, sich selbst am Kreuz geopfert hat, um den Zorn Gottes von uns Sündern abzuwenden. Höchstes Opfer, denn es ist das Selbstopfer des Sohnes Gottes! Höchste Gefahr, die abgewendet wird, denn ohne das Opfer Jesu Christi wäre die Menschheit um ihrer Sünden willen von Gott zu ewiger Höllenstrafe verdammt worden. Höchste Legitimation der Gewalt, denn der Opferakt ist nicht mehr nur ein bestimmter kultischer Vollzug, sondern das Wesen der Erlösung. Wie sollte da das Christentum nicht Gewalt legitimieren? Der scheinbare Fortschritt gegenüber der Religion Israels ist in Wirklichkeit eine Verschärfung. Dort wurden nur Tiere geopfert. Im Christentum aber ein Mensch, sogar der höchste, der würdigste, der unschuldigste. Wie kann es da mit dem Opfern ein Ende haben?11 247

II. Tierethik

Margret Hille mahnt: „Doch seien wir nicht überheblich“. Nicht die Anzahl und die Grausamkeit der Tieropfer sind zurückgegangen, wohl aber ist ihre religiöse Legitimation geschwunden. Möglicherweise ist das der Grund, dass heute in Tierschutzkreisen die Frage, ob Tiere für den menschlichen Gebrauch gemästet und getötet werden dürfen, in bislang beispielloser Weise aufgebrochen ist. Sie stellt sich verschärft, wenn die religiöse Rechtfertigung von Gewalt gegenüber Tieren nicht mehr gegeben ist. Das Opfer ist nicht mehr sacrificium (das, was heilig macht), es ist nur noch victima.12 Es sei denn, man sieht auch im Hintergrund des heutigen Umgangs mit Tieren noch eine Art Religion am Werk. Es wäre dann die Religion des Geldes. Deren oberstes Dogma lautet, dass man das bekommt, wofür man zahlt. Hat jemand das Bedürfnis nach Fleisch oder Fisch, oder nach Pelz, oder nach Medikamenten oder Kosmetika oder Dieselautos, die unter Einsatz von Tierversuchen hergestellt werden, und er kann dafür zahlen, dann bekommt er das, was er will. Die Hyäne aus der Erzählung von Chaka hat eine neue Gestalt angenommen. Nach wie vor „fürchtet man sie über die Maßen, selbst den Tapferen jagt sie Schrecken ein“. Das Geld verlöre seinen Wert, wenn es nicht mehr als Zahlungsmittel für alles und jedes eingesetzt werden könnte. Das kann in der Religion des Geldes nicht zugegeben werden. Es müssen Opfer gebracht werden für die, die das Geld haben. So ist der Zusammenhang von Religion und Opfer weiterhin gegeben. Die Leidtragenden sind nach wie vor in erster Linie die wehrlosen Tiere. Das Opfer Christi Nun kommen wir zur zweiten Frage, die nach der Karriere des Themas Opfer im Christentum. Theologen standen vor der Aufgabe, den Kreuzestod Christi zu erklären. Wie kann es sein, dass der, der Gott und Mensch zugleich ist, wie ein Verbrecher hingerichtet worden und gestorben ist? Die Aufgabe der Theologen wurde dadurch erschwert, dass man dies im Zusammenhang von Altem und Neuem Testament zu erklären hatte. Beide Teile des Kanons gehören zur Heiligen Schrift, in beiden ist Gottes Wort enthalten. Zusammen erzählen sie die Geschichte, die Gott mit seinem Volk geht. Sie können sich nicht widersprechen. Darüber hinaus sagt Paulus ausdrücklich, dass „Christus für unsere Sünden gestorben ist gemäß der Schrift“ (1 Kor 15,3).13 Wo in der Schrift des Alten Bundes ist 248

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vom Tod des Christus die Rede? Kandidaten waren der Gottesknecht von Jes 63, das Paschalamm aus der Erzählung vom Auszug aus Ägypten (das aber nichts mit Sündenvergebung zu tun hat), aber dann vor allem die kultischen Opfer. In ihnen wird etwas Lebendiges zu Tode gebracht, um dem Heil zu dienen. Gott selbst hat das so angeordnet. So legte es sich nahe zu denken: In Christus wiederholt sich, was mit den geopferten Tieren bereits vorgezeichnet war: Der Tod des Opfers führt zum Leben. Inwieweit bei der Aufnahme dieses Gedankens auch das tief in die menschlichen Gene eingesenkte archaische Opferschema mitgewirkt hat, ist schwer zu ermessen, aber sicherlich trug dies zur Rezeption der Opfertheologie bei. Reflexhaft griff man unter den verschiedenen Opferarten, von denen in der hebräischen Bibel die Rede ist, zum Sühn- bzw. Schuldopfer. Diese Opfer dienten der Nachlassung der Schuld, und Christus war für unsere Sünden gestorben. Einige Ungereimtheiten gab es bei der Übertragung des Sündopfers auf den Tod Christi gleichwohl. Das Sündopfer dient laut Levitikus 4 und 5 der Nachlassung kleinerer Vergehen wie etwa unbeabsichtigter kultischer Verunreinigungen oder der Sünden „ohne Vorsatz“ (Lev 4,1). Es war nicht so einfach, dieses Opfer auf die Vergebung der (Erb-)Sünde der ganzen Menschheit zu übertragen.14 Dazu sind Menschenopfer im Alten Testament seit der von Gott selbst verhinderten Opferung Isaaks (Gen 22) ausgeschlossen, Christus aber brachte sich selbst zum Opfer dar. Der Theologe Gutberlet: Die Selbstvernichtung entspricht am klarsten der Opfergesinnung vor Gott. Christus „substituierte nicht ein fremdes Leben für das seinige, sondern gab, was keinem Geschöpfe möglich oder erlaubt ist, sein eigenes Leben, zugleich die kostbarste aller Gaben hin. Die Entäußerung war die vollkommenste: der schmerzlichste Tod, die Vergießung des kostbaren Blutes bis auf den letzten Tropfen, bis auf ’s Herzblut zerstörte dieses göttliche Leben“15. Aber, so ein weiterer Einwand, Christus hat sich doch nicht eigentlich selbst geopfert, sondern er ist von seinen Feinden getötet worden. Dann müssten ja die römischen Soldaten als diejenigen gelten, die ihn geopfert haben. Sie wären die Priester des Opfers Christi. Dem wird entgegengehalten, dass Christus „selbst wahrer hoher Priester war, weil er freiwillig sein Leben als Opfergabe hingab. Er hat, wie der heil. Thomas ausführt, in einem wahren Sinne sich selbst getödtet, er ist selbst Ursache seines Todes gewesen“16. Christus hätte kraft seiner göttlichen Vollmacht seinen Tod auch verhindern können, so wie er auch andere Wunder gewirkt hat, aber er hat es nicht getan. Anders als die Märtyrer hat er „nicht lediglich den Tod passiv erduldet, 249

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sondern activ sein Leben hingegeben“17. Gott hat, so wird betont, das Opfer Christi gewollt und angeordnet. Nur deshalb konnte es nach dem Vorbild des Altes Testaments zur Vergebung der Sünden wirken. Das Thema Opfer ist in der katholischen Theologie erst in der Neuzeit ausführlich auf die Tagesordnung gesetzt worden, und zwar in Bezug auf die Messe als Opfer. Ausgelöst durch Luthers Kritik an der Lehre vom Messopfer hatte das Konzil von Trient 1562 im Dekret über das Messopfer erklärt, das Opfer in der Messe sei ein „wahres und eigentliches Opfer“, also nicht bloß eine Erinnerung an das Opfer Christi.18 Die katholischen Theologen hatten nun zu erweisen, dass in der Messe wirklich ein Opfer dargebracht wird – unblutig zwar, aber doch mit realen Opfermomenten, das heißt mit einer Darstellung des Todes Christi am Kreuz. Es entstehen die berüchtigten Messopfertheorien. Man erblickt zum Beispiel in der getrennten Darbringung von Brot und Wein, das heißt eucharistisch gesprochen, von Leib und Blut Christi, die erneute Darbringung und Opferung Christi, denn die Trennung von Leib und Blut ist tödlich. Oder man sieht den Tod Christi darin ausgedrückt, dass Christus den Gläubigen zur Speise wird. Sie können ihn aufessen, zerkauen und verdauen. So erleidet er in der Darstellung der Eucharistie aufs Neue den Tod.19 Zum Opfer gehört nun einmal destructio, die Zerstörung der Opfergabe, dies steht den Theologen vor Augen. Zwar gibt man erstaunlicherweise zu, dass theologischerseits gar nicht ganz klar ist, was ein Opfer überhaupt ist,20 aber es gilt doch als ausgemacht, dass destructio unbedingt zum Opfer gehört. „Je stärker aber bei einem Ritus die immutatio [die Veränderung an der Opfergabe] im Sinne einer destructio auftritt, desto sicherer ist uns der Opfercharakter“21. In welcher Welt sind wir angekommen? In einer Welt, in der Zerstörung und Gewalt als Weg zur Erlösung ausgegeben werden. In der der göttliche Vater den gewaltsamen Tod seines unschuldigen Sohnes anordnet als Sühne für die Schuldigen. In der die von Jesus gepredigte bedingungslose Feindesliebe jedenfalls für Gott nicht gilt, und für wen soll sie dann gelten? Zwar kann man es als Zeichen der Liebe des göttlichen Vaters nehmen, dass er seinen eigenen Sohn für unsere Sünden dahingab. Aber was für eine Liebe ist das? Was für ein Vater ist das? Es ist eine Welt, in der der Sohn sich aktiv am Kreuz hinrichten lässt, sich selbst tötet, um dem Vater zu gehorchen. In der Christus in jeder heiligen Messe aufs Neue geschlachtet wird, zerbrochen in den Händen der Priester, gegessen und verzehrt von den Gläubigen in der intensivsten Form des Vernichtens und Einverleibens, die sich denken lässt.22 Was oben über die gewaltlegitimierende Rolle der reli250

Tote Tiere auf dem Altar?

giösen Opfer gesagt wurde, hier ist es zu seinem klarsten Ausdruck gekommen. Man weiß, wie das Opfermotiv in Verkündigung und Volksfrömmigkeit immer wieder gebraucht und missbraucht worden ist. Kinder sollten ihren Eigenwillen opfern, Frauen ihre Selbstbestimmung. Das Opfer ist der Kern der Schwarzen Pädagogik! Selbsthingabe, Sich-Opfern für die große Sache, wurde nach dem Vorbild Christi von allen verlangt, die nach dem Willen der Mächtigen zum Opfer ausersehen waren. Am schaurigsten ist der Gebrauch der Opferkategorie für die, die in sinnlosen Kriegen ihr Leben „für das Vaterland“ zu geben hatten. So schreibt Peter Lippert, einer der großen Seelenführer jener Zeit, gegen Ende des Ersten Weltkriegs über die, die in den Schützengräben verbluten: „Was jetzt auf Erden geschieht, ist ein Übergreifen des Gottesdienstes Jesu auf zahllose Seelen, die bisher davon nicht berührt waren, ein Herzuströmen und ein Zuzug zur Teilnahme an der Opfergesinnung Christi. Darum hat die in der Meßfeier sich immer erneuernde Opfertat Christi – so möchte es uns scheinen – noch selten eine so passende Gemeinde gefunden, wie jetzt auf den Schlachtfeldern der Welt“23.

Welche Blasphemie, wenn sie auch in der Absicht zu trösten gesprochen war. Welche Verhöhnung dessen, der gesagt hatte: „Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden“ (Mt 5,9). Dass aber in einer Gesellschaft, die mit Menschenopfern so leichtfertig umging, und in einer Kirche, die dies auch noch religiös zu legitimieren wusste, die Tieropfer nicht zum Problem wurden, weder die religiösen des Alten Bundes noch die in den Schlachthäusern und auf den Schlachtfeldern der neuen Zeit, das versteht sich von selbst. Ein angenehmer Duft für Gott Nun zur dritten Frage: Können wir heute die Rede vom Opfer in einem lebensbejahenden Sinne verstehen? Der Fehler der klassischen Theologie war es, das archaische Opfermodell, das wir bei Chaka kennengelernt haben, unterschiedslos auf die Bibel zu übertragen und in die Erlösungslehre zu übernehmen. Einer muss sein Leben opfern, damit die anderen leben können – das wurde bis in die Heilsgeschichte hochgerechnet. So wurde destructio der Hauptbegriff dieser Lehre. Aus Zerstörung kommt Leben. Die Gesellschaft, die von dieser Lehre geprägt war, musste immer weiter 251

II. Tierethik

opfern und sie hat es getan. Sie tut es noch. Aber die Theologen hätten genauer hinschauen sollen. Einer, der dies getan hat, war der Theologe Matthias Joseph Scheeben (1835–1888). Scheeben, Professor am Kölner Priesterseminar, war ein der Kirche treu ergebener Mann, dem dennoch die Liebe zur Wahrheit höher stand als der blinde Gehorsam gegenüber einer scheinbar unbezweifelbaren Tradition. Für Scheeben spricht, dass noch die Herausgeber seines Werkes im 20. Jahrhundert es für nötig hielten, seinen Ausführungen über Priestertum und Opfer eine warnende Fußnote vorauszuschicken: „Es sei ausdrücklich davor gewarnt, die nachfolgenden Ausführungen unbesehen zu übernehmen …“24 Einer seiner zeitgenössischen Kritiker, der schon genannte Constantin Gutberlet, warf ihm vor, dass er von der hergebrachten Bedeutung des Opfers, „welche im Grunde auch die des christlichen Volkes ist“, abgewichen sei, weil er die Notwendigkeit der Zerstörung des Opfers als „die Auffassung von Heiden“ darstelle.25 Und das ist in der Tat der Punkt, auf den es ankommt. Scheeben bestritt den destruktiven Charakter der Opfer. Er hatte in unfassbar gründlichen Untersuchungen der biblischen Passagen, die von den kultischen Handlungen am Tempel handeln, herausgefunden, dass das, was der „gewöhnliche Sprachgebrauch“ mit dem Opfern assoziiert, nämlich „die Preisgebung des Hingegebenen in die Vernichtung oder den Tod“, in den biblischen Opfern gar nicht gemeint ist. Schon der Begriff „Opfer“ oder irgendein sprachliches Äquivalent dazu kommt in den entsprechenden biblischen Passagen gar nicht vor. Die hebräischen Ausdrücke sprechen von einem „Hintragen einer Gott gewidmeten Gabe vor das Angesicht Gottes“ oder dem „Erheben einer Gabe auf den Altar“. „Darum enthält der Name im hieratischen [auf das Heiligtum bezogenen] Sinne an sich gar nichts von empfindlicher Entsagung oder Vernichtung. Ja er enthält an sich nicht einmal den Begriff der Hergebung der Gabe aus dem Eigentum des Opfernden“26. Was enthält er aber dann? Bei den kultischen Handlungen im Tempel ist stets davon die Rede, dass sie „ein beruhigender Duft für den Herrn“ sind (Lev 1,9 und dann bei allen weiteren im Buch Levitikus beschriebenen Handlungen mit Ausnahme des Sündopfers, das eben damit als Ausnahme erkennbar wird). Von hier aus erschließt sich der Sinn dieser rituellen Vollzüge: Es sind festliche Mahlzeiten, an denen Gott beteiligt ist. Da Gott nach Lage der Dinge nicht selbst mit am Tisch sitzen kann, bleibt ihm der angenehme, der beruhigende Duft; aber man weiß ja, wie wichtig es gerade beim Essen ist, dass es gut riecht, und so bekommt Gott den besten Teil. Dass bei diesen festlichen Mahlzeiten Fleisch verzehrt wurde, kommt 252

Tote Tiere auf dem Altar?

daher, dass Fleisch im Allgemeinen zu einer festlichen Mahlzeit gehört. Die Frage nach der Erlaubtheit des Schlachtens von Tieren ist darum alttestamentlich an die Frage zu verweisen, ob überhaupt Fleisch gegessen werden darf (dazu unser Kapitel „Furcht und Schrecken …“). Aber es wurde ja nicht nur Fleisch gegessen bzw. „geopfert“, sondern auch Vegetabilisches: Früchte, Gemüse, Kräuter, Brot, Getreide. Dazu kamen die Duft- und Licht-„opfer“, die im Inneren des Tempels in nächster Nähe zum Allerheiligsten vollzogen wurden. Sie hatten von ihrer Position im Ritual her einen größeren Wert als die „Opfer“-Mahlzeiten, denn hier stand die Einbeziehung Gottes an erster Stelle. Die Tiere wurden dagegen außerhalb des Tempelgebäudes geschlachtet. Ihr Blut – als Symbol des Lebens – wurde an den Altar gesprengt. Das Schlachten war nicht das Opfer, es war nur Vorbereitung für die Mahlzeit. Diese wurde je nach „Opfer“-Art entweder nur von den Priestern oder von der Gruppe der Feiernden oder aber beim sog. Brandopfer, bei der das Fleisch ganz verbrannt wurde, von Gott allein eingenommen. Im Brandopfer- oder Ganzopfer (holocaustum) gingen alle Gaben in Wohlgeruch für Gott auf. Alle Opfer, so Scheeben, sollten den „freundschaftlichen Wechselverkehr zwischen den Opfernden und Gott“ bzw. „die Lebensgemeinschaft mit Gott“ zum Ausdruck bringen.27 Und was wäre ein schöneres Zeichen der Lebensgemeinschaft als eine gemeinsame, festliche Mahlzeit? Und wenn man nun dennoch meint, die Darbringung der Gaben sei doch ein Akt des Verzichts und entspreche insofern noch dem üblichen Sinn von Opfer, dann kann man sich von Scheeben darüber belehren lassen, dass die kultischen Mahlzeiten eigentlich Gaben Gottes an sein Volk waren. Vor Gottes Angesicht, der im Tempel bzw. ursprünglich in der Stiftshütte seinen Ort hatte, fanden diese Handlungen statt; seine Gegenwart war es, die das Opfer zur Feier der Gemeinschaft mit seinem Volk machte; Gott war es, der einlud, indem er die Darbringungen angeordnet hatte; er entzündete nach der Überlieferung selbst das Altarfeuer; in den Gaben, die vor sein Angesicht getragen wurden, wurde ihm nur ein Teil von dem zurückgegeben, was er zuvor geschenkt hatte.28 Zweifellos muss man zugeben, dass die Opferpraxis im alten Israel nicht durchgängig dem idealtypischen Modell entsprach, das Scheeben in den biblischen Texten gefunden hatte. Atavistische religiöse Motive vom Tauschhandel zwischen Göttern und Menschen; die steinzeitliche Opferstrategie, die Leben gegen Tod aufrechnet; Vorstellungen, dass der Wert der Gabe die Wirkung des Opfers steigert; Übernahmen aus der heidnischen Welt und nicht zuletzt das Gewinninteresse der Priesterschaft, die von den 253

II. Tierethik

Opfern lebte, werden den Opferkult am Jerusalemer Tempel dem religionsgeschichtlich üblichen Opfermodell äußerlich und innerlich angeglichen haben. Darauf bezieht sich die erwähnte prophetische Opferkritik. Im Kern aber liegt in der Religion der Bibel gar kein Opfer im üblichen Sinn vor. Die Religion Israels hat keine Opfer, weil sie keinen Gott hat, der Opfer fordert. Was Scheeben in seinen subtilen Analysen herausgearbeitet hat, kann man nicht Opfer nennen. Eher ist es ein Füreinander-Zeit-Haben. Und zwar eine besondere Zeit, die festliche Zeit der Mahlzeit. Erst im Miteinander-Zeit-haben kann Gemeinschaft wachsen. Darum waren die Israeliten gehalten, regelmäßig zum Tempel zu pilgern und Zeit mit ihrem Gott zu verbringen. Gott hatte auch Zeit für sie. Man mache einmal die Probe und übersetze heutige Redewendungen, die im positiven Sinn vom Opfer reden, in die Kategorie der Zeit. Eine Mutter opfert sich auf, wenn sie die Nächte am Bett ihres kranken Kindes verbringt – nein, sie schenkt dem Kind ihre kostbare Zeit, weil sie das Kind liebt und lieber bei dem Kind ist als schläft. Ein Mann opfert seine Freizeit für seinen Beruf – er setzt seine Zeit lieber für den Beruf ein, weil der ihm wichtiger ist. Usw. Der Begriff des Opfers ist eigentlich überflüssig.29 Die gesellschaftliche, steinzeitliche Konstruktion, nach der einige geopfert werden müssen, um das Leben der anderen zu erhalten, braucht nicht aufrechterhalten zu werden. In der Bibel ist sie im Prinzip bereits überwunden. Jesu Leben, ein Wohlgeruch für Gott Die kruden, destruktionsfixierten Deutungen des Todes Jesu im traditionellen Opferdiskurs müssen nicht sein. Neuere theologische Ansätze weisen hier ganz andere Wege. Vielleicht kommt es nicht von ungefähr, dass diese, soweit ich es überschaue, vor allem von Theologinnen kommen. Sigrid Brandts große Studie über das Opfer als Gedächtnis geht (ohne ihn zu kennen) Scheebens Weg weiter, indem sie zeigt, dass alttestamentlich das mit der Rede vom Opfer Gemeinte in erster Linie das Geschehen der Begegnung zwischen Gott und seinem Volk ist. Gott will auf dem Opferaltar seinem „Namen ein Gedächtnis stiften“ (Ex 20,24), einen Ort also, wo er sich finden lässt, wo er ansprechbar ist, wo er Beziehung stiftet. Gott markiert einen ihm gehörigen, ausgegrenzten, heiligen Raum, wo Menschen Zeit mit ihm verbringen können. Zu diesem Ort wird in Israel exklusiv der Tempel.30 Im Neuen Testament ist diese Exklusivität aufgebrochen. Nach 254

Tote Tiere auf dem Altar?

Paulus (Röm 12,1) sollen die Christen ihre „Leiber darbringen als lebendiges, heiliges, wohlgefälliges Opfer“, und zwar nicht durch Aufopferung und Vernichtung, sondern durch die Suche nach dem, „was der Wille Gottes ist, das Gute, Wohlgefällige und Vollkommene“. Der Wohlgeruch, der von den Opfern des Alten Bundes zu Gott aufsteigt, kommt nun aus der leiblichen Existenz der Christen und Christinnen.31 Damit ist der Weg zu einem neuen Verständnis des „Opfers“ Jesu eröffnet. Jesus, der, an dem der Vater „sein Wohlgefallen hat“ und bekundet (bei der Taufe, Mk 1,11; bei der Verklärung, Mk 9,7), macht in seiner ganzen Existenz „Gott ganz neu identifizierbar, erinner- und erwartbar, adressierbar, ansprechbar, anrufbar und damit bis zu einem gewissen Grad auch verfüg- und verletzbar“32. Er ist als Ganzes ein Wohlgeruch für Gott, und umgekehrt: Gott kann man an ihm erwittern. Die Vermittlung von Altem und Neuem Bund, die den Alten so am Herzen lag, ist so doch ersichtlich besser gelungen als in dem früheren opfertheologischen Modell, das aus dem ganzen Leben Jesu nur das Kreuz als Opfer herausgegriffen hat. Genial ist an Brandts Buch die neue Deutung des Hebräerbriefs, der mit seinen stark auf den Jerusalemer Tempelkult bezogenen Aussagen vom hohepriesterlichen Opfer Jesu der alten Theologie die meisten Ansatzpunkte geboten hatte.33 Ein neues Leitbild zum Verständnis des „Opfers“ Jesu entwickelt Brandt mit Rita Nakashima Brock an der Geschichte des 12-jährigen Jesus im Tempel (Lk 2,41– 50). Wie der junge Jesus dort ganz eigenwillig dem Willen Gottes folgt, wie er aufmerksam zuhört, schutzlos und verletzlich ist, keine taktischen Rücksichten kennt, das sagt womöglich mehr über Jesu Opferdasein aus als das Kreuz.34 Dass aber Jesus auch in seinem Leiden und Sterben, das ihm angetan wurde, Gott identifizierbar, ansprechbar, erwartbar machte, das erlaubt es, von seinem Opfer am Kreuz zu sprechen. Dessen Wesen ist nicht Vernichtung, sondern dass Gott ein Gedächtnis geschaffen wird auch da, wo Menschen zu victims gemacht werden. Das Abendmahl im Streit der beiden Ökonomien Von hier aus eröffnen sich verheißungsvolle Wege, um auch die Bedeutung des Abendmahls ganz neu zu erschließen. Sie werden uns auch wieder zu den geopferten Tieren führen. Die alte Theologie hatte die Eucharistie als immer neue Erinnerung und Darstellung der Lebenshingabe Jesu begriffen. Jesus wurde quasi in jeder Messe wiederum geopfert, das heißt getötet, 255

II. Tierethik

um das Leben zu bringen. Auch die neuen Deutungen verkennen nicht die Dialektik von Tod und Leben und nehmen sie in das Zentrum der christlichen Feier hinein. Nach Andrea Bieler, die einige Jahre als Professorin an der Pacific School of Religion in Berkeley/Kalifornien tätig war und dort zusammen mit internationalen Studierenden intensiv über das Abendmahl nachgedacht hat, geht es beim Abendmahl um „sakramentale Durchlässigkeit“. Die Feier des Lebens geschieht in einer zerrissenen Welt, die von Mächten des Todes gefangen gehalten wird. „Sakramentaler Gottesdienst nimmt eine Durchlässigkeit an, in der das Brot, das wir in der Küche essen, das Brot, das wir von den Armen stehlen, und das Brot, das während des Abendmahls konsekriert wird, in Beziehung zueinander stehen.“35. Das Thema Destruktion ist hier wieder präsent, aber anders als in den Destruktionstheorien der klassischen Opfertheologie. „Die Abendmahlserzählung enthält ein tiefgreifendes Nein zu der Destruktion, die uns umgibt und beeinflusst“36. Das würde auch die alte Theologie unterschreiben, denn für sie war die Destruktion des Leibes Jesu der Weg zur Erlösung. Vielleicht war es gut, dass die alte Theologie immer wieder an die Destruktion erinnert hat, umgibt und beeinflusst sie uns doch tatsächlich. Aber die Theologie ist zu sehr unter ihren Einfluss geraten und hat sich ihrem Naturgesetz, dem Gesetz des archaischen Opfers, unterworfen. Bieler spricht dagegen von Verwandlung. „Brot, das den Armen in einer globalisierten Ökonomie gestohlen wurde, Brot, das die Spuren des Todes trägt, wird in das Brot des Lebens verwandelt, in Brot, das ewiges Leben gibt“37. Als katholischer Christ hört man es gern, wenn eine evangelische Theologin von der Wandlung beim Abendmahl spricht. Zugleich wird einem bewusst, wie schlecht wir Katholiken „unser“ Bekenntnis zur Wandlung verwaltet haben. Der katholischen Lehre und Praxis fehlte die „eschatologische Imagination“, ein Begriff, den Bieler zum Leitwort erwählt. Im Begriff der eschatologischen Imagination sind Erfahrung und Offenbarung, Inspiration und körperliche Konstitution miteinander verbunden. „Eschatologische Imagination schafft Fenster, durch die wir eine Ahnung von der Wirklichkeit des Reiches Gottes erhalten“, sie schafft Unterbrechungen zu allgemein angenommenen Weltsichten, sie führt zu einem kritischen Weltabstand38. Der eschatologischen Imagination wird ansichtig, dass das Brot, das beim Abendmahl gegessen wird, zwei verschiedenen Ökonomien angehört, die miteinander im Streit liegen: der Ökonomie des Marktes und der Ökonomie der Gnade. In der zerstörerischen Spannung von NahrungsmittelÜberproduktion und Hunger, von Diätwahn und (gerade in den USA) 256

Tote Tiere auf dem Altar?

zunehmender Übergewichtigkeit tritt die Ökonomie des Marktes in die Feier des Abendmahls ein, gespiegelt in den Körpern der Feiernden, die zusammen der Leib Christi sind. Eschatologische Imagination hält dieser Ökonomie die Ökonomie der Gnade entgegen, die in biblischen Texten wie der Brotvermehrung oder dem Magnifikat Ausdruck gewinnt. Aber das kann nicht abstrakt sein, das darf nicht zum Schwärmertum führen. Die Gaben, die wir zum Altar bringen, entstammen der Ökonomie des Marktes – „wirkliches Brot, ein wirkliches Produkt, mit dem Arbeit und Zeit, eine spezifische menschliche Arbeit verbunden ist“39. „Die Gaben zum Altar zurückzubringen, könnte uns helfen, den Produktionskreislauf, der diesen bestimmten Speisen anhängt, sichtbar zu machen. Den Produktionskreislauf und die Unterdrückung, die damit verbunden sind, zu analysieren … Es ist eine spirituelle Übung, die wir im Supermarkt üben können, wenn wir Kaffee oder Tomaten kaufen oder wenn wir unsere Autos mit Benzin füllen“40. Und hier treten nun auch die Tiere in das Abendmahl ein. Sie stecken in dem „Brot“, das wir essen – erstaunlich, dass Bieler und ihre Studiengruppe sie nicht erwähnen in Amerika, dem Land mit dem höchsten Fleischkonsum der Welt. Die Eucharistie ist ein „Opfer“, das, so erklärt es auch die traditionelle Lehre, alle anderen Opfer überflüssig macht. Auch die Tieropfer, von denen Margret Hille sagt, dass sie noch so zahlreich dargebracht werden, „wenn auch nicht mehr für Gott, so doch in mancherlei Form und aus vielerlei Gründen, und oftmals sind sie noch grausamer“ als im alten Israel. Dann erst ist die Eucharistie ganz begriffen, oder mit Bieler: dann erst kann sie der Ort sein für eschatologische Imagination, wenn sie über den Opfern, die es überflüssigerweise immer noch gibt, nicht zur Ruhe kommt. Wenn sie sie vor Gottes Angesicht trägt und ihn damit adressiert, ihn erinnert, ihn erwartet. So wie es Jesus im Haus des Herrn getan hat. Margret Hille hat noch einmal das Wort: „Aus dem inneren Hof drang der Geruch von tierischem Angstschweiß, von Exkrementen und Blut. Ein leichter Wind trug ab und zu den Dunst von Holzfeuer und verbranntem Fleisch den Tempelbesuchern entgegen. … Starke, schöne, gesunde junge Stiere, Erstlinge ihrer Mütter, handverlesen zum Tode für einen Gott. … Lämmchen riefen mit hellen Kinderstimmen nach ihren Müttern und stemmten sich mit ihren kleinen Kräften gegen das Schicksal. … Es half ihnen nichts. Von groben Männerhänden mit geübtem Griff wurden sie niedergezwungen, gefesselt, eines nach dem anderen. … Half ihnen denn keiner? Hatte denn kein Mensch Mitleid mit ihnen? Doch, einer. Ein einziger stellte sich gegen Gesetz, Religion, Sitte 257

II. Tierethik

und Tradition. Einer, dessen Herz für die Armen und Kranken, Versklavten und Unterworfenen in Liebe und Mitleid schlug, verlor die Beherrschung. … Die völlig überraschten Tempelpriester und Viehhändler wichen vor der Wucht des Pilgers zurück. Der herrschte sie an: ‚Steht nicht geschrieben, mein Haus soll eine Gebetsstätte heißen bei den Völkern? Ihr aber habt es zu einer Mördergrube gemacht‘.“41

Der tierische Angstschweiß ist kein Wohlgeruch für Gott. Indem Jesus die Tiere befreit, wird er zum Opfer im doppelten Sinne des Wortes. Im klassischen Sinne: Die Hohepriester und Schriftgelehrten werden ärgerlich und planen seinen Tod. Und im biblischen Vollsinn, wie ihn Scheeben und Brandt dargelegt haben. In einer der dichtesten und bewegendsten Szenen des Neuen Testaments, die der Matthäus-Evangelist auf die Tempelreinigung folgen lässt, wird gezeigt, was es heißt, ein Wohlgeruch für Gott zu sein. „Im Tempel kamen Lahme und Blinde zu ihm und er heilte sie. Als nun die Hohepriester und Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder im Tempel rufen hörten: Hosanna dem Sohne Davids!, da wurden sie ärgerlich und sagten zu ihm: Hörst du, was sie rufen?“ (Mt 21,14–16).

Die Vertreibung der Händler und Käufer aus dem Tempel, die Befreiung der Tiere und die Heilung der Lahmen und Blinden stehen im selben Zusammenhang. Die Kinder sind es, die das bemerken. Sie rufen Jesus als den Messias, den Sohn Davids, aus. Vom Tempel, wo sonst die Tiere geschlachtet werden, steigt wieder ein Wohlgeruch für Gott auf, wie es die alten Opfervorschriften wollten. In den Worten Bielers: Jesus hat „den Produktionskreislauf [der Speisen] und die Unterdrückung, die damit verbunden ist“, aufgedeckt und unterbrochen. So sollte auch heute Eucharistie gefeiert werden – die Eucharistie als „wahres und eigentliches Opfer“, wie es das Konzil von Trient definierte! Thomas Ruster Anmerkungen 1 2 3 4

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Hille, Die Tiere und Jesus, 47–52. Mofolo, Chaka Zulu, 52 f. Parzinger, Die Kinder des Prometheus, 26; vgl. 26–40. Ebd., 29.

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Mofolo, Chaka Zulu, 54. Ebd., 210. In Lagerstätten des altpaläolithischen Menschen hat man Schädelknochen und mit regelmäßigen Schnittspuren

Tote Tiere auf dem Altar?

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versehene Knochen entdeckt, die als die frühesten Formen künstlerischen Ausdrucks gedeutet werden können. Sollte sich in der Auswahl der Schädel und im Schmuck der Knochen eine Erwartung eines Lebens nach dem Tod und mithin eines Jenseits ausdrücken, so hätte man es zugleich mit der Entstehung von Religion zu tun, vgl. Parzinger, Die Kinder des Prometheus, 37 f. Vgl. Brandt, Opfer als Gedächtnis, 32– 34. Eine Übersicht über Theorien zur Bedeutung des Opfers in den Religionen bietet Brandt, Opfer als Gedächtnis, 65–70. Sie widersprechen sich nicht, betonen aber entweder mehr die Vermittlung zwischen der göttlichen und der menschlichen Sphäre oder die soziale Ordnung, die aus den Opfern erwächst. Eine besondere Stellung haben Sigmund Freuds Theorien vom Mord am Urvater, der durch das Opfer der Söhne gesühnt werden soll, und René Girards Theorie von der Kanalisierung gesellschaftlicher Gewalt durch das Opfer des „Sündenbocks“. Vgl. Burkert, Homo necans. Besonders die feministische Theologie hat die christliche Opfertheologie grundlegend kritisiert. Wenn Gott schon seinen Sohn opfert, wie kann man dann der Kindesmisshandlung wehren (Rita Nakashima Brock)? Das Gottesbild der Sühneopferlehre ist masochistisch (Elisabeth Moltmann-Wendel). Männer (Priester) opfern zusammen mit Christus, Frauen werden in die Rolle des Opferlamms gedrängt (Mary Daly/Rosmary Redford Ruether), vgl. Brandt, Opfer als Gedächtnis, 420–433. Vgl. Prescendi, La vittima non è un’ostia, 145–156. Die folgenden Aussagen der klassischen katholischen Theologie sind dem neuscholastischen Lehrbuch von Johann Baptist Heinrich, Dogmatische Theolo-

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gie, Bd.7, entnommen; dieser Band wurde nach dem Tod Heinrichs von Constantin Gutberlet verfasst, deshalb im Folgenden zit. als Heinrich/Gutberlet, Dogmatische Theologie. Schon Augustinus hatte betont, dass die Opfer des Alten Bundes Vorbilder für das Opfer Christi sind. Sie finden in diesem ihre Vollendung, vgl. Heinrich/Gutberlet, Dogmatische Theologie, 818–820. Eine Übersicht zu den Opferarten und Tieropfern im AT bieten Janowski/ Neumann-Gorsolke/Gleßmer, Gefährten und Feinde des Menschen, 240– 244. Heinrich/Gutberlet, Dogmatische Theologie, 840. Ebd., 841. Ebd. Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse, Nr. 1751; Vgl. Jorissen, Das Verhältnis von Kreuzesopfer und Messopfer. Vgl. Heinrich/Gutberlet, Dogmatische Theologie, 858–870. Heinrich/Gutberlet, Dogmatische Theologie, 836: „Da müssen wir aber leider gestehen, daß es die Theologie noch nicht zu einer allgemein anerkannten Begriffsbestimmung des Opfers gebracht hat; daß im Gegenteil namentlich mit Rücksicht auf das eucharistische Opfer eine verwirrende Menge von Opfertheorien aufgetaucht ist.“ Ebd., 813. Bachl, Eucharistie, 23–52, zitiert die Mythen der Antike von alles verschlingenden, alles fressenden Göttern und menschenfressenden Unholden. Wer alles verschlingen kann, hat alle Macht. „Das Göttermaul ist aufgerissen, um im Machtkampf der ewigen Wesen den Gegner zu verschlingen, und es richtet sich gierig gegen die Welt, um im Opferkult satt zu werden“ (47, über den Gott und König Unas nach einer altägyptischen Tradition).

II. Tierethik 23

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Lippert, Meßopfer und Kriegsopfer, 608; vgl. Ruster, Krieg gegen die Glaubensbrüder. Scheeben, Handbuch der katholischen Dogmatik, 237. Heinrich/Gutberlet, Dogmatische Theologie, 845. Scheeben, Handbuch der katholischen Dogmatik, 237. Ebd., 264. Vgl. zum Ganzen ebd., 237–269. Scheebens Opfertraktat konnte hier nur oberflächlich zusammengefasst werden In Scheeben, Die Mysterien des Christentums, 385–441, ist die Opferlehre mit der Lehre von der eucharistischen Transsubstantiation verschränkt. Was eigentlich beim eucharistischen „Opfer“ geschieht, ist Wandlung.

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Diese Einsicht ist aus gehaltvollen Gesprächen mit Dr. Stefano Franchini erwachsen, dem ich an dieser Stelle meinen Dank ausspreche. Vgl. Brandt, Opfer als Gedächtnis, 388 f. Ebd., 416 f. Ebd., 441 f. Vgl. ebd., 174–204. Vgl. ebd., 434–436. Bieler/Schottroff, Das Abendmahl, 17. Ebd., 20. Ebd. Ebd., 46. Ebd., 156. Ebd., 157 f. Hille, Die Tiere und Jesus, 55 f.

III. TIERESCHATOLOGIE

Da kommt an einem schönen Sommertag ein offensichtlich sehr missgelauntes Mädchen in den Park. Es zieht eine „knallrote Lackleder-Omahandtasche“ hinter sich her und beginnt plötzlich laut zu rufen: „Gehört das so?“ Die Leute, die im Park spielen, lungern, grillen oder ihre Hunde ausführen, werden aufmerksam, einige folgen ihr. Das Mädchen zieht weiter, kickt wütend Müll und Steine von sich weg und wiederholt immer wieder ihren Ruf. Schließlich fragt eine große alte Frau sie: „Was ist eigentlich los mit dir?“ Da brüllt die Kleine: „Elvis ist tot.“ Erst denken die Leute natürlich an den Rockstar. Aber dann öffnet das Mädchen die rote Tasche und hält sie den Leuten hin. Darin liegt ein toter Vogel: „Mein Elvis!“ Die Zuschauer nehmen nun Anteil, sprechen ihr Beileid aus, und schließlich macht einer einen sehr sachlich-fachlich formulierten Vorschlag: „Eine Erdbestattung“. Die führen die Versammelten denn auch gemeinsam durch: „Prozession. Mit Kerze, Kranz und Schärpe, Blumen, Weihrauch …“ Nach der Beerdigung sitzt man noch zusammen: „Trauerfeier mit Bienenstich und Kakao.“ Dabei erzählt das Mädchen davon, „wie Elvis so gewesen war“. Die Gesellschaft trauert miteinander und tröstet sich gegenseitig und malt sich auch aus, wie Vogel und Sänger Elvis einander im Himmel begegnen, schließlich konnten beide gut singen. „Und da mussten wir lachen, obwohl wir so traurig waren.“ Das Bilderbuch Gehört das so??!1 führt Kinder an das Thema Tod und Trauer heran, indem es den schweren Abschied von einem geliebten Haustiert schildert. Das tun zahleiche Kinderbücher, schließlich ist dies eine häufige erste Konfrontation mit dem Tod (neben dem der Großeltern, der auch öfters angesprochen wird.) „Die Tabuisierung und die 261

III. Tiereschatologie

Zurückdrängung der einstigen Allgegenwart des Todes haben dazu geführt, dass besonders für Kinder das Ableben eines Haustieres die erste Konfrontation mit dem Tod darstellt.“2 Der Abschied vom kleinen Käfigvogel Elvis wird dabei genau so gestaltet, wie hierzulande der Abschied von Menschen traditionell abläuft: Erdbestattung, „Reuessen“ (oder „Leichenschmaus“) mit den üblichen Erinnerungsgeschichten, welche die Beerdigung auch ins Heitere ziehen sollen. Am Ende bleibt im Park ein Grabstein zurück. Und auch wenn das Buch nicht konfessionell und religionspädagogisch ausgerichtet ist, evoziert es mit Kerzen und Weihrauch doch einen kirchlichen, ja katholischen Kontext (dem Betrachter der Bilder legt sich nahe, dass die Geschichte im Englischen Garten in München spielt). Und auch die Hoffnung auf ein Leben im Himmel nach dem Tod wird als tröstende Perspektive einbezogen. Vor allem aber thematisiert die Titelfrage, die laute, wütende Klage des namenlosen Mädchens die große menschliche Frage angesichts des Todes, den wir als „natürlichen Tod“ bezeichnen, und der doch quer durch die Zeiten und Kulturen nicht als natürlich erlebt und hingenommen wird: „Gehört das so?“ Es ist letztlich die Theodizeefrage, die hier in die Welt hinausgeschrien wird. Die tiertheologische Gretchenfrage Das Tier erscheint hier wie in manchen Kinderbüchern im Tod gänzlich wie ein Mensch behandelt. Offenbar ist dies ein probates Mittel, um mit Kindern über den Tod zu reflektieren. Diese Gleichbehandlung unter Erwachsenen aufrecht zu erhalten, erweist sich dagegen als überaus heikel. Wenn Erwachsene ihre Haustiere im Tod ähnlich behandeln wie Menschen, löst dies sehr geteilte Reaktionen aus – so wie jene Anzeige, die der Münchener ehemalige Stadtrat und Rechtsanwalt Bernhard Frickeim im September 2009 in der Süddeutschen Zeitung für sein verstorbenes Schaf Seraphina drucken ließ. Sie war offensichtlich auch als Demonstration gedacht: Seraphina wird darin als Botschafterin für die eigene Würde von Nutztieren bezeichnet. Die Anzeige enthält ein Zitat aus dem Buch Jesaja über den endzeitlichen Tierfrieden und endet mit dem Satz: „Wir werden uns wiedersehen.“ Die „Bild-Zeitung“ titelte daraufhin: „Määähh wie traurig.“ Die Web-Site „rosenheim24“ brachte die Meldung in der Sparte „kurios“. 262

Die tiertheologische Gretchenfrage

„Kommen Tiere auch in den Himmel?“ Vielleicht ist das die tiertheologische Frage, die öffentlich am häufigsten gestellt wird. Meist trauen sich nur theologische „Laien“ an diese Frage heran – und meist verziehen Theologen dann den Mund zu einem etwas genervten Lächeln, ein wenig von oben herab. Zu naiv, zu ungeschützt direkt erscheint diese Frage, zu sentimental die sich darin ausdrückende Tierliebe. Tiere sind in der theologischen Tradition ganz überwiegend nicht Eschatologie-fähig. Sie kommen also nicht in den Himmel. Aber ehe man das so klar sagt, lächelt man lieber gequält. Denn andererseits weiß man genau: Das macht den christlichen Himmel für viele noch unattraktiver als er eh schon ist. Der Himmel, diese nicht endende Ewigkeit in der beseligenden Gottesschau: Das klingt reichlich abstrakt und reichlich langweilig – niemand hat das so schön dargestellt wie Karl Valentin mit seinem unentwegt Halleluja rufenden Bayern im Himmel. Galt die Religion einmal als eine Maschine der Jenseitsverströstung, so scheint dieser Trost heute jedenfalls in unseren Breiten kaum mehr einer zu sein. Das mag an unserer Saturiertheit liegen: Es geht uns so gut im Diesseits, was soll da noch kommen? Es mag aber auch an diesem Theologen-Himmel liegen, dem ein echter Verheißungscharakter fehlt. Und dazu gehört dann auch der Aspekt: Wenn meine Katze nicht in den Himmel kommt, was soll ich dann da? Mit dem milden Lächeln über diese Frage steht also nicht nur die Tiervergessenheit der Theologie vor uns, sondern auch die Plausibilität des Erlösungsgedankens auf dem Spiel. Ist eine streng anthropozentrisch, nur für Menschen denkbare Erlösung überhaupt vorstellbar, wünschbar? Kann ein Erlösungsglaube durch Exklusion funktionieren? Andererseits steckt im gequälten Lächeln natürlich auch eine ernst zu nehmende Sorge: Der Himmel ist kein Ponyhof, kein Wunschkonzert. Eschatologie ist keine Verlängerung, keine Projektion unserer Vorstellungen vom guten Leben – kein Schlaraffenland. Ist also umgekehrt eine grenzenlos inklusive Erlösungslehre noch denkbar? Führt sie nicht alles ad absurdum, worum es in der christlichen Verheißungswelt geht? Eine überraschende Irritation in unserem theologischen Umgang mit Tieren führt das Erste Testament mit seiner Unterscheidung in Reine und unreine Tiere ein. Der Beitrag dazu deutet diese uns fremde „biblische Zoologie“ als Begrenzung menschlicher Verfügungsgewalt über die Schöpfung, aber auch im Blick auf die Heiligkeit von Tieren. Tiere sind mehr als eine sächliche „natura pura“ – sie besitzen eine eigene Gottesbeziehung. 263

III. Tiereschatologie

Keine Seele – keine Sünde – kein Himmel? In dieser Skizze kann keine Tier-Eschatologie ausgeführt werden, welche die Aufgabe einer künftigen ökologischen und darin Tier-sensiblen Theologie ist. Aber wir möchten in diesem dritten Teil unseres Buches einige Vorfragen klären und einige Weichen stellen, die eine solche Eschatologie möglich machen. Deshalb gilt es zunächst, sich die zwei wichtigsten Gründe vor Augen zu führen, die zum Ausschluss der Tiere aus dem christlichen Himmel führten: Tiere haben 1. keine Seele und Tiere haben 2. keine Schuld. 1. Die theologische Tradition hat unter dem schon frühkirchlich einsetzenden Einfluss des griechischen anthropologischen Denkens die Eschatologie auf das Schicksal der Seele konzentriert, die als unsterblich gilt. Das steht von Anfang an in einer gewissen Spannung zur weniger dualistischen biblischen Vorstellung der Auferweckung des ganzen Menschen, der „Auferstehung des Fleisches“, wie es im Glaubensbekenntnis ursprünglich heißt. Diese Spannung zusammen zu denken, hat die christliche Eschatologie stets in Atem gehalten: Wie kann sich die Seele nach dem Tod vom Leib trennen, wie kann sie dennoch nach dem Gericht wieder mit ihm vereinigt werden? Wie ist Leiblichkeit ohne materielle Körperlichkeit zu denken? All diese strittigen Fragen wurden jedoch verhandelt innerhalb des Konsenses, dass nur die Vernunftseele des Menschen der Ewigkeit, der Unsterblichkeit fähig ist. Vom biblischen ebenso wie vom modernen Denken bedarf es hier theologisch einer „Revision“ der „Lehre von den drei Seelenvermögen (vegetative, sensitive und Geistseele) und der daraus abgeleiteten These, dass allein der Mensch eine unsterbliche Seele besitzt“.3 Diese Neubearbeitung der theologischen Seelenlehre ist nicht nur von der Tiertheologie her eine dringende Aufgabe – und weitgehend noch nicht geleistet. 2. Die Eschatologie stellte traditionell stets die Frage nach der endgültigen Rettung vor der Verdammung. Es ging um die Alternative von Himmel oder Hölle. Schon von den neutestamentlichen Gleichnissen her bedeutete Auferstehung zugleich „jüngstes Gericht“. Die eschatologische Hoffnung schien identisch mit der endgültigen Rettung vor dem Bösen, der endgültigen Rechtfertigung durch die Gnade Christi zu sein. Tiere aber bedürfen dieser Gnade nicht. Sie sind – weil keine Vernunftwesen, keine Wesen der Freiheit und Entscheidung – der Sünde nicht fähig und deshalb auch von keiner Schuld zu erlösen. Paradoxerweise kann also den Tieren nichts verheißen werden, weil sie nicht böse sind. Sie haben nichts zu verlieren und deshalb auch nichts zu gewinnen. 264

Keine Seele – keine Sünde – kein Himmel?

Gegen diese scheinbaren theologischen Selbstverständlichkeiten sind zunächst einmal einige vorsichtige Zweifel zu äußern, bevor ich das sie rahmende eschatologische Konzept insgesamt problematisiere. ad 1: Die Theorie der unsterblichen Vernunftseele entspricht einer substanzialistischen Metaphysik, die sowohl vom biblischen als auch vom modernen Denken her nicht wirklich nachvollziehbar ist. Biblisch sind Menschen und Tiere mit einem Lebenshauch Gottes versehen: „Mit den Tieren haben die Menschen die ‚Lebenssubstanz‘ (oder ‚lebendige Seele‘) gemeinsam, die auf die Unterscheidung zwischen Einzelwesen und Spezies zielt.“4 In Genesis 1 (dem priesterschriftlichen Schöpfungshymnus) wird diese gemeinsame Abhängigkeit von der Ruach Gottes vorausgesetzt. Gott kann ihnen seinen Lebensgeist im Tod auch wieder entziehen (Ps 104,29), weshalb Kohelet auch Mensch und Tier dem gleichen Schicksal entgegen gehen sieht (Koh 3,19–21). In Genesis 2,7 (der zweiten Schöpfungserzählung) wird mit dem Blasen des Lebensatems in Adam wohl ein „besonderer Akt göttlicher Zuwendung“5 an Adam geschildert, der bei der Erschaffung der Tiere fehlt  – die denn auch nicht des Menschen Gefährten auf gleicher Ebene werden können. Doch begründet dies keine Systematik in der biblischen Seelen-Lehre: Schon in der „Sintflut-Erzählung … besitzen alle Lebewesen ‚Lebensatem in der Nase‘.“6 So ist denn auch neutestamentlich die Auferweckung ein schöpferisches TreueHandeln Gottes (etwa Röm 4,17) und nicht die Konsequenz aus der unsterblichen Natur unserer Seelen. Modern gedacht ist die Seele keine von ihren materiellen, körperlichen Bedingungen getrennt identifizierbare Substanz, sondern der Name für eine sich durchhaltende Identität in und jenseits dieser Bedingungen. Seele wäre also in einer künftigen Eschatologie eher relational als essentialistisch zu denken: Seele haben bedeutet beseelt zu sein, belebt. Lebendigkeit meint eine Identität, ein Innen, welches sich aktiv auf das außen bezieht. Auch dies knüpft an den biblischen Seelenbegriff an: Das hebräische Näfäsch bedeutet wörtlich Schlund, Rachen oder Kehle – eine lebendige Seele ist alles, was schnauft. Seele bedeutet „Atem, Leben (in seiner Individuation), Lebenskraft“7. Seele ist, was uns lebendig macht und damit auch ansprechbar für und von einander und Gott. Ob diese Bedingung dann so einfach an die Vernunft-Seele allein gekoppelt werden kann, ist schon im Blick auf schwer in ihren Gehirnfunktionen beeinträchtigte Menschen zu fragen: Hängt Beseeltheit am Denken – und 265

III. Tiereschatologie

an welchem Denken? Immerhin kannte die metaphysische Tradition die Unterscheidung unterschiedlicher Seelen-Stufen, kannte auch eine vegetative und eine animalische – Anima! Der in dieser Tradition sehr beheimatete Joseph Bernhart hat deshalb die Tiere selbstverständlich als „die beseelte Kreatur neben dem Menschen“8 bezeichnet, hat angesichts ihres Bewusstseins und ihrer Individualität vom „Ichpunkt der Tiere“9 gesprochen und sie deshalb auch nicht aus der Eschatologie ausgeschlossen. Doch er ist darin ein theologischer Einzelgänger geblieben. Und die Konsequenzen für die christliche Spiritualität? Franz von Assisi erscheint innerhalb der abendländischen Tradition geradezu als ein „christlicher Animist“. Dies sucht ein Kapitel dieses Teils zu zeigen und daraus theologische Folgerungen für heute zu ziehen: Christlicher Animismus? ad 2: Die biblische Erlösungsverheißung ist in der Konzentration auf den hamartiologischen Aspekt – auf Sünde und Rechtfertigung – schon zu eng geführt. Der Mensch wird nicht nur von der Sünde erlöst und vor der Hölle gerettet. Es werden auch Gewalt und Leid überwunden, es wird Gerechtigkeit hergestellt. Gott wird jede Träne abwischen (Jes 25,8, aufgegriffen in Offb 7,17 und 21,4). Gerade beim Blick auf das Leid, die Qual der Kreatur gehören aber auch die Tiere in den Blick, deren unausdrückbares Leid zum Himmel schreit. An der Kreatur, die nicht sündigen kann, wird sich doch millionenfach versündigt. In diesem Sinn lässt sich das, was Erlösungsbedürftigkeit ausmacht, sogar ganz besonders gut an den Tieren aufzeigen, an ihrer „stummen“ Wehrlosigkeit, ihrem Status als Opfer (bis in die biblische Religion hinein), daran, dass sie ihr Recht nicht selbst vertreten können (woraus das europäische Recht lange schloss, dass sie auch keines haben). Gott hat nicht nur die Menschen, sondern die Welt mit sich versöhnt (2 Kor 5,19). Nicht nur der Mensch, sondern die ganze Schöpfung liegt in Seufzen und Wehen und wartet auf die Erlösung (Röm 8,19–22). Die Theologie steht deshalb nicht nur vor der – in der Tradition unbefriedigend gelösten – Aufgabe der Zusammenführung von individueller und kollektiver Eschatologie, sondern der einer Erweiterung der kollektiven zur schöpfungstheologischen, ökologischen Eschatologie. Wir erwarten einen neuen Himmel und eine neue Erde (Jes 65,17, wieder aufgegriffen in Offb 21,1). Darin müssten 266

Eschatologie hermeneutisch und pragmatisch

auch die Tiere ihren Ort haben, die (nach Gen 9,12) bundesfähig sind, berufen zur Gemeinschaft mit Gott. Aber wie kann man sich Tiere als Bundesgenossen konkret vorstellen? Das Kapitel Bestiarium symbolicum in diesem Teil hebt den Schatz der religiösen Tier-Darstellungen in der frühen christlichen Kunst, in dem Tiere weit mehr darstellen als Illustration. Es geht um die Verwandlungsfähigkeit der Tiere. Sie werden in die Erlösung einbezogen, welche die Welt realiter verändert. Die Berufung der Kreatur besteht im Lob Gottes10. Das Unzerstörbare der Schöpfung ist ihr Gotteslob, in das (laut Offb 5,13) „alle Geschöpfe im Himmel und auf der Erde, unter der Erde und auf dem Meer, alles, was in der Welt ist“ einstimmen werden.11 Ist das mehr als eine fromme Metapher? Dieses Lob gilt einem geschlachteten Lamm auf dem Thron – dem Lamm Gottes, einem mehr als nur symbolischen Tier: Es postuliert eine Weltrevolution, eine Geschichtsschreibung vom geretteten Opfer her. Dies zeigt das Kapitel Das Lamm Gottes in diesem Teil. Eschatologie hermeneutisch und pragmatisch Um diese Kernfragen in eine „Eschatologie mit Tieren“ überführen zu können, sind jedoch Grundfragen eschatologischen Denkens aufzuarbeiten, ohne deren Klärung die bisher angedeuteten Thesen positivistisch-unvermittelt bleiben müssten. Das gequälte Lächeln des Theologen auf die Frage nach den Tieren und dem Himmel gilt wahrscheinlich nicht nur den Tieren, sondern genauso dem Himmel, weil ihm beides als zu naiv vorgestellt erscheint. Die Frage, ob Tiere in den Himmel kommen, ist auch deshalb theologisch nicht direkt, nicht frontal zu beantworten, weil sie falsch gestellt ist. Sie denkt Eschatologie als eine Information darüber, was im Jenseits geschieht, und sie denkt das Jenseits als einen übernatürlichen Ort. Sie denkt in einer Weise metaphysisch-religiös, die den meisten Zeitgenossen mit guten Gründen geradezu mythologisch vorkommen wird. Die Kritik eines solchen eschatologischen Modells hat Karl Rahner schon 1960 in seinem berühmten Aufsatz über die Hermeneutik eschato267

III. Tiereschatologie

logischer Aussagen geleistet.12 Seine Grundthese: So wie Offenbarung insgesamt keine göttliche Informationssammlung über dem Menschen sonst unbekannte übernatürliche Sachverhalte ist, sondern die Selbsteröffnung Gottes und seines Willens für und mit uns, so ist auch die Eschatologie keine Information über die „letzten Dinge“, kein jenseitiges Zukunftspanorama, sondern die Durchführung der christlichen Theologie im Modus der Hoffnung. Sie ist „nicht eine zusätzliche Mitteilung zu der dogmatischen Anthropologie und Christologie, sondern nichts anderes als eben deren Transposition in den Modus der Vollendung.“13 Die eschatologischen Aussagen der Bibel sind keine Informationen über einen heilsgeschichtlichen Fahrplan und über eine Zukunft, von der wir uns keinerlei Vorstellungen mache können. Sie sind Verheißungen, also Aussagen über Gottes Treue und seinen Willen mit der Schöpfung. Noch schärfer wird diese Entmythologisierung des Eschatologischen, wenn man den pragmatischen Charakter der biblischen und religiösen eschatologischen Sprache reflektiert: In der Gerichtsrede, in den Endzeitgleichnissen geht es stets um eine bestimmte Haltung in der Gegenwart und um die Kritik dieser Gegenwart. Die eschatologische Perspektive auf die Wirklichkeit ändert unser Verhältnis zu ihr, ethisch, politisch, spirituell. Hier hat die existenzialistische Deutung (Rudolf Bultmann) der Eschatologie als Rufes in die Entscheidung ihr Recht. So wie Verheißung etwas anderes ist als Information, so ist auch der Appell etwas anderes als Prognostik. Übertragen auf unser spezielles Thema: Eschatologie hat also nicht zu fragen, was wir über die Rolle der Tiere im Jenseits wissen können – weil sie schon die Frage, was wir über das Jenseits wissen können, nie recht wird beantworten können. Sie hat vielmehr zu fragen, inwiefern die Tiere in die biblischen Verheißungen und die christliche Orientierung an ihnen hinein gehören. Eschatologie diesseitig und metaphorisch Allerdings hat andererseits gerade die moderne Hermeneutik und Pragmatik eschatologischer Aussagen die Antwort auf diese Frage wieder versperrt. Denn in seiner Durchführung gerieten Hermeneutik und Entmythologisierung bei und erst recht im Gefolge von Rahner und Bultmann in eine anthropozentrische14 und abstrakte Engführung. Indem die Hermeneutik transzendental und die Entmythologisierung existenzial durchgeführt wurden, 268

Eschatologie diesseitig und metaphorisch

blieben nur noch Hoffnungsgehalte der menschlichen Subjektivität aussagbar. Um dem Verdacht informierender Gegenständlichkeit zu entgehen, werden diese möglichst so abstrakt formuliert, dass ihnen tendenziell jede politische, soziale und erst recht kosmische Dimension ausgetrieben wird. Und auch im Blick auf die pragmatische Dimension der Eschatologie lassen sich Appell und Verheißung nicht voneinander trennen: Die pragmatische Funktion funktioniert ja nicht mehr, wenn sie „durchschauend“ nur noch auf sich selbst reduziert wird. Was soll sie dann motivieren? Ohne echte Erwartung wäre sie nur noch „Gesetz“. Der biblischen Eschatologie haftet bleibend ihre mangelnde Trennschärfe zwischen „diesseitigen“ und „jenseitigen“ Bildern der Vollendung an: Prophetische Israel-Hoffnungen, apokalyptische Universalisierungen, weisheitliche Individualisierung, neutestamentliche Auferstehungs- und ReichGottes-Botschaft sind nicht sauber auf einen Nenner zu bringen. Die Vollendung ist messianisch auf das Volk und Reich, sie ist paulinisch auf die Verwandlung unseres Leibes, sie ist prophetisch auf einen die Tiere einbeziehenden kosmischen Schalom, sie ist apokalyptisch sowohl auf die Auferstehung des Einzelnen als auch auf die erneuerte Schöpfung ausgerichtet. Dies muss theologisch gerade als ihre Stärke reflektiert werden. Eschatologie reflektiert alle Dimensionen eines befreiten Lebens aus der Gnade – einer nur begnadigt und begnadet denkbaren wirklichen Befreiung. Eschatologie ist in diesem Sinn die Utopie dessen, was um Gottes Willen sein soll. Nur eine Utopie, ohne phänomenalen Bezug? Den erfahrbaren Vorschein des eschatologischen Schalom reflektiert das Kapitel Animal ludens über das Spiel als die Mensch und Tier gemeinsame Freiheit. Als unsere Mit-Spieler gehören Tiere nicht nur in die Natur, die Schöpfung, sondern auch in das „Reich der Gnade“. Eschatologie übersteigt das „Diesseits“, nimmt es aber mit. Individuell-metaphysische Reduktionen, bruchlose Identifikationen individueller und kollektiver Eschatologie überwinden nicht die biblische Uneindeutigkeit, sondern unterschreiten ihr Verheißungsniveau. „Kirchen und erst recht unsere Theologien leiden spürbar an einem Mangel an materiellen Hoffnungen.“15 Dasselbe gilt für den Abstraktionsgrad, mit dem die westliche Eschatologie von der Vollendung menschlicher Freiheitsgeschichte, von Gottesschau, absolutem Heil u.  ä. spricht. Die biblische Eschatologie spricht durchgängig metaphorisch. Wie sollten wir gerade von etwas, wovon uns 269

III. Tiereschatologie

jede Vorstellung fehlt, anders als in Bildern sprechen? Der scholastischphilosophische ebenso wie der moderne Versuch, diese Bildebene abstrakt aufzulösen, unterliegt der Täuschung, durch eine Art Sublimierung eschatologischer Inhalte näher an deren Eigentlichkeit heranzukommen.16 Doch der metaphorische Gehalt biblischer eschatologischer Verheißungen hat einen Überschuss gegenüber jeder abstrakten eschatologischen Systematik. „Die Bilder der Hoffnung geben uns, worauf mit unseren Seelen auch unsere Gedanken zielen sollen und können.“17 Nur weil wir die Völkerwallfahrt, den Tierfrieden, das große Gastmahl, das neue Jerusalem usw. nicht in eins denken können, sind deshalb abstrakte Konzepte (visio beatifica) trotzdem immer noch Metaphern, meist aber „dünnere“. Und sie unterlaufen damit die kollektive und weltliche Dimension biblischer Eschatologie. „Gerettet und bleibend in der Dimension Gottes geborgen wird der Mensch … nicht als isolierte Monade“18 – in der traditionellen Dogmatik erscheint das aber überwiegend so. Welcher Himmel lohnt das Hoffen? Die Rede vom Paradies hat protologisch wie eschatologisch immer mehr bedeutet als einen abstrakten Seelen-Himmel. Das Paradies ist ein Garten, undenkbar ohne Pflanzen und Tiere. Diese zentrale eschatologische Metapher greift in diesem Sinne das Kapitel Der Garten als Existenzweise auf, das diesen Band beschließt. Die Frage, ob auch Tiere in den Himmel kommen, ist auch deshalb nicht richtig gestellt. Sie fügt Tiere (welche? alle?) nur unserem schon zuvor verengten SOS-Konzept (Save our Soules) hinzu. Die himmlische Ewigkeit lässt sich als eine Zusammenstellung von Menschen und Tieren, eine Art eschatologischer Arche, genauso wenig denken wie als die Versammlung lauter – schließlich auch mit ihren Leibern wiedervereinigter – menschlicher Seelen der gesamten Menschheitsgeschichte. Sie lässt sich nur als Neue Schöpfung, als Vollendung der Schöpfung erhoffen. Hoffnung für andere Hoffnung aber gibt es streng genommen nur für andere, sagte Franz Kafka. Er sagt es negativ: Es gibt unendlich viel Hoffnung, „nur nicht für uns“.19 Emmanuel Lévinas hat dies ins Positive gewendet20: Hoffnung gibt es nur 270

Hoffnung für andere

praktisch, nur ethisch. Sie besteht darin, auf ein Jenseits der Zeit und Jenseits der Totalität unserer Seinserfahrung hin zu handeln. Denn dies ist die einzige Hoffnung, die auch angesichts des Todes Sinn hat. Wer jedoch Hoffnung praktiziert, der vergibt sich selbst in die Verantwortung angesichts der Anderen. Seine Hoffnung ist also Hoffnung für sie, an sie verausgabte und von ihnen herkommende Hoffnung. Während unser Leben sich in der Diachronie seines Vollzugs  – im Altern!  – verausgabt, legt es die Hoffnung in das, woran es sich verausgabt, in das, wovon her es von jemand angerufen ist, unbedingt, das Sein übersteigend. Hoffnung ist nur daraufhin, dass dieser Ruf tatsächlich Transzendenz bedeute. Diese Phänomenologie holt eine geschichtliche biblische Erfahrung ins Individuelle und so Universale (ins je meinige) ein: Israel kam, obwohl kulturell benachbart zur Unsterblichkeitssymbolik Ägyptens, erstaunlich lange ohne Jenseits-Theologie aus. Die Bindung an den transzendenten Gott JHWH war frei von Unsterblichkeitsfantasien, frei von einer Eschatologie als Verlängerung der eigenen Subjektivität. Erst in der Verfolgung unter den Seleukiden, erst angesichts von Märtyrern für den Willen Gottes brach in der Apokalyptik die individuelle Auferstehungsfrage mächtig auf – zunächst also als Frage nach dem Schicksal jener, der Anderen, die sich verausgabt hatten für ihren Gott. Auch die Auferstehung Jesu, des Lamm Gottes, knüpft an diesen Traditionsstrang an. Hoffnung für andere meint: Eschatologie nicht als egoistische Selbstverlängerung, sondern als Notwendigkeit, als „Postulat“ für die Opfer, die unschuldigen Gerechten, die geschundene Kreatur. Als solche Theologie der Hoffnung im intensivsten Sinn überwindet sie auch erst wirklich den informierenden Charakter, den Rahner kritisierte. Sie ist kein Wissen, Haben, Schauen. Sie ist Glaube, Sich-Ausstrecken und Gebet: Rufen, Klagen, Seufzen, „Maranatha“ (Offb 22,10). Die Eschatologie ist deshalb auch der Traktat, in dem die Theologie am stärksten an den Rand des Redens über Gott zu dem zu Gott gerät. Die Eschatologie ist jene wirkliche Theodizee, welche wir Gott überlassen müssen. Eschatologie ist also Theologie in ihrem Äußersten, an ihrem äußersten Rand. Aber gerade damit steht und fällt die gesamte Theologie: Ohne diese Hoffnung für die Anderen ist sie nichts wert. Denn hier erweist sich, ob sie es insgesamt mit ihrer Rede von Schöpfung und Erlösung überhaupt ernst meint. Und das kann sie nur, wenn sie im wahren Wortsinn aufs Ganze geht. Eine solche Theologie der Hoffnung ist deutlich näher bei den vermeintlich a-logischen Wesen als bislang angenommen: als Ge271

III. Tiereschatologie

bet, Schrei und Seufzen der Kreatur. Alles was atmet, lobt nicht nur den Herrn, es sehnt sich auch mit allen Fasern seines Seins nach ihm. Wissen wir vom Kommen des Reiches Gottes wirklich mehr als jener junge Esel, welcher Jesus nach Jerusalem hinein trug (Lk 19,29–35) und der auf seine Weise sicher genauso erkenntnisfähig war für das, was dort vor sich ging wie der Esel Bileams (Num 22,22–33)? Und wenn Jesus auf eben diesem Ritt prophezeit, es würden beim Schweigen der Menschen die Steine schreien (Lk 19,40) – wie sollte dies nicht erst recht der Esel tun? Gregor Taxacher

Anmerkungen 1

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Schössow, Gehört das so??! Dank an Hiltrud Haas für die Einführung in Bilderbücher über Sterben und Tod. Amor, Ist der Himmel auch für Tiere offen?, 272. Ebd., 273. Schüle, Die Urgeschichte, 43. Ebd., 59. Ebd. Haag, Art. Seele, 373. Bernhart, Die unbeweinte Kreatur, 7. Ebd., 69 und 99. Vgl. etwa Ps 145,21; 148,10 und den Abschluss des Psalters Ps 150,6, von dem wir uns den Titel dieses Buches geborgt haben. Bernhart, Die unbeweinte Kreatur, 230. Rahner, Theologische Prinzipien der Hermeneutik eschatologischer Aussagen, 401–428.

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Ebd., 415. Nicht zufällig verbindet der eben zitierte Satz von Rahner die Traktate Anthropologie und Christologie – warum nur sie? Marquardt, Was dürfen wir hoffen I, 153. Obwohl sich Rahner im zitierten Aufsatz (a. a. O. 426 f.) dieser Gefahr sehr wohl bewusst war. Marquardt, Was dürfen wir hoffen, 127. Amor, Ist der Himmel auch für Tiere offen?, 272. Agamben, Die Zeit, die bleibt, 69. Dazu ausführlicher mein Aufsatz: Taxacher, Messianische Geschichte, 217–233. Die eschatologische Bedeutung des Denkens von Lévinas findet sich in diesem Sinne zusammengefasst bei Wohlmuth, Mysterium der Verwandlung, 57–72 und 124–126.

Reine und unreine Tiere Eine Zoologie der Heiligkeit

Sehr oft geht es in der Religion gar nicht um die großen Fragen nach Gott und Welt, sondern um Regeln für den Alltag, um Speisegebote, um Festzeiten und die Gestaltung der Feiertage oder um die Kleidung. Zwischen den Religionen tun sich da Unterschiede auf, die jenseits aller Glaubensfragen das Zusammenleben schwierig machen. Eine junge Frau aus meiner Familie wollte einen orthodoxen Juden heiraten, aber die Ehe kam nicht zustande, weil er sie auf die jüdischen Speisegebote, auf das Tragen der für jüdische Frauen angemessenen Kleidung und den jüdischen Festkalender incl. Synagogenbesuch verpflichten wollte. Eine christlich-muslimische Ehe wäre aus ähnlichen Gründen kaum zu führen, wenn beide Partner auf den Vorschriften ihrer Religionen beharren. Noch vor wenigen Generationen war selbst eine katholisch-evangelische Mischehe so gut wie unmöglich, und zwar nicht wegen der Differenzen in der Rechtfertigungslehre oder in Bezug auf die Gegenwart Christi beim Abendmahl, sondern wegen der Frage, ob man am Karfreitag arbeiten darf oder nicht, in welche Kirche man am Sonntag geht und wie man es mit dem Nüchternheitsgebot vor der Messe hält, ob an den Freitagen Fleisch auf den Tisch kommt und was in der Fastenzeit auf dem Speisezettel steht. Ein verwirrender Befund In den Anfängen des Christentums wird es nicht viel anders gewesen sein. Warum haben sich Christen und Juden getrennt? Wegen der Gottessohnschaft Jesu? Weil die Christen behaupteten, Jesus sei der Messias? Bei dem 273

III. Tiereschatologie

heftigen Konflikt, von dem Paulus im 2. Kapitel des Galaterbriefs berichtet, ging es nicht um diese Fragen, sondern um die Tischgemeinschaft von Judenchristen und Heidenchristen. Petrus pflegte, wenn er mit Heiden aß, die jüdischen Speisegebote außeracht zu lassen, aber wenn er mit Juden zu Tisch saß, hielt er sie ein. Für Paulus war das pure Heuchelei und er ließ es deswegen zur Konfrontation kommen: „Ich widerstand ihm ins Angesicht.“ Der Streit um diese Frage war so groß, dass man sie vor die Versammlung der Apostel in Jerusalem brachte. Das sog. Apostelkonzil, das, wenn man so will, erste Konzil in der Geschichte des Christentums, beschäftigte sich demgemäß vorrangig mit Speisevorschriften. Die Apostel fassten einen Beschluss, nach welchem die Heidenchristen von allen jüdischen Geboten und Verboten (u. a. der Beschneidung) frei waren. Nur das Essen von Götzenopferfleisch (Fleisch von Tieren, die vorher in einem heidnischen Tempel dargebracht worden waren; solches gab es überwiegend auf den Märkten zu kaufen), den Genuss von Ersticktem und von Blut (also von Fleisch nicht ordnungsgemäß geschlachteter Tiere) und von Unzucht (wohl auf die Ehe mit Verwandten zu beziehen) sollten sie meiden: Das waren die Fragen, die die junge Christenheit praktisch bewegten (vgl. Apg 15). Paulus hat dann aus dieser Sache eine große Theologie über Gesetz und Evangelium entwickelt; es fragt sich aber, ob in der Alltagspraxis es wirklich diese Theologie gewesen ist, die die jüdische und die christliche Gemeinschaft einander entfremdet hat. Juden essen kein Schweinefleisch, Christen tun es, also sind Christen keine Juden  – so wird die gewöhnliche Wahrnehmung gewesen sein.1 Schweinefleisch war in der hellenistischen Welt weit verbreitet und billig zu haben. Juden ließen es sich etwas kosten, wenn sie darauf verzichteten. Auf den Tischen der Christen standen hingegen schon bald duftende Schweinebraten (aus meiner Kindheit habe ich den Geruch vom Sonntagsbraten noch in der Nase). War das für einen Juden nicht ein Motiv, Christ zu werden? Bzw. für einen Heiden, der sich dem Monotheismus Israels anschließen wollte, kein Jude sondern Christ zu werden? Man wird nie ermitteln, wie stark die Lösung von den jüdischen Speisegeboten die Ausbreitung des Christentums gefördert hat, aber ich schätze, der Anteil war bedeutend. Die Vision, die Petrus laut Apg 10,9–23 zuteilwurde – als er Hunger hatte, öffnete sich der Himmel und eine Schale kam auf die Erde herab, die voll war mit allem möglichen Vierfüßlern, Kriechtieren und Vögeln, und eine Stimme ertönte: „Steh auf, Petrus, schlachte und iss!“ – bringt wohl ein Grunderlebnis der jungen Christenheit zum Ausdruck. Endlich war man die Bindung an die 274

Reine und unreine Tiere

überaus komplexen und einschränkenden Speisegebote der Juden los. Man hatte auch das Wort Jesu aus Mk 7: „Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Munde des Menschen herauskommt, das macht ihn unrein.“ Die Meinung, dass es nicht auf die kleinliche Einhaltung von Reinheitsvorschriften ankommt, sondern auf die innere, moralische Reinheit, war unter den Gebildeten jener Zeit weit verbreitet.2 Christen, die sich an das Wort Jesu hielten und die vielen Einzelvorschriften für die Bewahrung der Reinheit hinter sich ließen, konnten sich der Zustimmung aufgeklärter Zeitgenossen sicher sein. Reinheit als ethisches Prinzip, das kann man gelten lassen und tut es bis heute, aber sich vom Gesetz vorschreiben zu lassen, welche Tiere rein und welche unrein sind, darüber waren die Christen hinweg. Vermutlich hat dieser Faktor die Trennung zwischen Christen und Juden viel mehr befördert als die theologischen Unterschiede, über die die Gelehrten diskutierten. Die Bestimmungen über rein und unrein in Lev 11–15 gehören im Übrigen zu den unangenehmsten Teilen der Bibel. Man kann sie geradezu widerwärtig finden. Da ist von reinen und unreinen, ja sogar von abscheulichen Tieren die Rede, von der Geburtsunreinheit der Frauen (bei der Geburt eines Jungen sieben Tage, bei Mädchen zwei Wochen), vom Aussatz an Menschen, Kleidern und Häusern, vom Samenerguss bei Männern, vom Menstruationsblut bei Frauen und von Leichen und Aas. All das macht „unrein“. Es fällt schwer, irgendeinen Sinn darin zu erkennen. Nehmen wir die Aussagen über die Tiere (Lev 11). Rein und damit essbar sind alle Landtiere, die gespaltene Klauen haben, Paarzeher sind und wiederkäuen. Landtiere, die diese drei Merkmale nicht aufweisen, sind unrein und dürfen nicht gegessen werden. Zum Beispiel das Kamel, weil es keine gespaltenen Klauen hat, und auch nicht der Hase, „weil er zwar wiederkäut, aber keine gespaltenen Klauen hat“ (V. 6), und ebenfalls nicht das Schwein, weil es nicht wiederkäut. Man kann sich vorstellen, dass das Schwein wegen seines Gestanks und seiner Eigenart, im Dreck zu wühlen, für unrein erklärt worden ist, aus hygienischen Gründen also, aber dass es unrein sein soll, weil es nicht wiederkäut, das überrascht. Neben der Kategorisierung nach rein/ unrein taucht noch die Kategorie der Tiere auf, die „euch (den Israeliten) abscheulich“ sein sollen. Das sind alle Wassertiere, die keine Flossen und Schuppen haben, dazu eine ganze Reihe von Vogelarten, ferner alle Kleintiere mit Flügeln und vier Füßen. Auch die abscheulichen Tiere darf man nicht essen; tut man es doch, bleibt dies jedoch ohne Folgen. Es gibt aber 275

III. Tiereschatologie

Ausnahmen bei den Kleintieren mit Flügeln und vier Füßen. Wenn sie Springbeine haben, darf man sie essen, wenn sie auch abscheulich bleiben (eine Reihe von Heuschreckenarten werden in diesem Zusammenhang genannt). Die auf dem Boden kriechenden Tiere (z. B. die Maus, der Maulwurf, die Eidechse) sollen die Israeliten wiederum für „unrein“ halten, abscheulich aber werden sie nicht genannt. Alle Gegenstände, auf die eines dieser Tiere fällt, wenn es tot ist, werden unrein und müssen gereinigt, ggf. sogar zerstört werden, so etwa Tongefäße. Auch alles, was sich in einem solchen kontaminierten Gefäß befindet oder was nach dem Unrein-Werden darin zubereitet wird, ist unrein. Die Ausführungen unterscheiden nicht nur die Tierarten an sich, sondern auch, ob sie lebend oder tot sind. Das spielt eine Rolle für die Frage, ob man sie berühren oder nicht berühren darf. Alles Aas von Tieren macht bei Berührung unrein, mit Ausnahme der reinen Tiere, die man offenbar auch als Aas berühren darf. Denn sie sind kultfähig, sie sind es, die in das Heiligtum gebracht und dort geopfert werden – und dazu müssen sie ja tot sein und auch berührt werden. Lev 11 benutzt also eine ganze Reihe von Unterscheidungen: kultfähig – nicht kultfähig rein – unrein zu essen erlaubt – zu essen verboten abscheulich – nicht abscheulich als lebendige Tiere berührbar – bzw. nicht berührbar als Aas berührbar – bzw. nicht berührbar, die auf verschiedene Weise miteinander kombiniert werden können: rein, aber nicht abscheulich; abscheulich, aber nicht unrein und entweder essbar oder nicht essbar; unrein machend, wenn man sie berührt, entweder als lebendige oder als tote Tiere usw. Da kenne sich noch einer aus! Aber nicht nur, dass diese Bestimmungen so überaus komplex sind, nimmt gegen sie ein – war es eigentlich jemals möglich, sie im Alltag alle zu beachten? – und nicht nur, dass sie auf ungenauer, unwissenschaftlicher Naturbeobachtung beruhen  – der Hase als Wiederkäuer, nur weil sein Mümmeln diesen Anschein erweckt! – macht sie uns heute fremd, sondern vor allem der Umstand, dass sie von dem „Herrn“, von Gott selbst stammen sollen. Denn so setzten ja die Reinheitsvorschriften in Lev 11–15 jeweils ein: „Der Herr sprach zu Mose [manchmal: ] und Aaron: Sagt den Israeliten: Das sind die Tiere, die ihr von allem Vieh auf der Erde essen dürft“ oder „Das ist das Gesetz für die Aussätzigen“. Warum sollte 276

Reine und unreine Tiere

aber der Herr, der doch die Tiere geschaffen hat und sie nach Auskunft der ersten Schöpfungserzählung alle „gut“ fand, nun einige als unrein, andere gar als abscheulich bezeichnen? Warum hat er Tiere geschaffen, die er verabscheut?3 Zumal er sich nach Auskunft der Erzählung von der Arche Noah auch noch bemüht hat, sowohl die reinen wie die unreinen Tiere vor dem Ertrinken zu retten (Gen 7). Hätte er nicht alles, was seiner Meinung nach unrein und abscheulich ist, bei dieser Gelegenheit einfach von der Erde verschwinden lassen können? Stattdessen fordert die Bibel an verschiedenen Stellen die Tiere, alle Tiere, auch die sog. unreinen und abscheulichen, dazu auf, Gott zu loben (z. B. Ps 104). Sollen sie einen Herrn loben, der sie abscheulich findet? In jedem Falle ist es eine sehr seltsame Zoologie, die die Bibel hier bietet. Sollte man sie christlicherseits nicht den Juden überlassen, die sich seit über 2000 Jahren damit herumplagen, und sie mit Jesu Wort in Mk 7 und der Vision des Petrus einfach als für Christen irrelevant abtun? Dass sie aus dem Teil der Bibel stammen, den die Exegese der sog. Priesterschrift zuordnet, mag zusätzlich gegen sie einnehmen. Wollen wir uns von alttestamentlichen Priestern, die ihre Zeit damit verbrachten, im Tempel massenhaft Tiere zu opfern, über den rechten Umgang mit Tieren belehren lassen? Alle Vorurteile gegen die jüdische Gesetzlichkeit werden durch diese Vorschriften bestätigt: dass sie von Priestern erlassen wurden, die die Autorität Gottes für ihre eigenartigen Vorstellungen missbrauchten; dass sie ebenso kleinlich wie uneinsichtig sind; dass sie das ganze Leben reglementieren. Haben wir hier den schlagenden Beleg dafür, dass der Gott des Alten Testaments despotisch, willkürlich und lebensfeindlich ist? Im Übrigen scheinen alle diese Bestimmungen eine gewisse Aversion gegen die Natur und zumal gegen alles Geschlechtliche zu verraten. Wir wissen, wie verhängnisvoll das Ideal der sexuellen Reinheit im Laufe der Geschichte gewirkt hat und wie restriktiv es gehandhabt wurde und zum Teil noch wird. Ist es überhaupt gut, zwischen Reinheit und Unreinheit zu unterscheiden? Wer Reinheit sagt, der sagt auch Unreinheit, wer Reinheit schaffen will, der schafft auch Unreinheit. Vielleicht ist das klinisch reine Büro der Gegenwart, vielleicht unser Umgang mit Geräten, die wir gerade noch mit den Fingerspitzen berühren, der letzte Triumph der Reinheitsideologie. Wie viel muss nicht ausgegrenzt und für unrein erklärt werden, um dem Ideal der Reinheit zu genügen? Was können wir also der biblischen Unterscheidung von reinen und unreinen Tieren im Rahmen einer Theologie der Tiere heute abgewinnen? 277

III. Tiereschatologie

Reinheitsgebote, Tierschutz und Ökologie Was aus menschlicher Perspektive keinen Sinn zu machen scheint, nimmt sich aus Sicht des Schweins anders aus: Es hat dem Umstand, dass es kein Wiederkäuer ist, seine Rettung vor den jüdischen Kochtöpfen zu verdanken (und wenn man die Linie weiterzieht: auch vor den muslimischen). Der Hase, wenn er auch über seine Einordnung als Wiederkäuer nicht glücklich sein mag, könnte in diese Perspektive einstimmen. Und so viele andere Tiere auch – ja eigentlich fast alle, denn von den Landtieren sind nur Rind, Schaf und Ziege für den Verzehr freigegeben, alle „unreinen“ und die meisten „abscheulichen“ Tiere zu Lande, in der Luft und zu Wasser sind geschützt. Und das nicht nur vor dem Geschlachtetwerden, sondern vor jedem Gebrauch ihrer Körper auch nach dem Tod, denn es ist ja verboten, ihre Kadaver zu berühren.4 Haben wir in Lev 11 das umfassendste Tierschutzprogramm der Weltgeschichte vor uns? Eines, das sogar Wasser auf die Mühlen der Veganer ist? Jacob Milgrom, ein jüdischer Gelehrter, der sein Leben der Erforschung der Reinheitsgebote gewidmet hat, sieht es tatsächlich so. Für ihn geht es in diesen Bestimmungen darum, den menschlichen Zugriff auf die Tiere zu begrenzen. Die priesterlichen Verfasser, auf deren Konto auch die Anweisung zum paradiesischen Vegetarismus in Gen 1,29 geht, haben nach der (vielleicht nur situativ zu verstehenden) Erlaubnis zum Fleischverzehr in Gen 9,3 Regeln aufgestellt, die gleichsam wieder so sehr wie möglich auf die paradiesischen Zustände zurücklenken sollen. „In Milgroms Verständnis könnte man die Priester als Vorgänger der heutigen ‚Grünen Bewegung‘ beschreiben.“5 Man hat gegen Milgrom eingewandt, dass zwar Tierarten zum Verzehr verboten werden, nicht jedoch die Menge an Fleisch bei den erlaubten Tieren; aber nach seiner Meinung waren einem übermäßigen Fleischkonsum in Israel schon allein wirtschaftliche Grenzen gesetzt. Man kann auch fragen, warum die Tiere dann nur für Israel verboten waren und nicht, wie der Blutgenuss in Gen 9,4, für alle Völker – aber es ist einleuchtend, dass die Lage der Verfasser des Buches Leviticus nicht so war, dass sie für alle Völker hätten Vorschriften erlassen können. In jedem Fall liegt in den Reinheitsgeboten so etwas wie eine Ethik der Beschränkung. Die Frage ist nur, ob das auch das Motiv der Verfasser gewesen ist. Einen entschiedenen Fürsprecher haben die biblischen Reinheitsgebote in dem Biologen Aloys Hüttermann gefunden.6 In dem zusammen mit seinem Sohn verfassten Buch Am Anfang war die Ökologie legt er kenntnisreich dar, dass zahlreiche Torabestimmungen, und darunter besonders die Gebote 278

Reine und unreine Tiere

über reine und unreine Tiere, einen praktisch-ökologischen Sinn hatten. Paradigmatisch ist für ihn das Verbot Dtn 22,6 f, die Vogelmutter zusammen mit ihren Eiern oder Jungen aus dem Nest zu nehmen, mit der Begründung: „damit es dir gut geht und du lange lebst“. Das ist das biblische Prinzip der Nachhaltigkeit (auch wenn der Fall mit der Vogelmutter wohl kaum mal vorgekommen sein wird)! Das Volk Israel lebte in einer kargen, stets von Trockenheit bedrohten Umwelt. Sein Überleben konnte nur gesichert werden, wenn der Zugriff auf die natürlichen Ressourcen rigoros beschränkt und zugleich der Ertrag der Landwirtschaft maximal optimiert wurde. Andere Völker, so Hüttermann, haben unter gleichen Bedingungen nicht überlebt, während Israel sogar Ernteerträge aus dem Saatgut gezogen hat, die in dieser Höhe erst in der Moderne mit dem Einsatz von Kunstdünger wieder erreicht wurden.7 In diesem Zusammenhang leuchten auch die Schutzbestimmungen für Tiere ein, die in Lev 11 formuliert wurden. Bei den Vogelarten sind z. B. alle Aasfresser geschützt, die als „Gesundheitspolizei“ der Natur dienen, dazu die Raubvögel, die Krankheitsüberträger wie Mäuse und Ratten verzehren, ferner sämtliche Insektenfresser, die die Gefahr von Insektenplagen (Heuschrecken!) und Krankheitsübertragung (Malaria!) vermindern. Das biblische Gegenbeispiel für eine Wirtschaft, die ohne ökologische Rücksichten vorgeht und deshalb in die Krise kommt, ist das Ägypten der „zehn Plagen“ (Ex 7–11). Die Abfolge dieser Plagen ist nach Hüttermann auf eine fortschreitende Verschärfung der ökologischen Situation durch Übernutzung und falsche Behandlung der Umwelt zu deuten. Das Gesetz für Israel steht dann unter der Verheißung: „Keine der schweren ägyptischen Seuchen, die du kennst, wird er [der Herr] dir auferlegen“ (Dtn 7,15); die Toragebote sind dazu die Ausführungsbestimmungen. Reinheit und Heiligkeit Lev 11 als Tierschutzgesetz, als Kern einer ökologisch-nachhaltigen Ordnung? Das mag so sein, das mag sicher auch ein Effekt dieser Bestimmungen sein, wenn sie eingehalten werden. Aber das Problem ist, dass diese Absicht in den biblischen Texten mit keinem Wort ausgesprochen wird.8 Stattdessen geht es dort um Heiligkeit. Die Reinheitsgebote in Lev 11–15 sind Teil des Heiligkeitsgesetzes (Lev 1–26), und dessen Thema ist die Unterscheidung von heilig und unheilig bzw. von Gegenständen, Tieren und Personen, die Zugang haben zum Heiligtum – dem Tempel – und solchen, 279

III. Tiereschatologie

die es nicht haben. Soll man annehmen, dass die Priester dieses ganze Reden über Heiligkeit nur vorgeschützt haben, um in einer durch und durch religiösen Gesellschaft Regelungen durchzusetzen, die anders nicht durchzusetzen gewesen wären? Könnte man all diese Gebote auch ökologisch oder tierschützerisch rekonstruieren, ohne auf Gott und seine Heiligkeit Bezug zu nehmen?9 Ich halte es mit Mary Douglas, der verdienten Forscherin zu unserem Thema, die erklärt: Der einzige Weg, die biblische Unterscheidung von rein und unrein zu verstehen, besteht darin, sie in dem Kontext zu interpretieren, in dem sie biblisch beheimatet sind, und das ist die Unterscheidung von kultischer Reinheit bzw. Unreinheit.10 Das dürfte ja wohl auch eine Grundforderung einer fairen Hermeneutik sein. Nun wird es aber erst recht interessant. Was haben denn die Tiere mit Heiligkeit zu tun? Hat die biblische Tradition auch so etwas wie heilige Tiere? Ergibt sich womöglich von hier aus ein Ertrag für eine heutige Tiertheologie? Folgt man den Interpretationsansätzen in der Fachliteratur, so hat das zunächst nicht den Anschein. Für Mary Douglas ist, wenn ich es recht verstehe, die Beachtung der Reinheitsvorschriften in Bezug auf die Tiere eine Art Übung, „die in jedem Moment zum Nachdenken über die Einheit, Reinheit und Vollkommenheit Gottes anregt […]“.11 Dabei ging es weniger um die Tiere selbst als um die Unterscheidung, die an ihnen eingeübt werden sollte. In ihrem späteren Werk Leviticus as Literature hebt sie dagegen die Bedeutung der Tiere stärker hervor. Die Heiligkeit Gottes steht im Zusammenhang mit der Erwählung des Volkes Israel und seiner Aussonderung aus den Völkern. Es bedeutet eine ungeheure Ehre für Israel, Gottes Bundesvolk zu sein, und in Anlehnung an Gen 9,12 (der Bund, „den ich zwischen mir und euch und allen lebenden Wesen bei euch auf ewig schließe“), werden auch die Tiere, die beim auserwählten Volk leben, dem Bereich der Heiligkeit zugerechnet. Die reinen Tiere sind die, die Gott geweiht werden, so wie Israel als Ganzes geweiht ist für den Dienst an Gott.12 Reine Tiere sind bundesfähig, sind heiligkeitsfähig, unreine Tiere dagegen sind die, die nicht geopfert werden dürfen. Die Unterscheidung von reinen und unreinen Tieren entspricht somit jener zwischen Israel und den Völkern. Dass die Erwählung Israels aus den Völkern keine Abwertung der Völker bedeutet, dass sie vielmehr zugunsten der Völker geschieht, denen Israel Licht und Wegweisung sein soll, das hat nicht nur die jüdische Theologie immer so verstanden, es ist auch seit Langem ein unhintergehbares Ergebnis der christlichen Israel-Theologie.13 Dies gilt dann analog auch für die unreinen Tiere.14 Sie werden nicht abgewertet, sie symbolisieren eine für das Weltverständnis grundlegende Unterscheidung. 280

Reine und unreine Tiere

Die Reinheitsgebote und die Schöpfung Die Reinheitsgebote stehen also im Kontext der Unterscheidung von heilig und nicht heilig. In ihnen symbolisiert sich die Absonderung Israels von den Völkern oder, positiv und zutreffender formuliert, die Aussonderung Israels für Gott.15 Dann bleibt aber immer noch die Frage, warum diese Unterscheidung in einer so verwirrenden und komplexen Weise durchgeführt wird. Und warum sie ausgerechnet auf die Tiere angewandt wird – nicht nur, aber doch schwerpunktmäßig. Überraschende, aber sehr erklärungskräftige Antworten auf diese Fragen finde ich bei Hanna Liss, Professorin für Bibel und jüdische Bibelauslegung an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg.16 Die Judaistin Liss greift bei ihrer Deutung ausgiebig auf die rabbinischen Erklärungen zu den Reinheitsgeboten zurück. Ihre These ist, kurz gesagt: In den Reinheitsgeboten geht es nicht um Handlungsanweisungen, sondern es sind fiktionale Texte, die eine ideale Welt der Heiligkeit entwerfen. Diese Welt des Heiligen existiert nur in der Heiligen Schrift (1). Das Verschwinden des Tempels ist dabei vermutlich vorausgesetzt (2). Unterscheidungen zu setzen entspricht der Schöpfungstätigkeit Gottes. Unterscheiden ist Schaffen, ist eine imitatio Dei (3). Die nähere Bestimmung von rein und unrein ergibt sich in einigen Bereichen aus dem göttlichen Auftrag „Wachset und mehret euch“ (4). Dazu nun einige Erläuterungen: (1) An mehreren Indizien zeigt sich, dass die Bestimmungen über rein und unrein nicht als Handbuch für den praktischen Umgang mit unreinen Dingen, Tieren oder Personen dienen sollen. Das merkt jede/r, sagt Liss, der/die versucht, sie praktisch umzusetzen. Sie sind dazu einerseits zu komplex, andererseits haben sie zu viele Lücken für die konkrete Anwendung. Als praxistaugliche Anweisung kommt eher der biblische Paralleltext Dtn 14,4–19 in Betracht. Lev 11 enthält im Vergleich dazu viel mehr Erklärungen, als man für die Frage, ob ein Tier essbar ist oder nicht, braucht (z. B. bei der Beschreibung der Wassertiere in den Versen 10 bis 12). Schließlich deutet schon die literarische Struktur des Textes darauf hin, dass es sich dabei eher um eine Beschreibung als um eine Vorschrift handelt. Gott allein ist der Autor, Moses und Aaron bleiben ganz passiv. Es wird nicht gesagt, dass sie den Auftrag, all dies den Israeliten mitzuteilen, auch durchgeführt haben. Im Unterschied zum Paralleltext in Deuteronomium, der die Israeliten direkt anspricht, redet Lev 11 in der 3. Person: „Wenn ein Mann einen Aussatz hat …“. Liss folgert daraus, dass es sich um fiktionale Texte 281

III. Tiereschatologie

handelt, die eine bestimmte Perspektive auf die Welt vorschlagen. Die Unterscheidung von heilig und nicht heilig hat ihren Ort in einem Text, nämlich in der Heiligen Schrift – in einer Zeit, in der die Realität, auf die sie sich bezieht, nicht mehr bestand.17 (2) Es ist exegetisch nicht genau zu klären, wann diese Texte entstanden sind, aber viel spricht dafür, dass sie in der Zeit des Exils verfasst wurden, als das Tempelheiligtum in Jerusalem nicht mehr existierte. Als ihre Adressaten könnten aber auch Juden gemeint sein, die in der Diaspora leben, also ohnehin ihre Religion ohne Bezug zum Tempel praktizieren.18 Wenn es keinen Tempel gibt, haben all die kultischen Regeln, nach denen sich die Priester zu richten haben, keinen praktischen Sinn mehr. In den Reinheitsgeboten werden die Unterscheidungen, die im Kult zu beachten waren, in einen imaginären Raum transformiert. Sie funktionieren „als ein Hinweis oder eine Bedeutung von etwas, das nicht existiert, aber imaginierbar bleiben soll, nämlich die Unterscheidung von heiligem und nicht heiligem Raum.“19 Für Hanna Liss liegt genau darin die Aktualität des Textes für heutige Juden und Jüdinnen. Auch sie leben ohne Tempel, sie leben auch, da die im Tempel vorgeschriebenen Reinigungsrituale nicht durchgeführt werden können, in permanenter Unreinheit. Was fangen sie also mit den Reinheitsgeboten an? Auf diese Frage gibt Lev 11 eine Antwort, indem es die Unterscheidung von rein und unrein in den Text und damit in das Textverstehen eines jeden einzelnen verschiebt. (3) Als der Tempel in Jerusalem im Jahr 587 v. Chr. zerstört und die Führungsschicht der Israeliten nach Babylon deportiert worden war, brach für Israel eine Welt zusammen. Gott hatte sie aus dem Sklavenhaus Ägypten herausgeführt, er hatte ihnen ein Gesetz (mit zahlreichen kultischen Vorschriften) und ein eigenes Land gegeben und ihnen versprochen, im Tempel unter ihnen zu wohnen. Nichts von alledem war jetzt mehr wahr. War der Exodus rückgängig gemacht worden? In dieser Lage machen sich die Verfasser des Heiligkeitsgesetzes daran, die Welt neu zu erschaffen. Sie, die auch die Verfasser der ersten Schöpfungserzählung sind, wussten, dass Schaffen gleich Unterscheiden ist: Gott unterscheidet Licht und Finsternis, Himmel und Erde, Wasser und Land – so entsteht die Welt. Die Schöpfung ist nicht Chaos, sie ist ein vielfach in Räume und Zeiten unterschiedener Lebensraum für die Geschöpfe. Die Leitunterscheidung der Schöpfung ist die zwischen Schöpfer und Schöpfung. Der Schöpfer aber ist nicht fern und transzendent, er hatte in Israel selbst Wohnung genommen. Er hatte gesagt: „Ich werde mitten unter den Israeliten wohnen und ihnen 282

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Gott sein“ (Ex 29,45). Bei der priesterlichen Neu-Erschaffung der Welt musste deshalb in der Welt der Raum der Heiligkeit Gottes vom allgemeinen, nicht heiligen Raum unterschieden werden, analog zur Unterscheidung zwischen dem Tempel in Jerusalem und dem Rest der Welt. Dem dient die Unterscheidung von rein und unrein bzw. kultfähig und nicht kultfähig. Die Reinheitsgebote nennen Räume (z. B. in Bezug auf die Ausbreitung des Aussatzes an Mensch, Kleidung und Häusern) und Zeiten (wie lange währt die Unreinheit?), an denen die Unterscheidung von heilig und allgemein konkretisiert wird. Liss macht darauf aufmerksam, dass die Frage des „Berührens“ in den Reinheitsgeboten eine dominante Rolle spielt.20 Beim Berühren werden Grenzen überschritten, es zieht deshalb das besondere Interesse der priesterlichen Verfasser auf sich. In diesem Zusammenhang fällt eine Aussage auf, die zunächst sehr überrascht. Sie kommt bei den Erklärungen über den Aussatz vor. Hier werden verschiedene Grade der Ausbreitung dieser Hautkrankheit genannt und entsprechende Grade von Unreinheit definiert. Dann heißt es: „… falls er [der Priester] feststellt, dass der Aussatz den ganzen Körper bedeckt, soll er den Kranken für rein erklären“ (Lev 13,13). Also der ganz vom Aussatz Befallene ist rein?! Liss erklärt das so: Nach der hier zugrundliegenden Vorstellung haben sowohl das Unreine wie das Heilige die Tendenz, sich auszubreiten. Sie tendieren dazu, Grenzen zu überschreiten.21 Da aber Schaffen heißt, Dinge zu unterscheiden und Grenzen zu ziehen, zielen die Reinheitsgesetze auf die Bewahrung von Grenzen. Was Grenzen überschreitet, ist unrein. Deshalb auch liegt bei der Beschreibung von genitaler Unreinheit das besondere Interesse der Verfasser auf Flüssigkeiten, denn diese neigen dazu, Grenzen zu überschreiten bzw. zu überfließen. Was aber den Fall des vollständig vom Aussatz Befallenen angeht, so ist der Tendenz des Aussatzes, sich weiter auszubreiten, eine natürliche Grenze gesetzt. Der vollständig Aussätzige ist wieder „rein“, so paradox das klingen mag –, aber eben hier wird wieder erkennbar, dass es dem Reinheitsgesetz nicht um hygienische oder medizinische Anliegen geht, sondern um die, wie Liss sagt, „imitatio Dei“ hinsichtlich des Unterscheidens.22 Was nun die Bestimmungen über reine und unreine Tiere betrifft, so ist klar, dass sie in den Reinheitsbestimmungen vorkommen müssen, denn die Tiere gehören zur Schöpfung, sie gehören zu der Welt, in der Israeliten leben. Die rabbinische Tradition hat diese Bestimmungen stets in größter Nähe zu den Aussagen der ersten Schöpfungserzählung interpretiert. So wie dort die Geschöpfe des fünften Tages, die Tiere des Wassers und der 283

III. Tiereschatologie

Luft, dem Menschen ferner stehen als die Landtiere des sechsten Tages, die zusammen mit den Menschen erschaffen werden, so unterscheidet auch Lev 11 zwischen Tieren, die zum Lebensraum des Menschen gehören und denen, die in einem eigenen Raum leben. Die „abscheulichen“ Tiere sind die, die in einer ganz anderen Welt als die Menschen leben. „Abscheulich“, hebräisch shequez, trifft es als Übersetzung übrigens gar nicht, sagt Liss, eher müsste es heißen: fremd, eigenständig, dem Zugriff des Menschen entzogen.23 Es ist abscheulich, die Integrität des Lebensraums dieser Tiere nicht zu achten. Die „abscheulichen“ Tiere fallen jedenfalls nicht unter die Unterscheidung rein/unrein, sie werden ja auch nicht unrein genannt. Die Unterscheidung von reinen und unreinen Tieren entspricht der Unterscheidung von kultfähig und nicht kultfähig. Sie wird vorgenommen, um das Heilige daran zu hindern, sich diffus auszubreiten. Irgendwo muss eine Grenze gezogen werden, so wie zu Zeiten des Tempels der Tempelbezirk irgendwo aufhörte. Die reinen Tiere sind die, die in enger Lebensgemeinschaft mit Israel leben. Nur sie dürfen ins Heiligtum gebracht werden. (4) Nur kurz noch, um das Bild abzurunden, etwas zu den Bestimmungen über genitale Unreinheit, die uns hier ja nicht als solche interessieren. Die Verfasser wussten sich der Schöpfungserzählung nicht nur hinsichtlich der Tätigkeit des Unterscheidens verpflichtet, sondern auch in Bezug auf den Auftrag „Wachset und mehret euch“. Nach der Auffassung der Zeit galt das weibliche uterine Blut als der Beitrag der Frau zur Fortpflanzung. Wo sowohl der Samen des Mannes wie das Blut der Frau nicht zur Fortpflanzung beitragen, sind sie unrein – dass dies keine moralische Qualifizierung bedeutet, ergibt sich durch den Bezug auf die Menstruation. Unreinheit ist hier einfach ein Ausdruck für die Unfähigkeit, einen Beitrag zur Fortpflanzung zu leisten, sei dies nun absichtlich oder unabsichtlich.24 Sexuelle Beziehungen waren deshalb nicht verboten; ein Mann aber, der zur Zeit der weiblichen Unreinheit mit einer Frau schläft, wurde dadurch ebenfalls unrein, ebenso wie eine Frau bei einem Beischlaf mit coitus interruptus (vgl. Lev 15,18.24). Die Bestimmungen haben also nichts mit Enthaltsamkeit zu tun, auch nicht mit einer hygienischen Vorschrift während der Tage einer Frau, wie oft angenommen wird. Oben sind wir auf die ökologische und tierschützerische, ein Stück weit auch auf die hygienische Bedeutung der Reinheitsgebote aufmerksam geworden. Ist es damit nun gar nichts mehr? Doch, würde auch Hanna Liss sagen, denn die Verfasser von Lev 11–15 haben bei ihrem Projekt der Rekonstruktion der Schöpfung auf bestehende Texte zurückgegriffen, unter 284

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anderem auch auf Speisegebote.25 Diese waren in einem anderen Kontext entstanden und hatten demgemäß dort einen anderen Sinn. In den priesterlichen Reinheitsgeboten wurden sie dekontextualisiert und in einem neuen Kontext verankert. Ihr ursprünglicher Sinn ist damit nicht verloren gegangen und bleibt weiterhin aktuell. Die priesterliche Unterscheidung von rein und unrein ist aber, das haben wir gesehen, nicht allein auf diese ursprünglichen Motive zu reduzieren. So ist es zu erklären, dass die Reinheitsgebote eine solche Vielzahl unterschiedlicher Deutungen auf sich gezogen haben, von denen viele Richtiges und Wichtiges sehen.26 Wir haben also das Recht, die Botschaft dieser Texte hinsichtlich des Tierschutzes und der Ökologie weiterhin zu hören, aber es ist nicht die Botschaft, die für die Verfasser des in der Bibel überlieferten Textes im Vordergrund stand. Folgerungen für eine christliche Theologie der Tiere Was ist nun aus all dem für eine christliche Theologie der Tiere zu gewinnen? Sollen wir uns wieder auf eine penible Beachtung der Reinheitsvorschriften einlassen, von denen die frühen Christen glücklich losgekommen waren? Aber auch die ursprünglichen Leser und Leserinnen des Textes sind nicht auf eine solche penible Beachtung verpflichtet worden, das hat Hanna Liss deutlich gemacht. Und doch meine ich, dass die biblischen Aussagen über reine und unreine Tiere uns viel zu sagen haben. Einige Punkte möchte ich hervorheben. Die Reinheitsgebote als Unterscheidungsmarker Die Reinheitsgebote stehen im Kontext der Erwählung Israels aus den Völkern. Sie verdeutlichen, dass das erwählte Volk die Welt anders sieht als der Rest der Menschheit. Und wenn sie auch nicht als direkte Handlungsanweisungen zu verstehen sind, so folgt aus ihnen doch eine andere Art des Umgangs mit den Dingen der Welt, insbesondere mit den Tieren. Eine Ethik der Beschränkung des menschlichen Zugriffs auf die Tiere liegt in ihnen beschlossen, und in einigen Punkten auch konkrete Regelungen: Orthodoxe Juden essen zum Beispiel bis heute kein Schweinefleisch. Sie gehen in speziellen Geschäften einkaufen, um koschere Lebensmittel zu erwerben. Christen dagegen leben in der Regel so wie alle anderen Men285

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schen auch. Woran merkt man ihren Glauben? Sollten sich Christen durch die Reinheitsgebote nicht dazu motivieren lassen, ihre eigene Art des Zugangs zur Welt zu konkretisieren? Dürfen Christen Fleisch essen, so könnte man zum Beispiel fragen, und wenn ja, welches? Die Antwort auf diese Frage steht nicht fest, aber schon so zu fragen ist ein Anfang, um über die konkrete Form eines Lebens aus dem Glauben nachzudenken. Vielleicht ist es gar nicht nur als Gewinn zu verbuchen, dass sich das frühe Christentum von den jüdischen Speisegeboten losgesagt hatte. Seitdem hat das Christentum ein permanentes Problem damit, sich im Vergleich zu seiner gesellschaftlichen Umwelt zu profilieren und seine Identität zu markieren. „Das Christentum muss analoge Strukturen und Symbole der religiösen Gemeinschaft zur Erinnerung an die eigene Glaubensidentität selbst entwickeln und pflegen“, sagt der Alttestamentler Thomas Hieke im kritischen Rückblick auf die christliche Rezeption der Reinheitsgebote.27 Es gibt, so sagt er, keinen Grund zur Überheblichkeit gegenüber den Juden und ihrem Bemühen, die Tora zu halten. Für eine christliche Theologie der Tiere ist es von Bedeutung, dass die Aufgabe, eigene Strukturen und Symbole zu finden, biblisch schwerpunktmäßig in Bezug auf den Umgang mit den Tieren definiert ist. Eine Theologie der Schöpfung für die Tiere Die Reinheitsgebote sind angewandte Schöpfungstheologie, so haben wir gesehen. Die Selbstverständlichkeit, mit der die priesterlichen Verfasser die Tiere in die Neuschöpfung ihrer Welt einbezogen haben, kam ihnen aus der Schöpfungserzählung selbst zu. Ihr aus der Schöpfungserzählung übernommenes Konzept einer differenzierten Raum- und Zeitordnung für Menschen und Tiere erbrachte unter anderem das Ergebnis, dass es Tiere gibt, die in einer anderen Welt leben, die dem Menschen fremd ist und bleibt. Die Rede davon, dass gewisse Tiere den Israeliten „abscheulich“ sein sollen, möchte ich so interpretieren, dass die Menschen einen Abscheu davor haben sollen, die Fremdheit der Tierwelt zu missachten. Tiere sind Wesen, die anders in der Welt leben als wir Menschen. Wir verstehen sie nicht, aber sie machen uns deutlich, dass unser Zugang zur Welt nicht der einzige ist. Das haben wir zu respektieren; es bedeutet eine Selbstbegrenzung der menschlichen Erkenntnis und des menschlichen Zugriffs auf die Welt.28 286

Reine und unreine Tiere

Das Christentum hat es dagegen bisher nicht vermocht, aus der Schöpfungstheologie eine spezifische Sicht auf die Tiere zu entwickeln. Die Tiervergessenheit der klassischen Schöpfungstheologie ist einschlägig, sie wird auch in neueren Ansätzen kaum überwunden.29 Wo heute von einer Schöpfungsethik gesprochen wird, geht diese in der Regel kaum über die entsprechenden Ansätze einer philosophisch fundierten ökologischen Ethik hinaus. Sehr oft muss man den Eindruck haben, dass die theologische Schöpfungsethik der ökologischen Ethik hinterherhinkt und sie bestenfalls verdoppelt. Die biblischen Reinheitsgebote sind ein starker Impuls, die Einzigkeit des schöpfungstheologischen Verständnisses der Welt auch in Bezug auf die Tiere aufzufinden. Tiere und Heiligkeit Heilige Tiere kennt die biblische Tradition nicht so wie sie etwa der Hinduismus kennt. Die reinen Tiere sind aber solche, die Zugang haben zum Heiligtum. Die Reinheitsgebote machen Ernst damit, dass Gott einen Bund geschlossen hat „mit euch und mit euren Nachkommen und mit allen Tieren bei euch“ (Gen 9,9 f ). Israel ist zur Teilhabe an der Heiligkeit Gottes erwählt, und damit auch die Tiere, die bei ihm sind. Ich sehe nicht, dass dieser Gedanke irgendwo im Zusammenhang mit der christlichen Berufung zur Heiligkeit ausgesprochen wird.30 Was es bedeuten könnte, auch die Tiere in den Bereich der Heiligkeit einzubeziehen, dazu gibt es theologisch noch gar keine Überlegungen. Einen Opferdienst wie im Tempel von Jerusalem gibt es im Christentum nicht mehr. Diesbezüglich befinden wir uns in einer vergleichbaren Lage wie die Verfasser des Heiligkeitsgesetzes, so wurde ausgeführt. Sie versuchten, die Nähe der Tiere zum Heiligen auch ohne Existenz des Tempelheiligtums neu zu denken. Auf ihren Spuren könnte auch die christliche Theologie heute gehen. Vielleicht fangen wir damit an, über die Teilnahme der Tiere am Gottesdienst nachzudenken. Die Tiere, Christus und die Auferstehung Die Berührung von Aas macht immer unrein, so steht es in Lev 11. Der Tod ist der Gegensatz des Lebens und damit auch der Reinheit, die für die Heiligkeit gefordert ist, so ist wohl zu verstehen.31 Einzige Ausnahme: die 287

III. Tiereschatologie

reinen Tiere. Für sie gilt die Todesunreinheit nicht. Sie können als Opfer dargebracht werden, sie dürfen also auch als tote Tiere berührt werden. Die Begegnung mit der Heiligkeit Gottes (im Kult) hebt die Todesunreinheit auf! Ist das nicht eine Aussage, die auch christlich zu verstehen ist? Der Hebräerbrief zeichnet Christus als den „erhabenen Hohepriester“, der in das Allerheiligste eingetreten ist und dort das vollkommene Opfer dargebracht hat. So steht er in Parallele zu den Tieren, die sonst ins Heiligtum gebracht wurden, um geopfert zu werden. Der Apostel des Hebräerbriefes weiß um diese Parallele und deutet sie im Sinne einer Überbietung: Christus „ist ein für allemal in das Heiligtum hineingegangen, nicht mit dem Blut von Böcken und jungen Stieren, sondern mit seinem eigenen Blut, und so hat er eine ewige Erlösung bewirkt. Denn wenn schon das Blut von Böcken und Stieren und die Asche einer Kuh die Unreinen, die damit besprengt werden, so heiligt, dass sie leiblich rein werden, wie viel mehr wird das Blut Christi, der sich selbst kraft ewigen Geistes Gott als makelloses Opfer dargebracht hat, unser Gewissen von toten Werken reinigen, damit wir dem lebendigen Gott dienen“ (Hebr 9,12–14). Hier haben wir eine neutestamentliche Aufnahme des Motivs der Reinheit, speziell der Überwindung der Todesunreinheit durch das kultische Opfer. Wie immer man diese komplexe Opfertheologie deuten mag, soviel kann doch gesagt werden, dass das Opfer der reinen Tiere das Opfer Jesu Christi präformiert und dass es für den Hebräerbrief das Modell ist, nach welchem er das Opfer Christi versteht. Das aber heißt: Die reinen Tiere sind ein Vorausbild der Auferstehung und Erlösung! Was fangen wir mit dieser Aussage in einer Welt an, in der täglich Millionen Tiere für die Fleischproduktion „geopfert“ werden – freilich in einem nicht-kultischen Sinne? Jener Transformationsprozess, nach welchem die geopferten Tiere im alten Israel durch die Begegnung mit dem Heiligen von der Unreinheit des Todes gereinigt werden, hat christlich seine Entsprechung darin, dass der tote Christus zum Leben auferstanden ist. Die Bibel weist uns nachdrücklich darauf hin, dass wir dabei auch an die Tiere zu denken haben. Der biblische Auftrag lautet, die Heiligkeit Gottes und den Tod der Tiere zusammenzudenken. Und darum zu wissen, dass sich der Tod der Tiere durch die Begegnung mit dem Heiligen verwandelt. Diese Wandlung wird im Hebräerbrief daran verdeutlicht, dass das Opfer Christi das letzte und endgültige Opfer ist. Nach ihm braucht es keine Opfer mehr zu geben (vgl. Hebr 9,23–28). Es müssen keine Tiere mehr geopfert werden. Der Tod, die Quelle aller Unreinheit, ist selbst verwandelt. Er trennt nicht 288

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mehr von Gott. Damit fällt auch die fatale Unterscheidung von Reinheit und Unreinheit dahin. Seit dem Mittelalter halten Christen die Eucharistie im bildlichen Angesicht des nackten geschundenen Körpers Christi. Unrein, unrein!, so müssten sie dabei mit Lev 11–16 rufen. Sie aber wissen sich verwandelt zur Reinheit Christi. Und nicht nur sie, auch die Tiere, die bei ihnen sind. Thomas Ruster Anmerkungen 1 2 3

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Diese Formulierung nach Houston, Purity and Monotheism, 260. Vgl. ebd., 267. Mary Douglas nennt dies zu Recht „a serious and central doctrinal problem“: dies., Leviticus as Literature, 135. Vgl. ebd., 141. Meyer, Respect of Animal Life, 142– 158, 149. Zum Folgenden ebd., 153– 157. Hüttermann, Am Anfang war die Ökologie. Vgl. ebd., 147–150 und David, Talmudische Ökonomie, 73–182. Zur Bedeutung ökologisch angemessenen Handelns für das Überleben von Völkern vgl. Diamond, Kollaps. Es würde auch schwerfallen, alle Reinheitsbestimmungen in einem ökologischen oder hygienischen Sinn zu deuten, z. B. die Unreinheit des Mannes bei Samenerguss (Lev 15,16  f.). Bei den Aussagen zur körperlichen Unreinheit würde man viele Themen vermissen, die in einem Handbuch zur Hygiene ihren Platz haben sollten. Interessanterweise geht es bei den körperlichen Phänomenen immer um Flüssigkeiten; dazu später mehr. Es wird auch nie erwähnt, dass das Essen unreiner und verbotener Tiere gesundheitsschädlich sei. Bemerkenswert ist auch die in der Regel sehr geringe Sanktion bei Vergehen gegen die Reinheitsgebote. Bei Berührung mit

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unreinen Tieren usw. wird man unrein bis zum Abend, eine einfache Waschung kann die Reinheit wiederherstellen. Wenn man sich die Unreinheit z. B. am späten Nachmittag zugezogen hat und sich abends ohnehin zu waschen pflegt, bleibt die Sache praktisch ohne Konsequenzen. Sowohl in der jüdischen wie in der christlichen Tradition hat es Versuche gegeben, die Gebote des Alten Testaments rein rational zu begründen, so etwa bei Maimonides und Thomas von Aquin. Vgl. dazu Ruster, Von Menschen, Mächten und Gewalten, 267– 304. Aber gerade bei den Speisegeboten kam man damit nicht zurande und musste auf symbolische Deutungen ausweichen. Vgl. Douglas, Leviticus as Literature, 145. Douglas’ Hinweis ist umso ernster zu nehmen, als sie selbst erst auf einem langen Denk- und Forschungsweg zu dieser Einsicht gekommen ist. In ihrem frühen Werk Reinheit und Gefährdung [Purity and Danger, 1966] hatte sie die Reinheitsgebote in einem religionsethnologischen und sozialanthropologischen Zugang in Analogie zu den Reinheits- und Taburegeln archaischer Völker interpretiert. So wie dort die Unterscheidung von rein und unrein in erster Linie der sozialen Klassifizierung und damit der gesellschaftlichen Ord-

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nung dient, so seien auch die reinen Tiere in Lev 11 so etwas wie Standardmodelle von Tieren, denen gegenüber jede Abweichung als unrein anzusehen ist. Mit den Tieren in ihrer Eigenheit habe das nichts zu tun, d. h. es bedeute keine Abwertung der Tiere, aber wenn ein Land-, Wasser- oder Flugtier nicht in die Systematik der für diese Umwelt typischen Tiere passt, dann gilt es als unrein. Vgl. dazu Janowski, Reine und unreine Tiere, 214–218. 1999 erklärt sie dagegen, sie habe in Purity and Danger Lev 11 im Sinne einer Theorie von Unreinheit gedeutet, „which works very well practically everywhere, but unfortunately not for the levitical food laws“: Impurity of Land Animals, 33–45, 33. Douglas, Reinheit und Gefährdung, 78. Vgl. Douglas, Leviticus as Literature, 135–149. Dazu hier nur der Hinweis auf Ritschl, Zur Logik der Theologie, 159–161. Der Auffassung von Carl F. Keil, dass sich in den unreinen Tieren aufgrund ihrer Eigenheiten in besonderer Weise „das Bild der Sünde und des Todes“ manifestiert, dass sie „insgesamt Thiere sind, die den finsteren Typus der Sünde, des Todes und des Verderbens mehr oder weniger in sich darstellen und nur aus diesem Grunde […] von dem zur Heiligkeit berufenen Volk Israel nicht gegessen werden sollen“, sei damit ausdrücklich widersprochen  – auch wenn Keil eine bemerkenswerte Kenntnis der orientalischen Tierwelt aufbietet, um seine These zu belegen; vgl. seinen Kommentar zu Leviticus, Numeri und Deuteronomium, 94. Vgl. Hieke, Levitikus 1–15, 438 f. Liss, Ritual Purity and the Construction of Identity, 329–354. Dazu ebd., 333–335; 337; 347; 353  f. Andere Forscher bestreiten den fiktionalen Charakter der Reinheitsbestimmungen. Nihan, Form and Functions of Pu-

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rity in Leviticus, 311–358, deutet die Reinheitsbestimmungen als Versuch der Priesterschaft, über den sakralen Bereich hinaus auch Einfluss auf das zivile Alltagsleben zu gewinnen. Unter dieser Voraussetzung hätte ihnen doch eine praktische Realisierung entsprechen müssen, für die allerdings keine Belege beigebracht werden können. Für die Deutung als fiktionale Texte spricht eine historische Parallele im rabbinischen Judentum: Als der Tempel nicht mehr existierte, fuhr man fort, die Opferbestimmungen zu studieren, es „wurde die Maxime aufgestellt, dass einer, der das Opferwesen studiert, wie einer, der ein Opfer darbringt, angesehen wird (Menachot 3a)“, so Steinsaltz, Talmud für Jedermann, 227 f. Wie das Studium hier an die Stelle kultischer Praxis trat, so kann es auch bei den Reinheitsgesetzen gewesen sein. Zu den Bestimmungen des Heiligkeitsgesetzes vgl. Crüsemann, Die Tora, 338: „Sie alle setzen den Kult nicht voraus, kennen keinen heiligen Ort und keine darauf bezogenen Regeln. […] so etwas ist auch vor jedem Kult und ohne ihn möglich“. Liss, Ritual Purity and the Construction of Identity, 354: „Rather, it functions as a reference or means of something that does not exist, but shall be make imaginable (Sacred and common space).“ Vgl. ebd., 343–345. Dies ist ein Ergebnis der Leviticus-Forschung von Jacob Milgrom, vgl. ders., The Dynamics of Purity in the Priestly System, 29–32. Da sowohl das Heilige wie das Unreine dynamisch sind, also dazu tendieren, Grenzen zu überschreiten, müssen beide in ihrer Ausbreitung begrenzt werden. Die Reinheitsgebote widmen sich beiden Anliegen. Würde sich das Heilige überall hin ausbreiten, wäre die systemtragende Unterscheidung aufgehoben, dazu Liss, Ritual Purity and the Construction of Identity, 343.

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Ebd., 348. Vgl. ebd., 337–340. Ebd., 352: „Impurity in this context could, therefore, be understood as an expression for the inability or even conscious prevention of procreation (i.  e. death in a very broad sense).“ Zum Thema genitale Unreinheit vgl. ebd., 348– 352. Ebd., 345. Eine Übersicht über die Deutungsvorschläge findet sich bei Moskala, Clean und Unclean Animals in Leviticus 11, 5–41; vgl. auch Hieke, Levitikus 1–15, 433–436. Hieke, Levitikus 1–15, 439. Dies kommt mit den Erfahrungen des Biologen David G. Haskell überein, der ein Jahr lang intensiv ein kleines Stück Wald (von ihm „Mandala“ genannt) beobachtet hat. Am Ende dieses Jahres begreift er, „wie gewaltig meine Ahnungslosigkeit ist. Ich kann die Bewohner des Mandalas nicht einmal im Entferntesten zählen oder benennen. Jedes Verständnis ihres Lebens und ihrer Beziehungen muss fragmentarisch bleiben. Je länger ich das Mandala beobachte, desto mehr

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schwindet die Hoffnung, es jemals zu begreifen, und sei es nur in seiner grundlegenden Natur“: Haskell, Das verborgene Leben des Waldes, 296. Die neueste Theologie der Schöpfung in deutschen Sprachraum (Predel, Schöpfungslehre) geht, für so empfehlenswert ich sie sonst auch halte, mit keinem Wort auf die Tiere ein. Lumen gentium, die Dogmatische Konstitution über die Kirche des II. Vatikanums, stellt „die allgemeine Berufung zur Heiligkeit“ in das Zentrum des Kirchenverständnisses (5. Kap.). Was für ein gewaltiger theologischer Fortschritt! Aber von den Tieren ist in diesem Text nicht die Rede; der Schwerpunkt liegt darauf, dass „alle Christgläubigen jeglichen Standes oder Ranges“ zur Heiligkeit berufen sind (Art. 40). Dass es bei den Reinheitsgesetzen vor allem um den Gegensatz von Leben und Tod geht, hat Jacob Milgrom herausgearbeitet, vgl. ders., The Dynamics of Purity in the Priestly System, 31 f. Israel soll das Leben wählen und sich von allem, was mit dem Tod zu tun hat, abwenden.

Christlicher Animismus? Zur Theologie franziskanischer Tierbeziehung

„Der hochselige Vater Franziskus wandelte durch das Spoletotal. Er wandte sich einem in der Nähe von Bavagna gelegenen Ort zu. Dort war eine große Schar von Vögeln aller Art versammelt: Tauben, kleine Krähen und andere, die im Volksmund Dohlen heißen. Als der Diener Gottes sie erblickte, ließ er seine Gefährten auf dem Wege zurück und lief rasch auf die Vögel zu, war er doch ein Mann von einem überschäumenden Herzen, der sogar den niederen und unvernünftigen Geschöpfen in hohem Grade innige und zärtliche Liebe entgegenbrachte. Als er schon ziemlich nahe bei den Vögeln war und sah, dass sie ihn erwarteten, grüßte er sie in gewohnter Weise. Nicht wenig aber staunte er, dass die Vögel nicht wie gewöhnlich auf- und davonflogen. Ungeheure Freude erfüllte ihn, und er bat sie demütig, sie sollten doch das Wort Gottes hören. Unter anderem sagte er zu ihnen: ‚Meine Brüder Vögel! Gar sehr müsst ihr euren Schöpfer loben und ihn stets lieben; er hat euch Gefieder und Gewand, Fittiche zum Flug gegeben und alles, was ihr nötig habt. Vornehm machte euch Gott unter seinen Geschöpfen und in der reinen Luft schuf er euch Wohnung. Ihr sät nicht und erntet nicht, und doch schützt und leitet er euch, ohne dass ihr euch um etwas zu kümmern braucht.‘ Bei diesen Worten jubelten jene Vögel auf ihre Art und fingen an, die Hälse zu strecken, die Flügel auszubreiten, die Schnäbel zu öffnen und auf ihn hinzublicken, wie er selbst und die bei ihm befindlichen Brüder erzählten. Er aber wandelte in ihrer Mitte auf und ab, wobei seine Kutte ihnen über Kopf und Körper streifte. Schließlich segnete er sie, und nach dem Kreuzzeichen über sie gab er ihnen die Erlaubnis, wegzufliegen. Da zog nun auch Franziskus mit seinen Gefährten freudigen Herzens weiter und dankte Gott, den alle Geschöpfe auf ihre Art bekennen und verehren.“1

Dies ist die berühmte Vogelpredigt des hl. Franz von Assisi in ihrer ältesten Fassung, berichtet in der Franziskus-Vita des Thomas von Celano, verfasst im Jahr 1228, nur zwei Jahre nach dem Tod des Heiligen, den der Autor selbst noch gekannt hat. Trotz des offiziellen kirchlichen Auftrags und der Anpassung 292

Christlicher Animismus?

an eine reguläre Heiligenvita kommt diesem Bericht also große Authentizität zu – sie wurde nicht umsonst später durch die weitere, kirchlich normalisierende Entwicklung des Ordens suspekt: Thomas musste eine zweite, revidierte Fassung erstellen und nochmals 35 Jahre später wurde Celanos Werk durch das des Franziskaner-Professors Bonaventura von Bagnoregio ersetzt; Celanos Vita samt anderen ursprünglichen Zeugnissen sollte sogar vernichtet werden. In Bonaventuras Fassung werden auch die Vögel, die in den Zweigen saßen, „ihre Köpfchen neigen“2. Und in den nicht zuletzt durch Hermann Hesse berühmt gemachten, über 100 Jahre später verfassten Fioretti – den „Blümelein des Heiligen Franziskus“ – kommen die Vögel von den Bäumen auch noch zu ihm geflogen, und nach der Predigt erheben sie sich gleichzeitig unter „wunderbarem Gesang“ und verteilen sich in Form eines Kreuzes in die vier Himmelsrichtungen.3 Nun, die Vögel der ursprünglichen Geschichte – Tauben, Krähen und Dohlen – fallen kaum durch wunderbaren Gesang auf. Es sind auch keineswegs die besonders beliebten, niedlichen Vogelarten, denen Franziskus predigt. Im Gegensatz zu den späteren Fassungen tritt Franziskus auch nicht mit dem Vorsatz an sie heran, ihnen zu predigen. Er nähert sich ihnen vielmehr in einem spontanen Impuls allein und ist selbst über ihr zutrauliches Verhalten erstaunt. Das erst animiert ihn zu der Predigt. Das Ganze ist also weder ein Wunder noch eine Inszenierung; es ist eine spontane ungewöhnliche Begegnung. Sie macht die Vögel nicht zu Symbolen, zu letztlich doch künstlichen, erkünstelten Mitspielern eines übernatürlichen Geschehens. Die Vögel bleiben hier noch Vögel, wenn auch mit einer unerwarteten Reaktion auf das ungewöhnliche Verhalten des Franziskus. Schon Celanos Beschreibung macht zwischen den Zeilen deutlich, dass man dieses Verhalten des Heiligen von Anfang an merkwürdig fand und, obgleich bewundern, doch auch gewissermaßen entschuldigen musste: Franziskus hat eben ein „überschäumendes Herz“, und so geht er auch mit „niedrigen und unvernünftigen“ Geschöpfen liebevoll um – Bonaventura wird formulieren: „als wären sie vernunftbegabte Geschöpfe“. Franziskus’ Haltung wird hier in einen theologischen Konjunktiv übersetzt und damit zur uneigentlichen Handlung. Er handelt an den Vögeln wie an Wesen, die sie eigentlich nicht sind. Das dürfte auch uns heute unmittelbar einleuchtend erscheinen, die wir kaum glauben, dass Tauben, Krähen und Dohlen tatsächlich einer Predigt lauschten. Aber trifft dieser Konjunktiv wirklich die Intention des Franziskus, schöpft er die Provokation dieser prophetischen Zeichenhandlung aus, ihren theologischen Gehalt? 293

III. Tiereschatologie

Francesco und der „christliche Animismus“ Wer kaum etwas von Francesco weiß, erinnert sich allemal, dass er den Vögeln und Fischen gepredigt hat. Auch sonst bezog er Tiere immer wieder in seine Predigt ein: Er ließ ein Schaf freikaufen und unter den Brüdern halten, um es vor der Schlachtung zu retten, weil es doch das Symboltier Jesu ist.4 Wenn er einmal den Kaiser träfe, so hätte er nichts wichtigeres zu erbitten, als dass dieser „ein Reichsgesetz erlasse, dass womöglich alle Leute Weizen und Korn auf die Wege streuen, damit die Vöglein am Hochfest der Geburt des Herrn Überfluss haben an Nahrung, besonders unsere Schwestern, die Lerchen.“5 Die „ökologische Seite“ des Heiligen ist keineswegs eine moderne Projektion. Sie fiel schon seinen Zeitgenossen auf. Die Berichte über ihn handeln nicht nur von Schafen und Wölfen, Vögeln und Fischen, sondern auch von Eseln, Kaninchen, von Bienen und sogar von einer Grille. In geradezu buddhistisch anmutender Weise sammelte er mitunter auch Würmer von der Straße auf „und legte sie an einen geschützten Ort nieder, damit sie nicht von Passanten zertreten würden.“6 Letztlich ist dieses Naturverhältnis universal und keineswegs auf christliche Symboltiere beschränkt: „Welche Freude und Heiterkeit weckte in ihm die Schönheit der Blumen, wenn er ihre Gestalt bewunderte und ihren süßen Duft atmete … Wenn er blühende Wiesen fand, so predigte er den Blumen und lud sie zum Lob Gottes ein, wie wenn sie Verstand hätten. Auf dieselbe Weise begegnete er Saatfeldern und Weinbergen, Steinen, Wäldern und schönen Landschaften, fließendem Quellwasser und blühenden Gärten, Erde und Feuer, Luft und Wind, die er alle mit aufrichtigem und reinem Herzen einlud, den Herrn selbst zu preisen und zu lieben. Alle Geschöpfe nannte er Schwestern und Brüder und auf einzigartige Weise sah er ins verborgene Herz der Geschöpfe“.7 Celanos Interpretation ist – trotz des Konjunktivs: „als wären sie“ – erstaunlich und radikal: Denn der Hinweis auf das „verborgene Herz der Geschöpfe“ hebt ihn im Grunde wieder auf. Franziskus handelt an den Geschöpfen nicht uneigentlich, sondern er bezieht sich auf einen Kern ihres Wesens, der uns sonst verborgen bleibt. In meiner Sicht lebte Francesco eine Art christlichen Animismus: Alle Geschöpfe, belebt wie unbelebt, haben ganz innen, in ihrem „verborgenen Herzen“ ihre eigene Gottesbeziehung. Francescos Glaube ist tatsächlich jenseits jeden Anthropozentrismus. „Für Franz tragen alle Dinge eine Widmung Gottes an den Menschen. Die Widmung ist den Dingen selbst immanent.“8 294

Christlicher Animismus?

Bonaventura, der Franziskanergelehrte, der den Heiligen als erster theologisierte (in einer Weise, die Francesco wohl so wenig behagt hätte wie die Lebensweise des Ordens zu Bonaventuras Zeiten), fand für diese ökologische Frömmigkeit eine erstaunlich tiefe Deutung: Francescos kosmisches Erbarmen „stellte in ihm den Zustand vor der Ursünde wieder her, da der Mensch mit allen in Frieden war.“9 Das ist natürlich überhöhend und idealisierend, und trifft doch die franziskanische Intention. Modern gesprochen: Franziskus empfand und praktizierte eine Menschlichkeit vor ihrem Zerfall mit der Natur, vor der ersten Entfremdung, die uns prägt. Francescos Verhältnis zur Natur hat nichts von Kitsch und Süßlichkeit. Er erlebte die Tiere – und nicht nur sie – als Mitgeschöpfe, die genauso ein Gottesverhältnis haben wie er selbst. Gewiss machte seine Lebensweise auf Wanderschaft, ohne Mauern um sich, den Kontakt unmittelbarer. Er war mit der ihn umgebenden Natur in der Hand Gottes, nur von ihm abhängig, nur in ihm geborgen. Er realisierte das bis zu solchen Verrücktheiten, dass er einmal die Brüder am Löschen seiner Hütte hinderte, als die Feuer gefangen hatte.10 Das Mitgeschöpf Feuer in seiner ganzen Herrlichkeit solle nicht ausgelöscht werden. In seinem „Gruß an die Tugenden“ wünscht er sich für den Christen eine Demut, die nicht nur allen Mitmenschen gilt, sondern „auch allen Bestien und wilden Tieren, damit sie mit ihm tun können, was immer sie wollen“.11 Man wird sich Francesco nicht nähern können, ohne gerade diese fremdartige Verrücktheit seiner Frömmigkeit auszuhalten, in der die im Abendland etablierte souveräne Krone der Schöpfung sich tatsächlich nackt unter Wölfe begibt. In seinem sog. Sonnengesang, seiner dichtesten geistlichen Dichtung, wird diese ökologische Frömmigkeit kosmisch ausgeweitet. Hier redet er nicht die Tiere und Pflanzen an, sondern Sonne, Mond und Sterne, Wind und Wasser, Feuer und Erde und schließlich den Tod: Sie alle sind Geschwister. Die Elemente also und gerade die Endlichkeit, die Hinfälligkeit unserer irdischen Existenz, besingt dieser geistliche Troubadour als transparente Erscheinungsorte der Gegenwart Gottes. Mario von Galli hat darauf hingewiesen, dass Francescos Texte  – trotz der starken Nachfolge Jesu, der Betonung von Krippe und Kreuz – mehr theozentrisch als christozentrisch wirken: „Christus ist für Franziskus Durchgang, die Mitte ist der Vater, Urgrund aller Dinge. Es ist ein kosmisches Bewusstsein, das den Mann aus Umbrien erfüllt.“12 Die Erde nennt Francesco zusätzlich auch die Mutter, die uns trägt. Und mit diesem Wort hat Francesco in seinem Sonnengesang tatsächlich 295

III. Tiereschatologie

auch einen Grundbegriff der modernen Ökologiedebatte vorgeprägt: Die Erde trägt uns, heißt im Originaltext des Sonnengesangs: „sustenta“. Ebenso preist Francesco Gott, weil er seine Geschöpfe durch Wind, Luft und Wolken, durch das Klima also, erhält: „sustentamento“. Dieses Wort für Gottes und der Erde Erhalten steckt heute im englischen Öko-Begriff „sustainable“, deutsch mit „nachhaltig“ wiedergegeben.13 Die Nachhaltigkeit als ökologische Praxis wurde bekanntlich in der Forstwirtschaft entdeckt, weil man einem Wald auf Dauer nur so viel Holz entnehmen kann, wie nachwächst. Auch dies ist „franziskanisch“: „Wenn die Brüder Bäume fällten, verbot er ihnen, den Baum ganz unten abzuhauen, damit er noch Hoffnung habe, zu sprossen.“14 Animismus – Analogismus – Naturalismus Der Ethnologe Philippe Descola hat einen Versuch unternommen, die unterschiedlichen Weisen, in denen menschliche Kulturen Geist und Natur aufeinander beziehen, in einer Typologie zu erfassen. Die wohl ursprünglichste Form dieser Zuordnung stellt dabei der Animismus dar. Er findet sich in ganz unterschiedlichen Kulturen von Sammlern und Jägern, aber auch Bauern, die noch keine Städte und Staaten gebildet haben, also noch nicht in komplexen hierarchischen Sozialsystemen leben. Animistisch denken etwa die Urbewohner Sibiriens ebenso wie Völker in Südostasien, aber auch viele Indianer Nord- und Südamerikas. Dieses Weltbild scheint sich also mit der Wanderung der frühen Menschheit über die Kontinente verbreitet zu haben. Nur die isolierten Ureinwohner Australiens haben mit dem Totemismus eine ganz eigene Denkform ausgebildet. Grundlegend für jeden Animismus ist die Vorstellung, dass die gesamte Natur belebt und weitgehend auch beseelt ist. Diese Menschen denken „sich nicht als soziale Kollektive, die ihre Beziehungen in einem Ökosystem verwalten, sondern als einfache Bestandteile eines Ganzen, in dem keine wirklichen Unterscheidungen zwischen Menschen und Nichtmenschen bestehen“15. Die Elemente sind erfüllt von Geistern, insbesondere aber haben die Tiere und auch die Pflanzen eigene Seelen. Die Natur wird also nach dem Modell des eigenen Ich vorgestellt – als Geist und nicht etwa als dessen Gegensatz oder -pol. Die animistische Weltsicht entspricht dabei allerdings keineswegs der modernen Natur-Romantik, nach der alles Natur und wir ein Teil von ihr 296

Christlicher Animismus?

sind. Es ist eher umgekehrt: Alles ist Seele, Geist, und wir sind nur ein Teil davon. Den Pflanzen und Tieren wird eine eigene Kultur zugeschrieben: Auch sie haben Individualität, Gedanken, Absichten: „[J]ede Entität, die eine Seele besitzt, erlangt die Würde eines Subjekts und kann ein ebenso bedeutungsreiches soziales Leben führen, wie es dem Homo sapiens zuerkannt wird.“16 Dies führt zu dem Problem, dass sich Menschen zu ihrer Ernährung im Grunde ihresgleichen bedienen, dass Jagd und oft auch Gartenbau wie Kannibalismus angesehen werden (weshalb umgekehrt echter Kannibalismus gar nicht völlig aus dem Vorstellungsrahmen fallen muss). „Die größte Gefahr des Daseins rührt daher“, zitiert Descola den InuitSchamanen Ivaluardjuk, „dass die Nahrung des Menschen ganz und gar aus Seelen besteht.“17 Dieser Gefahr begegnen Animisten deshalb mit dem, was Forscher oft oberflächlich Jagdzauber oder Magie genannt haben. Es geht bei diesen schamanischen Ritualen, die sich wohl schon in der Höhlenmalerei niedergeschlagen haben, um Kommunikation mit den Geistern der Tiere, um Abkommen mit ihnen zur friedlichen Koexistenz. Die Beziehungen werden, oft auch in symbolischen und realen Handlungen, auf ein Geben und Nehmen gestellt. Dennoch bleibt die Gefahr – weshalb Krankheit und Tod häufig als Folge dieses Konflikts gedeutet werden; so werden „die Nichtmenschen, von denen die Menschen sich ernähren, verantwortlich gemacht für die Krankheit, das Missgeschick und den Tod, meist mittels der Geister, die die Geschicke des Wildes lenken“18. Descola schildert etwa das prekäre Verhältnis der Jivaro-Frauen (im tropischen Bolivien) zu ihren ManiokFeldern: Sie ziehen die Maniok-Pflanzen fürsorglich groß wie Säuglinge, aber sie tun dies, um sie ihren Kindern zu essen zu geben – und sie wissen, dass die Manioks versuchen, das Blut ihrer Kinder zu saugen, sich also umgekehrt von den Menschen zu ernähren. Die in unseren Augen so „ursprünglich“ lebenden Animisten kennen also keineswegs einen friedlichen, spannungslosen Einklang mit der Natur. Zum einen denken sie die Natur selbst „anthropomorph“: nach dem Bild des Menschen, d. h. nach menschlicher Innen-Erfahrung. Zum anderen weckt diese lebendige Beziehung mit den Wesen um sie herum „eine metaphysische Unruhe“, welche „weniger ein Schuldgefühl ist … als vielmehr eine dumpfe Angst angesichts der wiederholten Evidenz der Durchlässigkeit der ontologischen Grenzen“19. Der Austausch mit der Natur ist ebenso komplex, risikoreich und unvorhersehbar wie der mit den Mitmenschen auch. 297

III. Tiereschatologie

Das animistische Muster scheint sich kulturgeschichtlich zu verändern, sobald Menschen in größeren Sozialstrukturen leben, sobald sie Städte bewohnen oder sogar in Staaten organisiert sind. In einer klar strukturierten Gesellschaft, die mit einer Vielzahl artifizieller Produkte umgeht, in der sich die Kultur gewissermaßen ein Gehäuse schafft, erscheint auch die Welt, auch die Natur nicht mehr als eine Gemeinschaft von Seelen, sondern als eine komplexe Struktur von Elementen, die alle irgendwie aufeinander bezogen sind. Descola nennt dies „Analogismus“: Es ist ein Weltbild, das „die Gesamtheit des Existierenden in eine Vielzahl von Wesenheiten, Formen und Substanzen aufsplittert, die durch geringfügige Abweichungen getrennt und bisweilen in einer Stufenleiter angeordnet sind, so dass es möglich wird, das System der anfänglichen Kontraste wieder zu einem dichten Netz von Analogien zusammenzufügen, das die inneren Eigenschaften der unterschiedlichen Entitäten miteinander verbindet“.20 Diese Welt erscheint also eher wie die komplexe, hierarchische Sozialpyramide früher Staaten, in denen jeder Stand seinen Platz und seine Aufgabe hat, von den Bauern über die Soldaten und Handwerker bis hin zu den Priestern und den oft göttlichen Herrschern. Sie gleicht auch der strukturierten Architektur dieser Kulturen, wie wir sie in ihren unterschiedlichen Ausprägungen in China und Indien, im alten Ägypten, bei Griechen und Römern und noch in der europäischen Gotik bewundern. In diesen Architekturen ist eine Überfülle von Einzelheiten untergebracht, aber sie alle stehen in einer strukturierten Ordnung genau an ihrem Platz und korrespondieren miteinander, ergänzen sich, interpretieren sich gegenseitig. Die Strukturformen des Analogismus sind „hierarchische Verteilung“ und „Verschachtelungen“21. Tatsächlich beschreibt Descola den Analogismus als typische Weltanschauung jener Gesellschaften, die man als die „klassischen Hochkulturen“ bezeichnet hat. Analogismus prägte die antike Welt um das Mittelmeer ebenso wie die altamerikanische der Inkas, aber auch das alte Ostasien und die Staaten Westafrikas. Man erkennt diesen Analogismus in der strukturierten Anlage von Städten, und er schlägt sich schriftlich nieder in Philosophien, bei denen stets die Ordnung der Welt in und aus Gegensätzen – Jing und Jang, Stoff und Form, Ordnung und Chaos u. a. – begründend dargestellt wird. Analogismus beherrscht auch die Astrologie, die Korrespondenzbeziehung von Gestirnen und Leben, die Wichtigkeit der Weltentstehungsmythen, der Himmelsrichtungen – und natürlich des all dem entsprechenden richtigen Verhaltens. 298

Christlicher Animismus?

Analogismus ist der Versuch, eine komplexer gewordene und von Menschen mitgestaltete Welt „verstehbar und erträglich zu machen“ – um den Preis, dass es in dieser Welt kaum mehr Freiheit gibt. „Innerhalb eines geschlossenen Universums, in dem Jeder, seinem Ort verhaftet, die Ziele verfolgt, die das Schicksal je nach den Anlagen, die ihm zuteil geworden sind, für ihn bestimmt hat, wohl oder übel mit allen anderen durch einen Wust von Entsprechungen verbunden … stöhnt die analogische Welt unter der Last des fatum.“22 Diese Welt erscheint mitunter geradezu „totalitär“, weil „in der Verteilung der Existierenden auf die verschiedenen Schichten und Sektionen der Welt nichts dem Zufall überlassen ist.“23 Bezieht man dieses Panorama der kulturellen Weltanschauungen auf den kleinen Armen von Assisi, so macht man eine frappierende Entdeckung: Francesco ist gewissermaßen ein Animist in einer analogistischen Welt. Francesco lebt ethnologisch gesehen in einer Welt des Analogismus. Denn der mittelalterliche Katholizismus lässt sich als eine Inkulturation des Christentums in den Analogismus begreifen. Der biblische Monotheismus hat an sich eine alle Analogismen, alle immanenten und metaphysischen Zuordnungen sprengende Kraft, ist dieser transzendente Gott doch unabhängig von Gestirnen und Elementen, weil über ihnen, transzendent, frei – und frei zu einem neuen, in nichts eingebundenen Verhältnis zu seinen Geschöpfen, „von jedem Ort und jeder segmentären Zugehörigkeit losgelöst.“ Doch hat inzwischen „der Katholizismus … die dem Analogismus eigentümliche funktionale Verteilung wiederhergestellt“24. Dafür sorgt die ausbalancierte Aufgabenteilung zwischen monarchisch geordneter Kirche und monarchischem Staat, die geheiligte ständische Welt von Bauern, Bürgern, Mönchen, Priestern, Rittern, metaphysisch fortgesetzt nach oben zu den Heeren der Heiligen und der Engel, miteinander verzahnt durch Verhaltensweisen und Riten. In einer Welt, in der man faktisch ständig dem Zufall, der Willkür, dem Un-Fall ausgesetzt ist, bietet diese Ordnung einen Interpretationsrahmen, Halt und Orientierung – aber sie engt auch ein, und sie reagiert ihrerseits brutal gegen alle, die sich ketzerisch dieser Ordnung verweigern oder sie infrage stellen. Der christliche Aussteiger Francesco stellt diese Welt theoretisch nie infrage und ist ihr in seinem Denken natürlich vielfach verbunden. Er pilgert zum Papst und ehrt die Priester, er liebt die Vorstellung heiliger Orte, schafft selbst einen solchen in Portiuncula. Und doch lebt seine Inspiration aus einer gänzlich anderen Haltung: Gott ist in der Welt, in der Natur nicht vermittelt, nicht via komplexer Verschachtelungen gegenwärtig, 299

III. Tiereschatologie

sondern direkt und lebendig. Nicht die Ordnung der Elemente berührt Francesco, sondern ihre Präsenz: Deshalb sind die Gestirne ebenso wie das Feuer direkt ansprechbare Geschwister, die Tiere, Pflanzen und mitunter sogar die „toten Dinge“ sind direkt Mitgeschöpfe, also gewissermaßen alles Subjekte, gewissermaßen auf einer Ebene mit dem Menschen, weil vom einen Gott geschaffen und belebt. Es gibt da keine Hierarchie, sondern ein Miteinander: Sie alle hören auf Francescos Predigt, sie loben ihren Schöpfer – und sie sind ansonsten frei – frei nämlich zu Gut und Böse, dazu, ihren Schöpfer zu verleugnen oder ihm zu antworten. Deshalb kommen in den Francesco-Legenden mitunter ein bekehrter Wolf oder ein verdammtes Schwein vor. Überspitzt gesagt: Mitten in der hierarchisch geordneten und über-interpretierten, über-determinierten kirchlichen Ständewelt tritt Francesco gewissermaßen wie ein Schamane auf. Er redet mit den Tieren, sogar mit dem Feuer; er erkennt Gottes Gegenwart an bestimmten Orten; er erleidet schließlich mit seiner Stigmatisierung selbst eine körperliche Auszeichnung als Medium der Gegenwart Gottes. Gewissermaßen bricht also hier in christlicher Inspiration die alte animistische Welt der beseelten Geschöpfe und der universalen Kommunikation zwischen ihnen mitten in der analogistisch geordneten Kultur neu auf. Deshalb verwundert es auch nicht, dass Francesco und seine Brüder sich eine Lebensweise geben, die diese Kultur aufbricht oder unterläuft, indem sie den Nomaden und Sammlern ähnlich wird. Natürlich dreht Franziskus weder bewusst noch faktisch das kulturgeschichtliche Rad auf einen ursprünglichen Animismus zurück. Der Glaube an den biblischen, transzendenten Gott sprengt nicht nur jeden Analogismus, er fundiert auch den christlichen Animismus des Franziskus: Geistbegabt oder -infiziert sind die Elemente und Lebewesen nicht aus sich, sondern durch ihren Schöpfer und in ihrem Verhältnis zu ihm. Gott und sein Geist sind der animistischen Kommunikation übergeordnet und verleihen ihr einen neuen Sinn. Die Geschöpfe sind Geschwister, weil sie einen gemeinsamen Vater haben. Bleibt die Frage, wie wir in unserer modernen Welt spirituell an diesen christlichen Animismus anknüpfen können  – bzw. ob überhaupt. Denn wir leben weder in einer animistischen Welt noch in einer analogistisch geprägten. Beide Weisen, Natur und Geist aufeinander zu beziehen, lassen sich mit unserer wissenschaftlich-evolutiven Weltanschauung nicht mehr vereinbaren. Philippe Descola nennt dieses uns heute bestimmende moder300

Christlicher Animismus?

ne Weltbild den „Naturalismus“. Er macht deutlich, wie extravagant es im Kulturvergleich ist: Das moderne Verhältnis zur Natur hat es so bisher – trotz aller Aufklärungstendenzen etwa in der griechisch-römischen Welt – noch nie gegeben. „Die Art und Weise, wie das moderne Abendland die Natur darstellt, ist etwas, was in der Welt am wenigsten geteilt wird.“25 Es ist gegründet auf den Ur-Gegensatz des erkennenden Subjekts und aller Dinge, die es objektiviert. Descola nennt dies „die große Trennung“26: Kein Graben innerhalb dieser naturalistischen Ontologie, zwischen Seiendem, ist so tief wie der zwischen dem Subjekt und allem übrigen, das es erkennt. Descola zeigt dies anschaulich an der Einführung der Perspektive in der frühneuzeitlichen Landschaftsmalerei, in die manchmal der Schauende, der Maler, als Figur mit einbezogen wird: Alles ordnet sich vor seinem Blick. Es gibt mich, alles andere ist Objekt. Die moderne Naturwissenschaft führt diese Perspektive exakt aus: Vom Denken, von der reinen Mathematik her, lässt sich alles einander zuordnen und in seinen Funktionszusammenhängen erklären. Die Welt erscheint in der Neuzeit als Uhrwerk – und die Technik, als naturwissenschaftlich basierte Manipulation der Natur, konstruiert daraufhin eine zweite Natur, die auch zur zweiten Natur, zum künstlichen Lebensraum, zum Gehäuse des modernen Menschen wird. Nicht nur Descola beobachtet nun, dass heute ein gewisses Unbehagen an dieser Weltanschauung wächst. Das Bewusstsein einer Entfremdung von der Natur ist Allgemeingut geworden. Unsere darauf gegründete Praxis im Umgang mit der Natur bedroht deren und damit schließlich auch unseren Bestand. Während der erkenntnistheoretische Ansatz der Naturwissenschaft gänzlich unökologisch ist, bescheren uns die Ergebnisse der Lebenswissenschaften doch ein neues Bewusstsein von der ökologischen, vernetzten und durchaus nicht einfach mechanisch-uhrwerkhaften Natur der Natur. Deshalb stellt sich die Aufgabe, „ein erweitertes Narrativ der Natur zu schaffen“, welches ermöglicht, „den wissenschaftlichen Naturalismus, der sich mit dem bloß Objektiven beschäftigt, zu hinterfragen.“27 Gefordert wird so ein – dem Animismus terminologisch wieder erstaunlich nah! – „beseelter Naturalismus“28. Gerade die Tiere sind uns wieder näher gekommen: als nahe Verwandte, in vielen erstaunlichen, auch intelligenten Fähigkeiten uns gar nicht so fremd. Descola diagnostiziert deshalb, „dass sich das naturalistische Schema nicht mehr von selbst versteht …, dass vielleicht eine Phase der ontologischen Neuordnung begonnen hat, deren Ergebnis niemand vorherzusagen vermag“29. 301

III. Tiereschatologie

Es ist genau diese offene, von diffusem Unbehagen und tastender Suche in Theorie und Praxis geprägte Situation, in der es nicht mehr als müßiges, romantisches Spiel erscheint, sich mit Animismus und Analogismus und der merkwürdigen Zivilisationskritik des Franziskus zu beschäftigen. Dennoch ist der Naturalismus immer noch eine kräftige Plausibilitätsstruktur, und man könnte manches, was Descola als Anzeichen seines Wankens beobachtet, auch als eine neue Stufe seiner Vollendung interpretieren. So spricht Descola davon, dass uns sie Tiere wieder näher gekommen sind: „Die Tiere können in den Rang von Subjekten erhoben werden, weil sie, genau wie wir, Organismen sind, deren sensomotorische Fähigkeiten ihnen die Möglichkeit eines signifikanten Einflusses auf die Welt geben.“ Doch steckt darin vielleicht weniger eine Erhöhung der Tiere, als vielmehr eine Verflachung in der Selbsterkenntnis des Menschen: Wir sind eben auch nur Tiere, auch nur ihre Umwelt intentional beeinflussende Organismen. Wir erkennen nicht animistisch auch im Tier ein Ich, sondern wir beginnen, unser eigenes Ich, unsere Interiorität auch noch vollständig zu objektivieren: „Die distinktive Interiorität verschwindet vollständig zugunsten einer harmonischen Kontinuität der Physikalitäten.“30 Nun ist alles Natur – und auch der Betrachter ist von ihr, ist in dieser seiner eigenen Perspektive, ins Bild hinein, verschluckt worden. Besonders deutlich wird dies in dem Einfluss, den die neuere Gehirnforschung auf unser Denken ausübt. In ihr nähert sich die naturwissenschaftliche Objektivierung in einer noch nie dagewesenen Weise sozusagen dem Produktionszentrum der Subjektivität selbst. Auch diese Subjektivität, auch unser Erkennen und Objektivieren, lässt sich offenbar evolutionär und biochemisch nachvollziehen: „Der Geist … ist nur noch ein Attribut oder ein Epiphänomen der Physikalität.“31 Damit wäre der Naturalismus zu einem reinen Monismus vollendet: Es gibt nur Natur, wir sind ein Teil von ihr. Die große garstige Trennung scheint in sich zusammen gefallen zu sein. Der Naturalismus ruht nicht mehr auf einem Subjekt-Objekt-Dualismus, er ist monistisch geworden. Alles ist eins. Philosophisch-logisch erscheint dieser Vorgang allerdings als absurd, weil in diesem Monismus alles erklärt wird, nur nicht der Erklärer, der auch noch sich selbst objektiviert. „Das moderne Studium des Geistes wird geleitet vom Blick auf niemand.“32 Einige Philosophen wie Thomas Nagel oder Markus Gabriel fixieren derzeit dieses Paradox und fordern eine neue Sichtweise, die auch wieder den Geist als eine objektive Gegebenheit der erkennbaren Wirklichkeit anerkennt. Doch was heißt das? Wenn der Gehirnforscher erklärt, dass sein Geist nur eine Auswirkung biochemischer Vorgänge sei, hat er sein eigenes 302

Christlicher Animismus?

Gehirn als Objekt von sich distanziert, um es erkennen und erforschen zu können, am Ende jedoch das „sich“ in diesem Vorgang zum Verschwinden gebracht. Der Maler verabschiedet sich in seine Kulisse. Während der Animist in allen Naturphänomenen Geist erblickt, lauter Geister, lauter Subjekte, erblickt der Naturalist am Ende in allem Geist nur noch natürliche Vorgänge, sogar in sich selbst. Unsere Sehnsucht nach einem neuen, besseren Verhältnis zur Natur und zu uns selbst ist so in einer paradoxen Situation: Einerseits löscht die Plausibilität, welche der vollendete Naturalismus bei uns auch gesellschaftlich gewinnt – von den Wissenschaftssendungen im Fernsehen bis hin zur Wirtschaftspsychologie und zum Alltagsbewusstsein –, den Geist in der Natur gewissermaßen aus. Andererseits sehnen wir uns nach einem Verhältnis zur Natur, das nicht nur zweckrational, nur mechanistisch, nur objektivierend wäre – nach einem natürlichen Verhältnis zur Natur, dass doch nicht einfach „natürlich“ gegeben ist. Hält die Spiritualität des Franziskus eine christliche Ressource bereit, die es theologisch und praktisch erst noch zu erschließen gilt? Francesco und die Krippe Zu Franziskus’ christlichem Animismus gehört auch die Erfindung eines Brauches, der das Christentum heute noch heimelig macht: die Weihnachtskrippe. Zur Weihnachtsfeier der Brüder 1223 hat er sie erstmals aufstellen lassen, im Gottesdienst, und nicht mit Figuren, sondern mit lebenden Tieren. „Nun wird die Krippe zurechtgemacht“, berichtet Thomas von Celano: „Heu herbeigebracht, Ochs und Esel herzugeführt. … Aus Greccio wird gleichsam ein neues Bethlehem.“33 Ausdrücklich betont Thomas, dass die Tiere nicht nur Objekte der Darstellung sind, schöne Veranschaulichungen – wie wir sie heute in einer Kinderchristmette einsetzen würden (soweit es der Tierschutz erlaubt). Die Tiere selbst nehmen an der Weihnachtsfeier teil, so wird die Heilige Nacht „Menschen und Tieren wonnesam“34– und Franziskus selbst verfällt, als er als Diakon in der Feier das Evangelium singt, geradezu in die Sprache der Tiere, denn „wenn er ‚Bethlehem‘ aussprach, klang es wie von einem blökenden Lämmlein“35. Und weil es im Mittelalter keine heiligen Handlungen ohne WunderResonanz gibt, schildert Thomas anschließend noch, dass man das Heu, das in der Krippe gelegen hatte, aufbewahrte, „damit der Herr, der sein heiliges Erbarmen gar mannigfaltig erzeigt, Pferde und andere Tiere da303

III. Tiereschatologie

durch heile. Und so geschah es in der Tat, dass in der umliegenden Gegend viele Tiere, die verschiedene Krankheiten hatten, von diesen befreit wurden, wenn sie von dem Heu fraßen.“36 Mit dem Heu aus der Krippenfeier werden die Tiere also in die Auswirkungen der Weihnachtsgnade einbezogen; die Erlösung, die von der Heiligen Nacht ausgeht, wird auch zu ihnen getragen und betrifft sie ganz direkt, ganz körperlich. Von diesem Ereignis her haben Krippendarstellungen in Italien eine ausgeprägte Tradition, die sich auswuchs bis zu den neapolitanischen Krippen-Panoramen, welche die gesamte Alltagswelt ihrer Zeit um das neu geborene Jesuskind versammeln. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat diese Krippen als eine Weise interpretiert, die durch das Kommen des Messias erlöste Welt, Natur und Mensch, darzustellen – jedoch so, dass diese Erlösung nichts weiter zu sein scheint als die Befreiung zu einem schlichten Da-Sein, zu einem einfachen Sein-Dürfen. Diese Krippen zeigen – eine Geste, die wohl in jeder Modellbau-Leidenschaft steckt – „die profane Unschuld der Kreatur … Daher die realistische Darstellung der Kreatur und ihrer Gesten aus dem Alltag.“ Da finden sich „Schneider und Holzfäller, Bauern und Hirten, Gemüsehändler und Fleischer, Wirtsleute und Jäger, Wasserträger und Kastanienröster“.37 Die Freude an ihrer Darstellung führt zu einer „grenzenlosen Erweiterung der Figuren und Episoden, in denen die ursprüngliche sakrale Szene fast untergeht und mühevoll vom Blick gesucht werden muss“, als sei diese pralle Vielfalt des Lebens viel wichtiger als das göttliche Kind. Aber genau dadurch wird die Welt in die Gegenwart dieses Kindes gebracht, ohne in eine fremde, übernatürliche, abgehobene Welt verwandelt zu werden. Gerade in der Heiligen Nacht fällt hier „jede Unterscheidung zwischen Heiligem und Profanen aus, und beide Sphären fallen in der Geschichte zusammen.“38 So hätte denn die volkstümliche Krippe mühelos dargestellt, was die Theologie der Inkarnation so mühevoll auszusagen versucht: Gott kommt mitten in die Welt, erlöst dadurch, dass er selbst in die Schöpfung eingeht, Fleisch wird. In diese Szenerie gehören auch, dargestellt in einer „fantastischen und liebevollen Akribie … Tomaten, Auberginen, Kohl, Kürbisse, Karotten, Meerbarben, Langusten, Tintenfische, Muscheln und Zitronen“39– und zudem die besonderen Tiere der Krippe, Ochs und Esel samt Schafen. Solche Tiere kommen auch in den volkstümlichen Erzählungen der Zeit, in Fabeln und Märchen vor, dort jedoch vermenschlicht oder verzaubert, sprechend und handelnd. An der Krippe dagegen sind sie einfach sie selbst, so wie die Menschen und Dinge dort auch. Agamben sieht auch darin eine 304

Christlicher Animismus?

Befreiung: „Die sprechenden Gänse, Ameisen und Vögel, das Huhn mit den goldenen Eiern, der Spielzeuge scheißende Esel, der Tisch, der sich ganz von allein deckt, und der Stock, der auf Befehl zuschlägt: Die Krippe muss all dies von der Verzauberung befreien.“40 Sie tut dies, indem sie Menschen, Tiere, Pflanzen, Dinge einfach so wie sie sind – und so möglichst genau und liebevoll wahrgenommen – in die Gegenwart Jesu rückt. Schon diese Gegenwart ist ihre Erlösung: „In der messianischen Nacht befreit sich die Geste der Kreatur von jeder magisch-juristisch-divinatorischen Bezugnahme und wird einfach human und profan.“41 Alles darf einfach es selbst sein, so wie es geschaffen und gemeint ist, aber eben darin sind „ausnahmslos alle Figuren durch jenes unsichtbare Band der Teilnahme am messianischen Ereignis der Erlösung … zusammengehörig.“42 Von unserem kulturgeschichtlich-ethnologischen Ausflug her gesehen erscheint die Krippe so als eine Darstellung befreiter, zu sich selbst gekommener Welt aus Dingen, Tieren und Menschen, jenseits ihrer Verzauberung im Animismus, ihrer Ankettung in den Strukturen des Analogismus oder ihres Verstummens im Naturalismus. Die Utopie der Krippe bestände darin, dass alle Geschöpfe sie selbst sein dürfen und darin untereinander doch zutiefst zusammen gehören, wenn sie sich um ihren Schöpfer scharen, der selbst ganz natürlich unter ihnen ist, als messianisches Kind, als ihnen ausgelieferte Unschuld. Christliche Erlösung, wie sie diese Krippen predigen, wäre dann keine angestrengte, irgendwie immer unwirklich bleibende Operation einer Transformation der verdorbenen, sündigen Natur in eine begnadete Über-Natur. Sie wäre die Befreiung dazu, ganz schlicht miteinander Kreatur zu sein. Francescos christlicher Animismus ist in diesem Licht eine Praxis, welche dieser messianischen Erlösung, welche der Gegenwart Gottes in seiner Schöpfung so sehr vertraut, dass sie in der Welt lebt und allem so begegnet, als ginge es tatsächlich so zu wie an der Krippe, als würde sich alles schon versammeln zum friedlichen Da-Sein in der Anbetung des göttlichen Kindes, in der befreiten Freude an seiner Gegenwart. Dass dem faktisch nicht so ist, gibt dieser Praxis ihre Spannung: Sie wirkt darin zugleich unendlich naiv und hart. Diese Praxis ist kein romantisches „Zurück zur Natur“  – weil es diese Natur, zu der man einfach zurück könnte, gar nicht gibt. Die erlöste Natur nicht nur als Krippe darzustellen, sondern sie zu leben, heißt, sich die Freiheit der Erlösung zu nehmen gegen jeden Augenschein. Gregor Taxacher 305

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Thomas von Celano, Erste Lebensbeschreibung oder Vita des Hl. Franziskus, Nr. 58. Alle Franziskus-Texte sind zu finden in: Franziskus-Quellen. Bonaventura von Bagnoregio,: Legenda Maior  – das große Franziskusleben, Nr. 3. Fioretti: Die Blümlein des Heiligen Franziskus, Nr.  16, in: Franziskus-Quellen (Kevelaer 2009). Vgl. dazu in diesem Band das Kapitel von Thomas Ruster: „Das Lamm Gottes“ (S. XXX)! Thomas von Celano, Zweite Lebensbeschreibung oder Memoriale, Nr. 200. Thomas von Celano, Erste Lebensbeschreibung oder Vita des Hl. Franziskus, Nr. 80. Ebd., Nr. 81. Von Galli, Gelebte Zukunft, 228. Bonaventura von Bagnoregio, Legenda Maior  – das große Franziskusleben, Nr. 1. Sammlung von Peruga, Nr.  87, in: Franziskus-Quellen. Franziskus von Assisi, Gruß an die Tugenden, Nr 17 f., Von Galli, Gelebte Zukunft, 90. Grober, Nachhaltigkeit, 46 f. Thomas von Celano, Zweite Lebensbeschreibung oder Memoriale, Nr. 165 Descola, Jenseits von Natur und Kultur, 40.

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Ebd., 417. Ebd., Ebd., 419. Ebd. Ebd., 301. Ebd., 401. Ebd., 302 und 318. Ebd., 403. Ebd., 404. Ebd., 60. Ebd., 99 ff. Kaeser, Artfremde Subjekte, 15. Ebd., 59. Descola, Jenseits von Natur und Kultur, 297. Ebd., 281. Ebd., 279. Kaeser, Artfremde Subjekte, 12. Thomas von Celano, Erste Lebensbeschreibung oder Vita des Hl. Franziskus, Nr. 85. Ebd. Ebd., Nr. 86. Ebd., Nr. 87. Agamben, Kindheit und Geschichte, 179. Ebd., 182. Ebd., 183. Ebd. Ebd., 179. Ebd., 181 f.

Bestiarium symbolicum Die Christianisierung der Tiere in der Kunst der Romanik

Es war eine spontane Idee gewesen: Mit dem Zug unterwegs zwischen Venedig und Triest wurde uns klar, dass Aquileia, einst eine große Hafenstadt und Patriarchatssitz der alten Kirche, nicht weit vom Wege lag. Das sollte doch einen Abstecher lohnen. Allerdings war es nicht so leicht, den Ort mit öffentlichem Verkehr zu erreichen; das heutige Aquileia hat seine frühere Bedeutung verloren. Die berühmte Basilika jedoch ist vollständig erhalten bzw. restauriert. Als wir das Gebäude betraten, war aller Ärger über die umständliche Anfahrt verflogen. Die Kirche ist auf dem Fundament der Tiere erbaut, so kam es mir gleich in den Sinn, in Abwandlung eines berühmten Satzes des Theologen Erik Peterson.1 Die Besucher, die auf Glasstegen über die Mosaikfußböden der Basilika von Aquileia geführt werden, müssen zu dieser Erkenntnis gelangen. Denn wenn sie die Blicke von der feierlichen Weite des Kirchenraums lösen und zu Boden senken, dann erblicken sie – Tiere. Eine überreiche Fauna leuchtet von unten her herauf, Tiere vieler verschiedener Arten und in allen möglichen Lagen. Sie bilden den Boden dieses Kirchenbaus aus dem 4. Jahrhundert, der, so belehrt uns der Kirchenführer, gleich nach dem Toleranzedikt von 313 als einer der ersten christlichen Sakralbauten des Abendlandes errichtet wurde. Die Basilika ist über den Tieren errichtet, die Tiere bilden das Fundament. Man sieht eine Ziege in Ruhestellung und eine, die in der Erde scharrt, eine weitere, die in einem Nest auf einem Baumwipfel liegt, einen wilden schreienden Esel mit den Insignien eines Bischofs und einen weiteren, im Sprung befindlichen Esel sowie einen, der in ruhiger Haltung sein rechtes Bein hebt. Ferner einen prachtvollen Hirsch mit sechsendigem Geweih, einen kraftvollen Widder in 307

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gespannter Haltung, eine Languste, einen Rochen sowie zahlreiche weitere Fische, einen Papagei auf blühendem Zweig, zwei Rebhühner, die ihre Küken bewachen, zwei sich gegenüberstehende Purpurhühner, zwei sich anblickende Fasane, zwei Amseln in luftigen Blätterranken, eine Gazelle in vollem Lauf, ein mümmelndes Kaninchen und zwei springende Hasen, ein geflügeltes Pferd und viele weitere Tiere. Ein Darstellung fällt besonders ins Auge, sie kommt auch gleich zweimal vor: Der Kampf zwischen Hahn und Schildkröte, die sich angriffsbereit gegenüberstehen. Eine andere Kampfszene zeigt die Auseinandersetzung zwischen einem Ibis, einer Kröte und einer Schlange. Dann sieht man einen Jungstier, in dessen Leib so etwas wie ein Speer steckt, an den oben ein rotes Band gebunden ist. Beherrschend an zentraler Stelle im Mittelschiff der Kirche: Der Prophet Jona, wie er vom Seeungeheuer verschlungen wird und dann, auf einem weiteren Bild, wie er wieder ausgespien wird; auf dem nächsten Bild sieht man ihn unter dem Rizinusstrauch entspannt ruhen. Die Künstler lassen es hier aber nicht mit den Figuren der biblischen Geschichte bewenden, sondern fügen eine Menge von Meeresbewohnern hinzu, schöne und hässliche. Gleich daneben nackte geflügelte Putten beim Fischen, der Korb mit den gefangenen Fischen steht auf dem Heck ihres Schiffes. Dann die gleiche Szene noch einmal; das gefüllte Netz, das die Amouretten aus dem Wasser ziehen, kann nur einen kleinen Teil der Fische fassen, die drumherum durch das Meer kreuzen. Ein weiteres bekanntes Motiv: Der gute Hirt mit einem Lamm auf den Schultern und einer Panflöte in der Hand, ein Schaf steht zu seinen Füßen. Eine andere Darstellung des guten Hirten zeigt ihn nicht wie die erste als attraktiven jungen Mann, sondern als vornehmen, würdigen Herrn. Er hat nun eine Aureole um das Haupt und trägt kostbare Kleidung. Ihm zur Seite eine Ziege, ein Schaf und ein Gefäß mit Milch. Dann noch einige menschliche Gestalten: Junge Frauen, die gebackene Kringel, Brot und Blumen reichen, und portraitartige Gesichter, die möglicherweise Stifter darstellen. Eine weitere, viel umrätselte Darstellung zeigt eine geflügelte weibliche Figur mit blondem Haar, die einen Lorbeerkranz in der rechten und einen Palmzweig in der linken Hand hält. Zu ihren Füßen zwei Körbe, der eine mit Trauben, der andere mit Weizenkörnern gefüllt. Wen stellt sie dar? Die römische Siegesgöttin oder den „Sieg des Christentums“, wie der Kurzführer, den man am Eingang der Kirche erwerben kann, erklärt? Man kann sich nicht sattsehen an dieser Fülle von Bildern, an ihrer ausdrucksstarken Lebendigkeit und Natürlichkeit. Welch hohe Kunst, die da die Jahrhunderte überdauert hat und mit ihren frischen leuchtenden 308

Bestiarium symbolicum

Farben noch heute unmittelbar anspricht! Angekommen in Triest, haben wir gleich angefangen, uns kundig zu machen. Die Kunst des Mosaiklegens war in Venetien und Istrien seit römischer Zeit verbreitet. Ihre Ursprünge liegen im Orient, im Babylonien und Syrien des dritten und zweiten vorchristlichen Jahrtausends. Im 5. Jahrhundert v. Chr. gelangte die Mosaikkunst durch syrische Vermittlung nach Griechenland und von dort ins Römische Reich, in dessen Spätzeit sie ihre letzte Blüte erlebte.2 Die christlichen Erbauer der Basilika in Aquileia profitierten von dieser Tradition. Die ausführenden Künstler werden sich durch die christlichen Auftraggeber nicht allzu sehr von ihren überkommenden Traditionen haben abbringen lassen. Vieles, was sie für die Basilika gestalteten, findet sich ähnlich auch in römischen Tempeln, Bädern und Privathäusern.3 Das Formenarsenal des Mosaiks hatte sich in einer langen Geschichte herausgebildet und wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Deutungen der Motive in Aquileia greifen deshalb gerne auf die vorchristliche Bildersprache zurück. Der zweimal dargestellte Kampf zwischen Hahn und Schildkröte könnte auf den Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen, dem Licht und der Finsternis zu deuten sein, denn in der griechischen Mythologie steht die Schildkröte für die Finsternis (was auch ihr griechischer Name bedeutet). Der Jungstier könnte an uralte Opferrituale erinnern, vielleicht schon in biblischer Opfertradition. Aber ist das sicher? Oder handelt es sich um eine Szene aus dem Stierkampf? Bei den meisten Tierdarstellungen sind sich die Ausleger gar nicht sicher, oder sie schweigen einfach. Der Kirchenführer erklärt vorsichtig: „Beim derzeitigen Kenntnisstand ist angesichts der absoluten Originalität der ikonographischen Schemata eine gewisse Vorsicht geboten.“ Richtig schwierig wird es aber erst, wenn es um die Deutung der Motive im christlichen Kontext geht. Denn das macht ja den Reiz der Mosaike in Aquileia aus, dass die antike Bildersprache nun in einer christlichen Kirche auftaucht und demgemäß irgendeine christliche Bedeutung haben muss. Bei der großen Komposition zum Propheten Jona ist man da auf sicherem Boden, es handelt sich um ein biblisches Thema, das wohl auf die Taufe zu beziehen ist. Ungewöhnlich ist allerdings die Darstellung der vielen weiteren Fische neben dem Seeungeheuer. Bei den zwei Darstellungen des guten Hirten tippen die Ausleger reflexhaft auf Christus. Aber auch das ist nicht sicher, es könnte sich einfach um eine bukolische Szene handeln.4 Wo immer Fische auftauchen, glauben die Deutungen ein Christussymbol zu erkennen. Aber warum so viele und so verschiedene? Der prachtvolle Hirsch könnte auf die Sehnsucht nach Gott 309

III. Tiereschatologie

zu beziehen sein, gemäß Psalm 42: „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser …“. Vom Wasser ist auf dem Mosaik allerdings nichts zu sehen, und der Hirsch sieht so gar nicht lechzend aus. Die Deutung der blondgelockten jungen Frau mit Lorbeerkranz ist ebenfalls unsicher. Zuweilen schießen die Auslegungen ins Fantastische. Man sieht ein Zicklein in Ruhestellung, unter ihm könnten Eier zu erkennen sein. „Vielleicht kann man hier eine Anspielung auf die Geburt sehen, auf das Leben, auf die christliche Wiedergeburt: das Symbol der Ostereier!“5 Die Wahrheit ist: Man weiß die Bildersprache von Aquileia heute nicht mehr zu entschlüsseln. Der Schlüssel ist uns verloren gegangen. Aber die Tatsache bleibt bestehen: Eine der frühesten christlichen Sakralbauten auf europäischem Boden hat die Kirche auf dem Fundament der Tiere errichtet. Die Christen, die im 4. Jahrhundert diese Kirche erbauten, hatten irgendeine Theologie der Tiere im Kopf, die sie für so wichtig hielten, dass sie in mühevoller Arbeit und in beeindruckender Kunstfertigkeit den gesamten Boden der Basilika danach gestalteten. Die Mosaike von Aquileia sind übrigens, nachdem sie lange verschüttet waren, erst Anfang des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt worden. Seitdem ragen sie in unsere Zeit hinein als die Aufforderung, eine Theologie der Tiere neu zu entwickeln. Die Tierornamentik der Romanik – Quellen und Forschungsansätze Szenenwechsel. Auf der Suche nach Tieren in der christlichen Kunst wird man erst in der Romanik wieder so richtig fündig. Das Christentum der Antike hatte sich – aber Aquileia ist da die Ausnahme! – überwiegend darauf beschränkt, einzelne Tiere in ihrem typologischen und symbolischen Gehalt zu zeigen: das Lamm, den Fisch, die Taube, den Löwen, dann auch Mensch, Löwe, Stier und Adler als Evangelistensymbole. Die romanische Kunst, etwa in der Zeit von 1050 bis 1230, bringt dann den „rätselhafte[n] Einbruch einer Überfülle von Tierbildern.“6 Überall hocken und nisten sie in den Kirchengebäuden, die in dieser Zeit in großer Zahl vor allem in Mittel- und Nordeuropa errichtet wurden: An den Türen und an den Simsen, auf den Friesen und an den Säulensockeln, an den Kapitellen und auf den Türmen, an den Lesepulten, Taufsteinen und Lettnern. Viele sind so angebracht, dass sie für die Besucher der Kirche gar nicht sichtbar sind, 310

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und doch haben sich die Künstler die Mühe gemacht, sie aus dem harten Material des Steins herauszuhauen. Im Unterschied zur altkirchlichen Kunst, die die Tiere gerne einzeln oder in Paaren darstellte, meistens noch mit einem Rahmen versehen, finden wir die Tiere der Romanik in Reihen und Gemeinschaften, oft in heftigste Bewegung verstrickt. In sog. Bestiensäulen sind sie ineinander verschlungen und verbissen. Die Grenze zum Monsterhaften ist schnell überschritten: Tiere mit einem Kopf und zwei Leibern oder umgekehrt mit einem Leib und zwei Köpfen, Dämonen in Tiergestalt, fratzenhafte Tiergesichter mit Mäulern, die alles verschlingen. Rätselhaft, fürwahr, diese Tierwelt der romanischen Kunst, rätselhafter aber noch, dass sich zu dieser Zeit die christliche Kunst in solchem Maß der Sprache der Tiere bediente. Der „Spuk“ ist schon bald wieder vorbei. Die Gotik mit ihren gewaltigen Kathedralen ab dem 13.  Jahrhundert beschränkt das Tier überwiegend auf seine allegorische und moralische Funktion und bevorzugt eindeutig Menschendarstellungen.7 Das Interesse der Forschung an diesen Tierdarstellungen und überhaupt an der Bedeutung der Tiere im Mittelalter ist in den letzten Jahren enorm gestiegen.8 Noch aber ist man weit von der Lösung der Rätsel entfernt. Was sollen alle diese Tierskulpturen bedeuten? Was haben sie mit dem christlichen Glauben zu tun? Welche Funktion hatten sie in der Verkündigung der Kirche? Es gibt hauptsächlich zwei Wege, Antworten auf diese Fragen zu finden.9 Die eine Richtung der Forschung konzentriert sich auf die Kunst- und Baugeschichte, fragt nach der Tradition und der Weiterentwicklung der Ikonographie, beachtet die Zusammenhänge zwischen Architektur und ornamentaler Kunst. Den Künstlern wird dabei oft ein eher spielerischer Umgang mit ihren Stoffen unterstellt. Wenn man ein rundes Medaillon zu gestalten hat, liegt es vielleicht nahe, ein Wesen mit zwei Körpern und einem Kopf zu gestalten. Eine spitzwinklig dreieckige Kapitellfläche verlangt eher nach zwei Köpfen mit einem Körper. Sicher sieht diese Richtung etwas Richtiges, denn die Baugesetze bestimmen die Ausstattung. Die Bildhauer werden im Wesentlichen auf die Motivik zurückgegriffen haben, die ihnen vorgegeben war und die sie nach den Gegebenheiten weiterentwickelten. Die plastische Tierskulptur der Romanik ist zuerst von lombardischen Meistern im 7./.8 Jahrhundert erfunden und dann von ihnen, die im romanischen Kirchenbau viel beschäftigt waren, in den Norden getragen worden. Ihnen war die antike Bildersprache gut bekannt. In der Begegnung mit den baulichen und künstlerischen Traditionen des germanisch-keltischen Gebiets werden die 311

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Motive abgewandelt.10 Doch damit ist über die Bedeutung der einzelnen Darstellungen noch wenig gesagt. Dieser spürt die zweite Richtung nach, die sich auf den Symbolwert der Tiere und damit auf die literarischen Quellen konzentriert, aus denen dieser zu erheben ist. Die Bibel ist natürlich von den romanischen Künstlern weidlich ausgewertet worden; kein Tiermotiv der Bibel, das nicht in dieser Kunst wieder aufgegriffen wird. Eine andere wichtige Quelle war der sog. Physiologus, der „Naturkundige“, eine anonym überlieferte und im Laufe der Überlieferung und der verschiedenen Übersetzungen immer wieder erweiterte Schrift, deren Ursprung wohl im 2./3. Jahrhundert liegt.11 Der Physiologus enthielt angeblich die Summe des antiken Wissens über die Tiere. Dem Mittelalter wurde seine Schrift nur in Verbindung mit christlichen Ausdeutungen bekannt, meistens moralisch-asketischer Art. Für unsere Ohren klingt es oft nach Jägerlatein: dass z. B. die Löwin ihre Jungen tot gebiert und der Löwe dann nach drei Tagen kommt und sie mit seinem Atem zum Leben erweckt. Vom Panther weiß der Physiologus: „Wenn er gefressen hat und satt ist, ruht er in seiner Höhle, und am dritten Tage erhebt er sich vom Schlaf und brüllt sehr laut. Alle Tiere nah und fern hören seine Stimme. Von seiner Stimme geht ein überaus starker Wohlgeruch aus, und die Tiere folgen dem Wohlgeruch der Pantherstimme und kommen ihm ganz nahe.“12 Der Physiologus bezieht diese Eigenarten von Löwe und Panther auf die Auferstehung Christi, die romanische Kunst folgt ihm darin hundertfach. Weitere Quellen kommen hinzu: die Heiligenviten, die sog. Bestiarien (Zusammenstellungen von Tiereigenschaften) und natürlich volkstümliche Überlieferungen. Wer vor diesem Hintergrund den symbolischen Sinn der Tierskulpturen entschlüsseln will, findet viel, ja zu viel. Denn es gibt keinen Kanon für die symbolische Bedeutung der Tiere. Jedes Tier kann vieles bedeuten. Der Löwe ist Herrschaftssymbol, nach antiker Tradition auch Symbol der Sonne oder des Leben spendenden Wassers; christlich ist er deshalb zum Symbol der Auferstehung und der Herrschermacht Christi avanciert. Er ist aber ebenso das Raubtier, vor dem Psalm 22 warnt („Aus dem Rachen des Löwen befreie uns, Herr“), und so wird er zum Symbol des Satans, über den Christus triumphiert. So geht es mit allen Tieren fort.13 Es kommt auf die Konstellation an, da diese aber oft nicht eindeutig zu erkennen ist, verliert sich die Deutung in ein Gespinst von Vermutungen und Andeutungen, ins Spekulative und Eigenwillige. So wichtig die Arbeit am Symbol ist, mit ihr allein ist der romanischen Tiermotivik nicht beizukommen. 312

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Tierkunst und Tiererleben Neuere Forschungsansätze gehen über die genannten hinaus und beziehen in interdisziplinärer Zusammenarbeit Alltagsgeschichte und volkstümliche Literatur, die Naturwahrnehmung der Menschen und die Regeln ihres sozialen und moralischen Zusammenlebens mit ein.14 Eine vorzügliche Quelle dafür sind die Heiligenviten, die im frühen Mittelalter in großer Zahl verfasst wurden. Sie lassen trotz ihres hagiographischen, idealisierenden Charakters mehr Informationen über die Welt der Tiere und ihre Beziehungen zu den Menschen durchscheinen als man bislang annahm.15 Die Heiligenviten sind von den Mirakelbüchern zu unterscheiden, die einen viel stärker folkloristischen Einschlag haben und sich von der Realität entfernen. Ein fester Topos der Lebensbeschreibungen über heilige Einsiedler und Einsiedlerinnen, Mönche und Nonnen war ihre Macht über die Tiere. Sie zähmen wilde Tiere, gewinnen einen vertrauten Umgang mit ihnen, dienen ihrem Wohlergehen und heilen sie, so wie umgekehrt auch die Tiere ihnen dienen und ihr Überleben sichern. In diesen Geschichten über die „tendresse, compassion, affection“16 zwischen Mensch und Tier ist zweifellos eine bedeutende Dimension mittelalterlicher Tiererfahrung enthalten, wie sie vor allem im Umkreis der eng mit den Tieren zusammenlebenden Eremiten entstehen konnte. Aber sie mögen auch Wunschprojektionen gewesen sein, denn im Hintergrund dieser friedvollen Episoden scheint immer wieder die Angst vor dem Tier durch. Tiere waren Nahrungskonkurrenten, sie waren gefährliche Raubtiere, sie waren Plagegeister wie die Ratten, Mäuse oder Insekten. Die hl. Colette aus Corbie wird von Kröten, Spinnen, Insekten aller Art aufs Schlimmste geplagt. Sie verfolgen sie bis in ihre Träume. Am Ende entwickelt sie, so erzählt ihre Vita, eine regelrechte Tierphobie.17 Eine Gefährtin der Hildegard von Bingen hatte einen solchen Widerwillen gegen Tiere, dass sie schon entsetzte Schreie ausstieß, wenn sie nur welche hörte oder sah. Auch ihr begegnen Tiere in Albträumen.18 Geht man der literarischen Evolution dieser Erzählungen nach, dann lässt sich sehen, dass in einer späteren Entwicklungsstufe der Heiligenviten aus den Schreckenstieren Monster und halluzinatorische Figuren werden.19 Und solche begegnen nun auch in den Skulpturen der romanischen Kirchen. Wenn Heinrich und Margarethe Schmidt bemerken: „Im romanischen Tierornament tritt uns am eindrücklichsten die Thematik der Angst entgegen“, dann ist diese Angst nicht nur, wie es meistens geschieht, auf die Drohbotschaft der Kirche vom Jüngsten Gericht und der Höllen313

III. Tiereschatologie

strafe zurückzuführen, sondern zunächst einmal auf ganz reale Erfahrungen, die Menschen mit Tieren gemacht haben. Die Botschaft der Kirche kann sich daran anschließen, kann die psychische Angst ins Metaphysische verlängern; aber auch in dieser Form behält sie noch einen Bezug zur Realität. Im Gefolge der cluniazensischen Reform, in deren Geist viele Klöster gegründet und Kirchen gebaut wurden, finden sich besonders eindrückliche, grausige Beispiele für die Transformation der realen Bedrohung hin zur religiösen. Die Cluniazenser wollten der Verweltlichung der Kirche wehren, sie verkündeten die strenge Gerechtigkeit Gottes durch Ausmalung von Grauen und Entsetzen am Tag des Gerichts. So konnte eine Stimmung entstehen, „die dem Umsichgreifen solcher Angstgeburten Vorschub leistete. Indem Tiere und Monstra zur Versinnbildlichung des Bösen, der Sünde und der Hölle eine ausgiebige Verwendung fanden, verband sich mit der Darstellungsaufgabe eine mit geistlich-didaktischen und moralischen Absichten in Beziehung stehende Bestimmung.“20 In die Hagiographien der romanischen Epoche hatten Momente des alltäglichen Erlebens, und zwar besonders des Erlebens im Zusammensein mit Tieren, Eingang gefunden, die weder in der Antike noch im Hochmittelalter als literaturfähig galten. Das Tiererlebnis rückte in den Rang einer religiösen Erfahrung und gelangte so auch in die Klöster und Kirchen. Die Sprache der Tiere war das Medium, in dem sich volkstümliche und religiöse Erfahrungen miteinander kommunizieren ließen. Boglioni spricht von dem Versuch der Verkündigung, die volkstümliche Religion zurückzugewinnen, die der offiziellen Kirche zu entgleiten drohte.21 Von Blankenburg verweist auf das gestiegene religiöse Bedürfnis des einfachen Volkes, das es nicht dabei bewenden lassen wollte, nur den Gott der siegreichen Macht zu verehren, sondern den Glauben auch innerlich anzueignen und zu durchdringen suchte. Die Entstehung abweichender Bewegungen („Ketzer“) im 11./12. Jahrhundert ist ebenso sehr Ausdruck wie Anlass für die Kirche, sich gegen diese Bewegungen mit einer intensivierten Verkündigung zur Wehr zu setzen. Die Verwendung der Tiere in der religiösen Sprache und Kunst war dazu das bevorzugte Mittel.22 Mythische und christliche Tiersymbolik Nun haben wir die Elemente beisammen, die bei der Deutung der romanischen Tierskulptur zu berücksichtigen sind: 314

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• Die Tiere in der Bibel, angefangen von den Schöpfungserzählungen über die Tiergesetze der Tora, die prophetischen Tiervergleiche, die Tiere in den Evangelien und in den Apostelbriefen bis hin zur Apokalypse. • Die vorchristliche Tiersymbolik, die vornehmlich in den Traditionen der Handwerker und Künstler weitergetragen wurde. Welche bedeutende Rolle diese spielt, ist schon daraus zu ersehen, dass viele der in der romanischen Kunst dargestellten Tiere in Europa gar nicht vorkommen, z. B. der Löwe, der Panther, der Leopard, das Kamel, der Elefant. Mit dieser vorchristlichen Tradition kommen auch die mythischen Tiere ins Spiel: der Drache, der Basilisk (Schlange mit Beinen und/oder Flügeln, oft versehen mit einem Tier- oder Menschenkopf ), dazu tierisch-menschliche Mischwesen, Monster mit mehreren Köpfen oder Leibern usw.23 In der romanischen Tierkunst kommen antike, aus dem Mittelmeerraum stammende und letztlich auf uralte vorderorientalische Ursprünge zurückgehende Symbolwelten ebenso zur Geltung wie germanische und keltische, insbesondere auch irische und angelsächsische.24 • Der Physiologus mit seiner vermeintlichen „Wissenschaft“ von den Tieren, stets schon versehen mit christlich-allegorischen Deutungen. • Reales Tiererleben, gefiltert durch die hagiographische Deutung und durch diese oft ins Monströse und Fantastische verlängert. All dies hat die Kirche der romanischen Epoche miteinander verbunden und in den Dienst der Verkündigung des christlichen Glaubens gestellt. Aber wie ist das zugegangen? Wir stehen hier vor einem in seiner Bedeutung für die Entwicklung des europäischen Christentums kaum zu überschätzenden Prozess der Inkulturation des christlichen Glaubens in eine fremde Welt. Und damit auch vor der tiertheologisch so bedeutsamen Frage, wie das menschliche Erleben des Tieres mit dem christlichen Glauben verbunden werden kann. Wera von Blankenburg hat diesen Prozess in ihrem Werk Heilige und dämonische Tiere (1943) gründlich untersucht. Ihre Großthese lautet: In der Tiersymbolik der Romanik wird das ursprünglich mythisch gefasste Tiererlebnis christlich aufgenommen und verwandelt. Diese These möchte ich im Folgenden erläutern. Die Tierkunst des Frühmittelalters, so der Ausgangspunkt ihrer von einer Unzahl von Belegen gestützten Beobachtungen, setzt das vor- und außerchristliche mythische Tiererleben voraus 315

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und nimmt es in sich auf. Im Mythos, und das ist trotz der unterschiedlichen Gestalten in der vorderasiatisch-griechisch-römischen Mythologie nicht anders als in der germanisch-keltischen, ist das Tier nicht nur Sinnbild und nicht nur Ausgeburt der Fantasie. Es wird als Träger kosmischer Kräfte wahrgenommen. Urtümliches Erleben von Tieren, das bis an den Anfang der Menschheitsgeschichte zurückreicht, hat hier seine Spuren hinterlassen. Das Tiererlebnis ist ein Machterlebnis. Aber nicht so, als wenn dem Tier nun nur selbst diese Macht zugeschrieben würde, sondern an ihm wird ein Machtzusammenhang greifbar und ansprechbar, der den ganzen Kosmos, Sonne, Mond und Sterne, Pflanzen, Tier und Mensch gleichermaßen umgreift. Die mythologische Wahrnehmung bezieht sich auf ein mythisches Kraftfeld, das sich in eine Vielzahl von Phänomenen ergießt. Es ist nicht etwas, wirkt aber in vielem und schließt sehr Verschiedenes zu einer Einheit zusammen. Das ganze Kraftfeld ist göttlich, es ist „der Gott“. Das Tiersymbol ist gleichsam das Sakrament der mythischen Religion. Zum Verstehen des Symbols stellt der Mythos die Exegese bereit: Er entrollt in einer Reihe äußerlich verbundener Handlungen, was das Symbol einheitlich in sich trägt.25 Das Christentum des Frühmittelalters hat sich die mythische Symbolsprache der Tiere angeeignet. Auch im „Bewußtsein christlicher Prägung werden die Tiere […] noch für würdig befunden, leibhaftige Aussagen metaphysischer Wirklichkeiten zu sein“26. Die Kirche war „duldsam genug“, so drückt von Blankenburg dies aus, „auch ihre heilsgeschichtlichen Wahrheiten den Gläubigen in einer seit Urzeiten verständlichen und gewohnten Sprache zu übermitteln“27. Damit ist aber zugleich ein Prozess der Anverwandlung und Umdeutung initiiert. Die romanische Tierornamentik belegt, dass „der Übergang vom Heidentum zum Christentum nur langsam und unvollständig vor sich [ging]“28. Die einzelnen Stufen dieses Prozesses lassen sich mit von Blankenburg folgendermaßen verfolgen: Auf einer ersten Stufe wird die mythische und magische Bedeutung der Tiere einfachhin übernommen. So bei den apotropäischen (das Unheil abwehrenden) Tierköpfen, die man oft an den Dachfriesen romanischer Kirchen erblicken kann: Stier, Widder, Panther, Löwe. Das Dach ist die architektonisch gefährdetste Stelle an einem Kirchenbau, es ist bedroht von Sturm, Blitz und Feuer. Die Tierköpfe fungieren als eine Art Blitzableiter, sie funktionieren nach dem archaischen apotropäischen Prinzip, den Unheilsmächten Machtvolles entgegenzusetzen. Die Macht der dargestellten Tiere ist dabei selbstverständlich vorausgesetzt.29 316

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Auf einer zweiten Stufe finden wir symbolische Tierreihen, die in einen Zusammenhang gebracht und so zu Kündern christlicher Lehren werden. Von Blankenburg verweist auf das Heilige Grab der Stiftskirche in Gernrode. Die Tierreihe zeigt Tiere in ihrer Heils- und Unheilsbedeutung nach der Vorgabe des Physiologus. In der Mitte steht das Lamm Gottes, rechts und links Johannes der Täufer und Johannes der Evangelist, die auf die Tiere zeigen: Eine Tierpredigt vom wahren Leben in Christus. An den Chorschranken des Domes in Trier ist die christliche Umdeutung bereits weiter vorangeschritten. Das Einhorn steht für die Menschwerdung, der Phönix für den Kreuzestod, der Fisch für das Abendmahl, der Löwe für die Auferstehung, die Taube für den Heiligen Geist. Daneben treten die Tiere der Evangelisten auf, die die Weitergabe des Heilsgeschehens repräsentieren.30 Aber so deutlich wie hier vollzieht sich die christliche Anknüpfung und Umdeutung nicht immer. Es findet sich auch ein ungeschiedenes Vermischt- und Verwobensein magischmythischer und christlicher Symbolik; diese Zwischenformen bestimmen den Sinngehalt mancher plastischer Tierbilder. Auf einer nächsten Stufe, wenn man das so schematisch sagen darf, kehrt die christliche Deutung die Machtsymbolik des Mythos um. In der Ostapsis von Königslutter ist eine Jagdszene dargestellt. Jäger jagen Eber, Hirsche, Hasen. In mythologischer Symbolik würde dies auf die Vernichtung des Bösen durch das machtvolle Gute zu deuten sein. Aber dann sieht man, wie ein Hase, das schwächste der beteiligten Tiere, einen in Fesseln daliegenden Mann von seiner Gefangenschaft erlöst. Der Sinn ist umgekehrt: Die Gejagten sind die gläubigen Seelen. Die Befreiung von den Fesseln, von der die Bibel öfters spricht (Ps 31,5, Ez 13,18), geschieht durch das Beutetier, nicht durch die machtvollen Jäger. Das bedeutet nicht weniger als eine Umkehrung der Gewaltverhältnisse, eine Überwindung der Gesetze von Stärke und Schwäche. Theologische Deutungen der Zeit bestätigen, dass diese Umkehrung absichtsvoll gestaltet worden ist. Dabei spielt die archaische Bedeutung des Hasen als Lichtmythos – er schläft mit offenen Augen – auch in die christliche Deutung noch hinein.31 Ein weiterer Schritt in diese Richtung ist die Darstellung der Überwindung der bösen (Tier-)Mächte durch ihr Verschlungenwerden und ihre Verwandlung. „Der Tod ist verschlungen“, so gibt 1 Kor 15,55 vor (vgl. auch Jes 25,8; Hos 13,14). Die romanische Skulptur hat dies oft ganz direkt dargestellt. Der Sieg der guten Mächte/Tiere über die bösen ist nicht einfach ein Überwinden und Niederringen, sondern ein Verschlingen und dadurch eine 317

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Verwandlung, so wie jedes Essen und Verspeisen eine Verwandlung bewirkt. Am Ende wachsen aus dem Maul der Raubtiere lebendige Ranken hervor. „Löwen- und Pantherköpfe, aus deren Rachen Blattmotive oder Ranken hervorgehen, haben eine ungeheure Verbreitung in der romanischen Tierornamentik.“32 Die Beziehung zur eschatologischen Verheißung von Jes 11 (… der Wolf beim Lamme) wird ikonographisch oft ganz bewusst hergestellt. Das Christentum verheißt eine Verwandlung der Mächte. Der Kreislauf der Gewalt kann außer Kraft gesetzt werden. Der ewige, mythologische Kampf zwischen den Gegensätzen kommt zur Ruhe, Frieden und Eintracht sind möglich. Davon sprechen bezeichnenderweise etliche Darstellungen auf Taufsteinen. Die magische Figur des Wesens mit den zwei Köpfen bekommt eine neue Gestalt: Christus zwischen zwei sich feindlichen Ungeheuern, die Tod und Vernichtung, Tod und Teufel symbolisieren. Sie werden durch ihn zur Einheit in der Darstellung verbunden. Die Theologie der Zeit verweist dazu auf die Höllenfahrt Christi, bei der dieser die Mächte des Bösen überwunden und die gefangenen Seelen aus ihrem Rachen befreit hat.33 Ich breche das Referat des Werkes von Wera von Brandenburg hier ab, soviel es darüber auch noch zu sagen gäbe. Es ist hoffentlich genug gesagt worden, um einige Schlüsse zu ziehen und den Satz „Die Kirche ist auf dem Fundamente der Tiere erbaut“ mit Sinn zu erfüllen. • Der Satz gilt zunächst kultur- und religionsgeschichtlich. Das europäisch-abendländische Christentum ist in seiner spezifischen Form entstanden, indem im Frühmittelalter der vorchristliche Mythos aufgenommen und umgewandelt wurde. Diese prozesshafte und nicht konfliktfreie Inkulturation vollzog sich an der Gestalt der Tiere. Der Tiermythos ist das Fundament, auf dem dieses Christentum erbaut ist. • Die mythischen Tiere standen für das Erlebnis des Mächtigen. Die Tiertheologie ist in ihrer frühmittelalterlichen Prägung eine Theologie der Mächte und Gewalten. Der christliche Glaube beansprucht, jene Kraftfelder des Mächtigen, denen alles Seiende unterworfen ist, nicht auszulöschen, sondern neu auszurichten, zu verwandeln auf Christus hin. • Die Verwandlung der Machtverhältnisse findet ihren symbolischen Ausdruck in der Außer-Kraftsetzung des Naturgesetzes vom Fressen und Gefressenwerden. Damit ist etwas über die Beziehung von Natur und Gnade gesagt, deren Klärung dann in den folgenden Jahrhunderten die Theologie immer wieder beschäftigen wird. Gerade im stark 318

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von Gewalt geprägten Frühmittelalter, das die Gewaltexzesse der Völkerwanderung eben erst hinter sich hatte, enthält die Botschaft des Christentums die Verheißung der Überwindung von Gewalt. Diese Botschaft wird an den Tieren exemplarisch verdeutlicht. Es ist dies die Botschaft, von der auch die Märtyrerlegenden erzählen und zuerst die Geschichte von der Passion und Auferstehung Jesu Christi. Die Welt der Mächte und Gewalten durch den Glauben an die Auferstehung des Gekreuzigten umgestaltet zu haben, darauf ruht das Fundament der Kirche. Erik Petersons Satz („… die Kirche auf dem Fundament der Märtyrer erbaut“) und die Erfahrung von Aquileia (Kirche auf dem Fundament der Tiere erbaut) finden so zusammen. • Wie bei der romanischen Tierkunst ersichtlich wird, überhöht das Christentum den mythischen Gegensatz von Gut und Böse nicht durch einen neuen Gegensatz, auf dessen einer Seite nun der gute Gott und seine Kirche, auf der anderen das Heidentum und seine Götter zu stehen kämen, sondern entdeckt das Geheimnis der Verwandlung. Die uralten heidnisch-mythischen Motive werden in das Christliche hinein verwandelt. Das vielfach dargestellte Vorbild dazu ist das Essen. In der gleichen Zeit, als dieser Wandlungsglaube in den gemeißelten Tierskulpturen seinen Ausdruck fand, reifte in der Theologie die Lehre von der eucharistischen Wesensverwandlung heran. Dabei geht es um ein Essen, das nicht ein Leben auf Kosten anderer ist, ein Essen, das den Gegensatz von Leben und Tod zugunsten des Lebens überwindet.34 Das alte Dictum „Ecclesia benedicat omnia“ (Die Kirche segnet alles) findet hier seine Bewahrheitung: So wie die Elemente der Eucharistie, die sonst der Sphäre der Daseinserhaltung und damit dem Kampf um knappe Mittel angehören, durch den Segen in die Gaben der unerschöpflichen Liebe Gottes verwandelt werden, so auch die heidnische Religion in ihrer christlich-kirchlichen Anverwandlung. Dieser Vorgang lässt sich am Prozess der romanischen Kirchenkunst beobachten. • Die romanische Tierskulptur benutzt die Tiere nicht nur als Zeichen, denn sie ist getragen von den Erfahrungen, die Menschen – die Einsiedlerinnen und Einsiedler, die Klosterfrauen und Mönche, von denen die Heiligenviten erzählen, und sicher viele andere Menschen auch – gemacht haben. Davon berichten wir in diesem Buch in den Kapiteln über die Heiligen und die Tiere genauer. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen kann es als sicher gelten, dass in der 319

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künstlerisch dargestellten Zähmung und Verwandlung der wilden Tiere die Heilsverheißung, die an den Tieren dargestellt wird, auch für die Tiere geltend gemacht wird. Auch sie können zum Friedenfinden, können erlöst werden von dem „darwinistischen“ Kampf um’s Dasein. Die Raubtiermäuler, aus denen Leben bringende Pflanzenranken hervorwachsen, sind darauf zu deuten. Die ikonographischen Verweise auf Jes 11, auf Röm 8 (Seufzen aller Kreatur), auf die Verherrlichung des Lammes „wie geschlachtet“ und die Erhöhung der Tiere zu Symbolen der Evangelisten geben die Richtung der Interpretation an. Der christliche Glaube belässt die Tiere nicht im Reich der Natur, sondern erleuchtet sie durch das Licht der Gnade. Daraus erwächst ein neues Verhältnis zu den Tieren. Die gemeißelten Tierskulpturen der Romantik haben die Jahrhunderte überdauert, um auch für heute Grundlinien einer Theologie der Tiere zu weisen. Entlang der genannten fünf Punkte sehe ich für heute: • Die Inkulturation des christlichen Glaubens in die Gesellschaft wird immer beim Verhältnis der Menschen zu den Tieren ansetzen können. In der Beziehung zu den Tieren macht eine Gesellschaft ihr Verhältnis zum Lebendigen kenntlich – zum nicht-menschlich Lebendigen, zum Leben der anderen. Das Christentum, dem es um das wahre und ewige Leben geht, kann nicht anders als sich auf diese Verhältnisse einzulassen. Sie muss ihnen gegenüber „duldsam“ (von Blankenburg) sein, um sie verwandeln zu können. • Nach wie vor werden an den Tieren die – heute würde man treffend sagen: systemischen – Machverhältnisse deutlich, in die alle einbezogen sind. Tiere sind Symbole des Mächtigen, sei es als Repräsentanten der Macht, sie es als ihre Opfer. Woran kann man die Machtund Kraftfelder unserer Gesellschaft besser erkennen als an der Art ihres Umgangs mit den Tieren? Eine Theologie der Mächte und Gewalten, die die Verwandlung der Welt im Sinne des Gottesreiches betreibt, kann darum damals wie heute bei den Tieren ansetzen. • Beim Einsatz von Christen für die Überwindung von Gewalt reichen ethische Initiativen nicht aus. Es geht darum, den naturalistischen „Mythos der erlösenden Gewalt“ bzw. der Erlösung durch Gewalt zu überwinden, wie er heute noch in unzähligen Filmproduktionen vorgeführt wird.35 Das Gute setzt sich nicht durch die Vernichtung des Bösen durch. Leben kann nicht durch Tod erkauft werden. Das „Na320

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turgesetz“ vom Leben, das sich durch den Tod fortzeugt, behält nach Gottes Willen nicht das letzte Wort. Von diesem Glauben aus fällt auch auf die Tierwelt ein anderes Licht. Es ist das Licht der Erlösung. • Das Geheimnis der Erlösung heißt Wandlung. Daran halten die katholische und die orthodoxe Kirche in ihren Eucharistielehren zumindest nominell fest, und sie präzisieren ihre Lehre in der Verwandlung des Essens. Der Glaube an die Wandlung bezieht sich auf Fleisch und Blut, also auf das Lebendige, also auch auf die Tiere.36 • Nach dem frühmittelalterlichen Vorgang sollte es ausgeschlossen sein, die Erlösung ohne die Tiere zu denken. Das Paradies mit seinem friedlichen Zusammensein von Gott, Mensch und Tier ist nicht, so unterstreicht auch die neuere Schöpfungstheologie, mythische Ursprungserzählung, sondern eschatologische Verheißung.37 Thomas Ruster Anmerkungen 1

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Der Satz ist dem von Erik Peterson nachgebildet: „Die Kirche ist auf dem Fundamente der Märtyrer erbaut“ (Peterson, Theologische Traktate, 93). Am Ende dieses Abschnitts soll sich zeigen, dass beide Sätze zusammenstimmen. Vgl. Heiser, Natur und Tiere in frühchristlicher Deutung, 17–23. Vgl. Menis, I Mosaici cristiani di Aquileia, 13–19; von dort beziehe ich auch die angeführten Deutungen der Motive. Zur Baugeschichte der Basilika vgl. von Lanckóronski, La Basilica di Aquileia. Kermani, Ungläubiges Staunen, 85–91, folgend, ist es möglich, dass die frühere Darstellung, die den Hirten als einen attraktiven jungen Mann zeigt, der arianischen Phase von Aquileia zuzuordnen ist, denn die Arianer leugneten die Gottheit Christi und sahen ihn als höchstes Geschöpf an, was durch seine Schönheit ausgedrückt sein soll. Die spätere Darstellung des würdevollen Mannes mit Aureole, die auf die zweite

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Hälfte des 4. Jahrhunderts datiert wird, könnte die orthodoxe Theologie widerspiegeln. Im Jahr 381 fand in Aquileia ein antiarianisches Konzil statt, an dem auch der Mailänder Bischof Ambrosius teilnahm. Menis, Mosaici cristiani di Aquileia, Tafel 35: „…il simbolismo cioè delle uova pasquali!“ Schmidt/Schmidt, Die vergessene Bildersprache christlicher Kunst, 18. Vgl. ebd. 31–34. Boureau, L’animal dans la pensée scolastique, 99–109, gibt Gründe dafür an, warum die Welt des hohen Mittelalters theologisch und künstlerisch „un monde sans animaux“ gewesen sei. Der Hauptgrund ist wohl, dass der aristotelische Zug zur Abstraktion die Wahrheit nur im aus den Einzeldingen abgezogenen Wesen, nicht mehr in der Konkretion des Einzelnen finden ließ. „La sacralité divine ne s’abaissait plus à s’investir dans le monde des animaux“ (108). Allerdings ist nicht

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zu verkennen, dass auch viele der gotischen Kathedralen noch von Tieren wimmeln; vgl. Wolff-Quenot, Bestiaire de Pierre, die sich als Biologin überwältigt von den Tierdarstellungen an der Straßburger Kathedrale zeigt. Die Tiere werden aber deutlich den Darstellungen von Heiligen und biblischen Figuren bei- und untergeordnet. Pastoureau, L’animal et l’historien du Moyen Âge, 13–26. Vgl. Debidour, Le Bestiaire Sculpté du Moyen Âge, 14–21. Vgl. von Blankenburg, Heilige und dämonische Tiere, 314–333. Vgl. das Nachwort der Herausgeberin Treu, Physiologus, 111–130. Treu, Physiologus, 34 f. Die Geschichte vom Löwen ebd. 6 f. Vgl. die Angaben zur Symbolik der Tiere in: Schmidt/Schmidt, Die vergessene Bildersprache christlicher Kunst, 34– 126. Vgl. Berlioz/Polo de Beaulieu, Avantpropos, in: dies., L’animal exemplaire au Moyen Âge, 9–11. Vgl. zum Folgenden Boglioni, Les animaux dans l’hagiographie monastique, 51–80. Ebd., 66. Ebd., 72. Boglioni merkt sozialgeschichtlich an: „… une phobie personelle, sans doute, mais aussi la phobie d’une societé urbaine et bourgeoise, non encore sevrée du monde animal de la campagne.“ Ebd., 66. Vgl. ebd., 70–72. Weisbach, Religiöse Reform und mittelalterliche Kunst, 90. Boglioni, Les animaux dans l’Hagiographie monastique, 75 FN 118. Bereits in den Dialogen Gregors des Großen (540–604), mit dem man zeitlich und sachlich das Mittelalter beginnen lassen

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kann, nehmen volkstümliche Tiergeschichten einen bedeutenden Platz ein. Man findet sprechende Tiere, Tiere, die Unheil vorhersagen oder abwenden, die aus ihren sterblichen Überresten wieder auferstehen usw. Das ist alles ohne Bezug zur Bibel. Vgl. von Blankenburg, Heilige und dämonische Tiere, 58–64. Vgl. Debidour, Le Bestiaire Sculpté du Moyen Âge, 27–36. Vgl. von Blankenburg, Heilige und dämonische Tiere, 63–69. Vgl. ebd., 73–99. Ich muss es mir leider versagen, die zahlreichen Veranschaulichungen beizubringen, mit denen von Blankenburg ihre Darstellung stützt. Was den Symbolbegriff betrifft, so kommt sie der Sache nach auf das hinaus, was auch Taxacher zum Symbol schreibt: Taxacher, Bruchlinien, 450–469. Von Blankenburg, Heilige und dämonische Tiere, 77. Ebd., 224. Ebd., 285. Vgl. ebd., 110–131. Vgl. ebd., 131–143. Die Beispiele sind hier wie sonst nur repräsentativ für die vielen von Blankenburg gebotenen und auch im Anhang ihres Buches abgebildeten Belege aus dem Gesamtbereich der romanischen Kunst. Vgl. ebd., 150–161. Ebd., 191; vgl. zum Motiv des Verschlingens und Verwandelns 186–192 u. 293 f. Vgl. ebd., 285–292. Dazu Ruster, Wandlung, 89–106; Bachl, Eucharistie. Vgl. Wink, Verwandlung der Mächte, 45–63; Ruster, Jesus und die Transformation der Gewalt. Dazu unbedingt zu empfehlen: Bieler/ Schottroff, Das Abendmahl. Vgl. Predel, Schöpfungslehre, 241–246.

Das Lamm Gottes Ein Tier erklärt den Sinn der Welt

Das Schreien der Lämmer bekommt Clarice nicht aus dem Kopf. Nach dem Tod ihres Vaters hatte ihre Mutter die Zehnjährige zu Verwandten auf eine Ranch gegeben, und da hörte sie es zum ersten Mal. „‚Ich wachte auf und hörte die Lämmer schreien. Ich wachte im Dunkeln auf, und die Lämmer schrien.‘ ‚Man hat die Frühlingslämmer geschlachtet?‘ ‚Ja.‘. ‚Was haben Sie getan?‘ ‚Ich konnte nichts für sie tun. Ich war nur ein –‘ ‚Manchmal wachen Sie noch auf, nicht wahr? Wachen in der unerbittlichen Dunkelheit beim Schreien der Lämmer auf?‘ ‚Manchmal.‘“ Alles, was die FBI-Agentin Clarice Starling auf der Suche nach dem Serienmörder „Buffalo Bill“ unternimmt, diese Suche, bei der ihr ein im Gefängnis einsitzender mehrfacher Mörder, der Psychiater Dr. Hannibal Lecter geheimnisvolle Hinweise gibt, ist von dem Wunsch getragen, die Lämmer zum Schweigen zu bringen. „‚Glauben Sie, wenn Sie Buffalo Bill selbst fangen und bei Catherine alles in Ordnung bringen würden, Sie könnten die Lämmer zum Schweigen bringen, glauben Sie, auch bei Ihnen wäre alles in Ordnung, und Sie würden nicht wieder im Dunkeln aufwachen und die Lämmer schreien hören? Clarice?‘ ‚Ja. Ich weiß nicht. Vielleicht.‘“ Ihre dramatische Jagd führt sie in eine Welt der Gewalt, und zwar einer Gewalt, die dem Schlachten und Verspeisen von Lämmern sehr ähnlich ist. „Buffalo Bill“ wird so genannt, weil er seiner Beute – jungen Frauen – wie Büffeln die Haut abzieht. Dr. Lecter – „Hannibal the cannibal“ – verspeist Menschen. Am Abend vor seiner Flucht aus der Haft lässt er sich ausgerechnet Lammkoteletts servieren. Er ist es auch, der in seiner Zelle eine Zeichnung der Kreuzigung Jesu aufgehängt hat, bei der das mittlere Kreuz leer ist. Sie soll zeigen, was geschah, „als sie das Osterlamm wegführten“.1 323

III. Tiereschatologie

Auf Clarices Nachfrage heißt es: „Ist Ihnen das Evangelium des Heiligen Johannes denn gar kein Begriff?“ Thomas Harris, der Autor des Romans Das Schweigen der Lämmer, der dann die Vorlage zu dem gleichnamigen Erfolgsfilm geworden ist, ist sich der biblischen Konnotationen des Lammes bewusst; der Roman zeigt das mehr als der Film. Das dem Buch als Motto vorangestellte Bibelzitat 1 Kor 15,32 spricht davon, dass aller Kampf „nach Menschenart mit wilden Tieren“ nichts nützt, „wenn Tote nicht auferweckt werden“. Gibt es eine Erlösung aus der Welt der Gewalt, werden die Lämmer schweigen? Ganz am Ende, nachdem der Mörder erledigt und sein letztes Opfer befreit ist, wird diese Frage zum Thema. „Nun, Clarice, haben die Lämmer aufgehört zu schreien? … Ich werde nicht überrascht sein, wenn die Antwort ja und nein ist. Für den Moment werden die Lämmer aufhören. Aber, Clarice, Sie werden es immer und immer wieder verdienen müssen, das gepriesene Schweigen.“2 Das Agnus Dei Auch der Raum der Kirchen ist von Sehnsucht nach dem Schweigen der Lämmer erfüllt. Den, von dem es heißt, er habe „in den Tagen seines irdischen Lebens mit lautem Schreien und unter Tränen“ Bitten vor Gott gebracht (Hebr 5,7), den nennen die Christen das Lamm Gottes. Sie rufen ihm zu: Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis. Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis. Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, dona nobis pacem. Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt. Erbarme dich unser. Gib uns deinen Frieden.3

Seit Jahrhunderten murmelt, spricht, ruft, singt die gottesdienstliche Gemeinde diese Worte an das Lamm. Musiker haben ihr Bestes gegeben, das Agnus Dei zu vertonen. Aus dem Mittelalter sind über 300 Versionen bekannt. In den Messkompositionen der großen Meister hat das Agnus Dei immer einen ganz besonderen Charakter. Nach dem feierlichen Kyrie, dem festlichen Gloria, dem vielgestaltigen Credo, dem oft triumphal gestalteten Sanctus wird beim Agnus Dei der Kirchenraum von Innigkeit erfüllt. Eine zarte, flehende Musik ertönt. Die Gestalt des Lammes gibt 324

Das Lamm Gottes

dem Gesang seinen Charakter. Mitten in der Liturgie hat ein Tier, das Lamm, seinen festen Platz. Was bedeuten aber diese Worte? Was ist die Sünde der Welt? Für was wird das Erbarmen erfleht? Um welchen Frieden wird gebetet? Kann man annehmen, dass die Gläubigen das Lamm und mit ihm alle Lämmer um Verzeihung bitten für das, was ihnen angetan wird? Dass sie ihren Frieden mit den unschuldigen, arglosen Lämmern machen wollen? Die Worte des Agnus Dei sind alt, sie weisen in eine Zeit zurück, in der Schafe als Milch-, Woll-, Fell- und Fleischlieferanten die Hauptgrundlage der Ökonomie bildeten. Etwa einjährige Lämmer wurden hauptsächlich für die Opfer im Tempel benutzt, sowohl in Israels wie in heidnischen Landen. Im Jerusalemer Tempel wurde jeden Morgen und jeden Abend ein Lamm geopfert, dazu zahlreiche weitere bei verschiedenen Opferanlässen. Ihr Fleisch bildete in der Antike den Hauptanteil der fleischlichen Ernährung.4 Wie es beim Schlachten der sprichwörtlichen Unschuldslämmer zuging, hatte wohl jeder Mensch dieser Zeit von Kindesbeinen an erlebt. „Ich aber war wie ein zahmes Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; ich ahnte nichts“, dieser Vergleich kommt dem Propheten Jeremia in den Sinn (Jer 11,19). Jesaja vergleicht den Gottesknecht mit einem Lamm: „Er [der Gottesknecht] wurde bedrängt und misshandelt. Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf vor seinen Scherern verstummt, so tat auch er seinen Mund nicht auf“ (Jes 53,7). In diesen Äußerungen wird deutlich, wie das Schicksal der Lämmer den Menschen zu Herzen ging. Man opferte, man aß das Fleisch der zarten, possierlichen, arglosen Lämmer, und man tut es noch. Das Leben ist grausam. Könnte das Erschrecken über diese Grausamkeit auch das Agnus Dei in der Heiligen Messe geprägt haben? Jesus, das Lamm Johannes der Täufer predigte in Bethanien, jenseits des Jordans. Er sprach davon, dass „mitten unter euch einer steht, den ihr nicht kennt, der nach mir kommt; ich bin nicht würdig, ihm die Riemen der Sandalen zu lösen.“ Am Tag darauf sah Johannes Jesus auf sich zukommen, und er sagte zu den Menschen, die um ihn waren: „Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt.“ Am Tag darauf geschah es wieder. „Als Jesus vorüberging, richtete Johannes seinen Blick auf ihn und sagte: Seht, das Lamm Gottes“ (Joh 1,26–29.36). Hier haben wir die biblischen Worte, die das 325

III. Tiereschatologie

Agnus Dei aufnimmt. Es sind Worte einer spontanen, ungeplanten Begegnung. Johannes sieht Jesus auf sich zukommen, er sieht ihn vorübergehen, da sagt er es. Die Verbindung Lamm Gottes kommt sonst in der ganzen Bibel nicht vor. Wie kam Johannes darauf? Was wollte er sagen? Die meisten Ausleger der Vergangenheit und auch noch viele aus der heutigen Zeit verstehen den Satz opfertheologisch. Jesus ist das Lamm, das am Kreuz geopfert wird und damit Sühne für die Sünde leistet. Er nimmt die Sünde der Welt durch seinen Opfertod hinweg, wie es analog bei den Sündopfern im Tempel geschieht. Eine solche sakrifizielle Deutung mag an manchen Stellen der Bibel zutreffen, etwa in Apg 8,32 f, wo Philippus dem äthiopischen Kämmerer den Tod Jesu mit Jes 53,7 (… wie ein Lamm, das man zur Schachtbank führt) deutet und dies mit Jes 53,8 in der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel kombiniert: „In der Erniedrigung wurde seine Verurteilung aufgehoben.“ Das ist vielleicht, wenn man mit der Heiligen Schrift beweglich umgeht, auf das Sündopfer zu beziehen. Aber sollte Johannes gleich bei seiner ersten Begegnung mit Jesus so theologisch-kompliziert gedacht haben? Er, der dem Jerusalemer Tempelkult fern steht? Hinzu kommt: Das Johannesevangelium, in dem der Satz des Täufers steht, kennt keine sakrifizielle Deutung des Todes Jesu. Der Tod Jesu wird hier nicht als Opfer verstanden.5 Wenn man, wie es oft geschieht, das Lamm Gottes mit dem Passalamm in Verbindung bringt, gelangt man dagegen nicht zu einer opfertheologischen Deutung. Das Passalamm wurde nicht geopfert. Es hatte vielmehr eine apotropäische, das Böse abwehrende Bedeutung, denn die Israeliten wurden um seinetwillen vom Vorübergang des Herrn und der Tötung der Erstgeburt ausgenommen. In diesem Sinne könnte das Lamm Gottes als „das Passalamm, das die Macht der Sünde bricht und die Befreiung aus der Knechtschaft der Sünde bewirkt“, zu verstehen sein.6 Aber andere Ausleger bestreiten diese Deutung auf das Passalamm, die auch mir reichlich konstruiert vorkommt. Der Täufer habe nicht an das Passalamm, sondern an die Morgen- und Abendopfer im Tempel, die sog. Tamidopfer gedacht, als er Jesus als Lamm bezeichnete.7 Mit diesem Ansatz kommt man wieder bei einer sakrifiziellen Deutung an, gegen die die oben genannten Einwände bestehen. Es ist schwer, mit den theologischen Deutungen zurechtzukommen. Der Text gibt weder für die sakrifizielle Deutung, sei es auf das Sündopfer, sei es auf das Tamidopfer, noch für die Deutung auf das Passalamm überzeugende Anhaltspunkte. Ich finde es sehr bemerkenswert, dass in der Liturgie seit Jahrhunderten eine Aussage, die Aussage über Jesus als das Lamm 326

Das Lamm Gottes

Gottes, vorkommt, dass diese Aussage wie erwähnt die kühnsten Bemühungen der Komponisten und sicher auch starke Gefühle der Gläubigen hervorgerufen hat, ohne dass theologisch überhaupt geklärt ist, was diese Aussage bedeutet. Welche Geheimnisse sind hier noch zu entdecken? Sicher hilft es, sich den Kontext genauer anzuschauen, in dem das Wort des Johannes über Jesus als das Lamm steht, d. h. das erste Kapitel des Johannesevangeliums und darin vor allem 1,25–34.8 Johannes der Täufer hatte auf die Frage der Abgesandten der Pharisäer, warum er taufe, nur die Antwort gegeben: „Ich taufe mit Wasser.“ Und er hatte von jemandem gesprochen, der „mitten unter euch steht, den ihr nicht kennt, der nach mir kommt“. Es blieben zwei Fragen offen, von denen die Leser erwarten, dass sie in den folgenden Versen beantwortet werden: Warum tauft Johannes? Und wer ist dieser geheimnisvolle Unbekannte? Als dann Jesus auf ihn zukommt, nennt ihn Johannes „das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“. Und er fügt hinzu: Das ist der Mann, von dem ich gesagt habe, dass er nach mir kommt. Damit ist die Frage, wer der Unbekannte ist und zugleich die Frage, wer Jesus ist, vorläufig beantwortet. Aber was heißt es nun, dass er das Lamm Gottes ist? Die folgenden Verse laufen auf eine Aussage zu, die dieselbe Struktur hat wie die vom Lamm: „Dieser ist der Sohn Gottes.“ Lamm und Sohn Gottes stehen parallel. Man darf daran erinnern, dass der unserem Text vorausgehende Prolog von der ganz besonderen Nähe zwischen dem Vater und dem Sohn spricht. Der Sohn hat hier noch keinen Namen, es heißt aber, dass wir „die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater“ an ihm geschaut haben (1,14). Nun, in der nächsten Szene, wird klar, wer dieser Sohn ist: Jesus. Von daher muss es so sein, dass die Rede vom Lamm Gottes diese ganz besondere Nähe zwischen Sohn und Vater ausdrücken soll. Johannes (der Täufer oder der Evangelist) hatte dazu eine biblische Geschichte im Kopf, die ihm, so kann man annehmen, schon von Kindheit an vertraut war. Sie erzählt, wie der Prophet Natan zu David geht, um ihn dafür zurechtzuweisen, dass er dem Hetiter Urija seine attraktive Frau Batseba weggenommen und den Urija auch noch auf dem Schlachtfeld hatte umkommen lassen. Natan erzählt bei seiner politisch schwierigen Mission ein Gleichnis: „In einer Stadt lebten einst zwei Männer, der ein war reich, der andere arm. Der Reiche besaß sehr viel Schafe und Rinder, der Arme aber besaß nichts außer einem einzigen kleinen Lamm, das er gekauft hatte. Er zog es auf und es wurde bei ihm zusammen mit seinen Kindern groß. Es aß von seinem Stück Brot und es trank aus seinem Becher, in seinem Schoß lag es und war für ihn wie eine Tochter“ (2 Sam 12,1–3). 327

III. Tiereschatologie

Und dieses eine geliebte Lamm, das nimmt der reiche Mann dem armen weg, um es seinen Gästen vorzusetzen. Und so hatte es auch David mit Urija und Batseba gemacht … Die Geschichte hatte bei David ihre Wirkung nicht verfehlt. Johannes konnte sie bei seinen Hörern und Hörerinnen bzw. Leserinnen und Lesern als bekannt voraussetzen. Als er von Jesus als dem Lamm sprach, stellte sich das Bild großer Nähe und Zärtlichkeit ein, das Natan benutzt hatte. Jesus, der Sohn, steht dem Vater so nahe, wie das Lamm in dem Gleichnis dem armen Mann, für den es wie eine Tochter war. Das „Lamm Gottes“ ist ein zärtlicher Ausdruck, ein Kosewort. Jesus, das Lamm, das Lämmchen Gottes, der so am Herzen des Vaters ruht (wie es Joh1,18 heißt) wie das Lämmchen im Schoß des Armen. Vielleicht war es auch etwas an dem Aussehen Jesu, an der Art, wie er vorüberging, das Johannes darauf brachte. Dass der Evangelist auf diese zärtliche Nähe abzielt, wird im Übrigen klar, wenn wir darauf schauen, wie sehr das Johannes-Evangelium die Nähe zwischen dem guten Hirten und seinen Schafen betont. Der gute Hirt kennt seine Schafe. Er ruft sie einzeln beim Namen und führt sie hinaus. Die Schafe folgen ihm, denn sie kennen seine Stimme und hören auf sie. Der gute Hirt ist bereit, sein Leben für die Schafe hinzugeben, wenn es notwendig ist, sie vor dem Wolf zu schützen (Joh 10). Der Johannesevangelist hatte offenbar eine innige Beziehung zu Lämmern und Schafen, sonst wären ihm diese Bilder nicht gekommen. Eben dieses Bild ruft er für Jesus auf. Bleibt noch die Frage, was mit dem Hinwegnehmen der Sünde gemeint ist. Sie ist mit der anderen oben genannten Frage verknüpft, warum der Täufer taufte. Johannes beantwortet diese Frage mit Bezug auf Jesus. Zuerst kannte auch er ihn nicht, so gibt er zu, er taufte aber, „damit er Israel offenbar wird“. Die Taufe des Johannes ist eine Art Testverfahren, um den, der da kommen soll, zu ermitteln. So hatte es Johannes von dem, „der mich gesandt hatte, mit Wasser zu taufen“, also von Gott, mitgeteilt bekommen: „Auf wen du den Geist herabkommen und auf ihm bleiben siehst, der ist es.“ Und dann kam es genauso, berichtet Johannes: „Ich sah, dass der Geist vom Himmel herabkam wie eine Taube und auf ihm blieb.“ Der Test war erfolgreich. Jesus ist der, der nach Johannes kommt und dem er nicht würdig ist, die Schuhriemen zu lösen. Was zeichnet Jesus aus? Gott selbst hatte es gesagt: Der, auf dem der Geist bleibt, „der ist es, der mit dem Heiligen Geist tauft“. Um den Unterschied zum Taufen mit dem Geist zu betonen, hatte Johannes zuvor wiederholt erklärt, er taufe nur mit Wasser. Und nun gilt es zu verstehen: Diese Taufe mit dem Heiligen Geist führt dazu, dass 328

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die Sünde der Welt hinweggenommen wird. Und zwar die Taufe durch den, der Gott so liebevoll und zärtlich nahe ist wie das Lamm dem armen Mann aus dem Gleichnis oder die Schafe dem guten Hirten. Jetzt stehen wir wieder vor einer neuen Frage: Was ist der Heilige Geist und was bedeutet es, mit ihm getauft zu werden? Ohne große theologische Spekulation kann man vermuten, dass der Heilige Geist der Geist der Zärtlichkeit und der Unschuld ist, weil Jesus, das Lamm Gottes, mit diesem Geist tauft. Aber natürlich gestalten sich über die Länge des Evangeliums die Dinge komplexer; um der Geist-Christologie auf die Spur zu kommen, müsste man das ganze Johannesevangelium aufschlüsseln. Das kann hier nicht geschehen.9 Wir wollen in den biblischen Lammdiskurs da wieder einsteigen, wo das Lamm selbst auftritt: in der apokalyptischen Schrift des Neuen Testaments, der Offenbarung des Johannes. Das Lamm erklärt den Sinn der Geschichte Der Verfasser der biblischen Schrift, die Apokalypse oder Offenbarung des Johannes genannt wird – beide Ausdrücke meinen dasselbe, denn Apokalypse ist das griechische Wort für Aufdeckung bzw. Offenbarung – konnte schreiben! Seine gewaltigen Bilder, oft aus den Tiefen der menschlichen Psyche oder uralter Mythologie geschöpft, prägen sich tief ein. Unsere Kulturgeschichte ist bis heute von den Bildern der Apokalypse durchzogen: Die Sonnenfrau auf der Mondsichel, der siebenköpfige Drache, der sie und ihr Kind bedroht, die sieben apokalyptischen Reiter und die sieben Posaunen, die Hure Babylon auf dem scharlachroten Reittier, das gotteslästerliche Tier aus dem Meer und sein Propagandist, das drachenhafte Tier vom Land, der gewaltige Kampf zwischen dem Lamm und den Mächten des Verderbens, schließlich das neue Jerusalem und die Hochzeit des Lammes. Einen literarischen Effekt beherrschte dieser Verfasser, wer immer es gewesen sein mag, besonders gut: den Überraschungseffekt. Da sind in der Eingangsszene vor dem göttlichen Thron alle Wesen des Himmels versammelt, rings um den Thron die geheimnisvollen Lebewesen mit sechs Flügeln und voller Augen, die vierundzwanzig Ältesten, die ihre goldenen Kränze vor den Thron legen, dazu eine riesige Zahl von Engeln, „zehntausend mal zehntausend und tausend mal tausend“ (Offb 5,11), die alle mit lauter Stimme rufen. Und mitten in dieser Szene der, der auf dem Thron sitzt und eine Buchrolle in der Hand hält, außen und innen be329

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schrieben und mit sieben Siegeln versiegelt. Sie enthält das Geheimnis der Welt. Wer ist würdig, sie zu öffnen?, fragt ein gewaltiger Engel. Aber niemand, niemand im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ist würdig, sie zu öffnen. „Da weinte ich sehr“, berichtet der Seher, „weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch zu öffnen und hineinzusehen“ (5,4). Niemand? Einer von den Ältesten tröstet den Seher. „Weine nicht! Siehe, gesiegt hat der Löwe aus dem Stamm Juda, der Spross aus der Wurzel Davids; er kann das Buch und seine sieben Siegel öffnen“ (5,5). Ja, der Löwe ist stark, er ist eine herrschaftliche Figur, ein Symbol der Macht. Wer außer ihm sollte wohl das Buch öffnen können? Aber der Löwe kann es nicht. Und hier kommt nun die dramatische Überraschung: Der Seher erblickt ein Lamm, „es sah aus wie geschlachtet“, das tritt heran und empfängt das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron sitzt. Und die ganze himmlische Versammlung fällt vor dem Lamm nieder und singt ihm ein neues Lied: „Würdig bist du, das Buch zu nehmen und seine Siegel zu öffnen“ (5,9). Das Lamm, das hier auftritt, wird mit dem griechischen Wort arnion bezeichnet, anders als sonst die Lämmer in der Bibel und vor allem die Opferlämmer, für die das Wort amnon steht. Arnion könnte auch mit Widder übersetzt werden. Die Lamm-Semantik der Apokalypse ist eigenständig, sie ist schon in terminologischer Hinsicht sicher nicht mit der Opferthematik verbunden. Auch das Wort für schlachten, das die Offb benutzt, entstammt nicht der kultischen Sprache, sondern der Sprache der Metzger und des Schlachthauses. Die Fantasie einiger Ausleger hat sich daran entzündet, dass der Widder der Offb auch auf das Sternbild des Widders gedeutet und also astrologisch verstanden werden kann. Erscheint das Sternbild des Widders, dann ist die Frühlings-Tagund-Nacht-Gleiche erreicht, die Sonne nimmt ihren Lauf und das Leben beginnt neu. Weil zu dieser Zeit der Lauf der Sonne die Tierkreiszeichen, also den Widder schneidet, kann man sagen, dass das Lamm/der Widder geschlachtet (bzw. geschnitten) ist. „Der Widder gilt also als ‚verstümmelt‘ oder … als ‚geschlachtet‘. Die Tagundnachtgleiche zerschneidet ihn sozusagen: Seine Wunde ist gleichsam das Tor, durch das die Sonne in die Welt tritt.“10 Der Text der Offb gibt zu solchen astrologisch-kosmologischen Spekulationen wenig Anlass, auch wenn Astrologie im Judentum der Zeitenwende recht weit verbreitet war.11 Aber richtig wird in dieser Interpretation doch die universale Dimension der Figur des Lammes in der Offb erfasst. Der Hymnus auf das Lamm, das die Siegel öff330

Das Lamm Gottes

nen kann, umfasst Menschen „aus allen Stämmen und Sprachen, aus allen Nationen und Völkern“, „alle Geschöpfe im Himmel und auf der Erde, unter der Erde und auf dem Meer“ stimmen in den Lobgesang ein (5,9–14). Die Universalität des Lammes muss nicht vom Sternenhimmel herab doziert werden, sie ergibt sich allein schon daraus, dass alle Menschen jener Zeit ihre Erfahrungen mit Lämmern hatten. Jung und Alt kannten sich mit Lämmern aus. Opferlämmer gab es wie gesagt in allen Religionen. Schon die Kinder hüteten kleinere Herden, größere Herden waren eine Aufgabe für erwachsene Männer. Wohl keiner, der nicht schon ein Lamm liebkost, wohl auch keiner, der nicht bei einer Schlachtung dabei gewesen wäre. Die Johannes-Offenbarung spricht von der Umwertung aller Werte, von dem nach aller Erfahrung so unwahrscheinlichen Sieg der Gewaltlosen über die Gewalt und verwendet dabei ein Symbol, das allen Menschen vertraut ist. „Von ‚dem Lamm‘ zu reden bedeutet daher Anspruch auf internationale Verständlichkeit und Erhofftheit“ – Erhofftheit, „weil unter dem Bild des reinen Lammes … alle Welt schon immer seit Anbeginn die Erlösung angedacht [hat].“12 Das Schreien der Lämmer haben sie alle gehört, das Schweigen der Lämmer alle erhofft, wenn sie denn noch überhaupt die Hoffnung hatten, dass es eine Geschichte ohne das Schreien geben könne. Und doch: Die Apokalypse bleibt ganz eng an Jesus. Bei aller universalen Weite erfolgt keine Ausweitung ins Mythologische und allgemein Religiöse. Jesus ist es, der der treue Zeuge, das Lamm (30-mal in der Offb), der Sohn Gottes genannt wird, und neunmal kommt der Name Jesus absolut, ohne Zusatz vor. „Damit kommt in der Schrift, die wie keine andere im NT das machtvolle Wirken des erhöhten Herrn zum Inhalt hat, der Name Jesus wieder in seiner vollen Tragweite zu Ehren.“13 Nur im Glauben an Jesus, den Gekreuzigten und Auferstandenen, kann gesagt werden, was die Apokalypse über das Lamm zu sagen hat. Es ist Zeichen für die Verletzlichkeit14 derer, die wie Jesus beständig und gewaltlos dem Bösen widerstehen. Das Lamm ist stark – es hat sieben Hörner (5,6)! Seine Stärke liegt in dem gewaltfreien Widerstand gegen die Gewalt, von dem es sich nicht die Gesetze und die Mittel des Kampfes aufzwingen lässt. Es unterliegt in diesem Kampf, es wird exekutiert, steht da wie geschlachtet. Aber dann triumphiert es, auferstanden von den Toten.15 Es macht den besonderen Standpunkt der Apokalypse aus, dass sie von der Auferstehung her auf Jesus zurückblickt. Es ist Auferstehungstheologie, nicht Kreuzestheologie. Denen, die das Zeichen des Lammes tragen, die, die dem treuen 331

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Zeugen Jesus nachfolgen, wird nicht verheißen, dass ihnen die dunkle Seite der Realität erspart bleibt. Sie werden zu Opfern (engl. victim, nicht sacrifice), wie es Jesus geworden ist. Aber die Botschaft der Apokalypse ist, dass ihr Opfersein umdefiniert wird. Der „zweite Tod“ wird über die Opfer nicht triumphieren (vgl. 2,11; 20,6.14; 21,8). Die Hoffnung auf die Auferstehung und ein letztes Gericht relativiert ihr Opfersein, das sie unter ihren Mördern erlitten. Mit Weltflucht hat das nichts zu tun, auch nicht mit quietistischem Fatalismus, nicht damit, bewusst in die Opferrolle zu gehen und sich davon etwas zu erhoffen. Es handelt sich um aktiven, aber gewaltfreien Widerstand. Um die Demaskierung der Gewalten des Bösen, die nur von den Opfern geleistet werden kann. Die Gläubigen teilen mit dem Lamm die Funktionen der Herrschaft. Sie werden mit ihm wahrhaft messianisch. So ist das Lamm tatsächlich die Offenbarung darüber, wie Gott in der Geschichte wirkt. Das Lamm ist gleichsam das Fenster, durch das Gott geoffenbart wird.16 Aber ist dies wirklich ein ethischer Ansatz? Man muss so fragen, denn die Apokalypse ist eine Schrift voller abscheulicher Gewalt, scheinbar ohne Mitleid für die Opfer des Endkampfs, dazu, wenn man es so sehen will, unerträglich frauenfeindlich (… die große Hure, mit der „die Könige der Erde Unzucht getrieben haben“, 17,2; „die Mutter der Huren und aller Abscheulichkeiten der Erde“, 17,5).17 Tatsächlich hat die Apokalypse des Johannes zu allen Zeiten gewalt- und machtverherrlichend gewirkt, oft mit schrecklichen Folgen. Ist nicht das siegreiche Lamm mit den sieben Hörnern eine Perversion? Man kann noch einmal an das Schweigen der Lämmer denken, daran, dass der Frauenmörder Buffalo Bill nur durch den Beistand des Mörders und Kannibalen Dr. Lecter überwunden werden kann. Gibt es keinen Ausweg aus der Gewalt? Bleibt der „Mythos der erlösenden Gewalt“ (Walter Wink) im Recht, der die Religionsgeschichte durchherrscht und heute in unzähligen Filmen vorgeführt wird?18 Das sind schwerwiegende Fragen, denen man sich nicht entziehen kann. Elemente einer Antwort können sein: Die Apokalypse leugnet die Gewalt nicht; ihre Verfasser und Adressaten stehen offenbar selbst in einer Situation gewaltsamer Unterdrückung. Die Gewalt muss aufgedeckt, enttarnt werden, wenn sie überwunden werden soll. Der gewaltlose Widerstand ist nicht harmlos, so wie er bei Jesus nicht harmlos war. Aber er besiegt das Böse nicht mit der gleichen Art von Gewalt. Er lässt sich das Gesetz des Handelns nicht aufzwingen. „Das Lamm kämpft nicht, es siegt nur.“19 Und: Die Erneuerung kommt nicht durch die Gewalt, sie kommt nach der Gewalt.20 332

Das Lamm Gottes

Erlösung ohne Plan Wir können noch etwas tiefer hineinsteigen in das paradoxe Verhältnis von Kraft und Gewaltlosigkeit. Was ist das Geheimnis des Lammes mit den sieben Hörnern? Der aus einer mennonitisch-täuferischen Tradition stammende amerikanische Theologe John Howard Yoder hat dazu Wegweisendes zu sagen. In seiner christlichen Tradition ist die Rede vom „Krieg des Lammes“ (War of the Lamb) geläufig. Um welche Art Krieg handelt es sich? Ist es einfach eine christliche Spielart des Pazifismus?21 Yoder erklärt: Alle, die die Welt verändern wollen, geben vor zu wissen, was das Richtige ist und mit welchen Mitteln es erreicht werden kann. Für die Erreichung dieses Zieles werden immer Opfer in Kauf genommen. Daraus erklärt sich, dass keine Weltverbesserung die Welt bisher besser und menschlicher gemacht hat. Nun muss man zunächst fragen: Kann man überhaupt wissen, was der Sinn der Geschichte ist und wie sie sich in die richtige Richtung bewegen lässt? Die theologische Antwort darauf ist: Das kann man nur wissen, wenn man weiß, wie Gott in der Geschichte gehandelt hat und handeln wird. Dieses Wissen ist in der Schriftrolle enthalten, die das Lamm zu öffnen würdig ist. Man findet in der Rolle allerdings, so liest es sich in der Apokalypse, kein Rezept für eine bessere Welt. Man findet nur die Auskunft, dass das Kreuz und nicht das Schwert, Leiden und nicht brutale Gewalt den Sinn der Geschichte bestimmen. Der Sieg, den das Lamm erringt, ist nicht aus dem klugen Abwägen von Ursache und Wirkung, sondern aus der Logik von Kreuz und Auferstehung erwachsen. Eben darin stellt das Lamm die Gestalt Jesu dar. Auch Jesus trat nicht mit einem durchgeplanten Erlösungsprojekt auf. Vielmehr widmete er sich den Menschen, denen er begegnete. „Jesus lebte die göttliche Feindesliebe so konsequent, dass es ihn alle Effektivität kostete. So gab er jeden Einfluss auf die Geschichte dahin.“22 Yoder unterfängt diese Beobachtungen mit einer Reflexion auf den sog. Philipperhymnus (Phil 2,5–11). In diesem Kernstück frühchristlicher Theologie heißt es, dass Christus Gott gleich war, aber nicht daran festhielt, Gott gleich zu sein, sondern sich entäußerte und erniedrigte bis zum Tod am Kreuz. Üblicherweise wird der Hymnus auf die Demut der Menschwerdung ausgelegt. Yoder jedoch geht weiter. Jesu Verzicht auf die Gottgleichheit bedeutet nicht nur den Verzicht auf die göttliche Würde, sondern auch „auf den Anspruch, die Geschichte zu lenken“23. Es ist der Verzicht auf genau das, was die Schlange im Paradies Eva versprochen hatte, als sie in Aussicht stellte, dass die Menschen wie Gott werden würden: unbeschränktes Wissen und unbe333

III. Tiereschatologie

schränkte Herrschaft über die Schöpfung. Gott hat nicht den Masterplan für die Erlösung, den Jesus dann ausführt. Der wird im Philipper-Hymnus der „Herr“ genannt, vor dem alle die Knie beugen zur Ehre Gottes des Vaters: der sich entäußert und erniedrigt und die eigene Ohnmacht annimmt. Die Erlösung geschieht ohne Plan, ja sie ist geradezu die Erlösung von den Plänen, durch die die Welt erlöst werden soll. Auch die Abfolge von Kreuz und Auferstehung ist keine Strategie, der man nur zu folgen braucht, um zum ewigen Leben zu gelangen. Wie oft und wie sehr ist dies doch in der Geschichte des Christentums so verstanden, also missverstanden worden! Christsein heißt dann, von der Programmatik des Richtigen, die in der Welt so unendlich viel Unheil angerichtet hat, abzulassen und sich einfach an Jesus, an seine Nachfolge zu halten. Yoder unterstreicht, dass es gerade für Christen eine Gefahr darstellt, zu wissen zu glauben, was das Richtige ist. „Viele Verzerrungen und Missverständnisse der Wahrheit und des Guten, die zum Krieg führen, haben ihren Ursprung im Lager der Christen.“24 Der Verzicht auf die Ideologie des Richtigen unterscheidet den christlichen Glauben vom Pazifismus. Auch dieser strebt immer noch Ziele an, wenn auch nicht mit kriegerischen Mitteln. Für die Christen aber geht es nicht nur darum, auf Gewalt als Weg zum Ziel zu verzichten, um dieses dann auf anderen Wegen womöglich umso effektiver zu erreichen, sondern viel grundsätzlicher um den Verzicht auf das Wissen um den richtigen Weg. Der richtige Weg heißt: Jesus, das Lamm, das darauf verzichtete, wie Gott zu sein und den richtigen Weg zu wissen. Und doch bleibt es wahr: Christus ist der Herr! Dieser Christus, der ohne Plan in die Welt kommt, der auf göttliche Herrschaft verzichtet, der nur im aufmerksamen Gehorsam gegen Gott und die Menschen lebt. Vicit Agnus Noster (Unser Lamm hat gesiegt) hat Yoder sein Buch über die Politik Jesu bedeutungsvoll untertitelt, sogar in feierlichem Latein. Die Ethik des siegreichen Lammes funktioniert nur im Glauben, im Unterscheid zu fast allen anderen Ansätzen christlicher Ethik.25 Die Apokalypse des Johannes hat, als Literatur betrachtet, das Wunderwerk vollbracht, den planlosen Weg zur Erlösung in Bilder und in eine fortlaufende Geschichte zu kleiden. Gott, ein Lamm? Was ist das für ein Gott, dem es zur Ehre gereicht, dass sein Christus sich erniedrigt und in einer Gestalt auftritt, die mit der eines Lammes treffend bezeichnet werden kann? Die Apokalypse mutet uns Aufregendes zu. Sie 334

Das Lamm Gottes

rückt das Lamm ganz eng an Gott heran, sie lässt uns denken, dass Gott selbst ein Lamm oder doch jedenfalls wie ein Lamm ist. Klaus Berger ist dafür aufmerksam: 11-mal kombiniert die Offb die Motive Lamm und Thron (Gottes).26 Die Lamm-Christologie, die „einen eigenständigen Zweig ältester christlicher Aussagen über Jesus Christus“ darstellt, ergibt das Bild einer „vollständig am erhöhten Christus orientierten Christologie“.27 Der erhöhte Christus ist aber das Lamm, das zur Rechten Gottes sitzt. Zu Recht merkt Berger an: „[D]ie räumliche Nähe Gottes zu einem weißen Schaf auf demselben Thron wirkt bis heute provozierend.“28 Man muss es sich ja nur mal ausmalen: Neben Gott, den wir uns sicher als älteren, patriarchalisch wirkenden Mann mit Bart vorstellen, sitzt ein Tier, ein Lamm auf demselben Thron! Oder ist das Bild des älteren Herrn vielleicht gar nicht richtig? Dürfen wir uns Gott auch als Lamm vorstellen? Das Bild von Gott als altem Mann ist, über allen naiven Anthropomorphismus oder Patriarchalismus hinaus, aus seiner Vaterschaft abgeleitet. Weil sein Sohn Jesus ein Mensch war, ist auch der Vater als Mensch darstellbar, eben als Vater und damit als älterer Mann. Wenn nun aber der Sohn ein Lamm ist? Sicher kann es sich nicht darum handeln, den Anthropomorphismus durch einen Zoomorphismus bzw. einen Amnomorphismus [Lammgestaltigkeit] zu ersetzen. Das wäre denn doch zu platt. Unüberhörbar aber weist die Apokalypse auf die Nähe zwischen Gott und Lamm hin. Wenn man wissen will – nicht: was Gott ist, aber doch: wie er ist, dann ist man an das Lamm verwiesen. Das Lamm enthüllt das Geheimnis des göttlichen Handelns in der Geschichte und damit ihn selbst. Die Apokalypse ist Offenbarung von Gott. Sie benutzt dazu das Bild des Lammes. In der Gestalt des Lammes offenbart sich Gott. Die Offenbarung zieht es vor, vom Lamm statt vom Menschen (oder wie es sonst oft im NT geschieht: vom Menschensohn) zu sprechen. Sie scheut sich nicht, das Lamm auf die Höhe göttlicher Würde zu erheben.29 Was das für unser Gottesbild bedeutet, ist noch gar nicht zu Ende gedacht. Aber sicher werden wir vom „theistischen“ Bild des allmächtigen, überweltlichen Gottes, der wie ein absolutistischer Monarch die Welt regiert, endlich Abschied nehmen dürfen. Immer hat das christliche Gottesbild unter Projektionsverdacht gestanden: dass Menschen das, was für sie das Größte, Mächtigste und Ehrfurchtgebietendste ist, auf „Gott“ projiziert haben, weil sie es eigentlich selbst sein wollten. Die Offb lädt dazu ein, das Schwächste, Wehrloseste und Zarteste auf Gott zu projizieren. Täte man dies, dann soll Feuerbach Recht behalten dürfen. 335

III. Tiereschatologie

Nur ein Bild? Zum Schluss muss man fragen: Und was haben die Lämmer davon? Da wird in großartigen Bildern von Christus als dem Lamm gesprochen, da dringt man sogar so weit vor, sich Gott als Lamm vorzustellen. Aber da ist das Lamm ja nur ein Bild, eine Metapher vielleicht. Wir befinden uns auf einer symbolischen Ebene. Das Schreien der Lämmer, das Clarice hörte, ist unterdessen nicht verstummt. Nein, es ist nicht nur ein Bild. Klaus Berger sagt: „‚Lamm‘ ist ein Rätselwort. Es ist ein Geheimzeichen, das Deutungsversuche provoziert. Denn: Was bedeutet es, wo und in wem ist diese Funktion erfüllt?“30 Wer sich aufmacht, das Rätsel zu lösen, der wird auf diesen oder jenen Menschen stoßen, wird auf Jesus stoßen – und auch auf ein Lamm. Das biblische Bild des Lammes, darauf habe ich mehrfach hingewiesen, ist aus den Alltagserfahrungen der Menschen genommen. Das Lamm ist Realsymbol. Das, was es ist, als possierliches, niedliches, reines, weißes, argloses Tier, das bezeichnet es auch. Lämmer erfüllen die Funktion des Lammes. Sie sind darum eine Antwort auf das Rätselwort Lamm. Eine besonders eindrückliche Lamm-Erfahrung haben wir bei dem Propheten Jeremia kennengelernt. „Ich aber war wie ein zahmes Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; ich ahnte nicht, dass sie gegen mich Böses planten“ (Jer 11,19). Das hat ihn berührt, den Propheten, wie er da ein Lamm sah, das zur Schlachtbank geführt wurde. Bald wird das Messer es erreichen, bald wird Blut fließen, bald ist es tot. Aber es ahnt nichts davon. Spielerisch tänzelnd geht es auf die Schlachtbank zu, neugierig vielleicht, jedenfalls arglos, nichts Böses ahnend. Die Unterscheidung von gefährlich und ungefährlich, von gut und böse ist ihm noch unbekannt. Es kämpft gegen das Böse nicht an und flieht auch nicht vor ihm, denn es sieht es nicht als etwas Böses und Gefährliches an. Jeremia bezieht diese Unterscheidungslosigkeit des Lammes auf seine prophetische Existenz. Bei seinen Gegnern ist das anders. Sie sehen ihn als jemanden an, der vernichtet werden muss, denn sie halten ihn für gefährlich (vgl. Jer 11,21). Gut wäre es gewesen, wenn sie die Unterscheidung gefährlich/nicht gefährlich nicht benutzt hätten, dann wäre ihnen Jeremia nicht als gefährlicher Feind erschienen. Am Anfang aller Gewalt steht die Unterscheidung von Freund und Feind. Das Lamm, von dem der Prophet erzählt, ist diesen Leuten voraus, denn es unterscheidet nicht. Auch wenn es der Gewalt dann bald zum Opfer fällt. 336

Das Lamm Gottes

Ganz am Ende der Offenbarung des Johannes, dort, wo es um das neue Jerusalem geht, heißt es: „Es wird nichts mehr geben, was der Fluch Gottes trifft. Der Thron Gottes und des Lammes wird in der Stadt stehen und seine Knechte werden ihm dienen. Sie werden sein Angesicht schauen und sein Name ist auf ihre Stirn geschrieben. Es wird keine Nacht mehr geben …“ (Offb 22,3–5).31

Kein Fluch Gottes mehr – das ist innerbiblische Gotteskritik! Denn Gott hatte ja mit dem Verfluchen angefangen, als er die Schlange verfluchte wegen dem, was sie im Garten Eden getan hatte (Gen 3,14). Und er ließ, indem er Feindschaft setzte zwischen die Schlange und die Frau, die Weltgeschichte losgehen, die eine Geschichte voller Feindschaften ist. Damit wird es im neuen Jerusalem ein Ende haben. Die Unterscheidung zwischen dem, was das Wohlgefallen Gottes findet, und dem, was er verflucht, wird aufgehoben. Ebenso wie die zwischen Tag und Nacht, denn es wird keine Nacht mehr geben. Gott hat da etwas gelernt: vom Lamm. Deswegen steht der Thron Gottes und des Lammes in der Stadt. Zurück zu Clarice und dem Schweigen der Lämmer. Dr. Lecter kann ihr nicht verheißen, dass die Lämmer aufhören zu schreien. „Für den Moment werden die Lämmer aufhören. Aber, Clarice, Sie werden es immer und immer wieder verdienen müssen, das gepriesene Schweigen.“ Verdienen, so ist zu verstehen, indem sie immer wieder gegen die Gewalttäter ankämpft wie im Fall von Buffalo Bill. Und dabei selbst nicht auf Gewalt verzichten kann, hat sie ihn doch erschossen. Die Unterscheidungslosigkeit, die Arglosigkeit des Lammes kann sie nicht gewinnen. Das ist der Lauf der Welt. Die Apokalypse jedoch verheißt das dauerhafte Schweigen der Lämmer, dann nämlich, wenn die Arglosigkeit des Lammes ihr Recht bekommt. Wenn die Schlachtbank, auf die es nichtsahnend zuläuft, keine Schlachtbank mehr ist. Wenn das so ist, haben auch die Lämmer etwas davon. Thomas Ruster Anmerkungen 1

fertier beim Opferdienst flüchtete, war es als sacer erklärt, d. h. man durfte es nicht mehr opfern, sondern ohne Weiteres überall umbringen. Es gibt also

Möglicherweise spielt das leere Kreuz auf eine strafrechtliche Einrichtung im frühesten heiligen Recht der Römer an, die victima fugiens hieß. Wenn ein Op-

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III. Tiereschatologie

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eine dritte Option zwischen Gewalt und Opferung, nämlich die Flucht – die Option, die Lecter schließlich realisiert. Vgl. Harris, Das Schweigen der Lämmer, 230 f, 24, 357 f. Die Bittrufe der römischen Messe wurden von dem syrischen Papst Sergius I. (gest. 701) eingeführt. Der Agnus-Ruf kommt auch im Gloria vor. Das Agnus Dei wurde zunächst beim Brotbrechen beliebig oft wiederholt, später dann auf drei Wiederholungen begrenzt. Im Zuge der Verbindung mit dem Friedensgruß wurde im 10.  Jahrhundert das dona nobis pacem hinzugefügt, vgl. Meyer, Art. Agnus Dei/II. Liturgisch, 243 f. Vgl. Schroer, Tiere in der Bibel, 32–37. „Die Vorstellung vom stellvertretenden Sühnetod ist an keiner einzigen Stelle des Evangeliums als zentraler Topos joh Soteriologie erkennbar“, so Schwindt, Seht das Lamm Gottes, 210. Auch Johns, The Lamb Christology of the Apocalypse of John, betont durchgängig, dass weder im Johannes-Evangelium noch in der Offb eine sühne- und opfertheologische Deutung des Todes Jesu vorliegt. Dies ist zu betonen, da die Vorstellung von Jesus als Opferlamm in Bezug auf das Agnus Dei wohl die verbreitetste ist. Schwindt, Seht das Lamm Gottes, 216. Schwindt betont im Anschluss an HansUlrich Weidemann, dass in der Passalammerzählung im Buch Exodus an einer Stelle (Ex 12,23) zwischen dem „Herrn“ und dem „Vernichter“ bzw. „Verderber“, der die Erstgeburt tötet, unterschieden wird. Auf diesen Verderber und nicht auf Gott selbst beziehe sich die apotropäische Funktion des Passalammes, und dies könnte der Anlass für die Übertragung auf Jesus gewesen sein. Vgl. Stuhlmacher, Das Lamm Gottes, 529–542.

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Vgl. Bieringer, Das Lamm Gottes, 199– 232, 213 ff. In dem genannten Aufsatz von Schwindt, Seht das Lamm Gottes, wird die Geist-Christologie und Geist-Soteriologie des Johannes-Evangeliums dargestellt. Schwindt beruft sich auf bahnbrechende Forschungen von Hans-Ulrich Weidemann und Martin Hasitschka. Schade, Lamm Gottes und Zeichen des Widders, 106. Vgl. Johns, The Lamb Christology of the Apocalypse of John, 68–74. Berger, Die Apokalypse des Johannes, 510. Gollinger, Das geschlachtete Lamm, 401–417, 409. Mit der Lamm-Christologie kann sich die Theologie am gegenwärtigen Vulnerabilitätsdiskurs beteiligen! Vgl. Johns, The Lamb Christology of the Apocalypse of John, 161. Dies alles in Paraphrase von Johns, The Lamb Christology of the Apocalypse of John, 176–178 und 163. Wink, Verwandlung der Mächte, hat vergleichbare Überlegungen zur Kraft des gewaltfreien Widerstands ausführlich entwickelt. Vgl. auch meinen Beitrag: Ruster, Jesus und die Transformation der Gewalt, 46–56. Zur Auseinandersetzung mit der Frauenfeindlichkeit der Offb vgl. Sutter Rehmann, Vom Mut, genau hinzusehen, 64–113. Vgl. Wink, Verwandlung der Mächte, 48–63. Berger, Die Apokalypse des Johannes, 510. Vgl. Johns, The Lamb Christology of the Apocalypse of John, 193 f. Vgl. Yoder, Die Politik Jesu, 255–270. Ebd., 260 f. Ebd., 262. Ebd., 267.

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Vgl. Frieling, Christliche Ethik oder Ethik für Christen?, die u. a. im Anschluss an Yoder die im Titel ihres Buches genannte Wendung proklamiert und begründet hat. Vgl. Berger, Die Apokalypse des Johannes, 496–513; hier 496. Ebd., 498. Ebd., 510.

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Ebd., 508: „Bei der Metapher Lamm geht es nicht um die geringere Würde gegenüber Gott.“ Ebd., 509, Herv. Th. R. Im Hintergrund steht Sach 14,11: „Man wird darin wohnen. Es wird nie mehr ein Bann vollzogen werden und Jerusalem wird in Sicherheit wohnen.“

Animal ludens Das Spiel als sakramentales Heilszeichen

Gott spielt! – die US-Amerikanerin Elbe Spurling, eine erklärte Atheistin, scheint davon überzeugt zu sein. Mit ungeheurer Akribie begann sie 2001 unter dem Titel „The Brick Testament“ damit, weite Passagen der Bibel eigenständig nachzubauen. Wer heute ihre Website besucht, entdeckt dort ein farbenfrohes und detailverliebtes Panorama der biblischen Erzählungen. Die einzelnen Szenerien sind dabei sämtlich aus kleinsten Legosteinen (engl.: brick) konstruiert, und wer sich in die Bilder vertieft, die den Guckkästen längst vergangener Zeiten entsprungen zu sein scheinen, erlebt die biblischen Legosteinwelten nicht selten als Zeitreise in die Spielwelt der eigenen Kindheit. Und inmitten der bunten Legosteine scheint auch Gott dem Spielerischen nicht ganz entkommen zu können: In der Darstellung der ersten Schöpfungserzählung etwa findet man ihn als einen Spielenden vor, der seine Schöpfung – den Legobaustein hält seine von Tieren umgebene Legofigur passenderweise direkt in der Hand – spielerisch-leicht schafft. Elbe Spurling hat den Lego-Nachbau der biblischen Erzählungen wohl aus der Motivation heraus geschaffen, auf die lächerlichen, wirklichkeitsfremden Züge der biblischen Texte aufmerksam zu machen. An unterschiedlichsten Stellen im Netz kann man nachlesen, dass es sich bei „The Brick Testament“ um ein dezidiert atheistisches Projekt handelt. Angesichts vieler begeisterter Reaktionen auf ihr Schaffen ist dieser Kontext allerdings schnell verblasst – die Bilder ihrer Seite sind mittlerweile in kirchlich-pastorale und religionsunterrichtliche Zusammenhänge eingegangen. Wenn es stimmt, dass das Medium stets die Message ist, dann liegt der Gedanke nahe, dass diese Dekontextualisierung einen naheliegenden Grund hat. 340

Animal ludens

Um auf die Lächerlichkeit eines Textes hinzuweisen, hat Elbe Spurling das Medium des Spiels gewählt. Ihre Auseinandersetzung mit den biblischen Texten hat sich nicht in Form eines philosophischen Traktats oder einer brillanten Rede ausgedrückt, sondern ist der vermeintlichen Lächerlichkeit mit deren eigenen Waffen begegnet. Es scheint durchaus angemessen, dem Phänomenbereich des Spielens und Lachens in einer Art und Weise zu begegnen, die ihm zumindest annäherungsweise entspricht. Zu deutlich steht uns schließlich die Kindheitserfahrung vor Augen, einen lustigen Witz erklären zu sollen: Wer hier versucht hat, den Humor auf die Ebene der Erklärung herunterzubrechen, konnte nur scheitern. Trotzdem soll es im Folgenden darum gehen, genau das zu versuchen und der Frage nachzugehen, was es mit dem göttlichen, menschlichen und tierlichen Spiel auf sich hat. Das Spiel zwischen Natur und Gnade Bleiben wir dazu zunächst bei dem Versuch, das göttliche Schöpfungshandeln als eine Form des Spiels zu deuten. Sein Spiel funktioniert in diesem Sinne wie jedes andere uns bekannte Spiel: indem auch die anderen zum Zug kommen und ihre Freiheit in den Grenzen der Spielregeln leben. Von hier her scheint es also tatsächlich angemessen, die Chiffre des göttlichen Spiels als den Bestandteil einer göttlichen Freiheitslehre zu verstehen, die auch andere neben sich frei sein lassen möchte. Es ist überaus spannend zu beobachten, dass insbesondere (aber nicht nur) die biblischen Texte für genau diese Vorstellung einer Freiheit, die andere frei sein lässt, häufig auf unterschiedlichste Bilder von Tieren zugrückgreifen  – also gerade jenen Geschöpfen, bei denen sich die moderne Verhaltensforschung immer noch so ausgesprochen schwertut, ihnen auch nur die rudimentärsten Freiheitsgrade zuzusprechen. Im spielenden Tier scheint die biblische Sprache ein angemessenes Bild für das Sein Gottes gefunden zu haben, für die spielerische Dynamik seiner Freiheit. Das spielerische Sein der Tiere, ihre Verweigerung gegenüber dem auf Vorsorge bedachten Nutzendenken des modernen Menschen, wird von Jesus im Matthäusevangelium sogar zum Ideal des menschlichen Seins erhoben: „Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie.“ (Mt 6,26a) Das Spiel der Tiere wird hier als Gleichnis für das Gottesreich genannt, als Suchanleitung für ein gottgefälliges Leben, als Anstoß zu einer gerechteren Gesellschaftsordnung. 341

III. Tiereschatologie

Der Philosoph Florian Rötzer hat in diesem Sinne zwischen Spielen erster und zweiter Ordnung unterschieden: „Spiele erster Ordnung finden statt, egal ob es den Spielern bewusst ist, dass sie an einem Spiel mitwirken. Ihre Handlungen lassen sich aus der Distanz eines Beobachters als Spiele unter bestimmten Bedingungen mit mehr oder weniger konsistenten Regeln und einem mehr oder weniger großen Möglichkeitsraum für Züge beschreiben. So lassen sich beispielsweise Märkte spieltheoretisch beschreiben, aber auch die Evolution biologischer Systeme. Diejenigen Spiele, die wir gemeinhin als solche bezeichnen, wären Spiele zweiter Ordnung. Mit dem Spielen zweiter Ordnung entdecken wir die Spiele der ersten Ordnung, die in der Wirklichkeit gespielt werden – und gespielt werden müssen, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, dass es Spiele sind und wir als Spieler auftreten.“1 Spiele, so kann man dieser Beobachtung entnehmen, sind demnach durchaus nicht immer offensichtlich erkennbar, sondern müssen entdeckt werden. Die Spiele der zweiten Ordnung helfen dabei, Spielstrukturen auch in anderen Lebensbereichen zu erkennen. Die Spiele zweiter Ordnung schicken uns also gewissermaßen auf eine Entdeckungstour zu anderen Phänomenen des Spiels, die nicht offensichtlich sind. Hinzukommt auch, dass diese Spiele der zweiten Ordnung anders als die Bedingungen unserer faktischen Gesellschaftsordnung ein hohes Maß an regelrecht utopischem Vermögen besitzen: Sie basieren zunächst – das lässt sich an den einfachsten Spielen ablesen – auf der Chancengleichheit der Spieler/innen, setzen Regeln ein, die um des Spieles willen befolgt werden und stellen somit eine Welt vor Augen, die das Gerechtigkeitsdefizit der vorherrschenden Gesellschaften umso deutlicher hervortreten lässt. Mit dem richtigen Spiel vor Augen, so ließe sich sagen, werden andere Spiele sichtbar und womöglich korrigierbar. Das Verhältnis dieser Spiele erster und zweiter Ordnung lässt sich also gut auf das Verhältnis von Natur und Gnade übertragen, insofern beide in einem gegenseitigen Erhellungszusammenhang stehen: Die Möglichkeit des zweckfreien Spiels in einer Welt, die den Gesetzmäßigkeiten des Fressens und Gefressenwerdens unterliegt, kann kaum dem Bereich der Natur zugerechnet werden – das Spiel erscheint theologisch gesprochen viel eher als eine Form der Gnade, die die ursprüngliche Natur perfektioniert, ohne sie dabei zu zerstören. Nicht ohne Grund hat etwa der womöglich prominenteste Vertreter einer Philosophie des Spiels, Johan Huizinga, den Menschen als homo ludens2 beschrieben und ihm damit ein (Alleinstellungs-)Merkmal zugeordnet, das der menschlichen Natur einerseits radikal 342

Animal ludens

entspricht (denn schon Schiller wusste, dass der Mensch nur da ganz Mensch ist, wo er spielt3), und ihr andererseits radikal entgegensteht, da das zweckfreie Spiel gerade keine Naturzweckmäßigkeit meinen kann.4 Dieser Widerspruch zwischen dem zugleich unnatürlichen (da evolutionsbiologisch-sinnlosen) und natürlichen (da dem Wesen des Menschen entsprechenden) Spiels ist nur so aufzulösen, dass letztere Rede von der Natur des Menschen bereits dessen Natur im Licht der Gnade meint. Bruchstückhaft ist am Spiel ablesbar, wie der Mensch als wahrer Mensch sein kann. Spielende Tiere Können wir ähnliches auch vom Spiel der Tiere sagen? Ich will eine Antwort auf diese Frage entlang des Kurzromans Der alte Mann und das Meer von Ernest Hemingway zu entwickeln versuchen und dabei auf die Unterscheidung von Spielen erster und zweiter Ordnung zurückgreifen. In dem Roman wird der drei Tage und Nächte währende Kampf eines alten Fischers mit einem großen Marlin geschildert; seine kräftezehrenden und bisweilen lebensgefährlichen Anstrengungen werden dabei immer wieder von den Schilderungen der Gedanken des Fischers unterbrochen. Sie kreisen häufig um das Wohl eines Jungen aus seinem Dorf, den er wie einen eigenen Sohn behandelt. Zentrale Bedeutung für ihn hat dabei aber auch eine Szene aus seiner Jugend, die er immer wieder und an verschiedensten Stellen des Romans erinnert. „Er träumte jetzt nur noch von Orten und von den Löwen am Strand. Sie spielten wie junge Katzen in der Abenddämmerung, und er liebte sie, wie er den Jungen liebte.“5 Diese kurze und oftmals fast wörtlich wiederholte Traumszenerie, die auch den letzten Satz des Romans bildet, liest sich zuallererst als ein literarisches Plädoyer für das Spiel der Tiere. Während dem Text und auch dem biblischen Denken die Vorstellung noch durchaus plausibel erscheint, dass auch Tiere wirklich spielen können, scheint sich die moderne Verhaltensbiologie in dieser Sache weniger sicher zu sein. Allenthalben lassen sich evolutionskompatible Erklärungsmodelle für tierliches Spiel finden, die es als entwicklungsbiologische Notwendigkeit bestimmen.6 Auch gegen diesen Skeptizismus scheint die Traumszene der spielenden Löwen gerichtet – ihre Gewissheit ist, wie der Fischer Santiago an späterer Stelle bemerkt, „das Wichtigste, das mir geblieben ist“7. Santiago rettet dieses Traumbild von den spielenden Tieren gewissermaßen über die durchaus nicht immer 343

III. Tiereschatologie

spielerisch zu nennende Wirklichkeit hinweg; immer wieder ist ihm die Traumszene Anlass, um sein eigenes Leben zu deuten. Für ihn besteht kein Zweifel, dass auch Tiere zu spielen vermögen, und ganz ähnlich sieht es auch der schon genannte Philosoph Johan Huizinga: „Das Spiel selbst kann kaum Kulturelement heißen, jedenfalls nicht soweit Kultur sich auf Menschheit beschränkt. Das Spiel geht ja aller Kultur vorher, phylogenetisch, denn das Tier spielt; ontogenetisch, denn im Kinde verwirklicht sich die Kategorie Spiel immer wieder in ihrer lebendigsten Vollheit.“8

Seine bereits erwähnte Rede vom homo ludens ist demnach untrennbar mit dem animal ludens verbunden, das hat am klarsten wohl Erich Voegelin gesehen: „Den homo ludens als Kulturschöpfer an die Stelle des homo sapiens zu setzen, dieser Versuch, die Fundamente der Kultur in größere Tiefen der menschlichen Natur zu verlegen, so tief, dass sie tatsächlich bis zur animalischen Natur hinabreichen, ist Teil einer anhaltenden Entwicklung, die wir schon im 18. Jhd. beobachten können.“9

Huizingas Vorstellung eines Menschen wie Tiere betreffenden Spiels baut auf der Position Karl Groos’ auf, von dem die erste psychologische Deutung des Tierspiels stammt. Das, was wir unter dem Begriff ‚Spiel‘ verstehen, sei Groos zufolge die zunehmende Befreiung der Natur von den ihr eigenen Zwängen: „Wir werden annehmen müssen, dass Spiel von der bloßen Befriedigung eines Instinktes an […] eine aufsteigende Entwicklung durchmacht, die es subjektiv zuerst einer praktischen Tätigkeit gleichstellt, die es dann zu einer Scheintätigkeit mit äußeren Zwecken erhebt und die zuletzt diese äußeren Zwecke gegen den Lustwert der Tätigkeit selbst immer mehr zurücktreten lässt, bis schließlich im Übergang zur Kunst diese äußeren Zwecke nur noch eine ganz geringe Bedeutung haben, ohne aber darum völlig zu verschwinden.“10

Ganz offensichtlich hängt die spielphilosophische Diskussion an der Unterscheidung von Zwang und Freiheit, die sich im Phänomen des Spiels eigentümlich verbinden. Schon Huizinga hatte dies so gesehen: „Das Spiel weist […] fast immer ein wesentliches Element von Bindung und Lösung auf. Es schafft zeitlich und räumlich eine eigene, aussonder344

Animal ludens

liche, umfriedete Welt innerhalb der gewöhnlichen, darin sich die Spieler nach eigenem zwingendem Gesetz bewegen, bis dieses selbst sie erlöst. Das Spiel bannt, d. h. es spricht ein zwingendes Zauberwort. Das Spiel fesselt. Das Spiel stellt etwas dar, gibt etwas wieder. Darstellung und Wiedergabe drücken den Kern der Sache besser aus als Nachahmung, wie wichtig auch dieser letzte Begriff für die Psychologie des Spiels sein möge. Darstellung … heißt Verwirklichung innerhalb jener eigenen durch das Spiel selbst geschaffenen Welt. […] Das Spiel ist eine Handlung.“10

Wollen Tiere spielen? Gerade Huizingas letzte Beobachtung verrät den Sprengstoff, den das Zugeständnis spielerischer Handlungen von Tieren enthält: Eine solche Zurechnung setzt ganz einfach voraus, dass Tiere Handelnde sind. Es entbehrt durchaus nicht einer gewissen Ironie, dass gerade im doch vermeintlich so naiv-trivialen Spiel das Tier am vielleicht klarsten als handelndes Wesen hervortritt; man kann von hierher schon ahnen, warum das Erleben des Tierspiels in der Tat etwas sein sollte, dass es – mit dem Fischer aus Hemingways Roman gesprochen – zu retten gilt. Die Biologie (wie auch die Moralphilosophie und -theologie) haben lange von Tieren einzig so gesprochen, dass sie ihnen ein (i. d. R. instinktgesteuertes) Verhalten zuschrieben; die Kategorie der Handlung markiert allerdings viel stärker als der Begriff des bloßen Verhaltens die Freiheitsgrade im je eigenen Agieren der Tiere. Dieser Gedanke muss auch den Psychoanalytiker Gustav Bally beschlichen haben, als er sich mit der Frage beschäftigte, ob selbst noch die mit Unlust verbundenen Aktivitäten von Tieren als Spiel zu betrachten sind, wie also beispielsweise das Flüchten vor anderen, wie es beispielsweise bei sich gegenseitig jagenden Hunden zu beobachten ist? Bally bejaht diese Frage: „Wollen Tiere spielen? Gewiss können sie wollen. Dieses Wollen ist aber darum lustvoll, weil es zu einem Müssen ja sagt, das dem Wollen voraus ist.“ Das Spiel sorgt demnach dafür, dass wir – wie auch Tiere – das oftmals Gruselige, Beängstigende und Fremde suchen: „Dass die Feindappetenz auch uns Menschen nicht fremd ist, zeigt die Freude unserer Kinder am Grusligen und Grausamen, zeigt ihre Neigung, Erschreckendes aufzusuchen, um mit einem „erlösenden“ Angstschrei zu flüchten.“ Die Frage ist also, „ob wir die Situation spielend meistern oder ob wir ihr unterliegen, wodurch sie ‚ernst‘ wird und Unlustcharakter bekommt.“11 345

III. Tiereschatologie

Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass in dieser Aussage die Größe und zugleich die Schwäche einer psychologisch-philosophischen Ausdeutung (tierlichen wie menschlichen) Spiels liegt. Zuzustimmen ist Bally sicherlich darin, dass das im Spiel aufscheinende Moment von Freiheit, das wir bei Menschen wie Tieren beobachten können, zunächst auf ein Wollen, einen individuellen Willen zurückgeht. Darin liegt erneut eine starke Distanzierung zu jener oben genannten Einschätzung, dass es sich beim Spiel lediglich um ein Instinktverhalten handle. Das Spiel scheint mit den Selbstverständnissen der beteiligten Individuen aufs Engste verbunden und keineswegs einzig auf einen vorreflexiven Spieltrieb rückführbar zu sein. Gleichzeitig nennt Bally aber auch das Ziel des Willens im Spiel: Lustvoll ist das Spiel dadurch, dass es die unverfügbaren Bedingungen bejaht, die dem einzelnen Willen vorausliegen. Einfacher ausgedrückt könnte man diesen Zusammenhang so übersetzen, dass der „Spielwille“ die Natur bejaht. Die verwandelte Natur im Tierspiel Man kann erahnen, dass Bally mit dieser Antwort, die die Freiheit des Spiels retten soll, letztendlich womöglich das Gegenteil erreicht, da er den Willen mit den Naturzwecken aussöhnen möchte. So besehen erlaubt es seine Antwort, jedes Spiel dann doch wiederum mit dahinterliegenden Zweckstrukturen zu verklammern. Wenn wir zuvor davon gesprochen haben, dass im Spiel die Natur im Licht der Gnade erscheint, dann wählt Ballys Einschätzung einen anderen Weg: Ihm geht es offensichtlich darum, dass im Spiel die Vereinigung von Natur und Wille möglich ist – das, was Natur ist (seien es Überlebenskämpfe oder der Kreislauf des Werdens und Vergehens), wird im Spiel bejaht. Freiheit meint hier die Zustimmung zu diesem gegenseitigen Affirmationszusammenhang. Die theologische Perspektive ist eine andere: Sie erblickt im Spiel eine verwandelte, und insofern andere Natur als jene, die sich durch die Prinzipien der Evolution auszeichnet und die gerade dadurch als Freiheit zu qualifizieren ist. Diese Natur wird nicht abgeschafft, aber sie erscheint in einem neuen Licht, nämlich jenem der Gnade, das die Natur zugleich zu ihrem wirklichen Sein emporhebt: „Die Gnade zerstört die Natur nicht, sie setzt sie voraus und vollendet sie.“  – Dieses Grundaxiom katholischer Gnadenlehre wird üblicherweise auf Thomas von Aquin zurückgeführt. 346

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Ganz ähnlich ergeht es dann auch dem Fischer Santiago: Mit der Urszene des Tierspiels im Hinterkopf (sozusagen dem Spiel zweiter Ordnung) ist es ihm möglich, auch dort die spielerische Freiheit der Tiere zu erkennen, wo andere womöglich lediglich Naturzwecke erkennen. So auch während einer nächtlichen Fisch-Sichtung: „In der Nacht kamen zwei Tümmler ums Boot, und er hörte, wie sie bliesen und sich wälzten. Er hörte den Unterschied zwischen dem Atemgeräusch des Männchens und dem seufzenden Atem des Weibchens. ‚Die sind gut‘, sagte er, ‚sie spielen und scherzen und lieben sich. Die sind unsere Brüder, wie die fliegenden Fische.‘ Dann bekam er allmählich Mitleid mit dem großen Fisch, den er am Haken hatte. Er ist wunderbar und seltsam und wer weiß wie alt, dachte er.“12

Im ganzen Roman wird deutlich, dass die Deutungsfolie des Tierspiels im Traum es möglich macht, dass Santiago in den verschiedensten Alltagssituationen Elemente des Spielerischen findet. So wird etwa auch die Interaktion von Santiago und dem Jungen Manolin immer wieder als Spiel beschrieben: „‚Darf ich das Wurfnetz nehmen?‘ ‚Aber ja.‘ Das Wurfnetz war nicht da, und der Junge dachte daran, wie sie es verkauft hatten. Dennoch spielten sie das täglich durch.“ Und auch das Fischen gerät in den Sog des (Glücks-)Spiels: „Fünfundachtzig ist eine Glückszahl“, erklärt Santiago Manolin bei einem gemeinsamen Ausflug. „Meinst Du, wir sollten ein Lotterielos kaufen mit der Fünfundachtzig am Ende?“13 An diesen und weiteren Stellen des Textes lässt sich sehr schön beobachten, wie die Deutungsfolie des Spiels die Perspektive vielfach so verändert, dass auch die scheinbar einfachsten Lebenszusammenhänge mit einem Mal ganz anders erscheinen und ganz anders gelebt werden können. Hugo Rahner hat die Wirkung des Spiels daher zu Recht als Verwandlung beschrieben und eindringlich davor gewarnt, die spielerischen Elemente des Lebens aus den Augen zu verlieren: „Der Mensch, der nicht mehr spielt, ist mysterienlos geworden. Wer soll dann noch die verzweckte Welt in pure Nutzlosigkeit verwandeln?“14 Dieser Begriff der Verwandlung beschreibt den Zusammenhang von Spiel und Natur, mithin jenen von Natur und Gnade, treffender als das Affirmationsmodell Ballys, das auf ein (wenngleich freiheitliches) Arrangement des Willens mit der Natur hinausläuft. Von hier her lässt sich verstehen, warum Santiago mit der bereits beschriebenen Vehemenz an der Bedeutung der Traumszene festhält als „das Wichtigste, das mir geblieben ist“15. Das Spiel ermöglicht es, in der Natur eben mehr als nur Natur zu sehen, ohne sie dabei zu übersehen. 347

III. Tiereschatologie

Die Natur neu erkennen lernen Wer die Natur mit den Augen der Gnade sieht, erkennt womöglich etwas Neues – eine „begnadete Natur“: Gerade an den vermeintlich so reinen Naturwesen, den Tieren, erkennen wir insbesondere in ihrem Spiel zeichenhaft etwas von der gnadenhaften, verwandelten Natur, wie sie von Gott gemeint war und ist: Man entdeckt Freiheitsgrade, Schönheit, Spiel und Liebe als Zeichen der Gnade in der gleichen Natur, die für die Naturwissenschaften nur gnadenlos erscheint. Aber: Diese Wahrnehmung bewirkt einen starken Kontrasteffekt: Die gnadentheologische Sicht auf die Natur bewirkt, dass Menschen sensibel für das gnadenvolle, aber auch das unerlöste Wesen der Wirklichkeit werden können. Dieser Effekt kann zur Folge haben, dass sich der gleichgültige Blick der Naturwissenschaften, den wir häufig selbst haben, verändert: Natur ist für den Theologen und die Theologin niemals gleich-gültig, sondern ist differenzierungsfähig: Sie zeigt Anteile der unerlösten, leidenden Wirklichkeit ebenso wie zeichenhafte Vorausgriffe auf jene erlöste Natur, die wir im Spiel, in der Freiheit und der liebenden Zuwendung der Wesen untereinander entdecken können. Nur wer über diese Differenz hinweggeht, ist womöglich erstaunt, dass der Kampf ums Überleben in der Natur allzu häufig große Ähnlichkeit mit dem Spiel der Tiere haben kann. Natur und Übernatur sehen sich mitunter zum Verwechseln ähnlich. Diese differenzierte Sensibilität ermöglicht es der Theologie – anders als der Naturwissenschaft! – Schöpfung zu loben, aber auch zu beklagen. Es gibt Unerlöstes an und in der Schöpfung, aber auch Zeichen einer begnadeten, zeichenhaft erlösten Schöpfung, die auf das ausstehende Heil hindeuten. Beide Wahrnehmungen erhellen sich gegenseitig, sie treten im Licht des jeweils anderen umso deutlicher hervor. Jedes Spiel macht Anleihen bei der Wirklichkeit, ohne diese aber einfach nur zu kopieren. Im Spiel erscheinen die Strukturen der Realität regelrecht verwandelt. So betrachtet überrascht es auch nur wenig, dass der Roman diese Urszene des Tierspiels im Traum des Protagonisten ansiedelt: Träume sind schließlich, wie der Pädagoge Jürgen Fritz anmerkt, „Möglichkeitsräume“, in denen sich die Strukturen der Lebenswelt als veränderbar erweisen.16 Gerade in den Geisteswissenschaften hat sich die Blickrichtung etabliert, in Gesellschaft, Politik und weiteren Kontexten stets nach Systemzwängen zu suchen. Sicher ist diese Perspektive sinnvoll und notwendig, aber das Spiel erinnert daran, dass die umgekehrte 348

Animal ludens

Richtung mindestens ebenso bedeutsam ist und nicht allein Systemzwänge, sondern auch spielerische Freiheitsräume insbesondere an Tieren zu entdecken sind. Das Spiel als Kampf? Aber lässt sich tatsächlich auf diese Art und Weise vom Spiel als dem Einbruch der Freiheit in das Reich der (Natur-)Notwendigkeit sprechen? Ist eine solche Sicht nicht unendlich naiv, lassen sich die Deutungen des womöglich doch zweckhaften Spiels so einfach abschreiben? Zumindest, so müssen wir sagen, gilt es, diese Ansicht gegen einen fundamentalen Einwand zu verteidigen. Auch wenn dieser Einwand in seiner elementarsten Form sehr alt ist und ähnlich bereits in der griechischen Antike vorformuliert zu finden ist, beziehe ich mich im Folgenden auf die Variante des Philosophen Paul Ludwig Landsberg, der aufgrund seines Mitwirkens in der französischen Résistance 1944 im KZ Sachsenhausen ermordet wurde. Landsberg greift das Spiel 1937 in seinem Band „Die Erfahrung des Todes“ auf. Dort schreibt er über jenes „Spiel“, in dem er den Grundmythos des Lebens in konzentrierter Form zu finden glaubt, und dafür ebenfalls  – wenn man das so sagen kann – ein Tier-Spiel aufgreift, nämlich den Stierkampf. Spiel sei dieses grausame Szenario insofern, als hierbei eine vermeintlich faire Ausgangslage, genaue Regeln und ein Verständnis über Sieg und Niederlage vorhanden seien. Landsberg kommt es nun darauf an, den Kern dieses Spiels gerade im Stier selbst und seiner Wahrnehmung dieses Kampfes auszumachen: „Der Stier, der in die Arena eintritt, weiß nichts von dem, was ihn erwartet. […] Die ersten Gegner kommen an. Noch ist es Spiel. Dem Stier ist der Kampf natürlich. Das beginnende Gefecht steigert die Empfindung, die er von seinem Leben und von seinen eigenen Kräften hat. […] Aber langsam tritt ein peinliches Geschehen in Erscheinung. Das Spiel ist gefälscht. Zu listig ist der Gegner. Aber von jetzt ab scheinen ihm die Reserven zu fehlen. Er scheint wohl stärker, als er in Wahrheit noch ist. […] Mit dem Matador, den Hohenpriester und Mystagogen dieser Feier, betritt der Tod selber die Arena. […] Einige Augenblicke scheint er noch widerstehen zu können. Aber die Tod erfüllt sich: Dieser Tod, der schon so lange gegenwärtig war, identifiziert mit dem Degen, identisch mit seinem Urheber, dem Matador selber, der den Degen führt.“ 349

III. Tiereschatologie

Wer die Tragik dieses Spiels, so führt Landsberg die Pointe dieser Parabel aus, nun einzig auf das Schicksal der Tiere beschränkt sehen möchte, der irrt: „So enden wir alle hienieden mit dem Tode. Jeder Kampf gegen ihn ist im Voraus verloren.“18 Tier und Mensch sind demnach über die erschütternde Erfahrung der Unausweichlichkeit des Todes verbunden: „Aber im Grunde seiner Seele weiß er [der Mensch, SH] nur zu gut, dass der Stier er selber ist. […] Die Gewissheit aber eines möglichen Sieges haben wir nur im christlichen Leben angetroffen.“19 Ist also jedes Spiel lediglich illusorisch in seinem utopischen Potenzial? Zumindest wird man zustimmen können, dass alle Spiele machtanfällig sind und es daher sorgfältig zu unterscheiden gilt zwischen dem Stierkampf-Spiel einerseits und jenem Spiel, wie es das jesuanische Wort von den Vögeln des Feldes aufruft. Auch in Hemingways Roman wird diese Parallele von Kampf und Spiel immer wieder deutlich, etwa wenn die Gerätschaft des Fischers mit (durchaus gefährlichen) Spielgeräten verglichen wird: „Sein Speer war lang wie ein Baseballschläger und lief spitz zu wie ein Degen […].“20 Das Tier scheint mit dem Spiel also auch darin verbunden zu sein, dass beide als Phänomene in vielleicht unerreichter Weise als Objekte von Machtinteressen und in diesem Sinne als Spielfelder von Zwecken, die außerhalb ihrer selbst liegen, erkennbar werden. Wie geht nun der Roman mit diesem Problem um? Santiago erinnert sich, „wie er einmal einen von einem Marlin-Paar an den Haken bekommen hatte. Das Männchen ließ das Weibchen zuerst fressen, und als das Weibchen am Haken war, lieferte es einen wilden, panischen, verzweifelten Kampf, der es bald erschöpfte, und die ganze Zeit blieb das Männchen bei ihm und kreiste über der Leine mit ihm an der Oberfläche. […] Als der alte Mann sie längsseits gezogen und erschlagen hatte, […] war das Männchen neben dem Boot geblieben. Und als der alte Mann die Leinen klarmachte und die Harpune vorbereitete, sprang das Männchen neben dem Boot hoch in die Luft, um zu sehen, wo das Weibchen war, und spreizte dann die lavendelfarbenen Flügel, seine Brustflossen, und tauchte ab, und all seine breiten lavendelfarbenen Streifen waren zu sehen. Er war schön, erinnerte sich der alte Mann, und er war geblieben.“21

Hier findet sich erneut das auch als solches benannte Motiv des Kampfes, der mit dem Tod des Fisches endet, das Bild vom Spiel auf Leben und Tod klingt demnach auch hier mit an. Die in der Tat erschütternde und durchaus nicht einfach zu verstehende Wendung, die nun allerdings im Roman 350

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deutlich wird, weicht vom Landsberg’schen Muster des Stierkampfes ab. Das im Roman an dieser Stelle dargelegte Spiel auf Leben und Tod resultiert nicht im Eingeständnis der völligen Sinnwidrigkeit allen Lebens, sondern in einer von tiefer Bewunderung zeugenden Einsicht Santiagos, dass nämlich der männliche Fisch, der eigenen Lebensgefahr zum Trotz, dem Weibchen beigestanden hatte. Er bewundert eben nicht – wie es Tierfilme bis heute immer wieder tun – den Todeskampf des Tiers aus der Haltung des sich unbeteiligt zurücklehnenden Beobachters, sondern bezieht in seinem persönlichen Fazit dezidiert Schönheit und (durchaus moralische) Gutheit aufeinander22: „Er war schön […] und er war geblieben“ – selbst im Angesicht des Todes, so kann man ergänzen. Es fiele mir schwer, eine passendere Umschreibung dessen zu liefern, was wir „Spiel“ nennen! Die literarische Kunst dieser Passage liegt darin, dass sie die größten Gegensätze durch die Struktur des Textes zusammenbringt, ohne dass diese sich gegenseitig aufheben oder das eine gegen das andere zu triumphieren hätte. Hemingway findet dafür das an dieser Stelle noch unauffällige Bild des „Kreisens“, das uns später noch beschäftigen wird. Was uns nach diesem Durchgang zunächst mit Blick auf das Verständnis tierlichen Spiels vor Augen geführt wurde, bestätigt einmal mehr das schon zitierte Wort Jesu von den Vögeln auf den Feldern: Ausgerechnet an den Tieren, von denen man mit ebenso guten Gründen sagen kann, dass sie die wohl verzwecktesten Wesen dieser Welt sind, lernt der Mensch die verwandelnde Kraft des Spiels, der völligen Zweckfreiheit. Sie besteht darin, das wiederum lässt sich von Hemingway lernen, dass die Schönheit des Spiels selbst angesichts des Todes mehr ist als nur schöner Schein, mehr als der Nietzscheanische Tanz über dem Abgrund, sondern ein Aufscheinen der erlösten Welt, die den Tod nicht mehr zu fürchten hat. Die Zwecke, die hinter dem Spiel vermutet werden, sind dann auch nicht mehr als Zwecke pro natura/contra mortem zu verstehen. Dass Zweckstrukturen auch grundsätzlich nur bedingt taugen, um Lebewesen daran zu messen, hat schon Romano Guardini bemerkt: „Welchen Zweck soll es haben, dass dieses oder jenes Pflanzenwesen, dieses oder jenes Tier überhaupt vorhanden ist? Etwa den, dass sich jenes andere von ihm ernähre? Doch gewiss nicht! Legen wir nur den Maßstab der äußeren Zweckmäßigkeit an, so ist vieles in der Natur nur zum Teil, und kein Ding in der Natur ganz und durchaus zweckmäßig, besser: zweckhaft. […] Solche Dinge haben keinen Zweck, aber einen Sinn: […] ihr Sinn liegt darin, das zu sein, was sie sind. […] Zweck und Sinn sind 351

III. Tiereschatologie

die beiden Formen der Tatsache, dass ein Daseiendes Grund und Recht zum eigenen Sein und Wesen hat. Unter der Rücksicht des Zwecks fügt sich ein Ding in eine Ordnung ein, die über es hinausgreift; unter der Rücksicht des Sinnes ruht es in sich selbst.“23

Um das Spiel der Tiere als wahres Hoffnungszeichen zu bewahren, müssen ihre Freiheitsräume gewahrt bleiben, sie müssen, so banal das klingen mag, überhaupt spielen können und die Gelegenheit dazu erhalten. Wie sehr diese Möglichkeit an machtfreie Bedingungen geknüpft ist, erklärt Gustav Bally: „Adulte Tiere spielen nur unter bestimmten Bedingungen: nämlich solange sie innerhalb der Gruppe eine Stellung einnehmen, in der sie vom Kampf um die Rangordnung entlastet sind. Die für die Spielfreiheit günstigste Stellung ist darum weder die eines ranghohen noch eines rangniederen Individuums. In dem Schutz, den die Menschen ihren Haustieren angedeihen lassen können, wo also die Rangstellung von vornherein unbestritten ist und Feindabwehr und Nahrungssicherheit gewährleistet sind, behalten auch alte Tiere die Neigung zum Spielen während ihres ganzen Lebens bei.“24

Spielerisch erlöst Wer Spiele (erster Ordnung) sucht, wird schnell fündig, dies gilt auch für die Kirche. Eine der frühesten Kreuzesdarstellungen zeigt Christus mit einem Eselskopf. Was vermutlich als Spott gedacht war, wird allerdings auch innerhalb der Kirche selbst immer wieder als christologische Deutungsfolie aufgenommen. Die Analogie zwischen Christus und einem Clown oder Harlekin beruht auf dieser Traditionslinie, auf die besonders der US-amerikanische Theologe Harvey Cox aufmerksam gemacht hat: „Gleich dem Hofnarren spottet Christus jeder Sitte und verachtet gekrönte Häupter. Gleich einem wandernden Troubadour hat er keinen Ort, sein Haupt hinzulegen. Gleich dem Clown in der Zirkusparade verhöhnt er die gegebene Autorität, indem er in der Stadt einreitet, umgeben von königlichem Prunk, während ihm keine irdische Macht zur Verfügung steht. Wie ein Bänkelsänger besucht er Banketts und Parties. Zum Schluss wird er von seinen Gegnern in die Spottkarikatur königlicher Gewänder gekleidet. Unter Gekicher und Gespött wird er gekreuzigt, zu seinen Häupten ein Zeichen, das seinen lachhaften Anspruch deutlich macht.“25 352

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Cox weist zugleich aber darauf hin, dass sich diese Perspektive auf Christus nicht durchsetzen konnte, da sich das Selbstverständnis der Kirche im Lauf der Geschichte vom Lächerlichen zum Sublimen bewegte. Dies mag, so Cox, wesentlich auch damit zu tun haben, dass die Kirche selbst immer wieder als machtpolitischer Akteur auf den Plan trat, so dass ihre Fähigkeit zur Karikatur und Ironie mit dem jeweiligen Grad an Machtförmigkeit verloren ging.26 Mit diesen Hinweisen lässt sich die Bedeutung des Spiels hauptsächlich darin verorten, dass es die Umkehrung der Verhältnisse antrainiert und von dort her eine neue Perspektive auf die Weltwirklichkeit gewinnt. Was aber normiert diese neue Perspektive, geht es lediglich um die kontingenzeröffnende Neuheit dieser Sicht oder hat sie auch eine inhaltliche Ausrichtung? Auch in dieser Frage lohnt es, der Tradition einer ecclesia ludens zu folgen. Der Historiker Jörg Sonntag verweist auf die Vielfältigkeit insbesondere mittelalterlicher Kloster- und Ordensrituale, die vom theologischen Sinn des Spiels zeugen. So verweist er etwa auf die Ballspielordnung des Domkapitels von Auxerre (1396), näher darin auf das sog. Pilota-Ritual: Jeder, der in den Konvent aufgenommen werden wollte, hatte einen Ball mitzubringen. Beim darauffolgenden Osterspiel ergriff der Dekan genau diesen Ball, während er zugleich die Antiphon Victimae paschali laudes als Ostersequenz anstimmte. Ähnliches berichtet das Püchlein vom Guldin Spil des Meister Ingold: Es erklärt Gefahren und Nutzen von Spielen, alle Spiele seien demnach so zu spielen, dass aus ihnen „goldene Spiele“ würden: Schach gegen Hochmut, Brettspiele gegen Fresssucht, Kartenspiele gegen Unkeuschheit, Würfelspiele gegen Geiz, Schießen gegen Zorn, Tanzen gegen Trägheit, Saitenspiel gegen Neid und Hass. Schließlich sei noch auf den Heilig-Kreuz-Orden des 15. Jahrhunderts verwiesen, in dem es üblich war, dass der zuständige Bischof die Brüder einmal im Jahr mit einer weißen Taube beschenkte; im Gegenzug erhielt er Tennisbälle und später auch Tennisschläger.27 Die Zeichenqualität der Taube, so lässt sich für das letzte Beispiel zusammenfassend deuten, erscheint demnach als gleichwertig mit derjenigen des Spielequipments. Das Spiel als sakramentales und eschatologisches Zeichen Und auch die beiden ersten Beispiele lassen kaum einen Zweifel daran aufkommen, dass im Spiel nicht allein (wie bei Cox’ Harlekin-Deutung der Person Jesu Christi) die Umkehrung der Verhältnisse zelebriert wurde, son353

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dern ein weitaus größerer Zusammenhang: Das Spiel können wir als signum sacramenti auffassen, als sakramentales Zeichen für die paradiesische Nähe zwischen Gott und seinen Geschöpfen. Die unmittelbare Gleichsetzung mit einem Sakrament ginge indes zu weit, da das Spiel ein Zeichen sein kann, aber es nicht sein muss – es kann auch anders aufgefasst werden, wie Landsbergs Stierkampf-Beispiel vor Augen geführt hat. Für die Frage nach dem inhaltlichen Orientierungspunkt des Spiels scheint sich nun eine Antwort abzuzeichnen: Das Spiel ist die zeichenhafte Verwirklichung der erlösten Welt in der bestehenden Wirklichkeit. Wer Tieren die Fähigkeit des Spiels in Abrede stellt, dürfte wohl ebenso wenig zur Perspektive ihrer Erlösung zu sagen haben; beide Motive scheinen stark miteinander zu korrelieren. So hat es wohl auch der Soziologe Peter L. Berger gesehen, der in seinem Buch Auf den Spuren der Engel gerade die Eschatologie als das „komische Element“ im Christentum versteht. Wer spielt – sei es Tier, Gott oder Mensch – tut dies immer schon im Licht einer anderen Wirklichkeit, die ahnungsvoll gegeben zu sein scheint.28 Schauen wir unter diesen Vorzeichen auf die Kirche, dann lässt sich gut nachvollziehen, warum der Theologe Romano Guardini auch in den liturgischen Formen der Kirche spielerische Elemente ausmacht: In der Liturgie „wird dem Menschen Gelegenheit geboten, dass er, von der Gnade getragen, seinen eigensten Wesenssinn verwirkliche, dass er ganz so sei, wie er seiner göttlichen Bestimmung gemäß sein sollte und möchte: ein ‚Kind Gottes‘. Das ist etwas ganz Übernatürliches, aber eben deshalb zugleich der innersten Natur entsprechend. Und weil dies Leben höher ist als das, wozu die gewöhnliche Wirklichkeit Gelegenheit und Ausdrucksform gibt, so nimmt es sich die entsprechenden Weisen und Gestalten aus jenem Bereich, in dem es sie alle findet, nämlich aus der Kunst. Es spricht in Maß und Melodie; es bewegt sich in feierlicher, gebundener Gebärde; es kleidet sich in Farben und Gewänder, die nicht dem gewöhnlichen Leben angehören; es vollzieht sich in Räumen und Zeiten, die nach erhabeneren Gesetzen gegliedert und aufgebaut sind. Es wird im höheren Sinn ein Kindesleben, in dem alles Bild ist, Reigen und Lied.“29 Ein solches ekklesiologisches Plädoyer muss sich in seiner Überzeugungskraft aber letztlich auch daran messen lassen, inwiefern es Perspektiven bietet, die das ‚liturgische Spiel‘ von seiner anthropozentrischen Verengung befreien können. Es wird sich  – nicht zuletzt auch in der Liturgie – zeigen müssen, welche Vollendungsgestalt die Kirche den Tieren tatsächlich zutraut. Mit diesem Auftrag ist sie nicht unbedingt allein, da bei 354

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genauem Hinsehen unterschiedliche soziale Räume schon jetzt ganz eigene Vollendungsperspektiven auf das Tier erkennen lassen: Die Schlachthäuser und andere Orte der Tierindustrie kennen eine Vollendung des Tieres nur in Form seiner radikalen Vernichtung. In den Zoos wird uns allenthalben vor Augen geführt, dass Tiere hier einzig als „Monument ihres eigenen Untergangs“30 ausstaffiert sind und Vollendung einzig in Kategorien der historischen Bewahrung ihrer Spezies erhoffen können. Angesichts dieser und weiterer Entwürfe dessen, was Tiere sein können, was sie erhoffen können, dürfte eine Kirche, die sich an der eschatologischen Dimension des Tierspiels orientiert, eine weitaus hoffnungsvollere Perspektive bereithalten. Auch Hemingways Roman lässt nun eine Deutung zu, die das Spiel als eine Art „proleptischer Befreiung“31 verstehbar werden lässt. Sie steht mitunter quer zu vielen Interpretationsansätzen dieses Textes, die gerade in der Figur Santiagos jenen Typus Mensch sehen wollten, der angesichts seines Scheiterns dennoch heldenhaft im Angesicht des Abgrunds zu stehen vermag. Nun stimmt es in der Tat, dass Santiago scheitert. Es gelingt ihm zwar, den riesigen Marlin an den Haken zu bekommen; da er ihn auf seinem winzigen Boot allerdings unmöglich transportieren kann, zieht er ihn die vielen Kilometer zurück zum Land. Auf diesem Weg wird der Marlin von anderen Fischen, die der Fischer nicht mehr abwehren kann, bis auf das Skelett gefressen. Ist also alles Spiel, insbesondere die Erinnerungsszene aus seinen Träumen, doch nur Illusion angesichts der existentialistischen Sinnlosigkeit, wie sie der Parabel-ähnliche Aufbau des Textes womöglich nahelegen will? Die Harmonie und das Spiel der Tiere wären dann der radikale Gegenpol zur sinnlosen und disharmonischen Welt. Ein solches Textverständnis ließe kaum eine Schnittmenge zu dem oben skizzierten Verständnis des Spiels als einem Vorausgriff auf die paradiesischen Zustände zu. Ist der Text wirklich derart nihilistisch? Mehrere Textbeobachtungen scheinen dem zu widersprechen: Zunächst erlaubt sich der Text über den Namen des Jungen – Manolin – eine deutliche Anspielung an eben jenen Kontext von Erlösung, von dem zuvor die Rede war, da ‚Manolin‘ eine spanische Form des Namens ‚Emanuel‘, der Erlöser, ist (Jes 7,14 und Mt 1,23). Fast überliest man zu Beginn des Textes den kurzen Hinweis, dass Manolin bei der ersten gemeinsamen Ausfahrt nur wie durch ein Wunder dem Tod entkam und beinahe von einem Fisch getötet worden wäre. Immer wieder spielt der Text mit unterschiedlichsten Parallelisierungen zwischen den Fischen und besagtem Jungen; am deutlichsten wohl in den Namen: Der Name des Marlin, mit dem Santiago kämpft, 355

III. Tiereschatologie

ähnelt dem Namen des Jungen Manolin außergewöhnlich deutlich; der Vokal, der beide unterscheidet ist das ‚O‘. Schaut man von dieser Beobachtung her erneut in den Text, so zeigt sich, dass allerdings auch die Fische ihr Äquivalent zu jenem Vokal zu besitzen scheinen, dessen kreisrunde Form vielfältige Assoziationen vom Spielball bis hin zum Osterei offen lässt. Wann immer in Hemingways Text der in der Regel tödlich endende Kampf eines Fischers mit dem Fischer erzählt wird, fällt das den Fischen zugeordnete Verb des ‚Kreisens‘. Es markiert in ebenso klarer wie erschütternder Einfachheit zuallererst den Beginn des eintretenden Todes: „Als zum dritten Mal, seit er hinausgefahren war, die Sonne aufging, begann der Fisch zu kreisen.“32 Der Text selbst kann eine solche Deutung nur bedingt normieren, dennoch lässt er jene außergewöhnliche Nähe zwischen dem Kreisen des Todeskampfes und dem Kreis als dem vielleicht elementarsten Bild des Spiels immerhin zu. Für mich übersetzt sich dieser Zusammenhang nicht in einen Ästhetizismus, der das Sterben des Tieres stilistisch zu einem ansehnlichen Spektakel überhöht, sondern in eine der größten gedanklichen Aufgaben des christlichen Glaubens: auch den Tod und das Sterben als Teil jener Geschichte verstehen zu können, die womöglich nur spielerisch zu bewältigen ist. Simone Horstmann

Anmerkungen 1 2 3 4

Rötzer, Ist das Leben ein Spiel?, 20 f. Huizinga, Das Spielelement der Kultur; ders., Homo ludens. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Letzteres gilt ungeachtet der Versuche, jegliche Formen des Spiels sowohl beim Tier wie beim Menschen dennoch als Teil der evolutionsbiologischen Logik zu betrachten. Offenbar lässt sich die biologische Zwecklosigkeit des Spiels in keinen Nutzenstrukturen einfangen. Huizinga, Das Spielelement der Kultur, 23, schreibt dazu: „Von den psychologischen und soziologischen Theorien des Spieles will ich nur dies eine sagen, dass ihre Erklä-

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rungsversuche ebenso mannigfach wie unbefriedigend sind. Der Reihe nach hat man als Grund und Wesen des Spieltriebs angenommen: Überschuss an Lebenskraft, Nachahmungstrieb, Erholung, Vorübung, Selbstbezwingung, Bedürfnis etwas zu können oder zu verursachen, Herrschsucht, Wettbewerb, Entladung schädlicher Instinkte, Ergänzung einseitiger Aktivität usw.“ Hemingway, Der alte Mann und das Meer, 34. Smith, Play in Animals an Humans; vgl. auch Bekoff/Byers, Animal Play; kritisch gegenüber diesen Erklärungsmodellen verhält sich Burghardt, The Genesis of Animal Play.

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Hemingway, Der alte Mann und das Meer, 84. Huizinga, Das Spielelement der Kultur, 19 f. Voegelin, Homo ludens, 55. Groos, Die Spiele der Tiere, 11. Huizinga, Das Spielelement der Kultur, 20 f. Bally, Vom Spielraum der Freiheit, 56 f. Hemingway, Der alte Mann und das Meer, 61 f. Ebd., 23 ff. Rahner, Der spielende Mensch, 10 f. Hemingway, Der alte Mann und das Meer, 84. Fritz, Das Spiel verstehen, 162 f. Ebd., 70. Landsberg, Die Erfahrung des Todes, 66–71. Hemingway, Der alte Mann und das Meer, 79.

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Ebd., 63. Diese Deutung steht bewusst quer zu vielen anderen Interpretationen, die Hemingways Texte oftmals vor dem Hintergrund des Typus des edlen, aber erbarmungslosen Jägers im Kampf mit der Natur verstehen. Guardini, Vom Geist der Liturgie, 50 f. Bally, Vom Spielraum der Freiheit, 59. Cox, Das Fest der Narren, 183. Ebd., 184 f. Alle Beispiele sind dem Aufsatz von Sonntag, Erfindern, Vermittler und Interpreten, bes. 242–259 entnommen. Berger, Auf den Spuren der Engel. Guardini, Vom Geist der Liturgie, 57. Berger, Warum sehen wir Tiere an?, 34. Cox, Das Fest der Narren, 8. Hemingway, Der alte Mann und das Meer, 108.

Der Garten als Existenzweise Eine trinitarische Perspektive auf die Tiertheologie

Während meiner Grundschulzeit gab es in unserem Garten eine kleine, wenige Quadratmeter große Fläche, die meine Eltern für mich abgeteilt hatten. Ein Garten im Garten, sozusagen. Nun war es um mein damaliges gärtnerisches Geschick bei Weitem nicht so bestellt, dass sich diese Fläche im Laufe eines Sommers zu einem imposant blühenden Miniatur-Garten entwickelt hätte. Mein gärtnerisches Engagement, wenn man es denn so nennen will, bestand vielmehr darin, den Erdboden mit mehreren Pflastersteinen auszulegen. Die Steine wurden leicht angedrückt, und damit war die Arbeit für mich erst einmal getan (und ich konnte endlich zurück ins Haus). Die Zufriedenheit meiner Eltern, die ihre Tochter für den Garten begeistern wollten, hielt sich in erkennbaren Grenzen. Mittlerweile verzeihe ich mir diese gestalterische Unsitte des „SteinGartens“, weil sie mir wider Erwarten eine der schönsten und einprägsamsten Erfahrungen von Lebendigkeit beschert hat. Als ich wenige Tage später einige der Steine vertauschen wollte, war die darunterliegende Erde wie verwandelt: Sie war durchzogen von feinsten, gewundenen Kanälen, die zudem auf mehreren terrassenförmigen Ebenen angelegt waren, und viele hunderte Ameisen flitzten über die Oberfläche. Die Pflastersteine gewährten ihnen augenscheinlich den geschützten Raum, den sie für ihre Behausungen benötigten. Die kleinen, fremden Körper der Ameisen bewegten sich so schnell, drängten aneinander vorbei und übereinander her, dass meine Augen kaum mithalten konnten, ihre Beinchen und Fühler arbeiteten mit wundersamer Präzision. Dass ich die Steine, die ihre Gänge schützten, zuvor weggenommen hatte, versetzte sie in helle Aufregung. Für mich war ihre wimmelnde Lebendigkeit in diesem Augenblick atemberaubend. Meinem ambitionslosen Steingarten hatten sie, die wahren Gärtner dieses 358

Der Garten als Existenzweise

Gartens, zu einem Kunstwerk gemacht. Ich legte die Steine zurück, erlaubte mir aber noch einige Male in diesem Sommer, die Ameisen zu besuchen. Erfahrungen im Garten Diese kurze Episode taugt bei Weitem nicht zu einem dramatisch-überhöhten gärtnerischen Erweckungserlebnis. Aber sie mag die hohe Theologie, die so gern vom Garten räsoniert, und dabei gelegentlich so wirkt, als spräche sie über einen sterilen Laborraum, an etwas Entscheidendes erinnern: Eine Theologie des Gartens bedarf der Erfahrung. Sie setzt Erfahrung voraus und knüpft an sie an. Dennoch bestätigt sie die (immer schon gedeutete) Erfahrung nicht einfach, sondern rückt sie in ein neues Licht, konfrontiert sie mit anderen Deutungen. Eberhard Jüngel hat in der vielleicht schönsten Definition von der Theologie als der „Erfahrung mit der Erfahrung“ gesprochen. Darin liegt auch ein Plädoyer für die Primärerfahrung, ohne die auch die Theologie letztlich entweder spekulativ oder hilflos bleibt. Diese Primärerfahrungen im und mit dem Garten haben es gleichwohl in sich. Das wird deutlich, sobald Menschen diese Erfahrungen in Worte kleiden. Die Theologie bildet da keine Ausnahme: Die Zeitschrift „Communio“ hat 2017 ein Heft zum Thema „Garten“ veröffentlicht, in dem sechs renommierte theologische Stimmen dem Phänomen des Gartens nachspüren. Im Editorial von Andreas Bieringer gilt der Garten wie auch die Kirche als ein Ort der Gotteserfahrung; Thomas Ruster verweist auf die Erfahrung, dass das Leid, das die lebendigen Wesen auch im Garten ereilen kann, gleichwohl nicht zum Unglück führt; Justina Metzdorf identifiziert mit Verweis auf den Kirchenvater Ambrosius von Mailand den Garten mit der (menschlichen) Seele; bei Peter Hersche finden sich schließlich Mutmaßungen über die Seelen von Pflanzen, zu der ihn die Praxis einiger Gärtner/innen führt; Karl-Heinz Steinmetz und auch Harald Schwillus erkennen im Urban-Gardening und anderen Trend-Erscheinungen eine christlich-spirituelle Dimension, und Holger Zaborowski deutet den Garten als Ort menschlicher Selbsterfahrung, in dem der Mensch das Leben mit der einfachsten Pflanze oder dem kleinsten Tier teilt. Daraus folgt dann entsprechend: „In einem Garten darf man sich nicht wie ein Jäger und Sammler verhalten.“1 Diese wenigen Andeutungen mögen genügen, um einen ersten Eindruck davon zu gewinnen, 359

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wie auch die Theologie einerseits das zur Sprache bringt, was Menschen immer schon und vermutlich zu allen Zeiten in ihren Gärten erlebten. Und dennoch wirken die meisten Bemerkungen entweder regelrecht subversiv, oder kleiden sich in den Modus der harmlosen Spekulation, um diesen Eindruck gerade zu vermeiden. Wer von Pflanzenseelen, der Gotteserfahrung im Garten, dem inneren Garten, der paradiesischen Leidensfreiheit oder dem geteilten Leben spricht, durchkreuzt eben nicht nur die kühle Logik der ökonomischen Vernunft, sondern auch klassische theologische Setzungen, die i. d. R. streng zwischen Mensch und Tier, beseeltem und seelenlosen Leben, Gott und Natur unterscheiden. Gerade in der Abwehr des Pantheismus hat sich die Theologie teilweise bis zur Unkenntlichkeit mit deren deistischem Gegenteil gemein gemacht. Der Garten passt dann nur wenig in das theologische Kalkül, wenn er mit den oben genannten Erfahrungen aufwartet. Es wird sich noch zeigen, ob die zeitgenössische und zukünftige Theologie sich damit begnügt, diese Erfahrungen schlicht als falsch oder zumindest vor-reflexiv auszuweisen, sie im Status der Untergründigkeit zu belassen – oder sie tatsächlich ernst zu nehmen. Kirche und/oder Garten? Der Garten dürfte (neben den Tieren selbst) einer der wenigen theologischen Topoi sein, die die moderne Profanisierung der Welt halbwegs unbeschadet überdauert haben: Selbst theologie-unverdächtige Ratgeberliteratur kommt doch immer wieder auf den Garten zu sprechen, um dem erschöpften Menschen einen Ort der Selbsttranszendenz, der Heiligkeit und des Heil-Seins zu offerieren. Und wer wie Andreas Bieringer auf die Kirche und den Garten als die beiden Orte moderner Gotteserfahrung verweist, wird zugleich eingestehen müssen, dass diese Unterscheidung aus Sicht der modernen Westeuropäer/innen kein wirkliches Gleichgewicht mehr bildet: Der Garten stellt die wohl weitaus konsensfähigere Seite dieser beiden Orte dar, er macht ein wesentlich „niederschwelligeres“ Erfahrungsangebot, und der Gang durch das Gartentörchen fällt den meisten Menschen heute sicher leichter, als die schweren Pforten der Kirchen mühsam zu öffnen. Der Status jenes „und“, das Kirche und Garten zusammenhält, ist spätestens in der Moderne prekär geworden, und sollte es doch nicht sein: Beide sind Heterotopien, also „Anders-Orte“ 360

Der Garten als Existenzweise

gegenüber den Räumen der Alltagswelt. Um sich von den sog. Naturreligionen abzugrenzen, hat die christliche Kirche ihre gärtnerischen Wurzeln dennoch lange unter den Teppich gekehrt. Sie hat sich selbst zu wenig als Garten verstanden, und ihn (meistens jedenfalls) sorgsam an ihre Ränder ausgegliedert, in Form von Kirchgärten, Friedhöfen, Klostergärten usf. Vielleicht ist dies auch ein Zugeständnis an den scheinbar naiv-romantisierenden Zug vieler Gärtner/innen, die nicht vom Garten als einem Ort der Gotteserfahrung lassen wollen. Im Klostergarten hat diese Sentimentalität einen Ort, bleibt aber doch säuberlich von der eigentlichen Kirche separiert. Den räumlichen Kern der Kirche erreichen die Gärten somit kaum noch. Methodisch flankiert wurde dieses Unterfangen zudem durch eine Auslegungstradition, die auch die biblischen Hinweise zum Garten vor allem symbolisch bzw. allegorisch aufgefasst hat. Besonders die Patristik konnte so einen großen, symbolischen Bogen vom Paradiesgarten der Genesis zum Garten Gethsemane spannen, in dem Jesus durch seinen Gehorsam die Rückführung der Menschen in das Paradies vollendet. Als Symbol stehen diese beiden zentralen Gärten damit letztlich für die wirkliche Gemeinschaft von Gott und Schöpfung, aber sie tun es – so deute ich zumindest die Rezeptionsgeschichte der symbolisch-allegorischen Garten-Deutung – auf eine indirekte Weise: Indem der Garten für etwas anderes, nämlich die Wirklichkeit des Gottesreiches steht, geht das Bewusstsein, dass er dieses andere zugleich auch teilweise verwirklicht, weitestgehend verloren. Wenn das Symbol auf etwas anderes verweist, dann wird es in seinem eigenen Zeichengehalt eigenartig unsichtbar. Es tut aber gut sich daran zu erinnern, dass es in den Paradies-Erzählungen der Genesis zwar sehr konkrete Hinweise auf die Beschaffenheit des Gartens gibt: Ein von ihm wegweisendes Hinweisschild zum eigentlichen Himmelreich gehört aber nicht dazu. Trinitarisches Erkennen: Von der Wahrnehmung im Garten Ein Garten ist zunächst einmal ein Garten – dies mutet nur auf den ersten Blick tautologisch an. Er verweist auf nichts anderes, sondern zu allererst auf sich selbst. Manch einer mag die frühsommerliche Blütenpracht der Gärten, das Summen der Bienen, Wespen und Hummeln als beinahe auf361

III. Tiereschatologie

dringlich empfinden, aber dies bestätigt nur, dass der Garten, seine Tiere und Pflanzen, aber auch seine Menschen, Freude daran haben, sich zu zeigen. Der Garten gibt den einzelnen Wesen Gelegenheit, sich auszudrücken, sich als sich selbst zu zeigen (und wer ist bzw. nennt sich nicht gern Gärtner?). Er nobilitiert den gärtnerischen Selbstausdruck der lebendigen Wesen als deren vornehmste Seinsweise. Dies verwundert besonders in einer Welt, die üblicherweise ein ganz anderes Narrativ bevorzugt, um die wahre Wirklichkeit zu beschreiben: Vergleicht man einmal den Selbstausdruck der meisten Menschen auf deutschen Autobahnen oder an Supermarktkassen mit dem Sein als Gärtner/in, dann dürften wenig Zweifel bleiben, dass die Großerzählung der modernen Realitätsdeutung immer noch der Kampf aller gegen alle ist. Das gärtnerische Sich-Zeigen unterscheidet sich von diesem modernen Selbstausdruck: Denn so sehr es eigener Selbstausdruck ist, meint es doch keine radikale Vereinzelung, es bedarf gerade der anderen Wesen (das mag so gerade auch noch für die autofahrende Profilierungssucht gelten). Auf dem gärtnerischen Maximalpunkt der Selbstentfaltung machen wir immer wieder die paradoxe Erfahrung, dass das eigene Selbst keine hermetische Insel ist, sondern vor allem durch seine Relationen zu den anderen Wesen besteht. Gärtner ist der Mensch nur in Bezug auf andere Wesen und Dinge, es gibt kein beziehungsloses, quasi theoretisches Gärtnern im luftleeren Raum. Wer den Garten auf diese Weise wahrnimmt, macht ihn theologisch zugleich tief bedeutsam, denn er erkennt in ihm die Grundrelation des trinitarischen Gottes: Sein und Beziehung sind keine miteinander konkurrierenden Größen oder Seinsweisen, sondern sind in Bezug auf Gott ein und dasselbe. Gott ist Beziehung – so könnte man das nur scheinbar so abstrakte Dogma der Trinität in Worte fassen. Dieses Sein in Beziehung gilt „immanent“, also im Hinblick auf das Verhältnis der drei göttlichen Personen von Vater, Sohn und Geist zueinander, es gilt aber ebenso „ökonomisch“: Mit diesem Begriff hat die theologische Tradition Gottes heilvolle Beziehung zur Schöpfung beschrieben. Sein ist Beziehung – mir scheint, dass die trinitarische Spur der ersten Schöpfungserzählung weniger in der immanenten Aufstellung der semantischen Hinweise zu den drei göttlichen Personen (dem über dem Wasser schwebenden Geist, dem Wort/Logos, Gott als dem Schöpfer) besteht, sondern trefflicher in der ökonomischen Umschreibung von Gott als einem Gärtner in der zweiten Schöpfungserzählung Ausdruck findet, der dadurch er selbst ist, dass er seine Beziehung zur Schöpfung 362

Der Garten als Existenzweise

lebt und ihr Entfaltungsraum gibt. Vielleicht liegt es am Nimbus der akademischen Spekulation, dass die Trinitätslehre bisher so wenig konkrete und praktische Bedeutsamkeit für das Christentum erlangt hat. Wie sehr sie aber unsere grundsätzliche Beziehung zur sog. Umwelt auf den Kopf stellt, ist bereits von hier her absehbar geworden. Wenn das individuelle Sein nicht mehr getrennt von dessen Beziehungen verstanden und gelebt werden kann, dann steckt darin die endgültige Absage an die Vorstellung, von den anderen Wesen grundsätzlich und vollständig getrennt zu sein. Jedes Sein verwirklicht sich stets nur in Beziehungen, und gerade in Gärten sind wir in der Lage, diese radikale Umkehr des modernen Individuationsmantras im Modus größtmöglicher Natürlichkeit zu erlernen. Eine solche trinitarische Wahrnehmung von Wirklichkeit bewirkt zugleich, dass sich der menschliche Erkenntnisanspruch verändert. Den Garten will man erkennen, um daran teilzunehmen. Dies ist gegen ein (früh-) modernes Verständnis instrumentellen Erkennens gesagt, das vor allem auf Herrschaft und Beherrschbarkeit abzielt. Jürgen Moltmann hat m. W. als erster in dieser Ausdrücklichkeit auf eine solche Form trinitarischen Erkennens hingewiesen: „Wir wollen nicht erkennen, um zu herrschen, sondern um teilzunehmen. Es geht ihm nicht um Herrschafts-, sondern um Gemeinschaftswissen.“2 Dieses Gemeinschaftswissen ist eine belebende Erfahrung: Anderes Leben kann uns lebendiger machen, ohne dabei an eigener Lebendigkeit zu verlieren, so verstehe ich rückwirkend die anfangs beschriebene Begegnung mit den Ameisen. Dies steht zugleich in Analogie zur trinitarischen Paradoxie, dass Gott Vielfalt sein kann, ohne an Einheit zu verlieren, er kann Beziehungen zur Welt eingehen, ohne dabei an Göttlichkeit zu verlieren. Moltmann verweist auch darauf, dass ein solches Denken viele scheinbar unverrückbare Axiome der klassischen Schöpfungslehre kippt, dies gilt zuvorderst für das kausale Denken, das gerade nicht der eigentlichen christlichen Schöpfungslehre, sondern deistischen Theorien entstammt: „Weltschöpfung ist […] etwas anderes als Weltverursachung. Ist der Schöpfer in seiner Schöpfung präsent, dann ist seine Beziehung zur Schöpfung eher als ein vielfältiges Netz einseitiger, wechselseitiger und mehrseitiger Beziehungen anzusehen. In diesem Beziehungsnetz benennen Schaffen, Bewahren, Erhalten und Vollenden zwar die großen einseitigen Beziehungen, aber Einwohnen, Mitleiden, Teilnehmen, Erfreuen und Verherrlichen sind wechselseitige Beziehungen, die eine kosmische Lebensgemeinschaft bezeichnen.“3 363

III. Tiereschatologie

Eine biosemiotische Theologie Von hier her fällt neues Licht auf jene methodische Frage, der wir zuvor begegnet sind: Ist der Garten für die Theologie also wirklich „nur“ ein Symbol, das für etwas anderes steht, selbst wenn dieses andere der Tradition gemäß das himmlische Gottesreich ist? Zumindest kann man unterstellen, dass eine solche symbolische Deutung eine ganz pragmatische Distanz zur konkreten Erfahrung des Gartens mit seinen Tieren, Pflanzen, Steinen usf. zur Folge hat. Der westeuropäische Mensch macht diese Erfahrung immer wieder und erlebt so, dass die Natur ihm auf eine beinahe erschreckende Art und Weise nichts mehr zu sagen hat – der Schriftsteller John Berger hat diese Ernüchterungserfahrung für den modernen „Tier-Garten“, den Zoo, so festgehalten.4 Letztlich bestätigt sich damit die noch grundlegendere Konvention der modernen Sprachwissenschaft, die spätestens mit dem Linguisten Ferdinand de Saussure von der „Arbitrarität der Zeichen“ spricht. Damit ist gemeint, dass jede Verbindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, Signifikat und Signifikant, letztlich beliebig ist. Das Zeichen sei mit dem, was es zum Ausdruck bringen soll, nur durch die Konvention und Gewohnheit verbunden, aber durch keinen wie auch immer gearteten natürlichen Zusammenhang: Die Amsel könnte demnach genauso gut „Elefant“ heißen, wenn wir uns nur darauf einigen würden, sie so zu nennen. Auch deswegen hat die Natur nichts mehr zu sagen, weil sie in keiner Relation zu den menschlichen Begriffen mehr steht. Dagegen haben wir schon in einem der ersten Kapitel zur Benennung der Tiere durch den Menschen eine ganz andere Beobachtung machen können: Ihre Namen entstehen unmittelbar aus der Begegnung mit den Tieren, wie sollte es da sein, dass Name und Sache nichts miteinander zu tun hätten? Der US-amerikanische Philosoph David Abram vermutet die Gründe für diese moderne Trennung von Welt und Zeichen bzw. Sprache noch wesentlich früher, und zwar im Übergang vom hebräischen zum griechischen Schrift- und Zeichensystem. Wer beide Systeme miteinander vergleicht, stellt schnell die augenfälligen Ähnlichkeiten fest, von denen bereits ihre Benennungen (Aleph – Bet bzw. Alpha – Beta, usf.) zeugen. In seinem Buch Im Bann der sinnlichen Natur stellt er u. a. dar, dass der Übergang von der hebräischen zur griechischen Schrift eine entscheidende anthropologische Wende markiert – deren Folgen sind nach Abram auch heute noch in Form der ökologischen Krise, der wahrgenommenen Trennung zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Welt spürbar. Abram ver364

Der Garten als Existenzweise

weist daraus, dass die frühesten Schriftsysteme, so auch die hebräische Schrift, i. d. R. Piktogramme waren: Die einzelnen Zeichen bildeten in Miniaturformat das ab, worauf sie verwiesen. Die Innovation der hebräischen Schrift bestand darin, dass nicht mehr nur einzelne Bildzeichen aneinander gereiht wurden, sondern erstmalig eine Aufteilung der Zeichen in Konsonanten und Vokale entwickelt wurde. Jede Silbe der Sprache konnte sich aus einem oder mehreren Konsonanten und einem Vokal zusammensetzen lassen. Interessant ist Abram zufolge nun, dass in der hebräischen Schrift dennoch ein piktografisches Erbe erkennbar blieb: „Aleph […] ist zugleich das Wort für ‚Ochse‘. Man erkennt im Buchstaben noch die Form des Ochsen. Der Buchstabe mem ist zugleich das Wort für Wasser, eine Reihe von Wellen. Der Buchstabe ayin, ‚Auge‘, wurde als einfacher Kreis gezeichnet. Das Schriftzeichen qoph, ‚Affe‘, wurde als Kreis, geschnitten von einem herabbaumelnden Schwänzchen gezeichnet.“ Die Buchstaben dieses hebräischen Alphabets sind also immer noch erkennbar mit der Außenwelt, den hinter ihnen sichtbar werdenden Phänomenen verbunden. Und es ist genau diese Verbindung von Buchstabe und Umwelt, die Abram zufolge durch den Übergang zur griechischen Schrift verloren geht: „Die griechischen Schreiber übernahmen Formen und Namen des Aleph-Beths mit nur geringen Änderungen. Doch während die semitischen Namen Sprechern semitischer Zunge ältere, nicht-grammatische Bedeutungen enthüllten, hatte die griechische Variante dieser Namen keinerlei nicht-grammatische Bedeutung für die Griechen. […] Die Verwurzelung der menschlichen Sprache im mehr-als-menschlichen Wahrnehmungsfeld konnte nun restlos in Vergessenheit geraten.“ Das griechische Alphabet, das formal noch stark an der hebräischen Schrift orientiert ist, unterscheidet sich also vor allem dadurch, dass in ihm die enge Verbindung von Zeichen (Signifikat) und Bezeichnetem (Signifikant) verloren geht, was Saussure mit der Arbitrarität der Zeichen viele Jahrhunderte später als vermeintliche Tatsache bestätigt: „Erst als das Alphabet diese semiotischen Darstellungen, die von den Hufen des Hirschs oder den Bärentatzen hinterlassen wurden, nur noch mit rein menschengemachten Lauten in Beziehung setzte und die Namen jede außermenschliche Bedeutung verloren, ließen sich das Sprechen und die Sprache als rein menschliche Fähigkeit erfahren.“5 Und doch widerspricht gerade die performative Dimension der hebräischen Zeichen dieser eindimensionalen Zuordnung zur Sphäre des rein Menschlichen. Wenn dem schriftlichen hebräischen Text die Vokale fehlen, dann zeugt dies gerade für die von Abram angesprochene partizipatorische 365

III. Tiereschatologie

Beziehung zwischen Welt und Zeichen: „Alles was atmet“ (Ps 150) – unser Buchtitel schließt sich daran nahtlos an, denn: Vokale sind nichts anderes als klanggewordener Atem, jener Verbindung aller Kreaturen mit Gott. Derselbe Atem, der die Verbindung zwischen Zeichen und dem Bezeichneten stiftet, der den Text zum Leben erweckt, bezeichnet im Hebräischen die Verbindung zwischen dem Schöpfer und den Geschöpfen. Nur eine Theologie, die sich über diese biosemiotische Dimension der Wirklichkeit im Klaren ist, erfasst die Folgen jener Trennung von Zeichen und Bezeichneten, die immer auch eine Auslöschung des relationalen Moments zwischen den Zeichen ist. Trinitarische Theologie, die Sein und Relation als zwei grundlegende Formen der Existenz aufeinander bezieht, ist letztlich unmöglich, wenn diese fundamentalste Relation zwischen Zeichen und Wirklichkeit gekappt bleibt. Deswegen ist die unmittelbare Erfahrung des Gartens auch theologisch so wichtig: Dort sprechen wir ganz unumwunden vom Singen der Vögel, dem Heulen des Windes, dem Zirpen der Grillen oder dem Murmeln von Bächen. Dies sind nicht nur uneigentliche Symbole oder Metaphern, sondern Ausdrücke, die auf die Zeichenqualität anderer Wesen hindeuten. Der estnische Paläontologe Ivar Puura hat eindringlich davor gewarnt, jene Zeichen, die für andere Wesen Bedeutung tragen, zu zerstören, und sei es durch bloße Ignoranz: Für eine solche Haltung hat er den Begriff „Semiozid“ geprägt.6 Es wird auch einer Tiertheologie darum gehen müssen, lebendige Wesen als Zeichen verstehen zu lernen. Einige Andeutungen sollen dieser Suchbewegung im Folgenden nachgehen. Theologisches Erkennen: Gegen die Subjekt-Objekt-Unterscheidung Bleiben wir dafür einen Moment bei der im Garten so natürlich und selbstverständlich anmutenden Weise des Wahrnehmens und Erkennens der gegenseitigen Verbundenheit. Sie erklärt einige der zu Anfang genannten Erfahrungen: Es gibt in der Tat jene Innigkeit und Nähe zwischen den Kreaturen, die von den Mitteln der Naturwissenschaft nur schwerlich erfasst werden können. Zur sehr sind diese immer noch der Trennung von Subjekt und Objekt verpflichtet, und auch wir sind es daher gewohnt, alle Natur strikt entlang dieser Differenz zu deuten: Wo es ein „Ich“ bzw. ein Subjekt gibt, existieren ihm gegenüber streng davon zu unterscheidende 366

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Objekte – ein „Du“, das Fremde, das Andere. Insbesondere die Naturwissenschaft hat über weite Zeiträume hinweg davon profitiert, diese Konvention zu verfestigen: Sie hat das Andere und Fremde als das zu untersuchende Objekt erkannt  – und es damit zugleich in dieser Deutung als das Andere befestigt. Eine solch starre Dichotomie schafft Klarheit, nimmt der Wirklichkeit aber zugleich auch ihren Glanz. Passend erscheint mir daher Peter Strassers Beobachtung, dass wahrhaft heilsame und zugleich tröstende Erkenntnis auf diese Weise unmöglich ist: „Trost liegt nicht darin, das Geheimnisvolle, welches die Welt und unser Leben umspielt, es durchdringt und begründet, bis an den Punkt aufzuhellen, wo bloß noch die puren, kalten Fakten übrigbleiben […]. Es sollte nicht das Anliegen der Philosophie sein, eine Überhelle zu befördern. […] Nur jener Blick [ist] der Welt angemessen […], der uns nicht als Überernüchterte zurücklässt. Erkenntnis, die kein Quäntchen Trost mit sich führt, bleibt dem menschlichen Geist äußerlich.“7 Dennoch scheint eben solche trostlose Erkenntnis nach wie vor bestimmend für die Wissenschaft zu sein: Jede/r Forscher/in, die ein Objekt unter dem Mikroskop untersucht, kann sich heute weitestgehend sicher sein, dass dieses Objekt nichts mit ihm/ihr selbst zu tun hat. Die trinitarische Wirklichkeitssicht macht aus dieser scheinbar unüberwindbaren Grenze jedoch eine permeable Membran. Diese Veränderung bleibt nicht folgenlos. Denn allen wissenschaftlichen Errungenschaften zum Trotz hat uns die Konvention, fein säuberlich zwischen einem Subjekt und einem Objekt zu unterscheiden, letztlich zu einer Wahrnehmung von Wirklichkeit geführt, die in letzter Instanz besagt, dass alles außerhalb des Subjekts für dieses Subjekt bedeutungslos ist, weil es mit ihm selbst nichts zu tun hat. Zugleich markiert die Trennung von Subjekt und Objekt aber auch eine Trennung des Menschen von sich selbst: Sie macht ihn zu einem ärmeren, empfindungsunfähigeren Wesen, das sich aus Selbstvergewisserungsgründen in sich zurückgezogen hat. Nur im Garten erlaubt man sich dann in stillen Momenten jene Sentimentalität der Verbundenheit mit den anderen lebendigen Wesen, wohlwissend, dass sie der objektivierenden Erkenntnis niemals standhalten wird. Wer gelernt hat, die Wirklichkeit nicht mehr streng dualistisch, sondern trinitarisch zu begreifen, kommt zu einem anderen Urteil. Zugleich müssen wir ebenso klar sehen, dass die Abkehr vom Trennungsparadigma schmerzvoll verlaufen wird: Sie führt uns vor Augen, dass all das, was der Mensch den scheinbaren Objekten angetan hat und bis heute antut, letztlich auch eine Form der Selbstverstümmelung darstellt. 367

III. Tiereschatologie

Theologische Ethik: Die Zeichen des dreieinen Gottes in den Geschöpfen Gerade letztere Feststellung führt uns unweigerlich zur ethischen Dimension des Gartens, von dem zuvor gesagt wurde, dass man in ihm nicht einfach Jäger und Sammler sein könne: Der Garten ist ganz offensichtlich keine Autobahn. Das merken wir spätestens dann, wenn uns das Schicksal der Wesen im Garten vor Augen geführt wird. Wer leidet keine Seelenqualen, wenn die beinahe hundertjährige Tanne, die den Garten so lange geprägt hat, vom Sturm umgerissen wird, wenn der eigene Hund mit einer jungen Taube im Maul angelaufen kommt? Dieses spontane und intuitive Leid erwächst aus der Tatsache des geteilten Lebens: Dieser Intuition kann man sich versagen und auf die Trennung von Subjekt und Objekt pochen. An diesem Punkt treffen Erkenntnistheorie und Ethik unmittelbar aufeinander, denn letztlich ist schon die Entscheidung für ein Erkenntnisparadigma eine ethische Entscheidung und bestimmt mit darüber, welche Wirklichkeitserkenntnis wir uns erlauben und wie sich unser Umgang mit anderen Mitgeschöpfen gestaltet. Die trinitarische Deutung der Wirklichkeit als Sein in Beziehung grenzt sich zugleich von traditionellen schöpfungsethischen Ansätzen ab. Einer dieser Ansätze deutet die (gärtnerische) Schöpfungsgemeinschaft vor dem Hintergrund eines ethischen Appells nach „Verantwortung“: Der Mensch trage Verantwortung für die Schöpfung und sei damit aufgerufen, die Schöpfung zu bewahren. So harmonisch diese Vorstellung klingen mag, so seicht ist sie häufig in der Sache. Die Rede von der Verantwortung gegenüber den Mitgeschöpfen und der Aufruf zur Bewahrung der Schöpfung bleiben ethisch meist außerordentlich diffus. Der Begriff der Verantwortung ist anschlussfähig und ausdeutbar für die unterschiedlichsten inhaltlichen Konkretisierungen, das macht ihn allerdings auch beinahe beliebig. Wenn Verantwortung konkret ebenso gut bedeuten kann, beispielsweise individuelle Tiere im Sinne der Gesamtökologie für den Erhalt einer Art zu opfern, wie es umgekehrt ebenfalls bedeuten kann, dass Individuen aufgrund ihrer Eigenart als Mitgeschöpfe gerade nicht dem Kalkül des Artenschutzes zu opfern sind, dann zeigt sich die Tragik einer solchen „Verantwortungsrhetorik“: Sie wird inhaltlich beliebig. Der gravierendste Einwand ist aber noch ein weiterer Punkt: Denn eine derartige Verantwortungsrhetorik funktioniert (und dies ziemlich gut) immer noch im Modus der Subjekt-Objekt-Trennung. Verantwortung hat man gegenüber anderen. 368

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Heutzutage genügt ein Blick in die unzähligen schöpfungstheologischen Unterrichtsreihen in Schulbüchern, um zu erahnen, was dies konkret bedeutet: Immer wieder funktionieren diese Ansätze so, dass sie in unterschiedlichen „ethischen“ Konkretisierungsformen (dem Bau eines Insektenhauses, dem Sortieren des Mülls, der Vermeidung von Plastiktaschen usf.) dem Gedanken Ausdruck verleihen, dass schöpfungsethisches Handeln immer ein Handeln an fremden Objekten bedeutet. Wie anders stellt sich demgegenüber eine trinitarische Sicht der gleichen Wirklichkeit dar: Einer christlichen Schöpfungsethik muss es, so schon zuvor Jürgen Moltmann, darauf ankommen, Welt und Gott nicht als pure Gegensätze zu begreifen! Die trinitätstheologische Tatsache, dass Gott in seiner Schöpfung präsent ist, ohne mit ihr identisch zu sein, ist m. E. überhaupt noch nicht in der Schöpfungsethik angekommen. Wir können aber etwas von den Erschütterungen wahrnehmen, die es bedeuten würde, mit einer trinitarischen Schöpfungsethik ernst zu machen: Die Lehre von den Vestigia trinitatis bietet beispielsweise eine Basis, um die klassischen Wege der Schöpfungsethik zu erschüttern, denn sie behauptet letztlich, dass die Geschöpfe Spuren Gottes sind: Sie verweisen nicht nur auf Gott (in einem kausalen Sinne), sondern sie sind selbst Zeichen des Göttlichen! Auch hier muss erwähnt werden, dass eine solche Aussage grundsätzlich andere Handlungsmotivationen ermöglicht als eine säkular anmutende Ethik, die einzig auf die Bewahrung von Schöpfung setzt (und dies wenn überhaupt dann nur mit der Motivation verbindet, dass der Mensch Gott etwas schulde oder den von ihm „verursachten“ Sündenfall in seinen Folgen zu bekämpfen habe). Trinitarische Schöpfungsethik denkt gerade nicht in solch einseitigen Abhängigkeiten, sondern setzt auf das Moment der andauernden Beziehung. Sie legt eine Verbundenheit zwischen Gott und den Geschöpfen nahe, ohne beide miteinander zu identifizieren. Deswegen kann Papst Franziskus in seiner Enzyklika Laudato si’ auch schreiben: „Für die Christen führt der Glaube an den einen Gott, der trinitarische Communio ist, zu dem Gedanken, dass die gesamte Wirklichkeit in ihrem Innern eine eigentlich trinitarische Prägung besitzt.“8 Diese Aussage bleibt zugleich ein Desiderat für die christliche Schöpfungstheologie: Es dürfte noch längst nicht in die letztlich auch ethisch handlungswirksamen Denkroutinen der allermeisten Christen und Christinnen übergegangen sein, dass die Begegnung mit den Mitgeschöpfen zumindest indirekt auch eine Gottesbegegnung ist. In zeichenhafter Form, in „Spuren“ wird insbesondere an den Beziehungen der We369

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sen untereinander etwas von den Beziehungen sichtbar und erahnbar, die Gott zu sich selbst und zur Schöpfung insgesamt hat. Nur auf diese Weise haben auch die großen Konzepte christlicher Ethik, allen voran die Nächstenliebe, ihr fundamentum in re. Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe können in trinitarischer Hinsicht keiner grundsätzlichen Trennung mehr zugeführt werden. Dies ist kein Pantheismus, wohl aber Panentheismus, den wir auch im Garten erfahren können: Die Differenz von Schöpfer und den Geschöpfen bleibt gewahrt – aber dennoch umgriffen von der Wahrheit, dass Gott alles in allem ist (1 Kor 15,28). Theologische Hoffnung: Das Kreuz im Garten Einiges von dem oben Genannten könnte auch von einer säkularen Lebensphilosophie mitgetragen werden. Aber spätestens der Friedhofscharakter eines Gartens, das im Garten aufgerichtete Kreuz, ist der Ort, an dem sich die Wege der Lebensphilosophie und der Theologie trennen. Erstere ist i. d. R. bestrebt, den Tod auf eine Weise zu naturalisieren, dass er als normaler Bestandteil des Lebens daherkommt. Im 19. Jahrhundert hat der Freiburger Evolutionsbiologe August Weismann die wohl prominenteste Grundlage für diese Annahme geschaffen: Der individuelle Tod sei der Preis, den das Leben für seine überindividuelle Weiterentwicklung zu zahlen habe, er sei demnach die eigentliche Quelle des Lebens und des Fortschritts.9 Eine christliche Theologie wird diese Sicht auf die Wirklichkeit niemals mitgehen können. Auch wenn der Garten Sinnbild des scheinbar gleichgültigen Zusammenhangs von Leben und Vergehen sein mag, sind Gärten doch immer auch Friedhöfe: In welchem Garten liegt nicht ein Hund, eine Katze, ein Vogel begraben, stets mit einem Holzkreuz am Grab? Auch im Garten lässt sich der Tod zwar nie verschmerzen, aber er schafft einen Raum, in dem seine Überwindung geglaubt werden kann, in dem Auferstehung kein Gedankenspiel bleibt. Friedrich-Wilhelm Marquardt verweist mit Nachdruck darauf, dass die Auferstehungshoffnung mit der Bild- und Erfahrungswelt des Gartens verknüpft ist; dass Jesus Christus in seiner Verkündigung immer wieder die großen Bilder des Gartens aufruft, auf ihre Schönheit und Nähe zum Gottesreich hinweist, nach seinem Tod sogar selbst als Gärtner wahrgenommen wird (Joh 20,13ff ), zeigt doch, dass wir auf das „paradiesgeschichtliche […] Zeugnis des uns umgebenden Kreaturlebens aufmerksam“ werden sollen.10 Darin 370

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liegt Marquardts Plädoyer für eine christliche Gartenhoffnung – das Paradies ist verloren gegangen, aber es wäre dennoch falsch, ihm abzuschwören. Auch die Holzkreuze der Tiere im Garten sind unendlich schmerzlich, sie zeigen, was und wen wir verloren haben – aber zugleich und untrennbar damit verbunden zeigen sie immer auch, was von Gott her nicht für immer verloren sein soll. Simone Horstmann Anmerkungen 1

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Vgl. die Beiträge von Thomas Ruster, Justia Metzdorf, Peter Hersche, KarlHeinz Steinmetz, Harald Schwillus und Holger Zaborowski in: Communio 46 H.4 (2017). Moltmann, Gott in der Schöpfung, 45 f. Ebd., 28. Berger, Warum sehen wir Tiere an. Abram, Im Bann der sinnlichen Natur, 147. Puura, Nature in Our Memory, 154. Strasser, Die Welt als Schöpfung betrachtet, 13.

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Papst Franziskus, Laudato si’, 239. Wichtig ist aber auch die Kritik der Theologie an Laudato si’, wie sie bspw. Anton Rotzetter formuliert hat, denn: „Auch der Papst will den Begriff Subjekt allein dem Menschen vorbehalten, hebt aber hervor, dass damit die Geschöpfe nicht zu bloßen Objekten herabgewürdigt werden dürfen.“ Rotzetter, Alles auf den Kopf stellen, 27. Weismann, Über die Dauer des Lebens, 1–72; ders., Über Leben und Tod, 123– 190. Marquardt, Eia, wärn wir da  – eine theologische Utopie, 127.

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Autorin und Autoren Thomas Ruster, Dr. theol., geb. 1955, ist Professor für Systematische Theologie am Institut für Katholische Theologie der Technischen Universität Dortmund. Simone Horstmann, Dr. phil., geb. 1984, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie ebenda. Gregor Taxacher, Dr. theol., geb. 1963, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Katholische Theologie, ebenda.