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German Pages 304 Year 2015
Gabriele Cappai, Shingo Shimada, Jürgen Straub (Hg.) Interpretative Sozialforschung und Kulturanalyse
Gabriele Cappai, Shingo Shimada, Jürgen Straub (Hg.)
Interpretative Sozialforschung und Kulturanalyse Hermeneutik und die komparative Analyse kulturellen Handelns
Die Publikation wurde gefördert durch die Gesellschaft von Freunden und Förderern der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf e.V.
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Inhalt
Vorwort
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Zur Einführung GABRIELE CAPPAI Die unbewältigten Aufgaben der Kulturforschung. Ein handlungstheoretischer Aufriss
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Theoretische Positionen und methodologische Reflexionen JÜRGEN STRAUB Das Verstehen kultureller Unterschiede. Relationale Hermeneutik und komparative Analyse in der Kulturpsychologie
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RALF BOHNSACK UND ARND-MICHAEL NOHL Komparative Analyse und Typenbildung in der dokumentarischen Methode
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GABRIELE CAPPAI Kultur und Methode – Über die Relevanz rekonstruktiver Verfahren für die Erforschung fremdkultureller Lagen
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Empirische Analysen und praktische Applikationen SHINGO SHIMADA Biographie, Kultur, sozialer Wandel
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ARNOLD ZINGERLE Höflichkeit als Wertbegriff einer Kultur der Differenz
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RAINER KOKEMOHR Interpretation – Lektüre – Interkulturalität
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Materiale Studien und zeitdiagnostische Perspektiven WOLFGANG SCHOBERTH Kulturhermeneutik und Religionsforschung – George A. Lindbecks Religionstheorie und das Verstehen christlicher Lehre
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GEORG KAMPHAUSEN Das Problem der Generationen: Kultursoziologische Konsequenzen einer wissenssoziologischen Debatte
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HANS-GEORG SOEFFNER UND DARIUŠ ZIFONUN Integration – eine wissenssoziologische Skizze
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Autorinnen und Autoren
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Vorw ort Die wissenschaftliche Beschreibung und Erklärung menschlichen Handelns sowie seiner vielfältigen Objektivationen stellt in verschiedenen Disziplinen eine komplexe Aufgabe und bleibende Herausforderung dar. In neueren Diskussionen steht die kulturelle Konstitution oder Regulation von Handlungen mit im Zentrum der Aufmerksamkeit. In aktuellen Strömungen der Hermeneutik sind Kulturanalysen und Handlungsanalysen demgemäß eng miteinander verwoben. Es besteht zunehmend Konsens darüber, dass es im Grunde genommen eine fruchtlose, oft sogar irreführende theoretische Abstraktion ist, vom Handeln zu sprechen, ohne zugleich über Kultur zu reden. Dies bedeutet allerdings nicht, dass man einem einseitigen Kulturalismus das Wort reden müsste (der seinen Blick womöglich noch auf sog. Nationalkulturen oder räumlich und zeitlich noch weiter ausgreifende Kulturen einengt). Handlungen werden unter mannigfachen Bedingungen vollzogen und sind durch vielerlei Gründe und Hintergründe bestimmt. Sie sind nicht zuletzt individuell motiviert und besitzen subjektive Sinn- und Bedeutungsgehalte, die sich durch Kulturanalysen allein keinesfalls erfassen lassen. Die kulturelle Seite der vielschichtigen Semantik und Pragmatik des Handelns ist nur eine von mehreren – allerdings eine wichtige, lange Zeit zum Schaden der Sache allzu sehr vernachlässigte. Der Begriff des kulturellen Handelns ist eigentlich tautologisch. Wer Handlungen als sinn- und bedeutungsstrukturierte Phänomene auffasst, hat es stets auch mit kulturellen Phänomenen zu tun. Ebenso selbstverständlich ist es, dass sich Handlungswissenschaftler/innen ihrem Gegenstand gar nicht anders annähern können als im Zuge komparativer Analysen. Ohne vergleichende Betrachtungen ist in den interpretativen Wissenschaften vom Menschen nichts möglich. Alle diese heute so geläufigen Einsichten fordern indes eingehende Reflexionen auf komplexe theoretische Grundbegriffe und anspruchsvolle Verfahren.
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INTERPRETATIVE SOZIALFORSCHUNG UND KULTURANALYSE
Es stehen heute pragmatisch und semantisch differenzierte Begriffe der „Kultur“, des „Handelns“ und nicht zuletzt des „Vergleichens“, „Verstehens“ und „Erklärens“ zur Verfügung, die das Fremdverstehen in den Sozial- und Kulturwissenschaften als eine theoretisch begründete und methodisch kontrollierte Praxis ausweisen. In aktualempirischen Forschungen ist dies ebenso deutlich wie in eher historisch oder systematisch angelegten Studien. Dabei sind sich heute viele darin einig, dass es niemals nur einen, sondern stets mehrere, einander ergänzende und herausfordernde Wege des Beschreibens, Verstehens und Erklärens psycho-soziokultureller Phänomene gibt. In der interpretativen Sozialforschung und Kulturanalyse ist diese Pluralität nur durch dogmatische Festsetzungen und Zwang aus der Welt zu schaffen. Der Band versammelt Beiträge aus der Soziologie, Psychologie und Pädagogik. In einigen Abhandlungen werden Perspektiven eingenommen und Fragestellungen bearbeitet, die die Grenzen einer einzelnen Disziplin überschreiten. Auf der gemeinsamen Grundlagen eines „bedeutungsorientierten“ Kulturbegriffs werden sowohl theoretische, begriffsanalytische und methodische Überlegungen angestellt als auch Ergebnisse historischer und aktualempirischer Studien präsentiert. In den vorgestellten empirischen Arbeiten kommen qualitative Verfahren der Sozialforschung und Kulturanalyse zum Einsatz – von der „dokumentarischen Methode“ über die „relationale Hermeneutik“ bis hin zu Interpretations- und Lektüreverfahren, die Anregungen der Psychoanalyse aufnehmen. Schließlich enthält das Buch historische Untersuchungen und zeitdiagnostische Skizzen zu kulturellen und sozialen Aspekten moderner Lebensformen, die z.B. wissenssoziologische Fragen nach der Integration moderner Gesellschaften, das Problem der Generationen, die Religion und Religionsforschung oder die (kulturspezifische) Rolle von Höflichkeit im zwischenmenschlichen Umgang betreffen. Unabhängig von den Einzelthemen zieht sich die Aufgabe eines theoretisch und methodisch anspruchsvollen „Verstehen des Verstehens“ wie ein roter Faden durch alle Abhandlungen. Die Beiträge des Sammelbandes sollen aktuelle Entwicklungen der disziplinären und interdisziplinären Sozialforschung und Kulturanalyse vermitteln und das Verständnis einer Forschungspraxis befördern, in denen kulturelle Handlungen und Praktiken sowie interkulturelle Konstellationen im Mittelpunkt des Interesses stehen. Das Buch ist dem Andenken an Joachim Matthes gewidmet, der am 3. Mai 2009 im Alter von 78 Jahren verstorben ist. Viele Jahre lehrte Joachim Matthes an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Mitglied des Instituts für Soziologie. Dieses Institut entfaltete auch dank seiner Persönlichkeit eine weit über die Grenzen der Disziplin hinausreichende Attraktivität
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VORWORT
– nicht nur in der Universität am Ort. Zu den wesentlichen Dingen, die man von ihm lernen konnte, gehörte es, nicht nur sich selbst, sondern auch die Anderen und Fremden ernst zu nehmen. Wer das in seiner Nähe versuchte, kam um die Reflexion und Revision nicht nur seiner wissenschaftlichen Begriffe, Theorien und Methoden kaum herum. Damit war es nicht genug. Zusammen mit dem kognitiven Ego- und Nostrozentrismus stellte unser gemeinsamer Lehrer und Mentor auch das damit auf subtile, oft kaum merkliche Weise verwobene Handeln in Frage. Er forderte Studierende als Personen heraus – nicht bloß durch das, was er sagte, sondern mehr noch durch sein oftmals besonderes Tun und Lassen, das man vielleicht ganz gut charakterisieren kann als eine nach allen Seiten hin aufmerksame Lebensführung.
Bayreuth, Düsseldorf und Bochum, im Januar 2010 Die Herausgeber
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Die unbew ältigte n Aufga ben de r Kulturforsc hung. Ein ha ndlungsthe oretisc he r Au friss GABRIELE CAPPAI1 Der vielleicht auffälligste Grundzug am aktuellen „Kulturdiskurs“ ist die Tatsache, dass die Stimmen der daran Beteiligten kein Gespräch ergeben. Das Problem scheint nicht an den typischen Brechungen zu liegen, die Disziplinen ihrem Objekt auferlegen, denn die Vielheit der Stimmen, die keine Synthese zulassen, begegnet uns bereits innerhalb ein und derselben Disziplin. Kultur, so muss man feststellen, gleicht immer mehr einer Black Box, aus der man, weil niemand so recht weiß, was darin ist, alles Mögliche herausnehmen kann, das für die Begründung der eigenen Strategie nützlich sein mag. So kann Kultur, unter Verweis auf unterschiedliche Wert- und Glaubenssysteme, nicht nur erklären, warum die Tutsi anders sind als die Hutus, sondern auch, warum sich eine Konfliktlösung zwischen benachbarten Gruppen in manchen Fällen so schwierig gestaltet und in anderen nicht (Faure/Rubin 1993: 224), warum manche Völker in Armut verharren, andere aber im Wohlstand leben (Hofstede/Harris 1985/86; Harrison 1992), oder warum Geschäfte unter internationalen Partnern einmal reibungslos ablaufen, ein anderes mal hingegen nicht einmal anlaufen. Diese Beispiele sind nicht zufällig gewählt. Kultur besitzt oder beansprucht, eine prominente Stellung nicht nur in akademischen Diskursen zu besitzen. So ist zu beobachten, dass der Begriff „Kultur“ bei international agierenden Organisationen (WTO, UNO, NGO’s), in programmatischen Schriften von Innen- und Außenministerien sowie in transnational tätigen Firmen eine zentrale Funktion in der jeweiligen Handlungsstrategie spielt. In diesen Fällen wird Kultur nicht als Objekt von Erkenntnis, dem man
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Für die Hilfe bei der Verbesserung und Ergänzung dieser Einleitung danke ich herzlich Jürgen Straub.
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GABRIELE CAPPAI
sich in einer mehr oder weniger handlungsentlasteten Situation widmen kann, sondern als Instrument zur Lösung praktischer Probleme verhandelt. Auf wieviel Kultur, so könnte man fragen, sind das Verstehen und die Erklärung von Handlung angewiesen? Mit dieser sind zwei andere Fragen verbunden: Welche Handlungsdimensionen neben der kulturellen sollten Sozialwissenschaftler/innen, die handlungstheoretisch vorgehen, berücksichtigen? Warum stellt sich für ihn oder sie die Berücksichtigung dieser Dimensionen nicht einfach als Option, sondern als Notwendigkeit dar?
Die Relevanz von Kultur im Handeln Eine Einschätzung dessen, was Kultur ist und wie sie wirkt, ist untrennbar von der Frage, was Kultur nicht ist. Angesichts der heute verbreiteten Neigung, die Wirkungsmächtigkeit von Kultur soweit zu generalisieren, dass sie als wichtigstes oder gar einziges handlungskonstitutives Element angesehen wird, muss die Frage gestellt werden: Wie hat man sich den Einfluss von Kultur auf das Handeln vorzustellen? Dass Kultur allein Handeln nicht bestimmen kann, haben Vertreter verschiedener Disziplinen auf unterschiedliche Weise unterstrichen. Auf die Frage nach wichtigen Handlungsdeterminanten geben Genforscher eine andere Antwort als Psychologen, Soziologen oder Anthropologen. Doch die Trennlinie scheint hier oft nicht so sehr entlang von Disziplinen, sondern von theoretischen Positionen zu verlaufen. Die Relevanz von Kultur für das Handeln wird von Systemtheoretikern anders eingeschätzt als von Vertretern des symbolischen Interaktionismus. Repräsentanten einer Theorie der rationalen Wahl positionieren sich hier wiederum dezidiert anders als Befürworter einer wissenssoziologischen Perspektive. Bestehen Chancen, polarisierende und sich gegenseitig ausschließende Positionen zu vermeiden? Ich denke ja. Eine wichtige Voraussetzung ist dabei, die Frage nach den konstitutiven Elementen des Handelns so zu stellen, dass ihre Beantwortung nicht von vornherein präjudiziert wird. Man müsste so verfahren, wie Klassiker des soziologischen und anthropologischen Denkens es getan haben, etwa wie Weber, Parsons oder Geertz. Man müsste davon ausgehen, dass Handlung immer das Ergebnis des Zusammenspiels von sozialen, kulturellen und personalen Elementen ist. In welchem Ausmaß und mit welchen Folgen bestimmte Elemente mehr als andere im Spiele sind, ist eine Frage, die allein die empirische Analyse beantworten kann. Als erstes gilt es, Kultur, soziale Struktur und Persönlichkeit als interdependente, jedoch autonome Handlungsdimensionen zu betrachten. Interdependenz besagt, dass es nicht möglich ist, Kulturanalyse zu betreiben, ohne am Leitfaden konkreter Handlungsabläufe der Tatsache nachzuspüren, wie bestimmte kulturelle Inhalte von Individuen im gegebenen Handlungskontext 12
DIE UNBEWÄLTIGTEN AUFGABEN DER KULTURFORSCHUNG
angeeignet, an diesen Kontext angepasst, gegebenenfalls verändert oder verworfen werden. Interdependenz ernst zu nehmen, bedeutet eine Handlungssequenz in ihrer Verknotung von individuellen Motivationen und Interessen, sozio-strukturell zu qualifizierenden Möglichkeiten und Restriktionen sowie handlungsleitenden Symbolen zu verfolgen. Entziehen wir uns dieser Aufgabe, dann ist nicht nachvollziehbar, wie Individuen auf Kultur in der Form von Ideen, Überzeugungen, Werten oder Repertoires zurückgreifen, um soziale Strukturen zu bejahen, zu verändern oder sie zu unterlaufen und neue zu schaffen. Will man nicht eine Dimension (Kultur, soziale Struktur, Persönlichkeit) zugunsten der anderen opfern, will man also den Denkfehler vermeiden, eine Dimension dominiere kausal die jeweils andere, so muss man ihren autonomen Status ernst nehmen. Was berechtigt uns jedoch zu dieser Autonomieannahme? Sind nicht Kultur, soziale Struktur und Persönlichkeit im konkreten Handeln zu einer Einheit verbunden? Es gilt hier zuerst daran festzuhalten, dass die drei Handlungsdimensionen auf unterschiedliche Weise integriert sind. Ein Hauptrequisit für Kultur als Ensemble von Symbolen ist, dass sie für diejenigen, für die sie zum Bezugspunkt des Handelns wird, sinnvoll sein muss. Dies bedeutet nicht auszuschließen, dass soziale Akteure im Gebrauch, den sie von ihr machen, gelegentlich widersprüchlich und inkohärent sind. Doch die Feststellung, dass sie dies sind, ist nur möglich vor dem Hintergrund der Annahme, dass die „Unterlage“, von der man abweicht, eine gewisse Kohärenz aufweist: ohne Regel keine Abweichung.2 Von dieser logisch-sinnhaften Integrationsweise der Kultur unterscheidet sich jene der sozialen Struktur. Man könnte letztere im Anschluss an Parsons, Sorokin und Geertz als „funktionale“ Integration begreifen. Die Erwartung an Handlungen aus sozio-struktureller Perspektive ist, dass sie rollenkonform ablaufen, dass sie also im jeweiligen Handlungszusammenhang eine bestimmte Funktion erfüllen. Freilich muss auch rollenbedingte Handlungsabstimmung den Anforderungen der Sinnhaftigkeit genügen, doch der Akzent liegt hier auf gesellschaftlicher Funktionalität. Nach welchem Prinzip ist Persönlichkeit integriert? Auf den ersten Blick erscheint diese Frage abwegig: kann man in diesem Fall überhaupt von Integ2
Wir müssen mit anderen Worten zwischen Ideen, Normen, Evaluationsstandards einerseits und ihrer Verwirklichung bzw. Anwendung in konkreten Situationen andererseits unterscheiden. Als symbolische Konstrukte müssen diese als relativ kohärente Gebilde erkennbar sein, in ihrer Verwirklichung durch konkrete Akteure sind sie dies jedoch meistens nicht. Erst das Postulat der Kohärenz auf symbolischer Ebene macht es möglich, Fälle der Nicht-Kohärenz zu identifizieren. Pauschal von der internen Inkohärenz und Inkongruenz einer Kultur zu sprechen, wie es heute in der Folge postmoderner Debatten üblich ist, hat wenig Sinn.
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GABRIELE CAPPAI
ration reden? Nach dem von postmodernen Theorien erzeugten Rausch, welche die Auflösung des Subjektes proklamierten, scheint wieder Ruhe für eine besonnene Reflexion darüber zurückgekehrt zu sein (Stagl 2006). Zu begrüßen sind vor allem jene sozialwissenschaftlichen Ansätze, die sich zur Aufgabe machen zu beobachten, wie sich Akteure im Feld angesichts unterschiedlicher und auch widersprüchlicher Identitätsangebote bzw. Zwänge verhalten. Diese Beobachtungen zeigen oft, dass im Dickicht divergenter Identitätsangebote soziale Akteure ein Self ins Spiel bringen (bzw. bringen müssen), das ihnen den Entwurf sinnvoller „Handlungsstrategien“ ermöglicht (Sökerfeld 1999; Straub 2004). Sie zeigen, dass wir ein wie auch immer zu qualifizierendes Selbst als Bedingung der Möglichkeit von Orientierung und Koordination in Situationen mit ungewissem Ausgang voraussetzen müssen, ein Selbst, das weder mit ausschließlicher Bezugnahme auf soziostrukturelle noch kulturelle Kategorien zu erklären ist. Unsere handlungstheoretische Perspektive auf Kultur setzt, wie man sieht, ein waches, kreatives und gelegentlich auch kritisches Individuum voraus.3 Ein Individuum, das zwar schon immer in einer gegebenen kulturellen Tradition lebt, von dieser aber nicht in der Weise aufgesogen wird, dass es nur noch als ihr Agent erscheint: Handelnde leben sowohl in kulturellen Traditionen, als auch mit ihnen. Je nach Interessenkonstellation, strategischen Überlegungen und Möglichkeiten, die der Handlungskontext bereitstellt, deckt das mögliche Verhalten gegenüber Kultur ein breites Spektrum ab: von der unhinterfragten Bestätigung bis zur begründeten Ablehnung.4 Menschen, auch dann, wenn sie derselben sozialen Gruppe angehören und denselben kulturellen „Reizen“ ausgesetzt sind, „gebrauchen“ Kultur unterschiedlich (Boesch 1991, 2008). Menschen verfügen nicht nur über unterschiedliche intellektuelle Ressourcen, sondern verfolgen auch unterschiedliche Ziele. Mit Alfred Schütz ausgedrückt, weder ihre „Weil“- noch ihre „Um-zu-Motive“ lassen sich allein unter Bezugnahme auf Kultur oder soziale Struktur begründen. Vergangenes Handeln lässt sich nicht allein unter Verweis auf kulturelle Muster erklären, genau so wenig, wie sich zukünftiges Handeln ausschließlich unter Verweis auf diese Muster antizipieren lässt. Individuen, auch dann, wenn sie sich legitimierend oder orientierend auf Kultur beziehen, verfolgen eigene Interessen, folgen mitunter eigenwilligen Rationalitätsvorstellungen und bringen immer wieder ihre Kreativität ins Spiel. Interessen veranlassen einen instrumentellen Umgang mit Kultur, Rationalität ermöglicht kritische Abwägung, Distanzierung und auch Ablehnung von bestimmten kulturellen Inhalten. Kreativität schließlich erlaubt jene nicht antizi-
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Zur Vertiefung dieses Aspektes s. den Beitrag von Jürgen Straub in diesem Band. Vgl. auch Boesch (1991; 2008). Vgl. Swidler (2006), insbesondere die Einleitung.
DIE UNBEWÄLTIGTEN AUFGABEN DER KULTURFORSCHUNG
pierbaren Anpassungen und Neuschöpfungen, die konkrete Handlungssituationen dem Handelnden immer wieder auferlegen.5
Interpretieren Verstehen wir Handeln als einen Entwurf, bei dessen Vollzug Kultur, soziale Struktur und Persönlichkeit zusammenwirken, so stellt sich die Frage, wie die wissenschaftliche Rekonstruktion bzw. Interpretation dieser Tatsache Rechnung tragen kann. Vor allem soll danach gefragt werden, welche Konsequenzen diese Unterscheidung im Hinblick auf die Interpretation fremdkultureller Phänomene hat. Strukturlogisch betrachtet, unterscheidet sich das Interpretieren fremdkultureller Phänomene nicht vom Interpretieren überhaupt. Stets muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass Interpretieren eine Leistung ist, bei der sowohl Interpretationshinsichten als auch Interpretationsstufen berücksichtigt werden müssen.6 Zum ersten Begriff kann Folgendes gesagt werden: Interpretieren ist eine komplexe Leistung, die in unterschiedlichen Hinsichten vorangetrieben werden kann. Zu unterscheiden wären dabei vor allem eine logisch-kognitive, eine expressive und eine evaluative Hinsicht. Demzufolge kann dieselbe Handlung bzw. Interaktionssequenz Objekt von grundbegrifflichen Überlegungen werden (z.B. nach kognitiven Prinzipien), es kann unter dem Gesichtspunkt der sinnlichen Anschauung (z.B. nach ästhetischen Kriterien) thematisiert werden, und es kann schließlich hinsichtlich seines evaluativen 5
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Nach dem amerikanischen Pragmatismus (vgl. Joas 1992) hat insbesondere die ethnomethodologische Tradition diesen Aspekt betont. Die Ethnomethodologen beschränken sich nicht darauf, handlungsgenerierende und handlungslegitimierende „Alltagstheorien“ zu beschreiben. Sie möchten auch die „Mechanismen“ aufzeigen, durch welche diese generiert werden und zum Einsatz kommen. Dabei verweisen sie auf die eminent aktive Rolle sozialer Akteure gegenüber ihrer sozialen und kulturellen Wirklichkeit. Individuen sind keineswegs passiv gegenüber Werten, Normen und Rollen, denn wie die Wirklichkeit immer wieder zeigt, besitzen Individuen die Fähigkeit, auch „anders“ zu handeln, als der Gang der Ereignisse es verlangt. Menschen folgen nicht einfach Regeln des Verhaltens, sie sind auch in der Lage, sich Rechenschaft („to take account of“) über diese Regeln zu geben und diese gegebenenfalls so zu modifizieren, dass sie ihren praktischen Bedürfnissen entsprechen (Garfinkel 1967). Neben dem Faktum menschlicher Reflexivität und Nicht-Konformität des Handelns unterstreichen die Ethnomethodologen auch die grundsätzliche Emergenz und Kontingenz von sozialem Sinn. Die Annahme ist hier also, dass Werte, Normen und Konventionen keine Realität sui generis darstellen, sondern als das Resultat von im Zuge menschlicher Interaktion stattfindenden Symbolisierungsprozessen betrachtet werden müssen. Ich lehne mich hier an Günther Abels (1999) Interpretationstheorie an, der allerdings die Frage der Interpretation fremdkultureller Phänomene nicht explizit stellt.
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GABRIELE CAPPAI
Inhalts (z.B. nach ethischen Gesichtspunkten) betrachtet werden. Findet Handeln in fremdkulturellen Kontexten statt, so stellt sich die Frage, ob die Perspektive des Analytikers als eines Outsiders angemessen ist oder nicht, ob dieser also über die erforderliche Kompetenz verfügt, dem Objekt angemessene Sinnattributionen zuzuweisen. Forschung in fremdkulturellen Kontexten pflegt heute meistens arbeitsteilig vorzugehen. Man beschränkt sich oft darauf, Handlungen entweder unter einem kognitiven, einem expressiven oder einem evaluativen Gesichtspunkt zu analysieren. Eine interessante Ausnahme bilden hier allerdings die zu Unrecht als überholt angesehenen Fallstudien der klassischen Anthropologie, bei denen die Vorliebe für die Totalität der Lebensäußerungen einer Gruppe offenkundig wird. Was so unterschiedliche Forscher wie Boas, Malinowski und Geertz gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass in ihren Monographien alle drei Interpretationshinsichten oft eine glückliche Synthese erfahren: Das Alltagsleben wird sowohl als Form (Ästhetik) als auch als Norm (Ethik) betrachtet. Man unterlässt es hier nicht, sowohl Form als auch Norm in Verbindungen mit Ideen, Glaubensvorstellungen und Ideologien zu setzen. Sowohl der synchron als auch der diachron verfahrende Forscher, der Geschichtswissenschaftler sowie der Ethnologe, führen uns immer wieder vor Augen, wie, je nach Gruppe und Epoche, unterschiedlich und sogar gegensätzlich Handlungen sein können, die in die Kategorien „wahr“, „gut“ und „schön“ fallen. Kultur scheint nicht nur darüber zu bestimmen, was ästhetisch passend und ethisch angebracht, sondern auch darüber, was kognitiv vorstellbar ist. Es würde den Rahmen dieser Einführung sprengen, wollten wir auf alle Möglichkeiten und Verbindungen eingehen, die sich aus dem Zusammentreffen von Interpretationshinsichten und Handlungsdimensionen ergeben. Wir beschränken uns im Folgenden auf einige Hinweise, die vor allem auf das Verhältnis von Kultur und Sozialstruktur abzielen. Sozialwissenschaftler haben immer wieder die Relevanz der soziostrukturellen Position des Akteurs bei der „Übersetzung“ bestimmter kultureller Inhalte unterstrichen. Bei Invarianz der kulturellen „Botschaft“ kann Interpretieren, je nach Position des Akteurs in der sozialen Struktur, stark variieren. Was Bourdieu hinsichtlich des ästhetischen Urteils bzw. Geschmacks von sozial unterschiedlich zu qualifizierenden Gruppen für das Frankreich des 20. Jahrhunderts feststellt, gilt mutatis mutandis auch für andere Gesellschaften (Bourdieu 1982). Wie Merton in seiner Anomiestudie eindrücklich zeigt, erfahren auch moralisches Empfinden und moralisches Handeln in derselben Gesellschaft je nach sozialer Zugehörigkeit des Individuums eigentümliche Brechungen (Merton 1968). Folgt man Mertons Argumentation, so variiert die moralische Interpretation bestimmter Handlungen, verändert sich also, was als zulässig oder unzulässig gilt, mit dem sozialen 16
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Milieu. Auch in Mannheims wissenssoziologischem Ansatz, um ein anderes Beispiel anzuführen, wird dem Milieu eine grundlegende Bedeutung bei jeder Interpretationsleistung zugedacht. Mannheims Aussage, nach der „dasselbe Wort, der gleiche Begriff im Munde sozial verschieden gelagerter Menschen und Denker meistens ganz Verschiedenes bedeuten“ (Hervorh. Karl Mannheim), soll belegen, dass Denken und Interpretieren „seinsgebunden“ sind.7 Betrachten wir das Interpretieren aus der Perspektive der Interpretationsstufen, so stellt sich Forschung als ein mehrstufiger Interpretationsprozess dar. Folgende drei Stufen lassen sich dabei unterscheiden: a) die Beschreibung von habituellen Praktiken und individuellen Motivlagen, b) die theoretische Reflexion über und die Kontextualisierung von Handlungsgleichförmigkeiten und Motiven, schließlich c) die Rekonstruktion der kategorialen und individualisierenden Prinzipien, verstanden als Organisationsprinzipien von Erfahrung überhaupt. Interpretation auf der ersten Stufe fällt meistens mit Beschreibungen lebensweltlicher Situationen oder mit der Rekonstruktion subjektiv gemeinten Sinns zusammen. Das auszeichnende Merkmal dieser Interpretationsstufe besteht darin, dass sie den Verstehenshorizont der Handelnden nicht transzendiert: Sinnverstehen koinzidiert hier meistens mit der Reproduktion der Perspektive der erforschten Subjekte, ihrer Motive, Ziele und Überzeugungen. Interpretation auf der zweiten Stufe ist wissenschaftlich anspruchsvoller und ergiebiger. Interpretationsleistungen auf dieser Ebene leben von der Überzeugung, dass sich die Arbeit des Forschers nicht einfach darin erschöpfen kann, den „subjektiv gemeinten Sinn“, den Sinn, den Akteure mit ihrem Handeln verbinden, nachzuvollziehen.8 Sozialwissenschaftlich gesehen ist Sinn weit mehr als das, was soziale Akteure mit ihrem Handeln intendieren oder realisieren. In Handlungen ist ein Überschuss an Sinn vorhanden, den Akteure selten ganz überschauen (impliziter bzw. latenter Sinn). Freilich nimmt man auch auf dieser Interpretationsebene die Konstrukte alltagsweltli7
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Der Relativismus ist keineswegs allein das Produkt der Unterschiedlichkeit symbolischer Systeme, also von Kultur. Die Wissenssoziologie hat längst die soziale Position des Beobachters als einen Grund relativistischer Auffassungen ausgemacht. Für Mannheim gilt, dass die besondere „Seinslage“ des Beobachters nicht allein etwas über die Genese von Gedanken aussagt, sondern auch konstitutiv in das Denkergebnis, in dessen Inhalt und Form, hineinragt (Mannheim 1985: 239). Vor allem impliziert Interpretation auf der zweiten Ebene eine Absage an die Introspektion und damit an die naive Selbstsicherheit, mit der manche Forscher zu wissen glauben, was sich in den Köpfen der Menschen abspielt (vgl. Straub, in diesem Band). So betont Alfred Schütz (1962: 56), Verstehen „has nothing to do with introspection“. Verstehen sei vielmehr das Resultat eines Lern- bzw. Akkulturationsprozesses in derselben Weise wie „Common-sense“-Erfahrung in der natürlichen Welt. Nach Alfred Schütz sind Motivzuschreibungen mehr oder weniger gut begründete Motivunterstellungen.
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cher Akteure, ihre Definitionen der Situation, ihre vorgenommenen Typisierungen ernst. Man geht aber darüber hinaus. Sinnverstehen ist auf dieser zweiten Ebene Mittel zur Rekonstruktion von Bedeutungszusammenhängen, die den Akteuren im Feld, den „Beobachtern ersten Grades“, in allen ihren Implikationen (Genese, Struktur und Funktion) nicht zugänglich sind.9 Von der Annahme ausgehend, dass Sozialität bereits vor jedem wissenschaftlichen Zugriff ihre eigentümliche Struktur und ihren typischen Verlauf besitzt, bemüht sich der Forscher um einen kontrollierten Zugang zu ihr. Er richtet die Aufmerksamkeit auf jene Routinen und Regelmäßigkeiten, die das Leben von Menschen charakterisieren, und versucht, die typischen „Methoden“ ans Licht zu bringen, deren sich Menschen in Alltagssituationen bedienen, wenn sie Verständigung unter Gesellschaftsmitgliedern anstreben.10 Auf einer dritten Stufe ist Interpretation mit der Freilegung von grundlegenden Organisationsprinzipien von Denken und Erfahrung beschäftigt. Interpretation auf dieser Ebene hat die Aufgabe, die kategorialen und individualisierenden Prinzipien einer Kultur zu rekonstruieren. Geht man davon aus, dass diese Prinzipien am besten an Sprachstrukturen sichtbar gemacht werden können, so bieten Vergleiche zwischen semantisch stark abweichenden Sprachen eine gute Möglichkeit dazu. Wie Quine eindrücklich gezeigt hat, eignen sich gedankenexperimentell veranstaltete Versuche der „radikalen Übersetzung“ gut, die Welt erschließende Funktion von Sprache zu zeigen. Es fehlt auch nicht an empirischen Studien, die zu begründen versuchen, warum Mitglieder einer bestimmten Sprachgemeinschaft auf bestimmte Weise Unterscheidungen ziehen, Akzente setzen und Präferenzen geben. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist die Tatsache interessant, dass Interpretationen auf der alltagsweltlichen Ebene, Interpretationen „ersten Grades“ also, je nach soziostruktureller und kultureller Position des Akteurs besondere Brechungen erfahren. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang 9
So schon John Beattie (1972: 83): „Much can be learnt of a community’s moral and legal standards, for example, or about other explicit aspects of its culture, through set interviews with selected individuals or groups. But this way of doing anthropology can only tell the enquirer what people think happens or should happen [...]. It cannot tell him what actually happens, how the social and cultural institutions of the community fit together in a working pattern.“ 10 Die phänomenologische Tradition, vornehmlich in der von Alfred Schütz vorgelegten Interpretation, hat uns eindrücklich vorgeführt, dass die Arbeit des empirisch verfahrenden Forschers auf „Rekonstruktion“ abzielen sollte und dass diese Rekonstruktionsarbeit ihrerseits Sinnkonstruktionen alltagsweltlicher Subjekte zum Objekt hat. Schütz wollte hiermit zweierlei betonen: dass theoretische Konstrukte keine Exklusivität wissenschaftlichen Tuns sind, sondern bereits von handelnden Subjekten in der Alltagswelt beansprucht werden, und dass zwischen der Reflexivität des Forschers und jener alltagsweltlicher Akteure eine strukturelle Kontinuität besteht (Schütz 1962).
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ist die Erfahrung, die Geertz während seiner Sprachausbildung mit Sprachlehrern unterschiedlicher kultureller Provenienz machte (Geertz 1997). Ich gehe im Folgenden kurz darauf ein. Statusunterscheidungen und Genusbestimmungen stellen bekanntlich in jeder Kultur wichtige Organisationsprinzipien des Denkens und Handelns dar. Was jedoch variiert, ist die Intensität und die Form, die diese annehmen können. So stellt Geertz während seines Sprachunterrichtes fest, dass die Javanisch-Lehrer alle Fehler der Statusmarkierung „hartnäckig und akribisch“ korrigierten und dabei die Genusfehler übergingen, die marokkanischen Ausbilder hingegen „nie einen Genusfehler unkorrigiert durchgehen“ ließen und sich an Fehler der Statusmarkierung wenig interessiert zeigten (ebd.: 58).11 Diese Haltung spiegelt eine Einstellung wider, die man im weitesten Sinne des Wortes als „kulturell“ bezeichnen kann. Dass dieses Phänomen den Handelnden bewusst ist, kann man wohl bezweifeln. Noch unwahrscheinlicher ist, dass sie sich über die tieferen Gründe dieses Verhaltens im klaren sind, darüber also, warum es so ist, dass im Relevanzsystem der marokkanischen Gesellschaft das Geschlecht und in jenem der javanischen der Status Vorrang hat. Um diese Gründe benennen zu können, müsste man, wie Geertz es tut, unter anderem die Sprachstruktur beider Gesellschaften ins Blickfeld rücken: „Das javanische hat keine Flexionsendungen zur Genusmarkierung, aber es ist grammatisch in minutiös abgestimmte, hierarchisch angeordnete Sprachebenen geschichtet. Das marokkanische Arabisch hat Flexionsendungen zur Genusmarkierung für so ziemlich alle Wortarten, aber überhaupt keine Statusformen“ (ebd.: 58). Es scheint also, dass hier Sprache insofern eine präformierende Funktion auf das Denken und Handeln hat, als sie soziale Wirklichkeit in bestimmter Weise strukturiert. Mit seinen Beobachtungen schließt sich Geertz einer Reihe von Forschern an, die Sprache als das grundlegendste Organisationsprinzip von Erfahrung ansehen (Humboldt 1903, orig. 1793; Wohrf 1956; Sapir 1921; Kluckhohn 1985; Quine 1965).
Übersetzen In der aktuellen Debatte über Kultur ist „Übersetzen“ immer mehr zum Schlüsselbegriff avanciert – gelegentlich in Konkurrenz zu anderen Grund-
11 Spielen hier vielleicht, so könnte man fragen, Positionen in der sozialen Struktur und Persönlichkeit eine Rolle? Sind vielleicht diese Lehrer „Traditionalisten“, die, anders als ihre „progressiveren“ Kollegen, peinlichst auf die Beachtung traditioneller Gepflogenheiten achten? Geertz scheint dies auszuschließen. Er weist darauf hin, dass beide Sprachlehrer als Universitätsstudenten keine Traditionalisten waren.
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begriffen der Sozialwissenschaften.12 Übersetzung kann dann vielerlei bedeuten: die Interpretation und Explikation bestimmter Wissensinhalte, ihre Vermittlung an Dritte und gelegentlich sogar ihre Implementierung in bestimmten sozialen Kontexten. In allen diesen Fällen haben es die Forscher gelegentlich nicht unterlassen, die Tatsache zu unterstreichen, dass Übersetzung eine Tätigkeit ist, an der Selektion, Adjustierung, Bewertung und Ausblendung im höchsten Maß beteiligt sind. Dies reflektiert die allgemeine Einsicht, dass epistemologisch unser Zugang zur Wirklichkeit nicht im Modus der Abbildung, sondern der „einseitigen“ Rekonstruktion gegeben ist. Die Frage, die sich bei dieser erweiterten Verwendung des Begriffes stellt, ist: Welche Vorteile gibt es, an der Stelle der Begriffe „Interpretieren“, „Vermitteln“ und „Implementieren“ den Terminus „Übersetzung“ zu verwenden? Eine auf Anhieb einleuchtende Antwort ist, dass, weil der erweiterte Übersetzungsbegriff Sprache, Kultur und Praxis in einer Einheit verbindet, dieser etwas leistet, was der klassische Begriff und seine Konkurrenten nicht zu leisten vermochten. Die pragmatische und kulturelle Dimension war freilich auch dem klassischen Übersetzungsbegriff nicht fremd. Dies vor allem dann, wenn man keiner reduktionistischen Sprachauffassung anhing. Rudolf Carnaps (1934) und nach ihm Charles Morris’ (1946) Unterscheidung der Sprachdimensionen Syntax, Semantik und Pragmatik können dies belegen. Bezieht sich die Syntax auf die Regel des Aufbaus und der Umformung von Ausdrücken im Satz, so fällt der Semantik die Aufgabe zu, ihre Bedeutung zu erschließen. Pragmatik berücksichtigt hingegen sowohl die Situation, in der Ausdrücke geäußert werden, als auch die Lage des Sprechers, der diese äußert. Da Carnaps Interesse vor allem künstlichen Sprachen galt, hat er sich kaum um den pragmatischen Aspekt der Sprache gekümmert. Gleichwohl hat er eingesehen, dass eine lebendige Sprache nicht anders kann, als diese Dimension zu berücksichtigen. Erst Malinowski hat, so weit wir sehen können, in voller Schärfe die Relevanz der pragmatischen Sprachdimension bei der Übersetzung erkannt (Malinowski 1966, orig. 1923). Wenn für Malinowski ein guter Ethnologe auch ein guter Übersetzer sein muss, so muss anderseits ein guter Übersetzer ein guter Ethnologe sein. Mit anderen Worten, die Übersetzung von Begriffen einer radikal fremden Sprache in unsere Sprache ist nicht anders als in den Termini ethnographischer, soziologischer und kulturanalytischer Arbeit denkbar. Ausdrücke, die sich auf die soziale Ordnung, Glaubensvorstellungen, Sitten, magische Rituale der Eingeborenen beziehen und welche keine direkte Entsprechung in den europäischen Sprachen haben (Malinowski 1966: 300),
12 S. u.a.: Bachmann-Medick (1993); Renn/Straub/Shimada (2002); Cappai (2003 a; b).
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„can only be translated into English, not by giving their imaginary equivalent − a real one obviously cannot be found – but by explaining the meaning of each of them through an exact ethnographic account of the sociology, culture, and tradition of that native community.“
Malinowski bleibt nicht bei einer pauschalen Feststellung der Relevanz soziokultureller Analysen als Bedingung einer richtigen Übersetzung. Er sagt uns auch, dass bei der Übersetzung die Rekonstruktion des Handlungskontextes, des Kontextes, in den die zu übersetzenden Begriffe fallen, von zentraler Bedeutung ist. Um dies zu verdeutlichen, führt Malinowski die Unterscheidung zwischen Sprache als Mittel der Konstitution und Äußerung von Gedanken („means of thinking“) und Sprache als Mittel für die Erreichung eines bestimmten Zieles („mode of action“) ein. Beziehen wir uns auf Sprache als „means of thinking“, wie bei Grabinschriften, Gesetzestexten, literarischen und philosophischen Werken, dann, so Malinowski, spielt der Situationskontext („context of situation“) keine wichtige Rolle. Der Text reicht aus, um die Bedeutung des Inhalts zu erschließen.13 Anders verhält es sich bei der Sprache als „mode of action“. Insbesondere Kulturen, deren Sprache nicht verschriftlicht ist, Kulturen also, bei denen der Gebrauch von Sprache als „mode of action“ überwiegt, zeigen, dass die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke von der Situation, in der diese geäußert werden, nicht losgelöst werden kann. Daher Malinowskis (1966: 307) Behauptung: „the conception of meaning as contained in an utterance is false and futile“.14 Malinowskis Überlegungen hinsichtlich Bedeutung und Übersetzung wirken unmittelbar einleuchtend, weil sie das Resultat des Lernprozesses darstellen, den er selbst im Umgang mit seinem Forschungsobjekt durchgemacht hat. Ob es um Gegenstände des täglichen Lebens, um die Organisation gemeinsamen Handelns, um soziale Kommunikation oder um den Ausdruck von Leidenschaft geht, das Resultat, zu dem Malinowski (1966: 306) gelangt, ist, dass „in a primitive language the meaning of any single word is to a very high degree dependent on its context“. Ist dies der Fall, dann muss sich der Übersetzer in einen Ethnographen verwandeln, denn Übersetzung ist nicht ohne eine soziale und kulturelle Analyse des Sprachkontextes zu leisten.
13 Wohlgemerkt, Malinowski ist nicht der Meinung, dass in diesem Fall Kontextualisierung überflüssig sei. Er behauptet lediglich, dass die spezifische Situation, in der ein Text verfasst wurde, nicht wesentlich für sein Verständnis ist. 14 Malinowski (1966: 316) war der Auffassung, dass beide Verwendungsweisen von Sprache den Menschen als Menschen auszeichnen. Er dachte aber, es sei ein Privileg der zivilisierten Völker, Sprache als Mittel der Gestaltung und des Ausdrucks von Gedanken zu gebrauchen: „It is only in certain very special uses among a civilized community and only in its highest uses that language is employed to frame and express thoughts“.
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Eine pragmatistische Perspektive auf Kultur legt nahe, Übersetzung als Handlung zu betrachten. Wie bei jeder Handlung lassen sich auch hier drei Dimensionen analytisch unterscheiden: die kulturelle, die sozio-strukturelle und die persönlichkeitsspezifische. Kultur spielt bei der Übersetzung insofern eine Rolle, als der Übersetzer an seine Aufgabe nicht voraussetzungslos herangeht. Er braucht einen Standpunkt, damit der „Text“, gleichgültig ob ein geschriebenes Dokument, ein ausgesprochener Satz, eine Handlungssequenz oder ein archäologischer Befund, zu ihm spricht. Kulturelle Symbole liefern diese Standpunkte für die Lektüre von „Texten“. Weil diese Standpunkte von sozialen Akteuren in ihren Voraussetzungen und Implikationen nicht durchschaut werden, haben sie den Charakter von implizitem Wissen. Kultur setzt dem Übersetzer Grenzen in dem Sinne, dass diese bestimmt, was kognitiv vorstellbar, expressiv darstellbar und evaluativ wünschbar bzw. wählbar ist.15 Persönlichkeit spielt bei der Übersetzung insofern eine Rolle, als Menschen nicht im gleichen Ausmaß, nicht in der gleichen Weise und vor allem nicht mit den gleichen Relevanzsetzungen öffentlich verfügbare Symbole und Schemata verinnerlicht haben und bei der Interpretation zum Einsatz bringen. An der Übersetzung sind schließlich Personen mit eigenen Interessen, Vorlieben und Motivationen beteiligt. Darüber hinaus stellt die Person die Instanz dar, die den Übersetzungsprozess initiiert, vorantreibt und auch beendet. Personen sind, wie wir wissen, nicht nur in kulturelle sondern auch in soziale Kontexte eingebunden. Nicht in dem Sinne, dass diese ihr Handeln determinieren, wohl aber in dem Sinne, dass diese ihr Handeln auf bestimmte Weisen limitieren und strukturieren.16 Sozialforscher wie Emile Durkheim, Robert Merton und Pierre Bourdieu, um nur einige zu nennen, haben gezeigt, dass unterschiedliche Milieus auf unterschiedliche Weise für bestimmte kulturelle „Botschaften“ empfänglich sind und dass Angehörige dieser Milieus die gleiche „Botschaft“ unterschiedlich auffassen und verwirklichen. Auch die Verortung des Menschen in der Sozialstruktur darf also bei der Übersetzung nicht unberücksichtigt bleiben.17
15 Wie Quine (1980) in seinem Experiment der radikalen Übersetzung gezeigt hat, stellen insbesondere die in der eigenen Sprache enthaltenen und oft nicht durchschauten kategorialen Unterscheidungen ein Hindernis dar, so dass Übersetzung unvermeidlich „unbestimmt“ bleiben muss. 16 Als Herrscher oder Beherrschter, als Inhaber bestimmter Rollen in einer Gruppe, als Träger bestimmter gesellschaftlich definierter Merkmale sind Menschen immer auch sozial definiert, sie erhalten ihre Identität auch durch ihre Position in der Sozialstruktur. Diese Position, so lernen wir bei den soziologischen Klassikern, spielt eine entscheidende Rolle bei der „Übersetzung“ von Kultur, sowohl als objektiviertes als auch als (in der Sozialisation angeeignetes) subjektives Gut. 17 Man sollte darüber hinaus zwei Typen von Übersetzern unterscheiden: die normalen Gesellschaftsmitglieder und die professionellen Übersetzer. Der vielleicht
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Vergleichen Aus dem Gesagten wird folgendes klar: Eine an der Suche nach Handlungsdeterminanten ausgerichtete Forschung muss der Kultur, der sozialen Struktur und der Persönlichkeit Aufmerksamkeit widmen. Beziehen wir diese Einsicht auf den Kulturvergleich, so hört dieser auf, ein Vergleich von lediglich kulturellen Symbolen zu sein. Freilich bleibt hier Kultur, ob in der Form kognitiver, expressiver oder evaluativer Symbolismen, im Zentrum der Aufmerksamkeit. Es soll dabei aber vermieden werden, soziale Struktur und Person so zu behandeln, als seien diese vernachlässigbare Größen. Beim interkulturellen Vergleich ist es zwingend, nicht allein zu klären, welches die Vergleichsgrößen sein sollen, sondern auch, worüber die verglichenen Größen Auskunft geben sollen. Der interkulturelle Vergleich bleibt eine naive Methode der Sozialforschung, solange die dritte Größe im Spiel nicht kritisch reflektiert wird, solange also das tertium comparationis nicht hinterfragt wird. Wer bestimmt über dieses? Wie wirkt sich die soziale und kulturelle Identität derjenigen, die den Vergleichsmaßstab setzen, auf den Vergleich selbst aus? (Vgl. Matthes 1992; Straub 1999; Cappai 2005; Bohnsack und Nohl in diesem Band). Vor allem jene Forschungsansätze, die den Beobachtungsstandort des Interpreten mitreflektieren und dadurch der Gefahr des Ethnozentrismus vorzubeugen beabsichtigen, zehren theoretisch von dieser Problematik. Diese Ansätze sehen in der Standortgebundenheit des Interpreten ein echtes Problem, vertrauen aber gleichzeitig auf die Möglichkeit, dieses unter Kontrolle zu bringen. Freilich geht es hier nicht darum anzunehmen, die Perspektive des Forschers könne gänzlich kontrolliert werden, sondern darum zu erkennen, dass bei jeder Betrachtung des Fremden ein Vergleich im Spiel ist, dessen Vergleichsmaßstab thematisiert werden muss.
Herausforderungen Bei der Erforschung von Kultur stellen Determinismus, Relativismus und Ethnozentrismus Gefahren dar, welche die Aufgaben des Interpretierens, Übersetzens und Vergleichens stark kompromittieren können. Der Determinismus verabsolutiert die Wirkungsmächtigkeit von Kultur dadurch, dass im relevanteste Unterschied zwischen den beiden ist, dass die erste Gruppe ihre Tätigkeit handlungsentlastet vollzieht. In einer „Welt in Bewegung“ gibt es viele, die als nicht-professionelle Übersetzer tätig sind: Migranten, Pendler, Soldaten im Auslandseinsatz, Geschäftsleute und Touristen. Für sie alle gilt, dass Übersetzung eine lebenspraktische Notwendigkeit ist, der man sich nicht entziehen kann. Warum das so ist und welche Probleme dabei entstehen, hat Alfred Schütz gezeigt (1976).
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Interpretationsprozess andere handlungsrelevante Dimensionen nicht berücksichtigt oder zu einer residualen Größe degradiert werden. Der Relativismus, insbesondere als epistemologischer Relativismus, stellt in seiner radikalen Form insofern ein Hindernis für das Interpretieren und Übersetzen dar, als er Situationen annimmt, die aus der Outsider-Perspektive kognitiv nicht durchdringbar sind. In einer übersetzungstheoretischen Perspektive impliziert der epistemologische Relativismus, dass Sprachsituationen angenommen werden, die nicht in unsere Sprache übersetzbar sind. Man ist, so die Vorstellung, in der eigenen Ontologie so weit verfangen, dass jeder Versuch, ihre Schranken aufzubrechen, an der Projektion unserer Identifikationsmodi auf die fremde Sprache scheitern wird (Quine 1980). Verabsolutiert der Relativismus die epistemologische Skepsis, so sündigt der Ethnozentrismus wegen der Naivität, mit der er sich den kognitiven Zugang zum kulturell Fremden vorstellt. Die epistemologische Unbeschwertheit, mit der gelegentlich Forschung in fremdkulturellen Kontexten stattfindet, war schon immer der beste Nährboden für relativistische Sichtweisen.
Determinismus Wird am Handeln eine der oben angeführten Handlungskomponenten vernachlässigt bzw. ausgeblendet, dann sind spezifische Verkürzungen die Folge. Versuchen wir aus handlungstheoretischer Perspektive, die Definition der Situation durch beliebige soziale Akteure unter ausschließlicher Bezugnahme auf Kultur zu rekonstruieren, so geraten wir in die Falle des Kulturdeterminismus. Privilegieren wir dabei die soziostrukturelle Dimension, so laufen wir einem platten Funktionalismus in die Arme. Geben wir schließlich der nutzen-maximierenden Rationalität von Individuen den Vorrang, so setzen wir einen Akteur in Szene, der mit wirklichen Menschen wenig gemeinsam hat. Man könnte das Gesagte auch so ausdrücken: Betrachtet man Handeln ausschließlich unter dem Gesichtspunkt von durch Erwartungen und Erwartungserwartungen angetriebenen Interaktionsprozesse, so verkümmern Handelnde zu Rollenträgern. Schaut man auf Handeln lediglich aus der Perspektive des „homo oeconomicus“, so wird man Subjekte sehen, die ihre egoistischen Interessen und sonst nichts verfolgen. Beobachtet man Handeln nur durch die Brille kultureller „Codes“, so werden Handelnde, um es mit Garfinkel zu sagen, zu „behavioral dopes“. Eine echte interdisziplinäre Perspektive auf das Phänomen Kultur ist angesagt, um zu erkennen, dass sich Handeln aus allen diesen Aspekten bzw. Dimensionen speist. Wie gesagt, die analytisch postulierte Gleichwertigkeit dieser Aspekte kann nur Ausgangspunkt der Forschung sein. Es ist nämlich zu erwarten, dass in der empirischen Wirklichkeit das Zusammenspiel von Kultur, sozialer Struktur und Person zugunsten einer dieser Dimensionen ausschlägt. Dies wä24
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re beispielsweise dann dar Fall, wenn zum Zweck der Handlungssteuerung das ganze Gewicht kultureller Traditionen mobilisiert und in einer „Ideologie“ gebündelt wird. Doch auch in diesem Fall sollten folgende Fragen nicht unterschlagen werden: Welche Gruppen bzw. Akteure mit welchen Intentionen/Interessen mobilisieren kulturelle Traditionen? Entspricht der beobachtbaren Konformität mit dieser „Ideologie“ seitens der Handelnden eine „echte“ Einstellung, oder ist diese die Folge einer strategischen Anpassungsleistung? Der Determinismus kann aber auch ein Resultat mangelnder interner Differenzierung des Kulturbegriffes sein. Um diesen Punkt zu erläutern, muss man ein wenig weiter ausholen. Kultur wird in der sozialwissenschaftlichen und philosophischen Tradition häufig mit dem Symbolbegriff identifiziert. Diese Vorgehensweise findet ihre Berechtigung darin, dass eine wichtige Leistung beider Begriffe darin gesehen wird, Kommunikation mittels Generalisierungsleistungen zu ermöglichen. Verständigung unter den Mitgliedern derselben Gemeinschaft, so die Annahme, ist deswegen möglich, weil man Bezug auf „dieselben“ Symbole nimmt. Im Anschluss an das Werk von Autoren wie Ernst Cassirer, Talcott Parsons und Clifford Geertz (aber auch Alfred N. Whitehead oder Georg H. Mead haben Wichtiges dazu gesagt) ist es angebracht, drei unterschiedliche Arten von Symbolen zu unterscheiden: kognitive, expressive und evaluative. Diese Unterscheidung ist vor allem unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Funktion möglich. Kognitive Symbole, exemplifizierbar als „Ideen“, lenken und schränken menschliches Handeln dadurch ein, dass sie Maßstäbe für sinnvolles Verhalten setzen und plausible Erklärungen für auftretende Probleme liefern. Expressive Symbole, darstellbar als „Stil“ oder als „Habitus“, bestimmen Modalitäten des Handelns. Steht das Ziel fest, so geben diese Symbole Regeln an die Hand, wie dieses, gelegentlich in Absehung von Effektivitätskriterien, erreicht werden kann. Evaluative Symbole schließlich erfüllen die Funktion der Wahl in einem Universum möglicher Alternativen − dies ist die Domäne von Werten, Normen, Prinzipien und Axiomen unterschiedlicher Art. Die Autonomie dieser unterschiedlichen Arten von Symbolismen ist die Konsequenz ihrer unterschiedlichen Funktion. Auf diese Autonomie zu verzichten hieße, einer Symbolismusart einen logischen Primat über andere zuzusprechen, und dies hieße wiederum, ausschließlich intellektualistische oder ästhetische oder moralische Interpretationen des Handelns zuzulassen.
Relativismus Der kulturelle Relativismus kann als eine Strategie aufgefasst werden, die darauf abzielt, substantielle Differenzen zwischen Symbolsystemen unterschiedlicher Gesellschaften, Gruppen oder Milieus zu betonen. Der Relativismus ist 25
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partiell, wenn nur eine Symboldimension tangiert wird. Er ist total, wenn alle drei Dimensionen betroffen sind, wenn also unterschiedliche Gruppen hinsichtlich sowohl des kognitiven als auch des expressiven und evaluativen Symbolbestandes wesentlich voneinander abweichen. Nicht so sehr Differenzen des expressiven, sondern des kognitiven und evaluativen Symbolbestands stellen eine Herausforderung für den Wissenschaftler dar. Der kognitive Relativismus, insbesondere in seiner radikalen Version, kapituliert vor der Aufgabe, Fremdkulturelles zu erfassen, weil er die Differenz zwischen Ideen, Glaubensvorstellungen oder Denkschemata zu hoch veranschlagt. Der evaluative Relativismus, insbesondere in seiner radikalen Form, verfährt ähnlich mit Standards der Beurteilung: Er verzichtet darauf, Möglichkeiten des Konsensus zu erkunden, weil er die Differenz zwischen Prinzipien, Normen oder Werten als unüberbrückbar erachtet. Interpretation in logisch-kognitiver Hinsicht hat einen gewissen Vorrang gegenüber Interpretationsästhetik und Interpretationsethik. Dies, weil wir Zugang sowohl zur ethischen als auch zur ästhetischen Dimension auf dem Weg der Kognition erhalten. Man kann gewiss ästhetisch und moralisch handeln und fühlen, damit aber dieses Handeln zum Objekt der Analyse gemacht werden kann, muss es versprachlicht werden, es muss in die Form eines „Textes“ überführt werden, den es dann kognitiv zu erschließen gilt. Alltagsweltlich mag es unterschiedliche Zugangsweisen zu einer fremden Kultur geben, wissenschaftlich können wir nicht anders als auf unsere kognitiven Kompetenzen zu vertrauen. Die Interpretation fremdkultureller Phänomene ist bekanntlich angesichts der menschlichen Neigung zur Vereinnahmung fremder durch unsere eigenen Deutungsmuster ein prekäres Unternehmen. Gelegentlich versucht man diese Gefahr dadurch zu umgehen, dass man die epistemologische Barriere so hoch zieht, dass der/das Fremde kognitiv „unerreichbar“ wird. Diese Form von Relativismus stellt für Sozialwissenschaftler eine echte Herausforderung dar. In der Analytischen Philosophie sind interessante Versuche unternommen worden, den radikalen Relativismus unter Bezugnahme auf den Übersetzungsbegriff zu überwinden (Cappai 2000; 2003b). Das Argument lautet hier folgendermaßen: Setzt man voraus, dass Kulturen wie Sprachen behandelt werden können, so ist die Widerlegung der Annahme von Nicht-Übersetzbarkeit gleichzeitig eine Widerlegung des radikalen Kulturrelativismus. Die Annahme der Nicht-Übersetzbarkeit zurückzuweisen, heißt allerdings nicht, die Tatsache zu leugnen, dass die Übersetzung einer radikal fremden Sprache (oder Kultur) eine Operation ist, die „unbestimmt“ bleibt (Quine 1980).18 18 Ein Problem der gegenwärtigen Ansätze, die sich bei der Analyse von Kultur der Übersetzungsmetapher bedienen, besteht darin, dass sie oft vernachlässigen, klarzumachen, welche die Sprachen sind, die hier im Spiel sind. Probleme der Unbestimmtheit der Übersetzung, wie die, die Quine (1980) analysiert hat, ent-
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Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, den Relativismus einzuschränken. Die erste besteht darin, trotz unleugbarer Differenzen grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen Kulturen zu betonen. Dies ist der Weg, den universalistische Ansätze einschlagen. Diese Möglichkeit erweist sich als unbefriedigend, weil sie den Beobachter auf eine sehr hohe Abstraktionsebene zwingt. Kulturell interessant ist nicht so sehr die Tatsache, dass Menschen an unterschiedlichen Orten zwischen dem Rohen und dem Gekochten unterscheiden, sondern die Tatsache, wie sie von mal zu mal mit dieser Unterscheidung umgehen. Eine andere Möglichkeit, den Relativismus unter Kontrolle zu bringen, besteht darin zu zeigen, dass die Grenzen, die ihn legitimieren sollen, wenig Grund haben zu existieren, weil nicht ausgemacht werden kann, was diese einschließen sollen. Dies ist dann der Fall, wenn nachgewiesen werden kann, dass Nationen, Regionen oder Ethnien nicht jene kulturelle Homogenität aufweisen, die ihnen oft zugeschrieben wird.19 Bereits Alfred Schütz (1976: 91) vollzieht eine Abkoppelung kultureller Vertrautheit vom Territorium, der Ethnie oder der Nationalkultur, indem er Fremdheit bereits „zu Hause“ identifiziert: „The applicant for membership in a closed club, the prospective bridegroom who wants to be admitted to the girl’s family, the farmer’s son who enters college, the city-dweller who settles in a rural enviroment, the ‚selectee‘ who joins the Army, the family of the war worker who move into a boom town – all are strangers according to the definition just given, although in these cases the typical ‚crisis‘ the immigrant undergoes may assume milder forms or even be entirely absent.“
Neuere Ansätze der Kulturtheorie bemühen sich heute nachzuweisen, dass die Idee von Kultur als abgegrenztes, homogenes, stabiles und determinierendes stehen mit syntaktisch und semantisch stark abweichenden Sprachen. Man tut aber oft so, als sei Unbestimmtheit der Übersetzung ein Problem, das alle Sprachen betrifft. 19 Einer Kultur Homogenität abzusprechen, bedeutet, die Idee einer klaren Grenze zwischen Fremdem und Vertrautem aufzugeben, es bedeutet, das Fremde „zu Hause“ zu erkennen. Diese Einstellung begegnet uns mit unterschiedlichen theoretischen Perspektivierungen und Akzentsetzungen in der Phänomenologie von Alfred Schütz, in der Wissenssoziologie Karl Mannheims oder in der Ethnomethodologie von Harold Garfinkel und Aaron Cicourel. Für alle diese Autoren gilt, dass Fremdheit einer Situation entspricht, die nicht an territoriale Grenzen, sondern an lebensweltliche Lagen gebunden ist. Schon seit ihren Anfängen hat die Soziologie das Fremde im „eigenen Zuhause“ entdeckt. Die Chicagoer Schule liefert dazu ein klares Beispiel. Ihre Vertreter konnten zeigen, wie in ein und derselben Gesellschaft Milieus nebeneinender existieren können, die alle Charakteristiken einer „Gemeinschaft der Weltdeutung“ aufweisen. Dazu: Lindner (1990).
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Gebilde schlecht mit der Annahme eines strategisch handelnden Subjekts koexistieren kann. Man versucht hier empirisch zu zeigen, dass Individuen, je nach angestrebter Handlungsstrategie und Interessenkonstellation, kulturelle Symbole unterschiedlich übersetzen (Swidler 1986; 2006).
Ethnozentrismus Wenn der Relativismus, insbesondere in seiner radikalen Fassung, kulturelle Unterschiede zum äußersten führt, so neigt der Ethnozentrismus dazu, diese zu unterschätzen bzw. zu ignorieren.20 Der Versuch, den Ethnozentrismus zu überwinden, sollte an der Einsicht der Einseitigkeit des eigenen Standortes ansetzen, er sollte also am Grundsatz des „Relationismus“ anknüpfen. Mit diesem Begriff verband Mannheim (1985) die Einsicht, dass jegliches Denken „seinsgebunden“ ist, und dass es für den Wissenschaftler sehr darauf ankommt, diese Gebundenheit theoretisch und methodologisch zu reflektieren. Ein erster Schritt in diese Richtung besteht darin, unterschiedliche und auch diskordante Perspektiven im Hinblick auf ihre sozio-historische Bedingtheit zu beleuchten (ebd.: 244). Die Benennung des Standortes besagt dabei nichts über den Wahrheitswert einer Aussage, sie besagt lediglich, dass dieser Ausdruck einer „Teilansicht“ entspricht. Mannheim erläutert den Relationismus unter Bezugnahme auf Situationen des Streites bei der Betrachtung visueller Gegenstände: „Dieser wird nicht dadurch geschlichtet, dass man eine unperspektivische Sicht konstruiert (was nicht möglich ist), sondern so, daß man aus dem einen standortgebundenen Bilde heraus versteht, warum sich dem andern dort, von jenem Standpunkte, die Sache so und nicht anders gibt“ (ebd.: 231).21 Mannheims Überzeugung, dass „jede Aussage wesensmäßig nur relational formulierbar“ sei (ebd.: 230), impliziert nicht das Opfer der „Objektivität“. Diese sei allerdings nicht direkt, sondern nur auf Umwegen zu erreichen. Es geht also nach Mannheim nicht darum, Perspektivität als etwas Unvermeidbares, wenn auch Missliches zu entschuldigen, sondern darum, die Frage zu stellen, „wie im Elemente dieser Perspektivität Erkenntnis und Objektivität möglich ist“ (ebd.: 255). Von der Perspektive des empirisch verfahrenden Forschers aus stellen sich mögliche Strategien zur Überwindung des Ethnozentrismus als ein dringendes Desiderat dar, ein Desiderat, das vor allem qualitative Verfahren zu 20 Dies, wie bereits ausgeführt, erweist sich beim Kulturvergleich als besonders nachteilig. Der subtilste und deswegen verhängnisvollste Ausdruck von Ethnozentrismus beim interkulturellen Vergleich ist sicherlich die unreflektierte Festlegung des tertium comparationis. Wer bestimmt über den Vergleichsmaßstab beim Vergleich? Diese Frage sollte jedem Kulturvergleich vorangestellt werden. 21 S. dazu den Beitrag von Bohnsack und Nohl in diesem Band.
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befriedigen scheinen. Anders als standardisierte Verfahren, die Validität vor allem in der Optimierung der Messinstrumente suchen, sehen nicht-standardisierte Verfahren ihre Berechtigung darin, dass sie sich um einen Anschluss an „natürliche“ Standards von Handelnden bemühen. Nicht-standardisierte Verfahren der Sozialforschung bauen ganz bewusst auf die Einsicht, dass die Relevanzsysteme der Erforschten möglichst ungehindert ans Licht kommen sollen und dass dies am besten durch kontrollierte Kontextuierung von Sprachhandlungen, Verhaltensweisen oder Artefakten zu geschehen hat. Sind qualitative Methoden aufgrund ihrer Sensibilität für die Relevanzsysteme der Erforschten vor der Gefahr des Ethnozentrismus immun? Grundsätzlich gilt: Auch gegenüber jenen Verfahren, die sich nicht vom Ethnozentrismus betroffen wähnen, weil es bei ihnen, wie es oft heißt, ohnehin auf die Rekonstruktion der Definition der Situation der erforschten Subjekte bzw. auf die Identifikation subjektiver Sinnstrukturen ankommt, ist Skepsis angebracht.22 Methodenkritik kann sich nicht allein auf das Aufzeigen von Problemen und Widersprüchen richten, die sich eine auf Standardisierung und klassische Gütekriterien fixierte Forschung einhandelt. Diese Kritik sollte sich auch auf jene Verfahren beziehen, die eigens dazu entwickelt wurden, die Schwierigkeiten, mit denen konventionelle Methoden behaftet sind, zu überwinden.23 Warum eigentlich? Einige Beispiele sollen im Folgenden die An22 Diese ist eine Frage, die mit aller Entschiedenheit Joachim Matthes (2000: 25) gestellt hat: „Wenig wird auch darüber nachgedacht, wie sehr der Bestand an sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden in den Kulturmustern jener (europäischen) Gesellschaften gründet, in denen er entwickelt worden ist.“ 23 In diesem Zusammenhang ist interessant zu beobachten, dass manche Forscher bereits in der Praxis rekonstruktiver Verfahren Skeptizismus und Kritik am Werke sehen, die der Notwendigkeit von Distanz zum Forschungsobjekt entgegenkommt. Die Anwendung interpretativer Verfahren, so Oevermann (2001), schafft eine Distanz zum erforschten Objekt, die strukturell kaum zu unterscheiden ist von der Distanz, mit der wir bei der Erforschung fremdkultureller Lagen konfrontiert sind: „Im methodischen Verstehen simuliert man sich gewissermaßen als Fremder gegenüber einem Gegenstand, der einem praktisch durchaus vertraut sein kann“ (2001: 79). Die Notwendigkeit der Distanz drängt sich also auch dann auf, wenn der Forschungsgegenstand einem bekannten Kontext entstammt. Gerade diese Situation ist besonders irreführend, denn sie erzeugt einen Eindruck kognitiver Nähe, der kein Fundament hat. Die Täuschung entsteht durch unsere Neigung, die „Verstrickung“ in die lebensweltliche Praxis als eine Art Garantie für die Gewinnung zuverlässigen Wissens aufzufassen. Anders als der Ethnologe, für den Distanz eine „natürliche“ Einstellung im Forschungsfeld darstellt, ist der Sozialwissenschaftler, der in heimischen Kontexten forscht, der Täuschung besonders ausgesetzt. Dieser kann er nur dadurch entgehen, dass er Distanz zu seinem Forschungsobjekt durch ein methodisches Verstehen künstlich schafft: „Auch bei der Analyse noch so vertrauten Materials“, so Hildenbrand (2008: 129), „wird durch die Anwendung von Verfahren der interpretativen Sozialforschung die beste Vertrautheit, die der bzw. die Studierende mit dem Fall hat, destruiert.“
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gemessenheit dieser Skepsis illustrieren. Das erste betrifft Strategien der Datengenerierung. Ist der Forscher nicht mit ausreichender Sensibilität ausgerüstet, um zu erkennen, dass sich Forschung in fremdkulturellen Kontexten typischen Routinen, Rhythmen, Tabus und Geboten anpassen muss, erkennt dieser also nicht, dass es in einer bestimmten Gruppe Zeiten des Redens sowie des Schweigens gibt und dass er für den Erhalt wertvoller Information auf den „günstigen“ Moment warten muss, so wird dieser Forscher im besten Fall knappe Antworten erhalten – also solche, die nicht in das Relevanzsystem des Befragten eingebettet sind und die deswegen zwangsläufig den Charakter einer höflichen „Abfertigung“ haben werden (Spittler 2001). Erst die Kenntnis der im Alltag der beforschten Gruppe gültigen kommunikativen Regeln ermöglicht einen methodisch kontrollierten Zugang zum Gegenstand der Forschung. Beabsichtigt unserer Forscher − um bei Techniken der Datengenerierung zu bleiben −, durch die Rekonstruktion typischer biographischer Verläufe im Medium des Erzählens bestimmte soziale Phänomene zu untersuchen, so muss gefragt werden, ob eine bestimmte Gesellschaft bzw. Kultur genug Anhaltspunkte für die Bündelung lebensgeschichtlicher Erfahrung in einer Biographie westlichen Zuschnitts bereithält. Die Beobachtung, dass aufgrund der kolonialen Vergangenheit und multiethnischen Konstitution vieler asiatischer und afrikanischer Staaten ein System von gesamtgesellschaftlich geteilten Lebenslaufstrukturen nicht entstehen konnte, ist sicherlich ein großes Hindernis hinsichtlich der Anwendbarkeit biographischer Verfahren, so wie diese im Westen entwickelt und erprobt wurden.24 Neben sozio-strukturellen gibt es auch im engeren Sinne kulturelle Bedingungen für die Anwendbarkeit erzählanalytischer Verfahren. Kultur „entscheidet“ über die Angemessenheit von Methoden in dem Sinne, dass empirische Verfahren nicht „greifen“, wenn bestimmte Voraussetzungen in den Orientierungs- und Erwartungsmustern einer spezifischen Gruppe fehlen. Alle im Westen entwickelten Befragungstechniken gründen auf der Annahme der unhinterfragten Autorität des Wissenschaftlers als Ausdruck eines ebenso unhinterfragt geltenden „Systems Wissenschaft“. Diesem System fühlt sich der westliche Mensch zur Rechenschaft verpflichtet, nicht etwa deswegen, weil ansonsten äußere Mechanismen abweichendes Verhalten sanktionieren würden, sondern weil er diese Rechenschaftspflicht verinnerlicht und dadurch
24 S. in diesem Zusammenhang die Erfahrungen aus einem Forschungsprojekt in Singapore von Matthes (2005).
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teilweise invisibilisiert hat.25 Von diesen kulturellen Voraussetzungen können wir in anderen Kulturen nicht ohne weiteres ausgehen.26 Kultur muss aber nicht allein bei der Datengenerierung, sondern auch bei der Dateninterpretation berücksichtigt werden. Erkennen wir, dass Kultur oft auch die Form bestimmt, in die bestimmte Inhalte gegossen werden, so muss der Forscher darauf achten, ob Form und Inhalt in einem Verhältnis der Übereinstimmung oder des Widerspruches stehen. Bezogen auf das Thema erzählanalytischer Verfahren muss der Forscher berücksichtigen, ob bei einer biographischen Erzählung bestimmte kulturell prädeterminierte Erzählvorgaben im Spiel sein könnten, die das normative Ideal einer „guten“ Erzählung mittransportieren.27
Fassen wir zusammen Aus der vorangegangenen Diskussion wird Folgendes klar: Die Erforschung von Kultur bzw. Kulturen ist auf eine komplexe Strategie angewiesen. Unterschiedliche Informationsquellen und Datensorten müssen berücksichtigt werden. Neben der Rekonstruktion von das Handeln beeinflussenden Sinnkonstrukten ist der Forscher auch auf sozio-strukturelle Daten sowie auf ethnographisches und geschichtliches Wissen angewiesen. Dabei darf man nicht dem für den Determinismus typischen Trugschluss erliegen, Handeln sei sic et simpliciter die Resultante der kombinierten Einwirkung von geschichtlich entstandenen Sinnstrukturen und soziostrukturellen Komponenten. Persönlichkeit als Bündel von Neigungen, Emotionen, Interessen und rationalen Abwägungen wirkt hier mit und „bricht“ auf eigentümliche Weise den von Kultur und sozialer Struktur ausgeübten Zwang.28
25 So Matthes (2000: 25): „Die öffentliche Autorität, die der Wissenschaft zukommt, vermag dieses Kulturmuster leicht zu mobilisieren; für die Durchführbarkeit und die Verläßlichkeit von Befragungsverfahren zählt jedoch vor allem die Internalisierung dieses Musters ins individuelle Bewusstsein.“ 26 Badi (2008) liefert ein eindrucksvolles Zeugnis nicht nur dafür, dass der Wissenschaftler gegen das Misstrauen der beforschten Gruppe (Tuareg) kämpfen muss, sondern auch dafür, dass der Forscher seinerseits zum Objekt eines eingehenden „Verhörs“ seitens der Gruppe werden kann. 27 Am Beispiel der Biographie eines japanischen Töpfers illustriert Shingo Shimada (2008), wie sich hinter einem scheinbar willenlosen Subjekt ein selbstbewusstes und gelegentlich auch entscheidungsfreudiges Individuum verbergen kann. Die Lehre, die wir aus dieser Beobachtung ziehen, ist, dass man bei der Interpretation einer biographischen Erzählung nicht nur die semantischen Inhalte, sondern auch das in ihr implizit enthaltene und kulturell bedingte Erzählmuster berücksichtigen muss. 28 In der Kulturpsychologie betont dies heute insbesondere Ernst E. Boesch (1991, 2008).
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Der Kulturanalyse ist wenig gedient, wenn man die Handlungsdimensionen von Kultur, sozialer Struktur und Persönlichkeit nicht in Rechnung stellt, oder wenn man sie von vornherein subsumtiv in einer Hierarchie ordnet. Dieser Analyse ist ebenso wenig gedient, wenn man die Grundelemente von Kultur nicht voneinander unterscheidet, wenn man also kognitive, expressive und evaluative Symbole amalgamiert und sich dadurch der Möglichkeit beraubt, genau nachzuprüfen, welche dieser Dimensionen im konkreten Handlungsvollzug eine besondere Relevanz gewinnen. Den radikalen Relativismus in Schranken zu halten, bedeutet nachzuvollziehen, dass in allen Gesellschaften die Dimensionen des Handelns und die Grundelemente der Kultur mitwirken. Den Ethnozentrismus zu vermeiden bedeutet nachzuvollziehen, dass, synchron und diachron betrachtet, Gesellschaften die Dimensionen des Handelns und die Grundelemente von Kultur unterschiedlich organisieren.
Literatur Abel, Günter (1993): Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt: Suhrkamp. Bachmann-Medick, Doris (1993): Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen, Göttingen: Erich Schmidt. Badi, Dida (2008): „Distanzierung und ethnische Vereinnahmung. Die Erforschung oraler Tradition in der eigenen Gesellschaft“. In: Cappai, Gabriele (Hg.), Forschen unter Bedingungen kultureller Fremdheit, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 69–64. Beattie, John (1972), Other Cultures. Aims, Methods and achievements in Social Anthropology, London: Routledge/Kegan. Boesch, Ernest E. (1991): Symbolic Action Theory and Cultural Psychology, Berlin/Heidelberg/New York: Springer. Boesch, Ernest E. (2008): „Book Review Reply: On Subjective Culture. In Response to Carlos Cornejo“. Culture & Psychology 14, S. 498–512. Bourdieu, Pierre (1992): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Cappai, Gabriele (2000): „Kulturrelativismus und Übersetzbarkeit des kulturell Fremden in der Sicht von Quine und Davidson. Eine Beobachtung aus sozialwissenschaftlicher Perspektive“. Zeitschrift für Soziologie 29, S. 253–274. Cappai, Gabriele (2002): „Übersetzung in der Situation gesellschaftlicher Fragmentierung“. In: Renn, Joachim/Shimada, Shingo/Straub, Jürgen (Hg.), Übersetzung als Medium des Kulturverstehens und sozialer Integration, Frankfurt/M.: Campus, S. 215–236.
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DIE UNBEWÄLTIGTEN AUFGABEN DER KULTURFORSCHUNG
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GABRIELE CAPPAI
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Theoretische Positionen und methodologische Reflexionen
Das Vers te he n kultureller Unte rschie de. Relationale He rmeneutik und komparative An a l ys e in der Kulturps yc ho logie JÜRGEN STRAUB1 „‚Denken‘, ein weitverzweigter Begriff. Ein Begriff, der viele Lebensäußerungen in sich begreift. Die Denkphänomene liegen weit auseinander“ (Wittgenstein 1984a: 260; Abs. 220).
F o r t s c h r i t t e u n d Ak t u a l i t ä t d e s „ V e r s t e h e n s “ : Glimpses of the past Vor gut einem halben Jahrhundert hat Theodore Abel (1948) „The Operation called Verstehen“ einer wissenschaftstheoretischen Reflexion und Kritik unterzogen – und dabei gründlich missverstanden. In einer heute kaum mehr praktizierten Unbefangenheit betrachtete Abel das Verstehen als eine vermeintlich rein logische Denkoperation (Matthes 1992a), die er dem naturalistischen Forschungsprogramm nomologischer Wissenschaften einzugliedern gedachte. Das Verstehen bekam dabei eine marginale Rolle im explorativen Vorfeld empirischer Untersuchungen zugewiesen. Als eine besondere Form der Wahrnehmung sollte es lediglich der Identifikation des Gegenstandes und der Findung von Hypothesen dienen, aber keinen eigenständigen Status als spezielle und unabdingbare Erkenntnisform mehr beanspruchen dürfen. Dieser Anspruch, der in den traditionellen Debatten über das Verstehen stets er-
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Diese Abhandlung ist die leicht modifizierte Fassung einer zuerst in englischer Sprache erschienenen Version (Understanding Cultural Differences: Relational Hermeneutics and Comparative Analysis in Cultural Psychology, erschienen in: Straub, Jürgen/Weidemann, Doris/Kölbl, Carlos/Zielke, Barbara (Hg.) (2006), Pursuit of Meaning. Theoretical and Methodological Advances in Cultural and Cross-Cultural Psychology, Bielefeld: transcript, S. 163–213).
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hoben worden sei, könne aus guten Gründen ad acta gelegt werden. Das angeblich wissenschaftliche Verfahren sei, so Abel, abhängig von persönlicher Erfahrung und damit der Subjektivität des Forschers verhaftet, dessen bloße „Meinung“ es zum Ausdruck bringe. Es sei bar jeder Objektivität und nachgewiesener Gültigkeit. Das durch Verstehen geschaffene Wissen bestehe lediglich in Spekulationen darüber, was der Fall sein könne. Es beziehe sich auf bloße – häufig gleichermaßen plausible – Möglichkeiten, nicht aber auf erwiesene Tatsachen. Es füge unserem wissenschaftlichen Wissen im Übrigen nicht einen Deut neuer Einsichten hinzu, sondern erschöpfe sich in der Reproduktion des bereits Gewussten und Vertrauten. Das Verstandene wurde von Abel demgemäß als „misplaced familarity“ diskreditiert. Des Kritikers Schlussfolgerung liegt auf der Hand. Die von ihm ausgemachten Irrtümer und Grenzen „preclude the operation of Verstehen as a scientific tool of analysis“ (Abel 1948/1964: 186), und weiter: „The probability of a connection“ – und damit meint Abel einen kausal-deterministischen oder korrelativ-statistischen Zusammenhang, den jeder Akt des Verstehens angeblich voraussetze und mit dem er operiere – „can be ascertained only by means of objective, experimental, and statistical tests“ (ebd.: 188). Alle Varianten der obskuren Operation des Verstehens galten Abel und zahlreichen Kritikern vor und nach ihm als metaphysische und theologische Relikte. Bestenfalls waren sie psychologische oder „psychologistische“ Irrläufer, die in der (neopositivistischen) Wissenschaftslehre so gut wie nichts mehr zu suchen hatten. Giambattista Vico und Auguste Comte, Wilhelm Dilthey und Max Weber, James Cooley und Florian Znaniecki, Pitirim Sorokin oder R. MacIver und einigen anderen (wie etwa den Schülern Diltheys) wurde von Abel vorgehalten, viel Aufhebens um das „Verstehen“ gemacht und es als eine unerlässliche Methode der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften eingeklagt, jedoch allzu wenig zur systematischen Klärung dieses Verfahrens beigetragen zu haben. Dieser letzte Kritikpunkt war und ist keineswegs unberechtigt: „What, exactly, do we do when we say we practice Verstehen?“ (ebd.: 179). Abels zentrale Frage, die er um zwei, drei weitere Punkte ergänzte, ist noch heute willkommen. Er selbst versuchte sich an einer Antwort. Die allerdings fiel dürftig aus, so dass auch Abels schließlich gefälltes Urteil als verfehlt gelten muss. Das Verstehen wurde häufiger – so auch von Abel – auf die psychologische Version des empathischen Verstehens reduziert, manchmal kurzerhand mit diesem gleichgesetzt. (Wobei Abel, wie angedeutet, den Nachweis zu führen suchte, dass Empathie just jene deterministisch oder probabilistisch formulierten Gesetzmäßigkeiten voraussetze, mit denen das Verstehen eben operiere, deren Gültigkeit jedoch allein mittels experimenteller und statistischer Verfahren geprüft werden können.) Für Abel war klar: Verstanden werden muss, was sich nicht von selbst versteht, jedoch vollzieht sich 40
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dieses Verstehen sodann just durch den Rekurs auf Selbstverständlichkeiten, meist trivialer Art! Ganz ohne methodische Kontrolle bringe der Interpret nämlich seine je eigenen, persönlichen Erfahrungen ins Spiel, die er freilich mit einer variablen Anzahl anderer Menschen teile. Für diese Leute sind ihre Erfahrungen eben unhinterfragt gültig. Der Interpret betrachtet also, so Abel, was ihm zunächst unverständlich, jedenfalls interpretationsbedürftig erscheint, einfach im Lichte der ihm (und einigen Zeitgenossen) vertrauten Möglichkeiten. Er plausibilisiert das Verhalten anderer, eventuell fremder Personen, indem er sich durch analogisierende Übertragung des eigenen (alltagsweltlichen) Erfahrungswissens in diese einfühlt und hineinversetzt. Die Anderen oder Fremden werden wohl getan haben, was man selbst in derselben oder in vergleichbarer Lage eben auch getan hätte. Verstehen wird durch diese Art Empathie gesichert. Abel spricht ganz in diesem Sinne häufiger von „imagination“ (ebd.: 183). Verstehen wird durch das Imaginationsvermögen des Interpreten gewährleistet, kurz: durch eine in seinen eigenen Erfahrungen wurzelnde psychische Disposition, Fähigkeit und Fertigkeit, in empathischer Weise Analogien zu bilden. In der Psychologie trifft man immer noch auf diese Auffassung: Dem als „Verstehen“ ausgegebenen Akt der Einfühlung und Einbildungskraft kann zu Recht vorgehalten werden, er sei kaum klar bestimmbar und gäbe demzufolge für eine Logik und Methodologie erfahrungswissenschaftlicher Forschung nicht viel her. Diese Kritik war im Jahr 1948 nicht mehr ganz neu. Sie markierte auch keinen Endpunkt der Debatte (zu deren Geschichte s. Apel 1978; Riedel 1978; sodann Horstmann 2004; Scholz 2001; Schurz 1988, 2004). Vom einfühlenden Verstehen (und verwandten „psychischen“ Operationen, so etwa manchen Spielarten des „geistigen Nachvollzugs“; vgl. in Kürze: Schurz 2004: 156ff.) führt in der Tat kein nachvollziehbarer Weg zu Einsichten, die das Prädikat „wissenschaftlich“ verdienen. Im Gegenteil, ist doch gerade hier, im Feld der emotionalen und affektiven Begegnung, die Gefahr der Verkennung des Anderen und Fremden als vermeintlich Eigenes hoch. Dieses Urteil ist wohl kaum zu widerlegen.2 2
Am getroffenen Urteil über das empathische Verstehen kann m. E. selbst dann festgehalten werden, wenn man die Rolle von Gefühlen und Akten der Einfühlung für das Verstehen (von Texten, Textanaloga wie Handlungen, etc.) keineswegs völlig abstreiten möchte und diesbezügliche Reflexionen sogar als Desiderat einer zeitgenössischen Hermeneutik betrachtet, zumal einer psychologischen. Diesbezüglich käme der Mitleidsfähigkeit wohl eine Schlüsselrolle zu, wobei keineswegs vorausgesetzt werden muss, dass die verstehende Person exakt wissen, fühlen oder eben nachempfinden müsste, was das verstandene Subjekt in seiner pathischen Existenz am eigenen Leib erlitt und empfand, womöglich noch erleidet und empfindet. (Ludwig Wittgensteins Theorie des Fremdpsychischen verbietet ein derartiges Ansinnen; Wittgenstein 1984b: 293ff.) Verstehen ist niemals eine bloße Reproduktion der Lebenslagen und Ge-
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Zum „Seelenleben“ anderer, womöglich fremder Menschen gibt es bekanntlich keinen direkten Zugang. Hier versagen „introspection and selfobservation“ (Abel 1948: 184), so dass nur der von Abel (im Anschluss an Alexander 1935) unterstellte „emotional syllogism“ zu bleiben scheint. Der damit verwobene Analogieschluss jedoch läuft Gefahr, eher einer kurzschlüssigen „Projektion“ des Eigenen ins Andere und Fremde als einer reflektierten und geregelten Operation des Verstehens zu gleichen. Was Abel rekonstruiert und kritisiert, wird heute niemand mehr propagieren wollen. Die – etwa von Dilthey gemachte – Unterstellung einer allgemeinen geistigen oder seelischen Verwandtschaft, die einfühlendes Verstehen zwischen allen Menschen relativ umstandslos ermöglichen soll, hat sich längst als unhaltbar erwiesen.3
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fühle anderer Personen, sondern stets eine (an Sympathie gebundene) kreative Vergegenwärtigung solcher Situationen und Befindlichkeiten, eine Repräsentation also, die Neues schafft – im Bewusstsein und leiblichen Dasein des Verstehenden und vielleicht auch im Leben des verstandenen (und sich verstanden fühlenden) Mitmenschen. Diltheys geisteswissenschaftliche oder verstehende, beschreibende und zergliedernde Psychologie, die er in seiner berühmten Abhandlung aus dem Jahr 1894 der naturwissenschaftlichen oder erklärenden Psychologie schroff gegenüberstellt, ist sehr viel mehr dem Modell einer allgemeinen Psychologie und der Annahme universaler psychologischer Gesetze verpflichtet, als es die Rezeptionsgeschichte erkennen lässt. Das ist gerade für die heutige Kulturpsychologie von Interesse. Diese kann sich keinesfalls bruchlos in Traditionen wie etwa die geisteswissenschaftliche Psychologie einreihen. Sie unterscheidet sich von ihr wohl ebenso sehr wie von älteren und neueren Versionen der naturwissenschaftlichen, nomologischen Psychologie. Daran ändert die Tatsache nichts, dass Vertreter der geisteswissenschaftlichen Psychologie – z.B. der in der Psychologie und Pädagogik wohl einflussreichste Schüler Diltheys, Eduard Spranger (z.B. 1921) – ihren Ansatz ausdrücklich auch als Kulturpsychologie bezeichneten (vgl. dazu Straub 2003). Was Diltheys Schriften angeht, ist im vorliegenden Zusammenhang eine zu Lebzeiten des Autors niemals vollständig publizierte Arbeit mit dem Titel „Über vergleichende Psychologie“ (Dilthey 1895 und 1906/1957) besonders wichtig. Wie an anderer Stelle angemerkt (Straub 1999a: 337 ff.), erscheint dort jeder psychologische Vergleich völlig unproblematisch, weil für Dilthey das Seelenleben aller Menschen, ungeachtet aller manifester Variationen, im Grunde genommen einerlei ist. Ohne Einheit keine Vielheit. Bei Dilthey wirkt diese – wohlgemerkt: keineswegs unplausible Formel! – vorschnell beruhigend, weil sie Differenzen allzu zügig marginalisiert, den Vergleich bagatellisiert und alle psychologisch relevanten Unterschiede auf ein (zumindest im Wesentlichen) bekanntes Seelenleben „des“ Menschen bezieht (das in Wahrheit doch nur das eigene, introspektiv erfasste seelische Erleben ist!). Diltheys Psychologie ist zunächst einmal eine universalistisch angelegte Allgemeine Psychologie, auf deren Fundament sich dann erst über Differenzierungen sprechen lässt (z.B. in entwicklungspsychologischer, persönlichkeitspsychologischer Hinsicht). Was die vermeintlichen Universalien angeht, kennzeichnet Diltheys Denken – pars pro toto – just jene euro- oder nostrozentrische Voreingenommenheit, die die (nomologische) cross-cultural und die (verstehend-interpretative) cultural
DAS VERSTEHEN KULTURELLER UNTERSCHIEDE
Gerade erhebliche kulturelle Distanz kann diese Vorannahme zweifelhaft erscheinen lassen und das naiv unterstellte Fundament des empathischen Verstehens nachhaltig erschüttern. Die gestreuten Zweifel haben längst jeden Akt des Verstehens erfasst, allem voran die Bemühungen einer wissenschaftlichmethodischen Hermeneutik. Selbst wenn man davon ausgehen muss, dass auch die Psychologie an irgendwelchen universellen Gemeinsamkeiten im menschlichen Leben nicht vorbeikommt,4 bewahrt uns diese Annahme nicht vor den beträchtlichen Komplikationen beim Verstehen kultureller Unterschiede. Mit einem „Verstehen“, von dem Abel (ebd.: 185) sagt: „At best it can only confirm what we already know“, kann man sich allzu leicht blamieren, sobald man sich in wissenschaftlicher Absicht anderen, fremden Kulturen bzw. den Erfahrungen und Erwartungen, dem Erleben, Denken, Fühlen, Wünschen, Wollen und Handeln der dieser Kultur zugehörigen Individuen und Gruppen nähert. Kulturelle Differenz, Alterität und Alienität fordern, wenn Verstehen überhaupt möglich sein soll, Distanznahme gegenüber dem Eigenen. Das ist leichter gesagt als getan. Selbst wer die Vielfalt menschlicher Lebensformen als Variationen einer einheitlichen menschlichen Lebensform begreift – wie etwa Ludwig Wittgenstein nahe legt, wenn er den Begriff der „Lebensform“ sowohl im distinktiven Plural als auch im vereinheitlichenden Singular verwendet (Wittgenstein 1984; vgl. Liebsch 2001; Lütterfelds 1999) –, wird das Verstehen kultureller Unterschiede heutzutage als höchst anspruchsvolle Aufgabe betrachten. Doch was heißt hier nun „Verstehen“, wenn es sich nicht in Introspektion und Selbstbeobachtung, analogisierenden Übertragungen oder emotionalen Syllogismen, Empathie oder Einfühlung erschöpft? Was bedeutet es, heute von verstehender Psychologie zu sprechen und speziell die zeitgenössische Kulturpsychologie als eine interpretative, hermeneutische Wissenschaft aufzufassen? Sobald man die Rede vom empathischen Verstehen als eine eher nebulöse Variante aus einem breiten Spektrum an Vorschlägen identifiziert hat, geraten Wege des Verstehens ins Blickfeld, die für die Kulturpsychologie sehr viel attraktiver erscheinen. Solche alternativen Konzepte sind seit langer Zeit verfügbar. Dabei ist keineswegs bloß an Martin Heideggers (1927) „Hermeneutik der Faktizität“ zu denken, also an dessen „fundamentalontologische“ Bestimmung des Verstehens als „ursprüngliche Vollzugsform des Daseins, das
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psychology in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unisono attackierten (Boesch/Straub 2006; Straub 2001, 2003; Straub/Thomas 2003). Dieser Ausgangspunkt ist eine theoretische, logische und methodologische Notwendigkeit, wenn man hermeneutischen Übersetzungs- und Verstehensleistungen überhaupt eine Chance einräumen und nicht von vorneherein eine Absage erteilen, also zu voreingenommenen und reichlich lebensfernen Dogmen einer radikalen Inkommensurabilität Zuflucht nehmen will.
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JÜRGEN STRAUB
In-der-Weltsein ist“ (Gadamer 1986a: 264). Diese vor allem in der philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers fortwirkende, existenzialontologische Auffassung des Verstehens hat zwar unbestreitbar zu der heute weithin akzeptierten Vorstellung beigetragen, dass die Welt des Menschen grundsätzlich symbolisch verfasst und hermeneutisch vermittelt ist. Mit anderen Worten: Die menschliche Handlungs- und Lebenspraxis ist ohne unentwegte Akte der Deutung nicht denkbar. Sie ist hermeneutisch strukturiert – lange bevor das Verstehen als ein spezifisches Verfahren in den Wissenschaften bedacht und angewandt werden mag (vgl. Giddens 1976). Bei der Bestimmung des Verstehens als „Existenzial“ bzw. als lebenspraktische „Vollzugsform des Daseins“ kann der Sprache eine besondere Rolle zugeschrieben werden. Damit muss man die Bedeutung anderer, „präsentativer“ oder „vorprädikativer“ Symbolsysteme für das Verstehen keineswegs verkennen oder unterschätzen (zu dieser Unterscheidung s. Langer 1965). Heidegger und Gadamer begriffen das lebenspraktische Verstehen vorrangig als ein „Sichverstehen-auf“, wie es sich z.B. im versierten praktischen Umgang mit Dingen zeigt. Diese Auffassung war für das Selbstverständnis der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften und die Reflexion ihrer epistemologischen Besonderheiten wichtig (vgl. Grondin 1991). Für die methodische Regelung wissenschaftlicher Erfahrungs- und Erkenntnisbildung bzw. die Klärung eines Verfahrens brachte sie aber wenig. Die bereits durch Friedrich Nietzsches Polemik gegen alle „Tatsachen an sich“ vorbereitete Einsicht, welche die Sprache aus ihrer Dienerfunktion im Zeichen der Adaequatio intellectus ad rem befreite und den Blick für die „Interpretativität“ auch aller wissenschaftlichen Bemühungen schärfte,5 führte nämlich keineswegs zur Präzisierung des Verstehens als einer geregelten Methode, derer sich verschiedene Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften aus guten Gründen bedienen. Bekanntlich verfolgten Heidegger und Gadamer nicht zuletzt das Anliegen, dem für die (modernen) Wissenschaften konstitutiven methodischen Bewusstsein Grenzen zu ziehen (und damit die Wissenschaften selbst in ihren Befangenheiten und Beschränkungen zu reflektieren). Obwohl insbesondere Gadamer niemals die Notwendigkeit methodischen Vorgehens (auch) in den Geisteswissenschaften bestritten hat, lag der wesentliche Beitrag der philosophischen Hermeneutik nicht in der Klärung einer Methodik. Diesbezüglich waren nicht allein Arbeiten derjenigen relevanter, die Gadamer als Vertreter der „traditionellen“ Hermeneutik – man denke etwa an 5
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Darüber ist sich die (philosophische) Hermeneutik nicht nur mit ihrem einstigen Wegbereiter und bleibenden Verwandten, der Phänomenologie, sondern längst auch mit weiten Teilen der sprachanalytischen Philosophie der Gegenwart einig (vgl. z.B. Richard Rortys im Jahr 1979 vorgelegte Analyse der epistemologischen Leitmetapher „Spiegel der Natur“ oder Nelson Goodmans 1984 erschienene Reflexionen über „Weisen der Welterzeugung“).
DAS VERSTEHEN KULTURELLER UNTERSCHIEDE
Friedrich Schleiermacher, August Boeck, Gustav Droysen, Wilhelm Dilthey und dessen Nachfolger Georg Misch, Otto Friedrich Bollnow u.a. – in kritischer Absicht von seiner „philosophischen“ Hermeneutik distanzierte (Grondin 1991; Horstmann 1994). Bereits im 19. und im frühen 20. Jahrhundert mehrten sich nämlich Beiträge, die sich um dezidiert sozial- und kulturwissenschaftliche Konzeptionen des Verstehens bemühten und sich dabei (ebenfalls) von den klassischen Philologien abgrenzten. Sie zielten expressis verbis auf eine sinnverstehende Methodologie und Methodik der Sozial- oder Kulturwissenschaften. Dabei nahmen sie den Anspruch ernst, dass wissenschaftliche Rationalität nicht zuletzt in der Transparenz explizit geregelter Verfahren zu gründen habe. Ich erinnere kurz und wiederum zu exemplarischen Zwecken an die Arbeiten eines Max Weber, an die phänomenologische Soziologie eines Alfred Schütz oder an Karl Mannheims sog. genetische oder dokumentarische Methode der Interpretation, von der unten noch die Rede sein wird (vgl. dazu Bohnsack 1989, 1991, 2001, 2003a, b; Bohnsack/Nohl, in diesem Band), schließlich an die ebenfalls Bahn brechenden Ansätze, die pragmatistisches Gedankengut (eines Charles Sanders Peirce oder George Herbert Mead) aufnahmen und verarbeiteten, namentlich etwa an den symbolischen Interaktionismus (etwa von Herbert Blumer) oder die (später in Erscheinung getretene) Ethnomethodologie (z.B. von Harold Garfinkel; zum Überblick über einige der zuletzt genannten Ansätze s. den Sammelband der Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, 1981). Die ethnomethodologischen Ansätze stellten wohl am konsequentesten die erkenntnistheoretische Leitfrage von der bisherigen Was-Frage („was ist Gesellschaft“, „was ist kulturelle/soziale/psychische Wirklichkeit?“) auf die Wie-Frage um („wie werden Gesellschaft bzw. kulturelle/soziale/psychische Wirklichkeiten in der symbolischen Praxis der Handelnden hergestellt/stabilisiert/transformiert?“; vgl. dazu Bohnsack 2003b: 556ff.). Nicht vergessen werden sollte auch die Bedeutung der Psychoanalyse für die Entwicklung der sozial- und kulturwissenschaftlichen Hermeneutik. Um eine gewisse Integration verschiedener Ansätze bemühten sich verschiedene Autoren, seit den 1960er Jahren etwa Jürgen Habermas (z.B. in seinem 1967 erstmals erschienenen Literaturbericht zur „Logik der Sozialwissenschaften“). Das ist nun keineswegs schon die ganze Geschichte (wie man bereits dem erwähnten Literaturbericht entnehmen kann). Die wenigen Hinweise auf Positionen einer nicht nur traditionell geisteswissenschaftlichen, sondern auch dezidiert sozial- und kulturwissenschaftlichen Hermeneutik vermitteln ein sehr unvollständiges Bild jener Ausgangspunkte und Entwicklungen, von welchen auch die heutige Kulturpsychologie zehrt und weiterhin profitieren kann. Fortschritte beim „Verstehen des Verstehens“ verdanken sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts nämlich mehr und mehr auch einer philosophischen Strö45
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mung, deren zunehmende Konvergenzen mit den „traditionellen“, der „philosophischen“ und neueren (fachwissenschaftlichen) Hermeneutiken mittlerweile offenkundig sind. Gemeint ist die Analytische Philosophie, speziell in Gestalt jener Vertreter, welche bis heute an das Spätwerk Ludwig Wittgensteins (1984b) anknüpfen, insbesondere an dessen „Philosophische Untersuchungen“.6 Von dieser Seite wurden sprachphilosophische und wissenschaftstheoretische Arbeiten vorgelegt, die, häufig in Verbindung mit handlungstheoretischen Überlegungen, unmittelbar für eine Theorie, Methodologie und Methodik der hermeneutischen, interpretativen Wissenschaften relevant sind. Ihnen verdanken sich Präzisierungen des Verstehens, die bis heute zur ungebrochenen Aktualität dieses Begriffs und zur damit verwobenen Methodologie und Methodik interpretativer Wissenschaften beitragen. Die hier vertretene Konzeption einer handlungstheoretisch fundierten, textwissenschaftlichen Kulturpsychologie ist, ganz im Sinne Jerome Bruners (1990) oder Ernst Boeschs (1991), eine interpretative Disziplin, für die die hermeneutische Problematik des Sinnverstehens zentral ist (vgl. Rabinow/Sullivan 1979). Wie an anderer Stelle ausführlich dargelegt, kann eine Kulturpsychologie, die das sinn- und bedeutungsstrukturierte, kulturelle Handeln als paradigmatischen Gegenstand ihres Interesses begreift, von den handlungs- und sprachphilosophischen Beiträgen der um begriffliche und methodische Präzision bemühten Analytischen Philosophie erheblich profitieren (vgl. Straub 1999a; in Kürze 1997, 1999c; 2010a; Straub/Chakkarath 2010). Obwohl die fundamentalen Einsichten, die in den Bahn brechenden Arbeiten z.B. von Peter Winch (1958), Arthur Danto (1965) oder Georg H. von Wright (1971) entwickelt wurden, bereits in den vorangegangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten zumindest ansatzweise bekannt waren, sind entscheidende Fortschritte beim „Verstehen des Verstehens“, namentlich die Differenzierung und Formalisierung dieses so schillernden Grundbegriffs, diesen (und „geistesverwandten“) Autoren zu verdanken. Fortan war unübersehbar, dass das Verstehen nicht pauschal mit einem leidlich diffusen Akt der Einfühlung gleich gesetzt werden sollte. Es galt nun mehr und mehr als ein in klar unter6
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Solche Konvergenzen gibt es sogar mit jenen neueren Varianten, aus deren Perspektive auch Gadamers und noch Habermas’ Ansatz zur überlebten Tradition zu zählen und von einer „kritischen“ Hermeneutik z.B. in der Nachfolge Michel Foucaults oder Richard Rortys abzusetzen seien (vgl. Kögler 1992). – An anderer Stelle habe ich mich bemüht, das Potential einer pragmatistisch erneuerten sprachanalytischen Philosophie für die zeitgenössische Psychologie auszuloten. Dies geschieht insbesondere im Versuch, eine „Kulturpsychologie in pragmatischer Hinsicht“ von Immanuel Kants berühmter Anthropologie abzusetzen und dabei an die heute etwa von Hilary Putnam (1995) in faszinierender Weise wiederbelebte Tradition des Pragmatismus (eines John Dewey etwa, nicht zuletzt des großen Psychologen William James) anzuknüpfen (Straub 2010c).
DAS VERSTEHEN KULTURELLER UNTERSCHIEDE
scheidbaren Varianten rekonstruierbares methodisches Verfahren. Diese geregelte Operation schert zwar aus dem Modell der einst von Carl G. Hempel und Pauk Oppenheim (Hempel/Oppenheim 1948; Hempel 1942) formulierten Subsumptionstheorie der Erklärung aus, konnte deswegen aber keineswegs schon als „unwissenschaftlich“ disqualifiziert werden. Mit der wachsenden Kritik am Monopolanspruch der Subsumptionstheorie der Erklärung gerieten im Übrigen auch die Idee einer alle Disziplinen überwölbenden „Einheitswissenschaft“ und überhaupt eine bestimmte „neopositivistische“ Wissenschaftsauffassung ins Wanken. Die genannten Namen – Winch, Danto, von Wright – stehen für einflussreiche Beiträge, die allesamt dazu führten, dass man sich unter speziellen Varianten des „Verstehens“ oder „verstehenden Erklärens“ eine – genau wie im Fall der deduktiv-nomologischen und induktiv-statistischen Erklärung – exakt explizierbare, sogar schematisierbare und formalisierbare Prozedur vorstellen konnte (verwandte Auffassungen formulierten viele, in besonders einflussreicher Weise William Dray 1957). Diesen Autoren verdanken sich Präzisierungen jener Modelle, welche wir uns als regelbezogene, narrative und intentionalistische Erklärung zu bezeichnen angewohnt haben (Straub 1999a; die Schemata finden sich auf den Seiten 103/105/110/139/148). In der Psychologie wurde lange Zeit eigentlich nur das Modell der intentionalistischen (oder teleologischen oder zweckrationalen) Erklärung zur Kenntnis genommen. Diese Aufmerksamkeit verdankte sich der zunehmenden Verbreitung (einer bestimmten Spielart) handlungstheoretischer Ansätze auch in dieser Disziplin (z.B. von Cranach/Harré 1982; Groeben 1986; Werbik 1978, 1984; eine kurze, aktuelle Übersicht bietet Greve 2006; außerdem Straub 2010a). Da die Handlungstheorie in der von Aristoteles begründeten Tradition steht, lag es nahe, Handlungserklärungen zunächst einmal in Gestalt eines umgekehrten praktischen Syllogismus – wie er in den Schriften des Aristoteles analysiert wird – zu modellieren. Diesen Punkt produktiv ausgearbeitet zu haben, ist insbesondere das Verdienst von Wrights (1971; vgl. auch Mischel 1968). Das Modell der intentionalistischen (teleologischen, zweckrationalen) Erklärung bezieht sich allerdings, wie die Debatte schnell erwies, lediglich auf einen Typus menschlichen Handelns. Differenzierungen, die durchaus an ältere Vorbilder – wie etwa Max Webers (1965) berühmte Typologie (dazu Straub 1999a: 63ff.) – anknüpfen konnten, waren unausweichlich. Ein mögliches Resultat solcher Unterscheidungen, die zu einer pluralistischen Theorie der Handlungserklärung führen (Straub 1999a, 1999c), lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Sinn- und bedeutungsstrukturierte Phänomene – wie eben die paradigmatische Handlung – lassen sich durch die Rekonstruktion
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a) von inhärenten Intentionen (Absichten, Zielen, Zwecken etc.) und korrespondierenden Annahmen (Wissen, Glauben oder Meinungen) über die Zweckdienlichkeit einer (instrumentellen, strategischen, als Mittel eingesetzten) Handlung oder b) von dem Handeln jeweils zugrunde liegenden Regeln (insb. sozialen Normen und der sie fundierenden Werte) oder c) von Geschichten, die das Handeln in seiner eigenen temporalen Komplexität (Danto) bildet oder in die es eingebettet ist verstehend erklären. Mit anderen Worten: Dem intentionalistischen (teleologischen) Schema lässt sich das Schema der regelbezogenen und der narrativen hermeneutischen Erklärung zur Seite stellen. Sobald sich die Kulturpsychologie eines dieser Erklärungsmodelle bedient, bringt sie kollektive Wissensbestände ins Spiel, die das sinn- und bedeutungsvolle Handeln der an einer kulturellen Lebensform partizipierenden Akteure strukturieren und leiten. Die Struktur dieser Wissensbestände lässt sich nun genau angeben: neben kollektiven Wissens-, Glaubens- und Meinungssystemen, die sich auf Handlungsziele sowie auf (tatsächliche oder von den Akteuren unterstellte) Zweck-Mittel-Zusammenhänge beziehen, sind es eben Regeln oder aber Geschichten, die in einer Kultur geläufig und in einer Weise verbindlich sind, dass sie das Handeln der Einzelnen in „gleichsinniger“ Weise leiten, koordinieren und so zur sozialen Integration aller Akteure beitragen. Beispiele sind etwa: Wenn Menschen an einer kulturellen Lebensform teilhaben, zu der die Überzeugung gehört, dass „Regen“ durch ritualisierte, magische Handlungen dazu befähigter Personen „gemacht“ werden kann, werden die „Regenmacher“ auf der Grundlage dieser angenommenen Zweck-Mittel-Beziehungen zu gegebener Zeit zur Tat schreiten. Analoges gilt für Handlungen beliebiger Personen, die in einer Kultur gültige Regeln (z.B. des Zusammenlebens zwischen Mann und Frau) befolgen. Und es gilt für Handlungen, die erst im Zusammenhang kollektiv bedeutsamer Geschichten bedeutungs- und sinnvoll, mitunter nur im Lichte von (erzählten) Geschichten möglich erscheinen (man denke z.B. an Gründungsmythen einer Kultur oder an Narrative, die andere Aspekte des kollektiven Geschichtsbewusstseins betreffen). In der Rekonstruktion und Bezugnahme auf solche Wissens-, Glaubens- oder Meinungsbestände, die in den verschiedenen hermeneutischen Erklärungsmodellen eine jeweils spezifische Struktur und Funktion besitzen, und ihrer Integration in ein logisch-argumentatives Schema der verstehenden Erklärung (von Handlungen) verdankt sich, was wir – im Vergleich mit Abels Ausführungen wesentlich differenzierter und präziser – „operations called Verstehen“ nennen können. Der Begriff des Verstehens ist mithin ein Kollektivsingular. Seine Varianten dienen dem Verstehen 48
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und Erklären verschiedener Typen von Handlungen. Handlungsbegriffe und Modelle der Handlungserklärung sind interdependent und interdefinierbar. Warum haben die genannten Erklärungsmodelle gerade auch in der Kulturpsychologie ihren festen Platz? Es ist bekannt, dass insbesondere das intentionalistische Modell zunächst einmal dazu geeignet ist, den „subjektiv gemeinten Sinn“ einer Handlung zu erfassen (wie dies bereits der „frühe“ Wilhelm Dilthey, Max Weber und noch Alfred Schütz anstrebten). Allerdings kann bereits diese Variante, sodann auch das narrative Modell der verstehenden Erklärung von Handlungen (und Handlungsanaloga) den Rahmen des „subjektivistischen“, „individuozentrischen“ Denkens sprengen. Sie tun dies, wie angedeutet, wenn die Intentionen einer Person (ihre Absichten, Ziele, Zwecke) sowie die für zweckrationales Handeln unerlässlichen Annahmen über relevante Zweck-Mittel-Beziehungen als sozial konstituiert oder vermittelt aufgefasst werden. Dasselbe gilt für die im narrativen Modell zentralen Geschichten, die ein Akteur (oder Beobachter) erzählen mag, um das fragliche Tun und Lassen verstehend zu erklären. Der subjektivistische, individuozentrische Rahmen wird außerdem dann verlassen, wenn Intentionen (Absichten, Ziele, Zwecke etc.) oder Geschichten unmittelbar als kollektive und sozial bedeutsame Wissensbestände betrachtet werden. In diesem Fall gelten diese Wissensbestände als Grundlagen und Bestandteile einer kollektiven Praxis, in der Gruppen als Akteure fungieren oder aber Einzelne in ihrem für eine Gruppe typischen Verhalten, also als Stellvertreter derselben, betrachtet werden. Für das Modell der regelbezogenen Erklärung gilt ohnehin, dass es hier prinzipiell um kollektives Wissen geht (da eine Regel bzw. das Regelfolgen, wie Wittgensteins berühmtes „Privatsprachenargument“ zeigt, immer auf eine soziale Praxis bezogen ist; vgl. dazu z.B. Baker/Hacker 1980, 1984; Kripke 1987). Nicht zuletzt die Tatsache, dass die angeführten Modelle des verstehenden Erklärens auf kollektive Wissensbestände und Praktiken, Sprachspiele und Lebensformen Bezug nehmen können, macht sie gerade für die Kulturpsychologie überaus interessant. Denn womit sonst, wenn nicht mit kollektivem Wissen und der damit verwobenen Lebensform, zu der auch bestimmte Weisen zu sprechen, zu denken, zu fühlen, zu wollen und zu handeln gehören, sollte es die Kulturpsychologie zu tun haben? Wenn sich diese hermeneutische, interpretative Erfahrungswissenschaft damit befasst, was bestimmte Menschen als einer Kultur zugehörige Personen tun und lassen, was sie denken und empfinden, wünschen und ersehnen, vermeiden und befürchten, dann ist sie auf die Rekonstruktion und Analyse kollektiver Wissensbestände angewiesen. Kulturvergleichende Perspektiven sind an komparative Analysen jener Wissensbestände gebunden, welche kollektiven Lebensformen und Praktiken „inhärent“ sind. Ich komme darauf zurück. Generell lässt sich nun sagen: die Kulturpsychologie fasst die sie interessierenden Verhaltensweisen 49
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als acts of meaning auf, indem sie sie mit kollektiven Wissensbeständen der besagten Art in Verbindung bringt. Es handelt sich dabei um formal typisierbare Wissensbestände, denen in spezifischen, gleichermaßen elaborierten Modellen der Handlungserklärung jeweils eine Schlüsselrolle zukommt. Dabei ist klar, dass diese Modelle mit bestimmten Handlungsbegriffen „korrespondieren“ bzw. auf sie zugeschnitten sind. Bestimmte (begriffliche, theoretische) Typen von Handlungen verlangen bestimmte Formen der Handlungserklärung. Die hier interessierenden Typen der Handlung und Handlungserklärung sind allesamt dadurch gekennzeichnet, dass sie ohne Bezugnahme auf kollektive Wissensbestände nicht einmal im Ansatz zu erfassen wären. Von kulturellen Handlungen spreche ich genau dann, wenn deren Sinnund Bedeutungsstruktur durch die Bezugnahme auf solche Wissensbestände geklärt werden müssen (und nicht lediglich auf individuelle, persönliche Motive, Intentionen, Gründe, Überzeugungen, etc.). Man fasst dadurch eine Verhaltensweise als eine Handlung eines speziellen Typs auf und begreift sie zugleich als kollektiv verbreitetes und vertrautes Phänomen. Dabei wird man zwar berücksichtigen müssen, dass kulturelle Wissensbestände stets nur in der Gestalt subjektiver Repräsentationen handlungsleitend werden, also eine kreative, konstruktive „Aneignung“ durch das Subjekt voraussetzen. Dadurch erhält alles, was wir als Kultur bezeichnen (oder zu ihr zählen), eine „persönliche Note“; Kultur wird – aus der Sicht des Handelnden – stets zu „je meiner“ Kultur (vgl. Boesch 1991, 2008; Boesch/Straub 2006). Das ändert nichts daran, dass eben alle als kulturelle Handlungen aufgefassten Verhaltensweisen ohne die maßgebliche Rolle transindividueller, eben kollektiver Wissenssysteme nicht denkbar sind. Es ist offenkundig, dass die Unterscheidung zwischen „kulturellen“ und sonstigen Handlungen akzentuierend angelegt ist und es im Übrigen erlaubt, eine Verhaltensweise das eine Mal als kulturelle Handlung, das andere Mal (weitgehend) unabhängig von Bezugnahmen auf spezifisch kulturelle Wissensbestände eines Kollektivs aufzufassen, zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären. Das ist im Grunde genommen eine Frage des Forschungsinteresses und der damit verwobenen Perspektive. Das Verstehen hat sich dank der oben angedeuteten Fortschritte bis heute nicht überlebt. Die Hermeneutik steht nach wie vor hoch im Kurs. Sie hat sogar in Gefilden wie der Kognitionswissenschaft unerwarteten Auftrieb erfahren (vgl. Kurthen 1994; Varela 1990). Sie ist nicht zuletzt dort unverzichtbar geblieben, wo das Verstehen speziell von kulturellen Unterschieden auf der Agenda steht (Kögler 1992; Straub 1999b; Straub/Shimada 1999; einflussreich waren und sind teilweise noch die in methodischer Hinsicht problematischen, in der Regel auf der Ebene von „Nationalkulturen“ angesiedelten Arbeiten z.B. von Hall 1959; 1976; Hofstede 1993 oder Trompenaars/Hamp50
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den-Turner 1994; einführend Straub/Bartels 2007: vgl. auch die einschlägigen Beiträge in Straub/Weidemann/Weidemann 2007). Diese Aufgabe, die das traditionell stärker ausgeprägte (historische) Bemühen um die Übersetzung und Überbrückung zeitlich konstituierter Differenzen zwischen Lebensformen ergänzt, gehört seit einigen Jahrzehnten nicht allein zum Geschäft der Kulturpsychologie und kulturvergleichenden Psychologie. Sie steht längst im Zentrum zahlreicher Disziplinen, die sich heute als Kulturwissenschaften begreifen und auf eine interkulturelle Hermeneutik verpflichtet haben (vgl. Appelsmeyer/Billmann-Mahecha 2001; Jäger/Liebsch/Rüsen/Straub 2003; Nünning/Nünning 2003; Reckwitz 2000; zur Psychologie als Kulturwissenschaft s. Kramer 2003; Straub 2001, 2003, 2004; zur interkulturellen Hermeneutik s. etwa Göller 2000; Kögler 1992). Im Folgenden soll ein für die interpretative Handlungs- und Kulturpsychologie gangbarer Weg des methodischen Verstehens kultureller Unterschiede noch etwas genauer beschrieben werden. Dazu ist zunächst eine zumindest grobe Vorverständigung über den Begriff der Kultur und das in der Kulturpsychologie verfolgte Interesse an kultureller Differenz, Alterität und Fremdheit unumgänglich. Ich beschränke mich auf jene Aspekte, welche im vorliegenden Zusammenhang besonders wichtig sind (detaillierte Begriffsbestimmungen finden sich bei Straub 2007; s. auch Eagleton 2001). „Im vorliegenden Zusammenhang“ soll heißen, dass die ausgewählten Aspekte für die kulturpsychologische Analyse von Handlungen relevant sind. Handlungen übernehmen dabei eine exemplarische Funktion, stehen also pars pro toto, mithin für alle sinn- und bedeutungsstrukturierten Phänomene (z.B. auch Gefühle), auf die sich die psychologisch-interpretative Forschung ebenfalls richten und mit denen unser Handeln häufig sowieso untrennbar verwoben ist. Der Hinweis auf den Zusammenhang, in dem ein Begriff verwendet wird, ist nicht überflüssig, da sich mit wechselnden Kontexten die Zwecke der Begriffsverwendung und damit dessen Bedeutungen ändern. Die sog. Gebrauchstheorie der Bedeutung, die Wittgenstein zugeschrieben wird (vgl. Kenny 1972; Schulte 1989, 1990), bringt diese gerade in einer durch Multi-, Inter- und Transdisziplinarität gekennzeichneten Forschungslandschaft wichtige Einsicht klar zum Ausdruck. Das trifft für die bunten „cultural studies“ (im angelsächsischen Raum und deren Rezeption allerorts), die älteren und neueren „Kulturwissenschaften“ (in Europa, zeitweise insbesondere in Deutschland; vgl. Jäger, Liebsch/Straub/Rüsen 2004) sowie verwandte Unternehmen zu, in der sich alle möglichen Leute in wechselnden Perspektiven mit diesen oder jenen kulturellen Phänomenen beschäftigen. Eigentlich sollte man die Explikation der Bedeutung des theoretischen Begriffs der Kultur – wie jedes Begriffs – stets an solche konkreten Analysen bestimmter Phänomene binden. Für diese Regel gibt es noch einen weiteren Grund: „Never just theorize, but allow the object ‚to speak back‘“, schreibt 51
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Mieke Bal (2002: 18). Mit dieser metaphorischen Verwandlung beliebiger Objekte von Kulturanalysen in (Quasi-) „Subjekte“, welche aufnahmebereite, theoretisch und methodisch versierte Kulturwissenschaftler etwas zu lehren und sie zur Arbeit an ihren Begriffen zu „zwingen“ vermögen, verweist die Kulturanalytikerin auf die besagte Einsicht, dass nämlich die Semantik von der Pragmatik, die Bedeutung eines theoretischen Begriffs mithin von seinem zweckvollen Gebrauch bei der Analyse konkreter Phänomene abhängt. Bal bringt damit die alte phänomenologische Einsicht zur Geltung, dass sich die Phänomene unseren Begriffen niemals ganz beugen, ihnen also eine Widerständigkeit anhaftet, die die Wissenschaftlerin als „Widerworte“ zu artikulieren hat. Es ist schon richtig, wenn Bal als „professionelle Theoretikerin“ behauptet, „dass Theorie im Bereich der Kulturforschung nur dann Sinn haben kann, wenn sie in enger Interaktion mit den Objekten, um die es ihr geht, zum Einsatz gebracht wird“ (ebd.). Die auch für die Kulturpsychologie empfehlenswerte Methodologie der „grounded theory“ (Glaser/Strauss 1967; Glaser 1978; Strauss 1987) hat diese Einsicht längst aufgenommen (s.u.). Mit einer solchen phänomennahen Bestimmung des Kulturbegriffs kann ich hier indes nicht dienen. Ich muss es bei den gemachten Bemerkungen und dem Hinweis auf geeignete exemplarische Analysen belassen, die die folgenden Begriffsbestimmungen fundieren und konkretisieren, hie und da wohl auch zu Modifikationen und Differenzierungen Anlass geben könnten (vgl. z.B. Boesch 1998, 2000, 2005). Eines wird im Folgenden jedoch schnell deutlich werden: Mit einer kurzen Definition ist es im Falle des Kulturbegriffs nicht getan. Um Transparenz und Präzision müssen wir uns gleichwohl kümmern, wenn wir den Kulturbegriff nicht ganz zu einem modischen Etikett verkommen lassen wollen, das jeden wissenschaftlichen Nutzen verliert. Klarheit und Genauigkeit sind in diesem wie im Fall einiger anderer theoretischer Grundbegriffe der Sozial- und Kulturwissenschaften allerdings nicht mit der eleganten Kürze von knappen Definitionen zu verwechseln, die in einem Satz angeben, was gemeint ist. Es ist vielmehr so, dass die Bedeutung des Kulturbegriffs von der oben erwähnten Verwendung in einem speziellen Gebrauchszusammenhang abhängt, und dass dieser Zusammenhang (auch) in der Kulturpsychologie ein höchst komplexes Feld zahlreicher Unterscheidungen bildet. Der Begriff gehört zu einem weitläufigen Netz von aufeinander verweisenden, vielfach „interdefinierbaren“ Ausdrücken, die in ganz verschiedenen logischen Relationen zueinander stehen können – nicht bloß im Verhältnis von Gegensätzen, wie Bal (ebd.: 10), eine Lehre der poststrukturalistischen Kritik am Strukturalismus resümierend, zu Bedenken gibt. Von diesem pragma-semantischen Bedeutungsnetz, in das ein für die Psychologie nützlicher Begriff der Kultur eingebettet ist, wird im folgenden Abschnitt nur weniges entsponnen und entfaltet. Für den verfolgten Zweck sollte es genügen. 52
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„ K u l t u r “ u n d d i e An a l ys e k u l t u r e l l e r H a n d l u n g e n : T h e o r e t i s c h e u n d e p i s t e m o l o g i s c h e An n o t a t i o n e n „Kultur“ kann als soziale, wissensbasierte bzw. symbolisch vermittelte Praxis aufgefasst werden, die ihre Objektivationen und Objektivierungen mit umfasst. Im Unterschied zu den in psychologischer Perspektive „äußerlichen“ kulturellen Artefakten, die traditionell als Objektivationen bezeichnet werden – man denke an Dinge oder Apparate, Bauwerke, Straßen oder Plätze, an Kleidung oder eine Mahlzeit –, sind Objektivierungen die „in“ den Subjekten selbst verfestigten Spuren kultureller Praktiken.7 Als Beispiele für solche Objektivierungen können bestimmte psychosomatische Krankheiten und deren Symptome dienen, die nachweislich in manchen Kulturen auftreten, in anderen nicht oder kaum. Man spricht diesbezüglich etwa von „Zivilisationskrankheiten“ und verweist damit auf kulturelle Lebensformen, zu denen solche Krankheiten gehören und mit denen sie einen kohärenten, pragmasemantischen Sinnzusammenhang bilden. Beispiele für Objektivierungen sind auch kulturspezifische Dispositionen, in bestimmter, habitualisierter Weise zu denken, zu fühlen oder zu handeln. Solche Dispositionen werden im Prozess der Sozialisation, Enkulturation oder Akkulturation (dazu Berry 2005; zum Überblick: Sam/Berry 2006; kritisch: Weidemann 2007; auch Straub 2010b) erworben. Sie sind veränderlich, gleichwohl relativ stabile, integrale Bestandteile der psychischen Struktur von Personen. Kulturspezifische Dispositionen kennzeichnen typische psychische Strukturen einer variablen Mehrzahl von Personen. Diese teilten und teilen gewisse „konjunktive“ Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte miteinander (s.u.). Sie haben ein kommunikatives Wissen erworben, das der Verständigung, der Artikulation des eigenen Selbstund Weltverständnisses sowie der Handlungskoordination dient. Auch die vom kollektiven Gedächtnis8 – sowohl vom kulturellen als auch vom kommunikativen Gedächtnis – abhängigen Erinnerungen können in der Form von Dispositionen „verfestigt“ sein. In der Kulturpsychologie gilt der Konnex zwischen „Psyche“ und „Kultur“ als „innerer“, pragma-semantischer Zusammenhang: Psychisches ist kulturell konstituiert, wie umgekehrt Kultur in allen ihren Aspekten als Produkt menschlichen Handelns, also einer sozialen, kollektiven Praxis, aufzufassen
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Sie können deswegen auch „Subjektivierungen“ genannt werden. Diese Unterscheidung kann mit derjenigen zwischen Externalisierung und Internalisierung verknüpft werden, insofern kulturelle Handlungen sowohl externe als auch interne Folgen haben können: Sie schaffen oder gestalten die in Objektivationen gefasste äußere Kultur und verändern zugleich das Subjekt selbst, seine Wissensstrukturen und sein Handlungspotenzial, durch stets neue Objektivierungen bzw. Subjektivierungen (vgl. Eckensberger 1991: 13ff.). Zu dieser Unterscheidung s. Assmann (1992).
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ist (Boesch/Straub 2005; Miller 1997). Kultur und Psyche – man denke stellvertretend für die „Psyche“ stets an eine Handlung – verweisen aufeinander. Die Ausführung zahlreicher Handlungen – z.B.: „beim christlichen Ritual des Abendmahls eine Oblate verspeisen“, „ein Lamm schächten“, „Tennis spielen“, „Auto fahren“ oder „heiraten“ – setzt kulturelles Wissen voraus. Die an hermeneutische Leistungen, an Deutungs- oder Interpretationsakte gebundene Identifikation und Beschreibung solcher Handlungen ist ohne Bezugnahme auf kulturelles Wissen ebenfalls unmöglich. Dies verbietet es, Kultur als eine äußerliche Bedingung (der Entstehung, Entwicklung, Veränderung oder Manifestation) von Psychischem aufzufassen. Eine Kultur „bedingt“ oder „verursacht“ nichts im Sinne eines kausalen Wirkfaktors (etwa eine Handlung, deren Sinn und Bedeutung). Diese (in der nomologischen kulturvergleichenden Psychologie gängige) kausalistische Auslegung von Kultur unterstellt, dass sich Kultur und Psyche, mithin die symbolisch vermittelte Lebensform eines Kollektivs einerseits, das sinn- und bedeutungsstrukturierte Handeln einer dieser Kultur zugehörigen Person andererseits, als logisch voneinander unabhängige Sachverhalte bzw. diskrete Variablen begreifen lassen. Nur unter dieser Annahme kann deren Zusammenhang im Rahmen experimenteller oder quasi-experimenteller Untersuchungsdesigns als kontingente empirische Beziehung erforscht werden. Genau diese Annahme teilt die Kulturpsychologie nicht.9 Jede kulturelle Praxis ist in einem „konstitutiven“, „intrinsischen“ Sinn mit orientierungsstiftendem und handlungsleitendem Wissen verwoben (Straub 1999a; Zielke 2004). Das gilt für alle psychischen Phänomene, deren Entstehung, Entwicklung und je aktuelle Erscheinung unweigerlich kulturell „imprägniert“ ist. Häufig wird im interessierenden Zusammenhang implizites von explizitem Wissen unterschieden. Implizites, im engeren Sinne praktisches Wissen (Gadamer 1930; Giddens 1984; Polanyi 1962, 1969), zeigt sich in Fertigkeiten, in einem Können oder know how, das die Akteure benötigen, 9
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Zu den Schwierigkeiten, Kultur als Variable zu konzeptualisieren und kulturelle Bedingungen in experimentelle oder quasi-experimentelle Untersuchungsdesigns zu integrieren, vgl. wiederum die Hinweise – auch auf einschlägige Literatur – von Boesch und Straub (2005). Die bislang vorgenommene Bestimmung macht im Übrigen sogar die eingespielte Unterscheidung zwischen Kultur und Natur schwierig (keineswegs aber obsolet). Wenn kulturelles Wissen die Grundlage dafür bildet, dass wir „etwas“ – beliebige Phänomene – als etwas Bestimmtes auffassen, begegnen wir kaum mehr einer von kulturellen Leistungen unberührten Natur. Nicht allein, dass Menschen im Rahmen ihrer kulturellen Praxis Natur gestalten, so etwa den Wald oder ein sonstiges „Naherholungsgebiet“, das uns zu einem Ausflug in die „Natur“ einlädt. Sobald nämlich die Wahrnehmung zwischen Natur und Subjekt vermittelt, erscheint erstere, da Wahrnehmung so gut wie nie ein rein biologischer, sondern stets auch kulturell geprägter Vorgang ist, stets im Gewand kultureller Formen, Symbole und Reaktionsmuster.
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um an kulturellen Sprachspielen, Praktiken und Lebensformen teilhaben zu können. Sie sind dann imstande, im richtigen Moment das Richtige zu tun, Interaktionen durch sinnvolle Anschlusshandlungen fortzusetzen, Fragen zu beantworten, und sei es durch Gegenfragen, oder im Umgang mit Dingen Versiertheit zu demonstrieren. Implizites Wissen wird im Zuge der Teilhabe an kulturellen Lebensformen, also empraktisch, erworben. Es wird auf dem Weg wechselnder Erlebnisse „inkorporiert“ und bildet einen integralen Bestandteil einer Person, ihres (mit anderen geteilten) Habitus (wie Bourdieu z.B. 1976, sagt; vgl. Raphael 2004). Tacit knowledge erlangt man stillschweigend, indem man Erfahrungen macht, Widerfahrnissen ausgesetzt ist und handelnd zur Welt Stellung nimmt. Praktisches, atheoretisches Wissen ist, so erläuterte bereits Aristoteles den Begriff der empeiría (experientia, Erfahrung) und die daraus erwachsende Wissensform der phrónesis (prudentia, Klugheit), implizites Umgangswissen (vgl. Mittelstraß 1974; Schwemmer 1987; Straub 1989: 199–212). Wissen steigert das Handlungspotenzial einer Person (zu diesem Begriff s. Boesch 1991; Anwendungen dieses Begriffs finden sich z.B. in Boesch 1998, 2000, 2005). Es ist wichtig zu sehen, dass implizites Wissen den Wissenden selbst nicht bewusst ist. Es ist Bestandteil einer Praxis, nicht der Vorstellungen bzw. des Bewusstseins, das sich die Akteure von dieser Praxis machen. Bohnsack (z.B. 2003a, b) spricht diesbezüglich – im Anschluss an Karl Mannheim (1980) und die von ihm begründete dokumentarische Methode der Interpretation – von konjunktivem Wissen. Dieses gründet in geteilten Erfahrungsräumen und Erwartungshorizonten. Es ist dem Handeln implizit, den Handelnden aber weder bewusst noch einfach zugänglich. Diese „wissen etwas“ und können auf der Grundlage dieses impliziten Wissens kompetent handeln. Sie wissen aber nicht (genau), dass und was sie wissen. Exemplarisch und pointiert formuliert: Es sind die geübten Hände, die „wissen“, wie Beethovens Sonate Nr. 111 auf dem Pianoforte gespielt oder wie ein Handschlag ausgeführt wird, sei es zum Gruß, sei es als Zeichen eines Vertragsschlusses. Es ist nicht das Bewusstsein, sondern das Gesicht als Teil des Leibes, das „weiß“, wie man seiner Hochachtung oder Verachtung eines Mitmenschen mimisch Ausdruck verleiht, wie man den Anderen sein Begehren oder seine Abneigung, sein Vertrauen oder Misstrauen spüren lässt. (Dass wir hier häufig vom „Spüren“ reden, verweist ebenfalls auf den impliziten Charakter eines Wissens, das wir der präreflexiven und vorsprachlichen Vernunft handlungsfähiger Personen zuschreiben können; vgl. Pothast 1988). Die Erforschung impliziten, handlungsleitenden Wissens ist eine zentrale, vielleicht die zugleich schwierigste und wichtigste Aufgabe rekonstruktiver Forschung in den Sozial- und Kulturwissenschaften, einschließlich der Kulturpsychologie. Auch die Kulturpsychologie rekonstruiert konjunktive Wissensgrundlagen des praktischen Welt- und Selbstverhältnisses von Gruppen oder 55
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Personen sowie deren lebensweltliche Normalitätskonstruktionen. Sie muss das übrigens selbst dann tun, wenn sie an subjektiven Bedeutungen kultureller Lebensformen und Praktiken, Sprachspiele, Orientierungen und Handlungen interessiert ist. Solche subjektiven Eigenheiten – seien sie nun selbst wieder typisierbar oder aber unverwechselbar individuell und einzigartig – sind eben nur als „Besonderungen“ allgemeiner soziokultureller Muster zu erkennen.
Exkurs: Die normative Anerkennung von Normalität als Problem des Verstehens Bohnsack (2003b: 552) hebt hervor, dass nicht alle Ansätze qualitativer Forschung bzw. die sie fundierenden Hermeneutiken die große Vielfalt kultureller, sozialer und psychischer Normalitäten unhinterfragt gelten lassen mögen. Sowohl Gadamers philosophische Hermeneutik als auch Habermas’ Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik bieten Beispiele dafür. Gadamer (1985) sieht ein wirkliches Gespräch nämlich nur dort gegeben, wo sich ein Dialog im Grunde um die Sache dreht, um Wahrheitsansprüche im weitesten Sinn, nicht aber um ein (z.B. bloß psychologisches, soziologisches) Verstehen des Standorts und der Perspektive, der Welt und Weltanschauung des Gegenübers. Gadamers philosophische Hermeneutik darf zwar noch immer als vorbildlich gelten, insofern sie Unvoreingenommenheit und Offenheit gegenüber anderen, womöglich fremden Standpunkten und Sichtweisen zu hehren methodologischen Prinzipien erklärt und tatsächlich beachtet. Während sie sich auf diese Weise für das Erfahren von Erfahrungen Anderer und Fremder interessiert und dafür aufnahmebereit ist wie kaum eine zweite Hermeneutik (trotz unverkennbarer Beschränkungen: s. Kögler 1992; Straub 1999a: 250–279; Straub/Shimada 1999), rückt sie dennoch nicht den Gesprächspartner als solchen, sondern die im Gespräch verhandelte Sache selbst ins Zentrum. Sie dreht sich letztlich um die intentio operis, nicht um die intentio auctoris oder intentio lectoris; Straub 1999a). Wer in ein Gespräch verwickelt ist, ringt, was immer er sonst noch tun mag, um die bessere, vielleicht eine gänzlich neue Einsicht. Ähnlich verhält es sich bei Habermas (1981: 153ff.). Er bindet das Sinnverstehen auf der Grundlage seiner Theorie kommunikativen Handelns bekanntlich an die zumindest virtuelle Beurteilung der, wie er sagt, allen Handlungen und Äußerungen von Menschen inhärenten Geltungsansprüche (auf faktische Wahrheit, normative Richtigkeit, ästhetische Wohlgeformtheit oder subjektive Wahrhaftigkeit). Er geht weiterhin davon aus, dass das Fremdverstehen unweigerlich eine virtuelle Stellungnahme des Interpreten zu solchen Geltungsansprüchen erfordert, also Zustimmung oder Widerspruch, Affirmation oder Kritik erheischt. Das mag auf kaum merkliche Weise erfolgen, vermeidbar ist es nach dieser Auffassung nicht (vgl. Straub 1999b). Da56
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mit wird das Verstehen aufgrund theoretischer, universalistischer und rationalistischer Präsuppositionen an ein begründetes Urteil „in der Sache“ gebunden. Es besteht demgemäß nicht allein in der rekonstruktiven Analyse eines mit Normalitätsunterstellungen verknüpften Welt- und Selbstverhältnisses sowie seines praktischen Modus operandi. Festzuhalten ist, dass die besagte rekonstruktive Aufgabe in jedem Fall unabdingbar ist in der hier interessierenden empirischen Forschung – ungeachtet der Frage, ob zu diesem Zweck eigene normative Einstellungen in jeder Phase der Forschung komplett suspendiert werden müssen bzw. Geltungsansprüche einfach „eingeklammert“ werden können (wie Bohnsack 2003b: 552 es fordert). Egal, ob dies vollständig möglich oder tatsächlich notwendig ist (bis zum ersehnten Ende einer „soziogenetischen“ Interpretation der erforschten Lebenswelten), oder ob die normative Frage nach der „rational begründeten“ Anerkennung unweigerlich in die Problematik des Sinnverstehens in den Sozial- und Kulturwissenschaften hineinspielt, so ist und bleibt die rekonstruktive Analyse des praktischen Selbst- und Weltverhältnisses sowie des diskursiven Selbst- und Weltverständnisses kultureller Akteure das erste und wichtigste Ziel auch der Kulturpsychologie. Die skizzierte rationalitätstheoretische Problematik ist äußerst vertrackt, jeder Lösungsvorschlag höchst folgenreich. Wie schwer es ist, einen Weg zwischen der Skylla einer universalistischen und rationalistischen Verstehenskonzeption, die kaum mehr ist als ein verkappter Ethno- bzw. Eurozentrismus, und der Charybdis eines radikalen Relativismus, der nur eine Form rationalisierter Gleichgültigkeit gegenüber anderen, fremden Kulturen sowie ihren Denk- und Lebensformen ist, zeigt jeder nähere Blick schnell. So argumentiert Bohnsack, wie gesagt, dafür, die wissenschaftlichen Aufgaben der rekonstruktiven Sozialforschung und Kulturanalyse ausschließlich an die Beschreibung und Erklärung des handlungsleitenden Wissens bestimmter Gruppen zu binden, normative Fragen und etwaige Geltungsansprüche dagegen vollständig „einzuklammern“. Entsprechend konstatiert er nicht nur verschiedene Normalitäten, sondern auch damit korrespondierende Rationalitäten. Dies bedeutet nun aber nicht allein, dass wissenschaftliche Rationalität keine per se höhere Form menschlicher Vernunft repräsentiert. (Diese Bescheidenheit kann begrüßt werden, auch wenn man am Überlegenheitsanspruch wissenschaftlicher Erkenntnis gegenüber alltagsweltlichem Wissen festzuhalten gedenkt und dafür auch gute Gründe vortragen kann.) Es bedeutet darüber hinaus – und das ist nun durchaus fragwürdig –, dass man der wissenschaftlichen Praxis eine gegenüber beliebigen nicht-wissenschaftlichen Rationalitätsformen einfach nur andere Rationalität attestiert, die lediglich in der spezifischen Haltung des wissenschaftlichen Beobachters gründet (der sich, wenn er up to date ist, als „Beobachter zweiter Ordnung“ nur noch damit befasst, wie irgendwelche Leute ihre soziokulturelle oder psychosoziale Wirk57
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lichkeit „aushandeln“, „herstellen“, „reproduzieren“ oder „transformieren“. Aus dem Streit über Was-Fragen und der Diskussion über Geltungsansprüche, vor allem normativer Art, hält er sich heraus). Diese Aufgabenbestimmung besagt am Ende, dass gerade so viele Rationalitäten bestehen wie Normalitäten, und dass diese wie jene einfach hinzunehmen seien, weil nicht nur die Wissenschaft keinen hierarchisch höher stehenden Standpunkt einnehmen kann, sondern weil sich überhaupt nicht mehr verständlich machen lässt, wie für oder gegen einen Standpunkt oder eine Perspektive, eine Äußerung oder Handlung argumentiert werden könnte. Wenn überall Rationalität waltet, nur eben eine womöglich andere Rationalität – das gilt dann konsequenterweise auch für Handlungen, die manche als bizarre Symptome pathologischer Funktionsstörungen betrachten mögen –, ist sie nirgendwo mehr anzutreffen. Der Rationalitätsbegriff verliert unter dieser Bedingung seine Unterscheidungsfunktion. So sympathisch die „egalitäre“ Kritik an der voreingenommenen „Hierarchisierung des Besserwissens“ ist (Luhmann 1990: 510, zit. n. Bohnsack 2003b: 558), so fragwürdig ist die Preisgabe der Möglichkeit, Geltungsfragen auf der angesprochenen Ebene überhaupt rational behandeln und entscheiden zu können. Unter diesen prekären Voraussetzungen kann sich bekanntlich jeder hinter dem „Eigenen“ verschanzen, dieses als Abwehrsystem instrumentalisieren und sich gegen „fremde Einmischungen“ verwahren und immunisieren. Dies gilt nicht nur für Konstruktionen kultureller und sozialer Wirklichkeiten, sondern auch für das Selbst einer Person. Wer die Vielfalt gleichermaßen berechtigter und sogar gültiger Rationalitäten beschwört, verabschiedet nicht zuletzt die Möglichkeit einer am Anspruch auf Wahrhaftigkeit orientierten, psychologisch-therapeutischen Kritik. Er (oder sie) verwirft jedenfalls den universalen Gehalt des Konzepts der Selbsttäuschung, da nun ja jeder Vorwurf der Selbsttäuschung durch den Verweis auf eine „andere Rationalität“ entkräftet werden könnte. Er (oder sie) entledigt sich der Möglichkeit, zutreffende und irreführende, akzeptable und unannehmbare, also nicht einfach nur verschiedenen Rationalitäten verpflichtete Selbst-Konstruktionen zu unterscheiden (vgl. dazu Hacking 2001: Kap. 18). All das hat offenbar erhebliche Folgen, ja, einen hohen, allzu hohen Preis. Sobald die berechtigte und wichtige Forderung der rekonstruktiven Relationierung von Standpunkten, Perspektiven und Wissensbeständen dazu führt, alles Bestehende gleichermaßen anzuerkennen, forciert die Wissenschaft einen eigentümlichen moralischen Relativismus und Nihilismus (vgl. Cappai 2000). Sie schließt in diesem Fall wichtige Aspekte der Urteilskraft aus dem Prozess des Verstehens aus. Sie verschenkt mit der Möglichkeit der Kritik auch die Chance der Selbstkritik, mithin die Option, sich von Anderen und Fremden in einer Sache belehren zu lassen. Wie schwierig und heikel die Aufgabe der Kritik auch sein mag, sie lässt sich aus dem hier interessierenden 58
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wissenschaftlichen Verstehen häufig nicht vollständig eliminieren. Faktisch zeigt sich das nicht zuletzt an den impliziten normativen Gehalten von verwendeten theoretischen Begriffen. Dabei kann sich freilich niemand auf eine von vorneherein ausgemachte „Hierarchisierung des Besserwissens“ berufen. Etwas besser wissen wollen, bleibt gleichwohl ein Motiv des Verstehens. Dieses Motiv kann sich auf Geltungsfragen aller Art erstrecken. Manche wissenschaftlichen „Konstruktionen zweiten Grades“ (Schütz 1971, 1972) enthalten normative Elemente, mehr oder weniger leicht erkennbar. Sie sind etwas anderes als bloße, Geltungsfragen einklammernde Rekonstruktionen der Konstruktionen ersten Grades. Sie sind Bestandteil eines Dialogs, in dem sich die Gesprächspartner womöglich etwas zu sagen haben – auch wenn dafür der Standpunkt virtueller Überlegenheit eingenommen werden muss. Das gilt prinzipiell selbstverständlich für alle Beteiligten (trotz der verschiedenen und unvermeidlich asymmetrisch verteilten Rollen).10 Ich schließe den Exkurs und rekapituliere vergleichsweise unumstrittene Aspekte (auch) der kulturpsychologischen Forschung: Soziokulturelle Lebensformen, praktische Welt- und Selbstverhältnisse und damit verwobene psychische Dispositionen „verkörpern“ verschiedene Formen von (historischer) „Normalität“. Um diese analysieren zu können, muss die empirische Forschung an die Praxis und das Wissen der Akteure anschließen – meistens in Gestalt von Dokumenten dieses Wissens oder Protokollen dieser Praxis (wie etwa audiotechnische Aufzeichnungen alltagsweltlicher Gespräche oder Konversationen, Transkripte von Gruppendiskussionen oder Interviews, Zeichnungen oder Bilder, Beobachtungsprotokolle in Form von Fotos, Videos etc.). Kulturpsychologische Forschung erschöpft sich aber nicht darin, das Selbst- und Weltverständnis der Forschungspartner einfach zu übernehmen und zu reproduzieren. Die Rekonstruktion von subjektiv oder sozial gemeintem Sinn (dazu Groeben 1986) ge10 Wie schwer die vielfach empfohlene Einklammerung von Geltungsfragen ist, sieht man im Übrigen meistens leicht, wenn man empirische Befunde und daraus erwachsene theoretisch-begriffliche Unterscheidungen zur Kenntnis nimmt. Ich verweise exemplarisch auf die m.E. unübersehbare normative Imprägniertheit vermeintlich neutraler begrifflich-typisierender Differenzierungen, die klären sollen, wie verschieden türkische Jugendliche in Berlin praktische Regelungen des Verhältnisses zwischen der sog. „inneren“ und der „äußeren“ Sphäre treffen können (Bohnsack 2003). Es wäre leicht anzugeben, welche dieser in einem Vier-Felder-Schema präsentierten Varianten die Autoren „komplexer“, „sympathischer“, „eleganter“, „richtiger“ etc. finden, jedenfalls in einer Weise beurteilen, die nicht gerade von einer völligen Einklammerung oder Suspendierung von normativen Geltungsfragen zeugt (s. auch Nohl 2001). Zahllose Beispiele aus der kulturpsychologischen Forschung bietet etwa Boesch (1998, 2000, 2005), der, egal, ob er Texte oder Bilder oder Musik oder eigene Beobachtungen alltagsweltlichen Handelns interpretiert, seine praktische Vernunft und seine Urteilskraft auch im Hinblick auf die oben erwähnten Geltungsfragen bemüht (vgl. auch Straub 2005; Straub/Weidemann 2007).
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hört zwar zu den Zielsetzungen der Handlungs- und Kulturpsychologie, ist aber nicht deren einzig möglicher Zweck. Die Kulturpsychologie interessiert sich, wie ausgeführt, gerade auch für implizites, praktisches, habitualisiertes Wissen. Dieses Wissen ist, wie gesagt, weder subjektiv, noch bewusst oder ohne weiteres reflexiv zugänglich. Der Habitus ist „sozialisierte Subjektivität“ in Aktion (Bourdieu/Warrant 1996: 7). Er ist ein von den Subjekten empraktisch angeeignetes Dispositionssystem, das fortlaufend modifiziert, neuen Gegebenheiten angepasst wird und zugleich das Handeln, routiniertes ebenso wie kreatives, leitet. Vornehmlich auf solche habitualisierten, impliziten Wissensbestände richten sich z.B. die genetische oder dokumentarische Methode der Interpretation sowie verwandte Verfahren der interpretativen Forschung (s.u.). Diese Zielsetzung begründet den Anspruch, das praktische Selbst- und Weltverhältnis von Personen, die einem bestimmten Kollektiv zugehören, und nicht bloß deren diskursives, reflexives Selbst- und Weltverständnis rekonstruieren zu können. Kultur als wissensbasierte soziale Praxis umfasst selbstverständlich auch explizites, diskursives, kommunikatives, reflexives, propositionales Wissen. Dieses ist für die symbolische Praxis von Menschen, für deren orientiertes Handeln kaum weniger wichtig als das implizite. In hoch spezialisierter Form tragen auch die Wissenschaften zu diesem expliziten Wissen bei. (Bekannt ist, dass wissenschaftliche Erkenntnisse an die lebensweltliche Praxis adressiert werden und diese „kolonialisieren“ können; vgl. Habermas 1981). Als empirische Sozial- und Kulturwissenschaften tun sie das nicht zuletzt dadurch, dass sie das explizite und implizite Wissen der einer Kultur zugehörigen, an kulturellen Sprachspielen, Praktiken und Lebensformen partizipierenden Akteure methodisch zu „rekonstruieren“ trachten.11 Halten wir fest: Die Unterscheidung zwischen dem performativen Charakter praktischen Wissens und dem durch Bewusstheit und Artikulation gekennzeichneten Modus expliziten, diskursiven Wissens ist für die Erforschung kultureller Unterschiede, interkultureller Kommunikation und verwandter Phänomene überaus wichtig. Implizites Wissen lässt sich nicht abrufen, also etwa durch direkte Fragen in Erfahrung bringen. Es muss vielmehr durch die interpretative Analyse seiner praktischen Manifestationen, seiner Objektivationen und Objektivierungen, erschlossen werden. Explizites Wissen dagegen ist auch in wissenschaftlichen Kontexten relativ leicht abfragbar. Alles in allem läuft die wissenschaftliche Erfahrungs- und Erkenntnisbildung auf eine systematische Artikulation von Kultur als wissensbasierter so11 Die Rekonstruktion des impliziten Wissens geht dabei stets mit seiner Veränderung einher (Renn 2006). Sie ist keine bloße Artikulation eines ehemals stummen Wissens. Sie ist keine Repräsentation von etwas, von dem vorher keinerlei Bewusstsein und Vorstellung bestand, sondern eine Verwandlung praktisch fungierenden und deswegen impliziten Wissens in explizites, diskursives Wissen.
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zialer Praxis hinaus. Kulturelle Wirklichkeiten (exemplarisch wieder: Handlungen) sollen in klarer Bestimmtheit zur Sprache gelangen. Diese Bestimmtheit verdankt sich der Bezugnahme auf das explizite und implizite Wissen der an kulturellen Sprachspielen und Lebensformen teilhabenden Akteure. Die Übernahme der emischen, „indigenen“ Perspektive ist dabei notwendig, jedoch nicht hinreichend. Sie bedarf der Ergänzung durch etische Perspektiven.12 Bezogen auf das Ziel wissenschaftlicher Erfahrungs- und Erkenntnisbildung lässt sich nun präzisierend sagen: „Kultur“ ist nicht allein eine summarische Bezeichnung für eine wissensbasierte, symbolisch vermittelte soziale Praxis, ihre Objektivationen und Objektivierungen. Auf der Ebene expliziten Wissens ist dieser Begriff nämlich auch ein auf diese Praxis Bezug nehmendes oder referierendes, sie in jeweils selektiven Hinsichten rekonstruierendes Deutungs- oder Interpretationskonstrukt, das andere (psychologische) Deutungs- oder Interpretationskonstrukte spezifiziert, z.B. den Begriff der Handlung.13 Diese sehr abstrakte Definition verdankt sich zunächst einmal der trivialen Einsicht, dass Kultur selbst dann, wenn man sich lediglich auf ausgewählte Aspekte kultureller Wirklichkeiten und nicht auf ein womöglich unterstelltes „Ganzes“ namens Kultur bezieht,14 nicht objektivistisch reifizierbar und identifizierbar ist.15 Kulturelle Phänomene sind keine „Dinge“ und auch nicht „dingfest“ zu machen. Aus gutem Grund wurden essentialistische oder 12 Die viel zitierte Unterscheidung stammt von Pike (1954, 1967), der sie im Anschluss an die linguistische Abgrenzung der Phonemik von der Phonetik einführte und für die Methodologie der empirischen Sozial- und Kulturwissenschaften fruchtbar machte (vgl. Boesch/Straub 2006). 13 Vgl. Boesch (1991); Bruner (1990) und insb. Straub (1999: 19ff.), wo die der „interpretationistischen“ Philosophie von Lenk (1978, 1987, 1993) und Abel (1989, 1993) entnommenen Begriffe „Deutungs-“ bzw. „Interpretationskonstrukt“ erläutert werden. Alltagsweltliche Deutungen (Konstruktionen ersten Grades) unterscheide ich von wissenschaftlichen, selbstreflexiv strukturierten, systematischen und methodischen Interpretationen (Konstruktionen zweiten Grades; s.u.). 14 Man kann hier an Edward Tylors berühmt gewordene Definition erinnern, in der bekanntlich „Cultur oder Civilisation im weitesten ethnographischen Sinne“ bestimmt wird als „jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat“ (Tyler 1871: 1). Damit schließt Tylor nicht nur an in diesem Punkt vergleichbare holistische Konzepte an – denen Pufendorf und dann vor allem Johann G. Herder den Weg bahnten (Müller 2003) –, sondern führt diese Tradition in einer für die Ethnologie und Ethnographie, Kulturanthropologie ebenso wie die Soziologie und Psychologie wegweisenden Art fort (zur Kritik nicht zuletzt holistischer Kulturkonzepte und ihrer [vermeintlichen] Implikationen s. etwa Fuchs 2001; Reckwitz 2000; Welsch 1999: 45–72 ). 15 Zum genauen Sinn des Prädikators „objektivistisch“ s. Zitterbarth (1987: Kap. 1).
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substantialistische Kulturbegriffe in jüngerer Zeit ausrangiert und durch Alternativen ersetzt. Diese alternativen Begriffe gehen samt und sonders vom konstruktiven Charakter kultureller Tatbestände aus (Reckwitz 2000).16 Als konkrete, näher bestimmte kulturelle Tatbestände sind diese stets in Gestalt expliziten, diskursiven Wissens repräsentiert, mithin durch propositionale, prädikative Aussagen qualifiziert. Wissenschaftliche Erfahrungs- und Erkenntnisbildung zielt auf solche Bestimmungen ab. Kulturelle Sprachspiele, Lebens- und Handlungsformen etc. lassen sich in den Wissenschaften nur als sprachlich qualifizierte voneinander unterscheiden. Die „Intelligibilität“ ihrer Besonderheiten und Gemeinsamkeiten ist auf sprachliche Artikulation und Identifikation angewiesen. Eindeutigkeit und abschließende, definitive Bestimmungen sind dabei allerdings nicht erreichbar. Wie intentionale Handlungen, so stehen auch andere kulturelle Phänomene, um Elisabeth Anscombes (1957) berühmt gewordene Formel aufzugreifen, als qualitativ bestimmte Tatbestände notwendigerweise unter einer Beschreibung. Wie Handlungen, so können auch beliebige kulturelle Sprachspiele, Lebensformen, Praktiken und deren Objektivationen oder Objektivierungen jeweils, also in jedem einzelnen Fall, unter verschiedene Beschreibungen gebracht werden (also so oder anders identifiziert und repräsentiert werden). Beschreibungen, Identifikationen und Repräsentationen sind also in gewisser Weise unbestimmt, wenngleich nicht willkürlich. Im wissenschaftlichen Diskurs erfordern die besagten Beschreibungen, Identifikationen und Repräsentationen eine Bezugnahme auf die zu beschreibende, zu identifizierende und repräsentierende kulturelle Praxis, und diese „Referenz“ wird mit dem Anspruch auf Gültigkeit bzw. empirische Triftigkeit vorgenommen. Der
16 Dass wir Kultur nicht nur als ephemere symbolische oder symbolisch vermittelte Praxis und darauf bezogenes Interpretationskonstrukt auffassen, sondern sie auch in materiellen Gegebenheiten, genauer: in materialisierten Hervorbringungen dieser Praxis (z.B. in Gebäuden, Bildern oder Geräten) und in anderen „geronnenen“ Produkten (z.B. Institutionen) verkörpert sehen (s.o., wo von „Objektivationen“ die Rede war), ändert an der erwähnten Einsicht nichts. Kulturelle Wirklichkeiten sind als symbolisch, z.B. sprachlich bestimmte (bezeichnete, prädizierte, identifizierte, qualifizierte, beschriebene, verstandene, erklärte etc.) Phänomene stets hermeneutisch vermittelte Konstrukte oder diskursive Tatbestände (Matthes 1992e). Dies heißt, wie ausgeführt, nicht, dass kulturelle Wirklichkeiten ausschließlich im Modus sprach-symbolischer Konstrukte „gegeben“ sind und menschliches Denken, Fühlen, Wollen und Handeln bestimmen könnten. Kultur kann auch als implizites und speziell als inkorporiertes Erfahrungswissen leiblich Handelnder konzeptualisiert werden, wie zahlreiche Autoren nahe legen, von Friedrich Nietzsche über Maurice Merlau-Ponty und Helmut Plessner bis hin zu den neueren Ansätzen, sagen wir, eines Pierre Bourdieu oder Bernhard Waldenfels und einer Käte Meyer-Drawe, die den Leib als Ort von Erfahrung und Wissen auszeichnen.
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Begründung dieses Anspruchs dienen die unten vorgestellten methodischen Operationen. Wir können nun formulieren: Kulturen sind, zumal als explizite handlungsleitende Wissensbestände, Deutungs- oder Interpretationskonstrukte. Ihre diskursive „Vergegenständlichung“ ist prekär und dennoch unumgänglich. Prekär ist sie in mehrfacher Hinsicht und aus verschiedenen Gründen. Sie wirft bekanntlich eine ganze Reihe normativer Probleme auf. Diese wurden vor allem in der neueren Kulturanthropologie und Ethnographie, insb. im Rahmen der sog. „Krise der Repräsentation“ und der Writing culture-Debatte, eingehend behandelt (Clifford/Marcus 1986; Berg/Fuchs 1993). Dies geschah und geschieht unter macht- und herrschaftskritischen Vorzeichen, die den „Anderen“ oder „Fremden“ ein moralisches Recht auf – wie manche sagen: unbedingte – Anerkennung sowie ein politisches Mitspracherecht bei der „Repräsentation“ ihrer selbst zusprechen.17 Diese Rechte sind – nicht nur in den sog. Postcolonial studies oder indigenous psychologies – längst zum Stachel wissenschaftlicher Darstellungen von Anderen und Fremden geworden (Castro Varela/Dhawan 2005; Chakkarth 2007, 2010a, 2010b). Die „Vergegenständlichung“ kultureller Wirklichkeiten konfrontiert uns nicht allein mit normativen, moralischen und politischen Problemen sozialund kulturwissenschaftlicher Erfahrungs- und Erkenntnisbildung. Überzeugende epistemologische Argumente entziehen, wie angedeutet, allen objektivistischen Konzeptionen einer abbildtheoretisch modellierten Repräsentation von Tatsachen den Boden und fordern uns heraus, die sprachliche Bezugnahme auf kulturelle Wirklichkeiten anders zu denken, etwa in der von Paul Ricœur (1988, 1991) vorgeschlagenen Gestalt indirekter Referenz oder im Sinne von Hilary Putnams (1988, 1990) internem Realismus. Es ist hier nicht der Ort, solche komplexen philosophischen Begriffe der Bezugnahme zu erörtern. Die kurze Erinnerung daran mag jedoch hilfreich dabei sein, die ebenso verbreitete wie unhaltbare Vorstellung abzuwehren, konstruktivistische Epistemologien jedweder Provenienz unterliefen den erfahrungswissenschaftlichen Anspruch, in der empirischen Forschung und Erkenntnisbildung auf 17 Eine überzeugende Kritik dieses Anspruchs auf unbedingte Anerkennung von Anderen und Fremden (ihrer Handlungsweisen und sogar ihrer Sprachspiele und Lebensformen) findet sich bei Charles Taylor (1993; vgl. auch Straub 1999b). Er weist zu Recht darauf hin, dass diese Unbedingtheit impliziert, die Anderen oder Fremden bzw. die mit ihrem Sprechen, Handeln und Leben verwobenen Geltungsansprüche nicht ernst zu nehmen. Man beachtet und achtet andere nicht als Personen, wenn man sie unbedingt anerkennt, sondern behandelt sie gleichgültig, indem man alles und jedes als gleich „gültig“ betrachtet. Etwas oder jemanden von vorneherein, also ohne Auseinandersetzung als gleichermaßen wertvoll anzusehen wie beliebige andere Entitäten, bedeutet nicht Achtung und Anerkennung, sondern Vergleichgültigung im Zeichen einer herablassenden Generosität (die meistens noch aus akademischer Distanz praktiziert wird).
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Wirklichkeiten zu referieren und nach getaner Arbeit fallible Tatsachenbehauptungen zu formulieren, die sich von Fiktionen und fiktionalen Äußerungen systematisch abgrenzen lassen. Dieser Anspruch und seine Einlösung mag in den genannten Theorien komplexer und komplizierter gedacht werden als es abbildtheoretischen, objektivistischen Modellen lieb ist. Obsolet wird er dadurch nicht. Erfahrungswissenschaftliche Konstruktionen kultureller Wirklichkeiten sind keine bloßen Inventionen, die mit imaginativen Fiktionen einfach in einen Topf geworfen werden könnten. Solche Konstruktionen sind nicht beliebig, nur weil zwischen ihnen und der durch sie repräsentierten Wirklichkeit kein direkter Bezug im Sinne eines Abbildungsverhältnisses mehr behauptet wird (vgl. Hacking 1999). Das ist Sinn und Zweck von Ricœurs (ebd.) Auslegung des Begriffs der Repräsentation als Stellvertretung (vgl. auch Waldenfels 2008), womit sowohl die Vorstellung einer möglichen Identität als auch einer radikalen Differenz zwischen Repräsentant und Repräsentiertem, Signifikant und Signifikat, zurückgewiesen wird. Die unbestreitbare Tatsache, dass wissenschaftliche und literarische Sprachen und Praxen manches gemeinsam haben – wie etwa den Gebrauch metaphorischer Ausdrücke oder anderer Tropen, vielleicht auch die narrative Struktur mancher Texte –, war seit jeher ein schlechtes Argument für die Verwerfung der akzentuierenden Unterscheidung zwischen erfahrungswissenschaftlicher Prosa und fiktionaler Literatur sowie der Prozesse, die zu diesen unter genetischen und systematischen Gesichtspunkten doch auch so verschiedenen Textsorten und deren spezifischen Funktionen und Geltungsansprüchen führen (vgl. Straub 1993b). Der Rekurs auf kulturelle Wirklichkeiten begründet und spezifiziert, wie erwähnt, z.B. unsere Rede von sinn- und bedeutungsstrukturierten Handlungen. Solche Handlungen können wir in ihrer prozessualen Entfaltung, Abfolge und Interaktivität in sozialen, kommunikativen Situationen analysieren, um z.B. Verständigungsschwierigkeiten auf die Spur zu kommen, die sich in Missverständnissen und Irritationen, Konflikten und Krisen manifestieren mögen (bzw. dies bereits getan haben). Kultur fungiert dabei als ein explikatives und explanatives theoretisches Konstrukt, sobald wir Handelnde bzw. deren soziale, wechselseitig aufeinander bezogene Handlungen (Gedanken, Gefühle, Motive etc.) unter dem Gesichtspunkt differenter kultureller Zugehörigkeit analysieren. Kulturelle Handlungen werden in ihrer Sinn- und Bedeutungsstruktur erkennbar, wenn Interpreten sie mit kulturellen Wissensbeständen verknüpfen, in deren Licht interpretieren, beschreiben, identifizieren und repräsentieren. Diese Wissensbestände können, wie die Erforschung interkultureller Kommunikation, Kooperation und Koexistenz vielfach gezeigt hat, erheblich differieren und Inkompatibilitäten, praktische Krisen und Konflikte erzeugen (zum Überblick s. Lüsebrink 2005; Straub/Weidemann/Weidemann 2007). 64
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Es mag sein, dass die Handelnden kulturelle Differenzen selbst thematisieren, wenn sie in ihrer kommunikativen Praxis auf merkliche Hürden stoßen. Häufiger zeigen sie einander solche kommunikativ relevanten kulturellen Unterschiede bloß vage an. In derartigen Fällen können Forscher Äußerungen oder Hinweise aufgreifen und zum Ausgangspunkt ihrer weiterführenden empirsch-interpretativen Analyse interkultureller Kommunikation, Kooperation oder Koexistenz machen, einer Analyse jedenfalls, in der das methodische Operieren mit kultureller Differenz, Andersheit und Fremdheit im Zentrum steht. In anderen Fällen bringen die Forscher aus gänzlich eigener Initiative festgestellte kommunikative Auffälligkeiten (Missverständnisse, Konflikte, Krisen) mit kulturellen Unterschieden in Zusammenhang. Das bedarf eines „close reading“ der zu analysierenden Protokolle einer sozialen Praxis. Ebenso trivial wie wichtig ist die Feststellung, dass sich weder im einen noch im anderen Fall kommunikativ relevante kulturelle Differenzen ausmachen lassen, indem ausschließlich das in den als Interpretanda vorliegenden Texten (Transkripten audiovisuell aufgezeichneter alltagsweltlicher face-toface-Interaktionen etwa) artikulierte Wissen rekonstruiert und wiedergegeben wird. Egal, wie die theoretischen Ansätze auch heißen – kontrastive Pragmatik oder Theorie der Kontextualisierungshinweise in der (Sozio-) Linguistik, Theorie der Kulturdimensionen oder Kulturstandards in der Ethnologie und vor allem in der Psychologie, relationale Hermeneutik in der Soziologie und Kulturpsychologie, etc. –, sie arbeiten in ihren methodischen Analysen kultureller Unterschiede allesamt nicht bloß mit einem Wissen, das den empirischen Materialien, also den vorliegenden Untersuchungsgegenständen, einfach zu entnehmen wäre. Jede Forschung, die die Praxis von Menschen, deren Denken, Fühlen, Wollen und Handeln mit differenten, „inkompatiblen“ oder gar „inkommensurablen“ Weltansichten, Sprachspielen und Lebensformen in Zusammenhang bringt, bringt stets auch eigene, dem Forscher verfügbare Wissensbestände, Unterscheidungen und Bestimmungen ins Spiel. Deswegen sind Kulturanalysen, Kulturvergleiche und Untersuchungen kulturellen Handelns oder interkultureller Kommunikation, Kooperation und Koexistenz stets auch kulturelle Analysen. Interpreten tragen notwendigerweise vielfältiges Wissen an die Texte heran, die sie als Objektivationen einer wissensbasierten kulturellen oder interkulturellen Praxis untersuchen. Die Gewinnung und Mobilisierung dieses die Interpretation ermöglichenden und leitenden Wissens erfordert intertextuelle Bezugnahmen, wobei jeder zu diesem Zweck herangezogene Text und jedes intertextuelle Referenzsystem auf praktische Kontexte verweist, aus denen sich die für die Interpretation nutzbar gemachten Wissensbestände speisen und auf die sie bezogen bleiben.
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In der kulturpsychologischen Forschung rekonstruieren wir – der oben skizzierten differentiellen Typologie von Handlungsbegriffen und Modellen der Handlungserklärung folgend – vornehmlich Wissen, das • • •
kollektiv bedeutsame Ziele und Kenntnisse über zweckdienliche Mittel umfasst, handlungsleitende Regeln, insbesondere soziale Normen sowie die sie fundierenden Werte, Geschichten, die ebenfalls zu einer kulturellen Lebensform und den damit verwobenen Sprachspielen gehören: Auch sie prägen das praktische Selbst- und Weltverhältnis der einer Kultur zugehörigen Menschen, bestimmen deren kollektive Identität (zu diesem problematischen Begriff s. Straub 1998, 2004b) und prägen die Sinn- und Bedeutungsstruktur zahlreicher Handlungen mitunter maßgeblich.
Dieses typologisch differenzierte Wissen variiert kulturell, und mit ihm variieren alle sozialen und psychischen Phänomene, für die sich die Kulturpsychologie interessiert. Menschen denken, fühlen und handeln nicht zuletzt deswegen unterschiedlich, weil sich ihr implizites und explizites Wissen nur teilweise überlappt. Handelnde geben sich in ihrer sinn- und bedeutungsstrukturierten Praxis stets auch als Menschen zu erkennen, die an verschiedenen kulturellen Lebensformen und Sprachspielen kompetent teilzuhaben vermögen. Wie nun gehen wir vor, um solche Unterschiede in methodischer Weise zu erfassen?
K o m p a r a t i ve An a l ys e : D i e I d e n t i f i k a t i o n k u l t u r e l l e r Handlungen als methodische Operation im Zeichen vergleichenden Denkens „Kultur“ ist ein relationaler Begriff. Das ist eine mehrdeutige Bestimmung. Sie verweist nicht allein auf die im kulturellen Austausch verwurzelte Konstitution, Tradition und Transformation einer jeden Kultur (Burke 2000; Shimada 1994, 2000; in viel diskutierter normativer Perspektive: Said 1979). Diese Bestimmung schließt ebenfalls ein, dass das Verstehen kultureller Phänomene stets an Unterscheidungsmöglichkeiten des Verstehenden gebunden ist. Praktische, kulturelle Welt- und Selbstverhältnisse, egal, welche Aspekte gerade im Zentrum des Interesses stehen, lassen sich nur durch die Applikation und Explikation von Unterscheidungen erhellen, die dem Interpreten verfügbar sind. Dabei kommen immer auch dessen eigene „Sehepunkte“ (Chladenius), dessen „Weltansicht“ (Humboldt) oder „Weltbild“ (Wittgenstein) ins Spiel. Anderes und Fremdes erscheint auch jedem wissenschaftlichen Blick immer auch aus der Perspektive des „Eigenen“. Es ist nicht zuletzt in diesem Sinne 66
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relational strukturiert und als Übersetzung zwischen Sprachspielen und Lebensformen angelegt (zu sprachpragmatischen Theorien der „Kulturübersetzung“ vgl. Bachmann-Medick 1993; Renn/Straub/Shimada 2002; Renn 2006). Das heißt nicht zuletzt: Alle Bemühungen um Fremdverstehen sind an Vergleiche gebunden, die angestellt werden müssen, wenn über kulturelle und interkulturelle Phänomene überhaupt etwas Gehaltvolles soll gesagt werden können. Die sprachliche Benennung und qualitative Bestimmung eines beliebigen Sachverhalts, z.B. einer kulturellen Handlung, setzt Unterscheidungen voraus. Was wir als Gebet oder Opfergabe, als Musik oder bildende Kunst bezeichnen, grenzen wir von anderen Handlungen und deren Objektivationen und Objektivierungen ab. Die Grenzen mögen in manchen Fällen schwierig zu ziehen sein. In keinem Fall sind sie historisch und kulturell invariant. Auffassungen dessen, was wir als Kunst betrachten, ändern sich ebenso wie unsere Vorstellungen vom Religiösen oder von jenen Handlungen, die wir als Gewalt thematisieren, verwerflich finden, etc. Auch solche historischen Veränderungen vollziehen sich im Modus vergleichenden Denkens. Diese Einsicht ist trivial, gewiss. Weniger banal sind ihre Konsequenzen. Eine allgemeine Theorie, Methodologie und Methodik der komparativen Analyse kulturellen Handelns rückt den hermeneutischen Begriff des Vergleichshorizontes in den Fokus der Aufmerksamkeit. Auf der Grundlage der Unterscheidung verschiedener Typen von Vergleichshorizonten und deren Funktion für interpretative Analysen im Zeichen bestimmender und reflektierender Vernunft lässt sich darlegen, was wir eigentlich tun und wie wir vorgehen, wenn wir – von Einzelheiten abgesehen, die speziellen theoretischen Ansätzen und methodischen Techniken geschuldet sind – z.B. Handlungen untersuchen, um sie zu identifizieren, zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären. Was also ist eine interpretative Analyse, wie lässt sich das Interpretieren als methodisch geregeltes Handeln auffassen? Ich gehe im Folgenden weiter davon aus, dass es um die Analyse textuell vermittelter Phänomene geht. Man denke also z.B. an ein Transkript eines narrativen Interviews bzw. eine Erzählung, in der von vielerlei Ereignissen und Handlungen die Rede ist. Solche Repräsentationen also sollen näher bestimmt und analysiert werden.18 Die interpretative Analyse einer „protokollierten“ Praxis bzw. Handlung stellt eine komplexe Operation dar, die „Verstand, Gefühl, Einbildungskraft, Erfahrung und Erfahrungstätigkeit […] nachhaltig fordert“ (Schutte 1990: 6). Das teilt sie mit jedem Akt des Lesens und Verstehens. Als wissenschaftliche Interpretation bezeichne ich ein in absichtsvoller und bewusster Einstellung 18 Ich fasse hier zusammen, was anderswo ausführlicher entfaltet wurde (Straub 1999a: 201ff.). Beispiele aus der empirischen Forschungspraxis bieten etwa die – verschiedene Methoden einsetzenden – Studien von Arnold (2009), Kölbl (2004), Straub (1993a) oder Weidemann (2004).
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realisiertes, explizites, methodisch kontrolliertes, auf Transparenz und intersubjektive Zustimmungsfähigkeit angelegtes Bemühen um das Verstehen von Texten bzw. Textanaloga wie Handlungen und anderen praktischen oder pathischen Aspekten der menschlichen Existenz. Interpretationen werden in sog. handlungsentlasteten Situationen ex post facto vorgenommen, also dann, wenn die interessierenden Handlungen schon ausgeführt sind und die zu interpretierenden Texte vorliegen (Soeffner 1989a, 1989b; Straub 1989: 213ff.). Wissenschaftliche Interpretationen sind selbstreflexiv strukturierte Deutungen. Sie weisen die Grundlagen, die sie fundieren, und die Gründe, die sie rechtfertigen, ebenso aus wie die im Einzelnen zur Anwendung gelangenden Verfahren – soweit dieses Ziel eben erreichbar ist. Jede Forderung nach Transparenz stößt auch in der wissenschaftlichen Praxis an ihre Grenzen, da niemals das gesamte Wissen, das Interpreten ins Spiel bringen, expliziert werden kann. Dennoch gilt: Interpretationen versuchen, die arbiträren Züge alltagsweltlicher Deutungs- und Verstehensleistungen methodisch zu kontrollieren. Um den Vorgang der Interpretation genauer zu klären, stütze ich mich unter anderem auf Überlegungen von Bohnsack (1989: 343ff.; 1991: 127ff.; 2003b; 2005; Bohnsack/Nohl, in diesem Band), die ich allerdings differenziere und erweitere (wodurch sich auch die Terminologie ändert). Bohnsack schließt seinerseits an Arbeiten Mannheims (1952, 1964, 1980), speziell an dessen dokumentarische Methode der Interpretation an. Die folgenden Erläuterungen können nicht zuletzt als Präzisierung der Methodologie der komparativen Analyse gelesen werden. Diese Methodologie zielt auf wissenschaftliche „Konstruktionen zweiten Grades“ in Gestalt von Typisierungen, die ihrerseits in Typiken und Typologien eingebunden werden (in Kürze: Bohnsack 2003b: 567; ausführlicher Bohnsack 1989; 2001; 2003; Nohl 2001a; Straub 1993a). Interpretative Forschung ist auch in der Kulturpsychologie an das systematische Programm einer typologischen Erfahrungs- und Erkenntnisbildung gebunden.19
19 Das hat weder theoretisch noch methodisch und forschungspraktisch etwas mit den Verfahren und Zielen überholter psychologischer Typenlehren gemeinsam (wie sie etwa in der zu Recht kritisierten Charakterologie gängig waren). Zu einem zeitgemäßen Pogramm typologischer Erfahrungs- und Erkenntnisbildung, das gegen den Monopolanspruch des nomologischen Modells sowie die seit jeher irreführende Alternative zwischen nomothetischer und ideographischer Forschung gerichtet ist, s. auch Gerhardt (1985, 1986) oder Kelle (1994). In der Psychologie ist die Gegenüberstellung zwischen ideographischen und nomologischen (bzw. nomothetischen) Ansätzen noch immer sehr beliebt, wobei erstere als Erforschung des Individuellen begriffen werden, letztere auf die Erkenntnis des Allgemeinen zielen. Wenn diese verfehlte Gegenüberstellung dann auch noch mit der Unterscheidung zwischen qualitativen und quantitativen Methoden verknüpft wird, entsteht das anachronistische Zerrbild einer „qualita-
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Interpretative, sequentielle Analysen lassen sich in struktureller und prozessualer Hinsicht in verschiedene Komponenten gliedern. Elementar ist die Unterscheidung zwischen zwei Schritten des Verstehens, die ich als formulierende und vergleichende Interpretation bezeichne. Letztere kann ihrerseits als bestimmende und reflektierende Interpretation differenziert werden (s.u.). Die Durchführung dieser Interpretationsschritte setzt einige schlichte Vorbereitungsschritte voraus, die hier nicht im Einzelnen beschrieben werden müssen. Man denke z.B. an die Segmentierung des vorliegenden Textes (Transkriptes) nach inhaltlichen oder formalen Kriterien (z.B. Eintritt eines neuen Ereignisses; z.B. Sprecherwechsel), an die Erstellung von Übersichten über die jeweils behandelten Themen oder die Zusammenstellung eines auf ein bestimmtes Thema fokussierenden Textkorpus, etc.20 Die formulierende Interpretation abstrahiert vom zu interpretierenden Text so wenig wie möglich. Sie schafft ein erstes Verständnis des vorliegenden Textes bzw. abgegrenzter Segmente und einzelner Äußerungen in ihrem fortlaufenden Zusammenhang. Sie ist eine Art Paraphrase. Der Interpret gibt, indem er formulierende Interpretationen ausarbeitet, in Stichworten oder ausführlicheren Sätzen an, wovon in den einzelnen Segmenten die Rede ist. Die Ausführlichkeit, mit der solche Paraphrasen formuliert werden, richtet sich nach der Relevanz der jeweiligen Segmente. (Darüber befindet die Urteilskraft des oder der Interpreten.) Die ausführlicher paraphrasierten Segmente werden später vergleichenden Interpretationen unterzogen (s.u.). Insbesondere diese Segmente gehen also in die komparativen Analysen und die Konstruktion von Typisierungen, Typiken und Typologien ein. Wichtig ist: Das zentrale Merkmal der formulierenden Interpretation besteht darin, dass der Interpret möglichst unmittelbar an den gegebenen Text anschließt und sich innerhalb des Erfahrungsraums und Erwartungshorizontes, mit anderen Worten: innerhalb des Zeichen-, Wissens- und Orientierungssystems des jeweiligen „Informanten“ bewegt. Dessen Äußerungen werden wiedergegeben, eventuell zusammengefasst und verdichtet. Die formulierende Interpretation ist offenkundig ein reproduktives Verstehen des Selbst- und Weltverständnisses des Akteurs, sie ist „eine Art Interpretation, die sich innerhalb des Rahmens […] derjenigen bewegt, deren Handeln und deren Texte Gegenstand der Interpretation sind. Deren Erwartungssystem […] wird nicht tiven Forschung“, die lediglich mit der Individualität von Individuen oder anderen „einzigartigen Einzellfällen“ befasst ist, zu allgemeinen Erkenntnissen aber niemals vordringen kann. Die im Folgenden skizzierten Interpretationsschritte zielen dagegen auf begründete Verallgemeinerungen in Gestalt von Typisierungen und Typiken ab. 20 Über solche „handwerklichen“, eher „technischen“ Angelegenheiten geben zahlreiche Lehr- und Methodenbücher hinreichend Auskunft (z.B. Deppermann 1999; Deppermann/Lucius-Hoehne 2002; Flick/von Kardoff/Steinke 2005; Lamnek 1995; Mayring 1990; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008; Strauss 1987).
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transzendiert oder als solches thematisiert“ (Bohnsack 1989: 343). Durch die formulierende Interpretation wird also nichts Neues gesagt, kaum etwas jedenfalls, was der Sprecher nicht schon selbst zur Sprache gebracht hätte. Die formulierende Interpretation ist dennoch ein wichtiger methodischer Schritt des Verstehens, weil sie eine direkte Verbindung zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und den textuell vermittelten Handlungs-, Selbst- und Weltverständnissen der Forschungspartner knüpft. Dieser Schritt macht nachvollziehbar, wie man von den alltagsweltlichen Konstruktionen ersten Grades zu den angestrebten wissenschaftlichen Konstruktionen zweiten Grades gelangt. Die reproduktive Prozedur der formulierenden Interpretation kann von der stärker produktiven oder kreativen, vergleichenden Interpretation unterschieden werden. Durch diesen extensiven Analyseschritt werden die detailliert reformulierten Segmente einer weitergehenden Betrachtung unterzogen. Häufig sind es nicht bloß einzelne Segmente, sondern mehrere aufeinander folgende oder aufeinander beziehbare Segmente, die nun bestimmte Erfahrungs-, Erwartungs-, Deutungs-, Orientierungs-, Handlungs- oder Entwicklungsmuster erkennen lassen. Die vergleichende Interpretation baut also auf der formulierenden Interpretation auf, erweitert und vertieft diese jedoch erheblich. Dies wird im Wesentlichen dadurch erreicht, dass nun, wie der Name dieses Interpretationsschrittes anzeigt, komparative Perspektiven ganz ausdrücklich eine zentrale Funktion erhalten. Einzelne Äußerungen oder Textpassagen werden also dadurch genauer verstanden, dass sie auf andere Äußerungen und Textpassagen bezogen werden. Sie werden im Prozess des vergleichenden Bedenkens als symbolische Gebilde mit jetzt präziser explizierbaren Sinn- und Bedeutungsgehalten erkannt. Vergleichende Interpretationen sind konstruktive semantische Operationen, die die Sinn- und Bedeutungsgehalte von Äußerungen durch Bezugnahme auf andere Texte bzw. Textteile erschießen. Prädikationen, Identifikationen, Reidentifikationen, Unterscheidungen, Relationierungen und die Konstruktion von Sinn- und Bedeutungszusammenhängen sind nur auf der Basis vergleichenden Interpretierens möglich. Glaser und Strauss (1967; Glaser 1978; Strauss 1991) bringen dies treffend zum Ausdruck, indem sie ihren Forschungsansatz und ihre Forschungstätigkeit kurzerhand als komparative Analyse bezeichnen. Kulturelle Wissensbestände werden im Zuge vergleichender Interpretationen durch die kognitive Konstruktion von bedeutsamen Relationen zu anderen kulturellen Wissens- oder Erkenntnisbeständen verstanden.21 Ein gegen21 Von Wissen ist hier wiederum in einem sehr weiten Sinn die Rede. Der Ausdruck umfasst erneut (a) wissenschaftliche Erkenntnisse und alltagsweltliches Wissen im engeren Sinne, also alle rational begründbaren, mit argumentativ einlösbaren Geltungsansprüchen verwobenen Aussagen und Aussagensysteme, (b) den Glauben, der dem Gläubigen allein subjektive Gewissheit verschafft und (c)
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über den Ergebnissen der formulierenden Interpretation vertieftes Verständnis von Äußerungen bzw. den dadurch repräsentierten Sachverhalten wird nun dadurch erreicht, dass diese durch den Vergleich mit pragma-semantisch relevanten Gegenhorizonten erschlossen werden. Im Licht kontrastiver Vergleichshorizonte gelangt die komparative Analyse sukzessive zu immer reichhaltigeren Bestimmungen der Interpretanda bzw. Komparanda. Solche Bestimmungen bilden den Kern einer unweigerlich relationalen Hermeneutik. Die sukzessive Verwendung von Gegenhorizonten ermöglicht Differenzierungen, zunächst oft in Gestalt binärer Oppositionen, sodann in der Form subtilerer und komplexerer sprachlicher Unterscheidungen oder weit verzweigter pragma-semantischer Verweisungssysteme. Dabei lassen sich die getroffenen Unterscheidungen nicht einfach nur treffen, sondern auch selbst thematisieren und reflektieren. Interpreten können sich, mit anderen Worten, beim Unterscheiden beobachten und ihre Differenzierungen als eine unter mehreren Alternativen getroffene Wahl ausweisen und begründen. Generell sollten die in die Interpretation eingehenden Vergleichshorizonte möglichst explizit eingeführt, also in einer methodisch kontrollierten und intersubjektiv nachvollziehbaren, mithin kritisierbaren Weise verwendet werden. Von den Vergleichshorizonten, die dem Interpreten (oder der Interpretationsgruppe) verfügbar sind, hängt so gut wie alles ab. Kreative Interpretationen sind niemals frei von Kontingenz. Sie gründen in vielfältiger Weise im Wissen des (oder der) Interpreten. Über diese Abhängigkeit kann man sich Klarheit verschaffen. Genau an diesem Punkt liegt die Stelle, an der Vernunftansprüche auf methodische Transparenz ihren Platz haben, geltend gemacht oder zurückgewiesen werden können. Unweigerlich kontingente Momente in der wissenschaftlicher Praxis dürfen nicht mit bloßer Willkür verwechselt werden. Willkür ist vermeidbar, Kontingenz nicht (jedenfalls nicht vollständig). Interpreten handeln unweigerlich auf der Grundlage unterschiedlicher Wissensbestände. Auch ihre Kreativität und Phantasie, ihre Imaginations- und Urteilskraft, ihr logisches Vermögen, beim Interpretieren deduktive, induktive oder abduktive Schlüsse zu ziehen, sind nicht hintergehbare Aspekte ihrer Person, ihrer Subjektivität, mithin ihres Handlungspotenzials. Wir operieren als Forschende stets auf einer Erfahrungs- und Wissensgrundlage, die in der soziokulturellen Praxis tradiert, von uns angeeignet wurde und auch in anderer Weise im je eigenen Leben verankert ist. Diese Grundlage ist in ihrer Totalität weder artikulierbar und reflektierbar noch suspendierbar. Teilweise entzieht sie sich dem Zugriff unserer Vernunft, unserer Begründungskompetenz und methodischen Kontrolle. Rationale Verfahren bloße Meinungen, für die keinerlei Geltung beansprucht wird bzw. nachgewiesen werden kann.
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sind und bleiben ein wichtiges, aber stets auch unerreichbares Ideal. Methodische Rationalität ist eine regulative Idee und nützliche Vorschrift, die wir stets nur teilweise einzuhalten vermögen. Dies ist schon deswegen so, weil selbstverständlich auch Forschende auf der Basis ihres impliziten Wissens handeln (müssen). Vergleichshorizonte dienen der „minimalen“ Differenzierung oder „maximalen“ Kontrastierung. Sie können einander sehr ähnliche Phänomene ausmachen oder aber solche, die starke Kontraste bilden. Unter bestimmten Gesichtspunkten Ähnliches oder annähernd Gleiches typisieren wir als solches, bezeichnen und beschreiben es in derselben Weise. Wir subsumieren es unter einen Typus, den wir von anderen abgrenzen. Thematisch relevante Typen – etwa solche, die sich auf kultur-, generations-, geschlechts-, milieu-, bildungs-, personspezifische Besonderheiten beziehen –, bilden zusammen eine Typik (Kultur-, Generations-, Geschlechts-, Milieu-, Bildungs- oder Personentypik). Eine Mehrzahl von aufeinander bezogenen Typiken wird als Typologie bezeichnet. Um in der interpretativen Forschung zu Vergleichsmöglichkeiten zu gelangen, kann, wie angedeutet, auf verschiedene „Wissens-Quellen“ zurückgegriffen werden. Die solchen Quellen zuzuordnenden Vergleichshorizonte (VH) lassen sich schematisch unterscheiden, wie in Abbildung 1 angegeben und unten erläutert wird:
Abbildung 1: Wissens-Quellen und Typen von Vergleichshorizonten (VH)
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Wissen, insbesondere solches, das die Feststellung oder präzisierende und vertiefende Ausarbeitung psychologisch interessanter kultureller Unterschiede gestattet, kommt in der systematisch-schematischen Ordnung möglicher Vergleichshorizonte an verschiedenen Stellen ins Spiel. Es ist zu erkennen, dass die Reichhaltigkeit von Forschungsergebnissen, nicht zuletzt die empirische Triftigkeit der Bestimmung kultureller Besonderheiten, von einer ganzen Reihe von Wissens-Voraussetzungen abhängt, auf die Interpreten im Zuge ihrer komparativen Analysen zurückgreifen können. Da sind zunächst einmal die explizit empirisch fundierten Vergleichshorizonte, die den eigenen Forschungen bzw. empirischen Materialien entnommen werden. Sie gehören zum eigenen Textkorpus. Diese Vergleichshorizonte sind nicht nur deswegen hervorzuheben, weil ihre Entstehung der eigenen methodischen Kontrolle unterstand, sondern auch deswegen, weil sich in ihnen das (kulturelle) Wissen der Forschungspartner manifestiert. Diese Vergleichshorizonte zeugen unmittelbar von deren Sprachspielen und Lebensformen. Sie symbolisieren das Denken, Fühlen, Wollen und Handeln der Anderen und potenziell Fremden. Die vergleichende Analyse dieser Materialien oder Daten ist die Via regia des Fremdverstehens. Hier liegt das Fundament einer Empirie, die die methodisch kontrollierte Erfahrung der Erfahrung von Anderen und Fremden gewährleisten soll (Matthes 1992b). Nur wer Materialien gesammelt bzw. Daten erhoben hat, in denen sich in nennenswerter Weise das praktisches Selbst- und Weltverhältnis anderer Menschen zur Geltung bringt, kann dem Anspruch einer im skizzierten Sinn gehaltvollen Empirie gerecht werden. Allerdings wird sich keine empirische Forschung allein auf das Wissen der Anderen und Fremden stützen können. Selbst wenn just dieses Wissen und die damit verwobene Praxis und Lebensform interessiert, werden sich Interpreten dem Anderen und Fremden stets auch vom Standpunkt und in der Perspektive des Eigenen nähern. Wer forscht, bringt zwangsläufig auch eigene bzw. angeeignete Erkenntnis- und Wissensbestände ins Spiel, und zwar in verschiedenen Varianten. Interpreten ziehen, um ein Interpretandum zu bestimmen und zu klären, mitunter empirische Erkenntnisse heran, die nicht den selbst durchgeführten Untersuchungen entstammen, sondern dem allgemein zugänglichen Bestand wissenschaftlicher Publikationen empirischer Forschungsergebnisse. Hier eröffnet sich ein mitunter reichhaltiges, manchmal – wie im Falle innovativer Forschungsprojekte zu bislang unbeachteten Themen – ein eher dürftiges Reservoir an produktiven Vergleichshorizonten. Darüber hinaus sind Theorien von Bedeutung, in deren Licht die interessierenden Materialien aufgefasst und näher analysiert werden. Theorien (bzw. einzelne theoretische Hypothesen) werden in der interpretativen Forschung nicht einfach getestet; sie besitzen vielmehr eine wichtige heuristische, oft sogar eine für die wissenschaftliche Erfahrungs- und Erkenntnisbildung konstitutive Funktion. (Diese Funktion 73
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untergräbt, nebenbei gesagt, die gängige Vorstellung eines „empirischen Tests“ von Theorien. Das Verhältnis zwischen Theorie und Empirie ist hier nämlich nach dem Modell eines nicht vitiösen hermeneutischen Zirkels konzipiert, nicht aber als Beziehung zwischen „theoriefreien“ empirischen Tatsachen [„facta bruta“] einerseits, theoretischen Hypothesen über diese Tatsachen und deren kontingenten Zusammenhang andererseits.) Mit diesen Theorien sind häufig spezielle Methoden verknüpft. Man denke etwa an tiefenhermeneutische Verfahren, die ohne irgendeine Spielart psychoanalytischer Theorie nicht denkbar sind. Diese Methoden werden ebenfalls nicht erst bei der Interpretation der Daten angewandt, sondern wirken häufig bereits an der Konstitution des Interpretandums mit. Wie dieses gebildet und aufgefasst wird, ist abhängig von Theorien und Methoden, die Interpreten im Zuge ihrer (komparativen) Analysen heranziehen – und häufig lange vorher nutzten, um erste Vorstellungen ihres Forschungsgegenstandes und Forschungsprojektes zu entwickeln. Was die Theorien angeht, lassen sich, wie in Tabelle 1 ausgewiesen, allgemeine formaltheoretische Begriffe und Ansätze von bereichsspezifischen materialen Theorien unterscheiden. Im ersten Fall denke man exemplarisch an den Begriff der Handlung und Handlungstheorien, im zweiten etwa an psychologische Theorien über Entwicklungsaufgaben im Jugendalter oder Theorien der geschlechtsspezifischen Sozialisation. Wissenschaftliche Interpretationen stützen sich nun aber keinesfalls ausschließlich auf Erkenntnisbestände, theoretische Denk- und methodische Arbeitsformen, wie sie im Diskurs der Scientific community verhandelt werden und schließlich die konkrete Forschungspraxis prägen. Kaum zu überschätzen ist die Bedeutung des eigenen Alltagswissens, also das in Lebenserfahrungen und (vielleicht in) deren Reflexion gründende Wissen eines Interpreten. Niemand kann seine Lebenserfahrungen suspendieren oder unterschlagen, wenn er in wissenschaftlicher Absicht Texte oder Textanaloga interpretiert. Er oder sie ist auch dabei ein Mensch, der jenes mitgemacht hat und von diesem verschont geblieben ist, eine Person, die durch Eigeninitiative und partiell autonomes Handeln ebenso Erfahrungen gesammelt hat wie durch willkommene und beglückende oder unerwünschte und leidvolle Widerfahrnisse. Was Interpreten in den methodischen Lektüren ihrer empirischen Materialien „lesen“, was sie ausfindig machen und bedenken (können), hängt zu einem nicht unerheblichen Teil von ihren eigenen Lebenserfahrungen und ihren diesbezüglichen emotionalen, affektiven und kognitiven Verarbeitungsprozessen und daraus erwachsenen Dispositionen, Fähigkeiten und Fertigkeiten ab. Nicht alles, was diesbezüglich relevant ist, muss man unmittelbar am eigenen Leib erfahren haben. Erfahrungen können auch in Lektüren gründen, durch Filme oder andere Medien vermittelt worden sein, nicht zuletzt durch das Erzählen von Geschichten, das nur eine von vielen Möglichkeiten bildet, die 74
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Zuhörer am Leben und Wissen anderer Menschen teilhaben und dabei lernen zu lassen. Eine gewisse, in eigenen und fremden Erfahrungen gründende Vertrautheit mit bestimmten Phänomenen ist, egal woher sie im Einzelnen rühren mag, eine unabdingbare Voraussetzung des Verstehens. Auch deswegen ist das Verstehen nie ausschließlich ein Verfahren, das jeder beliebige Mensch lehren und erlernen kann. Verstanden wird immer „etwas“. Der Ausdruck „verstehen“ ist ein mindestens zweistelliger Prädikator. Er verweist auf Erlebnisse und Erfahrungen, die verschiedenen Menschen in unterschiedlichem Maß vertraut, mitunter auch „völlig fremd“ sind. Interpreten mögen in diesen oder jenen Belangen aus eigener oder vermittelter Erfahrung klug geworden sein und ihr diesbezügliches Wissen zumindest teilweise auch artikulieren und kreativ nutzen können. Auch als Wissenschaftler machen sie unweigerlich davon Gebrauch. Sie bringen es als implizite oder explizite Vergleichshorizonte in ihre vergleichenden Interpretationen ein. Wer dieses Wissen vollkommen aus der empirischen Forschung, den komparativen Analysen zumal, herauszuhalten empfiehlt, bezeugt eine unrealistische und überdies kontraproduktive Auffassung wissenschaftlicher Erfahrungs- und Erkenntnisbildung. Wer nach getaner empirischer Arbeit etwas zu sagen hat, verdankt dies nicht bloß seiner methodischen Akribie bei der Erhebung und Auswertung von Daten. Auch theoretische Expertise und Phantasie bieten noch keine Gewähr für nennenswerte Einsichten. Gehaltvolle, die Rezipienten bereichernde Befunde sind in der interpretativen Forschung nur dort möglich, wo die Forschenden ihre Lebenserfahrungen und ihr alltagsweltliches, praktisches Wissen als Vergleichshorizonte ins Spiel bringen können – und zwar nicht „irgendein“ Wissen. Kreative Interpreten müssen vielmehr über ein Wissen „verfügen“, das bei der Bearbeitung eines bestimmten Themas tatsächlich produktive Vergleichshorizonte liefert. (Welches Wissen diesen Zweck erfüllt, ist vorab nie vollständig zu sagen. Manches lässt sich jedoch auch in der kulturpsychologischen Forschung von vorneherein ausmachen, so etwa die Notwendigkeit von Sprachkenntnissen und Kontextwissen.) Ganz ohne ein Alltagswissen, das den auf bestimmte Problemstellungen gerichteten Blick des Interpreten schärft und strukturiert, das seine heuristische Phantasie, Imaginations- und Urteilskraft steigert, kommt hier niemand aus. Diese Tatsache erlaubt es, auch im Feld der interpretativen, komparativen Analyse empirischer Materialien den Kundigen vom Unbedarften, den Experten vom Novizen nicht allein unter dem Gesichtspunkt theoretischer und methodischer Versiertheit zu unterscheiden – selbst wenn wir uns mit einer Metrisierung dieser Differenzierung in aller Regel nicht abmühen, sondern uns mit akzentuierenden Unterscheidungen bescheiden werden. Manche Forschungsprojekte von, sagen wir, Clifford Geertz oder Patricia Greenfield, Jerome Bruner oder Ernst Boesch hätten von „Nachwuchswissenschaftlern“ aus Mangel an 75
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kulturellem, nicht zuletzt praktischem Wissen wohl kaum durchgeführt, ihre entsprechenden Bücher wohl kaum geschrieben werden können. Das Alltagswissen des Interpreten ist eine notwendige, wenngleich wiederum nicht hinreichende Bedingung der Möglichkeit empirischer Erfahrungs- und Erkenntnisbildung in den interpretativen Wissenschaften. Es besteht kein Anlass, diese reichhaltige Quelle von Vergleichshorizonten gering zu schätzen oder gar zu ignorieren. Allerdings gibt es gute Gründe dafür, sich nicht nur seine produktive Funktion, sondern auch seine Risiken bewusst zu machen. Die dem Alltagswissen des Interpreten angehörenden Vergleichshorizonte bilden zusammen mit den wissenschaftlichen, insbesondere den theoretischen Vergleichshorizonten, ein breites Einfallstor für „Vergleiche“, die das Andere und Fremde vorschnell ans Eigene angleichen und dadurch verkennen, zumindest allzu sehr in dessen Licht auffassen. Die Grundlage des Verstehens ist auch der Boden, in dem Missverständnisse gedeihen. Nostrozentrische Aneignungen von Anderem und Fremdem sind ein durch verschiedene Quellen komparativer Analysen genährtes Risiko, von dem sich keine interpretative Forschung freimachen kann. Das Alltagswissen des Interpreten hat seine besonderen Tücken, weil es in seiner Gesamtheit niemals artikuliert werden kann. Es ist, wie die Hermeneutik vielfach zeigte, in Form nicht ohne weiteres zugänglicher Vorurteilsstrukturen organisiert (Gadamer 1960/1986; dazu Straub 1999a: 250f., wo sich auch eine Auseinandersetzung mit Gadamers umstrittener Rehabilitierung des Vorurteils findet). Solche Vorurteile können allenfalls teilweise reflektiert und transzendiert werden (wodurch sie sich in wiederum nicht vollkommen bewusster Weise ändern). Offenkundig haben wir es hier also nicht nur mit Ermöglichungsbedingungen wissenschaftlicher Erfahrungs- und Erkenntnisbildung zu tun, sondern zugleich auch mit potentiellen Barrieren methodisch kontrollierten Fremdverstehens. Gerade auch das Alltagswissen des Interpreten eröffnet nicht bloß Vergleichsmöglichkeiten und Perspektiven, die unser Denken und Unterscheiden anregen. Es versperrt unter Umständen auch den erwünschten Zugang zu anderen, fremden Lebensformen und jenen Menschen, welche daran teilhaben. Diese Gefahr lässt sich nicht ausschalten. Die interpretative Forschung kann sich jedoch dagegen wappnen und zumindest die evidenten und relativ leicht zu vermeidenden Irrwege umgehen. Dazu ist es erforderlich, sich vom eigenen Wissen zu distanzieren, es (zumindest vorläufig, in bestimmten Phasen) zu suspendieren, soweit dies in der Beschäftigung mit fremdkulturellen Phänomenen eben angezeigt und möglich ist. Möglich ist es vor allem dann, wenn in komparativen Analysen explizit empirisch fundierte Vergleichshorizonte ins Spiel gebracht werden, solche Wissensbestände also, die als implizites und explizites Wissen andere, fremde Lebensformen symbolisieren (s.o.). Eine zusätzliche Maßnahme, die der Distanzierung „eigen-kultureller Selbst76
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verständlichkeiten“ dient, stellt auch die Bildung von Interpretationsgruppen dar, an denen Angehörige der jeweils interessierenden Kulturen teilnehmen. Trotz der geforderten „Internationalisierung“ der Forschung und ihrer „interkulturellen“ Ausrichtung und Organisation sind solche Kooperationen nach wie vor seltene Ausnahmen. Wenn sie zustande kommen, erfüllen sie bisweilen lediglich „Alibifunktionen“ – wirklicher kultureller Austausch und die in interkultureller Kommunikation sich aufdrängenden Auseinandersetzungen werden oft schon aus Zeitgründen vermieden. Wenn sie doch eingerichtet werden, geschieht dies nicht selten zufällig – nach verfügbaren Kontakten – oder nach Gesichtspunkten der Praktikabilität. Man bemüht sich demgemäß von vornherein um eine gewisse Homogenität, die die für interkulturelle Kommunikation typischen Schwierigkeiten vermeiden helfen soll. Das ist umso leichter möglich, je stärker die Kooperationspartner in ihrer wissenschaftlichen Sozialisation denselben „internationalen Stil“ wissenschaftlichen Denkens und Forschens internalisiert haben. (Interkulturelle) Interpretationsgruppen bilden, jedenfalls potenziell, ein Korrektiv gegen das Eigene und jenes in seinem Zeichen stehende assimilierende Verstehen, welches oben als nostrifizierende Aneignung problematisiert wurde (vgl. auch Straub 1999b). Eine ähnliche Funktion kann eine kommunikative Validierung von Interpretationen übernehmen, an der alle oder einige der Forschungspartner teilnehmen, deren Praxis und Wissen Gegenstand der Untersuchung ist. Auch dieser Strategie sind allerdings Grenzen gesetzt. Neben pragmatischen, insbesondere ökonomisch begründeten Einschränkungen gibt es nicht zuletzt Grenzen, die mit hartnäckigen Übersetzungsproblemen zwischen wissenschaftlichen und alltagsweltlichen Sprachspielen oder auch mit ethisch-moralischen Fragen zu tun haben. Bekanntlich ist nicht jedes Forschungsergebnis kommentarlos kommunizierbar. Das ist im Übrigen insbesondere dann der Fall, wenn dadurch das Selbst- und Weltverständnis bestimmter Menschen hinterfragt und persönlich belastende oder kränkende Aspekte – wie z.B. Selbsttäuschungen, Gewissenskonflikte oder Schamgefühle – thematisiert werden. Wie gesagt: Vergleichende Interpretationen in wissenschaftlicher Absicht sind ohne das Alltagswissen des Interpreten nicht denkbar. Dieses Wissen kann das angestrebte Fremdverstehen behindern oder befördern. Es verweist nicht allein auf die Subjektivität und Individualität des Forschenden, sondern signalisiert auch dessen Zugehörigkeit zu einer Kultur. Es repräsentiert also seinerseits stets auch kollektive Erwartungs-, Erfahrungs- und Wissensbestände, die durch die Teilhabe an einer Lebensform – ggf. an Lebensformen – erworben wurden. Für die kulturpsychologische Forschung ist es besonders wichtig, dass die lebensgeschichtlichen Selbst-Erfahrungen eines Menschen selbst schon ein Ergebnis der Erfahrung kultureller Differenz, Alterität und Alienität sein können. Personen unterscheiden sich bekanntlich auch diesbe77
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züglich, und diese Unterschiede sind für wissenschaftliche Unternehmungen der hier interessierenden Art alles andere als irrelevant. Niemand macht sich als unbeschriebenes Blatt an die wissenschaftliche Aufgabe, andere, fremde Sprachspiele und Lebensformen sowie damit verwobene Weisen des Denkens, Fühlens, Wollens und Handelns zu verstehen. Dies geschieht stets auf der Grundlage von Erfahrungen und Orientierungen, deren Wurzeln sowohl in bisherigen eigenen Forschungen als auch in der Lebensgeschichte eines Menschen liegen. Mitunter sind Berufliches und Privates, Wissenschaft und Alltagswelt, methodische Empirie und informelle Erfahrung gar nicht säuberlich auseinander zu halten. Im Selbst des Forschers ist ungeschieden, was wir unter wechselnden Gesichtspunkten akzentuierend unterscheiden mögen – z.B. als Vergleichshorizonte dieser oder jener Art. Festzuhalten ist: Das Alltagswissen des Interpreten kann selbst schon von der Erfahrung kultureller Unterschiede, Andersheit und Fremdheit geprägt sein, in variablem „Umfang“ in interkultureller Kommunikation, Kooperation und Koexistenz gründen, interkulturelle Kompetenz also in unterschiedlichem Ausmaß ein- oder ausschließen. Beispiele für eine Form empirischer Forschung, in der auch solche Aspekte vergleichenden Interpretierens überaus deutlich werden, finden sich, wie gesagt, in zahlreichen Publikationen Boeschs (z.B. 2005). Manche Früchte wissenschaftlicher Bemühungen gedeihen nur auf dem Boden langwieriger und komplexer Lebenserfahrungen, die in das Alltagswissen eines Menschen eingehen und schließlich als Vergleichshorizonte in komparativen Analysen wissenschaftlicher Forschungen fungieren können. Man hat diesbezüglich zwar keinen Maßstab zur Hand, an dem sich der Wert des Alltagswissens eines Interpreten für die kulturpsychologische Forschung exakt bestimmen ließe, schon gar nicht von vorneherein. Im konkreten Fall ist den Rezipienten kulturpsychologischer Befunde aber schon ein Urteil darüber möglich, ob komparative Analysen von Lebenserfahrungen und Alltagswissensbeständen zehren, die der Sache eher zuträglich sind oder Einsichten verhindern oder verzögern. Nach den bisherigen Überlegungen lässt sich resümieren und präzisieren: Vergleichende Interpretationen anzustellen heißt, das in Frage stehende Interpretandum durch die auf Vergleichshorizonte gestützte Konstruktion von Beziehungen entweder der Ähnlichkeit oder der Differenz zu erschließen.22 Die an den Akt des Vergleichens gebundene Interpretation kann sich dabei zweier verschiedener Formen der Urteilskraft bedienen, nämlich der bestimmenden und der reflektierenden. Immanuel Kant (1977), auf den ich mich hier (sehr selektiv) stütze, führte diese Unterscheidung in seiner 1790 erschienenen 22 Müller-Jacquiers (1986) Vorschlag aufgreifend, verschiedene Ergebnisse und Funktionen des Vergleichs in interkulturellen Überschneidungssituationen zu unterscheiden, ergeben sich folgende Varianten: Abordination, Kontraste, graduelle Differenzen, Negation/Nicht-Phänomen, Existieren, Meta-Vergleich.
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„Kritik der Urteilskraft“ ein. Die bestimmende Urteilskraft ist immer dann am Werk, wenn Phänomene (z.B. Handlungen) in vertrauten Worten identifiziert und beschrieben werden, also einem geläufigen Begriff, Schema oder Skript subsumiert werden. Methodische Verfahren der Inhaltsanalyse etwa stützen sich auf die bestimmende Vernunft, indem sie empirische Daten in bekannte Rubriken einordnen, geläufigen Begriffen, Kategorien, Schemata oder Skripts unterordnen (vgl. Mayring 1990). Der Begriff der reflektierenden Urteilskraft ist nicht allein – wie bei Kant – für eine philosophische Ästhetik und Teleologie der Natur von Bedeutung, sondern ebenso für eine allgemeine Theorie und Methodologie empirischer Erkenntnisbildung in den interpretativen Wissenschaften. Kants Begriff lässt sich auf ein breites Feld von Erfahrungen beziehen, die sich nicht (ohne weiteres) geläufigen Begriffen und Schemata subsumieren lassen. Reflektierende Urteilskraft ist immer dann erforderlich, wenn wir Erfahrungen bilden bzw. artikulieren wollen, dies jedoch nicht umstandslos können, weil noch nicht hinreichend bestimmt ist, was auf welche angemessene Weise als Erfahrung zur Sprache gebracht werden soll. Mit solchen noch unbestimmten, allenfalls vage umrissenen Phänomenen hat es die handlungs- und kulturpsychologische Forschung häufig zu tun, zumal dann, wenn sie mit der Erforschung von anderen, fremden Kulturen befasst ist. Sie bedarf des reflektierenden Vernunftvermögens an forschungsstrategisch entscheidenden Stellen. Sobald für den Interpreten Neues in Erfahrung und auf den Begriff gebracht werden soll, muss dieser seine reflektierende Urteilskraft bemühen.23 Während die bestimmende Vernunft geläufige Begriffe (Kategorien, Schemata, Skripts) einfach anwendet und die fraglichen Phänomene dadurch identifiziert, unterlässt die reflektierende Vernunft solche Akte der Subsumption und Assimilation. Sie ordnet ein Phänomen nicht einem dem Forscher geläufigen Begriff zu, sondern verändert oder erweitert das dem Interpreten verfügbare Vokabular. Reflektierendes Interpretieren geht, wie Jean Piaget gesagt hätte, mit Akkomodationen einher. Die reflektierende Vernunft arbeitet sich, mit anderen Worten, am Nicht-Identischen ab.24 Sie tut dies allerdings mit dem Ziel der Identifikation und Bestimmung des Neuen. Reflektierende und bestimmende Vernunft verhalten sich komplementär zueinander. Sie sind gleichermaßen notwendig. Die reflektierende Urteilskraft erweitert und differenziert den Horizont des Interpreten, berei23 Die Verwandtschaft mit Charles Sanders Peirce’ Konzept der Abduktion liegt auf der Hand (vgl. dazu Reichertz 1993). Kants Konzept der reflektierenden Urteilskraft hat m.E. u.a. den Vorteil, dass es – im Gegensatz zur Abduktion – nicht als ein streng logisches Schlussverfahren eingeführt wird. 24 Wie schwer und langwierig das ist, kann man an tausend Exempla studieren. Vgl. etwa einige der originellen Arbeiten von François Jullien, z.B. die 2002 ins Deutsche übertragene Publikation, in der sich auch ein aufschlussreiches Gespräch mit Foucault über dessen das eigene Denken herausfordernde „Reisen“ nach China und Japan findet.
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chert seine symbolische Welt, seine Sprache zumal, in der er beschreibt, versteht und erklärt, was ihn als empirisches Phänomen interessiert. Die bestimmende und die reflektierende Vernunft liefern die Operationen, die für ein an komparative Analysen gebundenes Verstehen anderer, womöglich fremder kultureller Lebensformen und Sprachspiele, Weisen des Denkens, Fühlens, Wollens und Handelns gleichermaßen notwendig und produktiv sind.
N o t i z z u r G ü t e d e r ve r g l e i c h e n d e n I n t e r p r e t a t i o n kulturellen Handelns Komparative Analysen bzw. vergleichende Interpretationen kulturellen Handelns können die Sache treffen oder danebengehen. Selbst wenn wir nicht nach einer einzig wahren oder auch nur nach der besten Interpretation suchen – weil wir diese Suche wegen der Polyvalenz aller Lebensäußerungen und speziell wegen der Standpunkt- und Perspektivenabhängigkeit partiell kontingenter Lesarten beliebiger Protokolle menschlicher Praxis für verfehlt und vergeblich halten –, unterscheiden wir eher irreführende Interpretationen von triftigen. Man sieht das leicht am Beispiel von „negativen“ Extremen. Wer diesen Aufsatz so interpretierte, als bestünde seine zentrale Aussage in der Ankündigung, das aus allgemein bekanntem Anlass für den heutigen Abend geplante Feuerwerk fände nicht im Schlosshof, sondern im Ballsaal von Schloss Nymphenburg statt, läge vollkommen daneben. Er oder sie verdiente es noch nicht einmal, bezogen auf die unterstellte Textgrundlage, als „Interpret“ bezeichnet zu werden. Unschwer lassen sich ähnliche – wenngleich weniger krasse – Beispiele für das Verstehen anderer, fremder Kulturen oder kultureller Handlungen finden. Wir können Praktiken, Lebensformen, Sprachspiele und bereits einzelne Äußerungen mit unseren Interpretationen verfehlen, wenngleich auf weniger skurrile Weise als in dem absurden Beispiel. Nicht alle Kulturen kennen – beispielsweise – anthropomorphe und anthropopathische Götter (wie etwa die Griechen), und selbst eine „Religion“ mag sehr Verschiedenes bedeuten, und vielleicht ist der beliebte Vergleichsbegriff für die auf den ersten Blick scheinbar verwandten Phänomene sogar unangemessen und irreführend (vgl. z.B. Popp-Baier 2006; Straub/Shimada 1999). Die Frage, wie sich bessere von schlechteren Interpretationen unterscheiden lassen, ist zweifellos ein mitunter schwieriges Unterfangen, für das sich vielleicht gar keine allgemeinen Kriterien und Regeln angeben lassen. (Man hätte diesbezüglich erst einmal alle Ziele und Zwecke zu berücksichtigen, denen interpretative Analysen letztlich dienen sollen. Die Güte von Interpretationen ist nicht unabhängig von solchen Zielen und Zwecken zu bestimmen). Ein zentraler Gesichtspunkt, der im Kontext empirisch-vergleichender Analysen kultureller Differenz, Alterität und Alienität und deren Bedeutung für die interkulturelle Kommunikation, Kooperation und Koexistenz zweifellos 80
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Aufmerksamkeit verdient, liegt nach den oben angestellten Überlegungen allerdings auf der Hand. Er ist für die Beantwortung der Frage, ob wissenschaftliche Interpreten das Interpretandum, ob sie also gewisse sprachliche Ausdrücke und Sprachspiele, Handlungs- und Lebensformen, angemessen übersetzt und erfasst haben, unerlässlich. Wenn hier von „Übersetzung“ die Rede ist, knüpfe ich an sprachpragmatische Theorien an, die die Übertragung von Ausdrücken und Äußerungen von einer Ausgangs- in eine Zielsprache als Übersetzung zwischen kulturellen Sprachspielen und Lebensformen begreifen, an denen Menschen praktisch teilhaben können. Damit wird eine Mehrdimensionalität des Zugangs zu Kulturen betont, die es erst ermöglicht, dass auch wissenschaftliche Darstellungen von Kulturen, kulturellen Sprachspielen, Handlungs- und Lebensformen als unangemessen kritisiert werden können. Durch die etwa von Joachim Renn (2005, 2006) mit Nachdruck hervorgehobene Unterscheidung zwischen dem praktischen Zugang zu einer Kultur, ihren Sprachspielen, Handlungsund Lebensformen einerseits, der symbolischen, insbesondere sprachlichen Bezugnahme auf die Kultur als Forschungsgegenstand andererseits, wird die Erfahrung als Richtschnur und mögliches Korrektiv jeder derartigen Bezugnahme und Repräsentation ausgewiesen. Dafür muss sich bekanntlich auch eine methodische Empirie – die Erfahrungen häufig nur in mehr oder minder restringierter Form zulässt – offen halten. Paradoxerweise hebt eine „Erfahrung“ jedoch mit einem noch unbegriffenen Erleben an, mit einem „Spüren“ oder „Gewahrwerden“ möglicher kultureller Differenz, Andersheit und Fremdheit, wobei dieses Erleben erst als artikulierte Repräsentation zunächst bloß schemenhafter Gewahrnisse (Boesch 2005) – als Erfahrung eben – zu bestimmten Revisionen bislang verfügbarer Repräsentationen zwingen kann. Erlebnisse macht man auf dem Weg eines praktischen Zugangs zu einer Kultur. Wie dargelegt müssen Wissenschaftler nicht alle Erlebnisse und Erfahrungen, die ihren Befunden und empirisch gesättigten Theorien zugrunde liegen, am eigenen Leib gemacht haben. Ihr empirisches Wissen über andere, fremde Kulturen, über kulturelle Unterschiede und interkulturelle Kommunikation, Kooperation und Koexistenz, stützt sich in der Regel nicht nur – oftmals gar nicht so sehr – auf eigenes Erleben und dessen reflexive Verarbeitung und Artikulation, sondern auf methodisch rekonstruierte Erfahrungen von Personen, die mit den interessierenden kulturellen Sprachspielen, Handlungs- und Lebensformen vertraut sind, ihr praktisches Wissen also als Korrektiv unangemessener Repräsentationen „mobilisieren“ und ins Spiel wissenschaftlicher Forschungen und Diskurse einbringen können. Wichtig ist: Über kulturelle Unterschiede und alle darin wurzelnden Phänomene kann ohne pragmatische Vergleiche und Übersetzungen nur sehr begrenzt geforscht werden (Renn 2005). Wer den praktischen Zugang zu 81
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sprachlichen Ausdrücken und Sprachspielen, Handlungs- und Lebensformen aus dem Blick verliert und methodisch nicht mehr nutzt, läuft schnell Gefahr, sich in verfehlte, nostrifizierende Interpretationen zu verstricken, diese unreflektiert aufrechtzuerhalten und zu reproduzieren. Solche Interpretationen lassen keinen Raum für Anderes und Fremdes. Sie ordnen es dem Eigenen ein und gleichen es diesem an (z.B. indem sie es vorschnell als „äquivalent“ auffassen). Derartige subsumptionslogische Aneignungen bzw. Assimilationen des Differenten, Anderen oder Fremden sind keineswegs vollständig zu vermeiden. Der an stets riskante Übersetzungsleistungen gekoppelte Versuch des Fremdverstehens kommt ohne Nostrifizierung nicht aus, und dies wohl in keiner Phase einer ohnehin nur aus pragmatischen Gründen abzubrechenden, niemals jedoch abschließbaren Erfahrungs- und Erkenntnisbildung. Die ersten Verstehensschritte sind besonders gefährdet, bloß assimilierend auszufallen (oder die Gegenreaktion hervorzurufen, nämlich die vollständige Inkommensurabilität und Unverständlichkeit des Anderen und Fremden zu beschwören und ein „Geheimnis“ aus ihm zu machen). Man kann freilich versuchen, offen zu sein und zu bleiben für das Erfahren der Erfahrungen Anderer oder Fremder sowie die praktischen Bedeutungen oder Implikaturen der Ausdrücke und Äußerungen, mit denen diese ihr kulturelles Welt- und Selbstverhältnis zum Ausdruck bringen. Dabei hilft eine Theorie, Methodologie und Methodik der empirischen Forschung kultureller Unterschiede weiter, die den notwendigen Vergleich nicht nur an die bestimmende, sondern auch an die reflektierende Urteilskraft bindet. Damit gewinnt die Achtsamkeit gegenüber der Versuchung Oberhand, vermeintliche Tertia comparationis nur noch anzuwenden. Demgegenüber müssen bei der Durchführung komparativer Analysen, die den praktischen Zugang zu kulturellen Sprachspielen, Handlungs- und Lebensformen offen halten und nutzen, solche Bezugspunkte immer wieder aufs Neue entwickelt werden. Das macht die Akkomodation der eigenen Horizonte, Begriffe, Kategorien, Schemata und Skripts unumgänglich. Nicht zuletzt darin liegt der Neuheitswert und Gewinn wissenschaftlicher Erkenntnis. Fremdverstehen modifiziert das eigene Welt- und Selbstverständnis, mithin das Vokabular, in dem dieses zur Sprache gelangt. Differentes, Anderes und Fremdes wird stets von jemandem und für jemanden verstanden. Es verlangt mitunter auch neue, eben kulturadäquate Verfahren und vielleicht sogar eine Modifikation der Zielsetzungen wissenschaftlicher Forschung und der „Anwendung“ ihrer Ergebnisse. Verstehen ist situiert und an jemanden adressiert. Im gelingenden Fall modifiziert es nicht zuletzt das eigene, an sprachliche Unterscheidungsmöglichkeiten gebundene Handlungspotenzial (einer Person, eines Kollektivs). Erkenntnisfortschritt in der interpretativen Kulturpsychologie manifestiert sich in der Erweiterung des symbolischen Horizontes, insbesondere des sprachlichen Universums der For82
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schenden und schließlich der Scientific community und all derer, die sich wissenschaftliche Einsichten aneignen und in ihr Selbst- und Weltverständnis integrieren.
O n t i s c h e u n d r a d i k a l e U n t e r s c h i e d e : d i e n o r m a t i ve E i n h e g u n g w i ss e n s c h a f t l i c h e n F r e m d ve r s t e h e n s Das für jeden Vergleich notwendige Tertium comparationis kann nicht nur dazu führen, dass komparative Analysen unmerklich an einem Leitbegriff und Maßstab orientiert sind, deren kulturelle Herkunft und partikulare Bedeutung in einer performativen Kultur unbestreitbar ist. Das Verstehen von kultureller Differenz, Alterität und Alienität bringt nämlich noch eine weitere Herausforderung für jede als Fremdverstehen konzipierte Hermeneutik mit sich. Diese Herausforderung wird allerdings erst sichtbar, wenn man die Unterschiede, an denen wir Anderes oder Fremdes festmachen, zu unterscheiden beginnt. Der in den empirischen Sozial- und Kulturwissenschaften in Anspruch genommene Begriff kultureller Differenz, Alterität und Alienität setzt die Verstehbarkeit des Anderen oder Fremden voraus – wie mühsam das angestrebte Verstehen auch sein und wie unvollkommen es enden mag. Dies bedeutet, dass im Prinzip alles verstehbar ist, nichts fremd bleiben muss. Differenz, Andersheit und Fremdheit werden demgemäß als Begriffe aufgefasst, die einen überbrückbaren Abstand, eine überwindbare Erfahrung anzeigen. Kulturelle Sprachspiele, Handlungs- und Lebensformen sind übersetzbar, und solange man sich vor unangemessenen Vorstellungen einer vollkommenen Äquivalenz von (theoretischen) Begriffen und Beschreibungssprachen hütet, kann und muss von der Verstehbarkeit des kulturell Differenten, Anderen und Fremden ausgegangen werden. So etwa lässt sich eine Voraussetzung formulieren, die auch die hier skizzierte Konzeption komparativer Analyse und vergleichender Interpretation im Rahmen einer relationalen Hermeneutik teilt. Gegen die damit verbundene Beruhigung einer angesichts des Anderen und Fremden nicht nur leicht irritierten, sondern zutiefst verunsicherten wissenschaftlichen Vernunft wenden sich philosophische Konzepte radikaler Differenz, Anderheit und Fremdheit. Es geht dabei nicht um die begriffslogisch inkonsistente Behauptung der Inkommensurabilität von Kulturen, die in der Tat einen Vergleich des angeblich Unvergleichbaren voraussetzt und sich damit in performative Selbstwidersprüche verstrickt (zum Begriff der Inkommensurabilität s. auch Rosa 1999). Bernhard Waldenfels und einige weitere Autoren verwenden nicht einfach einen Limesbegriff als reales Prädikat (so Renn 2005), wenn sie die Radikalität mancher oder das radikale Moment in allen Erfahrungen hervorheben, die wir mit den oder dem Anderen und Fremden machen (auch in verschiedensten Kontexten interkultureller Kom83
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munikation, Kooperation und Koexistenz). Sie versuchen vielmehr, Anderes und Fremdes „als solches“ zu denken und zu bewahren, auch vor dem wissenschaftlichen Zugriff und seiner damit einhergehenden, durch Verstehen bewerkstelligten Eliminierung. Damit bewegen sie sich, das mag hier dahingestellt bleiben, vielleicht schon im Feld philosophischer Metaphysik. Sie artikulieren in phänomenologischer Perspektive jedoch auch eine wenn schon nicht allen, so doch vielen Zeitgenossen zugängliche und nachvollziehbare Erfahrung. Im Kern handelt es sich dabei um die Erfahrung des Entzugs dessen, das verstanden werden soll, einschließlich des Selbst-Entzugs im Bemühen um Selbst-Verstehen und Selbst-Bewusstsein. Zu diesem Zweck, der offenkundig auch ethisch motiviert ist, werden (terminologisch uneinheitlich) mindestens zweierlei Begriffe der Differenz, des Anderen und Fremden unterschieden. Von einer „lediglich“ ontischen, relativen oder komparativen Differenz, Andersheit und Fremdheit wird eine radikale Variante abgegrenzt (Waldenfels 1998). Deutlicher noch als bei Waldenfels wird dies bei Emanuel Levinas und all jenen Autorinnen und Autoren, die seinem Denken des Anderen zumindest in dem hier interessierenden Punkt noch mehr verpflichtet bzw. verbunden sind, als dies in den Schriften von Waldenfels erkennbar ist. Radikale Differenz wird etwa von Burkhard Liebsch (2001: 155ff.) von jener bloß relativen Differenz zwischen Kulturen abgegrenzt, durch die sich Menschen gleichsam äußerlich voneinander unterscheiden, kategorisieren, sortieren, klassifizieren und in Gruppen einteilen lassen. (Oben war genau davon die Rede, wenngleich es vornehmlich um Handlungen ging, nicht um Akteure als Personen in ihrer „Ganzheit“.) Genau dies verbiete das Denken radikaler Differenz, welches es mit einer „eigentlichen Anderheit“ von Anderen zu tun habe, also nicht in jener relativen „Andersheit“ aufgehe, wie sie auch vergleichbaren Dingen zugeschrieben werden kann. Die vor jedem Vergleich von Menschen (leiblich, präreflexiv und vorsprachlich) erfahrbare radikale Differenz ist prinzipieller und unaufhebbarer Art. Als alle Individuen unterscheidende Anderheit ist sie von deren mit Dingen und anderen Lebewesen geteilten, komparativen Andersheit verschieden. Der philosophische Begriff der Anderheit bewahrt die Bedeutung bleibender Differenz und Fremdheit – auch zwischen Kulturen, kulturellen Sprachspielen, Handlungs- und Lebensformen. Radikale Differenz, Anderheit oder Fremdheit verdankt sich „nicht einem Vergleich, sondern einem Widerfahrnis […], in das wir verwickelt sind, ohne bereits den Standpunkt eines Vergleichs von Verschiedenem einnehmen zu können“ (ebd.: 158). Diese radikale Verschiedenheit hängt nicht von bestimmten oder bestimmbaren Qualitäten und Eigenschaften der einzelnen ab, durch die sie sich im Zug vergleichender Betrachtungen womöglich unterscheiden lassen. Radikale Differenz, Alterität und Alienität sind nicht wahr84
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nehmbar, erinnerbar, beschreibbar, sagbar, symbolisierbar. Wer jemand im Sinne einer qualitativen Identität ist (in seinen oder anderer Leute Augen), ist er gerade nicht als (radikal) Anderer oder Fremder. Diesen Anderen und Fremden kennt niemand als ein bestimmtes oder bestimmbares Wesen. Das gilt für die Mitmenschen, die einem am nächsten stehen und auf trügerische Weise vertraut sind, ebenso wie für jene anonymen Nebenmenschen, welche wir spontan als fremd erleben mögen. Der Andere und Fremde entzieht sich stets, sei es im Zusammenleben mit Nahestehenden und Zughörigen, sei es im Aufeinandertreffen von einander fern stehenden, sich asymmetrisch oder wechselweise als Unzugehörige behandelnden Menschen. Er begegnet uns in der Erfahrung ausschließlich in der paradoxen Gestalt einer absenten Präsenz oder präsenten Absenz. Es gibt hier keine Anwesenheit ohne Abwesenheit. Just dieser Entzug, der phänomenologisch als Erfahrung ausgewiesen wird, ist, wie Levinas nicht müde wird zu betonen, ethisch von höchster Bedeutung. Es ist dieser Entzug, der uns etwas angeht, anspricht, herausfordert und zur Aufgabe wird, die uns verantwortlich zu übernehmen „anbefohlen“ sei, wie Levinas sagt. Es ist der „Anspruch“ des Anderen, der zu unserer Erfahrung als Widerfahrnis gehört und Antwort erheischt. Er konfrontiert uns mit radikaler Differenz bzw. Alterität und Alienität, und nicht der epistemischkognitive Vergleich, der ja stets ein Tertium comparationis voraussetzt, einen jede radikale Differenz nivellierenden gemeinsamen Bezugspunkt also, an dem die in den Vergleich eingehenden „Comparanda“ gemessen und als gleich oder verschieden bestimmt werden können. Jedes Tertium comparationis birgt eine Gemeinsamkeit und Gleichheit, die radikale Differenz, Anderheit und Fremdheit zwangsläufig „vernichtet“ (Levinas). Damit ist in der Tat ein ethisches Problem markiert. Aber vielleicht ist der besagte Entzug des Anderen und Fremden sowie der damit verwobene Selbst-Entzug nicht nur ethisch relevant. Er hat nämlich auch eine psychologische Bedeutung, die nähere Aufmerksamkeit verdient. Begegnungen zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen, Austauschbeziehungen, die Übersetzungen zwischen kulturellen Sprachspielen, Handlungs- und Lebensformen verlangen und im gelingenden Fall die Horizonte und Handlungspotenziale aller Beteiligten erweitern, bergen auch eine Erfahrung, derer man sich gewahr bleiben kann, auch wenn produktive Vergleiche angestellt und praktisch bedeutsame Unterschiede festgestellt wurden, womöglich in einer neuen Sprache des durchsichtigen Kontrastes (Taylor 1981). Das eben ist genau jene Erfahrung, von der die zitierten Phänomenologen sprechen und für die sie Begriffe wie radikale Differenz, Anderheit und Fremdheit reservieren. Ich glaube, sie markieren damit ein Thema nicht zuletzt einer Handlungsund Kulturpsychologie, die ihre Forschungen nicht nur auf die Feststellung ontischer, relativer oder komparativer kultureller Differenzen und deren psychosoziale Bedeutung beschränkt. Solche Feststellungen sind wichtig und, 85
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wie erörtert, ein methodisch schwieriges Unterfangen. Die Psychologie darf sich, sobald sie sich mit kulturellen Unterschieden befasst, jedoch nicht damit bescheiden, solche ontischen Differenzen aufzulisten, wie es, auf ihre Weise, auch andere Disziplinen tun. Denn gerade für sie steht die beunruhigende und ängstigende, das eigene Handlungspotenzial auch bedrohende Erfahrung des Entzugs des Anderen und Fremden sowie die Erfahrung des Selbstentzugs in der interkulturellen Kommunikation, Kooperation und Koexistenz mit im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses (s. die einschlägigen Studien in Boesch 1998, 2000, 2005). Diese Erfahrung widerstreitet allen unseren Versuchen zu verstehen. Sie nimmt solchen Versuchen nichts von ihrem Wert und untergräbt keineswegs ihre Notwendigkeit, konfrontiert uns aber mit den unüberwindbaren Grenzen des Verstehens und des eigenen Selbst. Wer das vergisst, wird in interkulturellen Trainings und anderen Maßnahmen zur Förderung interkultureller Kompetenz, die allesamt auf der empirischen Erforschung kultureller Unterschiede aufbauen, eine meistens nur vage und schemenhaft zu Bewusstsein kommende Erfahrung unterschlagen und vergessen machen – ohne sie dadurch aus dem Erleben von Menschen und ihrer alltäglichen Handlungs- und Lebenspraxis entfernen zu können.
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Komparative An a l ys e und Type nbildung in der dok umentaris c he n Methode RALF BOHNSACK UND ARND-MICHAEL NOHL
1. Einleitung Die These von der kulturellen und milieuspezifischen Pluralität und Heterogenität moderner Gesellschaften hat im Übergang zum 21. Jahrhundert wie kaum eine andere die theoretische Diskussion in den Sozialwissenschaften geprägt. Allerdings hat man bisweilen den Eindruck, dass diese Pluralität und Heterogenität der kulturellen und sozialen Welten, Milieus und Erfahrungsräume eher theoretisch beschworen denn empirisch überprüfbar rekonstruiert wird. Dies hängt u.a. damit zusammen, dass die empirischen Zugänge, die sich dieser Fragestellung widmen, zumeist nicht komplex genug ansetzen, um ein ganz wesentliches Problem bewältigen zu können. Gemeint ist das Problem, dass auch die Betrachtungsweisen der Beobachter selbst sich durch eine Pluralität auszeichnen. Je nach Standort des Beobachters gerät der eine oder der andere Aspekt der Teilhabe an diesen Milieus und Erfahrungsräumen in den Blick. Dabei ist es nicht notwendigerweise so, dass diese unterschiedlichen Aspekte oder Perspektiven einander ausschließen würden. Denn jedes Individuum oder jede Gruppe, jeder zu analysierende Fall also, hat teil an unterschiedlichen sozialen Welten und Erfahrungsräumen. Somit gilt es, dieser Pluralität der Erfahrungsräume und Milieus in der Weise empirisch Rechnung zu tragen, dass sie am jeweiligen empirisch zu untersuchenden Fall in ihrer Überlagerung und wechselseitigen Durchdringung rekonstruiert werden können. Empirisch-methodisch gelingt dies – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – auf der Basis der komparativen Analyse. Eine der Leistungen der komparativen Analyse besteht darin, dass sie es ermöglicht, die Aspekthaftigkeit oder die Standortgebundenheit der Beobachtung einer systematischen methodischen Kontrolle zu unterziehen.
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RALF BOHNSACK UND ARND-MICHAEL NOHL
Die Abhängigkeit des Wissens und Denkens vom jeweiligen sozialen Standort, also ihre Standort- oder Seinsgebundenheit oder auch Seinsverbundenheit, steht im Zentrum der Wissenssoziologie von Karl Mannheim. Mannheim (1952b: 227) hatte sich die Aufgabe gestellt, „nicht durch ein ängstliches Umgehen jener Einsichten, die sich auf die gesellschaftliche Seinsverbundenheit des Wissens beziehen, das Problem zu lösen, sondern der Beunruhigung dadurch zu entgehen, dass sie diese Einsichten in die Horizonte der Wissenschaft selbst einbezieht“. Geleistet wird dies bei Mannheim ganz wesentlich durch das „Phänomen des Relationierens“ (ebd.: 242). Gemeint ist hiermit, Äußerungen in ihrem Sinngehalt in der Weise zu erschließen, dass sie in Relation zum Standort der Beobachteten, zu ihren „Weltauslegungen“, und – weitergehend – zu deren „Seins-Voraussetzungen“ gesetzt werden. In etwas modernerer Terminologie lässt sich dieses Unternehmen derart formulieren, dass es die Theorien und Intentionen der beteiligten Akteure in Relation zu setzen gilt zu deren Handlungspraxis bzw. zu dem diese Handlungspraxis orientierenden Wissen. Die weitergehenden (methodologischen) Konsequenzen, welche mit dem „Phänomen des Relationierens“ und der dazugehörigen Analyseeinstellung verbunden sind, bleiben bei Mannheim eher implizit, werden eher metaphorisch gefasst: Voraussetzung für eine Analyseeinstellung im Sinne des Relationierens und für die damit verbundene distanzierte Beobachtung der Forschenden ist ihre besondere experimentell-intellektuelle oder methodologische Positionierung. Die Forschenden stehen sozusagen zwischen den Wirklichkeiten, den sozialen Welten oder – in der Sprache von Mannheim (1980) – den „konjunktiven Erfahrungsräumen“ und „Weltanschauungen“, und in gewisser Weise auch jenseits von ihnen. Denn die Gesamtgestalt oder „Totalität“ einer Weltanschauung ist erst in Relation zu anderen Weltanschauungen bzw. vor deren Vergleichshorizont, d.h. in der Komparation mit diesen anderen, rekonstruierbar. Mannheims Überlegungen zu dieser Problematik sind nicht zuletzt aufgrund der Verwendung des Begriffs „sozial freischwebende Intelligenz“ (vgl. Mannheim 1952a: 135; ursprünglich: 1929) oft missverstanden worden. Mit diesem Begriff hat er im Übrigen (allerdings ohne dies explizit zu machen) an denjenigen des Erkennens als „freischwebenden Prozess“ bei Georg Simmel angeknüpft.1 Um diese Missverständnisse zu überwinden, bedarf es einer klaren analytischen Trennung zwischen einer existentiell-lagemäßigen und einer experimentell-intellektuellen Positionierung zwischen den Welten und Erfahrungsräumen. Nur auf die letztere Positionierung wird mit dem Begriff der „sozial freischwebenden Intelligenz“ abgehoben. Diese experimentell-intellektuelle 1
Zur Beziehung von Mannheim und Simmel s. Lichtblau (1996: 524, 527).
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KOMPARATIVE ANALYSE UND TYPENBILDUNG
Positionierung ist an eine methodologische Grundhaltung gebunden und nimmt den Weg über die „Methodisierung“, über die systematische Operation mit Vergleichshorizonten, über die komparative Analyse. Wenn wir hier einen Begriff verwenden, welcher der Chicagoer Schule entstammt, so verweist dies sowohl auf gewisse theoriegeschichtliche (sinngenetische) Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Traditionen (auch die Chicagoer Schule ist durch Simmel beeinflusst), als auch (soziogenetisch) auf ähnliche „Seins-Voraussetzungen“: Beide Theorietraditionen haben ihre Wurzeln ganz wesentlich in den Kulturkrisen der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, in einer Zeit, in der das Individuum zur „Distanzierung“ (Mannheim 1952b: 241) befähigt und zugleich genötigt wurde. „Es scheint ein Kennzeichen der Gegenwart zu sein, dass Normen und Wahrheiten, die einst für absolut, allgemein und ewig galten [...], in Frage gestellt werden“, heißt es bei Louis Wirth (1952: IX), einem der führenden Vertreter der Chicagoer Schule, in seinem (1937 erschienenen) Vorwort zur englischen Ausgabe von Mannheims „Ideologie und Utopie“. In der Chicagoer Schule war diese Attitüde des Vergleichens, also die komparative Analyse, bereits angelegt in den klassischen Studien des Golden Age, um dann in der Grounded Theory von Glaser/Strauss (1969) zu ihrer umfassenden methodologischen Bedeutung und Explikation gebracht zu werden (s. dazu: Nohl 2003: 71–76; Bohnsack 2005b). Auf die Herausforderungen der Eigenlogiken der sich im Modernisierungsprozess Anfang des 20. Jahrhunderts ausdifferenzierenden sozialen Welten oder Erfahrungsräume mit ihren je unterschiedlichen Wahrheiten haben also gleichermaßen die Chicagoer Schule wie Mannheims Wissenssoziologie mit einer distanzierten Analyseeinstellung reagiert. Diese operiert auf der Basis einer Suspendierung der Ansprüche auf Wahrheit und normative Richtigkeit und wurde bei Mannheim mit dem Begriff der „Einklammerung des Geltungscharakters“ und in der Chicagoer Schule mit demjenigen der „nichtmoralischen“ („non-moral“) Haltung bezeichnet (Cressey 1983: 117). Diese mit der komparativen Analyse eng verbundene Analyseeinstellung lässt sich u.a. als prozessanalytische oder genetische bezeichnen. Sie hat die sozialwissenschaftliche Methodologie von den 1920er Jahren bis ins nächste Jahrhundert hinein entscheidend beeinflusst. Als ausgewiesenem Kenner beider Theorietraditionen ist es Joachim Matthes gelungen, wesentliche Elemente aus diesen beiden – sowohl aus der komparativen Analyse der Chicagoer Schule wie auch aus der Analyse der Seinsverbundenheit des Wissens bei Mannheim – für eine Methodologie des Vergleichens fruchtbar zu machen. Jenseits der Gemeinsamkeiten beider Traditionen sind die Unterschiede zwischen ihnen allerdings nicht zu vernachlässigen: Die von Mannheim mit dem Begriff des „Relationierens“ gefasste Haltung der Wissenssoziologie ist in wesentlichen Hinsichten umfassender als die Analyseeinstellung der Chi103
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cagoer Schule. Wenn es bei Mannheim (1952b: 242) heißt, dass ich die jeweiligen Äußerungen oder Handlungen „stets auf eine bestimmte Art der Weltauslegung und diese wieder auf eine bestimmte soziale Struktur, also auf ihre Seins-Voraussetzung“ beziehe, so haben wir es mit zwei Analyseschritten zu tun. Den ersten Schritt des Relationierens – den Bezug auf eine „Weltauslegung“ oder Weltanschauung – haben wir mit Mannheim (1980: 86ff.) als „sinngenetische“ und den zweiten Schritt – den Bezug auf die „soziale Struktur“ – als „soziogenetische Interpretation“ und „soziogenetische Typenbildung“ − bezeichnet (s. Bohnsack 2003a: Kap. 8.3.; Bohnsack 2001a). Dieser zweite Schritt der Analyse ist derjenige, welcher spezifische Äußerungen oder Handlungen respektive die darin implizierten Orientierungen auf die Bedingungen der sozialen Lagerung, d.h. auf spezifische Erfahrungsräume bezieht (solche des Milieus, der Generation, der Zeitgeschichte, aber auch des Geschlechts). Beide Schritte – sinngenetische wie soziogenetische Interpretation – sind wesentliche Komponenten der „dokumentarischen Methode“ und stehen in engem Zusammenhang mit der komparativen Analyse. Denn die Gesamtgestalt oder „Totalität“ einer Weltanschauung wird erst in Relation zu anderen Weltanschauungen, d.h. vor deren Vergleichshorizonten, rekonstruierbar. Während der Schritt der sinngenetischen Interpretation in der Chicagoer Schule umfassend herausgearbeitet wurde, ist der zweite Schritt der Relationierung, derjenige der soziogenetischen Interpretation, dort nicht oder nur wenig systematisch beschritten worden. Dies gilt sowohl für die Chicagoer Schule selbst als auch für die in ihrer Tradition stehenden Methodologien der Grounded Theory und des sog. interpretativen Paradigmas (zur Kritik am interpretativen Paradigma s. Bohnsack 2006). Eine andere (kritische) Grenzziehung zwischen den Methodologien in dieser Tradition und der Wissenssoziologie von Mannheim betrifft eine weitere, eine zusätzliche Bedeutung des Relationierens, nämlich die Relation des wissenschaftlichen Wissens und Denkens zu seinem sozialen Standort oder (Erfahrungs-) Raum. Die wichtige Einsicht in die Standortgebundenheit jeglichen, also auch des wissenschaftlichen Denkens und die daraus resultierende Zurückweisung des Anspruches auf eine höhere Rationalität wird im Rahmen des interpretativen Paradigmas in eins gesetzt mit einem Verzicht auf eine andere Rationalität, d.h. mit dem Verzicht auf einen Wechsel der Analyseeinstellung und damit dem Verzicht auf eine erkenntnislogische Differenz sozialwissenschaftlicher Analyse gegenüber dem Common Sense, dem Alltag überhaupt. Auch die Bewältigung dieses Problems führt über das Prinzip der komparativen Analyse: Denn die sozialwissenschaftliche Konstruktion unterscheidet sich von der des Common Sense durch den Wechsel der (Analyse-) Einstellung von der Frage, was die (gesellschaftliche) Realität ist, zur Frage danach, 104
KOMPARATIVE ANALYSE UND TYPENBILDUNG
wie diese hergestellt wird. Dieser Wechsel der Analyseeinstellung vom Was zum Wie findet sich bei Martin Heidegger (1986) und später auch bei Niklas Luhmann (1990), vor allem aber eben bei Karl Mannheim: „Nicht das ‚Was‘ eines objektiven Sinns, sondern das ‚Daß‘ und das ‚Wie‘ wird von dominierender Wichtigkeit“ (1964: 134; ursprünglich: 1921/22). Dabei ist wesentliches Element dieser sozialwissenschaftlichen Frage nach dem Wie der Herstellung der Common Sense-Konstruktionen die Analyse jener Vergleichshorizonte, also jener Komparationen, welche in diese Common SenseKonstruktionen und in jenes handlungsleitende Wissen – implizit – eingelassen sind, welches die Alltagspraxis orientiert und strukturiert (vgl. dazu: Bohnsack 1989: Kap. 1 sowie 2006). Die Differenz der sozialwissenschaftlichen Analyseeinstellung zu derjenigen des Common Sense erweist sich aber nicht allein in der – mit dem Wechsel zur Frage nach dem Wie, also der Frage nach den Herstellungsprinzipien verbundenen – Rekonstruktion der im Alltagswissen implizierten Vergleichshorizonte, Differenzkonstruktionen und Komparationen. Der Unterschied besteht auch darin, dass die sozialwissenschaftlichen Interpret(inn)en ihre eigene Standortgebundenheit in Ansätzen einer methodischen Kontrolle zugänglich machen. Dies geschieht, indem sie die – ihre eigenen Interpretationen orientierenden – imaginativen Vergleichshorizonte soweit wie möglich zum einen zur Explikation bringen und zum anderen durch empirisch fundierte Vergleichshorizonte ersetzen. Zwar ist auf diese Weise ein Ausstieg aus der Standortgebundenheit der (sozialwissenschaftlichen) Interpretation nicht prinzipiell möglich. Gleichwohl wird auf dem Wege der Orientierung an empirisch fundierten Vergleichshorizonten – also auf dem Wege der systematischen Relationierung mit empirisch rekonstruierten Vergleichsfällen – die methodische Kontrolle dieser Standortgebundenheit in Ansätzen möglich. Würden indes alleine die handlungspraktischen Erfahrungen der Forschenden oder ihre alltäglichen oder auch wissenschaftlichen Theorien den Vergleichshorizont bilden, fehlte eine wesentliche Voraussetzung für eine Differenz von sozialwissenschaftlichen Interpretationen und solchen des Common Sense. Es besteht die Gefahr einer „Nostrifizierung“ (vgl. Matthes 1992): Das Unbekannte, zu Erforschende wird in das Muster der eigenen Selbstverständlichkeiten eingeordnet. Die dokumentarische Methode, wie sie in den letzten 20 Jahren von Ralf Bohnsack und seiner Arbeitsgruppe (vgl. u.a. Bohnsack 1989, 2003a, b, 2006; Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2001; Nohl 2006) entwickelt worden ist, wirkt mit der komparativen Analyse derartigen „Nostrizifizierungen“ entgegen. Dabei zielt die vergleichende Rekonstruktion von empirischen Fällen darauf, der Unterschiedlichkeit von Milieus und Erfahrungsräumen in den Gesellschaften des 21. Jahrhunderts nachzugehen. Hieran anschließend geht
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es in der Typenbildung darum, die Überlagerung und wechselseitige Durchdringung dieser Erfahrungsräume in den einzelnen Fällen zu rekonstruieren. Wir widmen uns im Folgenden zunächst der komparativen Analyse (Abschnitt 2), um dann die Typenbildung der dokumentarischen Methode zu erläutern (Abschnitt 3) und schließlich darauf einzugehen, wie die unterschiedlichen (typisierten) Erfahrungsräume miteinander relationiert und empirische Ergebnisse generalisiert werden können (Abschnitt 4).
2 . Z u r k o m p a r a t i ve n An a l ys e i n d e r d o k u m e n t a r i s c h e n M e t ho d e Wir betrachten die komparative Analyse nicht als eine Methode neben anderen, sondern als einen die gesamte Forschungspraxis und alle Einzelmethoden durchwirkenden Stil im Sinne einer „constant comparative method“ der frühen Grounded Theory (Glaser/Strauss 1969: 101). Die komparative Analyse der dokumentarischen Methode vollzieht sich in allen ihren Analyseschritten: von der formulierenden und der reflektierenden Interpretation über die sinngenetische bis hin zur soziogenetischen Typenbildung. Wir möchten die Prinzipien der komparativen Analyse vor allem in den letzten beiden Schritten an einem empirischen Beispiel erläutern, welches aus einer Untersuchung über Jugendliche türkischer Herkunft stammt. Das Erkenntnisinteresse des Projekts zielt auf Orientierungsprobleme in der Adoleszenzphase in unterschiedlichen Milieus unter Bedingungen der Migration. Wir haben es hier nicht nur mit einem Phänomen zu tun, das zur Pluralisierung unserer Gesellschaften beiträgt. Vielmehr sind diese Jugendlichen selbst – wie zu zeigen sein wird – mit der gesellschaftlichen Pluralität auf existenzielle Weise konfrontiert. Da uns kollektive Orientierungen interessieren, konzentrieren wir uns auf die Auswertung von Gruppendiskussionen, an die dann diejenige von narrativen Interviews und Beobachtungsberichten anschließt.2 Zunächst geht es darum, einige heuristische Strategien für die Suche nach Vergleichsfällen, also heuristische Strategien des Sampling, aufzuzeigen (2.1). Dann werden wir auf einer methodologischen Ebene den steten Wech2
Das von der DFG finanzierte Projekt mit dem Titel: „Entwicklungs- und milieutypische Ausgrenzungs- und Kriminalisierungserfahrungen in Gruppen Jugendlicher“ (s. dazu u.a: Bohnsack/Nohl 1998, 2001 sowie Nohl 2001, 2003) steht in einem Zusammenhang mit vorangegangenen DFG-Projekten zu Jugendlichen in Gruppen sowohl in Berlin (s. Bohnsack et al. 1995) als auch in einer Kleinstadt mit ihren umliegenden Dörfern in Franken (s. Bohnsack 1989). Der Vergleich möglichst unterschiedlicher Milieus wurde darüber hinaus auch auf Jugendliche in São Paulo (Weller 2003) und – hinsichtlich der systematischen komparativen Analyse der Migranten mit einheimischen Jugendlichen – in Ankara (s. Nohl 2001) ausgeweitet.
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KOMPARATIVE ANALYSE UND TYPENBILDUNG
sel des tertium comparationis, also desjenigen gemeinsamen Dritten, das einen jeden Vergleich strukturiert, rekonstruieren (2.2).
2.1 Die Suche nach Vergleichsfällen Gleich zu Beginn der Forschung stellt sich die Frage, welche Fälle in die empirische Untersuchung einbezogen werden sollen. Glaser und Strauss (1969) haben hierzu die Vorgehensweise des „theoretical sampling“ vorgeschlagen, das der empirischen Generierung theoretischer Kategorien dient. Vergleichsfälle werden nach dem Primat der Frage ausgewählt, „für welchen theoretischen Zweck“ (1969: 47) sie nutzbar sind. In das Sample werden nur solche Fälle aufgenommen, anhand derer theoretische Kategorien oder – wie in der dokumentarischen Methode – Typen entwickelt, spezifiziert oder erweitert werden können. Insofern ist ein Fall nicht für sich relevant, sondern ausschließlich hinsichtlich der mit ihm generierten theoretischen Kategorien oder Typen. Eine Rekonstruktion des Fallspezifischen „um seiner selbst willen“ (ebd.: 49) ist nicht das Ziel dieses Vergleichs. Unsere Forschungsarbeit zu Jugendlichen aus Einwanderungsfamilien beispielsweise zielte nicht darauf, eine jugendliche Clique bzw. Gleichaltrigengruppe in ihrer Konkretheit zu beschreiben. Denn dann ließe sich nicht klären, was spezifisch für den einzelnen Fall ist und was diesen übergreift und typisch für einen bestimmten Erfahrungsraum, ein spezifisches Milieu ist. Dies wird erst im Vergleich unterschiedlicher Fälle evident. Daher mussten wir mehrere Gleichaltrigengruppen in die Untersuchung einbeziehen und in ihrem Vergleich typisierbare, fallübergreifende Strukturen (Erfahrungsräume) identifizieren. Grundlegend für die Suche nach Vergleichsfällen ist die Unterscheidung von immanenter und dokumentarischer Sinnebene, an die anknüpfend sich Vergleichsfälle auf drei Ebenen suchen lassen: auf der Ebene fallimmanenter Vergleichshorizonte, auf der themenbezogenen Suchebene sowie auf der Ebene der Orientierungsrahmen.
Fallimmanente Vergleichshorizonte Diese Suchebene, auf die wir nur kurz eingehen möchten, stützt sich auf die Rekonstruktion der im Alltagswissen implizierten Vergleichshorizonte, Differenzkonstruktionen und Komparationen: Die Personen oder Gruppen, die den Fall konstituieren, grenzen sich von anderen Personen oder Gruppen ab, sie vergleichen sich selbst mit anderen. Folgt man diesen Eigenrelationierungen, dann lassen sich – als eine erste, vorläufige und später gegebenenfalls zu revidierende Strategie des Sampling – die derart ausgewiesenen Einzelpersonen und Gruppen als neue, immanente empirische Vergleichsfälle heranziehen. 107
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Entscheidend ist es nun, Gemeinsamkeiten zwischen den Fällen herauszuarbeiten, vor deren Hintergrund sie miteinander verglichen werden können. Dies gilt umso mehr, als in den Eigenrelationierungen bzw. immanenten Vergleichshorizonten eines Falles zumeist Kontraste betont werden. Erst eine fallübergreifende Gemeinsamkeit aber, etwa ein gemeinsames Thema, vermag den Vergleich zu strukturieren.
Themenbezogene Vergleichshorizonte Ebenso wie die Eigenrelationierungen lassen sich auch die thematischen Gehalte in der formulierenden Interpretation, d.h. in der zusammenfassenden Wiedergabe eines Diskurses erfassen. Auf der themenbezogenen Suchebene wird aber unmittelbar nach einem Thema gesucht, das zwei oder mehreren Fällen gemeinsam ist. Denn erst auf dem Hintergrund des gemeinsamen Themas tritt im Vergleich der Fälle der je unterschiedliche (Orientierungs-) Rahmen, innerhalb dessen das Thema abgehandelt wird, deutlich hervor. Die themenbezogene Suche nach Vergleichsfällen eignet sich insbesondere wegen des geringen Interpretationsaufwandes, der für das erste Finden von Fällen notwendig ist. Im Vergleich auf der Ebene der reflektierenden Interpretation muss sich dann allerdings erst noch erweisen, ob die zuvor in immanenter Interpretation herangezogenen Fälle für die Typenbildung geeignet sind.
Orientierungsrahmen als Vergleichshorizonte Die Rekonstruktion des Orientierungsrahmens eines Falles ist Ergebnis der reflektierenden Interpretation. Im Unterschied zur formulierenden Interpretation geht es in der reflektierenden Interpretation nicht mehr um den thematischen Gehalt eines Textes oder Bildes (vgl. zur Bildinterpretation Bohnsack 2003a: Kap. 9), sondern um den (Orientierungs-) Rahmen, innerhalb dessen das Thema bearbeitet wird. In diesen beiden Interpretationsschritten wird mithin der in Abschnitt 1 erwähnte Wechsel vom Was eines Textes zum Wie seiner Herstellung forschungspraktisch vollzogen. Da die reflektierende Interpretation selbst an empirische Vergleichshorizonte gebunden ist und deshalb bisweilen als „vergleichende Interpretation“ (Straub 1999: 211; in diesem Band) subsumiert wird, ist die Suche nach Vergleichsfällen unabdingbarer Teil der Interpretation. Zu Beginn wird ein Text häufig noch vornehmlich auf dem Hintergrund der Vergleichshorizonte der Interpret(inn)en reflektierend interpretiert. In diese Vergleichshorizonte fließen die wissenschaftlichen und alltäglichen Theorien des/der Forschenden, mehr aber noch deren ins Vorreflexive sedimentierte handlungsleitende Erfahrungswissen ein, welches ihre „Standortgebundenheit“ und „Seinsverbundenheit“ konstituiert (Mannheim 1952a). 108
KOMPARATIVE ANALYSE UND TYPENBILDUNG
Erst wenn ein zweiter Fall hinzugezogen wird, können diese – auf der Grundlage des impliziten Wissens der Forschenden generierten – Vergleichshorizonte durch den empirischen Vergleich allmählich ergänzt und kontrolliert werden. Auf der Grundlage der ersten reflektierenden Interpretationen werden so erste Komponenten des Orientierungsrahmens eines ersten Falles herausgearbeitet, indem danach gefragt wird, wie, also in welchem Orientierungsrahmen, das Thema bearbeitet wird. Spätestens hier gilt es, einen zweiten Fall zu finden, in dem sich derselbe Orientierungsrahmen dokumentiert. Vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Orientierungsrahmens wird nun versucht, zu einer anderen Erfahrungsdimension der beiden Fälle vorzudringen, um dort Orientierungsrahmen zu rekonstruieren, die miteinander kontrastieren. Die Gemeinsamkeiten des Orientierungsrahmens, die sich in zwei Fällen etablieren lassen, beziehen sich also nie auf den ganzen Fall, sondern immer nur auf eine spezifische Erfahrungsdimension, während in anderen Erfahrungsdimensionen des Falles differente Orientierungsrahmen deutlich werden können. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Orientierungsrahmen werden auch in der oben genannten empirischen Untersuchung zu Jugendlichen aus Einwanderungsfamilien deutlich (s. Abbildung 1). So dokumentieren sich zwischen den Jugendcliquen, denen wir die Codenamen Katze und Wildcats gegeben haben, Gemeinsamkeiten des migrationsspezifischen Orientierungsrahmens, wenn man sie mit einer Gruppe von einheimischen Jugendlichen, der Gruppe Top, vergleicht. Beide, Wildcats und Katze, erfahren eine tiefgreifende Differenz zwischen ihrer Familie und der gesellschaftlich-öffentlichen Sphäre, eine „Sphärendifferenz“, wie wir es genannt haben (vgl. Bohnsack/Nohl 1998). Gleichzeitig zeigt sich zwischen Wildcats und Katze ein Unterschied hinsichtlich der Orientierungsrahmen: In der Gruppe Wildcats zeichnen sich massive Konflikte mit der Familie und der Gesellschaft und eine provokative Suche nach Autonomie ihnen gegenüber ab, während in der Gruppe Katze eine scharfe Grenzziehung gegenüber der familialen und der gesellschaftlichen Sphäre besteht und diese Beziehungen ordnet. Dieser Unterschied lässt sich nur mit einer Erweiterung des Vergleichs näher untersuchen, dann also, wenn ein vierter Fall, etwa die Gruppe Idee, in die komparative Analyse einbezogen wird. Auch in der Gruppe Idee finden sich ältere Jugendliche aus Einwanderungsfamilien zusammen, die sich mit ihren Eltern und der Gesellschaft weitgehend arrangiert haben, indem sie ihnen gegenüber eine Grenze ziehen und so die Sphären trennen. Zugleich suchen sie – hierin der Gruppe Katze ähnlich – nach einer Art „dritten Sphäre“ jenseits von familialer und gesellschaftlicher Sphäre. Angesichts der Gleichaltrigkeit dieser Jugendlichen mit den Mitgliedern der Gruppe Katze (es handelt sich in beiden Fällen um 19- bis 23Jährige) und des Altersunterschiedes zu den Mitgliedern der Gruppe Wildcats 109
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(hier sind es 17- bis 18-Jährige) lässt sich der, den Gruppen Katze und Idee gemeinsame Orientierungsrahmen der Sphärentrennung als entwicklungsspezifisch identifizieren. Neben dieser Gemeinsamkeit des Orientierungsrahmens zwischen den Gruppen Katze und Idee zeigt sich aber ein Kontrast, insofern die Mitglieder der Gruppe Idee weniger eine handlungspraktische, denn eine theoretischintellektualisierende Sphärentrennung vollziehen. Im Kontrast hierzu sind die Konflikte bei den Gruppen Katze bzw. Wildcats vornehmlich praktischer Art. Wenn wir hier unser Wissen über die Ausbildung der Jugendlichen einbeziehen und entsprechende Erfahrungen der Jugendlichen rekonstruieren, so lässt sich dieser gemeinsame Orientierungsrahmen der Gruppen Katze und Wildcats in der bildungsspezifischen Erfahrungsdimension verorten. Denn während sie sich hinsichtlich des entwicklungsspezifischen Orientierungsrahmens unterscheiden, ist der niedrige Bildungsabschluss beiden Gruppen gemeinsam. Demgegenüber finden sich in der Gruppe Idee Studenten zusammen. Damit wird auch der Unterschied zwischen den Gruppen Idee und Katze – vorläufig – als einer der bildungsspezifischen Erfahrungsdimension deutbar. Diese bildungsspezifischen Erfahrungen dokumentieren sich, wie die weitere Analyse zeigte, auch in den Diskursen der beiden Gruppen.
Top
Wildcats
Katze
bildungsspezifische Gemeinsamkeit Kontrast Kontrast
Idee
Kontrast
entwicklungsspezifische Gemeinsamkeit
migrationsspezifische Gemeinsamkeit
Forschende
Abbildung 1 Die Suche nach gemeinsamen Orientierungsrahmen eröffnet somit Vergleichsmöglichkeiten zwischen den Fällen, um dann – auf dem Wege der soziogenetischen Typenbildung – die Orientierungsrahmen in ihrer Verknüpf110
KOMPARATIVE ANALYSE UND TYPENBILDUNG
ung mit unterschiedlichen Erfahrungsdimensionen (z.B. solchen des Alters, der Bildung oder der Migration) herausarbeiten zu können. Die entsprechenden Vergleichsfälle lassen sich allerdings nicht in der unmittelbaren Anschauung finden, wie dies auf der Ebene immanenter Vergleichsfälle und der themenbezogenen Suche möglich ist. Auch reichen „objektive“ Kriterien nicht aus, um Fälle mit bestimmten Erfahrungsdimensionen zu ermitteln. So ist es nicht ausschlaggebend, ob die Jugendlichen eines Falles ein bestimmtes Alter haben oder aus eingewanderten Familien stammen, sondern ob sich dies in entsprechenden Erfahrungen niederschlägt. In der Suche nach Vergleichsfällen wird forschungspraktisch die Voraussetzung für die Interpretation geschaffen. Die Suche nach Fällen begleitet einen Interpretationsprozess, der bislang nur als Argumentationsfolie für die Ausführungen zu den Suchstrategien diente. Wenn wir im Folgenden den Verlauf dieser vergleichenden, dokumentarischen Interpretation genauer rekonstruieren, so geht es nun auch verstärkt um methodologische Aspekte der komparativen Analyse.
2.2 Tertium comparationis Das in den Suchstrategien bei zwei Fällen gefundene Gemeinsame bildet ein Drittes, ein tertium comparationis, auf dessen Hintergrund im Vergleich Kontraste deutlich werden. Dieses tertium comparationis findet sich in jeder Form und Phase vergleichender Interpretation. Die Ergiebigkeit und Validität eines Vergleichs steigt mit der Präzision, mit der sein tertium comparationis definiert bzw. rekonstruiert werden kann. Nur so wird auch eine Nostrifizierung verhindert, in welcher das tertium „nicht als ein Drittes neben den beiden Größen, die zu ‚vergleichen‘ sind, sondern als eine Universalisierung der einen Größe in Gestalt eines abstrakten Begriffes“ gebildet würde (Matthes 1992: 84). Hinsichtlich der Definition des tertium comparationis lassen sich zwei Ebenen unterscheiden: Erstens ist – auf einer grundlegenden Ebene, nämlich jener der Grundbegrifflichkeiten – das tertium comparationis im Sinne eines „Denkraumes“ (ebd.: 96) der empirischen Analyse vorausgesetzt. Zweitens lassen sich – auf dieser Grundlage – im Zuge der empirischen Analyse weitere tertia comparationis rekonstruieren. 1. In der begrifflichen Explikation des tertium comparationis auf einer abstrakten Ebene liegt die Bedeutung von (der jeweiligen Sozialwissenschaft eigenen) Grundbegrifflichkeiten im Sinne metatheoretischer Kategorien, wie sie von gegenstandsbezogenen Kategorien zu differenzieren sind. Diese Differenzierung ist von entscheidender methodologischer Bedeutung. In dem hier verstandenen Sinne kann als metatheoretische jene Begrifflichkeit gelten, die sich in der Lage zeigt, die in unterschiedlichen Gegenstandsbereichen vor111
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findbaren „Konstruktionen ersten Grades“ so ineinander zu „übersetzen“, dass sie überhaupt (im Sinne einer komparativen Analyse) vergleichbar werden (ebd.). Erst auf dieser Basis gelingt es, im Vollzug der komparativen Analyse die gegenstandsbezogene Theorie zu generieren. So ist z.B. bei einer komparativen Analyse von Gruppendiskussionen, die gegenstandsbezogene Theoriebildung ermöglichen soll, u.a. eine abstrakte Definition dessen vorausgesetzt, was mit Begriffen wie „Gruppe“ und „Milieu“ gemeint ist. 2. In den aufeinander folgenden Stufen des Vergleichs, wie sie bereits in Abschnitt 2.1 skizziert wurden, bildet sich jeweils ein gemeinsames Drittes, ein tertium comparationis, das es in einer Art „Meta-Reflexion“ (ebd.: 83) zu rekonstruieren gilt. Die Angemessenheit des jeweiligen tertium comparationis kann hier nur aus dem Forschungsprozess heraus begründet werden. Dies ist dann möglich, wenn sein Anwachsen von der ersten bis zur letzten Phase des Vergleichens rekonstruierbar ist. Im Folgenden rekonstruieren wir die unterschiedlichen Phasen der komparativen Analyse und beobachten, wie das tertium comparationis sich in ihnen bildet.
Tertium comparationis im fallinternen Vergleich Unsere obigen Ausführungen zu Suchstrategien könnten dahingehend missverstanden werden, dass der Vergleich sich ausschließlich zwischen Fällen vollziehen würde. Mit dem fallübergreifenden Vergleich ist jedoch der fallinterne Vergleich3 verwoben. Dieser soll, da sich hier zentrale Elemente der dokumentarischen Methode herausarbeiten lassen, vom Fallvergleich analytisch getrennt betrachtet werden. Der fallinterne Vergleich lässt sich am besten in der reflektierenden Interpretation herausarbeiten, in der es herauszufinden gilt, in welchem Orientierungsrahmen das Thema eines transkribierten Textes bearbeitet wird. Der Orientierungsrahmen wird nicht in einer einzelnen Sequenz, sondern im Bezug verschiedener Sequenzen zueinander rekonstruiert. Dieser Gedanke ist zuerst in der Konversationsanalyse entworfen worden: „Die Bestimmung des Handlungspotentials, das eine Sequenz im konkreten Falle realisiert, verlangt eine Konsultation ihrer sequentiellen Umgebung; nicht die einzelne sprachliche Handlung, sondern allein die Aktivitätssequenz ist als Einheit für die Analyse geeignet“ (Streeck 1983: 91). Zentrales Argument der Konversationsanalyse ist, dass jede einzelne Sequenz an die vorhergehende regelhaft anknüpft: „Das bedeutet, daß – sofern eine erste Sequenz gegeben ist −, auf diese nicht irgendeine zweite Sequenz 3
Der fallinterne Vergleich ist als Leistung der dokumentarischen Interpretation der Forschenden nicht zu verwechseln mit dem fallimmanenten Vergleich, der im Fall selbst, d.h. von den untersuchten Personen oder Gruppen, anhand ihrer eigenen Differenzkonstruktionen erstellt wird.
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folgen kann, sondern bei einer gegebenen ersten nur manche zweite Sequenzen zugelassen und vollzogen werden“ (Sacks 1995: 521). Entscheidend ist dabei, dass die jeweiligen zweiten Sequenzen „keine extrinsische Begründung für ihren Vollzug brauchen“, da sie dadurch erklärt sind, dass „zuvor die ersten Sequenzen gemacht wurden“ (ebd.: 530). Die zweite Sequenz ist also immer die als adäquat angenommene Reaktion auf eine erste Sequenz. Diese Argumentation der Konversationsanalyse, die sich auf die formale Organisation des Diskurses, die Organisation des Sprecherwechsels („turntaking“) bezieht, lässt sich auch auf der Ebene tieferliegender semantischer Strukturen geltend machen, auf der Ebene der dokumentarischen Interpretation des Orientierungsrahmens. Sofern das Thema des Diskurses in einem einzigen homologen Rahmen bearbeitet wird, kann auf eine spezifische erste Sequenz nur eine spezifische, nämlich dem homologen Rahmen entsprechende, zweite Sequenz folgen. Die Bestimmung des Orientierungsrahmens bzw. seiner Komponenten wird durch den Dreierschritt von erster Sequenz, zweiter Sequenz (Reaktion) und dritter Sequenz (Ratifizierung des Rahmens) möglich. Wenn die Reaktion auf die erste Sequenz dem homologen Rahmen des Falles entsprechen sollte, dann ist zu erwarten, dass diese Reaktion in der dritten Sequenz ratifiziert wird. Ein homologer Rahmen liegt also nur dann vor, wenn dieser in allen drei Sequenzen geteilt wird. Forschungspraktisch wird in der reflektierenden Interpretation die zweite Sequenz als gegebene, adäquate Reaktion auf eine erste Sequenz betrachtet und es werden Alternativen zur zweiten Sequenz gedankenexperimentell erörtert. Die übergreifende Gemeinsamkeit all dieser alternativen zweiten Sequenzen, die auf die erste Sequenz eine angemessene Reaktion darstellen und der gegebenen zweiten Sequenz äquivalent sind, ist der homologe Orientierungsrahmen (vgl. ebd.: 534ff.). Dieser wird gerade dann evident, wenn er gegenüber differenten Orientierungsrahmen in anderen empirischen Fällen abgegrenzt werden kann, d.h. wenn er mit einer differenten empirisch gegebenen Folge von Sequenzen kontrastiert werden kann. Als Beispiel für die Sequenzanalyse möchten wir auf unsere empirische Untersuchung zu Jugendlichen aus Einwanderungsfamilien zurückgreifen und den Diskurs der Gruppe Katze über die familialen Beziehungen verwenden, aus dem im Folgenden ein Ausschnitt wiedergegeben wird:4 Deniz: Ja stell mal paar Fragen; auch du ja, Y2: Vielleicht was ihr so macht zu Hause, in der Familie, Hafiz: Schlafen; Deniz: Wir sind also wir eh bei uns is so also ich kann jetz auch für mich nur reden also; bei mir ist es so (.) zum Beispiel auch wenn ich nicht oft zu Hause bin so, (.) 4
Das Transkript wird hier leicht vereinfacht wiedergegeben. Vgl. für die Originalversion und ihren Kontext Nohl (2001: 181).
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ich denk immer an die Familie so. Es is nicht so dass ich so sage (.) lan so Scheiß Familie oder dies das das geht mich nichts an oder so. So bei manchen Deutschen ist ja so weil die von andren Kultur kommen aber (.) bei mir ist so wenn ich von Arbeit komme dann geh ich nach Hause essen, meine Mutter hat schon Essen gemacht und so, dann guck ich bisschen Fernsehen, (1) dann redet sie und so und so und so; dann hör ich zu, dann geh ich wieder raus auf die Straße so; rumhängen. Dann komm ich so abends um zehn oder so wieder nach Hause, (.) dann redet sie wieder so also da unterhalten wir uns so bisschen, und dann (.) geh ich wieder schlafen so. (1) So aber man erledigt auch so Wochenende so einkaufen oder wenn man irgendwelchen Amt hat und so was so. (3) Man redet nich so über Vergnügen und so Spaß und so, nur was so anfällt muss man bisschen erledigen. (4) Aziz: Das is auch so ganz anders was zu Hause zum Beispiel abläuft oder so; also (.) man ist zu Deniz: Jaa Aziz: Hause ganz anders als als als man draußen ist oder so. Faris: Draußen. Aziz: Weil man muss Deniz: Ja zu Hause die die haben von gar nichts ne Ahnung so; die denken so mein Sohn geht jetz bisschen Aziz: Ja. Deniz: raus, schnapp sein frische Luft und kommt so (.) eh Reisessen steht wieder vorm Tisch so, würklich jetz; die denken so die die ham noch so alte Denkweise so (.)
Beginnen wir (der Einfachheit halber) die Sequenzanalyse mit Deniz’ Beschreibung seiner familialen Aktivitäten („bei mir ist so wenn ich ...“). Der Orientierungsrahmen, innerhalb dessen hier das Thema abgehandelt wird, bleibt zunächst unklar. Ziehen wir aber die zweite Sequenz, die Reaktion von Aziz heran („Das ist auch so ganz anders...“) und suchen gedankenexperimentell nach äquivalenten alternativen Reaktionen, die der ersten Sequenz entsprechen, so lässt sich als deren übergreifende Gemeinsamkeit die Trennung der familialen, inneren Sphäre von der äußeren Sphäre („Straße“; „draußen“) sowie die biografisch nicht relevante Kommunikation innerhalb der Familie bestimmen. Dieser Orientierungsrahmen der Sphärentrennung wird nach der Sequenz von Aziz wiederum von Deniz ratifiziert und weiter ausgearbeitet, indem er die „alte Denkweise“ der Eltern von den Aktivitäten der Jugendlichen unterscheidet. Diese Sequenzfolge gewinnt an Kontur, wenn sie etwa kontrastiert wird mit der spezifischen Art und Weise, wie einheimische Jugendliche, z.B. diejenigen der Gruppe Top, über ihre Familie reden. Denn diese einheimischen Jugendlichen betonen gerade den engen Zusammenhang von Familie und öffentlichen Institutionen. In dieser Sequenzanalyse bildet der homologe Orientierungsrahmen das tertium comparationis. Die komparative Analyse beginnt in der dokumentari114
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schen Interpretation also bereits in der Analyse der Sequenzen eines einzelnen Falles. Damit wird besonders deutlich, dass es sich beim Vergleich um einen die gesamte Forschung durchdringenden Stil handelt und nicht um eine Methode, die auf einen bestimmten Aspekt oder eine bestimmte Phase der Forschung zu beschränken wäre. Im Zuge dieses Vergleichs ist das tertium comparationis (der homologe Rahmen) allerdings noch nicht definierbar – es ist ja erst das Produkt des Vergleichs. Insofern ist es unmöglich, das tertium comparationis im Vollzug der komparativen Analyse im Blick zu behalten. Hilfreich sind hier einige Überlegungen Luhmanns zum Beobachten, das – so wie er es begreift – der komparativen Analyse sehr nahe kommt: Beobachten ist, formal definiert, eine „Operation des Unterscheidens und Bezeichnens“ (1990: 73). In der Unterscheidung entstehen zwei Seiten in einer Form. Übertragen auf den geschilderten Problemzusammenhang des fallinternen Vergleichs bedeutet dies: Es entstehen Interpretationen zu zwei thematischen Abschnitten innerhalb eines Falles. Zwischen den beiden Seiten liegt eine Grenze. Im Zuge der Operation ist diese Grenze, diese Unterscheidung selbst dem Beobachter unzugänglich; sie wird „ungesehen praktiziert“ (ebd.: 74). Die Grenze kann jedoch überschritten und die Seite gewechselt werden, aber das kostet Zeit (vgl. ebd.: 79). Das tertium comparationis lässt sich somit als die Unterscheidung bzw. Grenze begreifen, die im Zuge des Vergleichens immer einen blinden Fleck darstellt. In der vergleichenden Interpretation kann das tertium comparationis also nur vollzogen, zur Performanz gebracht, nicht aber gesehen werden.5 Nur auf einer zweiten Ebene der Beobachtung, z.B. in der Rekonstruktion der Forschungspraxis, wird das tertium comparationis greifbar. Dies schließt nahtlos an Luhmanns Imperativ „beobachte den Beobachter“ (ebd.) an – und die nicht lösbaren Paradoxien dieser kybernetischen Essenz mit ein: Auch das Beobachten des Beobachters impliziert wieder unbeobachtete Unterscheidungen, die erst auf der nächst höheren Ebene sichtbar werden.
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Dieses grundsätzliche Problem des Vergleichens kann auf einer praktischen Ebene bearbeitet werden, wenn man – wie Waldenfels (1994: 17) – Hoffnungen in eine „Ethnologie Europas durch Nichteuropäer“ setzt. Der Kulturvergleich, den die jungen VertreterInnen einer „‚außerwestlichen‘ Soziologenschaft“ mit ihrer „Abwehr gegen ein integrationalistisches professionelles Selbstverständnis und gegen eine integralistische Sicht von ‚Gesellschaften‘ und ‚Kulturen‘“ (Matthes 1992: 92) anstellen, kann allerdings ebenso wenig die prinzipielle Unsichtbarkeit des tertium comparationis im Zuge des Vergleichs aufheben wie der Vergleich durch den „biographischen Grenzgänger“ (Matthes 1994: 21) zwischen den Kulturen. Hier ist nur auf vom Gehalt her andere tertia comparationis zu hoffen.
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Tertium comparationis im Fallvergleich Der Vergleich verschiedener Fälle kann – je nach Suchstrategie – auf zwei Ebenen ansetzen: beim immanenten oder beim dokumentarischen Sinngehalt eines Falles. Die tertia comparationis, die im Fallvergleich zum Tragen kommen, stehen im Zusammenhang mit diesen beiden Sinnebenen. Auf der Ebene des immanenten Sinngehalts konstituiert ein zwei Fällen gemeinsames Thema (in unserem Forschungsbeispiel: Familie und Gesellschaft) das tertium comparationis. Nachdem dieses gemeinsame Thema in formulierender Interpretation ermittelt worden ist, geht der Vergleich über den immanenten Sinngehalt hinaus und zielt auf die unterschiedliche Bearbeitung, die das Thema durch die beiden Fälle erfährt (im Beispiel: Konflikte mit Familie und Gesellschaft bei Wildcats versus Sphärentrennung bei Katze und Idee). So wird in der reflektierenden Interpretation der Orientierungsrahmen rekonstruiert, innerhalb dessen das Thema behandelt wird. Die Ebene des dokumentarischen Sinngehalts beginnt bei diesem Orientierungsrahmen. Wenn in zwei unterschiedlichen Fällen ein homologer Orientierungsrahmen rekonstruiert wurde, wenn also in beiden Fällen ein Thema auf eine gleichartige Weise verarbeitet wird (im Beispiel die Sphärentrennung bei Katze und Idee), so kann dieser als tertium comparationis dienen. Vor dessen Hintergrund lassen sich dann weitere, diesmal allerdings in jedem Fall variante, Orientierungsrahmen entdecken und miteinander vergleichen (im Beispiel: die unterschiedlichen bildungsspezifischen Orientierungsrahmen bei Katze und Idee). Für beide Formen des tertium comparationis spielt die Unterscheidung von formulierender und reflektierender Interpretation und mit ihr die Differenz der Sinnebenen eine wichtige Rolle. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass mit dem Übergang vom immanenten zum dokumentarischen Sinngehalt eines Textes die Analyseeinstellung gewechselt wird (vom Was zum Wie), dann lässt sich erkennen, dass auch das tertium comparationis sich – vom immanenten hin zum dokumentarischen Sinngehalt bzw. vom Thema zum Orientierungsrahmen – in seiner Abstraktionsstufe erhöht. Der Vergleich und mit ihm das tertium comparationis schreiten sukzessive von einer konkreteren zu einer abstrakteren Stufe fort. Wenn der Vergleich dazu dient, den Abstraktionsgrad der empirischen Analyse zu erhöhen, so zielt dies vor allem auf die Bildung von Theorien und von Typiken. Schon Glaser und Strauss haben genau zwischen der Rekonstruktion des Falles und der Theoriebildung differenziert und den Soziolog(inn)en (im Unterschied zu den Ethnograf[inn]en) Folgendes aufgetragen: „His job is not to provide a perfect description of an area, but to develop a theory that accounts for much of the relevant behavior“ (1969: 30). Diejenige
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Form der Theorie, die in der dokumentarischen Methode angemessen erscheint, ist die Bildung von Typen bzw. Typiken.
3 . Z u r T yp e n b i l d u n g i n d e r dokumentarischen Methode In der dokumentarischen Methode ist die Frage nach dem Sinn einer Handlung oder Äußerung eine Frage nach der Struktur, nach dem generativen Muster oder der generativen Formel, dem modus operandi des handlungspraktischen Herstellungsprozesses. Das generative (Sinn-) Muster bezeichnen wir – wie gesagt – als Orientierungsrahmen oder auch als Habitus, eine darauf gerichtete Typenbildung mit einem Begriff von Mannheim (1980: 85ff.) als eine sinngenetische. Die auf diesem Analyseschritt aufbauende und ihn weiterführende Typenbildung haben wir eine soziogenetische (ebd.) genannt, denn diese schließt – durchaus im Sinne des idealtypischen Verstehens bei Max Weber (s. dazu: Bohnsack 2001, 2005a) – die Frage nach der sozialen Genese dieses Orientierungsrahmens mit ein und „erklärt“ ihn somit in gewisser Weise. Die soziogenetische Typenbildung fragt nach dem Erfahrungshintergrund, genauer nach dem spezifischen Erfahrungsraum, innerhalb dessen die Genese einer Orientierung, eines Habitus zu suchen ist. Wenn wir zum Beispiel sagen, eine von uns beobachtete Orientierung sei „typisch dörflich“, so ist damit gesagt, dass ihre Genese im dörflichen Erfahrungsraum zu suchen sei. Damit ist auf vier grundsätzlich unterscheidbare Analyseschritte verwiesen: Zunächst geht es um die Generierung des generativen Musters, des Orientierungsrahmens, und zwar auf dem Wege seiner begrifflichen Explikation im Zuge der reflektierenden Interpretation. Zweitens geht es um die Abstraktion und drittens um die Spezifizierung dieses Orientierungsrahmens. Den zweiten und den dritten Schritt bezeichnen wir als sinngenetische Typenbildung (Abschnitt 3.1), die – wie dargelegt – noch zu unterscheiden ist von der soziogenetischen Typenbildung (Abschnitt 3.2). Im Zuge der soziogenetischen Typenbildung wird – und dies ist der vierte Schritt – der Typus zunächst innerhalb einer Typologie verortet, indem seine Beziehung zu und Abgrenzung von anderen auch möglichen Typen oder Typiken (u.a. Milieu-, Geschlechts-, Generations- und Bildungstypik) herausgearbeitet wird. Erst auf dieser Stufe lässt sich von einer Generalisierung des Typus sprechen (s. Abschnitt 4).
3.1 Zur Methodik sinngenetischer Typenbildung Bei den von uns untersuchten Jugendlichen türkischer Herkunft in der späten Adoleszenzphase hatten in den Gruppendiskussionen vor allem jene Passagen 117
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einen fokussierten Charakter, in denen über die Beziehung zur Herkunftsfamilie oder zur Freundin bzw. zukünftigen Ehefrau sowie über die Möglichkeiten der Gründung einer eigenen Familie verhandelt wurde. Die für die Jugendlichen zentrale Orientierungsfigur oder Orientierungsproblematik ist in der Regel nicht Gegenstand expliziter (also theoretisch-reflexiver) Darstellungen. Sie begegnet uns in impliziter oder atheoretischer Weise, d.h. in Form von Beschreibungen und Erzählungen der Alltagspraxis, die zum Teil auch Bezug auf den Migrationshintergrund nehmen. Dass die Proband(inn)en die Struktur ihrer Handlungspraxis in bestimmten Aspekten selbst begrifflich (theoretisch) zur Explikation bringen, stellt die Ausnahme dar. Dies ist beispielsweise dort der Fall, wo die Jugendlichen der Gruppe Katze in der in Abschnitt 2.2 ausführlich zitierten Gruppendiskussion formulieren: „man ist zu Hause ganz anders als man draußen ist oder so“. Und ein anderer fährt fort: „ja zu Hause die die haben von gar nichts ne Ahnung so“. Hier kommt eine strikte Trennung zweier Bereiche: eines inneren („zu Hause“) und eines äußeren („draußen“) zum Ausdruck. Im Zuge der Abstraktion der rekonstruierten Orientierungsfigur, die dem Prinzip der Abduktion folgt (dazu genauer Bohnsack 2003a: 197ff.), wird nun zuerst in thematisch vergleichbaren, also auf die familiale Interaktion bezogenen Passagen aus Diskussionen mit anderen Gruppen nach einem analogen oder homologen Muster gesucht, welches dort möglicherweise in ganz anderen Formulierungen zum Ausdruck gebracht wird. So ist in einer anderen Gruppe beispielsweise vom „Respekt“ dem Vater gegenüber die Rede. Dieser Respekt gebietet es, spezifische Bereiche des eigenen Handelns innerhalb der Familie zu unterlassen, ja nicht einmal zu thematisieren: angefangen vom Rauchen bis hin zur Beziehung zu den Freundinnen und den Konflikten mit der Polizei. Das heißt, spezifische Bereiche der eigenen Identität werden aus der innerfamilialen Kommunikation und Interaktion ausgeklammert. Auf dem Wege des Fallvergleichs lässt sich die Orientierungsfigur nun zu einer Klasse von Orientierungen abstrahieren, die wir als diejenige der „Sphärendifferenz“ bezeichnet haben. Gemeint ist die Trennung von innerer, also familialer und verwandtschaftlicher Sphäre einerseits und äußerer Sphäre also derjenigen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und ihrer Institutionen, andererseits. Eine derartige fallübergreifende komparative Analyse, mit der die Abstraktionsfähigkeit von Orientierungsmustern ausgelotet wird, sollte schon sehr früh im Forschungsprozess erfolgen, weil auf diese Weise das Verallgemeinerungspotential von der fallspezifischen Besonderheit abgehoben werden kann. Nachdem – in einem ersten Schritt – das Abstraktionspotential eines Orientierungsrahmens herausgearbeitet wurde, geht es im nächsten Schritt – in einer gegenläufigen Bewegung – um die Spezifizierung des derart gewonnenen Typus. Die nun folgende fallübergreifende komparative Analyse ist nicht 118
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mehr primär auf die Gemeinsamkeiten jener Fälle gerichtet, die Gegenstand der Analyse sind, sondern auf die Kontraste zwischen ihnen. Genauer betrachtet vollzieht sie sich nach dem Prinzip des Kontrasts in der Gemeinsamkeit. Das gemeinsame Dritte, das tertium comparationis ist nun nicht mehr durch ein (fallübergreifend) vergleichbares Thema gegeben, sondern durch den (fallübergreifend) abstrahierten Orientierungsrahmen bzw. Typus, hier also denjenigen der Sphärendifferenz. Dieser Typus soll nun in seinen spezifischen Ausprägungen sichtbar gemacht, auf diese Weise aber auch validiert und präzisiert werden. Anhand von ca. 20 intensiv ausgewerteten Fällen konnten wir auf der Basis der dokumentarischen Interpretation von Gruppendiskussionen, biografischen Interviews und teilnehmender Beobachtung vier unterschiedliche Modi oder Wege des Umgangs mit der Sphärendifferenz herausarbeiten: den Typus der Exklusivität der inneren Sphäre, den Typus der Primordialität der inneren Sphäre, den Typus der Sphären(dif)fusion, den Typus der Suche nach einer dritten Sphäre (vgl. ausführlich: Bohnsack/Nohl 1998, 2001; Nohl 2001). Der letztgenannte Typus der Suche nach einer dritten Sphäre deutete sich bereits in Abschnitt 2.2 bei den Gruppen Katze und Idee an. Um die derart spezifizierten Milieutypen zu validieren, d.h. auf ihre Gütigkeit hin zu überprüfen, aber zugleich um sie zu präzisieren bzw. fortschreitend zu elaborieren, werden diese im Zuge einer fallinternen komparativen Analyse daraufhin überprüft, ob (und im Hinblick auf welche Komponenten) sie für die Fälle, also für die Gruppen oder Individuen, von genereller Relevanz sind. Dies trifft dann zu, wenn das typisierte Orientierungsmuster in unterschiedlichen Situationen der Alltagspraxis Relevanz gewinnt, genauer: wenn es als modus operandi oder generative Struktur der Produktion und Reproduktion unterschiedlicher interaktiver Szenerien (wenn auch in unterschiedlicher Intensität) zugrunde liegt. „Die Frage nach der Gültigkeit einer solchen Struktur beantwortet sich aus dieser Perspektive also nicht über ihre Häufigkeit, sondern darüber, dass ihre Reproduktionsgesetzlichkeit nachgewiesen wird“ (Wohlrab-Sahr 1994: 273). Für die Interpretation bedeutet dies, dass unterschiedliche Themen einer Gruppendiskussion oder eines Interviews (von der Familie und der Beziehung zur Freundin bis hin zur Schule und beispielsweise zum Breakdance) immer wieder innerhalb desselben Orientierungsrahmens, also in homologer Weise, bearbeitet werden. Wir bewegen uns hier – wie erwähnt – auf einer Ebene der Typenbildung, die wir mit einem Begriff von Mannheim als sinngenetische bezeichnet haben. Eine anspruchsvollere Typenbildung, die wir als soziogenetische bezeichnen, schließt die Antwort auf die Frage ein, wofür denn eine Orientierungsfigur, eine generative Formel typisch ist. Dies ist die Frage nach derjenigen Erfahrungsdimension, der diese Orientierung zuzurechnen ist bzw. genauer: innerhalb derer ihre (Sozio-) Genese zu suchen ist.
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Im Falle der sinngenetischen Typenbildung wird zwar sichtbar, dass unterschiedliche Erfahrungsdimensionen im Spiel sind, ohne aber zu wissen, um welche genau es sich handelt. Demgegenüber wird im Zuge der soziogenetischen Typenbildung eine Orientierung in ihrer „funktionalen Beziehung“ zu spezifischen Erfahrungsdimensionen, zur Sozialisationsgeschichte, zum „existentiellen Hintergrund“ herausgearbeitet.
3.2 Zur soziogenetischen Typenbildung Bereits im Zuge der Generierung und Abstraktion des Orientierungsrahmens der Sphärendifferenz hatten wir als Vergleichshorizonte solche Fälle bzw. Gruppen hinzugezogen, deren Sozialisationsgeschichte nicht durch die Migration geprägt sein kann, also einheimische („autochthone“) Jugendliche (vgl. Bohnsack 1989; Bohnsack et al. 1995; Nohl 2001: 91ff.). Der Vergleichshorizont einheimischer Jugendlicher aus Deutschland konnte um solche aus Ankara ergänzt werden (vgl. Nohl 2001: 56ff.). Das Fehlen von Phänomenen einer Sphärendifferenz in diesen einheimischen Gruppen legte nahe, dass die Genese der Sphärendifferenz im migrationsspezifischen Erfahrungsraum zu suchen ist, es sich also um ein Phänomen der „Migrationlagerung“ handelt, wie wir es genannt haben (vgl. Nohl 1996: 17–35). Vom Erkenntnisinteresse des Projektes her ist es diese Erfahrungsdimension, also die migrationstypische, welche im Zentrum unserer Forschung stand. Sie bildete die „Basistypik“. Die Rekonstruktion einer Typik, vor allem deren Generalisierung, ist nur dann valide zu leisten, wenn sie in ihrer Relation zu und ihrer Überlagerung durch andere Typiken, wenn sie also innerhalb einer ganzen Typologie verortet werden kann. Erst im Kontext einer Typologie wird eine soziogenetische, eine „erklärende“ Typenbildung möglich. Auch gelingt erst auf diesem Wege einer mehrdimensionalen Typenbildung die Generalisierung des einzelnen Typus – hier zunächst der Basistypik. Die Generalisierung ist ganz wesentlich davon abhängig, dass der Typus von anderen auch möglichen Typen oder Typiken abgegrenzt werden kann. In welcher Richtung die Spezifizierung der Basistypik erfolgt, ist dabei von nachrangiger Bedeutung und häufig von Kontingenzen abhängig, also von Zufällen hinsichtlich der Kontraste zwischen den Fällen, also den Gruppen, die zunächst ins Auge fallen. In unserer Untersuchung sind wir zunächst von den männlichen Jugendlichen ohne gymnasiale Ausbildung im Alter von 18 bis 25 Jahren ausgegangen und haben die zu dieser Population gehörigen Gruppen vergleichend analysiert. Gleichwohl sollten aber weibliche Jugendliche und solche mit gymnasialer Ausbildung sowie Jugendliche der Altersstufe zwischen 15 und 18 Jahren als Vergleichshorizonte einbezogen werden.
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Tertium comparationis der auf dieser Ebene notwendigen komparativen Analyse ist nun zunächst die Basistypik, also die Migrationstypik. Auf der Grundlage dieses tertium comparationis stellt sich die Frage nach der Relation des migrationstypischen Erfahrungsraumes zu den entwicklungstypischen, d.h. altersspezifischen, zu den geschlechts-, zu den bildungs- und auch zu den generationstypischen Erfahrungsräumen.
Zur entwicklungstypischen Spezifizierung der Migrationstypik Die Ausdifferenzierung der entwicklungstypischen Dimension erreicht selbstverständlich dann eine hohe Validität, wenn dieselben Gruppen – im Sinne eines panels – bereits in früheren Entwicklungsphasen untersucht wurden. Dies konnte in unserem Sampling aber nur bei einer von ihnen realisiert werden (vgl. Nohl 2001: 119ff.). Allerdings eröffnen uns auch die narrativen Interviews auf der Grundlage biographischer Großerzählungen die Möglichkeit einer Identifikation früherer Entwicklungsphasen. Dabei konnte die Überlagerung der migrations- mit der entwicklungstypischen Dimension in der Weise herausgearbeitet werden, dass die migrationstypische Sphärendifferenz sich zwar schon sehr früh in der Biographie dokumentiert, aber erst in der hier genauer untersuchten späten Phase der Adoleszenzentwicklung sich in verschärfter Weise als handlungspraktisches Problem stellt: nämlich dann, wenn biographisch relevante Orientierungen entfaltet werden. Diese Entwicklungsphase bezeichnen wir als diejenige der Re-Orientierung. Dies deshalb, weil in einer vorherigen krisenhaften Entwicklungsphase Perspektiven einer sinnvollen Zukunft und Biographizität überhaupt in Frage gestellt bzw. suspendiert worden sind. Die Jugendlichen tauchten – teils mehr, teils weniger ausgeprägt – in Aktionismen der Gewalttätigkeit und des Konflikts mit den Kontrollinstanzen ein – in eine „Karriere als Gangster“, wie einer von ihnen dies im Rückblick karrikiert. Dieser entwicklungstypische Phasenverlauf kann auf einem hohen Generalisierungsniveau in der komparativen Analyse mit Hooligans sowie Jugendlichen mit DDR-Sozialisation (vgl. Bohnsack et al. 1995), solchen aus einer nordbayerischen Kleinstadt und umliegenden Dörfern (vgl. Bohnsack 1989) sowie aus Ankara (vgl. Nohl 2001) und São Paulo (vgl. Weller 2003) bestätigt werden.
Zur bildungstypischen Spezifizierung der Migrationstypik Im Zentrum unserer Forschung standen Jugendliche ohne höheren Schulabschluss. Wir haben diese aber auch mit einer Kontrollgruppe von Studierenden ähnlichen Alters (Gruppe Idee) verglichen (Nohl 2001: 192ff.). Auch bei diesen stellte der migrationstypische Sozialisationsmodus der Sphärendifferenz ein focussiertes Problem dar. Die Bindung der jungen Männer an die öf121
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fentlichen Institutionen der äußeren Sphäre mit deren institutionalisierten Ablauf- und Karrieremustern geht einher mit einem Bruch mit tradierten Elementen der inneren Sphäre. Eine Kontinuität zur eigenen sozialen und kulturellen Herkunft suchen diese Jugendlichen auf religiösem Wege herzustellen, indem sie zwischen der Religion, also dem Islam, einerseits und der türkischen Alltags-Kultur andererseits scharf differenzieren und kritisieren, dass die kulturelle Alltagspraxis dem Islam nicht entspricht. In einer Art selbstorganisierter Islamschule, die auch Übernachtungs- und Wohnmöglichkeiten bietet, haben sie sich in Abgrenzung sowohl gegenüber der Elterngeneration und ethnischen Community, als auch gegenüber der äußeren Sphäre (und den dort zu findenden Stereotypisierungen des Islam) gleichsam eine dritte Sphäre geschaffen – ähnlich, wie wir diese dritte Sphäre auch bei den Jugendlichen der Gruppe Katze, die jedoch mittlere Schulabschlüsse haben, beobachten konnten. Dieser Typus, also derjenige der „Suche nach einer dritten Sphäre“, konnte somit auch in einer bildungstypischen Variation oder Ausprägung herausgearbeitet werden: Die Studenten begeben sich zwar auch auf die Suche nach einer dritten Sphäre, ihr Intellektualismus unterscheidet sich jedoch bildungstypisch von den körpergebundenen Aktionismen des Breakdance, wie sie sich in der Gruppe Katze beobachten lassen.
Zur geschlechtstypischen Spezifizierung der Migrationstypik Die für die tradierte Existenzweise konstitutive Grenzziehung zwischen innerer und äußerer Sphäre besteht ganz wesentlich darin, dass die Männer dafür Sorge zu tragen haben, dass die zur Familie bzw. zum Haushalt gehörenden Frauen dem Zugriff und den Blicken seitens der äußeren, der öffentlichen Sphäre entzogen werden. Bei den gleichaltrigen jungen Frauen türkischer Herkunft, also in der Überlagerung durch die geschlechtstypische Dimension, kann die migrationstypische Orientierungsproblematik der Sphärendifferenz zugleich bestätigt und modifiziert bzw. variiert werden (vgl. Bohnsack 2001; Bohnsack et al. 2002): Die jungen Frauen stehen ebenso wie die jungen Männer zwischen den beiden Modi der Sozialität, wie sie in der inneren und äußeren Sphäre anzutreffen sind. Bestimmte Gruppen sind ebenfalls auf der Suche nach einer „dritten Sphäre“. Hinzu tritt hier jedoch, dass vor allem die jungen Frauen der zweiten Migrationsgeneration – im Unterschied zu den jungen Männern – die Beziehungen der dritten Sphäre in ihrer probehaften Entfaltung dem Blick der Eltern und ethnischen Community strikt entziehen müssen. Während die männlichen Jugendlichen sich selbst zugestehen, dass sie sozusagen ein Doppelleben führen („man ist zu Hause ganz anders, als man draußen ist“, s.o.), verachten sie jene jungen Frauen, denen sie vorwerfen, zu
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Hause ihre Jungfräulichkeit vorzuspielen, gleichwohl aber in die Disco zu gehen und sich dort auf der Tanzfläche wie eine „Nutte“ zu verhalten.
Zur generationstypischen Spezifizierung der Migrationstypik Um generationsspezifische Ausprägungen der Migrationstypik rekonstruieren zu können, wäre es erforderlich gewesen, Gruppen aus anderen Generationen bzw. Alterskohorten in das Sample einzubeziehen. In einigen Fällen ist dies geschehen; und dort deutet sich an, dass für die jüngere, also die dritte Migrationsgeneration, die Sphärendifferenz wesentlich weniger problematisch ist. Systematische Aussagen zu einer generationsspezifischen Modifikation oder Überlagerung der Migrationstypik lassen sich auf der Grundlage unseres Samples allerdings nicht treffen.
4 . Au s b l i c k : R e l a t i o n i e r u n g u n d G e n e r a l i s i e r u n g In dieser fortschreitenden Entdeckung von Typiken lässt sich eine weitere Abstrahierung des tertium comparationis beobachten. Das tertium comparationis beschränkt sich in der Entwicklung der Typologie nicht mehr auf den homologen Orientierungsrahmen in der Basistypik, d.h. in der migrationsspezifischen Erfahrungsdimension. Mit jeder Erweiterung der Typenbildung um eine Typik wird das tertium comparationis abstrakter und komplexer. So strukturiert den entwicklungsbezogenen Vergleich noch lediglich das tertium comparationis des migrationsspezifischen Orientierungsrahmens; der bildungsbezogene Vergleich umfasst dann aber schon als tertium comparationis sowohl den migrations- als auch den entwicklungsspezifischen Orientierungsrahmen. Das tertium comparationis nimmt also nicht nur jenen Orientierungsrahmen in sich auf, der den jeweils untersuchten Fällen gemeinsam ist, sondern auch alle weiteren, in den bisherigen Fallvergleichen implizierten, tertia comparationis. Hier hat das tertium comparationis eine maximale Größe erreicht, in der es alle vorangegangenen tertia comparationis integriert. Im Sinne der Beobachtung zweiter Ordnung bei Luhmann (vgl. 1990: 86f.) beobachtet das jeweilige tertium comparationis gewissermaßen die zuvor angewandten tertia comparationis, indem es diese in sich aufnimmt. Sobald sich der Kreis der Fälle und Typiken schließt und die Typologie entwickelt ist, liegt – so könnte man mit Luhmann (1990: 83) formulieren – ein System in Form einer „rekursiven Vernetzung“ vor. Würde das jeweils gebildete tertium comparationis nicht die vorangegangenen tertia comparationis einschließen, sondern nur auf der Homologie zweier Fälle beruhen, dann käme man über eine bloße „Addition“ nicht hinaus (vgl. Mannheim 1964: 121).
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Luhmann schlägt für den ständigen Wechsel des tertium comparationis – in seiner Sprache: für die „Kontingenz der Vergleichsgesichtspunkte“ (1995: 38) bzw. für den Wechsel der „analytischen Perspektive“ (1988: 17) – den Begriff der „Problemstufenordnung“ (ebd.: 20) vor. Diese ist „ein Korrektiv gegen die Einseitigkeit des Ausgangsproblems [des ersten tertium comparationis; Bohnsack/Nohl]. Auf der Sekundärebene werden neue Gesichtspunkte eingeführt“ (ebd.). Wenn die Interpretationen im Zuge der komparativen Analyse somit wechselseitig auf eine immer höhere Abstraktionsebene gehoben werden, dient dies auch der „immer weitergehenden Abstraktion ... der Vergleichsgesichtspunkte“ (Luhmann 1995: 38) bzw. der empirischen Erweiterung des „Denkraumes“ (Matthes 1992: 96). In einem solchen Denkraum kommen die untersuchten Fälle nicht als ontologische Wesen vor. Sie werden in ihrer Unterschiedlichkeit in eine „Alterität“ überführt, die ihren Ausdruck in der Wechselseitigkeit der Interpretationen findet. Und diese „Alterität“ kann dann „relational [...] statt substantiell“ gedacht werden (a.a.O.). Die Relationierung der Fälle über die Typiken, in denen sie verortbar sind, schafft erst die Bedingung für eine „Übersetzung“ eines Falles in einen anderen Fall. Denn in dieser auf den Typiken basierenden Relation zwischen dem einen und dem anderen Fall wird erst deutlich, was beiden Fällen gemeinsam bzw. verschieden ist. Diese Interpretation geht über eine bloße Fallrekonstruktion hinaus. Die Typiken bilden eine Ebene „der Meta-Reflexion [...], auf der wechselseitig das ‚Eine‘ in das ‚Andere‘ übersetzbar wird“ (ebd., vgl. dazu auch Shimada 1994: 243ff.), bzw. auf der die Fälle „aus der Strukturdifferenz“ ihrer „Sichtmodi zu verstehen“ und ineinander zu übersetzen sind (Mannheim 1952b: 285). Auch unterschiedliche Typiken lassen sich zueinander in Beziehung setzen. Man ist nun in der Lage, das Vorkommen unterschiedlicher Typiken, d.h. unterschiedlicher Erfahrungsdimensionen und Orientierungsrahmen, in einem Fall zu rekonstruieren. In dem konkreten Fall wird dann deutlich, wie das Zusammentreffen von Typiken sich ausprägt. Der Fall ist der Spiegel des Zusammentreffens bzw. der Überlagerung verschiedener Erfahrungsdimensionen/Orientierungsrahmen und als solcher das Verbindungsstück der Typiken untereinander. Mit jedem Durchgang durch eine andere Dimension oder Typik, d.h. in der Überlagerung durch eine andere Typik, wird die Basistypik (in unserem Forschungsbeispiel: die Migrationstypik) modifiziert. Durch diese Metamorphose gewinnt sie aber, indem sie abstrakter formuliert wird, auch zunehmend an Generalisierbarkeit. Indem z.B. das Phänomen der Sphärendifferenz durch geschlechts-, bildungs- und entwicklungstypische Variationen hindurch erkennbar bleibt, erweist es sich in seiner generellen Bedeutung für die Jugendlichen türkischer Herkunft der zweiten Migrationsgeneration. Diese für den migrationsspezifischen Erfahrungsraum grundlegende Orientierungsstruktur 124
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der Sphärendifferenz wird somit in der Überlagerung durch entwicklungs-, bildungs- und geschlechtstypische Erfahrungsräume variiert oder spezifiziert und zugleich auch generalisiert. Mannheim (1964: 121) charakterisiert diese Überlagerung als ein „Ineinandersein Verschiedener sowie das Vorhandensein eines einzigen in der Verschiedenheit“. Eine generalisierungsfähige Typenbildung setzt voraus, dass sie in der Überlagerung bzw. Spezifizierung durch andere Typiken bestätigt wird und somit immer wieder und dabei auch immer konturierter und auf immer abstrakteren Ebenen sichtbar gemacht werden kann (vgl. Nentwig-Gesemann 2001). Insofern ist es gelungen, die Frage zu beantworten, „wie man auf einer mittleren Abstraktionsebene vor dem Hintergrund heterogener Kontexte gewonnene Daten erstens validiert und zweitens begründet generalisiert“ (Lüders 2000: 641). Es zeigt sich aber, dass nicht nur die Validität, sondern vor allem das Generalisierungsniveau von Typenbildungen davon abhängt, wie vielfältig, d.h. mehrdimensional der Fall innerhalb einer ganzen Typologie verortet werden kann. Die Generalisierung des Typus basiert also auf der Mehrdimensionalität der Typologie und diese wiederum auf der komparativen Analyse. Mit diesem methodologischen wie forschungspraktischen Ansatz versucht die dokumentarische Methode, der kulturellen und milieuspezifischen Pluralität zeitgenössischer Gesellschaften in dreierlei Hinsicht gerecht zu werden: Sie rekonstruiert die Unterschiedlichkeit der sozialen Welten und Milieus. Sie analysiert diese in ihrer Mehrdimensionalität, d.h. in ihrer Überlagerung und wechselseitigen Durchdringung. Und sie begreift dabei die Forschenden in ihrer jeweiligen Standortgebundenheit und Seinsverbundenheit als Teil dieser gesellschaftlichen Heterogenität.
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Kultur und Methode – Über die Relevanz rek onstrukti ve r Verfa hre n für die Erforschung fre mdk ulturelle r La ge n GABRIELE CAPPAI
Einleitung1 Die nachfolgenden Ausführungen über Kultur und Methode beruhen im Wesentlichen auf vier zusammenhängenden Annahmen. Die erste besagt, dass die westliche sozialwissenschaftliche Tradition über ein theoretisches, methodologisches und methodisches Wissen und Können verfügt, deren Eignung für die Erforschung fremdkultureller Lagen nicht unterschätzt werden darf. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass dieses Wissen und Können eigens für die Analyse eigenkultureller Lagen entwickelt wurde. Die zweite Annahme lautet: Die westliche sozialwissenschaftliche Tradition konnte taugliche Instrumente für die Erforschung fremder Kulturen in dem Maße entwickeln, in dem sie sich fähig zeigte, Differenz bzw. Fremdheit innerhalb der eigenen Gesellschaft zu erkennen, zu beschreiben und zu erklären. Die dritte Annahme besagt, dass unter den bekannten sozialwissenschaftlichen Methoden „rekonstruktive Verfahren“ besonders geeignet sind, Fremdkulturalität zu erforschen, denn sie scheinen gegen die Neigung gut gerüstet zu sein, Differenz vorschnell zu assimilieren. Rekonstruktive Verfahren vermögen besser als andere der Einsicht Rechnung zu tragen, dass man sich auf die „Sprache des Falls“ einlassen muss, wenn man diesen beschreiben, typologisch erfassen oder ihn auch erklären möchte. Die Eignung rekonstruktiver Verfahren für die Forschung in fremdkulturellen Lagen ist allerdings eine Frage, die nicht pauschal beantwortet werden kann. Vieles hängt davon ab, ob und in welchem Ausmaß die unterschied-
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Dieser Beitrag ist in leicht veränderter Form in Sociologia Internationalis (2008, Band 46) erschienen.
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lichen Mitglieder der „Familie“ (im Sinne Wittgensteins) Vorkehrungen getroffen haben, um sich gegen die Gefahr des Ethnozentrismus zu schützen. Daran anschließend besagt die vierte Annahme, dass bezüglich der Sensibilität für die Ethnozentrismusgefahr die Unterschiede unter Familienmitgliedern weit auseinanderklaffen können. Ausgangspunkt unserer Analyse ist jene gleichermaßen von neukantianischen, wissenssoziologischen und phänomenologischen Positionen geteilte Auffassung von Gesellschaft als semantisch und epistemisch diskontinuierlichem, fragmentiertem Gebilde, die in Konkurrenz zu Gesellschaftskonzeptionen steht, die Abgeschlossenheit und Einheitlichkeit betonen. Im Zuge des 19. Jahrhunderts setzt sich im Westen ein Begriff von Gesellschaft durch, dessen Hauptcharakteristikum darin besteht, dass er innerhalb seiner selbst Differenzierung zulässt, Differenz aber systematisch ausblendet bzw. sie nach außerhalb, jenseits territorialer Grenzen auslagert.2 Offensichtlich gehorcht diese Entwicklung nicht einer inneren Gesetzlichkeit, sondern vielmehr einer Strategie nationalstaatlicher Konsolidierung durch Homogenisierung, die mit politischen, rechtlichen, pädagogischen und medialen Mitteln vorangetrieben wurde. Gegenüber diesem Prozess legt die Soziologie eine zwiespältige Haltung an den Tag: Einerseits macht sich die neu entstehende Disziplin die nationalstaatlich forcierte und legitimierte Vereinheitlichungsperspektive zu Eigen und identifiziert dabei ihren Gegenstand in einem – so wird angenommen – kulturell homogenen, normativ geteilten und sozialisatorisch wirkungsvollen Gesellschaftsbegriff. Der Systemfunktionalismus der 50er und 60er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts kann als die konsequente, späte theoretische Ausformulierung dieser Sichtweise angesehen werden.3
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Man könnte mit Joachim Matthes (2005: 431) diesen „Mechanismus“ als das „europäische Prinzip der kulturellen und territorialen Sortierung von Fremdem und Eigenem“ bezeichnen und gleichzeitig betonen, dass dieses Prinzip dadurch zu einer unhinterfragten Selbstverständlichkeit werden konnte, dass es in die Vorstellung und Handlungswelt der Europäer „bis in die tiefsten Schichten des Alltagsleben und Alltagswissen hinein“ eingedrungen ist. Diese Gesellschaftskonzeption zeigt vor allem dann ihre negativen Wirkungen, wenn sie als Grundlage des interkulturellen Vergleichs dient. Vor allem Anthropologen erheben gelegentlich dagegen ihre kritische Stimme. Selbst manche „Funktionalisten“ unter ihnen melden Zweifel gegen Vergleichsoperationen an, bei denen es Kategorien und Begriffe, die aufs Engste im eigenen soziokulturellen Kontext verwurzelt sind, unreflektiert auf fremdkulturelle Lagen übertragen werden. In Malinowskis (1986: 67) Beobachtung, dass in bestimmten kulturellen Kontexten Begriffe wie „Staat“, „Kirche“, „Rechtssystem“, „Volkswirtschaft“ zu kurz greifen, weil sie „ein wenig zu viel“ bedeuten, drückt sich sowohl das Unbehagen gegenüber naiven Vergleichsansätzen als auch die Kritik an einem Universalismus aus, der auf semantische Äquivalente setzt.
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Andererseits, vor allem durch die Stimme von Gründungsvätern wie Weber, Simmel und Mannheim, weigert sich die Soziologie, sich der genannten Gesellschaftskonzeption anzuschließen und begreift Gesellschaft bzw. Sozialität als das Resultat offener Vergesellschaftungsprozesse. Erst diese Konzeption vermag die Annahme gesellschaftlicher Homogenität und Abgeschlossenheit in Frage zu stellen und Fremdheitsverhältnisse als Phänomene zu begreifen, die sich innerhalb der eigenen „Gesellschaft“ fortwährend ereignen.4 Erst diese Konzeption vermag die Kopräsenz von Lebenswelten zuzulassen „zwischen denen jederzeit begehbare Verständigungsbrücken nicht mehr durchgängig vorausgesetzt werden können“ (Matthes 2005: 431). Diesen Aspekt wollen wir im folgenden Paragraph vertiefen.
Das Fremde im Eigenen In der letzten Hälfte des neunzehnten, dann aber verstärkt während des zwanzigsten Jahrhunderts, beginnen Forscher unterschiedlicher Affiliation, jedoch verwandter theoretischer Richtungen, die Augen für spezifische Arten von Differenzierung bzw. Fragmentierung der eigenen sozialen Wirklichkeit zu öffnen. Als Reaktion auf die Auffassung von Gesellschaft als einheitlichem Gebilde betonen mit je eigenen Akzenten die Phänomenologie, die Wissenssoziologie und der symbolische Interaktionismus nicht nur strukturelle und normative, sondern auch epistemische und semantische Differenz innerhalb moderner Gesellschaften.5 Die Feststellung unterschiedlicher „Lebensordnungen“ und „Wertsphären“ innerhalb derselben kulturellen Tradition, die Konstatierung vielfältiger „Sinnprovinzen“ innerhalb der einen Lebenswelt, die Beobachtung unterschiedlicher „Milieus“ innerhalb derselben Gesellschaft stellen den empirisch verfahrenden Forscher bald vor das Problem, geeignete Instrumente für ihre Erforschung zu entwickeln. Der Sozialwissenschaftler darf, so der Grundton der Argumentation, die Komplexität und Varietät sozialer Wirklichkeit nicht auf unzulässige Weise reduzieren; er darf nicht ihre vielfältigen und füreinander teilweise undurchsichtigen Ausdrucksformen in das Korsett einer rigiden
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Dabei handelt es sich aber um sporadische Stimmen, die den Grundton bestätigen: Der von westlichen Sozialwissenschaftlern praktizierte Vergleich ist eine Operation, bei der andere Länder und Kulturen auf der Folie der westlichen Gesellschaftskonzeption „gelesen“, und dort, wo Unterschiede bzw. Dissonanzen auftreten, diese einfach als „Abweichung“ verbucht werden. Die Annahme kultureller Grenzen und jene kultureller Homogenität führen ein wechselseitig parasitäres Dasein: Sie bedingen und verstärken sich gegenseitig. Wer die Existenz homogener Kulturen postuliert, muss auch die Existenz einer klaren Grenze als Unterscheidungskriterium zwischen innen und außen annehmen und vice versa. Zu dieser Unterscheidung s. Cappai (2002).
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Methodologie und Methodik hineinzwängen. Kurz: Die Konkretheit des „Falls“ darf nicht in eine nivellierende Variablensprache aufgelöst werden. Freilich kann die Kritik an der generalisierten Anwendung standardisierter, mit dem Siegel der Zuverlässigkeit und Validität versehener Forschungsverfahren nicht einseitig auf die Einsicht in die normative, semantische und epistemische Heterogenität sozialer Wirklichkeit zurückgeführt werden. Diese Kritik entzündet sich meistens an der Tatsache, dass konventionelle Forschungsmethoden eine Übersetzung sozialer Wirklichkeit in die Variablensprache vornehmen; eine Operation, die zwar Verallgemeinerbarkeit und Vergleichbarkeit gestattet, die aber die Frage entstehen lässt, was denn diese Übersetzung mit dem Original noch gemeinsam habe. Die Kritik an den konventionellen Methoden und jene an dem Begriff von Gesellschaft als einem homogenen abgeschlossenen Gebilde bleiben jedoch in der Überzeugung vereint, dass die Kluft zwischen der Komplexität sozialer Wirklichkeit und der Unterkomplexität der Methoden, die diese erfassen sollen, wissenschaftlich unzumutbar ist. Bei dem Versuch, in der Debatte über Komplexität und Differenziertheit sozialer Wirklichkeit einige wichtige Positionen zu umreißen, bietet sich an, mit jener Auffassung von Gesellschaft anzufangen, die mehr als alle anderen den innergesellschaftlichen Kontrast und auch die Unversöhnlichkeit unterstreicht. Es handelt sich um Webers Theorie der Verselbständigung von Wertund Handlungssphären als Folge der Auflösung religiös begründeter Weltbilder in der Moderne. Nach Webers Auffassung gesellschaftlicher Entwicklungsdynamik gilt: Je mehr die Religion und die Moral auf ihren Prinzipien beharren, desto deutlicher tritt dann der Kontrast zum positiven Recht und zur experimentellen Wissenschaft auf. Je konsequenter wirtschaftliches Handeln Profitmaximierung verfolgt, desto klarer tritt dieses Handeln in Konflikt mit der Politik sozialer Gerechtigkeit.6 Weber deutet das Verhältnis der unterschiedlichen Lebensordnungen zueinander nicht einfach als Wertindifferenz, sondern als Wertkollision: „es handelt sich nämlich zwischen den Werten letztlich überall und immer wieder nicht nur um Alternativen, sondern um unüberbrückbaren tödlichen Kampf, so wie zwischen ‚Gott‘ und ‚Teufel‘. Zwischen diesen gibt es zumindest dem Sinn nach keine Relativierungen und Kompromisse“ (Weber 1973: 507). In der Zwischenbetrachtung geht Weber dann der Frage nach, wie sich diese Exklusivierung der Betrachtungsweise letztlich auf Kosten der ethischen Sphäre durchsetzt. So geht es aus der Perspektive der Politik nicht einfach um
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Bei dieser Fragmentierung und Eigengesetzlichkeit kündigt sich bereits im Ansatz das an, was ein Jahrhundert später Niklas Luhmann „operative Geschlossenheit“ und „Autopoiesis“ sozialer Systeme nennen wird (Luhmann 1984).
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eine Priorität des Politischen gegenüber dem Ethischen, sondern um eine „gänzliche Ausschaltung alles Ethischen aus dem politischen Räsonnement“ (Weber 1978: 548). Ebenso gilt für die moderne kapitalistische Wirtschaft, dass je mehr in den Handlungssphären Eigengesetzlichkeit waltet, „desto unzulänglicher jegliche denkbare Beziehung zu einer religiösen Brüderlichkeitsethik“ wird (ebd.: 544). Bei dieser konflikthaften Auffassung von Gesellschaft ist schließlich wichtig zu unterstreichen, dass die festgestellte Eigengesetzlichkeit des Rechts, der Wissenschaft, der Religion, der Wirtschaft und der Politik nicht zuletzt durch die Entfaltung distinkter Semantiken ermöglicht wird, die nur beschränkt ineinander übersetzbar sind. Ähnlich wie Weber unterstreicht auch Mannheim an der modernen Welt die innere Zerrissenheit. Stärker als Webers konzentriert sich jedoch Mannheims analytisches Interesse auf die epistemische und semantische Dimension. Ausgangspunkt von Mannheims wissenssoziologischem Ansatz ist die Annahme, dass die Art, wie man einen „Sachverhalt im Denken konstruiert“, keineswegs beliebig ist. Sie beruht vielmehr auf dem besonderen Gruppenzusammenhang, an dem das Individuum mit seinem Denken partizipiert (Mannheim 1985: 231). Wichtig in unserem thematischen Kontext ist die Radikalität, mit der Mannheim die Denkkonditionierung durch die jeweilige soziale Lage, die „Seinsgebundenheit“ des Denkens, begreift: Gesellschaftliche Seinsfaktoren, so Mannheim, determinieren „Inhalt und Form“, „Gestalt und Formulierungsweise“, „Kapazität und Greifintensität eines Erfahrungsund Bedeutungszusammenhanges“ (Mannheim 1985: 230). Es ist also die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe bzw. zu einem „konjunktiven Erfahrungsraum“, die am Individuum das bestimmt, was Mannheim die Aspektstruktur des Denkens nennt. Wobei, um das mit den Worten Mannheims zu verdeutlichen, der Begriff „Aspekt“ sich „auf qualitative Momente im Erkenntnisaufbau [bezieht], und zwar auf Momente, die von einer bloß formalen Logik vernachlässigt werden müssen. Eben diese Momente begründen es, daß zwei Menschen, auch wenn sie die formallogischen Bestimmungen [...] identisch zur Anwendung bringen, noch keineswegs identisch, daß sie über den gleichen Gegenstand vielmehr oft höchst verschieden urteilen“ (Mannheim 1985: 234). Ein wichtiger Berührungspunkt zwischen Wissenssoziologie und Phänomenologie besteht sicherlich darin, dass beide den Begriff von Wissen für die Analyse zeitgenössischer Lagen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Es sind vor allem Wissensdifferentiale, Unterschiede in der Wissensart und Wissensverteilung also, die moderne Gesellschaften im Gegensatz zu archaischen charakterisieren. Gesellschaftliche Differenzierung und Arbeitsteilung als
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zwei evolutionäre Errungenschaften der Moderne hängen aufs Engste mit der Bildung von Sonderwissensbeständen zusammen. Ähnlich wie die wissenssoziologische thematisiert auch die phänomenologische Perspektive Differenz innerhalb moderner Gesellschaften als Folge unterschiedlicher Formen der Relationierung zu „derselben“ Lebenswelt. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn Menschen aufgrund unterschiedlicher sozialer Zugehörigkeit und infolgedessen unterschiedlicher biographischer Verläufe unterschiedliche Relevanzsysteme ausbilden. Auch dort, wo Alfred Schütz (1976), wie in „Der Fremde“, das Gedankenexperiment der Begegnung zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturen, zwischen Subjekten mit unterschiedlichen und inkompatiblen Erwartungs- und Deutungsmustern durchführt, macht er darauf aufmerksam, dass Fremdheit eine Chiffre ist, welche sich gut dazu eignet, Situationen in der eigenen Gesellschaft zu beschreiben. Radikale Übersetzung beginnt für Schütz bereits „zu Hause“.7 Schließlich, in neuerer Zeit, treten auch der symbolische Interaktionismus und Derivate davon – wie die Ethnomethodologie – gegen ein Bild von Gesellschaft an, das an einem durch Normen gebündelten Paket gleicht. Sie versuchen ein entscheidungsfähiges und entscheidungsfreudiges Individuum ins Spiel zu bringen, das der alte Systemfunktionalismus hatte verblassen lassen. Diese kritischen Ansätze vertreten eine Konzeption von „Gesellschaft“ als komplexe, differenzierte und fragmentierte Wirklichkeit, die sich schwerlich dem klassischen strukturalfunktionalistischen Verständnis fügt.8 Blumers Auffassung, nach der „man [...] sich nicht gegenüber der Erkenntnis der Tatsache blind machen (sollte), dass die Menschen, indem sie ein gemeinsames Leben führen, sehr unterschiedliche Arten von Welten entwickeln“ (Blumer 1976: 121), ist sicherlich als Reaktion auf den damals dominierenden Systemfunktionalismus Parsonsscher Prägung anzusehen. Sie ist aber auch als Ausdruck des Unbehagens gegenüber jenen Formen standardisierter Forschungs-
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So Schütz unmissverständlich: „The applicant for membership in a closed club, the prospective bridegroom who wants to be admitted to the girl’s family, the farmer’s son who enters college, the city-dweller who settles in a rural enviroment, the ‚selectee‘ who joins the Army, the family of the war worker who move into a boom town – all are strangers according to the definition just given, although in these cases the typical ‚crisis‘ the immigrant undergoes may assume milder forms or even be entirely absent“ (Schütz 1976). In ähnlicher Weise ist für Karl Mannheim, die für die Moderne typische Fragmentierung gesellschaftlicher Semantik ein Phänomen, das seine Erklärungsgrundlage in der eigenen Gesellschaft hat. So Mannheim (1985: 234): „Wir beginnen mit der Tatsache, dass dasselbe Wort, der gleiche Begriff im Munde sozial verschieden gelagerter Menschen und Denker meistens ganz Verschiedenes bedeuten“ (Hervor. K. M.). Dazu Jeffrey Alexander (1988).
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verfahren zu interpretieren, die im Amerika der Nachkriegszeit große Verbreitung fanden. Dazu später mehr. Welche Konsequenzen ergeben sich für die empirische Forschung aus der Einsicht in die strukturelle, normative, epistemische und semantische Differenzierung, die in je spezifischer Weise eine entwicklungsgeschichtlich informierte Handlungstheorie, die Wissenssoziologie, die Phänomenologie und der Interaktionismus teilen? Dieser Frage wollen wir uns im Folgenden zuwenden.
Konsequenzen für die Methode Sagen wir gleich, dass sich die Anschlüsse zwischen Gesellschaftstheorie und Empirie nicht unmittelbar ergeben. Die genannten theoretischen Ansätze schärfen den Blick für die strukturelle, normative, epistemische und semantische Diversifizierung sozialer Wirklichkeit, sie geben aber keine Anweisung an die Hand, wie der konstatierten Heterogenität und Fragmentierung empirisch beizukommen ist. Zumindest dann nicht, wenn damit eine klare Methodik der Datengenerierung und Dateninterpretation gemeint ist. Gleichwohl drängt die Einsicht in die Vielfältigkeit von Lebensordnungen, Milieus und Sinnprovinzen dazu, spezifische Modi der Erforschung sozialer Wirklichkeit zu entwickeln. Trotz aller Unterschiede in den genannten theoretischen Positionen scheint darüber Einigkeit zu bestehen: Soziale Wirklichkeit darf nicht anhand eines vordefinierten und rigiden Methodensets untersucht werden, das nicht in der Lage ist, die Besonderheit der in ihr vorhandenen „Sinnwelten“ zu erfassen. Angesicht gesellschaftlicher und kultureller Differenzierung steht empirische Forschung unter dem Druck, sich selbst zu differenzieren. Es handelt sich dabei um eine Notwendigkeit, die offensichtlich konträr zum Anspruch konventioneller standardisierter Verfahren steht, das Monopol über der Erschließung sozialer Wirklichkeit zu besitzen. Bekanntlich bilden Argumente für und gegen die Vorstellung einer „Einheitswissenschaft“ ein Feld, auf dem im vergangenen Jahrhundert viele Schlachten ausgefochten wurden. Hatte die positivistische Tradition einen am naturwissenschaftlichen Paradigma angelehnten methodologischen Monismus vertreten, so bringen seine Kontrahenten das Argument ins Feld, dass die Varietät und Verschiedenheit des sozialen Lebens nicht in ein eigens für die Zwecke naturwissenschaftlicher Forschung angefertigtes Korsett hineingezwängt werden darf. Hatte der Positivismus an der Annahme festgehalten, dass wissenschaftliche Erklärung nomologisch zu sein hat in dem Sinne, dass der individuelle Fall unter allgemeine Gesetze subsumiert werden muss, so opponieren seine Kritiker mit der Behauptung, dass es in den Kulturwissenschaften nicht um leere Generalisierungen, sondern um die Spezifität menschlichen Handelns geht. Eben auf die135
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se Spezifität bezieht sich auch die Kritik an der Standardisierung der Forschungsmethoden. Der Nexus zwischen Handungsspezifität und Methodendifferenzierung wird zuerst von Vertretern der Chicagoer Schule wie Park, Thomas und Znaniezcki, um nur die bekanntesten zu nennen, artikuliert. Diese Sozialwissenschaftler schenken allerdings der kritischen Auseinandersetzung mit konventionellen Forschungsverfahren nicht viel Zeit und konzentrieren sich auf die Anfertigung ihres Instrumentariums während der Arbeit „im Feld.“9 Es ist hauptsächlich Herbert Blumer, der eine Abrechnung mit den herkömmlichen empirischen Verfahren anstrebt. Diese Verfahren, so Blumer, sind nicht in der Lage dem „eigensinnigen Charakter“, sozialer Wirklichkeit Rechnung zu tragen, sie verkennen die Tatsache, dass diese Wirklichkeit aus Sinnwelten besteht, die teilweise füreinander undurchsichtig sind. Das Versagen konventioneller Methoden und Methodologien wird von Blumer hauptsächlich darin gesehen, dass diese das zu Erforschende vorschnell dem eigenen Standpunkt (des Forschers) assimilieren. Man geht an die Arbeit mit einer vorgefertigten Vorstellung dessen, was soziale Wirklichkeit ist; man entwickelt daraufhin ein Forschungsprogramm, an dem auch dann, wenn das Auftauchen neuer Erkenntnisse im Forschungsprozess seine Änderung verlangen würde, stur festgehalten wird. Man immunisiert sich auf dieser Weise gegen die Notwendigkeit, zu prüfen, ob tatsächlich alle Prämissen, Probleme, Daten, Beziehungen und Interpretationen von der Beschaffenheit der empirischen Welt „gestützt“ werden. „Mit deprimierender Häufigkeit“, so Blumer „wird ‚Methodologie‘ heute in den Sozialwissenschaften mit dem Studium moderner quantitativer Vorgehensweisen gleichgesetzt, und ein ‚Methodologe‘ ist jemand, der in der Kenntnis und dem Gebrauch solcher Vorgehensweisen hervorragend bewandert ist“ (Blumer 1976: 105). Die Arbeit des Methodologen, der sich hauptsächlich darauf beschränkt, Beziehungen zwischen Variablen herzustellen und dann darauf zu achten, dass die elegant angefertigten „logischen Modelle“ mit den in der „Forschungsplanung“ enthaltenen Vorschriften übereinstimmen, nennt Blumer „eine Transvestie der Methodologie“ (ebd.). Die kritische Diagnose Blumers müsste um eine Überlegung ergänzt werden, warum sich eigentlich diese Auffassung von Methodologie weltweit und beinah unwidersprochen durchsetzen konnte. Einige Forscher beantworten diese Frage, indem sie auf Macht als eine wichtige Kategorie verweisen. Macht und nicht etwa methodologische oder erkenntnistheoretische Scharfsinnigkeit vermag für sie zu erklären, warum der „internationale Betrieb“ der europäisch-westlichen Sozialwissenschaften weltweit so erfolgreich gewesen ist und heute noch ist. Macht drückt sich hier, am deutlichsten in der nord9
S. dazu Ralf Lindner (1990).
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amerikanischen Variante der betriebsmäßig organisierten Sozialwissenschaft, in gewaltigen Finanzmitteln und in einer übermächtigen Struktur aus.10 Welche konkrete Alternative bietet der Interaktionismus zu der von ihm kritisierten Forschungspraxis? In den Augen Blumers geht es in erste Linie darum, den Vorrang, der im konventionellen Paradigma die Forschungslogik gegenüber der Empirie besitzt, umzukehren. Nach interaktionistischem Selbstverständnis besteht die erste Aufgabe des Forschers, der mit einem beliebigen Ausschnitt sozialer Wirklichkeit befasst ist, darin, „sich zu vergewissern, welche Form von Interaktion vorliegt, anstatt jedem Bereich eine vorgefertigte Interaktionsform aufzuzwingen“ (ebd.: 136ff.). In Blumers Augen ist der Wissenschaftler jemand, der sich im Verlauf seiner Arbeit von der Eigenart der untersuchten Phänomene affizieren und überraschen lässt. Er ist also jemand, der im Forschungsprozess lernt, und, wo dies notwendig erscheint, „sich in neue Richtungen bewegt, an die er früher nicht dachte, und in der er seine Meinung darüber, was wichtige Daten sind, ändert, wenn er mehr Informationen und ein besseres Verständnis erworben hat“11 (ebd.: 122). Der Interaktionismus scheint methodologisch und methodisch klare Konsequenzen aus der Einsicht in die strukturelle, semantische und epistemische Diskontinuität sozialer Wirklichkeit zu ziehen. Problematisch im Hinblick auf die Erforschung von Kultur erweist sich allerdings beim interaktionistischen Ansatz, vor allem in der Version der Ethnomethodologie, folgender Zug: Wird Bedeutung grundsätzlich als ein im Interaktionsprozess emergentes Phänomen angesehen, so droht die zeitliche Beständigkeit von Sinnwelten zu zerfallen. Es geht bei dieser Beobachtung nicht darum, einem Ontologismus das Wort zu reden, der Kultur in eine rigide, homogene, unveränderliche und von individueller Sinnzuschreibung unabhängige Entität verwandelt (Straub 2007). Es geht vielmehr darum, nach10 So Matthes (2000: 29): „Die Kanäle der innerwissenschaftlichen Kommunikation und der Ausbildung von wissenschaftlichen Karrieren verlaufen immer noch von einer weit gespannten Peripherie in die Zentren, nach Nordamerika und Europa. Unter und zwischen den Dependancen entlang der Peripherie, und seien sie eng benachbart, bleiben sie schmal und dünn bewässert. Anerkennung, Prestige und Handlungsmöglichkeiten im Forschen und publizieren sind nur über die Hauptkanäle zu sichern. Und wer sich in den Zentren international seine sozialwissenschaftlichen Sporen verdienen will, begibt sich zu seinen ersten Forschungsversuche in die Dependancen, während man sich von dort in die Zentren begibt, um zu lernen, was dann heißt, Sozialwissenschaften zu betreiben.“ 11 Diese Einstellung entspricht dem, was Blumer (1976: 128) „Inspektion“ nennt: „Inspektion ist nicht an eine feste Art des Zugangs und des Vorgehens gebunden; sie beginnt nicht mit analytischen Elementen, deren Beschaffenheit im Voraus festgesetzt und während ihrer Anwendung niemals überprüft oder abgeändert worden ist; und sie entwickelt die Beschaffenheit der analytischen Elemente durch die Prüfung der empirischen Welt selbst.“ Bekanntlich ziehen Glaser und Strauss forschungspragmatische Konsequenzen aus dieser Kritik.
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zuvollziehen, dass Begriffe wie „Milieu“, „Sinnwelt“, „Erfahrungsraum“ und „Kultur“ nur dann sinnvoll sind, wenn man ihre typische Art der Grenzziehung und der Reproduktion, das heißt ihre Regelhaftigkeit erkennt. Diese Begriffe verweisen auf in der Zeit bestehende Strukturen, die vom Forscher rekonstruiert werden können. Dies ist ein wichtiger Grund dafür, dass unter den empirischen Methoden rekonstruktive Verfahren besonders geeignet erscheinen, Kultur zu erforschen.12
G r u n d z ü g e d e s „ r e k o n s t r u k t i ve n P a r a d i g m a s “ Das „rekonstruktive Paradigma“ stellt hinsichtlich der Ziele, Vorgehensweisen und Sensibilität für fremde Wirklichkeiten ein Ensemble heterogener Ansätze dar.13 Rekonstruktive Verfahren unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Ziele: Während phänomenologisch inspirierte Ansätze hauptsächlich danach trachten, die formalen Strukturen der Lebenswelt zu rekonstruieren, sehen wissenssoziologisch informierte Verfahren ihre Aufgabe darin, Wissensinhalte in ihrer sozialen Genese und Konditionierung nachzuzeichnen. Von diesen beiden unterscheidet sich wiederum der objektiv hermeneutische Ansatz darin, dass er auf die Rekonstruktion von Denken und Handeln bestimmenden latenten Sinnstrukturen abzielt. Rekonstruktive Verfahren unterscheiden sich weiterhin hinsichtlich ihrer Methodik. Gegenüber denjenigen, die Verstehen als nicht verifizierbares Vorgehen abqualifizieren, betont Schütz (1962: 56), dass Verstehen „has nothing to do with introspection“ (vgl. Straub in diesem Band). Verstehen sei vielmehr das Resultat eines Lern- bzw. Akkulturationsprozesses in derselben Weise wie „Common sense“-Erfahrung in der natürlichen Welt. Demzufolge betont die phänomenologische Perspektive, dass der Sozialwissenschaftler nur in besonderen Situationen, und auch dann nur sehr fragmentarisch, Handlungsmotive erfassen kann. Diese können lediglich als „typische“ Motive rekonstruiert werden. Demgegenüber zeigen sich wissenssoziologische Ansätze zuversichtlicher hinsichtlich der Möglichkeit, auf dem Weg von Beobachtung und Erzählung, die Alltagspraxis von Gruppen und Individuen mittels Anschluss an das implizite und explizite Wissen der Akteure im Feld zu rekonstruieren. Der objektiv-hermeneutische Ansatz wiederum ist weniger an der
12 Der Wissenschaftler rekonstruiert – in kontrollierter, methodischer und überprüfbarer Art – gesellschaftlich und historisch gegebene Typen, Schemata, Routinen, Wissensbestände, kurz „Konstruktionen erster Ordnung“, denen sich Gesellschaftsmitglieder bedienen, um sich in ihrem Alltag zurechtzufinden, diese zu koordinieren und zu planen. Rekonstruieren bedeutet im idealtypischen Verfahren plausible, d.h. sinnadäquate, Modelle von Handlungsabläufen und von Handelnden zu entwerfen. 13 Als Einführung in die Problematik: Bohnsack (2000).
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Identifikation der Relevanzsysteme der Erforschten, sondern mehr an der Rekonstruktion „latenter Sinnstrukturen“ interessiert, die unter anderem durch die Anwendung erzählanalytischer Verfahren ermöglicht werden soll.14 Innerhalb des rekonstruktiven Paradigmas ist schließlich die Sensibilität für die Ethnozentrismusgefahr unterschiedlich verteilt: Wir finden hier sowohl Positionen vertreten, die mit universalistischen Annahmen operieren und sich dabei dem Risiko des ethnozentrischen Urteils exponieren, als auch Standpunkte, die die Standortgebundenheit des Interpreten berücksichtigen und diese systematisch unter Kontrolle zu bringen versuchen. Richtet man den Blick auf zeitgenössische Positionen im rekonstruktiven Lager, so stellt man schnell fest, dass es keinen Konsens darüber gibt, wie ein wissenschaftlich kontrollierter Zugang zur sozialen Wirklichkeit möglich sei. Die Geister scheinen sich hier an der Frage zu scheiden, welche Rolle dem Wissen und dem Erleben derjenigen zugeschrieben wird, die Gegenstand der Forschung sind. Man könnte bezüglich dieser Problematik grosso modo zwei Positionen unterscheiden: auf der einen Seite sind diejenigen – wir wollen sie vereinfachend die „Subjektivisten“ nennen –, für die Wissen und Erleben der Akteure im Feld notwendige und hinreichende Bedingungen für die Rekonstruktion von Sinnstrukturen darstellen. Auf der anderen Seite stehen diejenigen – wir wollen sie ebenso vereinfachend die „Objektivisten“ nennen –, für die Wissen und Erleben lediglich Oberflächenstrukturen darstellen, die auf verborgene Strukturgesetzlichkeiten hinweisen. Entsprechend dieser Unterscheidung ließen sich beide Positionen dann im Hinblick auf ihre unterschiedliche Weise, Latenz aufzufassen, weiter charakterisieren: bei den „Subjektivisten“ bezeichnet Latenz einen Wissenszustand des Akteurs, der auf die Explikationsarbeit des Forschers angewiesen ist, um in den Status des Manifesten überführt zu werden. Für die „Objektivisten“ steht hingegen Latenz für ein dem Individuum externes Wissen, auf das der Forscher zurückgreifen muss, um dem Handeln des Akteurs (objektiven) Sinn zu verleihen. Bei der objektiven Hermeneutik dient beispielsweise dieses Wissen dazu, Strukturgesetzlichkeiten zu rekonstruieren, welche die „Regeln“ der Erzeugung von Bedeutung angeben.15
14 Auch hier gilt die Annahme, dass freie Erzählung eigene (des Erzählers) Modi der Kontextualisierung erlaubt, die der Gefahr der Verzerrung von Bedeutung durch den Forscher entgegenwirken. Offenes Erzählen ist eine Strategie, die eigens dazu gedacht ist, zu ermöglichen, dass die Relevanz- und Kommunikationsstrukturen der Erforschten möglichst unverfälscht zur Geltung kommen. 15 Indem die objektive Hermeneutik auf die Bedeutung sozialer Regeln bzw. auf die Regelhaftigkeit von Handeln hinweist, wendet sie sich gegen eine Auffassung von Interaktion, die Kontingenz auf Kosten von „Struktur“ betont, gegen eine Auffassung von sozialem Sinn als emergentes Produkt durchlaufender Interaktionsprozesse unter Gesellschaftsmitgliedern.
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Trotz der aufgezeigten Divergenzen teilen Wissenschaftler im rekonstruktiven Lager wichtige Annahmen hinsichtlich a) der Ziele der Rekonstruktion, b) des Status von Regeln und Regelhaftigkeit und c) des methodologischen Vorgehens. a) Ausgangspunkt aller rekonstruktiv verfahrenden Sozialforscher ist, dass Sozialität bereits vor jedem wissenschaftlichen Zugriff ihre eigentümliche Struktur und ihren typischen Verlauf besitzt. Von dieser zentralen Einsicht ausgehend besteht dann die Aufgabe darin, die Aufmerksamkeit auf jene Routinen und Regelmäßigkeiten zu richten, die das soziale Leben ausmachen. Es geht für den Forscher also darum, die typischen „Methoden“ ans Licht zu bringen, derer sich Menschen in Alltagssituationen bedienen, wenn sie Verständigung untereinander anstreben. Sollen diese Methoden und Standards „sprechen“, soll die Regelhaftigkeit des Handelns ans Licht kommen, so müssen mögliche Vorannahmen, die in die Sinnstruktur des zu untersuchenden Objekts eingreifen und sie verändern, „schweigen“.16 Rekonstruktive Verfahren bauen also auf die Einsicht, dass die Relevanzsysteme der Erforschten möglichst ungehindert ans Licht kommen sollen und dass dies am besten durch kontrollierte Kontextuierung von Sprachhandlungen, Verhaltensweisen oder Artefakten zu geschehen hat. b) Die Annahme, dass Handelnde in der Interaktion soziale Wirklichkeit nach bestimmten Regeln reproduzieren, besitzt nach rekonstruktivem Verständnis keine deterministischen Implikationen: Regeln können auch nicht befolgt werden und diejenigen, die sie befolgen, tun es nicht, ohne sie zu modifizieren oder, je nach Situation, von ihnen abzuweichen. Regelgeleitetes Handeln ist denncho die Hauptcharakteristik aller unterschiedlichen Ansätze, die unter der Etikette „rekonstruktives Paradigma“ subsumierbar sind. Daran festzuhalten ist von größter Bedeutung für eine Forschungsperspektive, die Differenz ernst nimmt, denn erst die Begriffe von Regel und Regelhaftigkeit gestatten es, der Existenz relativ autonomer Handlungssphären mit je eigenen
Die objektive Hermeneutik tritt gegen diese Verflüchtigung von Kultur ein. Sie ist bestrebt, der extremen Kontingenz, die dem symbolischen Interaktionismus und anderen verwandten Richtungen wie der Ethnomethodologie anhaftet, einen robusten Strukturbegriff entgegenzusetzen. „Objektivierung“ findet in der objektiven Hermeneutik vor allem dadurch statt, dass sich Verstehen nicht auf subjektive Motive, sondern auf die Regeln der sozialen Interaktion richtet, die das Subjekt bei seinem Handeln befolgt: Was am „Fall“ zu rekonstruieren gilt, sind die Regeln, die seine Reproduktion bedingen und ermöglichen. 16 So Matthes (2000: 24): „Statt es als projizierende Verallgemeinerung eigenkultureller Konzepte zu betreiben, wäre es als kulturgeschichtlich informierte, vergleichend angelegte Reflexion auf jene Vorgänge anzulegen, in denen sich gesellschaftliche Wirklichkeit(en) hier wie anderswo schon immer selber auf ihre(n) Begriffe(n) bringen.“
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Sinngrenzen Rechnung zu tragen. Bedenkt man darüber hinaus, dass der rekonstruktive Ansatz darauf zielt, diese Regeln durch Anschluss an „die Sprache des Falles“ zu rekonstruieren, so ist damit eine weitere wichtige Voraussetzung für die Erforschung fremdkultureller Phänomene gegeben.17 c) Rekonstruktionen dürfen sich nicht darin erschöpfen, den Sinn, den Akteure mit ihrem Handeln verbinden, wiederzugeben. Sozialwissenschaftlich gesehen ist Sinn weit mehr als das, was soziale Akteure mit ihrem Handeln intendieren oder realisieren. In Handlungen ist ein Überschuss an Sinn vorhanden, den Akteure selten ganz überschauen. Der Forscher, der rekonstruktiv verfährt, sollte mit anderen Worten nicht beim Nachvollzug von individuellen bzw. kollektiven Motiven stehen bleiben. Seine Aufgabe besteht vielmehr darin, Sinnverstehen als Mittel für die Rekonstruktion der Genese und Funktion von Bedeutungszusammenhängen und Relevanzsystemen der Akteure im Feld zu nutzen, d.h. die sozialen und kulturellen Voraussetzungen herauszuarbeiten, unter denen Handeln stattfindet. Anders als standardisierte Verfahren, die Validität vor allem in der Optimierung der Messinstrumente suchen, sehen rekonstruktive Verfahren ihre Berechtigung darin, dass sie sich um einen Anschluss an „natürliche“ Standards bemühen, dass die Forschungslogik der „Logik“ alltagsweltlichen Handelns folgt.18
D a s „ r e k o n s t r u k t i ve P a r a d i g m a “ und der Ethnozentrismus Wie gesagt, ist innerhalb des rekonstruktiven Paradigmas die Sensibilität für Fremdheit je nach „Schulzugehörigkeit“ unterschiedlich verteilt. Man könnte es auch so formulieren: Innerhalb des rekonstruktiven Ansatzes sind die unterschiedlichen Positionen der Gefahr des Ethnozentrismus in unterschiedlichem Ausmaß ausgesetzt. Im Folgenden soll es darum gehen, zu erläutern, warum dies der Fall ist. Ich beginne mit der wissenssoziologischen Position. Mannheims wissenssoziologisches Programm sieht nicht allein vor, die soziale Abhängigkeit von Denken und Handeln von Einzelnen und Gruppen zu illustrieren. Es möchte auch Auswege aus dieser Befangenheit zeigen. Seine Position impliziert nicht das Opfer der Objektivität, sondern die Einsicht, dass Objektivität „auf Umwegen“ herstellbar sei (Mannheim 1985: 258). Die Begriffe des „Relationierens“ und „Partikulierens“ eignen sich gut, diese Strategie zu veranschaulichen. Relationieren bedeutet nach Mannheim einzuse17 Rekonstruktive Ansätze operieren darüber hinaus auf der Basis eines ähnlichen Prinzips: Die Unterscheidung und Kontrastierung zwischen Manifestem und Latentem bzw. zwischen einem expliziten und reflexiven Wissen einerseits und einem atheoretischen, vorreflexiven und impliziten Wissen andererseits. 18 Dazu Bohnsack (2005).
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hen, dass bestimmte Aussagen nicht absolut, sondern relativ zum individuellen bzw. kollektiven „Standort“ gelten (Mannheim 1985: 242f.).19 Ein Dissens über visuelle Gegenstände beispielsweise kann nicht etwa dadurch geschlichtet werden, dass man eine „unperspektivische“ Sicht konstruiert, sondern so, „daß man aus dem einen standortgebundenen Bilde heraus versteht, warum sich dem anderen [...] die Sache so und nicht anders gibt“. Mannheims Versuch, den Ethnozentrismus durch Problematisierung des sozialen Standortes des Interpreten zu überwinden, findet heute methodologisch und methodisch seinen überzeugendsten Ausdruck in jenen Rekonstruktionen fremden Sinns, bei denen es dem Forscher gelingt, sich seines Verhaftetseins an den Normalitätshorizonten der eigenen Kultur bzw. des eigenen Milieus bewusst zu werden und diese dann unter Kontrolle zu bringen: „seien diese nun alltagswirklich oder (soziologisch-) theoretisch verankert oder beides“ (Bohnsack 2000: 101). Aus der Einsicht heraus, dass das Problem beim Vergleich oft ein unhinterfragtes tertium comparationis ist, entwickelt Bohnsack die Strategie einer kontrollierten progressiven Ersetzung der anfänglich unvermeidlichen Perspektive des Forschers durch die Perspektive derjenigen, die Objekt der Forschung sind. Im Zuge der komparativen Analyse sollen nach und nach an die Stelle der Normalitäts- und Erfahrungshorizonte des wissenschaftlichen Beobachters die empirisch fundierten Sinnkonstrukte der erforschten Gruppen und Milieus herangezogen werden (Bohnsack 2000: 101). Es sind mit anderen Worten die erforschten Subjekte selbst, die mit ihrer typischen Sprache und Verhaltensweise, mit ihrer typischen Art der positiven oder negativen Abgrenzung von anderen Gruppen und Milieus und mit ihrer typischen Selbstdarstellung dem Forscher „einen Zugang zur Andersgeartetheit der existentiellen Verankerung von Erfahrungs- und Bewusstseinsbildung“ ermöglichen (ebd.).20 19 Mannheim illustriert dieses Phänomen am Beispiel des Bauernsohns, der zum Städter wird. Wenn dieser nun bestimmte politische, weltanschauliche oder soziale Meinungen seiner Verwandten als „dörflich“ bezeichnet, so ist dies für Mannheim ein Zeichen dafür, dass er diese Meinungen nicht in der Art eines „homogenen“ Partners diskutiert. Der ehemalige Bauernsohn wird ganz im Gegenteil diese Meinungen auf eine bestimmte Art der Weltauslegung und diese wiederum auf eine soziale Struktur beziehen. Durch die Möglichkeit der Unterscheidung ländlich/städtisch bricht mit anderen Worten die Einsicht durch, dass die „Blickintention und die Fassungskraft“ der unterschiedlichen Sichtweisen durch einen bestimmten Lebensraum bedingt sind (Mannheim 1985: 243). Wenn diese Einsicht nun eine Relativierung der Geltung des eigenen Standpunktes zur Folge hat, so schlägt hier nach Mannheim das Relationieren in ein Partikulieren um. 20 Dies gelingt, indem „wir [...] den schöpferischen, den kreativen Prozess der kollektiven Wirklichkeitskonstruktionen vor allem dort nachzeichnen, rekonstruieren, wo dieser sowohl hinsichtlich seines Prozessablaufs, seiner Dramaturgie
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Auch der phänomenologische Ansatz kennt eigene Weisen der Selbstreflexivität, die es gestatten sollen, die Falle des Ethnozentrismus zu vermeiden. Selbstreflexivität in diesem Sinne ist bereits in Husserls Lebensweltanalyse angelegt. So spricht Husserl (1976: 105–193) der Wissenschaft den Status eines neutralen Mittels der Welterfassung ab. Insbesondere die experimentelle Wissenschaft bindet die Erkenntnis an eine Methode, bei der die anschauliche Komplexität realer Phänomene verloren geht. Entlang derselben gedanklichen Schiene bewegen sich auch jene Autoren, die Geschichtlichkeit und lebensweltliche Abhängigkeit jeglicher Theorie unterstreichen. Für diese steht das theoretische Denken als problemlösende Bewusstseinsleistung nicht nur einfach in Bezug zum gesellschaftlichen Wissensvorrat, sondern es ist weitgehend aus ihm abgeleitet (Luckmann 2003: 23). Von dieser Perspektive aus betrachtet ist es nur konsequent, wenn auch die Praxis der Datenauslegung an lebensweltliche Bedingungen zurückgebunden wird: „Wegen der Abhängigkeit des Deutenden, der Deutung und der Deutungsobjekte von ihrer jeweiligen Einbettung in Milieus, Geschichte, Geschichten und Deutungsgemeinschaften sind die jeweiligen Resultate hermeneutischer Auslegung jedoch relativ. Sie stehen in Relation zu einem je gegebenen sozio-historischen Sinnzusammenhang und erlangen in Bezug auf diesen ihre Geltung“ (Söffner 2003: 171). Indem also die phänomenologische Perspektive die Geschichtlichkeit und lebensweltliche Verankerung jeglichen theoretischen Denkens hervorhebt, scheint sie gegen die Gefahr des Ethnozentrismus in grundsätzlicher Weise geschützt zu sein. Anders stellt sich die Situation bei der objektiven Hermeneutik dar. Als Angelpunkt von Oevermanns Interpretationsverfahren gilt es, dass der Interpret über Kompetenzen in der Form von „allgemeinem Regelwissen“ verfügt, die es ihm ermöglichen, den untersuchten „Fall“ zu explizieren. Freilich ist dem Interpreten die konkrete Realisation dieser allgemeinen Regeln, d.h. der interne fallspezifische Kontext des Interakts, nicht (oder nur selten) von vornherein bekannt. Zu seiner Rekonstruktion muss der Forscher gedankenexperimentell Szenarien entwerfen, in denen dieser sinnvoll erscheint. Zweck der Sequenzanalyse ist es, alle Lesearten bis auf diejenigen auszuschalten, die präzise den Fall in seiner Struktur zum Ausdruck bringen.21
(Form) als auch hinsichtlich des metaphorischen Gehalts (Inhalt) Höhepunkte des Engagements, der Intensität und Dichte erreicht, also in jenen Diskurspassagen, die wir Fokussierungsmetapher genannt haben“ (Bohnsack 2000: 101). 21 Die Interpretation des Interviews erfolgt, wie üblich beim objektiv hermeneutischen Prozedere, vor dem Hintergrund der Annahme, dass jeder Interakt mehrere Bedeutungsmöglichkeiten enthält, und dass die konkrete Realisation einer dieser Möglichkeiten letztlich vom Kontext des Interakts abhängt. Das sukzessive Heranziehen möglicher Kontexte – darunter auch unwahrscheinliche – im
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Wie verhält es sich nun aber in Situationen, bei denen sich der Wissenschaftler auf Phänomene bzw. Interakte bezieht, die nicht der eigenen Kultur entstammen? Wie verhält es sich in Fällen, bei denen dem Forscher weder der externe noch der interne Kontext dieser Interakte bekannt ist? Nach einem bekannten hermeneutischen Prinzip „spricht“ der Fall zu uns nur, insofern wir Fragen an ihn stellen. Aus welchem konkreten Wissensbestand stammen diese Fragen? Aus welchem Wissensfundus entspringen die „Normalitätserwartungen“ des Forschers? Diese Fragen verweisen auf die Gefahr des Ethnozentrismus, die in dem Moment akut wird, in dem wir ignorieren, dass „Normalitätsvorstellungen“ einen sozialen bzw. kulturellen Ursprung haben.22 Am Ende dieser Ausführungen über die Leistung rekonstruktiver Verfahren für die Erforschung sozialer Wirklichkeit stellt sich die Frage, ob ihre Sensibilität für Differenz uns zur Behauptung veranlassen kann, diese Methoden seien ohne Bedenken auch bei der Forschung in fremden Gesellschaften anwendbar. Anders gewendet: Haben wir es bei der Erforschung fremdkultureller Lagen mit einer qualitativ „anderen Art“ von Fremdheit zu tun, so dass auch jene Methoden, die selbstreflexiv vorgehen, zu kurz greifen?
G r e n z e n r e k o n s t r u k t i ve r V e r f a h r e n Nach Edmund Husserls sog. Krisis-Abhandlung (1976) gibt es nur wenige Wissenschaftler, die mit ähnlicher Tiefgründigkeit die Frage nach der kulturellen Gebundenheit von Wissenschaft gestellt haben. Joachim Matthes gehört sicherlich zu diesen wenigen.23 Seine Kritik an herkömmlichen Verfahren empirischer Sozialforschung verdient insofern eine besondere Aufmerksamkeit, als sich mit ihr keineswegs das Bekenntnis zum absoluten Relativismus verbindet. Um das vorweg klarzustellen: Das Hauptanliegen sind bei Matthes Zuge der Interpretation, gestattet unterschiedliche Lesarten des Interakts, welche die Sequenzanalyse zu falsifizieren bemüht ist. 22 Zur relativen Entschärfung der gestellten Herausforderung trägt die etwas paradox anmutende These Oevermanns (2001) bei, dass im Vergleich zur Analyse vertrauter, sich die Analyse kulturell fremder Phänomene relativ unproblematisch ausnimmt: der These der notwendigen Verfremdung des Vertrauten durch wissenschaftliche Analyseeinstellung ist die These der „unproblematischen“ Aneignung des Fremden komplementär. Während nämlich der wissenschaftliche Zugriff auf das kulturell Vertraute eine Distanzierungsanstrengung als Bedingung des Erkenntnisgewinns verlangt, der Forscher sich also in eine Position des methodischen Zweifels künstlich versetzen muss, ist unter der Bedingung von Fremdkulturalität diese Anstrengung nicht erforderlich, denn Distanz ist hier durch das spezifische Objekt auf „natürliche“ Weise gegeben. 23 So mahnt Matthes (2000: 25): „Wenig wird auch darüber nachgedacht, wie sehr der Bestand an sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden in den Kulturmustern jener (europäischen) Gesellschaften gründet, in denen er entwickelt worden ist.“
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(2005: 432) „notwendige Korrekturen“ am üblichen begrifflichen, theoretischen und methodologischen Instrumentarium, das im westlichen Kulturkreis zur Erfassung und Analyse von „Wirklichkeit schlechthin“ entwickelt worden ist.24 Unter Bezugnahme auf eine solche Vorstellung von „Wirklichkeit schlechthin“ konnten sich die Sozial- und Kulturwissenschaften gegen die Erkenntnis ihrer kulturellen Bedingtheit bis heute offensichtlich erfolgreich immunisieren. Im Mittelpunkt von Matthes’ Reflexion über die kulturelle Gebundenheit der Sozial- und Kulturwissenschaften steht die Einsicht, dass Methode und Kultur in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen: Wenn Methodenangemessenheit die Voraussetzung für die Aufdeckung bzw. Erkundung kultureller Regelhaftigkeit ist, so ist das Wissen um diese Regelhaftigkeit eine notwendige Vorbedingung für die Anwendung der „richtigen“ Methode. Was mit diesem Verhältnis genau gemeint ist, kann am Beispiel jener „Basisregeln“ illustriert werden, die in jeder Kultur eine fundamentale Orientierungsfunktion im Denken und Handeln haben. Für asiatische Kulturen gilt bekanntlich als eine dieser Basisregeln das „Gesichtswahren“. In ihrer einfachsten Form besagt diese Regel, dass „niemand einen anderen durch sein kommunikatives Verhalten in eine Situation bringen darf, in der dieser andere ‚sein Gesicht verlieren‘ könnte“ (Matthes 1985: 320). Bezogen auf konkrete Forschungssituationen sieht diese Regel vor, dass der Befragte darauf achten wird, alles zu unterlassen, von dem dieser annehmen könnte, dass es dem Forscher beträchtliche Verständnisschwierigkeiten bereiten könnte (ebd.: 322). Auf Seiten des Forschers bedeutet umgekehrt die genannte Basisregel, dass dieser darauf achten sollte, Verhaltensweisen zu vermeiden, bei denen der Befragte ausschließlich als „Lieferant“ nützlicher Informationen instrumentalisiert wird. Eine Verletzung dieser Regel ist bereits bei Forschungssituationen gegeben, in denen ein hartnäckiges Frageverhalten an den Tag gelegt und von vornherein von einem auskunftsbereiten und auskunftsfähigen Informanten ausgegangen wird (ebd.: 320). Nachteilig wirken sich hier insbesondere konventionelle, auf dem „Frage-Antwort-Schema“ beruhende Befragungstechniken aus, die eine Selbstlegitimation durch die vermeintliche „interkulturelle Gültigkeit der Lehre vom Interview“ erfahren (Scheuch 1967: 180).25
24 So Matthes (2005: 443): „Ohne das Erfordernis von partiellen Angleichungen an verschiedenen Erhebungskontexte zu leugnen, wird der Methodenbestand der Sozial- und Kulturwissenschaften als raum-zeitlich unabhängig aufgefasst, dargestellt und eingesetzt.“ 25 Dazu Matthes (2005: 443) kritisch: „Jede Form von Befragung rechnet mit einem kulturell verankerten und wirksamen Muster des Frage-Antwort-Verhaltens, wie es sich in westlichen Gesellschaften ausgebildet hat.“
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Als besonders irreführend erweist sich die Tatsache, dass der Sozialwissenschaftler oft unfähig ist, die Verletzung kultureller Basisregeln wahrzunehmen, auch deswegen nicht, weil er von der Gegenseite meistens kaum Widerstand erfährt. Gilt nämlich die Basisregel des „Gesichtswahrens“, so ist wahrscheinlich, dass sich der Befragte auf das Frage-Antwort-Schema erst einmal einlassen wird. Ebenso wahrscheinlich ist aber, dass dabei dem Interviewer der Status einer „Non-Person“ zugeschrieben wird, die das Vertrauen des Interviewten nicht verdient (Matthes 1985: 320).26 Die Zuweisung der Rolle einer „Non-Person“ ist kein Ausdruck mangelnden Respekts, sie entspricht eher dem Versuch einer „Reparatur“ der verletzten Regel: Sie gestattet die Aufrechterhaltung der Kommunikation, garantiert aber freilich nicht die Validität der Antworten (ebd.). Im Gegensatz zu konventionellen Forschungsstrategien, die auf dem Frage-Antwort-Schema beruhen, verspricht zumindest auf den ersten Blick die Anwendung erzählanalytischer Verfahren ungleich bessere Chancen, vorhandene kulturelle Basisregeln zu beachten und infolgedessen der kulturellen Regelhaftigkeit des jeweiligen Untersuchungsfeldes auf die Spur zu kommen. Weil diese Verfahren auf eine ex ante-Strukturierung des „Falls“ verzichten, ermöglichen sie, dass der Befragte die Erhebungssituation weitgehend selbst in die Hand nimmt. In diesem Kontext sollen noch zwei Vorzüge erzählanalytischer Verfahren hervorgehoben werden. Zum einen ermöglichen auf Erzählung basierende Interviews, dass sich in ihnen die Perspektive der Untersuchten in einer Breite und Tiefe dokumentiert, die kein Fragebogen zu dokumentieren vermag. Zielen diese Interviews auf die Rekonstruktion lebensgeschichtlicher Erfahrung ab, dann besteht damit die Chance, nicht nur die Genese und den Verlauf individueller Ereignisse und Probleme, sondern auch die versuchten oder tatsächlich erfolgten Lösungen dieser Probleme zu rekonstruieren. Zum anderen spiegelt sich in diesen Erzählungen oft ein Stück sozialer Wirklichkeit in der Weise wider, dass der Erzähler als „Reibungsfläche“ sozialer und kultureller Prozesse erscheint. So betrachtet, bieten Erzählungen die Möglichkeit, eine auf individuelle Motive beschränkte Forschung zu transzendieren und strukturelle Phänomene in den Blick zu nehmen, die ihrerseits motiv- und handlungsstrukturierend sind. In Kulturen des „Gesichtswahrens“ erweist sich der Rekurs auf erzählanalytische Verfahren als besonders vorteilhaft, weil diese den Befragten in die Rolle des ernstzunehmenden „Experten“ der eigenen Situation und den Fragenden in jenen des interessierten „Unwissenden“ versetzt: „Mit der Bekun26 So Matthes (2005: 443) an andere Stelle: „Fragen (Hervor. des Autors) kann man auch dort, geht man aber in die Irre, wenn man die Antworten, die man erhält, mit jener Validitätserwartung wahrnimmt, die in westlichem Kontext berechtigt ist.“
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dung des Interesses seitens des Forschers, zu einem Thema gerade die Wahrnehmungen und Relevanzen des anderen mitgeteilt zu bekommen, erbringt der Forscher eine Vorleistung im kulturellen Wechselspiel des ,Gesichtswahrens‘: Er legt seine Unwissenheit offen und fordert gerade nicht durch bestimmte Fragen das Wissen des anderen heraus“ (Matthes 1985: 321). Trotz ihrer Fähigkeit, sich dem jeweiligen kulturellen Kontext anzupassen, können wir bei erzählanalytischen Verfahren keineswegs von einer universellen Methode ausgehen, die in Absehung von spezifischen kulturellen Lagen Anwendung finden können.27 Unter Bezugnahme auf die Frage, was, wann, wem und wie etwas erzählbar ist, wollen wir im Folgenden die Frage der Transkulturalität erzählanalytischer Verfahren kurz aufgreifen.
Was erzählbar ist Kultur entscheidet über die Angemessenheit der Methode in dem Sinne, dass empirische Verfahren nicht „greifen“, wenn bestimmte Voraussetzungen in den Orientierungs- und Erwartungsmustern einer spezifischen Gruppe nicht gegeben sind. Um diesen Gedanken nachvollziehen zu können, müssen wir uns die Tatsache ins Bewusstsein rufen, dass alle im Westen entwickelten Befragungstechniken auf der Annahme einer nicht hinterfragten Autorität des Wissenschaftlers als Ausdruck eines ebenso nicht hinterfragt geltenden „Systems Wissenschaft“ beruhen. Diesem System fühlt sich der westliche Mensch zur Rechenschaft verpflichtet, nicht etwa deswegen, weil ansonsten äußere Mechanismen mögliches abweichendes Verhalten sanktionieren würden, sondern weil er diese Rechenschaftspflicht verinnerlicht und dadurch teilweise invisibilisiert hat.28 Von diesen kulturellen Voraussetzungen können wir in anderen Kulturen nicht ohne weiteres ausgehen (Matthes 2000: 21). Jede Kultur besitzt ihren eigenen Begriff von Erzählbarkeit bzw. ihre eigene Legitimation für das Erzählbare und nicht Erzählbare (Matthes 1985: 316), die sich für den Einzelnen in spezifischen „Erzählkompetenzen“ niederschlägt. Ein geläufiges ethnozentrisches Vorurteil, das leider auch erzählanalytische Verfahren oft reproduzieren, besteht darin, dass man Angehörigen unterschiedlicher Kulturen eine ähnliche Kompetenz zuschreibt, Erfahrungen retrospektiv zu verarbeiten und kommunikativ darzustellen. Man geht hier also von der Gene-
27 „Setzt man andere, etwa erzählanalytische Verfahren des ‚Abfragens‘ ein“, so Matthes (2000: 321), „übersieht man leicht, dass die Regeln des Erzählens vor allem die Regelungen dessen, was erzählbar ist, kulturell sehr unterschiedlich ausfallen.“ 28 So Matthes (2000: 25): „Die öffentliche Autorität, die der Wissenschaft zukommt, vermag dieses Kulturmuster leicht zu mobilisieren; für die Durchführbarkeit und die Verlässlichkeit von Befragungsverfahren zählt jedoch vor allem die Internalisierung dieses Musters ins individuelle Bewußtsein.“
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ralisierbarkeit der „Allkompetenz“ des Erzählers aus, die im westlichen Kulturkreis, wenn auch nicht uneingeschränkt, vorhanden ist (ebd.: 315). Die Erfahrung zeigt allerdings, dass in unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche Formen von Erzählkompetenz vorhanden sind.29 Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der in einer Gesellschaft jeweils vorhandenen kulturellen und sozio-strukturellen Konstellation einerseits und dem Begriff von Erzählbarkeit andererseits. Biographische Interviews beispielsweise sind fehl am Platz und bringen kaum etwas Taugliches für die Forschung ans Licht, wenn in einer bestimmten Gesellschaft die Voraussetzungen für die Bündelung individueller Erfahrung in einer Biographie westlichen Musters fehlen. Vor allem Gesellschaften, deren Mitglieder nicht mit einem gesamtgesellschaftlich getragenen System von Lebenslaufstrukturen rechnen können, bieten wenig Anhaltspunkte für die Strukturierung lebensgeschichtlicher Erfahrung und biographischer Kontinuität.30 Gewiss, auch nicht-westliche Gesellschaften und insbesondere die traditionalen unter ihnen, geraten heute mehr und mehr unter den Druck, eine Strukturierung und Sequenzierung des Lebenslaufs nach westlichem Muster vorzunehmen. Auch in diesen Gesellschaften gewinnt die chronologische Kontinuität verleihende Strukturierung des Lebens nach dem bekannten dreiteiligen Muster Ausbildung/Arbeitszeit/Ruhestand zunehmend an Bedeutung. Es lässt sich jedoch feststellen, dass in vielen Fällen dieses Muster nicht konsequent durchgreift, so dass man heute weit davon entfernt ist, weltweit von einer gesellschaftlich präformierten Lebenslaufstruktur nach dem westlichen Modell sprechen zu können. Wahrscheinlicher ist eine Kommistion und Alternanz von Kontinuität und Diskontinuität im Lebenslauf, der eine „Lebensgeschichte“ im westlichen Sinne nicht gerecht wird. Das Fehlen eines klar nach westlichem Muster organisierten BiographieParadigmas hat forschungspraktische Konsequenzen: Der Forscher sollte vermeiden, auf Methoden zurückzugreifen, die biographische Konsistenz künstlich erzeugen. Angemessener wäre es in diesem Fall, wie Matthes (2005: 370) es vorschlägt, nicht nach der Lebensgeschichte, sondern nach „Geschichten aus dem Leben“ zu fragen. Wie gesagt, die Beobachtung biographischer Brüchigkeit und Diskontinuität gilt in den genannten Gesellschaften nicht absolut. Vor allem Generationsunterschiede machen hier einen wichtigen Unterschied aus. Aufgrund der 29 Eine für asiatische Kulturen typische Situation, bei der „Grenzen“ des Erzählens an Dritten sichtbar werden, betrifft die intrafamilialen Beziehungen, insbesondere solche Konflikte, bei denen intergenerationale Konflikte sichtbar werden könnten. 30 Matthes macht dies am Beispiel der Gesellschaft von Singapur deutlich, die aufgrund der kolonialen Vergangenheit keine kollektive Identität entwickeln konnte (2005: 367–380).
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weltweiten Vereinheitlichung von Denk- und Verhaltensmustern steigen insbesondere bei der jüngeren Generation die Möglichkeiten biographischer Strukturierung nach gesellschaftlich präformierten Lebenslaufmustern, die freilich einen westlichen Ursprung haben. Bei der älteren Generation wird hingegen die Konsistenz lebensgeschichtlicher Wahrnehmung weiterhin meistens entweder durch religiöse Sinnkonstrukte oder durch pragmatische Kriterien wie etwa den Berufserfolg gestiftet (ebd.: 368ff.).
Wann und wem etwas erzählbar ist Es ist bekannt, dass beim Interview nicht nur das Alter und das Geschlecht, sondern auch die ethnische Zugehörigkeit und die kulturelle Identität des Interviewers eine wichtige Rolle spielen. Darüber hinaus gibt es in jeder Kultur eine Reihe von Basisregeln, deren Achtung über das Gelingen bzw. Misslingen des Interviews mitentscheiden. Bereits die Art der Rekrutierung des „Informanten“ könnte das ganze wissenschaftliche Unternehmen kompromittieren, wenn diese Basisregeln verletzt werden. Für asiatische Kulturen beispielsweise ist zu beachten, dass der potenzielle Informant auf indirektem Wege, über Vermittler, kontaktiert wird.31 Diese Präkaution ermöglicht es, dass der zum Interview Kontaktierte, ohne sein Gesicht zu verlieren, dem Forscher eine Absage erteilen kann. Eine Kontaktierung über Dritte wird darüber hinaus als Signal dafür aufgenommen, dass der Forscher die in der entsprechenden Kultur geltende Basisregel erkannt hat und bereit ist, sich darauf einzulassen (Matthes 1985: 321). Ist der Forscher nicht mit ausreichender Sensibilität ausgerüstet um zu erkennen, dass sich Forschung typischen Routinen, Rhythmen, Tabus und Geboten anpassen muss, erkennt dieser also nicht, dass es in einer Gruppe bestimmte Zeiten des Redens sowie des Schweigens gibt und dass er für den Erhalt wertvoller Information auf den „günstigen“ Moment warten muss, so wird dieser Forscher im besten Fall knappe Antworten erhalten – solche aber, die nicht im Relevanzsystem des Befragten eingebettet sind und die deswegen zwangsläufig den Charakter einer höflichen „Abfertigung“ haben werden.32 Erst die Kenntnis der im Alltag der beforschten Gruppe gültigen Kommunikationsregeln ermöglicht einen methodisch kontrollierten Zugang zum Feld.33
31 „Kein gewünschter Erzähler“, so Matthes (2000: 321), „sollte direkt um eine Erzählung gebeten werden, sondern nur über eine Mittlerperson.“ 32 Dazu ausführlich Spittler (2001). 33 In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass so genannte qualitative Verfahren gerade als Antwort auf das Problem der Dekontextualisierung von Information durch die Anwendung standardisierter Forschungstechniken entstanden sind.
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Wie etwas erzählbar ist Auch das „Wie“ des Erzählens schließlich folgt kulturellen Vorgaben. Dies kann am besten unter Berücksichtigung jenes Erzählens nachvollzogen werden, das sich zur Aufgabe macht, biographische Verläufe zu rekonstruieren. Findet die „Organisation von Wirklichkeit“ nach anderen Kriterien als jenen des „egozentrischen“ Individuums statt, kann man also nicht, wie oft in nichtwestlichen Kulturen der Fall, von einem individuumsbezogenen BiographieParadigma ausgehen, „über das erlebte Sachverhalte zu unverwechselbaren und kontinuierlichen ‚Lebensgeschichten‘ organisiert werden“ (Matthes 2005: 369) Entscheidend ist in diesem Fall die in einer spezifischen Kultur jeweils geltende Zeitkonzeption. Können wir nicht von der im Westen üblichen Dreiteilung von Zeit in Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart ausgehen, dann ist zu erwarten, dass auch das Erzählen der eigenen Geschichte einer nach westlichen Maßstäben untypischen Zeitstrukturierung folgt. Tritt dieser Fall ein, so bestünde für den Forscher die Aufgabe erstens darin, herauszufinden, nach welchen Kriterien Zeit organisiert ist. In einem zweiten Schritt sollte dieser dann Methoden der Datengenerierung zum Einsatz bringen, die der jeweils geltenden Zeitorganisation adäquat sind. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass von einem einzigen Modus der Zeitorganisation nicht die Rede sein kann. Unterschiedliche Lebens- bzw. Handlungssphären weisen typische Zeitstrukturierungen auf: familiale eine eher genealogische, ethnische eine eher mythische, religiöse eine eher zyklische bzw. reinkarnatorische. Möglich ist auch, dass die Zeit global nicht als Dauer, sondern als Kontrast erfahren wird, so dass eine bipolare Zeitorganisation nach dem Muster „jetzt, nicht-jetzt“ vorhanden ist (Matthes 1985: 318). Die Bestimmung von Erzählbarkeit durch die jeweils vorhandene Zeitkonzeption darf freilich die Tatsache nicht verschleiern, dass die konkrete Strukturierung von Zeit ein hohes Maß an Indexikalität aufweisen kann, dass also die Temporalstruktur der Erzählung interaktiv in der konkreten Erzählsituation erfolgt (ebd.: 316). Kultur muss aber nicht allein bei der Datengenerierung, sondern auch bei der Dateninterpretation berücksichtigt werden. Erkennen wir, dass Kultur oft die Form bestimmt, in die bestimmte Inhalte gegossen werden, so muss der Forscher darauf achten, ob Form und Inhalt in einem Verhältnis der Übereinstimmung oder des Widerspruches stehen. Bezogen auf das Thema erzählanalytischer Verfahren muss der Forscher berücksichtigen, ob bei einer biographischen Erzählung bestimmte kulturell prädeterminierte Erzählvorgaben im Spiel sein könnten, die das normative Ideal einer „guten“ Erzählung mittransportieren und welche bei der Rekonstruktion vom Erlebten seitens des Erzählers strukturierend wirken. Möglicherweise verbirgt sich hinter einem 150
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scheinbar willenlosen Subjekt ein selbstbewusstes und gelegentlich auch entscheidungsfreudiges Individuum (Shimada 2008). Die Lehre, die man aus dieser Beobachtung ziehen kann, ist, dass man bei der Interpretation einer biographischen Erzählung nicht nur die Semantik, sondern auch das implizit enthaltene und kulturell bedingte Erzählmuster berücksichtigen muss.
Einige Schlussfolgerungen Wie wir sahen, werden qualitative Verfahren der Datenproduktion und Dateninterpretation als besonders geeignet für die Erforschung fremdkultureller Phänomene angesehen, weil sie darauf verzichten, eine ex ante-Strukturierung des Falles vorzunehmen und weil sie, auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichem Erfolg, Vorkehrungen für die Eindämmung eines immer drohenden Ethnozentrismus einbauen. Diese Vorzüge dürfen nicht dazu verleiten, in diesen Methoden etwas zu erblicken, das ohne Rücksicht auf den jeweiligen soziokulturellen Kontext Anwendung finden kann. Ihre besondere Sensibilität für „Differenz“ ist eine notwendige, jedoch keine ausreichende Bedingung für empirische Forschung in fremdkulturellen Lagen. Insbesondere folgende Überlegung mahnt hier zur Vorsicht. Forschung in fremdkulturellen Kontexten ist der Gefahr des Reduktionismus durch Forschungsstrategien, die auf eine einzige Methode der Datengenerierung setzen, besonders exponiert. Auch die prosaischsten unter den Anthropologen wissen genau, welche Gefahren hinter der Annahme lauern, allein erzählanalytische Verfahren könnten den Forscher in die Lage versetzen, sämtliche relevanten Dimensionen einer Kultur zu erfassen.34 Forschung in fremden Kulturen ist auf eine komplexe Strategie angewiesen, welche die Berücksichtigung unterschiedlicher Informationsquellen und Datensorten auf den Plan ruft. Neben der Rekonstruktion von Sinnkonstrukten Handelnder gehören hier auch sozio-strukturelle Daten sowie ethnographisches und geschichtliches Wissen über das erforschte Milieu zum Rüstzeug des Sozialwissenschaftlers. Forschung unter Bedingungen kultureller Fremdheit bedarf aber vor allem einer Reflexion über die kulturellen „Tiefenstrukturen“ der Gesellschaft, in der geforscht wird, sei es entlang geltender Basisregeln, sei es entlang vorhandener „Erzählkulturen“ (Matthes 1985: 324). Wer eine solche Anstrengung auf sich nimmt, macht klar, dass der Relativismus nicht die Antwort auf 34 So schon John Baettie (1966: 83): „Much can be learnt of a community’s moral and legal standards, for example, or about other explicit aspects of its culture, through set interviews with selected individuals or groups. But this way of doing Anthropology can only tell the enquirer what people think happens or should happen [...]. It cannot tell him what actually happens, how the social and cultural institutions of the community fit together in a working pattern.“
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das Problem der gegenseitigen Abhängigkeit von Methode und Kultur sein kann. Es wäre keinem gedient, wenn man aus der Einsicht in die Notwendigkeit der Abstimmung zwischen Methoden und untersuchter Wirklichkeit das Bekenntnis zu einem radikalen Kontextualismus ableiten würde, oder, noch schlimmer, Methodenoptimierung mit Methodenbeliebigkeit verwechseln würde. Eine „Interdependenz“ der sozialwissenschaftlichen und der gesellschaftlichen bzw. kulturellen Begriffswelt einzuräumen, bedeutet nicht, dem Relativismus das Wort zu reden, es bedeutet vielmehr zu erkennen, dass es sich bei dem Übergang von gesellschaftlicher Wirklichkeit in die wissenschaftliche Begrifflichkeit um eine Übersetzungsleistung handelt, die strukturell, semantisch und epistemologisch unter Kontrolle gebracht werden muss. Es bedeutet, sich auf eine kulturgeschichtlich informierte Reflexion über die Weisen einzulassen, wie sich in fremdkulturellen Kontexten gesellschaftliche Wirklichkeit „auf ihre Begriffe bringt“ (Matthes 2000: 21).35
Ab s c h l i e ß e n d e B e m e r k u n g e n Ausgangspunkt unserer Analyse war, dass im Westen entwickelte Methoden der empirischen Sozialforschung über ein nicht zu vernachlässigendes Potential verfügen, fremdkulturelle Lagen zu erforschen. Diese Methoden erweisen sich durchaus als geeignet, „Differenz“ innerhalb der eigenen Gesellschaft zu erkennen und theoretisch zu reflektieren. Dass empirische Methoden kulturspezifisch zu sein haben in dem Sinne, dass diese auf die Besonderheit des Falls Rücksicht nehmen müssen, ist eine Einsicht, die in kritischer Auseinandersetzung mit dem konventionellen, auf Einheit und Homogenität setzenden Gesellschaftsbegriff gewonnen wurde. Die vorangegangene Argumentation stand nicht im Zeichen des „Verursachungsprinzips“. Es wurde nicht behauptet, die Erkenntnis innergesellschaftlicher Differenz habe die Entwicklung von Methoden veranlasst, die geeignet sind, dieser Differenz Rechnung zu tragen. Außer Zweifel steht allerdings die Tatsache, dass die Entwicklung flexibler, an die Besonderheit des Forschungsgegenstandes angepasster Methoden einen entscheidenden Auftrieb durch die Einsicht erhalten hat (und heute noch erhält), dass von sozialer Wirklichkeit in modernen Gesellschaften nur im Plural die Rede sein kann. Das rekonstruktive Paradigma wurde als jener Forschungsansatz identifiziert, der mehr als andere in der Lage ist, fremdkulturellen Wirklichkeiten 35 So Matthes (2000: 24) an einer anderen Stelle: „Statt es als projizierende Verallgemeinerung eigenkultureller Konzepte zu betreiben, wäre es als kulturgeschichtlich informierte, vergleichend angelegte Reflexion auf jene Vorgänge anzulegen, in denen sich gesellschaftliche Wirklichkeit(en) hier wie anderswo schon immer selber auf ihre(n) Begriff bringen.“
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KULTUR UND METHODE
Rechnung zu tragen. Dies aus zwei Gründen: Weil dieser Ansatz auf die Erkenntnis kultureller Regelhaftigkeit abzielt, und weil er mutatis mutandis über die erforderliche Selbstreflexivität verfügt, die kulturelle Gebundenheit des eigenen Standpunktes zu hinterfragen. Man könnte es auch so ausdrücken: Der rekonstruktive Ansatz verfügt über die Fähigkeit, die „natürliche“ Disposition zum ethnozentrischen Urteil unter Kontrolle zu bringen. Im vorliegenden Aufsatz wurde von der Vorstellung Abstand genommen, Methoden empirischer Sozialforschung hätten kulturunspezifisch oder kulturneutral zu sein. Diese Vorstellung gründet auf der Überzeugung, dass bei der Elaborierung und Implementierung empirischer Verfahren von der „Variable“ Kultur abstrahiert werden sollte, weil gerade diese Abstraktionsleistung ihre Übertragbarkeit auf unterschiedliche kulturelle Kontexte sichere. Mit den Kritikern der kulturellen Neutralität empirischer Methoden halten wir dieser Auffassung entgegen, dass „Kulturgrenzen“ gleichzeitig Grenzen des Verstehens sind. Sollen diese Grenzen vom Forscher überwunden werden, so stellt sich der Einsatz spezifischer, auf die jeweilige kulturelle Konstellation angepasster Verfahren der Datenproduktion und Dateninterpretation als unvermeidlich dar.
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Empirische Analysen und praktische Applikationen
Biographie, Kultur, sozialer Wandel SHINGO SHIMADA
I. Seit dem Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts gewinnt der Begriff der Kultur in den Kultur- und Sozialwissenschaften zunehmend an Bedeutung. Während die gesellschaftliche Modernisierung bis dahin vornehmlich als ein politischer und wirtschaftlicher Prozess behandelt worden war, begann man zu dieser Zeit damit, die kulturellen Grundlagen verschiedener Gesellschaften als Konfliktpotenziale im globalen Kontext zu sehen. Diese neue Aufmerksamkeit, die sich wohl am präzisesten im Ausdruck „cultural turn“ manifestiert, spiegelt die sich verändernde Konstellation der Weltpolitik wider, in der die bis dahin als universal erachteten Werte zunehmend in Frage gestellt werden (zum cultural turn vgl. Bachmann-Medick 2007). Während lange Zeit die universalen Grundlagen der Menschenrechte nie angezweifelt worden waren, wurde nun ihre kulturelle Verankerung in einer bestimmten Kultur allgemeines Thema der gesellschaftlichen Diskurse (vgl. Shue 1999; Steiger 1999; Shimada 2004). Zwar behauptete der Diskurs der Globalisierung die nach wie vor bestehende Dominanz des westlichen Wirtschaftssystems, doch verbarg sich dahinter eine tiefgehende Verunsicherung, dass gerade dieses System, das lange Zeit so universell zu sein schien, doch auf einer spezifischen kulturellen Grundlage fußte. Infolgedessen fing die westliche Zivilisation zum ersten Mal in ihrer Geschichte an, sich in „egalitärer“ Perspektive als eine Kultur unter anderen zu begreifen. Die früher vom Kulturrelativismus proklamierte Vielfalt der kulturellen Wirklichkeiten schien so eine politische Wirklichkeit zu werden. Vor diesem Hintergrund gewann das Thema der kulturellen Differenz eine politische Brisanz. Es entwickelten sich vielfältige Formen von Selbstbehauptungsdiskursen, in denen die Anerkennung der kulturellen Differenzen programmatisch und politisch verfolgt wird (vgl. Amelung 2003).
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Doch während sich diese Selbstbehauptungsdiskurse in der Regel kulturalistischer Argumente bedienen, um politisches Gehör zu finden, geraten gerade diese Argumente im wissenschaftlichen Diskurs zunehmend ins Visier der Kritik. So ist die Vorstellung, dass eine Gesellschaft von einer mehr oder minder einheitlichen Kultur geprägt sei, in kultur- und sozialwissenschaftlichen Diskussionen kaum mehr vertretbar. Die Aufmerksamkeit der neueren wissenschaftlichen Diskurse zielt vielmehr auf kulturelle Mischformen, die in Begriffen wie „Hybridität“, „Transkulturalität“ oder „Transnationalität“ zum Ausdruck kommen. Gefordert wird eine differenziertere Sicht auf Kultur, welche die Mechanismen der dynamischen Kulturprozesse offenbart, die unser Alltagsleben zutiefst prägen. Wie alle im vorliegenden Band versammelten Beiträge zeigen, können die bisher vorhandenen Methoden der interpretativen Sozialforschung mit gewissen Modifikationen durchaus dieser Aufgabe gerecht werden. Gerade auch erzählanalytische Verfahren bieten eine geeignete Grundlage für eine differenziertere Analyse der Kultur, da anhand einer lebensgeschichtlichen Erzählung sowohl kulturell überlieferte Erzählmuster, die in Form von implizitem Wissen vorliegen, herausgearbeitet werden können, als auch die durch die Modernisierung geschaffene Sozialstruktur, die eine Autobiographie erst ermöglicht. Dadurch wird es möglich, die Differenzen zwischen unterschiedlichen Gesellschaften nicht allein auf ihre „Kultur“ zurückzuführen, sondern sie aus einer differenzierteren Perspektive zu betrachten, die auch institutionelle und strukturelle Veränderungsprozesse berücksichtigt. Dabei ist davon auszugehen, dass gerade in lebensgeschichtlichen Erzählungen das implizite kulturelle Wissen, das individuelle und kollektive Gedächtnis und die mehr oder weniger bewusste Selbstinszenierung ineinander greifen und als kulturelle Praxis zum Ausdruck gebracht werden. Mit den Verfahren der interpretativen Sozialforschung ist es möglich, dieses komplexe Gebilde aufzulösen und einige Einsichten in die Gesellschaft zu gewinnen, die diese Erzählung hervorgebracht hat. Dies soll im vorliegenden Beitrag an einem Beispiel aus der japanischen Gesellschaft aufgezeigt werden.
II. Doch bevor hier auf die ausgesuchte lebensgeschichtliche Erzählung eingegangen wird, erhebt sich die Frage, inwiefern es möglich ist, die biographische Methode, die aus dem kulturellen Zusammenhang Westeuropas hervorgegangen ist, auf eine außereuropäische Kultur wie die japanische anzuwenden (vgl. Matthes 2005: 369ff.). Dieser methodologische Zweifel berührt die grundsätzliche Frage, ob solche in den westlichen Kulturen selbstverständliche Konzepte wie „Selbst“, „Autonomie“, „narrative Kohärenz“, aber auch „Zeit“, in einer anderen Kultur schlicht vorausgesetzt werden können. 160
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Ohne hier auf diese grundsätzliche Frage auf theoretischer Ebene weiter einzugehen, ist festzuhalten, dass die japanische Gesellschaft als ein ideales Forschungsgebiet für die Thematisierung dieser Frage betrachtet werden kann. Denn es lässt sich nachweisen, dass die Modernisierung der japanischen Gesellschaft strukturell gesehen durch die Übernahme moderner Institutionen wie Schule, Universität, Gericht, Verwaltung usf. aus dem Westen vorangetrieben wurde. Damit einhergehend wurde auch das Konzept des Lebenslaufs übernommen, anhand dessen die Individuen ihr Leben zu entwerfen begannen und bis heute auch entwerfen (Shimada 2007: 93–107). Hinzu kommt, dass anhand des Konzeptes der nationalen Geschichte ein kollektives Gedächtnis geschaffen wurde, das als Teil der nationalstaatlichen Ideologie zu betrachten ist. Die noch zu analysierende lebensgeschichtliche Erzählung verdeutlicht diesen Umstand, wenn z.B. die Erzählerin von dem ideologischen Drill in ihrer Schulzeit als einem wichtigen Teil ihrer Lebensgeschichte erzählt. Dieser Umstand ist als Folge der Modernisierung zu betrachten, wodurch in der japanischen Gesellschaft der moderne dreiteilige Lebenslauf – Ausbildung, Erwerbstätigkeit und Ruhestand – allmählich eine Selbstverständlichkeit wurde (Shimada 1994: 215ff.). Es ist deshalb auch möglich, dort parallel zu westlichen Gesellschaften eine „Institutionalisierung des Lebenslaufs“ (Kohli) zu entdecken. Strukturell gesehen liegen daher dieselben Prozesse vor wie in Europa. Hier wie dort wurde das Individuum aus zuvor gegebenen traditionellen sozialen Zusammenhängen ‚entlassen‘. Entscheidend ist jedoch, dass hinter dieser strukturellen Analogie kulturelle Differenzen entdeckt werden können, wobei das Verhältnis zwischen den sozialstrukturellen und kulturellen Veränderungen sorgfältig herausgearbeitet werden muss. Hinzu kommt, dass in der japanischen Kultur bereits vor der Begegnung mit der westlichen modernen Zivilisation im 19. Jahrhundert ein Konzept der autobiographischen Erzählung existierte. So gilt bis heute die autobiographische Erzählung des Gelehrten Arai Hakuseki (1657–1725) aus dem Jahre 1716 „Oritaku shiba no ki“ als beispielhaft. Es stellt sich die Frage, wie sich dieses historisch vorgegebene Konzept der Autobiographie durch die Übernahme des westlichen Konzeptes veränderte. Man kann davon auszugehen, dass dadurch eine hybride Erzählform entstand, die auch die unten analysierte Erzählung prägt. Abgesehen davon ist hier festzuhalten, dass sich das Konzept des modernen Lebenslaufs in der japanischen Gesellschaft ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rasch ausbreitete und zu einer Grundlage des japanischen Nationalstaates entwickelte. Dieser Prozess setzte sich auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 fort. Gerade in der Nachkriegsgesellschaft erfolgte eine starke Homogenisierung und Standardisierung der Lebensläufe, was auch im unten behandelten Beispiel sichtbar wird. Ich bin der Meinung, dass man heute von einer Überdeterminierung der einzelnen Lebensläufe durch den 161
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Ideallebenslauf sprechen kann. Denn das Lebenslaufregime in der heutigen japanischen Gesellschaft ist wesentlich stärker ausgeprägt als beispielsweise in der deutschen (vgl. Kinmoth 1981; Takeuchi 1996). Insgesamt sind daher die Voraussetzungen für die Anwendung der biographischen Methode in der japanischen Gesellschaft als gegeben anzusehen. Hierbei bleibt die Frage, welche Elemente der Erzählung als westlich geprägt anzusehen sind und welche kulturellen Grundlagen als Tradierung betrachtet werden können.
III. Frau T., Jahrgang 1933, war bis zu ihrer Pensionierung im Jahre 1988 Lehrerin an mehreren Elementarschulen in Nagoya, eine der größten Städte Japans.1 Frau T. stammt jedoch aus einem Bauerndorf in der Stadtnähe, das noch zu der Zeit ihrer Geburt nicht zur Stadt gehörte. Frau T. arbeitete später am Rande dieser Stadt, so dass ihr berufliches und privates Umfeld für lange Zeit dörflich blieben. Erst in der zweiten Hälfte ihres Berufslebens ab Mitte der 70er Jahre begann eine rasche Verstädterung, so dass ihr ehemaliges Dorf heute als ein mittelständisches städtisches Wohnviertel bezeichnet werden kann. In dem Maße, wie Frau T.’s Wohnort einen enormen Transformationsprozess von einem armen Bauerndorf zu einem wohlhabenden städtischen Wohnviertel erlebt hat, ist ihr Lebenslauf ebenfalls von starken sozialen Veränderungen gekennzeichnet. Der Lebenslauf von Frau T. verkörpert sicherlich das moderne Bewusstsein einer berufstätigen Frau, die mit Zufriedenheit auf ihr Leben zurückblickt. Dabei betrachtet sie ihr Leben durchaus als „normal“. Aus ihrer Perspektive ist ihr Leben insofern „normal“, als sie ihren Beruf als Lehrerin ausübte und parallel dazu eine Familie gründete und zwei Töchter aufzog. Zugleich fällt ihr Lebenslauf aus dem Rahmen ihres dörflichen Milieus, denn sie ist sicherlich die erste weibliche Person mit höherer Bildung aus ihrem Herkunftskontext, die auch eine individuelle Berufskarriere eingeschlagen hat. Insofern gibt es einige Aspekte, die ihren Lebenslauf für ihren Kontext doch „ungewöhnlich“ erscheinen lassen. So wurde sie trotz ihrer bäuerlichen Herkunft auf eine höhere Schule geschickt und heiratete später einen Mann, den sie siebzehnjährig auf einer Schulreise kennen gelernt hatte. Dies war sicherlich für das damalige dörfliche Eheverständnis sensationell 1
Das lebensgeschichtliche Interview wurden im Rahmen des von der Volkswagen Stiftung geförderten Forschungsprojektes „‚Arbeitszeit‘, ‚Freizeit‘, ‚Familienzeit‘ in Japan – Der Umgang mit westlichen Zeitlichkeitskonzepten in der japanischen Gesellschaft“ (Laufzeit 1993–97) am 13. 05. 1996 von der Projektmitarbeiterin Sonja Gabbani durchgeführt. Vgl. hierzu ihre Interpretation dieses Interviews (Gabbani 2006: 138–149).
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und für damalige Verhältnisse wohl als sehr modern zu bezeichnen. Ungewöhnlich ist auch, dass Frau T. nach ihrer Schulausbildung zunächst einer Beschäftigung bei einer Firma nachging, aber diese Firma nach einem halben Jahr wieder verließ, um Lehrerin zu werden. Gleich, ob wir ihr Leben als „normal“ oder „ungewöhnlich“ interpretieren, Frau T. durchlebte in ihrem Leben den radikalen Transformationsprozess der japanischen Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft, ausgehend von den traditionellen Lebensformen eines Bauerndorfes hin zum Selbstverständnis einer modernen städtischen Mittelschichtfamilie.
IV. Frau T.’s Familienkonzept und ihr Lebensstil zur Zeit des Interviews zeugen durchaus von einer modernen Form des familiären Zusammenlebens. Im Interview schildert sie eingehend die Beziehung zu der Familie ihrer älteren Tochter, die im Nachbarhaus lebt: „Die Beziehung zu der Familie meiner Tochter […], es ist einfacher, wenn wir keinen festen Regelungen folgen. So besucht uns die Kleine [die jüngste Enkeltochter] ab und zu, so wie eben. Da unterhalten wir uns, und dann geht sie wieder. Ab und zu gehen wir sonntagnachmittags Tee trinken. […] Und dazu kommen die Geburtstage. Mit acht Personen kommt das relativ häufig vor, und da treffen wir uns alle. Und je nach dem, was das Geburtstagskind mag, gehen wir in unterschiedliche Restaurants essen und so.“
Bedenkt man, dass in Japan erst seit neuerer Zeit (unter Kindern seit den 1960er und unter Erwachsenen seit den 80er Jahren) individuelle Geburtstage gefeiert werden, ist der Lebensstil der Familie durchaus als modern zu bezeichnen, zumal die Tochter im Nachbarhaus einen eigenen Haushalt mit ihrer Kernfamilie führt. Diese Form des Zusammenlebens von drei Generationen in zwei Haushalten in der Nachbarschaft wäre auch in Europa nicht ungewöhnlich. Ohne Frage hat sich das Familienbild in der japanischen Gesellschaft in den letzten hundert Jahren radikal verändert. Was Frau T. von ihrer Kindheit im Dorf erzählt, entspricht der traditionellen Familieform des ie.2
2
Das Wort ie bedeutet wörtlich übersetzt ein Haus, hat jedoch drei weitere Bedeutungshöfe: 1) Es bedeutet zunächst das konkrete Gebäude. Im erweiterten Sinn kann es das Gebäude samt dem Grundboden meinen, auf dem es steht. 2) Es bedeutet Familie und die Familiemitglieder, die im Haus leben. 3) Es bedeutet eine familiäre Genealogie, bei der nicht unbedingt das Blut, sondern der Name als Zeichen entscheidend ist.
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„Da mein Vater das honke [die Hauptlinie der Familie]3 übernommen hatte, war auch seine Mutter im selben Haus. Diese Mutter, also von mir aus gesehen meine Großmutter, war sehr stark. Und meine Mutter, die heute 88-jährig nicht mehr ganz auf den Beinen ist, war eine vom Charakter her sehr schwache Frau. Hinzu kam, dass sie als eine eingeheiratete Braut gegenüber der Schwiegermutter sowieso eine sehr schwache Stellung hatte. Ja, wenn ich selbst heute daran denke, verstehe ich, dass sie es immer sehr, sehr schwer hatte. Sie musste ja mit meinem Vater zusammen die ganzen Felder bestellen und uns Kinder groß ziehen. So musste sich meine Mutter als eine eigenständige Arbeitskraft bewähren. Sie war natürlich für meinen Vater auch die Ehefrau, für uns Kinder die Mutter. Und dazu kam, dass sie auch noch für die Schwiegermutter die Schwiegertochter sein musste. Dass eine Frau diese vier Rollen bewältigen musste, war damals überall so. Aber in unserem Haus war die Großmutter besonders stark, weil sie im Haus der Hauptlinie war. Daher war sie sehr streng gegenüber meiner Mutter, wenn sie mit uns Kindern ungeschickt umging und so […].“
So ist die Familie von der Frau T. abstammt, eine Bauernfamilie im dörflichen Kontext. Und ihre Erzählung über ihre Mutter, die vor allem deren Schwiegermutter dienen musste, entspricht vielen Erzählungen dieser Zeit. In ihrer Erzählung verbindet Frau T. diese Zeit mit der Konnotation der Rückständigkeit und Härte des Alltags. Den Höhepunkt dieser Schilderung bildet die folgende Geschichte: Ihre Mutter war nach einer Fußverletzung eine Zeitlang arbeitsunfähig geworden. Eines Nachts schlich sie sich mit ihrer Tochter – also Frau T. – auf dem Rücken aus dem Haus, irrte durch das Dorf, bis sie schließlich am Ufer des nächstliegenden Teiches stand. Die Mutter fragte ihre Tochter, ob sie damit einverstanden sei, mit ihr ins Wasser zu gehen und zu sterben, weil das Leben mit der Schwiegermutter nicht mehr auszuhalten sei. Doch das Kind (Frau T.) widersetzte sich, und so kehrten sie schließlich zum Haus zurück, das sie aber abgeschlossen vorfanden, obwohl es ansonsten auch nachts nie abgeschlossen wurde. Die Schwiegermutter hatte wohl die Türen von innen verriegelt, so dass Mutter und Tochter die Nacht draußen verbringen mussten. Diese Erzählpassage steht symbolisch für die erste Hälfte von Frau T.’s Kindheit. Frau T. verwendet in diesem Zusammenhang mehrmals den Ausdruck „feudalistisch“ (hôkenteki). Dieser Ausdruck wird in der japanischen Nachkriegsgesellschaft häufig verwendet, um die Gegenwart von der Vergangenheit vor 1945 abzusetzen. Damit wird diese Phase der Geschichte moralisch als problematisch und insgesamt als rückschrittlich bewertet. Dieser Perspektive auf die Vergangenheit entspricht auch die Verwendungsweise der Ausdrücke für „Familie“. Wäh3
Mit honke wird das Haus in der patrilinearen Erbfolge bezeichnet, das vom jeweiligen ältesten Sohn geführt wird.
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rend Frau T. von ihrer heutigen Familie als kazoku spricht – das Wort für die moderne Form des familiären Zusammenlebens – verwendet sie die Ausdrücke ie oder honke, wenn sie von der Vergangenheit spricht. Doch daraus zu schließen, dass Frau T. im Rückblick eine rein traditionell-japanische Familienform beschreibt, wäre verfrüht. Denn die Vorstellung des Hauses als eines Systems, in dem der Hausvorstand des Haupthauses (honke) Vormacht vor allen anderen Mitgliedern des erweiterten Familienkreises hat, und dadurch der Mutter des Vorstandes eine besondere Vormachtstellung eingeräumt wird, ist eine Folge der Verrechtlichung gegen Ende des 19. Jahrhunderts, wodurch erst diese Institution des ie zum Standard innerhalb der japanischen Gesellschaft erhoben wurde (vgl. Shimada 2007: 54–61). Ein so traditionell und „feudalistisch“ erscheinendes Phänomen wie ie entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine moderne Konstruktion. Das, was als „traditionell japanisch“ bezeichnet wird, ist eine hybride Konstruktion, die nur auf Grund der Übernahme westlicher Konzepte möglich wurde (hier des Familienrechts). Im Vergleich zu der geschilderten Vergangenheit vermittelt Frau T.’s Schilderung der heutigen Situation durchaus den Eindruck einer modernen Familie nach westlichen Vorstellungen. Doch dieses auf den ersten Blick moderne Familienleben ist durchaus geprägt von einer Vorstellung der genealogischen Weiterführung des ie. Denn es wurde bei der Eheschließung der älteren Tochter streng darauf geachtet, dass der Familienname weitergeführt wurde. Dies geschieht in Japan gewöhnlich durch die Adoption eines jungen Mannes, der als zweit- oder drittgeborener Sohn keine Verpflichtung zur Weiterführung seines eigenen Familiennamens hat.4 „Bei den Geburtstagen achte ich am meisten auf den meines Schwiegersohnes. Es ist der Geburtstag unseres wichtigen Schwiegersohns. Denn er hat in unsere Familie eingeheiratet und nach dem Familienregister ist er der eigentliche Sohn. Er wurde erst unser Sohn durch das Register, und erst dann haben wir ihn unsere Tochter heiraten lassen.“
Dieser in der japanischen Gesellschaft üblichen Form der Verheiratung begegnet man bei Familien, in denen kein männlicher Stammhalter vorhanden ist. Dies ist nur verständlich vor dem Hintergrund der Vorstellung, dass ein
4
Hier handelt es sich um eine Adoption eines Volljährigen. Den Hintergrund dieses Praxis beschreibt Igarashi wie folgt: „In Japan spielte die Adoption seit dem Mittelalter eine große Rolle. Im traditionellen Haussystem musste der Hausherr von einem Haussohn beerbt werden. Hatte ein Haus keinen Sohn, so musste es als Nachfolger einen Sohn aus einem anderen Haus annehmen (Adoption für das Haus).“ (Igarashi 1990: 128) In diesem Sinne adoptierte Familie T. einen jungen Mann und verheiratete ihn mit ihrer älteren Tochter.
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Familienname als Genealogie weiter geführt werden muss. Das Konzept ie beinhaltet vor allem diesen Aspekt der genealogischen Weiterführung des Hauses, wobei der Familienname die Kontinuität symbolisiert. In dieser Vorstellung wird die Familie vor allem von verstorbenen Vorfahren geprägt, und man lebt als Individuum im Dienst des Hauses. Diese Praxis der Adoption/Verheiratung, die in der Vormoderne gewohnheitsrechtlich geregelt wurde, wurde nach dem Entstehen des Nationalstaates rechtlich in das Familienrecht integriert. Dies verdeutlicht, wie ein traditionelles kulturelles Element in das moderne Recht eingeschleust wurde. Wir sehen hier, auf welche Weise unterschiedliche Konzeptualisierungen der familiären Lebensform miteinander verbunden vorliegen. Eine durchaus traditionelle Vorlage wird anhand einer vom Westen übernommenen Institution des Rechts zu einer verbindlichen Norm transformiert. Erst dadurch entsteht dann die traditionelle Vorstellung der Familie als Genealogie, wofür der japanische Ausdruck ie steht, als bindend für alle Bürger des Nationalstaates. Diese erfundene Tradition wurde in die nationalistische Ideologie eingebaut, die seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts die geistige Grundlage der japanischen Nation bildete. Wenn auch diese Form der Tradition nach 1945 abgeschafft wurde, lebten und leben unterschiedliche Elemente daraus weiter. So wird in diesem Interview deutlich, wie sehr das moderne alltägliche Familienleben auf der Grundlage der eher als traditionell zu bezeichnenden Vorstellung geprägt und gelebt wird. Diese Form der Hybridität findet man auch in der Erzählpassage, in der Frau T. die Geschichte ihrer Ehe erzählt. Sie war sicherlich eine der ersten aus ihrem Dorf, die auf moderne Weise aus Liebe heiratete. Sie lernte ihren späteren Ehemann auf einer Klassenfahrt 1950 kennen. Er war auf einer höheren Schule in einer anderen Region (Shinshû) und befand sich ebenfalls auf einer Klassenfahrt. Sie hielten Briefkontakt und heirateten nach seinem Studium 1956. Dies kann man als eine moderne Form der Heirat bezeichnen. Frau T.’s Mutter war ursprünglich gegen diese Heirat, weil Herr T. allein mit seiner Mutter lebte, da sein Vater am Kriegsende verstorben war. Ihre Sorge bestand darin, dass ihre Tochter es wie sie selbst mit der Schwiegermutter schwer haben würde. Die Verwandtschaft des Mannes war ebenfalls gegen diese Heirat, da die Familie von ihrer Herkunft her dem Bushi-Stand (Krieger) angehörte und daher eine Heirat mit der „niederen“ Bauerntochter unter ihrer Würde fand. In ihrem Kommentar dazu findet man einen Bruch mit der alten Vorstellung der eigenen Gesellschaft, der sich als Generationenkonflikt äußert: „Der Krieg war zu Ende, und es hätte Demokratie sein sollen. Aber es gab noch viele Leute, in deren Köpfen das alte System weiter bestand.“
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Auffällig ist hierbei, dass für Frau T. die Verheiratung ihrer Tochter im Selbstverständnis der alten ie-Institution kein Widerspruch zu demokratischen Werten darstellt. Dies zeigt, wie sehr die unterschiedlichen Familienkonzepte ineinander greifen, so dass den Betroffenen selbst die Hybridität ihrer Vorstellung niemals bewusst wird.
V. Es war zu der Zeit der Kindheit von Frau T. äußerst ungewöhnlich, dass die Tochter eines Bauernhauses die weiterführende Schule besuchte. Sicherlich gehört Frau T. zu der ersten Generation von Frauen aus ihrem Dorf, die einen „Beruf“ ergriffen. Doch offenbart sich in der Passage des Interviews, in der die Ausbildung thematisiert wird, eine spezifische Erzählweise, in der die Entscheidungen, die den biographischen Werdegang prägen, als von Außen zugetragen dargestellt werden (vgl. Shimada 2006). Denn den entscheidenden Einfluss für ihre Wahl, eine weiterführende Schule zu besuchen, schreibt sie ihrer Nachbarfamilie zu: „Ob im Bereich der Bildung oder der Freizeit, der Einfluss dieser Nachbarfamilie war sehr groß. Deshalb denke ich, dass ich nur durch sie so wie heute geworden bin. Ohne sie wäre ich sehr wahrscheinlich nicht auf die höhere Schule für Frauen gegangen.“
So war sie die einzige unter zehn Schülerinnen in ihrem Jahrgang, die auf eine höhere Schule ging. Die Nachbarfamilie brachte modernes Wissen und ein Bildungskonzept ins Dorf, was Frau T., die bis dahin weitestgehend im bäuerlichen Kontext aufgewachsen war, eine völlig neue Perspektive eröffnete. Diese Perspektive stand auch im Kontrast zum Schulalltag, der vom militärischen Drill und von der Ideologie des Tennokultes zutiefst geprägt war. Diese neue Perspektive führt direkt zu ihrem Leben nach dem Krieg, das nun für Frau T. auch konkrete persönliche Entfaltungsmöglichkeiten bot. Der Ausbildung in der höheren Mädchenschule spricht sie die entscheidende Bedeutung für ihren Lebensentwurf zu: „Ich denke, dass diese Schule für mich der entscheidende Punkt wurde, an dem sich die Schicksalswege trennen, […] ja, das Lebens ist so, oder? Denn, wenn ich in eine andere Schule gegangen wäre, wäre mein Leben ganz anders gewesen. Ich denke oft, dass ich deshalb mein Leben so wie jetzt habe, weil ich auf diese Schule kam.“
1951 absolvierte Frau T. die höhere Mädchenschule und fing an zu arbeiten. Offenbar wird hier die Diskrepanz zwischen ihrer Berufsvorstellung und ihrem Berufsalltag. Offensichtlich lernte sie auf ihrer Schule, dass man mit der 167
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Berufswahl nach der höheren Schulausbildung bestimmte Wertvorstellungen verfolgen kann: „Ich beendete die Schule 1951 und wurde von einer Firma angestellt. Es war ein relativ großes Unternehmen, und ich arbeitete dort bis Ende September. Was ich als eine frisch aus der Schule entlassene Arbeitskraft dort machen durfte, war nicht viel. Ich war in einer Abteilung mit vielen Ingenieuren, die Maschinen entwarfen. Was ich tun durfte, war Tee servieren, kopieren, einkaufen gehen und den Schriftverkehr ordnen. Es war alles so sinnlos.“
Frau T. stellt sich ihre Berufstätigkeit mit „Sinn“ verbunden vor. Dies hängt sicherlich mit ihrer intellektuellen Bestrebung zusammen, die ihr von ihrer Nachbarfamilie mitgegeben und in der höheren Schule weiter gefördert wurde. Dies drückt sich einige Zeilen später in ihrer Äußerung aus, dass sie eigentlich auf eine Universität hätte gehen sollen. Doch dies stand im Jahr 1951 nicht zur Disposition, weil die Vorstellung, dass Frauen eine Universität besuchen, noch nicht verbreitet gewesen war. Zu ihrem eigentlichen Beruf kam sie nach eigener Aussage mehr oder weniger durch Zufall, wenn auch die Entscheidung, die Firma zu verlassen, von ihr persönlich getroffen worden sein muss. Ihr zweitältester Bruder arbeitete bereits als Lehrer. Da es in den Grundschulen damals sehr an Lehrkräften mangelte, wurde sie von ihm angesprochen, ebenfalls als Lehrerin anzufangen. Zu diesem Zeitpunkt genügte für die Ausbildung ein höherer Schulabschluss, um an einer Elementarschule zu unterrichten: „Es war die Zeit, in der man Lehrer werden konnte, wenn man die höhere Schule absolviert hatte. Eine Qualifikation war nicht notwendig, und es wurde mir gesagt, dass man sie nachholen kann. Ich war damals gerade achtzehn und ohne spezielle pädagogische Ausbildung. Wenn ich heute so zurückdenke, erscheint es mir unmöglich, dass ein achtzehnjähriges Mädchen so ohne weiteres Kinder unterrichtet. Aber diese Elementarschule, die Nagakute-Elementarschule im Nachbardorf, brauchte wohl dringend jemanden, und mein Bruder wurde dringend gebeten, mich mitzubringen. Und ich bin dorthin gegangen, ohne zu wissen, ob ich es schaffen würde, und das war die Entscheidung meines Lebens.“
Diese Erzählpassage entspricht vielen biographischen Erzählungen in Japan, in denen die wichtigste berufliche Entscheidung mehr oder weniger durch Zufall getroffen wird. Die persönlichen Wünsche oder Planungen werden nicht hervorgehoben, sondern das Erzählsubjekt ergreift die Möglichkeit, die durch soziale und historische Umstände gegeben wird. Wenn Frau T. erzählt, dass sie zufällig eine bestimmte Berufswahl traf, entsprach diese doch ihrem Wunsch nach einer sinnvollen Tätigkeit:
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BIOGRAPHIE, KULTUR, SOZIALER W ANDEL
„Ich wusste nicht, was ich im Unterricht machen sollte. Daher habe ich im Grunde mit den Kindern gespielt und hin und wieder die Lehrbücher angeschaut. Aber die Kinder hingen sehr an mir, wir verstanden uns gut. Auch die Eltern waren zufrieden, weil ich Standardjapanisch sprach. Ich erinnere mich sehr gern an diese Zeit. Und seither habe ich ununterbrochen als Lehrerin gearbeitet – das sind 36 Jahre und 6 Monate. Ja, und ich erinnere mich an jede Einzelheit.“
So ist auch ihre Erzählung über das Berufsleben durchweg positiv: „Es war trotz allem wunderbar, dass ich durch meinen Beruf mit Kindern zusammen war. Und von ihnen kamen auch sehr starke Impulse. Manchmal verwechselten sie mich mit ihren Müttern. Es war richtig schön.“
Im Laufe der Jahre entfaltete sie ihre Fähigkeiten nicht nur als Lehrerin, sondern auch als Leiterin einer gewerkschaftlichen Frauenorganisation. Daher besaß sie auch gute Kontakte außerhalb der Schule. Interessanterweise wird auch die Geburt ihrer zwei Töchter aus der Perspektive der Berufstätigkeit erzählt, wenn sie schildert, wie sie diese schwierige Phase ihres Berufslebens gemeistert hat. Unerwähnt bleibt, wer die kleinen Töchter gepflegt hat. Offensichtlich ist, dass ihre Mutter Haushalt und Kinderpflege zu dieser Zeit übernommen hat, doch ihre Erzählung konzentriert sich auf die Aspekte ihres Berufslebens. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass sie nach der Geburt ihrer zweiten Tochter im Jahr 1963 nach ihrer eigenen Aussage besonders erfolgreich und zufrieden in ihrem Beruf war, denn ihre Erfahrung wurde anerkannt, so dass sie die beiden obersten Klassen der Elementarschule (fünfte und sechste Klasse) als Klassenlehrerin übernehmen konnte. In dieser Erzählpassage charakterisiert sie sich als erfolgreiche Lehrerin, die ganz in ihrem Berufsleben aufgeht. Doch als sie etwa 53 Jahre alt wurde, trat eine gewisse kritische Selbstreflexion ein: „Da kamen viele junge Lehrer an die Schule, jung und intelligent. Und ich? Ich war ohne Qualifikation und mehr oder weniger in diesen Beruf hineingerutscht. Aber die jungen Leute, die hatten die Pädagogik an der Universität studiert. […] Dagegen konnte ich im Grunde nur Erfahrung aufweisen und hatte bisher alles nach Intuition gemacht.“
In ihren weiteren Ausführungen über diese Zeit wird ein gewisser Generationenkonflikt mit ihren jüngeren Kollegen angedeutet, ohne konkret dargestellt zu werden. Vermutlich gab es auch Differenzen in der Berufsauffassung, jemand wie Frau T., die ohne professionelle Ausbildung ihren Beruf durch Praxis erlernte, versteht die eigene berufliche Tätigkeit anders als diejenigen, die 169
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mit modernsten pädagogischen Theorien ausgestattet ins Berufsleben eintreten. Möglich ist hier auch ein Konflikt der Erziehungsmodelle von Frau T. und der jüngeren Generation. Während Frau T., wie wir bereits gesehen haben, den radikalen gesellschaftlichen Bruch der Nachkriegszeit als Befreiung erlebte und fast „spielerisch“ in das Berufsleben hineinfand – was sicherlich auch mit der freiheitlich-demokratischen Aufbruchstimmung am Anfang der 50er Jahre zusammenhängt –, verschob sich das Erziehungs- und Berufsideal innerhalb der japanischen Gesellschaft bald danach. Die jüngere Generation war sicherlich pädagogisch gesehen besser ausgebildet, doch ist es auch bekannt, dass sowohl die Lehrerausbildung als auch der Berufsalltag der Lehrer zunehmend bürokratisiert wurde, wodurch die freiheitlich-demokratischen Erziehungsideale eine immer geringere Rolle im Schulalltag spielten. Sichtbar wird in dieser Passage der gesellschaftliche Veränderungsprozess, durch den die Hochschulausbildung allmählich ein Bestandteil der männlichen und weiblichen Biographiegestaltung wurde. Für Frau T.’s jüngere Kollegen und Kolleginnen war ein Berufseinstieg wie der ihre vollkommen undenkbar und gleichsam eine Erscheinung der Vergangenheit. Frau T. erwähnt aber, dass dies nicht der einzige Grund gewesen sei, fünf Jahre vor dem offiziellen Renteneintrittsalter aufzuhören. Sie sagt, es sei ihr wichtig gewesen, etwas Neues anzufangen, das über den engen Rahmen der Schule hinausging. In dieser Erzählpassage gebraucht sie häufig den Ausdruck „Gesellschaft“ (shakai). Es wäre zu spät gewesen mit sechzig Jahren aufzuhören, „wenn man noch etwas von der Gesellschaft lernen wollte“. Sie gebraucht auf Japanisch die Redewendung shakai kara manabu, womit ihre Haltung zum Ausdruck gebracht wird, sich an die neuen, breiteren gesellschaftlichen Anforderungen anzupassen. Diese Haltung ist im Vergleich zu Formulierungen, die in vergleichbaren Situationen in der deutschen Gesellschaft verwendet werden, bemerkenswert. Denn man würde hier eher sagen, dass man nun zur Gesellschaft, der Familie oder dem Verein usf. persönlich etwas beitragen möchte. Diese Haltung ist sicherlich als aktiv und die Perspektive als selbstzentristisch zu bezeichnen. Denn die Frage ist in einem Land wie Deutschland nicht, was von einem erwartet wird, sondern was man durch die eigene Erfahrung mitgestalten kann. Doch im japanischen Kontext wäre es unmöglich, von sich selbst zu sagen, dass man einen Beitrag leiste. Das japanische Wort kôkên für Beitrag wäre in diesem Kontext kaum zu gebrauchen, da es die eigene Leistung zu positiv hervorheben würde. Zwar zeigen sich in diesen unterschiedlichen Haltungen kulturelle Ausprägungen, doch diese als gegensätzliche Kategorien, etwa als kollektivistisch vs. individualistisch, zu verstehen, wäre problematisch. Eher liegen hier zwei unterschiedliche Interpretationsmuster vor, mit denen man nach eigenen Handlungsoptionen sucht. Während der Ausgangspunkt in der deutschen Formulierung von der Perspektive des Selbst ausgeht, kommt in der japani170
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schen Formulierung die Perspektive des sozialen Umstandes zum Ausdruck, und es wird versucht, aus dieser Fremdperspektive eigene Handlungsoptionen zu finden. Daher kommt im japanischen Fall die soziale Relationalität, in die das Selbst eingebettet ist, wesentlich stärker zum Ausdruck, was häufig als Kollektivismus missverstanden wird. Der unterschiedliche Sprachgebrauch bildet eine Grundlage des kulturellen Erzählmusters. Frau T. übernahm so nach ihrer Karriere als Lehrerin die Aufgabe einer ehrenamtlichen Wohlfahrtsberaterin und später die einer Präsidentin der lokalen Frauenorganisation. Das ehemalige Bauerndorf war inzwischen zu einem modernen Stadtteil angewachsen, in dem mehr Zugezogene als Alteingesessene lebten. Hier übernahm Frau T. die Vermittlerrolle zwischen Alteingesessenen und später Hinzugezogenen. Sie bezeichnet diese Tätigkeit als „Teilnahme an der Gesellschaft“ (shakai sanka). Wir sehen hier, wie ein ehemals aus den westlichen Sprachen übersetzter Ausdruck für Gesellschaft shakai heute in einer konkreten Interviewsituation Verwendung findet (vgl. zum Problem dieses übersetzten Begriffs Shimada 2007: 52ff.). Wenn die Sozialität über den traditionellen Rahmen wie das Dorf oder die Nachbarschaft hinausgeht und die Gesamtheit der modernen sozialen Einrichtungen bezeichnet werden soll, steht dieser übersetzte Ausdruck bereit. Auffällig ist, dass Frau T. das Wort shakai auch in Abgrenzung zu ihrem ehemaligen Berufsfeld verwendet. Der schulische Alltag hätte ihren Blick auf die Gesellschaft allzu sehr verengt. So versteht sie unter shakai das soziale Feld außerhalb ihres persönlichen (ob beruflichen oder privaten) Gesichtskreises. Ihr damaliges soziales Engagement entspricht dem, was man heute wohl als Zivilgesellschaftlichkeit bezeichnen würde. Die Generation von Frau T. ist sicherlich die erste in der japanischen Gesellschaft, die eine solche zivilgesellschaftliche Perspektive von unten entwickelt hat. In diesem Sinne spielt hier das Wort shakai eine wichtige Rolle. Während in der Zeit vor 1945 aus Frau T.’s Perspektive keine solche Gesellschaftlichkeit vorhanden war, konnte sie durch ihren Beruf dazu beitragen, so etwas wie ein zivilgesellschaftliches Selbstverständnis in die Gesellschaft hineinzubringen, was ihrem Wunsch nach einer sinnvollen Tätigkeit entsprochen haben mag. Frau T. ist durch ihre Berufserfahrung und dörfliche Herkunft die ideale Person für die Vermittlung zwischen der Gesellschaft, einzelnen neu hinzugezogenen Gesellschaftsmitgliedern und der alten Dorfgemeinschaft. Als Wohlfahrtsberaterin berät sie Bedürftige und Menschen in Not, indem sie ihnen die wohlfahrtsstaatlichen Fördermöglichkeiten nahe bringt. So versteht sie ihre Tätigkeiten, ob als Lehrerin oder als Wohlfahrtsberaterin, als Dienst an der eigenen Gesellschaft, wobei das Konzept des Gemeinwohls der unausgesprochene Ausgangspunkt ist. Auch im Konzept des Gemeinwohls sind unterschiedliche Elemente zu finden. Zum einen ist es geprägt vom Konzept der alten Dorfgemeinschaft, in das sicherlich auch von alters her tradierte Vorstel171
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lungen eingehen. Zum anderen ist die Idee des Gemeinwohls, wie wir bereits gesehen haben, ohne das vom Westen übernommene Konzept der Gesellschaft auf Japanisch nicht auszudrücken. Unbestreitbar ist Frau T.’s Art zu sprechen schichtspezifisch, denn Frauen, die im dörflichen Kontext geblieben sind, würden andere Ausdrücke verwenden. Frau T. zählt sicherlich zu einer kleinen Minderheit in ihrer Generation, die eine solche zivilgesellschaftliche Perspektive aus sich heraus entwickelte.
VI. Frau T. stellt sich in ihrer autobiographischen Erzählung als eine Persönlichkeit dar, die sowohl beruflich als auch familiär erfolgreich das Leben gemeistert hat und dennoch kritisch über ihr Leben reflektiert. Sicherlich ist ihr Leben in dem Sinne gewöhnlich, als es den mehr oder weniger typischen Lebensweg einer Lehrerin im Elementarschulbereich ihrer Generation darstellt. Es gibt in der Tat keinen radikalen Bruch in ihrer Geschichte, so dass ihre Selbstverortung als normale Bürgerin der Stadt Nagoya überzeugend ist. Auffällig in der Erzählstruktur ist jedoch der Einschnitt in der Erzählung am Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Geschichte vor dem Kriegsende ist weitestgehend gekennzeichnet von dem Bild der Traditionalität und des staatlichen Militarismus, der den Schulalltag beherrschte. Das familiäre Alltagsleben entspricht dem gängigen Bild der Familieninstitution ie, in der die Schwiegermutter über die eingeheiratete Schwiegertochter alle Macht behält. Einzig die Nachbarfamilie brachte ihr eine andere Perspektive im ansonsten sehr dörflichen Milieu. Doch es wäre verfehlt, wenn wir aus dieser Darstellung schließen würden, das dörfliche Verhältnis wäre nur „feudal“ gewesen, wie Frau T. es nennt. Es wurde bereits festgestellt, dass diese Familienform als Folge der Verrechtlichung in der Meiji-Zeit zu betrachten ist, wenn auch traditionelle Verhaltensnormen zugrunde lagen. Dies entspricht einer Art von Amalgamierung von althergebrachten Verhaltensnormen und rechtlicher Festlegung einer bestimmten Familienform, die durchaus moderne Aspekte enthält. Auch der Militarismus in der Schule ist ohne die vorausgehende Modernisierung nicht denkbar. Die Verbreitung der Schule als moderner Erziehungsinstitution fand erst eine Generation vor Frau T. gegen Ende des 19. Jahrhunderts statt, so dass auch hier die bereits genannte Amalgamierung von traditionellen Verhaltensnormen und moderner Institution zu finden ist. Hinzu kommt, dass nur durch diese Institution das landesweit geteilte Wissen an die Kinder vermittelt werden konnte. Dazu gehören sowohl die nationale Geschichte als auch die Moral, welche die Aufopferung des Einzelnen für den Zweck des Staates als heilige Pflicht der Bürger vermittelte. Es ist richtig, dass in dieser Phase vor 1945 ausdrücklich eine kollektivistische Vorstellung 172
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des nationalen Zusammenhalts an die Kinder vermittelt wurde. Doch Frau T. nimmt in ihrer Erzählung eindeutig Stellung gegen diese nationalistische Erziehung. Ihr Selbstverständnis ist vom Demokratisierungsprozess der Nachkriegsgesellschaft geprägt und ihre Handlungsweise z.B. im Fall der Partnerwahl ist durch individualistische Entscheidungen getragen. Auch in ihrer Umgangsweise mit ihren Schülern spiegelt sich diese Haltung. Den Unterricht auf spielerische Weise zu gestalten, wäre in der Kriegszeit unmöglich gewesen. Doch der individualistische Karriereweg, wie ihn Frau T. einschlug, war am Anfang der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts in der japanischen Gesellschaft für viele noch nicht offen. Sichtbar wird in dieser Erzählpassage auch, dass die Standardisierung der Lebensläufe in diesem dörflichen Milieu in den Jahren vor 1945 nur der Bildung im Elementarschulbereich gilt. Die überwiegende Mehrheit der Schüler verließ die Schule nach dem sechsten Schuljahr und stieg in unterschiedliche Berufe ein. Trotz des oben bereits dargestellten Erzählmusters, die wichtigsten Lebensentscheidungen als etwas eher vom Außen nahe gelegtes darzustellen, ist es auffällig, dass Frau T. ihr Leben aus eigenem individuellem Willen heraus gestaltet hat. Es gelingt Frau T., sich selbst als eine Person zu beschreiben, die sich in unterschiedlichen sozialen Netzwerken souverän bewegen kann. Den Sinn ihres Lebens sieht sie im Dienst an der „Gesellschaft“, was auch die Modernität ihrer Perspektive ausmacht. Darüber hinaus stellt sie sich im privaten Kontext in der Rolle einer aufgeklärten und umsichtigen Mutter und Großmutter dar. Die Souveränität des Selbst liegt in den relationalen Umgangsformen mit anderen Menschen, die in der bereits oben geschilderten Haltung, von der Gesellschaft lernen zu wollen, zum Ausdruck kommt.
VII. Nachdem wir uns mit verschiedenen Aspekten dieser lebensgeschichtlichen Erzählung beschäftigt haben, erhebt sich nun die Frage, wie man an diesem Beispiel die Bedeutung der Kultur aufzeigen kann. Zunächst ist diese Erzählung selber eine kulturelle Leistung, die auf Grund mehrerer Voraussetzungen möglich wird. Erstens setzt sie eine Sprache voraus, die eine kohärente Erzählung ermöglicht, die sich von der Vergangenheit in die Zukunft erstreckt. Dahinter steckt der Prozess, durch den sich das „Japanische“ als Nationalsprache im Laufe der Modernisierung ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildete und etablierte, da es zuvor keine einheitliche Standardsprache gegeben hatte. In diesem Prozess wurde u.a. auch das Konzept der grammatikalischen Unterscheidungsmöglichkeiten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vom Westen übernommen. Allerdings hat diese Übernahme die japanische 173
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Sprache keineswegs in der Weise verändert, dass man von einer gleichen grammatikalischen Zeitstruktur wie in westlichen Sprachen sprechen könnte. Auch hier geschah Ähnliches wie bei dem oben beschriebenen Konzept des Hauses ie im Rechtsdiskurs. Man übernahm zwar die Konzepte als äußere Hülle (hier die der Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft), doch inhaltlich entstand dadurch etwas Anderes als die Vorlage, so dass letztendlich in der japanischen Sprache heute dieses Zeitverhältnis anders als in westlichen Sprachen ausgedrückt wird (vgl. Shimada 1994: 73ff.). So kommt der japanische Kulturwissenschaftler Shûichi Katô in der Betrachtung der sprachlichen Ausdruckmöglichkeiten der Zeitverhältnisse in der japanischen Sprache zu dem Schluss, dass sie das Verhältnis zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht so klar unterscheidet wie in den europäischen Sprachen, und dass dieses sprachliche Charakteristikum in der japanischen Erzählliteratur von der bekannten Genji monogatari aus dem 11. Jahrhundert bis zur Moderne durchgehend vorzufinden sei (Katô 2007: 54–93).5 Zweitens setzt die lebensgeschichtliche Erzählung eine gesellschaftliche Struktur voraus, die einen individuellen Lebenslauf ermöglicht. Dies ist sicherlich nicht anders als in anderen modernen Gesellschaften. Doch auch hier gilt: Zwar wurden die gesellschaftlichen Institutionen wie Schule, Universität, Verwaltung usf. vom Westen übernommen, doch innerhalb dieser Institutionen geschah eine tiefgehende Mischung von unterschiedlichen Semantiken und Werten, so dass in ihnen wiederum unterschiedliche Kulturen entstanden sind, die sich von westlichen eindeutig unterscheiden. Ein Beispiel dafür ist, wie die Ideologie des Tennokultes, in der der Figur des Tennos der Status der Heiligkeit verliehen wurde, an die Kinder vermittelt wurde. Institutionell wurde diese Vermittlung durch die Übernahme des Schulsystems möglich, politisch durch die Übernahme des Konzeptes des Staatsoberhauptes. Doch wurde diese Rolle religiös interpretiert, so dass der Tenno den Kindern als heilige Person vermittelt wurde. Diese Form der Sakralisierung des Herrschers wäre vermutlich in keinem anderen modernen Nationalstaat zu dieser Zeit möglich gewesen. Drittens setzt die lebensgeschichtliche Erzählung eine bestimmte Auffassung des Selbst voraus, in der man das Selbst verobjektiviert und in seinen Relationen zu sozialen Zusammenhängen verortet. Dies ist sicherlich eine moderne Errungenschaft, die auch in der behandelten Erzählung zum Ausdruck kommt. Doch unterscheidet sich das Erzählmuster von der westlichen Erzählweise in der Rolle, die der Selbstverwirklichung beigemessen wird. Alle wichtigen Lebensentscheidungen werden stets in Relationen zu anderen
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Genji monogarari (Die Geschichten vom Prinzen Genji) ist eins der frühesten literarischen Werke der japanischen Kultur und wird der Hofdame Murasaki Shikibu (ca. 978–1014) zugeschrieben.
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Personen getroffen, so dass keine „innere Entwicklungsgeschichte“ stattfindet. Dieses Muster, in dem das Selbst stets in Relation zu anderen Personen verortet dargestellt wird, ist vermutlich eine kulturelle Tradierung, die wiederum durch moderne Medien wie Fernsehen, Kino gesamtgesellschaftlich Verbreitung fand. Insgesamt wird wohl sichtbar, dass das lebensgeschichtliche Interview eine Methode ist, um Kultur als einen dynamischen Prozess, der durch Übernahme und Übersetzung verschiedener Konzepte, Institutionen, aber auch Handlungsweisen in sich gebildet und vorangetrieben wird, auf die Spur zu kommen. Eine Erzählung wie die oben analysierte kann selbst in diesem Prozess verortet und als eine kulturelle Praxis verstanden werden. Frau T. bedient sich in ihrer Erzählung erfolgreich vorhandener kultureller Semantiken und Muster und modelliert so ihr Selbstbild.
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Höflic hk eit als We rtbe griff eine r Kultur de r Differe nz ARNOLD ZINGERLE
Einleitung Die folgenden Betrachtungen wurden veranlasst durch Gespräche mit Intellektuellen im nachsowjetischen Georgien. Gegenstand waren die langfristigen Folgen kollektivistisch-totalitärer Herrschaft für die habituell verankerten Verhaltensformen in den ehemals sowjetischen Ländern. Dabei kam man auch auf das Thema „Höflichkeit“: man beklagte deren Abwesenheit in vielen Situationen, in denen Menschen, Fremde zumal, einander begegnen und miteinander kommunizieren. Für den deutschen Gesprächspartner lag es auf der Hand, Parallelen zur Epoche des Nationalsozialismus und zur Zeit, die ihn vorbereitet hatte, zu ziehen, aber auch auf den veränderten Bedingungsrahmen hinzuweisen, der sich nach 1945 im westlichen Teil Deutschlands für neue Verhaltensdispositionen ergab. Daran schloss sich die Frage an: Was und wie viel von dem, was der Ausdruck „Höflichkeit“ meint, kann wohl mit einiger Gewissheit als etwas „Westliches“ eingestuft werden – und wie viel davon ist lediglich eine kulturell spezifische Ausprägung einer menschlichen Universalie? In diesem Spannungsfeld zwischen den Polen Universalität und Kulturspezifik pendelte sich so die Auseinandersetzung um das Thema ein: man einigte sich unter anderem darauf, dass diejenigen von den positiv bewerteten Elementen der Höflichkeit (es gab und gibt, so wurde eingeräumt, allenthalben Problematisches an der Höflichkeit, so: bestimmte, zeitungemäße Formalismen oder die Möglichkeit ihres instrumentellen Missbrauchs), die als universelle klassifiziert werden könnten, immerhin eine auffallende Affinität zum Ideal der „Zivilgesellschaft“ zeigen – einem Ideal also, dem heute, auch wenn es innerhalb des westlich-europäischen Kulturkomplexes entstanden ist, zweifellos transkulturelle, ja universelle Legitimität zukommt. War, so wurde im Blick auf die Ausgangsfrage, welche zunächst die politisch-gesellschaftlichen Systeme in den Vordergrund gestellt hatte, erinnert, Höflichkeit 177
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nicht in der Tat ausdrücklich in den Katalog jener „zivilgesellschaftlichen“ Leitbilder des Verhaltens aufgenommen worden, mit denen die Intellektuellen in den mittel-osteuropäischen Metropolen zwischen 1980 und 1990 den Umsturz vorbereitet hatten? „Die Bürger sollten ‚zivilisiert’ sein, d.h. höflich, tolerant und vor allem gewaltlos“ – so hatte damals der britische Journalist Timothy Garton Ash seine Forderungen zusammengefasst (Ash 1990: 467). Das Gespräch hinterließ eine Menge offener Fragen. Bei ihrem Überdenken gewann ich den Eindruck, der so diffuse, gleichzeitig jedoch praxisrelevante Begriff der Höflichkeit müsse in seinem Kern soziologisch präziser gefasst, jedenfalls mit klareren begrifflich-theoretischen Konnotationen im soziologischen Diskurs „anschlussfähiger“ gemacht werden können, als dies bisher der Fall war. Wenn es auch verständlich ist, dass seine enorme kulturelle und geschichtliche Plastizität jedes theoretische Denken mit seiner Verallgemeinerungstendenz zunächst abschreckt, so sollte doch andererseits der hohe Verbreitungsgrad des Phänomens über Kultur- und Epochengrenzen hinweg umso mehr dazu herausfordern, ihm einen konzeptionellen Ort zu geben. Erst auf dieser Grundlage könnten kulturspezifische und universale Aspekte gegeneinander abgewogen und das Verhältnis von „westlich“ geprägter Höflichkeit und „Zivilgesellschaft“ genauer bestimmt werden. Ein zweites, ebenso starkes Motiv, mich dem Thema theoretisch anzunähern,1 stammt aus dem Kontext der jüngsten europäischen Geschichte. Besonders vor dem Hintergrund der extrem destruktiven Wirkungen, die im 20. Jahrhundert von europäischen Totalitarismen ausgingen und gesellschaftliche Moralität bis ins Mark getroffen haben, sollte, so scheint mir, Höflichkeit zunächst in ihrer europäisch geprägten Form auf den Prüfstand gestellt werden. Die Frage drängt sich auf: was von ihr kann nach wie vor als unverzichtbares Element der „Minima Moralia“ festgehalten werden, weil es sich in den Abgründen, in die menschliche Existenz damals geriet, bewährt hat, oder aber weil es in diesen Abgründen besonders als Mangel empfunden wurde; und was wäre davon nun universellen, eventuell auf anthropologischer Ebene angesiedelten Verhaltensqualitäten zuzurechnen? Die folgenden Darlegungen sind in drei Abschnitte gegliedert. Sie beginnen mit der Reflexion einiger (überwiegend) sprachabhängiger Probleme, die sich mit einem Gegenstand wie „Höflichkeit“ vor jeder weiteren inhaltlichen Betrachtung einstellen. Da eine bewertende Dimension konstitutiv für den Begriff der Höflichkeit ist, konzentriert sich der dann folgende Abschnitt auf 1
Die Annäherung erfolgte in zwei Stufen. Die erste ist dokumentiert in der georgischen Zeitschrift Filosofiuri Ganasrebani (Zingerle 2002). Die zweite, erheblich weitergehende, stellt der vorliegende Beitrag dar. Ich widme ihn dem Andenken an Joachim Matthes, dem ich seit meinem Studium in Münster/W. (1964–66) viele wertvolle Erkenntnisse auf den Gebieten der Religions- und Wissenssoziologie verdanke.
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Höflichkeit als Wert. Dieser wird weniger in seiner Abhängigkeit von und seiner Beziehung zu anderen Werten untersucht, sondern vielmehr in soziologischer und kulturanthropologischer Perspektive, in seiner Leistung für das Zusammenleben. Analytische Gesichtspunkte sind dabei: a) das Verhältnis zwischen formalen und materialen Aspekten der Höflichkeit sowie b) ihre grundlegende Bezogenheit auf soziale Differenz. Der letzte Abschnitt geht abschließend auf Aspekte des angedeuteten historischen Kontextes ein. Damit soll der eingangs gestellten Frage nach dem Zusammenhang von Höflichkeit und Zivilgesellschaft nachgegangen werden – zum Teil in einer Argumentation ex negativo, von den Beschädigungen her, die Höflichkeit als Wert einer Kultur der Differenz in jenen Jahrzehnten erlitten hat.
Der Begriff der Höflichkeit und die Grenzen interkultureller Verständigung Zum professionellen Selbstverständnis, ja zum Habitus kulturwissenschaftlich orientierter Soziologen gehört es, jedes von ihnen untersuchte Phänomen innerhalb eines generalisierenden Rahmens zu verorten, es aber gleichzeitig historisch und kulturell zu differenzieren. Oft ist damit mehr oder weniger ausdrücklich, dabei aber selten reflektiert, eine Neigung zum Kulturrelativismus verbunden, auch wenn dieser keine logisch zwingende Konsequenz aus jener verinnerlichten Ausrichtung an der kulturellen Differenz sein muss. Mit diesem Problem verwandt und nicht selten verschlungen, jedoch grundsätzlich von ihm zu trennen ist das Problem der Kontrolle subjektiver Bewertung im Erkenntnisprozess, das besonders akut wird, wenn sich dieser auf Werte bezieht. So wird gerade auch am Fall „Höflichkeit“ deutlich: wer immer sich über diesen Gegenstand auf eine Weise auseinandersetzen möchte, die ihm angemessen ist, wird unweigerlich mit der Verschlingung beider Problemtypen konfrontiert. An dieser Stelle kann kein Beitrag dazu geleistet werden, sie auch nur einigermaßen befriedigend aufzulösen. Mit den folgenden Bemerkungen soll dennoch auf einige Aspekte hingewiesen werden, die dabei vor allem im Hinblick auf das Problem kultureller Differenz vorrangig geklärt werden müssten; zentrale Aspekte des Wertproblems werden dagegen in den späteren Abschnitten beleuchtet, in denen die Wertdimension von „Höflichkeit“ (zusammen mit anderen grundlegenden Dimensionen) ohnehin im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Zunächst: jede Redeweise, die ein abgrenzbares „Objekt“ unterstellt, die somit das schon allein im Sprachvergleich der Äquivalente des deutschen Wortes „Höflichkeit“ sich zeigende Vielgestaltige etwa als „Variabilität“ oder „Plastizität“ einer Höflichkeit subsumiert, wäre dem Sachverhalt völlig unangemessen. Was berechtigt ferner, „fremdkulturelle“ Verhaltensweisen als „höfliche“ zu identifizieren – wie können dabei „eigenkulturelle“ Projektio179
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nen unter Kontrolle gebracht werden? Die Angelegenheit wäre nur innerhalb der Grenzen „eigener Kultur“ unproblematisch – jedoch: wie wären diese Grenzen zu ziehen? Sie müssten ja voraussetzbar sein, wollten wir vor dem Hintergrund unseres eigenen, von unserer „eigenen Kultur“ her gegebenen Verständnisses von Höflichkeit die gemeinten Phänomene evident – d.h. auf eine Weise, die von anderen Angehörigkeiten unseres Kulturkreises ohne Schwierigkeiten kognitiv nachvollzogen und kommunikativ „geteilt“ werden kann – als „höfliche“ identifizieren und auf dieser Grundlage deuten. Das hier mit „Identifikation“ bezeichnete Element des Erkenntnisvorganges betrifft, genaugenommen, jedoch zwei unterschiedliche Ebenen der Wirklichkeit: einmal die Ebene eines empirisch vorfindbaren Verhaltens, das wir zunächst auf äußere Qualitäten und Strukturen hin – also unabhängig von seinen „inneren“ Qualitäten, insbesondere von solchen der Selbst- und Fremddeutung – beobachten, um es daraufhin als „höflich“ zu interpretieren. Zum anderen handelt es sich um bereits thematisierte, vorinterpretierte Verhaltensqualitäten, wobei es gleichgültig ist, ob die Thematisierung innerhalb oder außerhalb der Wissenschaft erfolgt. Auch wenn davon die macht- und wissenssoziologischen Aspekte öffentlicher Kommunikation, welche die Methode der „Diskursanalyse“ vorrangig in den Blick nimmt, mitbetroffen sind, wird die Objektdimension, um die es dabei geht, immer noch am geeignetsten, da historisch (und kulturell) vertieft, mit dem Begriff der Ideen- bzw. Begriffsgeschichte umrissen. Jede Untersuchung von Höflichkeit hat es somit einmal mit den Phänomenen auf der Verhaltensebene zu tun, der die „Realgeschichte“ entspricht, und zum anderen mit denen der begrifflich-semantischen Ebene, der die „Ideengeschichte“ der Höflichkeit entspricht. Angesichts der Frage, wie es möglich sei, sich wissenschaftlich über einen deskriptiv der Heterogenität des Phänomens Rechnung tragenden und zugleich verallgemeinerbaren Begriff der „Höflichkeit“ zu verständigen, der mit seinen Konnotationen der Fremd- und Selbstdeutung über das als „höflich“ bloß diffus empfundene Verhalten hinausgeht, mögen nun die Bedingungen des Erkenntnisgangs deutlicher werden. Einmal vorausgesetzt, wir könnten die kulturellen Grenzen unseres Verständnisses von „Höflichkeit“ ziehen, etwa anhand einer kultursprachlichen Grenze: auf relativ unproblematische Weise werden wir diese Grenze nur so lange überschreiten können, so lange wir uns diesseits und jenseits der Grenze auf die Ebene der Ideen- und Begriffsgeschichte, die im Diskurs transportiert und ständig gestaltet wird, beschränken. Das Problematische wird aber dann in den Verständnisgrenzen bestehen, die mit jedem Versuch der „Übersetzung“ gezogen sind – stellt doch dieser, wenn man ihn ernst
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nimmt, den Versuch dar, über einen methodisch-fiktiven „Zwischenraum“ kulturelle Andersheit zu „vermitteln“.2 Die eigentliche Schwierigkeit, der kulturellen und historischen Komplexität und Vielfalt gerecht zu werden, wenn mit einigem Anspruch auf Verallgemeinerung ein Phänomen wie „Höflichkeit“ erforscht und erörtert werden sollte, zeigt sich erst jetzt. Sie liegt nicht in Vielfalt, in Komplexität als solcher, sondern darin, dass jede Erkenntnis fremdkultureller Phänomene, von denen wir annehmen können, sie entsprächen unseren eigenen Erfahrungen mit dem Begriff von Höflichkeit, darauf angewiesen ist, den Vermittlungsweg über die fremdkulturelle Ebene der (wie wir sie am besten nennen können) „Höflichkeitssemantik“ zu nehmen, oder – falls das kommunikative System eines darauf bezogenen analogen kulturellen „Diskurses“ nicht vorliegt oder nicht erschlossen werden kann – über bestimmte Elemente der fremdkulturellen Alltagssprache, und das bedeutet in beiden Fällen: den schwierigen, weil so komplexen Weg einer Übersetzung zu beschreiten, die den Anspruch eines wirklichen Vergleichs von Kulturen erheben kann. Das bedeutet im Hinblick auf Höflichkeit nicht zuletzt, sehr weit über isolierte semantische Elemente und deren bloß bezeichnende Funktionen hinauszugehen und die evaluativen Funktionen der Höflichkeitssemantik näher zu untersuchen. Es ist unschwer nachzuvollziehen, dass diese als Analoga zu „Höflichkeit“ im Sinne des „eigenen“ Verständnisses – erstens – nur in ihrer Einbettung innerhalb der umfassenderen normativen Codes mitsamt ihrer Ausdifferenzierung in die Typik der Handlungssituationen und – zweitens – nur in ihrer Zuordnung zum Wertsystem oder zu den Wertsystemen der jeweils betroffenen Kultur Plausibilität und Evidenz erhalten können.3 Jedes Nachdenken, Forschen und Kommunizieren über allgemeinere Aspekte von „Höflichkeit“ durch Personen, die – wie der Autor dieser Zeilen – sich dem „westlichen“, d.h. europäisch-transatlantischen Kulturzusammenhang zugehörig fühlen oder, falls dies nicht zutrifft, innerhalb dieses Zusammenhangs ihren Lebensschwerpunkt haben, wird somit zunächst zurückgeworfen auf diesen Zusammenhang – und zwar in dem präzisen Sinne, dass es darauf angewiesen ist, „Höflichkeit“ als Wert in ihrem Zusammenhang mit geltenden oder sich verändernden Wertstrukturen innerhalb dieser Kultur2 3
Zu den damit zusammenhängenden Problemen s. Cappai (2000: 253–274; 2003: 107–131). Indem ihr ebendieses methodologische Postulat zugrunde liegt, Höflichkeit auch innerhalb des Kulturvergleichs primär als Wert zu analysieren, ist die informationsreiche, für das Verstehen des heutigen China aus europäischer Sicht ebenso wie für die interkulturelle Praxis überaus nützliche Studie „Höflichkeit im Chinesischen. Geschichte – Konzepte – Handlungsmuster“ aus der Feder des in der Perspektive der Interkulturellen Germanistik forschenden Chinesen Yong Liang (1998) als richtungweisend für den Vergleich weiterer „Kulturen der Höflichkeit“ mit der europäisch-westlichen anzusehen.
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sphäre zu untersuchen, die eher historisch-genetisch als geographisch genauer umrissen werden kann. Wenn sich die folgenden Ausführungen vor allem auf diese beziehen, beschränken sie sich in einem ersten Schritt auf ein phänomenologisch-reduzierendes Verfahren, dessen Ziel das Herauspräparieren einiger Grundkomponenten von Höflichkeit als Wert ist. Die fachliche Orientierung des Verfassers dieser Zeilen bedingt es, dass dabei der Wert der Höflichkeit nicht, wie einleitend bereits bemerkt, in seinem Verhältnis zu anderen Werten der Moralität oder gar unter dem Gesichtspunkt seines Verhältnisses zu Problemen der Ethik betrachtet wird. Vielmehr ist seine Vorgangsweise bestimmt durch eine kultursoziologische und philosophisch-anthropologische Perspektive. Die Betrachtung des Wertes für sich wird überschritten durch seine Hinordnung auf lebensweltliche Bedingungen und Strukturen. Dabei werden zuerst die der nahen Umwelt betrachtet, unter und in denen Individuen leben und handeln, später die von umfassenderen historisch-kulturellen und politischen Lagen, wie sie sich im Zusammenhang mit der angedeuteten Frage nach der Affinität von „Höflichkeit“ und „Zivilgesellschaft“ insbesondere an der deutschen Geschichte zeigen.
Was Höflichkeit konstituiert 1. Formen, Situationen, Funktionen Die sprachliche Wurzel des deutschen Wortes „Höflichkeit“ – wie analog auch der Entsprechungen in anderen europäischen Sprachen (cortesia, courteoisie, courtesy usw.) – verweist auf einen historisch und kulturell wichtigen Quell normativer Prägung des Verhaltens in Europa: den unter diesem Aspekt von Norbert Elias bahnbrechenden Untersuchungen aufgedeckten „höfischen Komplex“. Sein Hauptkennzeichen ist Überformalisierung in einem hierarchischen Kontext: höfische Etikette, höfisches Zeremoniell waren Überbetonungen einer – im Verhältnis zu anderen Verhaltensbereichen – außerordentlich elaborierten Form; sie habitualisierten einen typischen, kulturgeschichtlich lange und in Deutschland bekanntlich bis in die Phase des „Wilhelminismus“ nachwirkenden „Blick nach oben“ zu den höheren Stufen ständischen Statusaufbaus und zum höfischen Machtzentrum. Im Vergleich dazu ist Höflichkeit heute relativ entformalisiert, jedenfalls deutlich enthierarchisiert, egalisiert. Die Zahl der Verhaltensregeln hat drastisch abgenommen, und sie sind nicht mehr so zwingend wie in früheren Zeiten: die gesellschaftlichen Gruppierungen und Milieus, innerhalb derer sie gelten, setzen sie mit weniger starker Sanktionsmacht durch. Auf der anderen Seite befindet sich dieser nivellierte und dünner gewordene Rest europäischer Höflichkeitsnormen ständig, was deren Geltungsgrenzen betrifft, in Expansion: über soziale Schichten, Milieus, über Länder- und Kulturgrenzen hinweg. Die sozial-kulturelle Basis der Trä182
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ger dieser Expansion lässt sich im internationalisierten (heute: globalisierten) „Bürgertum“ identifizieren. Auch wenn die europäische Prägung der betreffenden Verhaltensformen abgenommen hat und sich vermischt mit nichtwestlichen Verhaltensformen, die ohne Zögern ebenfalls als „höfliche“ wahrnehmbar und deutbar sind: ein „durchschnittlich bürgerlicher“ Stil höflichen Verhaltens gehört zu den Standards der betreffenden Menschengruppen (unmöglich, hier in aller Kürze die inzwischen außerordentlich entfaltete Typologie eines weltweiten Funktionärswesens auch nur annähernd befriedigend anzudeuten!) ebenso wie das zur weltweiten Lingua franca gewordene Englisch und „geschäftsmäßig“-typische Kleidung bei Männern wie Frauen, Varianten von ehemals auf den europäisch-nordamerikanischen Kulturkreis beschränkten Moden. Begleitet sind diese Formen überall von Minimalstandards interpersonaler Zuwendung, auf die wir später noch näher eingehen werden, weil sie eng mit bestimmten Wertaspekten der Höflichkeit zusammenhängen. Die Kasuistik der Situationen, für die Höflichkeitsregeln gelten, und in denen Höflichkeit auch ohne jeden Sanktionsdruck eingesetzt und wirksam wird, ist außerordentlich reichhaltig. Höflichkeit kann „nur“ in einem schlichten, absichtslosen Ausdruck der Wertschätzung, des Respekts bestehen, im Falle des Grußes oder der Anrede. Ob das mit solcher Form bedachte Gegenüber uns näher oder ferner steht, ob es uns gänzlich unbekannt ist, ob wir uns ihm gegenüber in gleicher, niedriger oder höherer gesellschaftlicher Stellung befinden, ändert an der (unter bestimmten kulturellen, kommunikativen Voraussetzungen gegebenen) eindeutigen Botschaft, sofern sie nur in dieser Form verschlüsselt abgegeben wird, nichts: jedes Mal kann sie vom empfangenden Subjekt so interpretiert werden, dass es sich als Fremder willkommen geheißen, als potentieller Partner für weitere Kommunikation akzeptiert oder aufgrund zurückliegender gemeinsamer Erfahrung geschätzt sieht und so fort. Ihre Eindeutigkeit teilen diese Formen mit anderen, ebenso einfachen Formen höflichen Kommunizierens, die eingelassen sind in elementare Abfolgemuster des sozialen Handelns und der sozialen Interaktion, so das Bitten und Danken im Falle von Hilfe, Tausch, Leistung und Gegenleistung oder Kooperation. Ist das Handlungsfeld komplexer, die Situation und ihr Ausgang weniger überschaubar, ändert sich an dieser formalen Eigenschaft der Höflichkeit grundsätzlich nichts. Ihre funktionale Stärke zeigt sich gerade dann. Nehmen wir einmal an, eine Anzahl von Personen, die untereinander in sehr unterschiedlichen Verhältnissen der Bekanntschaft und der gegenseitigen Sympathie bzw. Ablehnung stehen und die außerdem unterschiedliche Interessen verfolgen, ist durch äußere Umstände genötigt, für eine gewisse Zeit zu kooperieren, wobei der Erfolg durch eventuell neu hinzukommende Umstände ungewiss ist. Setzen die Beteiligten dabei höfliche Worte und Gesten ein, so bleibt es ihnen nicht nur mit diesen „eindeutigen“, da einem kulturellen 183
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„Standard“ entsprechenden Formen erspart, sich gegenseitig zu vergewissern, was die Formen im einzelnen bedeuten. Diese reduzieren darüber hinaus eine wichtige und potentiell problematische Dimension jeder komplexen Handlungssituation: es wird durch sie die Möglichkeit ausgeschlossen oder zumindest auf ein erträgliches Minimum beschränkt, dass sich die Beteiligten mitsamt ihren subjektiven Befindlichkeiten und Interessen, mit ihren Stimmungen, Zu- und Abneigungen und sonstigen Idiosynkrasien aneinander reiben und dadurch die Kooperation belasten. Die Entlastung andererseits bedeutet zugleich eine kumulative Erfahrung, auf der die Erwartung beruht: „so wie in dieser Situation wird es auch demnächst, wenn wir wieder zusammenkommen, sein“. In allen – gleich ob einfacheren oder komplexeren – Situationen bedeutet die Entlastung zugleich Handlungssicherheit.4 Bezogen sowohl auf den Ablauf des Handelns wie auf den Ablauf der mit diesem verknüpften Kommunikation leisten die Formen der Höflichkeit mit ihrer abkürzenden, sprachlichen und gestischen Formelhaftigkeit etwas Verhaltensökonomisches, das dem Haushalten mit Energien und Ressourcen (auch persönlichen, psychischen) zugute kommt und die Handelnden freisetzt für das Eigentliche: das Verfolgen gemeinsamer Zielsetzungen, das Realisieren dessen, was die Situation sachlich erfordert. Das Spektrum möglicher Situationen, auf die höfliche Formen bezogen sein können, ist zwar vom „Geist“ sozialer Moralität her, der sie „inspiriert“ (im folgenden wird auf ihn noch zurückzukommen sein), unbegrenzt; von bestimmten Bedingungen ihrer Umsetzung her finden sie jedoch eine deutliche Grenze. Situationen, in denen sich in kurzer Zeit Handlungsprobleme aufhäufen, d.h. in denen Risiken oder Gefahren auf dramatische Weise erst im Verlauf des Handelns auftauchen oder erst evident werden, machen in aller Regel Höflichkeit unwahrscheinlich, und zwar in dem Maße, in dem diese Situationen – Katastrophen, Unfälle z.B. – zu wenig Elemente aus vorgängigen Situationen enthalten, die als „wiederholte Erfahrung“ identifiziert werden können und so zumindest im Ansatz jene Art von Erwartbarkeiten schaffen, die jede Situationstypik, jede Orientierung im Alltag, jede Routine ausmachen. Das Fehlen dieser Erwartbarkeiten, nicht das Fehlen von Zeit, ist wohl die wichtigste Ursache für das Ausfallen höflicher Formen im Handeln „unter Druck“. Auch wenn Unfallhelfer im Trümmerchaos, Chirurgen bei riskanten Operationen, Skipper bei hohem Seegang sich oft Abweichungen vom Verhaltensstandard erlauben (wobei sie nicht selten dabei gerade die Abweichung stilisieren: z.B. in einem ungeschlacht-lauten Befehlston): das professionelle 4
Dieses auf alle normativen Gestaltungen menschlichen Handelns zutreffende Theorem der Entlastung stammt bekanntlich aus der deutschen „Philosophischen Anthropologie“ (Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen insbesondere). Zu dessen weiterer Ausarbeitung im Kontext der Handlungstheorie s. Luckmann (1992).
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„Ruhe bewahren“, das sie dann doch in der Regel zeigen, und das, wie immer wieder beobachtet, auch die Chance höflicher Minimalgesten (eines freundlichen Blicks, einer Bitte, eines Dankes) enthält, beruht auf der entlastenden Wirkung der Möglichkeit, sich routinegemäß zu verhalten. Deshalb ist auch bei Katastrophen, die zum Dauerzustand geworden sind, etwa bei chronischem Ernährungsnotstand in Dürregebieten, so lange – wie Ethnologen z.B. aus den Sahel-Regionen berichten – kein Ausfallen jenes höflichen Minimums zu beobachten, wie der Mangel in strukturierten Situationen des Alltags bewältigt, genauer: abgearbeitet werden kann. Die Chancen „höflicher“ Form, deren Anwendungsfall zwischen dem völlig unerwarteten Extrem der Katastrophe und dem routinisierten Umgang mit dem Übel liegen, beruhen nicht zuletzt auf einer funktionellen Leistung, die diese Form mit einigen Verhaltensformen teilt, und die in der Umgangssprache mit dem Ausdruck „Manieren“ zusammengefasst sind. Die gemeinte Funktion – sie ist bekanntlich ein zentraler Aspekt von Norbert Elias Untersuchungen zum Zivilisationsprozess – besteht in der Kontrolle von Affekten. Unter diesem Aspekt entlastet die Form, indem sie die natürlichen Impulse zu spontan-direktem Handeln und Kommunizieren gleichsam abbremst, die den Personen, die von solchen Situationen betroffen sind, erfahrungsgemäß zusätzlich erhebliche Schwierigkeiten und Komplikationen bringen kann. Nicht zufällig finden wir daher in bestimmten Kinderbuchklassikern, denen zugleich der Rang von Meisterwerken kultureller Sozialisation zugesprochen werden kann, wiederholt gerade angesichts höchst bedrohlicher Situationen eine typisch „höfliche“ Retardation des dargestellten dramatischen Geschehens. Ein herausragendes Beispiel sind die Bild-Textfolgen „Was tust Du dann?“ und „Was sagst Du dann?“ von Maurice Sendak und Sesyle Joslin (1976, 1977). Ihre Miniaturgeschichten übertragen emotional besetzte Themen von fünf- bis achtjährigen Kindern in die Szenerie von Märchen, von Seeräuber-, Wildwesterzählungen und ähnlichen Spannungserzeugern. Jeweils auf dem Höhepunkt rufen sie mit einer überraschenden Wendung für einen Augenblick panisches Erschrecken, Angst, Enttäuschung, manchmal auch peinliche Gefühle hervor. Das Bild, mit dem diese Situation geschildert wird, ist jeweils überschrieben mit der Frage „Was tust Du dann?“ oder „Was sagst Du dann?“. Die nächste Seite überrascht ein zweites Mal durch das Mittel der Spannungslösung: eben durch die Retardation in Gestalt der „guten Manier“, des höflichen Wortes. So wird z.B. die Mischung von Angst und Frustration, die bei einem Geburtstagsfest im Schloss plötzlich dadurch entsteht, dass gerade vor dem Anschneiden der Torte ein hungriger Drache angekündigt wird, aufgelöst in der Antwort: „Nicht vergessen, der Gastgeberin für den reizenden Abend zu danken“ (das Bild zeigt die Kinder, die sich trotz des schnaubenden Drachens, der sich bereits die Torte geschnappt hat, mit freund185
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lichen Gesten aus dem Raum entfernen). Auch wenn der Kontrast der aufregenden Situation zu ihrer Auflösung im gesittet-gezähmten Verhalten einen Hauch von Ironie über die Geschichten legt, so vermitteln sie doch den Kindern die klare Botschaft: mit guten Manieren, mit höflichen Worten kann man unangenehmen, bedrängenden Lagen besser entkommen als ohne sie. Nicht weniger beeindruckend ist der auf die guten Manieren bezogene5 sozialisatorische Subtext von Jean de Brunhoffs unsterblichen Geschichten um den Elefantenkönig Babar. Nicht die Formenlehre der Manieren in ihrer Vielfalt ist das Thema dieses Subtexts, sondern allein die Höflichkeit, vor allem die Wirkkraft des höflichen Wortes und der ihm eigenen Form, die sich auch hier – dem Formerfordernis von Zauberformeln nicht unähnlich – vor allem in außergewöhnlichen, gefahrvollen Lagen bewährt. Es genüge, statt vieler anderer die Notsituation zu erinnern, in die Babar und seine Königin Céleste auf ihrem Ballonflug geraten. Die Bruchlandung auf einer von Kannibalen bewohnten Insel versetzt sie nicht in Panik. Nach mutiger Abwehr der Kannibalen gelingt es ihnen, einen Walfisch herbeizurufen, der sie auf einer anderen Insel absetzt, von der aus sie definitiv gerettet werden. Es lohnt sich, den Erfolg bringenden Dialog im Original anzusehen: er lässt mit der unvergleichlichen Eleganz des Französischen einen kulturspezifischen Mehrwert erkennen, der über das Grundprinzip der höflichen Form – ihr retardierendes Moment, in dem Bändigung der Gefühle und Entlastung möglich werden – weit hinausreicht (gleichzeitig stelle man sich, als Alternative zu jenem Grundprinzip, vor, wie der Dialog ausgesehen hätte, wenn de Brunhoff Babar in seiner naheliegendsten Reaktion hätte zeigen wollen: spontan, emotionaleruptiv wahrscheinlich angesichts der plötzlich und buchstäblich in Gestalt eines Wales auftauchenden Chance, aus seinem Ungemach endlich befreit zu werden): „Bonjour madame la baleine, je suis Babar le roi des éléphants et voilà Céleste ma femme. Nous avons eu un accident de ballon et sommes tombés sur cette ile. Pourriez-vouz nous aider à sortir ?“ – „Je suis enchantée de faire votre connaissance“, antwortet darauf der Wal: „et je sarais très heureuse si je puis vous rendre service“ (Brunhoff 1979: 18f.).
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Andere sozialisatorische Subtexte bei Jean de Brunhoff beziehen sich z.B. auf staatsbürgerliche und ästhetische Bildung. Was die staatsbürgerliche betrifft, so ist die vermeintlich auf Saint-Simons, tatsächlich jedoch auf Fouriers Frühsozialismus hindeutende Interpretation, die Asfa-Wossen Asserate (2003: 179) in seinem Manieren-Buch anbietet, m.E. unangebracht: Babars Königreich ist eher ein Ordnungsbild der Gesellschaft, in dem sich spätpositivistische mit nationalfranzösisch-bürgerlichen Ideen verbinden.
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Was Höflichkeit konstituiert 2. Moral der Anerkennung – Distanz als Differenzbewältigung Mit dem bisher Gesagten sind die Formen der Höflichkeit erst situational und funktionell näher umschrieben, nicht aber als „kulturelle“ Phänomene, sofern als „kulturell“ solche verstanden werden, die sich durch ihren Bezug auf Werte und durch ihre Verortbarkeit innerhalb geltender, „legitimer“ Strukturen des Wissens und des gesellschaftlich hervorgebrachten Sinns auszeichnen. Der Sinn aller Höflichkeit, wie sie hier verstanden wird, kann auf den gemeinsamen Nenner eines grundlegenden Elements der Moralität des Umgangs zwischen Menschen gebracht werden, das als universell eingeschätzt werden kann: es besteht in nichts anderem als der Anerkennung, der Achtung des Anderen als Person in ihrer Würde und in ihrem Wert als Mensch. In welchen Situationen Höflichkeit auch immer variiert erscheint: Formen des Verhaltens „tragen“ zwar jeweils Höflichkeit, machen sie jedoch allein nicht aus, wenn nicht das Substantielle dieses Moralelements hinzukommt; und umgekehrt: das Grundelement (universeller) Moral, ohne welches Höflichkeit nicht bestehen kann, ist angewiesen auf ein Repertoire nicht beliebiger, sondern bestimmter, kulturell variabler, somit lern- und „lesbarer“ Ausdrucksformen. Diese konstitutive Zusammengehörigkeit der formalen und der materialen Dimension der Höflichkeit war nun bekanntlich innerhalb des neuzeitlicheuropäischen Denkens ein immer wieder aufs Neue umkreister Gegenstand moralphilosophischer Reflexion. Sie soll im Folgenden unter (a) nur kurz und exemplarisch kommentiert werden. Die daran anschließende Argumentation (b) zielt auf eine soziologische Erweiterung der angedeuteten Konstitutionsstruktur von Höflichkeit. (a) Der hier getroffenen Unterscheidung einer „formalen“ und einer „materialen“ Dimension entspricht in der moralphilosophischen Reflexion die Trennung eines „Äußeren“ von einem „Inneren“ der Höflichkeit. Wenn Goethe in den „Wahlverwandtschaften“ von der „Höflichkeit des Herzens“ spricht, so hat er diese Trennung, aber ebenso die Zusammengehörigkeit beider im Blick: „es gibt eine Höflichkeit des Herzens; sie ist der Liebe verwandt. Aus ihr entspringt die bequemste Höflichkeit des Betragens“. An derselben Stelle finden wir auch folgenden Gedanken: „Es gibt kein äußeres Zeichen der Höflichkeit, das nicht einen tieferen sittlichen Grund hätte. Die rechte Erziehung wäre, welche dieses Zeichen und den Grund zugleich überlieferte“ (Goethe 1980: 397). Die Bemerkung zum „Bequemen“ einer Höflichkeit, die aus dem „Herzen“ kommt, ist nur vor dem Hintergrund einer zur Zeit Goethes noch existierenden anderen Höflichkeit zu verstehen, die auf der Oberfläche des 187
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„äußeren Betragens“ ein Übermaß von zeremoniell ausdifferenzierten Formen einzuhalten gebot und deshalb als aufwändig, ja anstrengend empfunden wurde. Der Humanismus Goethes, hier mit dem der Aufklärung übereinstimmend, suchte den Einklang von äußerem Tun und innerer Einstellung, wie der zweite Satz zeigt, nicht zuletzt auch über die Reflexion des „sittlichen Grundes“ der Höflichkeit. Dass Erziehung nur deren Form überliefern könne, ohne ihren moralischen Kern zu überliefern: den Hinweis auf diese Gefahr verknüpft Goethe mit einer Fragestellung der deutschen Moraltheorie seit Kant, die ihren Fokus im Authentizitätsproblem hat – dem Problem der Übereinstimmung des Innenlebens mit seinem „äußeren“ Ausdruck. Kant wendet sich gegen die Verselbständigung der Formen, gegen den Formalismus im Sinne eines Übergewichts oder eines Eigenwertes der Formen, nicht jedoch gegen die Formen als solche. Seine Position ist eine universalistisch-moralische, die noch nicht mitbestimmt ist durch den kulturell-partikularen, antifranzösischen Affekt, wie er sich im Jahrhundert nach Kant bei den Deutschen zeigte und in der stereotypen Gegnerschaft der „innerlichen“ Kultur der Deutschen zu der im Raffinement der Formen veräußerlichten „Zivilisation“ der Franzosen kulminierte (s. Fisch 2004: 679–774). Es genüge der Hinweis darauf, dass Kant im Zusammenhang mit seinem Festhalten an der Notwendigkeit der Formen den prozessualen Aspekt des Sicheinlebens in die Formen anspricht, und zwar auf eine Weise, die schon als Vorwegnahme der soziologischen Sozialisationstheorie aufgefasst werden kann. Er stellt von den damals verbreiteten Höflichkeitsformen, der „ganzen höfischen Galanterie“ – wie er schreibt – fest, sie seien „zwar nicht eben immer Wahrheit, sie betrügen doch darum auch nicht, weil ein jeder weiß, wofür er sie nehmen soll“, um dann weiter zu begründen: „und dann vornehmlich darum, weil diese anfänglich leeren Zeichen des Wohlwollens und der Achtung nach und nach zu wirklichen Gesinnungen dieser Art hinleiten“ (Kant 1917: 152). Das Problem, auf das sich Kant hier bezieht, scheint sich bei den Deutschen im Zeitalter der Nach- und Gegenaufklärung mit größerer Breitenwirkung festgesetzt zu haben als bei ihren europäischen Nachbarn. Es ist nicht übertrieben, von einem antiformalen Affekt zu sprechen, der die deutsche Mentalität im 19. Jahrhundert und noch lange im 20. Jahrhundert kennzeichnet. Der äthiopische Diplomat Asfa-Wossen Asserate (2003: 172) spricht in seinem Buch über die (deutschen) Manieren auch im Hinblick auf die Gegenwart von einem „immer schon formunwilligen und formmißtrauischen Deutschland“.6 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts artikulierte sich der Affekt, wie bereits angedeutet, „antizivilisatorisch“, gegen Frankreich ge-
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Das Buch ist wegen seines von Humanismus getragenen Esprits lesenswert und gehört mit seinen scharfen Beobachtungen auf den Tisch aller Sozialforscher, die sich mit Verhaltensformen im deutschen Alltag befassen.
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wandt, und zugleich – wie Nietzsche in seiner beißenden Kritik dieses Aspektes vermeintlich überlegener deutscher „Kultur“ nach dem Militärschlag von 1870/71 beobachtete – als roher Naturalismus. In seiner Angst vor Konventionen, so Nietzsche, habe der Deutsche die Schule der Franzosen verlassen, „denn er wollte natürlicher und dadurch deutscher werden. Nun scheint er sich aber in diesem ‚Dadurch‘ verrechnet zu haben: aus der Schule der Convention entlaufen, ließ er sich nun gehen, wie und wohin er eben Lust hatte […] Indem man zum Natürlichen zurückzufliehen glaubte, erwählte man nur das Sichgehenlassen, die Bequemlichkeit und das möglichst kleine Maas von Selbstüberwindung“ (Nietzsche 1980: 275). Insofern es sich um eine Mentalitätseigenart handelt, die sich – auch in ihrer Negativität gegenüber Form, Struktur – in kulturellen Verhaltensmustern niederschlägt, ist man wohl berechtigt, den gemeinten Zug der Deutschen mit dem paradoxen Namen eines „kulturellen Naturalismus“ zu belegen. Steht dieser Zug der Deutschen, der sich in latent-unterschwelligen Dispositionen auch der „geistig“ Tätigen, der Studierenden und Akademiker, in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts festsetzte, nicht in einem Zusammenhang mit der verhängnisvollen Schwäche des „deutschen Geistes“ (man denke an die – später zum Glück vom Autor mit Selbstkritik bedachten – chauvinistischen Akzente dieser Selbstqualifikation in Thomas Manns „Bekenntnisse[n] eines Unpolitischen“) gegenüber den antidemokratischen Ideologien, die ihrerseits durch auffallende Formgegnerschaft gekennzeichnet sind? Wir werden auf diesen Zusammenhang im abschließenden Teil noch zurückkommen. Hier nur soviel: ist ihm, so wäre zu fragen, nicht auch der Kult der emotionalen Unmittelbarkeit zuzurechnen, wie er in der „bündischen“ Gemeinschaftsidee der Jugendbewegung seinen Niederschlag fand? Heute noch lohnt sich, unter diesem Aspekt, der Blick in Helmuth Plessners „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924) – zugleich ein Locus classicus auch für die soziologische Begründung der formalen Seite jeder Höflichkeit. Denn hier bereits befindet sich Plessner auf dem Weg zu der erst später schärfer ausformulierten philosophisch-anthropologischen Bestimmung des Menschen als eines Wesens, das sich selbst von Grund auf „vermittelt“ ist und welches innerhalb seiner (dinglichen wie mitmenschlichen) Umwelt ebenfalls nur vermittelt zu leben vermag: über die Formung des Verhaltens – nicht zuletzt über die „Kultur“ (vgl. Plessner: 1980–1985, bes. die Bde. IV, VII und VIII). Ausgehend von dieser Position möchte ich nunmehr im folgenden Gedankengang den bisher als zweifach – durch Form und Moralität – gekennzeichneten Konstitutionsmodus der Höflichkeit um einen dritten erweitern. (b) Der Sachverhalt, dass wir grundsätzlich, nach „außen“ hin, der vielfältigen Vermittlungsmodi der Formen bedürfen, die uns, fragen wir nach einem summarischen Begriff, im Ganzen „Kultur“, unsere zweite Natur, zur Verfü189
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gung stellt, kann im Hinblick auf das Segment dieser Formen, welches wir mit dem Ausdruck „Höflichkeit“ bezeichnen, in soziologischer Blickrichtung auf einen Punkt hin zugespitzt werden: wir bedürfen dieser Formen als „Angebot“ der Kultur, um mit Differenz umgehen zu können. Wir benötigten die Formen nicht, gäbe es nicht die Differenz zwischen Individuen, zwischen Alten und Jungen, zwischen Männern und Frauen, Erwachsenen und Kindern, zwischen körperlich und geistig durchschnittlich „Gesunden“, „Normalen“ einerseits und davon Abweichenden andererseits, zwischen Angehörigen eines hohen und denen eines niedrigen Status, zwischen Einheimischen und (kulturell) Fremden, zwischen Etablierten und Außenseitern, Mächtigen und Machtlosen, Reichen und Armen und so fort. Die Differenz ist nicht aufzufassen als in diesem oder jenem Maß ausgeprägte zusätzliche Möglichkeit des sozialen Lebens, die im Sinne eines Akzidens zu einer ihm zuzusprechenden wesentlichen, einheitsstiftenden, integrierenden Qualität erst hinzukäme. Sie ist vielmehr selbst unentbehrliche Bedingung für die Konstitution von Gesellschaft, oder, wie die Soziologie seit ihrer Gründungsphase als Einzelwissenschaft besonders sich in Deutschland auszudrücken pflegt, des Phänomens und der Prozesse der „Vergesellschaftung“.7 Ein Modus der Differenzbewältigung konstituiert mithin jenen Sektor gesellschaftlich-kultureller Formen, den die Höflichkeit darstellt, mit, und zwar im Rahmen des Zusammenhangs, den er mit den beiden anderen Konstituenten „Form“ und „Anerkennung (Wertschätzung) des Anderen“ bildet. Wie ist, im Einzelnen, dieser Zusammenhang zu verstehen? Um diese Frage zu beantworten, ist es legitim, von der subtilen, facettenreichen Gesamtproblematik, die sich mit der Konzeptualisierung von Prozessen der Vergesellschaftung grundsätzlich stellt, abzusehen. Von besonderer Relevanz daraus ist für unsere Frage allerdings die Begründung der Personalität im Zwischenfeld von Ich bzw. Selbst und sozialem Umfeld, auf die allein wir an dieser Stelle in aller Kürze eingehen. Sie ist nur unter dem Rückgriff auf die Kategorie der Differenz möglich und führt in die psychisch-geistige Struktur des Subjekts hinein. Grundlegend für Personalität ist die Befähigung des Menschen, er selbst „zu sein“ und gleichzeitig sich selbst „zu haben“ (Plessner spricht im Bezug darauf bekanntlich von der „exzentrischen Positionalität“ des Menschen). Beides wird erst in dem Maße möglich, in dem der Mensch im Verlauf des Sozialisationsprozesses lernt, sich selbst von seiner Umwelt zu unterscheiden und gleichzeitig deren Perspektive auf sich selbst zu übertragen. Beidem liegt die Erfahrung von Differenz zugrunde, deren subjek-
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S. dazu insbesondere die – von der Sozialphilosophie des 19. Jh. z.B. in Schleiermachers „Theorie des geselligen Betragens“ vorbereitete – Begriffsbildung bei Georg Simmel (1992: 42–62, 1999) und bei Max Weber (1976, dort bes. Teil I, Kap.I, §9 = S. 21–23: zu „Vergemeinschaftung“ und „Vergesellschaftung“).
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tiver Modus, strukturiert in den Verhaltensdispositionen des zum Erwachsenen sozialisierten Menschen, Distanz ist. Von daher gewinnt das Phänomen „Höflichkeit“ erst seine begriffliche Kontur. Dem Alltagsverständnis von Kommunikation läge es zweifellos näher, Höflichkeit als Mittel, als eine Art „Medium“ zur Neutralisierung oder Minimisierung von Distanz anzusehen. Tatsächlich aber bewirkt Höflichkeit weder das eine noch das andere. Im Gegenteil: jeder höfliche Akt repräsentiert symbolisch und signalisiert damit die spezifische Distanz, die zwischen uns und unseren Kommunikationspartnern besteht. Das Entscheidende ist dabei jedoch, dass in die situationsangemessene Form des höflichen Akts gleichzeitig das moralische Grundmotiv der Anerkennung, der Wertschätzung, der „Würdigung“ des Anderen einfließt. Distanz ist, als Qualität subjektiven und darauf bezogenen Bewusstseins, ein Desiderat jeder interpersonalen Moralität, die unter der idealen Annahme der Gegenseitigkeit „Partner“ als Personen würdigt, denen Selbstsein und damit Freiheit eingeräumt wird. Das gilt nicht nur im weiteren Raum der Gesellschaft mit ihren verschiedenen Stufungen der „Öffentlichkeit“8, sondern gleichermaßen im privatesten Raum intimer Beziehungen: auch in ihren intimsten Bezirken ist z.B. eheliche Partnerschaft auf die den Anderen wechselseitig achtende Distanz der „Höflichkeit des Herzens“ angewiesen, sollte sie die Chance einer Dauer besitzen, die von „innen“ her, durch Kultivierung der Beziehung, gestützt ist. Die gedanklich-experimentelle Heraustrennung einzelner der drei konstitutiven Komponenten zeigt aufschlussreiche Unterschiede in der Stellung dieser zum Ganzen des Komplexes „Höflichkeit“. Da Höflichkeit schon als Form Distanz verkörpert, bedeutet Formverlust Gefährdung oder Verlust von Distanz. Umgekehrt ist der Ausdruck, die symbolische Mitteilung von Distanz zwar auch mit anderen Mitteln als denen der Höflichkeit möglich, nicht aber mit solchen, die wie diese dem Handlungs- bzw. Interaktionspartner Anerkennung signalisieren. Entfällt schließlich Anerkennung aus dem Komplex „Höflichkeit“, steht die Authentizität der Form auf dem Spiel. Distanz ermöglicht dann auch die instrumentelle Handhabung der Form für beliebige, auch unmoralische Zwecke. Die Analyse ließe sich unter Einschluss sozialpsychologischer und sprachpsychologischer Aspekte weiter vertiefen, insbesondere in der Richtung, dass „hinter“ Höflichkeitsformen immer Akteure stehen, die imstande sind, über expressive Mittel (vor allem über den „Ton“, die Akzentuierung und andere Mittel verbaler Kommunikation, dann aber ebenso über den Gesichtsausdruck, die Gestik und andere nichtverbale, symbolisch „lesbare“ Aktivität) die höfliche Kommunikation zu nuancieren, mitunter auf sub-
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„Öffentlichkeit“ verstanden etwa in dem Sinne, wie der Ausdruck gebraucht wird in Erving Goffmans Studie „Das Individuum im öffentlichen Austausch“ (1971).
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tilste Weise. Dieser Weg soll hier nicht weiter verfolgt werden; es sei – nach dem soeben Dargestellten – nur festgehalten, dass die „Funktionsweise“ von Höflichkeit das Zusammenspiel aller drei konstitutiven Bestandteile erfordert. Dabei nimmt allerdings die Distanz insofern eine besondere Stellung ein, als sie von sich aus die beiden anderen Komponenten bedingt und zugleich strukturiert: ein Zweifaches, welches in derselben Weise von der Form wie von der moralischen Komponente nicht gilt. Als Gesamtheit eingelebter Formen, als tradiertes kulturelles Regelwerk mit einem bestimmten Geltungsbereich, können Normen der Höflichkeit somit als Dokument kollektiver Verarbeitung gesellschaftlicher Differenzstrukturen aufgefasst werden. Der stetige individuelle Umgang mit diesen Formen kann dagegen als moralische „Arbeit an der Differenz“ im Modus der Distanz betrachtet werden. Historische und kulturelle Bedingungen variieren beide Schichten der Existenzweise von Höflichkeit. Die Geschichte der Höflichkeit wird daher ebenso durch den Wandel von Moralvorstellungen geschrieben wie durch den Wandel der äußeren Lebensbedingungen, von denen die Differenzerfahrungen der Individuen abhängen. Dazu sind zusammen mit anderen nicht zuletzt politische Bedingungen zu zählen. Primär darauf beziehen sich die folgenden, abschließenden Überlegungen zum gesellschafts- und kulturgeschichtlichen Kontext von Höflichkeit.
Die Kultur der Differenz und das Ideal der Zivilgesellschaft Das bisher Ausgeführte legt nun die These nahe, es sei eine „Kultur der Differenz“, die Höflichkeit als Wert – so wie wir ihn für den nunmehr auch nach Osten hin erweiterten, transatlantisch-westeuropäischen Kulturkreis der Gegenwart festhalten können – stütze, sodass diese Kultur ein integriertes, stimmiges Verhältnis zu den in Europa geltenden Basiswerten der Demokratie und ihrem Leitbild der „Zivilgesellschaft“ aufweise. Der Begriff „Kultur der Differenz“ setzt voraus, dass eine Gesellschaft lernt, mit interner und externer Komplexität, die das Resultat von Differenzierungsprozessen sind, umzugehen. Nach dem Gesagten mag diese These zunächst einmal schon deswegen einleuchten, weil – erstens – die inhaltlich-moralische Dimension, die Höflichkeit mit konstituiert, als homolog zu den westlich-europäischen Menschenrechten zu betrachten ist, die insbesondere im Wert der Menschenwürde kulminieren; und – zweitens – weil der Wert der Menschenwürde stets die Anerkennung des Individuums in seiner Eigenart und Eigenständigkeit impliziert. Es wäre ein Missverständnis, dazu die Grundwerte der Demokratie, insofern sie den Grundsatz der Gleichheit enthalten, im Widerspruch zu sehen. Dieser bedeutet keinen qualitativen, sondern lediglich formalen, d.h. auf die
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Verfahren im politischen und rechtlichen Raum bezogenen „Egalitarismus“: die Gleichheit der Verschiedenen vor dem Recht. Gerade deshalb stützt die politisch-rechtliche Seite der europäischen Kultur der Differenz – und, zusammen mit ihm, der rechtsstaatliche Kern des Zivilgesellschaftsideals – neben der inhaltlichen, wertbezogenen auch die formale Dimension der Höflichkeit mitsamt ihrem inneren Korrelat, der Distanz. Es geht hierbei um das institutionalisierte Verhältnis einer Kultur, einer Gesellschaft zu Fragen der Form im Sinne etablierter und allgemein akzeptierter Logiken des „Procedere“, der „formalen Rationalität“ (Max Weber) sowie der „Legitimation durch Verfahren“ (Luhmann). Quer durch die differenzierten Teilsysteme der Gesellschaft (Politik, Recht, Wirtschaft, Bildung usw.) verlaufen unter diesem Gesichtspunkt nicht nur Kompatibilitäten, Abgestimmtheiten, „Anschlussfähigkeiten“ (aus der Sicht des Kommunikationssystems i.S. von Luhmann): weit darüber hinaus handelt es sich um Konsistenzen auf der Ebene des Handelns, ja der Mentalität und der eingelebten Werthaltungen. Im übrigen korreliert das Strukturprinzip einer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft schon deshalb mit dem Formbewusstsein einer Kultur der Differenz, weil differenzierte Sphären, sei es auf kollektiv„systemischer“, sei es auf persönlicher Ebene, die in ihrer Eigengesetzlichkeit und Eigenwertigkeit anerkannt sind, oft gerade deshalb nicht substantiellthematisch untereinander kommunizieren können, sondern nur auf formalisiertem Wege. Eine institutionalisierte Kultur der Differenz, die über den Wert der Höflichkeit im interpersonalen Verhalten wirksam sein soll, verlangt freilich auch „unterhalb“ der angesprochenen makrokulturellen Ebene Verankerungen, Haltepunkte, begünstigende Milieus – wie auch von der anderen Seite her, den Subjekten höflichen Verhaltens dasselbe Erfordernis gilt. In den Begriffen von Simmels Kulturtheorie ausgedrückt, ist dieses Erfordernis besonders auch von der subjektiven Kultur der Differenz her ins Spiel zu bringen, die voraussetzt, dass das Subjekt imstande ist, sich die objektive Kultur der Differenz anzueignen – dieses aber ist schwer denkbar ohne die vermittelnden Instanzen, Gruppierungen, Schichten und Milieus der kulturellen Sozialisation. An dieser Stelle ist der oben formulierten These eine weitere hinzuzufügen. Innerhalb der intermediären Ebene, auf der das angegebene Erfordernis sich realisiert, ist dem Bürgertum oder, genauer, den nach den fortgesetzten Wandlungen der Moderne noch verbliebenen Komponenten „bürgerlicher“ Kultur eine herausragende Rolle zuzusprechen. In welchem Sinne soll und kann dieser Zusammenhang verstanden werden? Ohne Zweifel hat das Bürgertum seine große Geschichte als in sich relativ geschlossene Schicht, die von der Genese der Moderne nicht ablösbar ist, hinter sich. Seit Max Weber beschäftigen sich die Soziologie und eine Reihe von historischen und kulturwissenschaftlichen Disziplinen damit, die Genese 193
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der Moderne unter diesem Gesichtspunkt gleichsam auszudeklinieren: mit ihren demokratischen Institutionen in Staat, Recht und Politik, mit ihrer Wirtschaft, ihren Wissenschaften, ihrer Technik und ihren schönen Künsten. Das Bürgertum ist als Akteur von der Bühne der Geschichte abgetreten, doch ohne seine Hinterlassenschaften wäre die Fortexistenz der Bühne als eines Ganzen schwer denkbar. Die dadurch ausgelöste Dynamik weltweiter Diffusion kann hier in ihrer Breiten- und Tiefenwirkung natürlich nicht mit der nötigen Differenzierung weiter verfolgt werden. Hier ist allein der Ausschnitt der genannten Hinterlassenschaften von Interesse, den die bürgerliche Lebensform darstellt, mitsamt den von ihr geprägten Dispositionen in Verhalten und Mentalität. Trotz aller problematischen und ambivalenten Aspekte des Ganzen der bürgerlichern Kultur, die oft genug und zu Recht Gegenstand der Kritik waren, ist schwerlich bestreitbar, dass dem Bürgertum auch in diesem Teil seiner „Hinterlassenschaften“ eine in der Tat weit tragende kulturgeschichtliche Leistung gelang: die Transformation ständisch-hierarchischer Standards des Verhaltens in egalitäre, demokratischen Verhältnissen angemessene, die daraufhin relativ unabhängig von sozialen Schichten, kulturellen Milieus und über nationalkulturelle, ethnisch-kulturelle Grenzen sowie über Grenzen religiös bestimmter Kulturkreise hinweg sich ausbreiten konnten. An dieser Stelle verlangt nun die These von der Affinität bzw. gegenseitigen Stützung von Höflichkeit und Zivilgesellschaft eine Spezifikation im Hinblick auf das „Bürgerliche“ jener Verhaltensstandards. Statt der weit ausholenden Darstellung von Details, die dazu erforderlich wäre, genüge zur Klärung des Gemeinten der Hinweis auf einen Text Georg Simmels, der es gleichsam erschließbar macht: den bereits oben erwähnten Essay über die Geselligkeit (s. Simmel 1999: 103–121). Als „Geselligkeit“ wird hier – im Gegensatz zur Sozialphilosophie, für die das Wort in der Regel das „Soziale“ als Wesensmerkmal des Menschen meint – der Typus häuslicher Zusammentreffen einer locker vernetzten Gruppe von Mittel- und Oberschichtangehörigen verstanden, die auf der Basis gegenseitiger Einladung zustande kommen und für den die deutsche Sprache u.a. den Ausdruck „Abendgesellschaft“ gefunden hat. Simmel intendiert zwar mit diesem Essay keine Soziologie der Höflichkeit, doch enthält er an entscheidender Stelle jene Komponenten der Höflichkeit, die oben als die konstitutiven herausgestellt wurden. Nach Simmel kennzeichnet Geselligkeit, dass die Interaktionsregeln, die eingehalten werden müssen, damit sie gelinge, sich gegenüber den realen Beziehungen außerhalb der geselligen Situation verselbständigen zu einer Form, die er „Spielform der Gesellschaft“ nennt. Ein gegenseitiges, stillschweigendes Einvernehmen über diesen formalen Charakter der Begegnung ist für sie wesentlich. Distanz ist auf zweifache Weise für die Wahrung der geselligkeitsspezifischen Form erforderlich. Zunächst Distanz der beteiligten Personen zu sich selbst: soll die Interaktion gelingen, dürfen sie weder ein Zuviel 194
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an rein Persönlichem, noch ein Zuviel von dem, was sie jeweils sachlich (z.B. aus dem Berufsleben, aus Wissensspezialitäten usw.) „anzubieten“ haben, in die Kommunikation einbringen. Zweitens erfordert die Geselligkeitsregel eine spezifische Distanz der Personen nach außen hin, zu den Interaktionspartnern: den Teilnehmern wird vor allem eine bestimmte Aufmerksamkeit gegenüber den Differenzen auferlegt, die außerhalb der Situation ihre soziale Stellung kennzeichnen. Das „Spiel“ erfordert in dieser Hinsicht eine Balance von Annäherung und Distanzierung, die nur dadurch gelingen kann, dass jene realen Differenzen – gleich ob sie Alter und Geschlecht, Berufe, gesellschaftlichen Status, Interessen und Weltanschauungen betreffen – hier gleichsam ausgeklammert werden. Das Prinzip „Geselligkeit“ beruhe geradezu, so Simmel, auf der Fiktion der Wechselwirkung „unter Gleichen“. Entscheidend ist nun aber, was Simmel an dieser Stelle dem Gedanken unvermittelt hinzufügt. Es ist nichts anderes als die Verknüpfung der Distanzdimension der Höflichkeit mit ihrer moralischen Dimension, der Dimension also der Anerkennung, der Wertschätzung: Geselligkeit, so Simmel, „ist das Spiel, indem man ‚so tut‘, als ob alle gleich wären, und zugleich, als ob man jeden besonders ehrte [Hervorhebung im Orig.]“ (Simmel 1999: 112). Wenn auch die bürgerliche Kultur, der Simmel selbst angehörte, als Ganzes seither vergangen ist: die von ihm hier anhand einer verdichteten Gestalt bürgerlicher Lebenswelt, der „Geselligkeit“, reflektierten Prinzipien höflicher Interaktion wirken bis in die Gegenwart hinein, werden heute weit über alle noch „bürgerlich“ zu nennenden Kreise hinaus befolgt – möglicherweise, weil sich ein Gespür dafür einstellt, dass die angedeutete Kultur der Differenz eine Affinität zu den normativen Kernstrukturen der Zivilgesellschaft besitzt, zu der es keine strukturellen Alternativen gibt. So viel Legitimität innerhalb dieses Wertkontexts dem Wert der Höflichkeit auch zukommt, so skeptisch wird man freilich dessen Realisierungschancen angesichts einer Vielzahl von anders, gegen alles „Zivilgesellschaftliche“ gerichteten politischen Kraftfeldern in der heutigen Welt, aber auch angesichts der erst vor relativ kurzer Zeit in Europa selbst zu Ende gegangenen Epoche totalitärer Regimes einschätzen müssen. Universalgeschichtlich ist – dies wird man wohl nüchtern feststellen müssen – die zivilgesellschaftlich eingebettete Kultur der Differenz in Gestalt der Höflichkeit unwahrscheinlich. Um unter diesem Gesichtspunkt die oben unternommenen Schritte der Argumentation weiter zu verstärken, sei ihnen ein letzter hinzugefügt. Er geht ex negativo vor, knüpft bei der absoluten Negation der hier hervorgehobenen Wertkonstellation an, welche innerhalb der deutschen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts der Nationalsozialismus darstellt. Schon am vergleichsweise schlichtesten Indikator der Verhältnisse lässt sich diese Negation ablesen: am nationalsozialistischen Umgang mit den Sprachformen höflicher Anrede. Während innerhalb der eigenen Systemdo195
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mänen – zwischen den hierarchischen Trägern von Befehl und Gehorsam in Partei und Staat – das „Sie“, aller Höflichkeitskonnotationen entkleidet, reduziert wurde auf reine, autoritäre Funktionalität, machte sich die Alternative, das allgemeine „Du“, nur (und anders als im Sprachgebrauch sozialistischer Parteien) an der Parteibasis breit – mit einer charakteristischen Akzentsetzung auf „Gemeinschaft“, die zum einen die Assoziation mit „Volksgemeinschaft“ wecken, zum anderen den emotionalen, differenzfeindlichen Egalitarismus der NS-Basisgliederungen, ihrer „Bünde“ und „Kameradschaften“ zum Ausdruck bringen und ihn fördern sollte. Am extremen Gegenpol zur Zivilgesellschaft, den das System einrichtete, in den KZs, wurde das „Du“ auf zweifache Weise als ein Instrument eingesetzt, das Anerkennung entzieht und Identität (und damit Würde) vernichtet: sowohl durch die Asymmetrie seines Gebrauchs von „oben“, bei gleichzeitigem Verbot „von unten“, gegenüber den „Herren“, wie andererseits durch den von diesen erzwungenen Gebrauch des „Du“ auf der horizontalen Ebene, unter den Häftlingen.9 In den Berichten Überlebender findet man daher nicht selten die Erinnerung daran, wie wertvoll ihnen nach der Befreiung aus den Lagern auch nur minimale Höflichkeit und ein entsprechender Umgangston erschien (s. z.B. Vermehren 1979: 155). Solche extreme Verneinungen und Verletzungen menschlicher Sozialität, die nach dem hier Ausgeführten zugleich als Negationen der Kultur der Differenz deutbar werden, sind vom politischen System her, das sie vollzog, ohne weiteres evident. Weniger evident, erst an oft schwer zugänglichen und deshalb weniger bekannten Details ablesbar, gleichwohl nicht weniger aufschlussreich für den hier besprochenen Zusammenhang ist diese Negation in den „normalen“, mehr oder weniger „etablierten“ Bezirken der deutschen Gesellschaft der dreißiger Jahre, in deren Mentalität sich das neue Regime gleichsam einzurichten begann. Die Bruchlinie zwischen den „alten“ und den „neuen“ Verhältnissen verläuft in diesen Bereichen nicht zuletzt auch dort, wo sich die bürgerliche Verhaltensregel und der betont antibügerliche „Sitten“-Naturalismus der Nationalsozialisten gegenüberstanden. Ein hervorragendes Zeugnis dazu ist Sebastian Haffners Autobiographie zu entnehmen, die postum, nach dem Fund eines Manuskripts über die Erlebnisse des Autors in einem NS-Schulungslager für Rechtsreferendare (in Jüterborg 1933), neu herausgegeben wurde (s. Haffner 2002: 252–290). Diese Erlebnisse belegen, dass eine der Quellen jenes deutschen „Formunwillens“ und „Formmisstrauens“, auf welches Asserate (2003: 172) hinweist, im sogenannten „Kameradschaftswesen“ liegt, einem Charakteristikum deutscher Männergruppen aus der Zwischenkriegszeit, die durch die NSDAP geschickt als Basiselement für die Mitgliederrekrutierung genutzt wurde. Das nationalsozialistische „Lager“ 9
Er wurde z.B. in Dachau von der SS ausdrücklich mit der Abklassifizierung des „Sie“ als „Höflichkeitsfloskel“ begründet (vgl. Rovan 1992: 52).
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zur „Schulung“ der angehenden Rechtsreferendare in Jüterborg, zu dessen Besuch Haffner sich durch äußeren Druck gezwungen sah, zeigt auf geradezu paradigmatische Weise den in Gemeinschaftsideologie verpackten antizivilisatorischen Affekt der „Kameradschaft“, der sich ungehemmt gegen alles „Bürgerliche“ austobt – eine Differenznegation auf kleinstem Raum, die mit der Zumutung an das Individuum einhergeht, sich zu verleugnen und in der Gruppe aufzugehen, körperlich-gewaltsame Sanktionen gegen Widerstrebende zulässt und dennoch ihren Höhepunkt in exzessiv alkoholisierten Verbrüderungsorgien findet. Höchst aufschlussreich ist, wie Haffner daraufhin den Szenenwechsel bei der Rückkehr in den zivilen Alltag des Referendariats schildert: die „Gemeinschaft“ fällt auseinander, und bei dem schwierigen Verhältnis der jungen Leute zum „Bürgerlichen“ kommt es zu peinlichen Begegnungen, zu Friktionen mit den Regeln der Umgangsformen, so auch mit denen der Höflichkeit. Im Blick zurück auf jene Jahrzehnte mag man versucht sein, erleichtert festzustellen: diese Zeiten sind vorbei – gerade im gegenwärtigen, vereinigten Deutschland, welches nun auch seine zweite Diktatur einer antidemokratischen Parteiideologie hinter sich gelassen hat, liegt eine solche Geschichtswahrnehmung gleichsam auf der Hand. Vor ihr kann aber nur gewarnt werden: rationale Überlegung kann sie nicht stützen. Wie jede Kultur, so ist auch die Kultur der Differenz fragil; auf einen Fortschritt der zivilisierten Umgangsweisen unter Menschen, wie ihn sich Norbert Elias vorgestellt hat, ist nach allem, wie die jüngste Geschichte Europas, aber auch jeder Blick auf die gegenwärtige Weltlage zeigt, kein Verlass. Soll das kostbare öffentliche Gut, das oben unter dem Namen „Zivilgesellschaft“ besprochen wurde, erhalten bleiben, bedarf es des festen Willens, das mit diesem Gesellschaftsideal verbundene Wertbewusstsein aufrechtzuerhalten, im wahrsten Sinne des Wortes zu „kultivieren“, und dies bedeutet vor allem: es erzieherisch wie politisch stetig „umzusetzen“. Es wäre zu diesem Zweck nicht abwegig, dieses Ethos des Bürgerlichen erneut so zu verstehen, wie es bereits eine bedeutsame „alteuropäisch“-humanistische Tradition lange Zeit verstand – im Sinne nämlich des Wertes, der mit dem Begriff der „civilitas humana“ gemeint ist, mit dem Dante den Begriff der Kultur selbst umschrieb, und der mit dem Ideal der Bildung zur Menschlichkeit die Idee der Verpflichtung freier Bürger für ihr Gemeinwesen verknüpft.10
10 S. hierzu u.a. die Interpretation des niederländischen Kulturhistorikers Jan Huizinga (1938).
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Interpreta tion – Lektüre – Inte rk ulturalitä t RAINER KOKEMOHR Interkulturalität gilt als exemplarische Herausforderung des Verstehens. In der jüngeren Diskussion um die Möglichkeit interkulturellen Argumentierens ist ein aussichtsreicher Weg der Überwindung kultureller Heteronomie darin gesehen worden (vgl. Wohlrapp 1998), dass Angehörige verschiedener Kulturen die kulturspezifischen Rahmungen, denen sich ihre Argumente verdanken, so zur Disposition stellen, dass „Entsprechungen“ (ebd.: 286) aufgefunden werden können, von denen aus der „fremde Sinn“ versteh-, weil rekonstruierbar werde. Das schwierige Unterfangen könne gelingen, wenn die je eigene Lebensweise „zur Gänze“ (ebd.: 287) zur Disposition gestellt werde. Auf die Voraussetzung eines jedem Diskurs vorausliegenden Argumentationsrahmens universal- oder transzendentalpragmatischer Art wird in diesem Vorschlag verzichtet. Denn es wird unterstellt, dass das „Fremde“ nur okkasionell vom „Eigenen“ her zugänglich sei (vgl. Wadenfels 1997: 33ff.). Dennoch fragt sich, ob nicht trotz aller Betonung der Widrigkeiten mit der Berufung auf Analogien kulturspezifischer Rahmungen ein bewusstseinsphilosophisches Muster der Aufhebung des Besonderen im Allgemeinen fortgeführt wird. Gestärkt wird der Verdacht durch ein Indiz. Die kulturellen Rahmungen könnten, so wird gesagt, sichtbar werden, wenn die Argumentationspartner „wirklich“ (Wohlrapp 1998: 276) geltungsbezogen argumentieren wollten, statt einem mitgebrachten „Habitus“ unkritisch zu folgen. Gefordert wird also ein Übereinstimmen in der „Wirklichkeit“ intentional-thematischen Bewusstseins. Derrida hat Husserls eidetische und transzendentale Reduktion kritisiert, weil sie, um das Besondere in einem unhintergehbar Allgemeinen zu fundieren, Begriffe verwende, die selbst noch die Spuren ungeprüften Alltagsdenkens in die Reduktion eintragen. Die Entgegensetzung von Interpretation und Lektüre ist ein Moment der Auseinandersetzung mit der philosophischen Moderne. Ich verstehe sie als Appell, dieses Muster aufzubrechen. Ob sie sich 201
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auf andere Kulturen und interkulturelle Praxen beziehen lässt, worin ggf. die Interpretation interkultureller Praxis zu kritisieren und welche Lektürehinsichten im Blick auf Interkulturalität zu entwickeln wären, zu dieser Frage möchte ich mit dem folgenden Versuch beitragen, in dem ich eigene Interpretationsund Lektüreerfahrungen mit einem Bamiléké-Freund in Kamerun anspreche: ein Versuch, der die Grenze der Scheu überschreitet, derer er bedarf. Denn was wären angemessene Lektürehinsichten auf einen zum Freund gewordenen Angehörigen einer Ethnie, die nicht die meine ist? Doch stumme Scheu ist leer. Es bleibt nur die Artikulation. Mein Versuch ist ausgelöst durch eine mich überraschende Situation zwar nicht interkulturellen Argumentierens, wohl aber interkultureller Bezugnahme, eine Erfahrung, die mich, ausgehend von meiner vorgängigen Interpretation, in eine Lektüre des „Sinnaufbruchs“ führt. Interkulturalität erscheint mir als eine textuelle Praxis, die durch Interpretation nicht eingeholt wird und methodisch auf Lektüre verweist. Interpretation fasse ich dabei, in Anlehnung an Husserls Unterscheidung von prädikativem Urteil und vorprädikativer Sphäre, als ein Verstehen auf, das sich letztlich an der Klarheit prädikativen Urteilens bemisst, Typisches herausstellt und ähnlich wie die zitierte Argumentationstheorie die Frage nach der Aufhebung des Besonderen im Allgemeinen auf sich zieht, – Lektüre dagegen als einen Prozess, der sich auch jenen Bewegungen im vorprädikativen Horizont aussetzt, die meine prädikative Typisierung zersetzen. Wenn diese Unterscheidung trägt, kann Interkulturalität als ein Lektüre-Projekt gelten, das sich in der Spannung von vorprädikativer und prädikativer Sphäre vollzieht und prädikativ typisierende Systeme aufbricht. Dies versuche ich sichtbar zu machen, indem ich zunächst (1) meine – in einem früheren Text vollzogene – typisierende Interpretation von Gesprächssequenzen mit dem Bamiléké-Freund wiedergebe, sie dann (2) einer Lektüre des Sinnaufbruchs aussetze und (3) ein Moment des angedeuteten Interkulturalitätsbegriffs benenne. Der in dieser Folge abgebildete Gang ist der Abriss eines sich lange hinziehenden Prozesses, dessen Wende, durch Krisen vorbereitet, in der Nachwirkung jener eben angedeuteten Erfahrungssituation ausgelöst wurde, die ich vorausgehend schildere (01), zwischen nachgezeichneter Interpretation (1) und zu unternehmender Lektüre (2) erinnere (02) und schließlich als Ort unhintergehbarer Verfehlung begreife (0...n).
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01 Die Situation des degré zéro Das Erzittern der Interpretation in der Stille des Mittags
Nietzsches Zarathustra, Figur einer textuellen Bewegung permanent reinszenierten Selbstaufbruchs (Klass, Kokemohr 1998), verhält im „grossen Mittag“,1 Metapher eines degré zéro der Leere und Unentschiedenheit seiner Sinnfiguren, des Umbruchs. Ähnlich eingestellt in einen Mittag sah ich mich während eines unvorhergesehenen Aufenthaltes in Afrika, von dem als Ereignisort der Lektüre jenseits typisierender Interpretation zu berichten ist. Eines Konfliktes wegen hielt ich mich für wenige Tage in Kamerun auf, am Ort eines verheißungsvollen, jetzt aber streitbedrohten Projektes, das einer ganzen zukünftigen Bildungsreform Kontur und Hoffnung geben soll. Der vereinbarte Ausgleich von Anspruch und Macht, von lokaler Initiative und zentraler Verwaltung war gestört. Das Feld der Bedeutungen, zugeschriebener, imaginierter oder symbolisch-realer, öffnete sich. Es erhielt eine Tiefe, in der Erinnerungen aufgerufen wurden, die weit über die Schwelle der aktuellen Situation hinauswiesen. Dieses Feld musste betreten, Deutungen und Umdeutungen mussten aufgenommen werden. Eingespannt in die Woche des Bedeutungskampfes war ein freier Tag, in der Stille allseits zitternder Bedeutungen freigestellt von angestrengten Diskursen: der Leib durfte sich erholen. Im Mittag jenes Tages – ein Nietzschescher Mittag, die Sonne unentschieden im tropischen Zenith, der Harmattan im Stillstand seines Aufbruchs – finde ich mich auf dem Höhenpfad oberhalb eines kleinen Tals: jenseits die concession, das Anwesen des Freundes François – ohne eines Menschen Regung, still im schattenlos gleißenden Licht. Keines der zahlreichen Kinder, keine seiner Frauen, kein François, polygamer chef de famille, ist sichtbar: ein Bild stumm abwesender Anwesenheit, das ich still wahrzunehmen hatte. In dieser Szene überfiel mich die Erinnerung an die Interpretation, die mich an François bindet. Wer ist François, wer bin ich? Jetzt, wenn ich das Bild erinnere, versuche ich, jene kristallinen Interpretamente neu zu lesen. Vom erinnerten Ereignis des Höhenweges aus vergegenwärtige ich die Interpretation, präsentiere ich deren vormals so selbstbewusst geglaubte Bahnungen, die sie meinem Gedächtnis eingeprägt hatten.
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Nietzsche in einem Brief an Carl von Gerstorff: „In einem bedeutenden Sinn steht mein Leben gerade im vollen Mittag: eine Thür schließt sich, eine andere tut sich auf“ (Nietzsche 1993: 214).
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1. Interpretation Das Interpretandum François hatte ich vor einigen Jahren kennen gelernt, weil eines seiner Kinder, Rémi, unehelicher Sohn seiner dritten Frau, sich weigerte, mit Erwachsenen zu sprechen. Seine Stummheit war Anlass zu vielfältiger Sorge. Außerhalb der Hütte, draußen „im Busch“ schlafend, den Giftschlangen und den nächtens wiederkehrenden Ahnen ausgesetzt, entzog er sich den diskursiven Formationen der Erwachsenen, die ihn, den Imperativen der Tradition verpflichtet, in die Gruppe ein- und sein ihnen Fremdes auszuschließen suchten. In einem Gespräch über die Probleme des Rémi hatten sein Lehrer und ich mit der Familie in einer Runde im Hause des François zusammengesessen. Nachdem Rémis Mutter geschildert hatte, wie Rémi sich den familiären Anordnungen entziehe, unerlaubt die concession verlasse oder im Freien übernachte, griff François, der Familienchef, in das Gespräch ein. Ein Freund, bougrement intelligent, in unmittelbarer Nachbarschaft lebend, bringe Rémi vom rechten Wege ab. Doch Erziehung, so François weiter, müsse die nachwachsende Generation auf den traditionell vorgezeichneten Weg führen, der das gute Zusammenleben der Gruppe sichere.
Die Interpretation Im Transkript dieser Rede hatte ich (1999b) zunächst einen streng normativen Diskurs ausgemacht, den François führe, um Rémi auf ein Verhalten zu verpflichten, das, den traditionell vorgebenenen Habitus einfordernd, diesem keinen Raum für die sprachliche Artikulation solcher Erfahrungen lasse, die sich den tradierten Normen sperren. Der Austausch mit Kameruner Freunden hatte weiterhin zu der Interpretation geführt, dass in François’ Diskurs die Manifestation einer Mythologie zu sehen sei, die das menschliche Leben in den Kreis von Leben und Tod einspanne, derart, dass das soziale Leben auf die jenseitigen Einflüsse der Ahnen bezogen sei und dass in der Erziehung alles darauf ankomme, die rechten Bahnen jenes Kreislaufs nicht zu verfehlen, deren Befolgung über Schicksal und Wehe der aus dem Jenseits wirkenden Ahnenkräfte entscheide. Wenn François sage, que Rémi bifurque, dass er, fehlgeleitet vom bösen Freund, vom rechten Wege abweiche, setze er, François, alle Hoffnung darauf, dass die nouvelle pédagogie Rémi auf den rechten Weg zurückbringe. Verfehlung der Ordnung sei seine Sorge. In diesem Diskurs, von François in nachfolgenden Gesprächen wortgetreu wiederholt, hatte ich nicht nur die Bindung an traditionelle Normen, sondern auch Indizien des Umbruchs vermutet, der die kamerunische Gegenwartsgesellschaft bestimmt. In der Berufung auf die „neue Pädagogik“ versuche sein 204
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Diskurs, eine Traditionsstruktur zu restituieren, indem er, „die“ Pädagogik „aus dem Norden“ auf seine Weise verstehend, diese als autoritative Instanz in Anspruch nehme, wo tradierte Autorität gebrochen sei. Damit sei eine normative Kommunikationsdominanz zur Geltung gebracht und die Berufung auf die „neue Pädagogik“ ins Register traditioneller Sozialisation eingeschrieben, Konflikt und Verfehlung aus dem Diskurs ausgeschlossen, ins Feld des Ungesagten abgedrängt. Tendenziell notwendige Entwicklungen seien verhindert, die nachfolgende Generation mit ihren schwierigen Erfahrungen aus dem sozialen Kosmos exkommuniziert. In der Rigidität des normativen Diskurses verfestige sich der Ausschluss, den zu überwinden er vorgeblich geführt werde. Bildungsprozesse, unabdingbare Notwendigkeit sozialer Veränderungen, seien blockiert, das Drama vorhersehbar, das die Individuen von der gesellschaftlichen Realität abkoppele. Die diskursive Ausschließung bleibe François verborgen, weil er selbst sich in diesem Diskurs als normativ geschlossene Instanz artikuliere. Ihm selbst gelinge nicht, Erzählungen unerhörter Vorkommnisse in den normativen Diskurs zu integrieren. Dass der Adoptivsohn sich seiner pädagogischen Zudringlichkeit widersetze, evoziere stattdessen das Angstbild eines fou als eines gegenwärtigen und doch ungreifbaren Anderen, das den sozialen Kosmos bedrohe. Nach möglichen Gründen eines Fehlverhaltens frage François nicht. Die Innenwelt des Rémi bleibe für ihn opak, sein Diskurs stumm. Mit dieser Kritik hatte meine Interpretation François’ Diskurs auf die angenommene Folie seiner Tradition projiziert. Sie verstand sich als Restitution eines So-war-es, die mitgeführte Kritik der Verfehlung als Ausdruck eines So-müsste-es-heute-sein, wenn neue Erfahrungen der Artikulation und Bearbeitung zugänglich sein sollten. Zwar war das Bild nicht einschichtig geblieben. Ich hatte in der Interpretation gesehen, dass François’ Erwähnung der folie, deren Formulierung syntaktisch das Gefüge seines Diskurses verletze, etwas von jener Unruhe verrate, die sein normativer Diskurs zu bezwingen suche. Aber Modalprozesse, Ausdruck eines Denkens von Möglichkeiten, Beunruhigendes dem Diskurs zugänglich zu machen, seien nicht erkennbar. So bestätige sich in der syntaktischen Verletzung die Rechtmäßigkeit der Interpretation: es handelt sich um ein Problem der Subjektkonstitution im schwierigen sozialen Feld. Aber François, gebunden durch die Wirklichkeit seiner Tradition, verfehlt die Verstehensmöglichkeiten, derer Rémi bedarf, um heute zu leben.
Die Analyse Bestätigt werde die Interpretation durch François’ Umgang mit den Kategorien des Wirklichen: Der ältere Bruder sei während des Bürgerkriegs 1958 verschleppt und umgebracht, sein Leichnam nie gefunden worden. In Kennt205
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nis dieser Geschichte hatte ich François gefragt, ob der Bruder, hätte er noch gelebt, als Erstgeborener successeur, der dem Vater nachfolgende Familienchef hätte sein und seine, François’ Stelle als chef de famille hätte einnehmen müssen. François antwortet: Je ne sais pas, hein, • • parce que • • les affaires de • •, non, s’il était là, il ne pou-vait pas, parce que le grand-frère • c’était comme l’ami de papa. ... Le premier, le premier fils! ... A l’âge où papa est mort il devait être • plutôt •, euh, c’est son ami ... c’est son ami.
Zum Verständnis seines Hinweises auf die Freundschaft zwischen Vater und ältestem Sohn war darauf zu verweisen, dass der älteste Sohn als der Freund des Vaters gilt, der nach dessen Tod über die korrekte Einhaltung des succession-Rituals wacht und eben deshalb nicht selbst der successeur werden kann. So verstanden sei die eben zitierte Äußerung des François also unauffällig. Als nicht selbstverständlich erweise sich dagegen die Syntax der FrançoisÄußerung, in der sich der Umgang mit den Kategorien des Wirklichen, des Möglichen und des Unmöglichen manifestiere: Notre/mon grand-frère... (-) s’il était là, il ne pouvait pas...
Der Satz falle auf, weil die beiden Teilsätze in einem syntaktischen Missverhältnis stehen. Es heiße nicht: „... s’il était là, il ne pourrait pas“ oder: „... s’il avait été là, il n’aurait pas pu ...“, sondern: „... s’il était là, il ne pouvait pas ....“ Zu erwarten sei die Formulierung des Nachsatzes, der Apodosis, im Irrealis gewesen, in der negierten Möglichkeitsform. Der Satz thematisiere ein Spannungsverhältnis zwischen einer imaginierten Situation und einem möglichen bzw. nicht möglichen, weil durch andere Bedingungen verhinderten, Weltzustand. Da die Prüfung ergeben habe, dass triviale Gründe wie mangelnde Sprachbeherrschung des Französischen oder eine Übertragung aus der Muttersprache die Beobachtung nicht erklären könnten, sei aussichtsreicher, das Verhältnis der Teilsätze als Anakoluth2 zueinander zu verstehen: „... S’il était là (non, il n’était pas là, on ne peut pas/on n’a pas le droit d’imaginer cette situation) .../... il ne pouvait pas....“ Zwischen Protasis und Apodosis sei ein nicht artikulierter Widerruf der in der Protasis imaginierten Situation anzunehmen.3
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In dem genannten Text habe ich noch von einer Ellipse gesprochen. Gemeint ist jedoch ein Satzbruch, der richtiger als Anakoluth zu bezeichnen ist. Mit dieser Analyse habe ich mich u.a. auf Oswald Ducrot (1972: 168) bezogen, der die primäre Leistung eines derartigen si-Satzes darin sieht, dem Hörer die Imagination einer Situation abzuverlangen, ohne welche der nachfolgende Satz, die Apodosis, nicht verständlich wäre.
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Dies lasse sich auch so formulieren, dass sich in der normativen Überbestimmtheit des François-Diskurses der Umstand manifestiere, dass die Differenz zwischen der Subjektkonstitution und dem sozialen Wandel, zwischen dem symbolisch artikulierten Subjekt und dem Realen seines Lebens dort nicht ausgetragen werde, wo Imperative der Tradition dem entgegenstehen. So bleibe dem Diskurs das operative Potential entzogen, das in der Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit zu mobilisieren sei. Diese Blockade finde sich in der Form des Widerrufs des Irrealis immer dort, wo vom toten Bruder, von Trennung und von abwesender Anwesenheit die Rede ist. Die indikativische Redeform trete genau dort auf, wo die Logik des si-Satzes die denkmögliche Gegenwart des toten Bruders evoziere. So scheine im Indikativ die Imagination widerrufen zu werden, der tote Bruder könnte anwesend sein. Im Blick auf ihn scheine das Möglichkeitsdenken des François blockiert. Diese Analyse hatte ich auf die Interpretation hin zu konkretisieren versucht, dass die Blockade in der traumatischen Besetzung der Imagination motiviert sei, die sich dem mythologischen Kosmos der Bamiléké-Gesellschaft einschreibe. Zur Stützung dieser Interpretation hatte ich auf das besondere Verhältnis der Bamiléké zu ihren Toten verwiesen. In ihrer Glaubenswelt seien die Toten Teil des sozialen Lebens, deren Schädel – prägnante Signifikanten ihrer abwesenden Anwesenheit – nach einigen Jahren dem Grab entnommen und innerhalb des Hauses des Familienchefs oder in einer eigenen Schädelstätte bestattet werden. Die Ahnen seien abwesend anwesende Diskurspartner, die der Familienchef nicht verfehlen dürfe und mit denen er in allen wichtigen Familienangelegenheiten kommunizieren müsse. Wenn aber die Schädelstätte als Ort symbolischer Anwesenheit Bedingung eines Gesprächs in gemeinsamer Ordnung sei und wenn, wie im Falle des verschleppten Bruders, der Tote nicht gefunden werde, sein Schädel, der Signifikant des sprechenden Anderen, also nicht da4 sei, dann gebe es keinen Ort, an dem, keine Ordnung, in der mit dem Toten zu kommunizieren sei. Der Tote verbleibe in einer abwesend anwesenden Allpräsenz, die sich symbolischer Signifikanz entziehe. Er bleibe am Ort eines Anderen, das in den Bahnungen des Ahnenmythos nicht zu artikulieren sei und dem gegenüber der Lebende sich nicht artikulieren könne.5 So verstanden erscheine François’ syntaktische Widerru-
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Vgl. das symbolisch repräsentierende „Da“, das Freud im berühmten Fort-DaSpiel wahrnimmt (vgl. Freud 1920: 224ff.); vgl. auch die Lektüre Lacans zu Freuds Begriff der Vorstellungsrepräsentanz (1987: 66). Dies ist eine typische ethnologische Interpretationsfigur, vgl. etwa C.-H. Pradelles de Latour (1997): Aus der Metaposition des Interpreten wird gesagt, was innerhalb der Kultur nicht gesagt werden kann. Man beansprucht also, das Ganze einer Kultur artikulieren zu können. Die eigene Metaposition wird dabei unausgesprochen als eine ausgegeben, die die Blicktrübungen des interpretierten
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fung des Denkmöglichen als Ausdruck der kommunikativ, d.h. im symbolischen Traditionsregister der Bamiléké-Gesellschaft nicht zugänglichen AllGegenwart des toten Bruders.
Interpretation als prädikatives Urteil Meine am genannten Ort entwickelte Interpretation sieht in François den Typus eines Mannes, dem, eingebunden in die Imperative einer normativ verfestigten Tradition, der Zugang zu Modalprozessen versperrt ist, die erlauben könnten, Spielräume des Denkens zu eröffnen, und artikulieren ließen, was aus dem Kosmos der Tradition ausgesperrt ist. „Tradition“ wird in diesem Urteil zur Chiffre eines symbolischen Systems, das sich gegen den Einbruch der westlichen Moderne abzuschließen sucht. Zwar enthält das Urteil die Modifikation, dass jener Einbruch sich als Riss im Sprachgebrauch des François bezeugt. Doch noch den Riss wertet die Interpretation als Bestätigung des Urteils, François sei gekettet an einen Verlust und verdammt zu ewiger Melancholie. Edmund Husserl unterscheidet in seinen Untersuchungen zur formalen und transzendentalen Logik zwischen vorprädikativer Sphäre und prädikativem Urteil. Im prädikativen Urteil sieht er das Ziel eines Erkenntnisstrebens, das in der Erkenntnishandlung aufsteigend erreicht werde (vgl. Husserl 1964: 236). Entscheidend sei, dass die Erkenntnishandlung, im Zusammenhang von Sprechen und prädikativem Denken vollzogen (ebd.: 234), seine epistemologische Qualität darin habe, „Erzeugnis des Ich, ... durch sein erkennendes Handeln von ihm aus erzeugte Erkenntnis“ (ebd.: 237)6 zu sein. Die Dignität des prädikativen Urteils erweise sich in der Möglichkeit, darauf zurückzukommen und es als dasselbe zu reproduzieren. „Solche Reproduktionen sind dann mehr als eine bloße Erinnerung an eine frühere Anschauung. Wir kommen auf das Reproduzierte zurück als auf unseren tätig aus einem Erwerbswillen erzeugten Erwerb. Als das ist es intentional charakterisiert. Es ist anders reproduziert als in einer bloßen Erinnerung: eine Willensmodifikation ist dabei, wie bei jedem Erwerb. Diese gibt ihm den Charakter des nicht nur früher willensmäßig Erfaßten, sondern des noch fortgeltenden Erwerbs, den wir noch im Willen halten, den Willen jetzt nicht einfach wiederholend, sondern in reproduzierter Form „noch“ wollend: Ich, das jetzige Ich, als das in besonderem Modus der Gegenwart zugehörig, bin noch wollend; darin liegt beschlossen, ich bin mit dem vergangenen Willen einverstanden, mitwollend, ihn als jetziges, jetzt wollendes Ich in Mitgeltung haltend. So ist, was einmal in seiner Wahrheit, als „es selbst“ in prädika-
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Sprachspiels durchschaut. Natürlich entsteht dabei die Frage, wie man solche Trübung überwinden kann. Vgl. zur Kritik Sperber (1989: 62ff.). Hervorhebung durch Husserl.
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tivem Urteilen ergriffen wurde, nun ein dauernder Besitz, als das immer wieder verfügbar, indem es, in einem wiederholenden Prozeß wieder erfaßt, reproduziert werden kann.“ (Ebd.: 237f.)
Die Macht des prädikativen Urteils resultiere nicht in passiver Affektion des Erkenntnissubjekts durch den Gegenstand. Sie verdanke sich vielmehr dessen aktiver Erkenntnishandlung. Dieser bestehe in einem intentionalen Akt, sei also thematisch auf etwas gerichtet und halte dieses als ein jederzeit Reproduzierbares in Geltung. Hervorzuheben ist in meinem Zusammenhang, dass Husserl das prädikative Urteil durch das Signum der Verfügbarkeit auszeichnet. In zwei Momenten sieht er die Verfügbarkeit begründet. Das prädikative Urteil sei unabhängig vom empirischen Schicksal des Erkenntnisgegenstandes, da, im intentionalen Urteilsakt des „fortgeltenden Erwerbs“ begründet, „Wahrheit“ als „Besitz“ formuliert werde, der den Moment seiner primordialen Artikulation überdauere und „immer wieder verfügbar“ sei. Dies lässt sich auch so formulieren, dass das prädikative Urteil einen Typus artikuliert, für dessen Geltung nicht entscheidend ist, ob ihm sein empirisches Pendant nur im Augenblick der Erkenntnisgenese, ob es ihm andauernd oder ob es ihm nicht entspricht. Die Formulierung eines Typus’ nehme zwar ihren Ausgang von einem ihm vorgegebenen Gegenstand, bewähre sich aber in der fortdauernden Reproduktion des Welt- und Selbstverhältnisses des selbstreferentiellen Erkenntnissubjekts. Die typologische Kraft des prädikativen Urteils, dies das zweite Moment, sieht Husserl in der Intentionalität des Ich begründet. Er besteht darauf, Intentionalität nicht psychologisch zu denken (vgl. Husserl 1963: 10f., 64f.). Sie sei vielmehr die Qualität des unhintergehbaren Erkenntnisaktes, eines Aktes, der thematisch auf etwas als etwas gerichtet sei und ohne ein Woraufhin seiner Ausrichtung nicht gedacht werden könne. Husserls epistemologische Strategie gilt der Absicht, das prädikative Urteil als eine Artikulationsform auszuweisen, die unter bestimmten Bedingungen von den lebensweltlichen Trübungen frei sei. Seine volle Geltung erreiche es kraft der „eidetischen“ und „transzendentalen Reduktion“, wie Husserl in den „Ideen“ (Husserl 1976: 65ff.) entwickelt. Vorgeprägt erscheinen diese Bedingungen schon in der Begründung der Typik im intentionalen Akt. Denn die Unhintergehbarkeit des intentionalen Aktes heißt nichts anderes als seine Selbstabschließung gegen das, was ihm vom Wahrnehmungsobjekt oder von den Trübungen der Urteilsherkunft im Subjekt her widersprechen könnte. Derrida greift diese Problematik dogmatischer Selbstabschließung des Urteils auf und an (vgl. Höflinger 1995: 15ff.). Vermittelt durch E. Finks Begriff der operativen Verschattung setzt er sich damit auseinander, dass Husserls 209
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Reflexionen von einer Sprache zehren, die die Hypotheken ihrer Geschichte „verschattend“ in die Reflexion einträgt. Der schöne Finksche Begriff der operativen Verschattung besagt, dass sich die Reflexion operativer Begriffe bedient, die zwar etwas zu denken, aber nicht sich selbst zu bedenken erlauben. So bleibt Fink zufolge „operativ“, also durch die Begriffe selbst, „verschattet“, dass der vermeintlich transzendentale Diskurs unvermeidlich mundan getrübt ist. Dieses Dilemma kann offensichtlich nicht dadurch überwunden werden, dass man „hinter“ die operativen Begriffe zurückgeht. Denn dies erforderte neue operative Begriffe, die das Dilemma auf anderer Ebene erneuern und in einen unendlichen Regress führen müssten. Ein erster Schritt muss nach Derrida dagegen darin bestehen, die operative Begrifflichkeit zu identifizieren, die einem Diskurs zugrunde liegt und ihm den Schein der Selbstabschließung gibt. Welche operativ verschattende Begrifflichkeit liegt meiner Interpretation des François-Diskurses zugrunde? Ich schreibe François einen traditionsbestimmten Kosmos als den Typus eines prädikativen Systems zu, das bestimmte Kategorien des Welt- und Selbstverhaltens bereitstelle, die ihn zu einer sozialen Ordnung (vgl. Wadenfels 1997: 33ff.) machen. Das prädikative System formiere ein Welt- und Selbstverhalten, das sich in Diskursen artikuliere, die gemäß den gewählten Kategorien etwas als sagbar ein- und anderes als nicht sagbar ausschließen. So sei etwa die Kategorie der Narration im diskursiven Kosmos des François abgedrängt und dort, wo sie durch das Bürgerkriegstrauma berührt werde, zur Blockade modalisierender7 Diskursfiguren ausgeweitet, derart, dass das Erkenntnissubjekt François im einmal eingespielten Welt- und Selbstverhältnis gebunden bleibe. Zwar berühre François’ Diskurs im Moment des syntaktischen Bruchs die Schwelle zwischen dem, was in den Figuren dieses Diskurses artikulierbar, und dem, was nicht artikulierbar sei. Doch meine Interpretation nimmt den Riss noch als bestätigende Kehrseite des prädikativen Urteils, indem sie den Typus des „François“-Diskurses von der Folie seines Mangels abzuheben sucht und den Traditionskosmos als die bindende Ordnung eines vormodernen Diskurses versteht, der, sich selbst undurchsichtig, die Stimme sei, die, im Licht der Moderne aufzuklären, deren Diskurs ex negativo bestätige. Der besondere „François“ scheint aufgehoben im Allgemeinen der Aufklärung. Meine Interpretation sieht François also als Typus, der operativ konstituiert ist durch den Begriff der Bindung. Bindung innerhalb des Traditionskosmos und verwandte Begriffe wie Traditionsstruktur, symbolisches System, Normativität des Diskurses, Imperativ der Tradition, Bahnungen des Ahnenmythos, Blockade des Möglichkeitsdenkens machen das operativ verschatten7
Zum Begriff der Modalisierung vgl. Husserl (1964: 93ff.).
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de Begriffsnetz aus, das meine Interpretation lenkt. Diese Begrifflichkeit erlaubt, den Typus des „François“-Diskurses kontrastiv auf den Typus „Diskurs der Moderne“ zu beziehen. Operativ verschattet wird in dieser Interpretation, dass beide Diskurstypen Produkte intentionaler Interpretationsakte sind, die kraft der Selbstverschattung dazu tendieren, sich gegen widerstreitende Wahrnehmungen abzuschließen. Sagbar ist im Rahmen der Bindungsbegrifflichkeit der idealisierte Typus eines durch Tradition gebundenen Mannes. Aus der Sagbarkeit ausgeschlossen wird aber Wahrnehmbares in der Erscheinung des François, das dem Typus widerspricht, wie auch Wahrnehmbares, das die operative Begrifflichkeit selbst bedenklich machen kann. So ist meine Interpretation von der Tendenz beherrscht, sich zwecks prädikativer Überzeugungskraft gegen ein Aufbrechen der typisierenden Grundfigur abzuschließen.
02 „François“, mein typisiertes Bild eines traditionsgebundenen Bamiléké, bedrängt vom Trauma des Bürgerkriegs, erzitterte in der Stille des unentschiedenenen Mittags.
2. Lektüre Der Aufbruch der vorprädikativen Sphäre Der nachträglichen Artikulation erscheint die Stille jenes Mittags als die Erholung des Leibes in der Woche eines angespannten Kampfes der Interpretationen. Es war nicht Zufall, dass die prädikative Souveränität, mit der ich François’ Diskurs und die ihm zugeschriebene Traditionsordnung am normativen Leitfaden der Moderne interpretiert hatte, in der Erinnerung des Mittags aufbrach. Im Erzittern der Stille, als Augenblick der Unentschiedenheit nicht artikulierbar, erzitterte auch die Selbstgewissheit meines Interpretensubjekts. Das Schweigen verschaffte dem Erzittern Geltung, es brach das prädikative System meiner Interpretation, es brach seine vorprädikative Sphäre auf. Ich fand mich auf jener Schwelle, die das prädikative Urteil von der vorprädikativen Sphäre scheidet. Mein Welt- und Selbstverhältnis, im Kampf der Interpretationen zuvor mühsam bewahrt, brach auf.
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Vorprädikative Sphäre und prädikatives Urteil, Interpretation und Lektüre Husserl betont, dass das prädikative Urteil aus vorprädikativer Sphäre aufsteigt. Jedes Urteil setze die „Horizontstruktur der Erfahrung“ (vgl. Husserl 1964: 27),8 jeder Erkenntnisakt setze „Welt“ als den „universalen Glaubensboden“ (vgl. ebd.: 23) voraus, der als vermeinter einem jeden Erkenntnisakt vorgegeben sei. Wenn Husserl nachdrücklich die vorprädikative Herkunft des prädikativen Urteils betont, dann scheint seine Reflexion der Kritik Derridas den Boden zu entziehen. Vor jedem Einsatz einer Erkenntnistätigkeit sind schon immer Gegenstände für uns da, in schlichter Gewißheit vorgegeben. Jeder Anfang des erkennenden Tuns setzt sie schon voraus. Sie sind für uns da, in schlichter Gewißheit vorgegeben. Jeder Anfang des erkennenden Tuns setzt sie schon voraus. Sie sind für uns da in schlichter Gewißheit, das heißt als vermeintlich seiend und so seiend, als uns vor der Erkenntnis schon geltende, und das in verschiedener Weise. So sind sie als schlicht vorgegebene Ansatz und Anreiz für die Erkenntnisbetätigung, in der sie Form und Rechtscharakter erhalten, zum durchgehenden Kern von Erkenntnisleistungen werden, deren Ziel heißt „wahrhaft seiender Gegenstand“, Gegenstand, wie er in Wahrheit ist. Vor dem Einsatz der Erkenntnisbewegung haben wir „vermeinte Gegenstände“, schlicht in Glaubensgewißheit vermeint; solange bis der weitere Verlauf der Erfahrung oder die kritische Tätigkeit des Erkennens diese Glaubensgewißheit erschüttert, sie in „nicht so, sondern anders“, in „vermutlich so“ usw. modifiziert, oder auch den vermeinten Gegenstand als „wirklich so seiend“ und „wahrhaft seiend“ in seiner Gewißheit bestätigt (Husserl 1963: 23f.).
Husserl sieht, dass der im intentionalen Akt konstituierte Typus sich der lebensweltlich vorprädikativen Gewissheit als des Horizontes verdankt, in dem jede prädikative Erkenntnistätigkeit ihren Ort habe. Vier Momente lassen sich hervorheben, die die intentionale Konstruktion des Typus ermöglichen. Vorprädikative Gewissheit sei ein Effekt der Präsupposition, ein Urteil „immer wieder“ vollziehen zu können. Vorprädikative Gewissheit fundiere zwar jeden prädikativen Erkenntnisakt, als Effekt der Präsupposition sei sie aber anfällig gegen störende Erfahrungen. Während das prädikative Urteil seine Kraft aus der grundsätzlichen Reproduzierbarkeit innerhalb des kategorialen Rahmens gewinne, der vorprädikativ verfügbar sei, gehe die vorprädikative Gewissheit einher mit der „mitbewussten flüssigen Variabilität, im Bewusstsein Varianten fixieren zu können“ (ebd.: 31). Verallgemeinert bedeute dies zugleich, dass jede Erfahrung immer schon über sich hinausweist und potentiell mehr ins Bewusstsein treten lässt, als ak8
Vgl. dazu auch Husserl (1963: 82f.).
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tuell gegeben ist. Dies gelte nicht nur für den „Welthorizont“, innerhalb dessen ein Reales gegeben sei, sondern ebenso für den „Innenhorizont“ seiner möglichen Auslegungen (vgl. ebd.: 30). Husserl verweist hier auf eine doppelte Bedingtheit. Der ins Bewusstsein tretende Erfahrungsgegenstand stehe einerseits immer in einem Kontext, etwa neben oder vor anderem, das potentiell jederzeit ins Bewusstsein treten könne. Andererseits enthalte der vorprädikative Erfahrungshorizont selbst stets die Möglichkeit, dass es auch anders sein könne, so dass die vorprädikative Sphäre der Raum sei, in dem der Zweifel Modalprozesse aufrufe, die zu Modifikationen prädikativer Urteile führen können. Drittens deutet Husserl an, dass die grundsätzlich immer mögliche Erschütterung vorprädikativer Gewissheit dadurch verhindert werden könne, dass der Zweifel in Figuren abgeschnitten werde, die ihn für unbedeutend erklären: „es (sc. des Fragens) ist genug“ (vgl. ebd.: 27). Dieser Hinweis deutet an, dass ein Zweifel durch Redefiguren abgebrochen werden kann, die, im symbolisch-kulturellen Register bereitliegend, das Fragen ausdrücklich still stellen oder es im Dunkel diskursiver Gleichgültigkeit untergehen lassen. Schließlich ist die vorprädikative Sphäre für Husserl kein Raum, der dem prädikativen Urteil genetisch vorausginge, derart, dass gleichsam aus ihm das prädikative Urteil aufstiege. Vielmehr gehören für ihn vorprädikative Sphäre und prädikatives Urteil in dem Sinne systematisch zusammen, dass beide gleichursprünglich sind und dass die vorprädikative Sphäre das, was sie ist, nur in Beziehung auf das prädikative Urteil ist und umgekehrt. In den genannten Momenten scheint Husserls Strategie der Derridaschen Kritik an dogmatischer Selbstabschließung zu widerstehen. Doch es bleibt für Derrida der Einwand, der sich aus Husserls Absicht ergibt. Husserl thematisiert die vorprädikative Sphäre, um sie zu transzendieren und das prädikative Urteil von ihren Schlacken zu befreien. Dieser Versuch muss, so Derrida, misslingen, da keine wie immer gewählte Begrifflichkeit die mit ihr verbundene operative Verschattung zu bedenken erlaube noch dem infiniten Regress entgehen könne, in den das Überschreiten prädikativer Systeme in transzendentaler Absicht führe. Deshalb kehrt Derrida die Husserlsche Strategie um. Statt das prädikative Urteil von den Einflüssen seiner vorprädikativen Herkunft zu befreien, versucht er, die operativen Verschattungen durch sie angreifende Lektürehinsichten aufzubrechen. Statt jene Verschattungen reflektierend aufzuheben, setzt er sie in Spannung mit Lektürehinsichten, die, andere operative Verschattungen zeugend, den operativ konstituierten Sinn aufbrechen.9 Im Anschluss an diese Husserl-Kritik Derridas fasse ich Interpretation als einen tendenziell dogmatischen Diskurs auf, der seine Voraussetzungen ope9
Derrida spricht von der „diffraction du sens“, vgl. Höfliger (1995: 26).
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rativ verschattet. Lektüre verstehe ich dagegen als einen Diskurs, der im kritischen Spiel verschiedener Hinsichten operative Verschattungen aufbricht. So verstandene Interpretation konstituiert sich als ein konsistenter Aussagezusammenhang, so verstandene Lektüre verwirklicht sich im Widerstreit der Lektüren bzw. Lektürehinsichten. Wie schon angedeutet, soll Lektüre verschatteten Sinn zugleich „von außen“, in der Objektwahrnehmung, und „von innen“, in Lektürehinsichten, aufbrechen. In der Lektüre des François-Diskurses stellt sich der Sinnaufbruch zunächst in der Objektwahrnehmung ein.
Lektüre als Sinnaufbruch in der Objektwahrnehmung Das Verhältnis zu François hatte sich zu einem vertrauensvollen Verhältnis entwickelt, als er mir eines Tages ein stark verblichenes und von Kratzern beschädigtes Foto zeigte und mich um seine Retuschierung bat.
Abbildung 1 Die Computerreproduktion des Fotos zeigt den später verschleppten und umgebrachten Bruder mit seiner kleinen Tochter, stehend vor dem Prospekt des 214
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Fotografen. Der fotogerecht gut gekleidete Bruder besetzt das Zentrum des Bildes, die kleine Tochter die rechte Bildhälfte. Beide stehen europäisch gekleidet vor dem Fotografenprospekt außerhalb ihrer traditionellen Situation. Dieser Eindruck verstärkt sich durch die Fotoszene selbst. Die Pose des aufrecht Stehenden mit der Tochter an der Hand vor dem ornamentalen Hintergrund ist eine europäische Pose, die der Unverwechselbarkeit des abgelichteten Individuums gilt. Doch die Pose gibt sich als geliehene zu erkennen. Neben der kulturell entliehenen Kleidung zeigt sich dies in der Körperhaltung. Der Bruder, statt in der zitierten Pose mit beiden Füßen fest auf dem Boden zu stehen, hebt den linken Fuß. Sein versetzter Blick verfehlt den des Betrachters. Er scheint ebenso wie der Blick des auf einem Hocker stehenden Töchterchens, der sich der Mittelebene des Bildes einzeichnet, auf etwas gerichtet, das sich neben dem fotografischen Objektiv und dessen Sichtlinie befindet. Der Blick verfehlt die Logik des europäischen Portraits. Die Verfehlung wiederholt sich im Blick des Fotografen. Der Prospekt, bestimmt, die abgelichteten Personen in einer dem Alltag enthobenen Welt zu präsentieren, entgleitet der Kontrolle. Statt das Format zu füllen, lässt er das Off ins Bild treten, das zu verdecken seine Aufgabe wäre. Die Illusion gibt ihre Falschheit preis. Zur Ironie wird die Verfehlung durch zwei Details. Mit dem rechten Schuh, im Foto abgeschnitten, in der Retusche komplettiert, tritt der Bruder aus dem Bild heraus in die Sphäre des Betrachters. In der Negation der Differenz zwischen Fotografie und Betrachterwirklichkeit betont er die Unbestimmtheit der Bildebene. Gesteigert wird die ironische Brechung der Komposition schließlich durch den Kopf des François, der halb verdeckt vom Prospekt, aber offenen Auges aus dem Off am linken Prospektrand in die Kamera schaut. Sein Blick ist der Kommentar eines Wissenden, der die Regie der Szene führt und dies in der verdeckten Geste bestätigt, die die Position des Prospektes zu korrigieren sucht und in der Bewegung notdürftiger Schließung das Off betont. Die Verfehlung im Spiel der Bildebenen verdeutlicht sich einmal mehr in der Beziehung der Figuren zueinander. François erscheint derrière dem großen Bruder, als der kleine Regisseur des Bruderbildes hinter dem Bildprospekt. „Hinter jemandem stehen“ bedeutet in der Welt der Bamiléké, der zu sein, im Bezug auf den jemand der ist, der er ist. In der Kultur der Bamiléké kann man jemand nur sein im Bezug auf jemanden mit höherem Status. Im Ghomala, der Bamiléké-Sprache, drückt sich das im System der Personalpronomina darin aus, dass Pronomina wie ich relationiert gebraucht werden: ich in bezug auf (jemanden)... Ein sozial entbundenes, selbstreferentielles Subjekt europäisch-neuzeitlicher Provenienz ist dieser Vorstellung fremd (vgl. Kokemohr 1999: 143–158). Stattdessen artikuliert sich im Bamiléké-System der sozialen Relationierung primordiale Intersubjektivität. Der, der hinter jeman215
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dem steht, steht für ihn ein und fängt ihn auf, wenn dieser aus der Ordnung fällt.10 François, auf dem Foto in eben solcher Stellung, hat die Position inne, die ihm abverlangt, den Bruder in der ihm angestammten Ordnung aufzufangen. Doch er nimmt diese Position unbotmäßig, halb sichtbar und in der Verfehlung der Bildebene ein. Als jüngerer Bruder befindet er sich am illegitimen Platz. Die Bildposition figuriert ihn als denjenigen, im Bezug auf den der ältere Bruder der ist, der er ist. Aber die Interferenz der Bildebenen widerruft die Figur. Das Foto bricht den Sinn auf, den es als prädikatives System abzubilden behauptet. Der operative Brennpunkt meiner vormaligen Interpretation des FrançoisDiskurses ist das Begriffsnetz der Bindung. Bindung setzt als Metapher eine Topographie voraus, in der das Gebundene seinen Ort im Verhältnis zu anderem Gebundenen hat. Das Foto widersetzt sich der Begrifflichkeit der Bindung. Die Bildpositionen der beiden Brüder widerrufen die Semantik der Tradition, indem Bild- und Realitätsebene, aufgeladen einerseits als Zitat europäischer Portraitfotografie, andererseits als unbotmäßige Usurpation des derrière, sich wechselseitig brechen. Die Operativität des Fotos fordert eine Formulierung gegen die Bindungsmetapher. Die Figuren des Fotos verfehlen sich. Aber die Verfehlung ist nicht eine Verfehlung des Ziels durch den Pfeil. Es ist eine Verfehlung, die verfehlen muss, da die Ebenen des Fotoprospektes, die der zitierten Pose und die des derrière, obwohl ins selbe Bild gesetzt, disparate, nicht ineinander überführbare Ordnungen sind, die nur ironisch aufeinander bezogen sind.
Sinnaufbruch in der Lektüre lebensgeschichtlicher Erzählung Nach vielen Besuchen meinte ich, François und seine Familie gut zu kennen. Er vertraute mir, der ich regelmäßig ins Projekt zurückkehrte und auch ihn nicht vergaß. Ich glaubte uns jenseits unserer Verschiedenheit in Szenen partieller Gemeinsamkeit. Aber ein Schock traf mich, als ihn in später Abenddämmerung die Erinnerung an den Bürgerkrieg überwältigte. Unter Tränen erzählte er, er sei vom Militär verfolgt worden, um den Aufenthalt seines in die Guerilla abgetauchten Bruders zu verraten. Der Folter und dem Verrat habe er, François, sich nur entziehen können, indem er, der Bewohner der Berg10 Ein von allen Bamiléké-Kindern gespieltes Spiel inszeniert diese Relation. Rücklings lässt sich das Kind in der Spielposition in die Arme eines hinter ihm stehenden anderen fallen, blind darauf vertrauend, dass dieses dafür einsteht, dass es nicht aus der Ordnung fällt. Im System der Allianzen, das die BamilékéGesellschaft bestimmt, spielen derartige, wenn auch komplizierter ausformulierte soziale Beziehungen eine zentrale Rolle (vgl. Pradelles de Latour 1997: 21f., 27ff.)
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region, der jedes Gewässer als Ort bedrohlicher Geister fliehe, im Schutz der Dunkelheit in einen nahen See gesprungen und abgetaucht sei, um sich unter überhängendem Wurzelwerk den ihm nachgefeuerten Gewehrsalven der Verfolger zu entziehen. Wenig später sei der Bruder verschleppt, sein Leichnam nie gefunden worden. Wiederholt hat François diese Erinnerung später zur Sprache gebracht, schließlich darum gebeten, seine Erzählung auf Tonband aufzunehmen und als geschriebenen Text der Nachwelt zu bewahren. Er wolle sich nach seinem Tode in ihm erinnert wissen. Diese Erzählung, der jetzt meine Lektüre gilt, ist eine erzählte Erzählung. In lebensgeschichtlichen Erzählungen ist oft zu beobachten, dass der Erzähler durch normative Momente oder eine Einbindung narrativer in argumentative Exkurse die Richtigkeit des geschilderten Handelns auszuweisen und die Erzählelemente einer sie einenden Deutungsebene einzuschreiben sucht. Vor dieser Aufgabe, in geltendem Traditionsgefüge fast selbstverständlich zu lösen, steht auch François. Doch als sich die Erzählung den traumatischen Erfahrungen des Bürgerkriegs nähert, wird sein Erzählen immer wieder ratlos. Statt andernorts erwartbarer Aussagen des Typus Ich habe damals so gehandelt, weil es Tradition ist, so zu handeln (vgl. Kokemohr 1994) oder Ich habe so gehandelt, weil es besser ist tritt in seiner lebensgeschichtlichen Erzählung rondoartig wiederkehrend die verschiedenen Handelnden in den Mund gelegte Frage auf, was zu tun sei: Qu’est-ce qu’il faut faire?, Comment je vais faire? oder Qu’est-ce que je vais faire? Gerahmt von der Orientierungsnot vergegenwärtigt François’ Erzählung in einer konzentrierten Szene signifikante Mitglieder der Elternfamilie. Zunächst wird vom jüngeren Bruder gesprochen, dem durch den Bürgerkrieg der zuvor naheliegende Ausbildungsweg eines Studiums in Frankreich versperrt gewesen sei und der deshalb Pilot beim Militär habe werden wollen. Der Vater habe sich diesem Wunsch mit dem Hinweis widersetzt, dass schon der älteste Sohn tot und die Mutter daran irre geworden sei. Es schließt sich eine schwer verständliche Sequenz an: François:
Le père a commencé à dire: „Si c’est comme ça c‘est que c‘est fini pour moi, c‘est fini! Ton frère est mort. Celui-ci il se débrouille et il te/ il te con-sole, tu es devenu comme ça. Tu vois comment est ta maman?“ Ma mère/ma mère que vous avez vu la photo avait des cheveux comme, des cheveux comme Monique, mais les cheveux sales, crépis, descendus jusqu’ici. Elle était sale, elle ne se lavait pas. Elle était comme une folle. Bon, le jour où je suis venu, j’ai trouvé à l‘hangar de l‘hôpital – sale. Je ne l’ai pas reconnue. C’est elle qui m’a appelé. Quand j’ai regardé comme ça, j’ai vu que c’était ma mère. Elle était toujours, toujours en route comme ça, en route pour...
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Gesprächspartner (R.K.): ...pour vous chercher? François:
Pour chercher son fils, mon grand frère. Elle nous disait seulement que c’est son fils: „Si après sa naissance je mourais c’est que c’était mon fils. Si je l’accouchais, je n’accouchais plus c’est que j’avais déjà accouché. C’était mon fils. Vous, vous êtes venus comme ça, c’était mon fils que Dieu avait donné.“ C’est toujours lui qu’elle pleurait, même le père – même chose. Là maintenant on est arrivé ici et le petit frère m’avait dit: „Bon, il faut les encadrer.“ Je les ai encadrés jusqu‘à finalement je les ai/je les ai coupé les cheveux. Je les ai, j’ai flatté, je les ai beaucoup flattés avant de/de rentrer, commencer encore ma misère.
Zunächst lässt François den Vater – ein indirekt formuliertes derrière – sagen, er, François, stehe dem jüngeren Bruder bei, tröste ihn. Dann wird im VaterZitat der Blick auf die Mutter gelenkt. Doch sofort springt die Szene um. Evoziert durch ein zuvor gezeigtes Foto der Mutter wird vom Umherirren der Mutter erzählt, die er, François, in ihrer irren Verwahrlosung erst erkannt habe, als sie ihn angerufen habe. Als ich, die Referenz missverstehend, frage, die umherirrende Mutter habe zu diesem Zeitpunkt vermutlich ihn, François, gesucht, folgt eine bemerkenswerte, semantisch verwirrende Äußerung. Ihren Sohn habe sie gesucht, seinen älteren Bruder. Ihre Suche habe sie mit den Worten erläutert, er sei ihr Sohn in dem besonderen Sinn, dass, stürbe sie nach seiner Geburt, er ihr Sohn sei. Wenn sie gebären würde, würde sie nicht mehr gebären, weil sie schon geboren habe. Er sei ihr von Gott gegebener Sohn gewesen, während François und die anderen Kinder, die vous, nur comme ça gekommen seien. Die Äußerung entzieht sich einer Interpretation, die sie ins klare Register eines prädikativen Systems einstellen könnte. Steht sie, dem syntaktischen Bruch des ersten Gesprächs vergleichbar, an der Schwelle des prädikativen Systems, an der gleichsam im Modus artikulierter NichtArtikulation ein kurzer Blick auf Nichtartikulierbares freigegeben wird? Wieder wird, wenn auch in der Form eines Mutter-Zitates, auf eine Intervention des fremdkulturellen Zuhörers hin, der, die Szene nicht verstehend, das François-Ich an die Stelle des Bruder-Ichs setzt, in der schon bekannten Syntax indikativischer Apodosis formuliert: Si après sa naissance je mourais c’est que c’était mon fils. Si je l’accouchais, je n’accouchais plus c’est que j’avais déjà accouché. C’était mon fils. Strukturell analog zum oben zitierten Familiengespräch reagiert François auf die Intervention des fremden Zuhörers. Während er sich dort, herausgefordert durch die Frage des Zuhörers nach seiner Rolle als successeur, gegenüber dem Verhältnis von Vater und Bruder zurücknimmt, nimmt er sich hier, herausgefordert durch die Intervention, gegenüber dem Verhältnis von Mutter und ältestem Sohn zurück. Evoziert die missverstehende Intervention des Fremden eine Konstellation, die dem Nor218
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menkosmos des prädikativen Systems widerspricht und sich dem Blick entzieht? Vollzieht sich im Indikativ des je n’accouchais plus als Redefigur solcher Entzug? Nachdem François der verzweifelten Mutter seine Stimme geliehen hat, wendet sich die Erzählung der damaligen Beziehung zu, in der er sich gegenüber den Eltern sieht. Mutter und Vater hätten immer nur ihren ältesten Sohn beweint und damit die lebenden Söhne aus der privilegierten Elternbeziehung ausgeschlossen. In dieser Situation habe der eben für sich selbst noch ratlose jüngere Bruder ihn, François, an seine Pflicht erinnert, die Eltern aus ihrem Schmerz zu reißen: Bon, il faut les encadrer.11 Dieser Aufforderung sei er dann auch gefolgt. Er sei so weit gegangen, an den Eltern, ihnen vielfältig schmeichelnd, den Trauerkult des Haareschneidens zu vollziehen. Das Abschneiden des Haupthaars gilt im symbolischen Kosmos der Bamiléké-Kultur als Akt der Anerkennung des Todes enger Verwandter. Indem François den Eltern die Haare schneidet, stellt er symbolisch-rituell den Tod des älteren Bruders fest: er stellt ihn in dem Sinne fest, dass er die vagabundierenden Todes-Imaginationen bannt. Seit diesem Augenblick hätten die Eltern nie mehr vom toten Sohn gesprochen.12
Das Entgleiten der prädikativen Instanzen im Archiv der Erzählung François erzählt seine Lebensgeschichte, damit sie aufgeschrieben und von seinen Nachfahren erinnert werde. Im Zitat der Mutter- oder Vaterworte und in der wörtlichen, formelhaften Wiederholung bestimmter Wendungen spricht sein Text auch zu jenen abwesenden Anwesenden, denen seine Erzählung gilt: dem toten Bruder, der wahnsinnig gewordenen, verstorbenen Mutter, dem verstorbenen Vater. François erzählt eine erzählte Geschichte, damit sie im Museum der Familiengeschichte aufbewahrt werde. Als Schrift schreibt sich die Erzählung, von François später anhand des Transkripts sorgfältig korrigiert, einem Archiv ein. Dies ist zunächst eine Geste, die ihre Funktion in der Mythologie der Bamiléké hat. Die Toten bedürfen des Bildes, um in der Spur der Erinnerung durch die Lebenden als ein Kind ins Leben zurückkehren zu können. Die Le11 „Encadrer“ – in den (richtigen) Rahmen bringen – ist ein Schlüsselwort für Erziehung in der Bamiléké-Gesellschaft. So wird etwa ein Häuptling anlässlich seiner Beerdigung mit den Worten gerühmt, er habe seine Untertanen immer richtig „encadré“. 12 Im Rückblick erscheint auch dieses Ritual als brüchig. Als Form der Anerkennung des Brudertodes mag es die Eltern zum Verstummen gebracht haben. François jedoch hat erst im November 2004, also 46 Jahre nach dem Verschwinden des Bruders, zu jenen funérailles eingeladen, in denen er die Hoffnung, den Bruder doch noch lebend zu sehen, begraben hat.
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benden wiederum bedürfen der Erinnerung, um im Verhältnis zu den Ahnen ihren Ort im Leben und in der Gruppe zu haben (vgl. Hirsch 1987: 123ff.). In diese Funktion, einst vom gemalten Bildnis übernommen, ist die Fotografie eingetreten, mit deren Reproduzierbarkeit sich die Einmaligkeit des Ortes der Erinnerung auflöst. Ebenso transformiert der archivierte Text, von Raum und Zeit entbunden und immer neuer Deutung ausgesetzt, die Funktion des Bildes in eine gleichsam ortlose Verortung.13 Während das Bild, lebensgroß gemalt, den Abgebildeten, am Orte seiner Existenz aufbewahrt, repräsentiert und ihm den Körperschein der Anwesenheit verleiht, lässt der Text erzählende und erzählte Instanzen in Figuren eines imaginativen Spiels anwesender Abwesenheit entgleiten.
Lebensgeschichtliche Verfehlung François’ Erzählung intensiviert die Ortlosigkeit des Ortes. Die skizzierte Logik konkretisiert sich in der Erzählsituation wie in der erzählten Situation. François erzählt die Geschichte sitzend vor dem von ihm bewohnten Haus. Doch dieses Haus ist nicht sein Haus, es ist das Haus seiner Schwester, so dass François, unerhört in der Tradition der Bamiléké, am geliehenen Ort wohnt und den ihm als chef de famille von der Tradition vorbestimmten Wohnort, das Haus des Vaters, verfehlt. Er verfehlt den des chef de famille würdigen Wohnort, der in der Tiefe der concession gelegen ist, dort, wo das Wasser ist, am Rande des heiligen Waldes, neben der Schädelstätte der Ahnen, mit denen er sich in allen wichtigen Familienangelegenheiten zu beraten hat. François wohnt stattdessen im höher gelegenen Bereich der concession, dem von den Ahnen traditionell entfernten Ort der Frauen. Das Haus des Vaters, an diesem Projekt arbeitet er seit Jahren, richtet er zum musée de la famille her. Tradition, statt gelebt zu werden, wird museal zum Bilde ihrer selbst. Auch die erzählte Lebensgeschichte ist eine Geschichte der Ortsverfehlung. Als chef de famille hat François das Haus des Vaters verlassen, wie er schon als kleiner Junge die concession verlassen hatte, um bei seinem großen Bruder, dem Vater an Vaters Statt, im damals mehr als 20 Tagereisen entfernten Yaoundé zu leben. Die Mutter sei nicht nur umhergeirrt, vielmehr sei sie folle geworden. In der Suche nach dem toten Sohn habe sie die Ordnung verloren, in der sie hätte sein müssen. Vor allem der Tote, dessen Körper nie gefunden worden sei, so dass dessen Schädel nie in der Schädelstätte der Familie zur Ruhe gekommen sei, bleibe jener gemeinsamen Ordnung entzo-
13 François hat stolz erwähnt, es gebe über den Vater ein schriftliches Zeugnis einer Schweizer Missionsgesellschaft, das in einem Archiv in der Schweiz aufbewahrt werde.
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gen, die Eltern und Brüdern erlaubt hätte, sich im Bezug auf ihn zu positionieren. Die Figuren der Erzählung verfehlen den Ort ihrer Existenz in der Diskrepanz der Ordnungen. Sie verfehlen ihn systematisch, weil Suchen und Gesuchtes keiner gemeinsamen Ordnung eingeschrieben sind. Die Lektürehinsicht auf die Verfehlung der Instanzen in der Verfehlung der Ordnungen bricht die operative Sinnverschattung auf, der sich meine Interpretation im Begriffsregister der Bindung an eine gegebene Struktur verpflichtet hatte.
3. Interkulturalität als Lektüre der Verfehlung Interpretation verdeckte die Bewegung der Dezentrierung im Bemühen, sie auf den prädikativen Nomos einer nach dem Maß der Moderne verstandenen Tradition abzubilden. Indem Lektüre sich in die Verschiebungen verstrickt, führt sie über die Schwelle typisierender Prädikation, um sie aufzulösen in deren vorprädikativen Horizont. Die Orte erweisen sich als Nicht-Orte, die Subjekte dezentrieren sich in der Verfehlung ihrer Orte und Ordnungen. Was der Interpretation als Blockade der Modalprozesse eines beschädigten Subjekts erschien, erscheint der Lektüre als Uneinholbarkeit diskrepanter Ordnungen – durch den Gelesenen und den Lesenden. Schon 1903, parallel zur Frühgeschichte der Psychoanalyse und der Phänomenologie, hat G.H. Mead argumentiert, ein anderes Welt- und Selbstverhältnis emergiere, motiviert durch anders unlösbare Probleme, in einer Bewegung von Desintegration und Rekonstruktion (Mead 1980: 83–148, bes.: 128ff.). Mit Husserls Unterscheidung von vorprädikativer Sphäre und prädikativem System lässt sich dieser Gedanke reformulieren. Was Mead Desintegration nennt, ist die Destruktion des prädikativen Systems derart, dass in der Auflösung seines operativ verschattenden Begriffsnetzes Deutungspotentiale ins Spiel kommen, die ein anderes prädikatives System restituieren. Interkulturelle Praxis legitimiert sich in solcher Destruktion und Restitution. Interpretation als Formulierung eines prädikativen Systems verfehlt den Sinnaufbruch in der Bewegung von Destruktion und Restitution. Lektüre, indem sie diese Bewegung artikulierend freilegt, ermöglicht Interkulturalität. Doch in der Bewegung des Sinnaufbruchs bleibt interkulturelle Praxis prekär. Unvermeidlich mündet sie ein in prädikative Vollzüge, die sich gegen vorprädikative Brechungspotentiale abschließen und Interkulturalität blockieren.
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0...n Neue Krisen führen mich zurück auf den Mittagspfad, erinnernd oder wirklich. Geworfen in die Diskrepanz der Ordnungen sehe ich mich in der Leere des degré zéro ihrer Destruktion und Restitution. Nietzsches Wort vom „großen Mittag“ konturiert meine Bewegung. Es lässt mich, in Prädikation befangen, Interkulturalität als Lektüre der Verfehlung – verfehlen.
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INTERPRETATION – LEKTÜRE – INTERKULTURALITÄT
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Materiale Studien und zeitdiagnostische Perspektiven
Kulturhe rme ne utik und Re ligionsforsc hung – George A. Lindbecks Religionstheorie und das Verste he n c hristliche r Le hre WOLFGANG SCHOBERTH
Was erforscht die Religionsforschung? Die naheliegende Antwort auf diese Frage, der Gegenstand der Religionsforschung sei eben „Religion“, führt bekanntlich nicht wesentlich weiter, da durchaus nicht selbstverständlich ist, was Religion sei. Dennoch ist hier mit dieser Frage keineswegs die Eröffnung einer neuen Runde in der unendlichen Diskussion um den Religionsbegriff beabsichtigt, der nicht nur allen Religionen und religiösen Phänomenen, sondern auch möglichen Religionsäquivalenten gerecht werden müsste, ohne dabei seine Trennschärfe zu verlieren: ein hinreichend aussichtsloses Unterfangen. Die folgenden Überlegungen setzen sich ein bescheideneres Ziel, das freilich seine eigenen Tücken hat. Indem sie sich auf den Bereich des Christentums beschränken, haben sie einen Gegenstand, von dem kaum zu bezweifeln ist, dass er als Religion angesprochen werden kann. Meine Leitfrage lässt sich also so zuspitzen: Bekommt die Religionsforschung mit ihren eingespielten Kategorien wirklich die christliche Religion zu Gesicht oder etwas (mehr oder minder Bedeutsames) an Religion, was sicher mit ihr verbunden ist, aber möglicherweise das eigentlich Interessante und Wichtige verdeckt? Joachim Matthes hat pointiert herausgestellt, dass es für Soziologen, die Religion in aller Regel von außen wahrnehmen, nahe liegt, „aus der eigenen Unschuld der Unwissenheit heraus – in aller Unschuld – Anleihen bei den Theologen aufzunehmen“ (Matthes 1992: 135), um überhaupt ihren Gegenstand bestimmen zu können. Dabei kommt es freilich darauf an, dass einerseits die Theologie solche Anleihen zur Verfügung stellt, die zur Wahrnehmung der religiösen Gegenwartskultur hilfreich sein können, dass andererseits die
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Religionsforschung auch solche „Anleihen“ gebraucht, die ihrem Gegenstand angemessen sind. Eben dies scheint mir weithin nicht der Fall zu sein. Pointiert formuliert lautet meine Ausgangsthese: Die Religionsforschung hat kein adäquates Verständnis dafür, wie christliche Religion funktioniert und kann darum auch die Transformationen der religiösen Gegenwartskultur nicht hinreichend erfassen. Sicherlich sind Theologie und verfasste Kirchen an dieser Situation nicht schuldlos. Die aktuellen Mitgliedschaftsstudien, aber auch eine Vielzahl von Strategien, der sozialen Realität christlicher Religion zu begegnen, belegen eine eigentümliche Hilflosigkeit, diese Wirklichkeit anders wahrzunehmen als in reduktiven Kategorien: Religionsforschung und (an ihrem Ort durchaus legitime) institutionelle Interessen ergänzen und verfestigen einander auf eine Weise, die die eigentlich erwünschten und auch erfoderlichen Aufschlüsse bereits im Ansatz verfehlen lassen: Wo dieses Bild von Kirche und Glaube dominiert, kann die Wirklichkeit gelebten Christseins auch theologisch nicht mehr angemessen wahrgenommen werden und die Institution schiebt sich vor das, aus dem sie lebt und um dessentwillen es ihrer bedarf. Die Institution mit ihren legitimen Interessen ist theologisch allemal sekundär – eben dies macht ja das Spezifikum der Institution Kirche aus, solange sie ihren Grund und ihren Bestand nicht in sich selbst, sondern in dem Evangelium hat, das sie bezeugt, aber nicht besitzt. Die kritische Anfrage an die Religionsforschung ist darum mit einer theologischen Kritik an der Engführung des kirchlichen Selbstverständnisses unmittelbar verbunden. In den folgenden Überlegungen soll darum ein Modell diskutiert werden, das diese Verengung aufbrechen kann, indem es genuin theologische und kulturhermeneutische Fragestellungen verbindet. Die Religionsforschung orientiert sich weithin an einem Bild christlicher Religion, das dominiert wird von verfasster Kirche und ihren (tatsächlichen oder von der Forschung unterstellten) Erwartungen und Interessen einerseits, einer als System von Glaubenssätzen gefassten christlichen Lehre andererseits. Beide werden dann entweder, wie bis in die aktuellen Mitgliedschaftsstudien, auf ihre Stabilität hin überprüft, oder aber auch, wie im Anschluss an Luckmann, als Folie vorausgesetzt, von der die „unsichtbare Religion“ unterschieden wird. Die Folge ist neben einem weithin unscharfen allgemeinen Begriff von Religion, der, wie schon bei Luckmann, durch vage anthropologische Annahmen und funktionalistische Prämissen unterfüttert werden muss, ein statisches Bild christlicher Religion. Dieses hat zwar den Vorteil methodischer Handhabbarkeit, indem es Kriterien bereitstellt zur Untersuchung des Teilnahmeverhaltens und auch einen Katalog von Sätzen bietet, deren Zustimmungsfähigkeit oder Ablehnung man überprüfen kann – sei es in der Formulierung quantitativer Items oder als Wahrnehmungsmuster in der qualitativen Arbeit. Es hat freilich auch den Nachteil, dass es bei näherem Hinsehen theologisch fragwürdig und für die Religionsforschung irreführend ist, 228
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weil es einen Gegensatz von Norm und Wirklichkeit christlicher Religion konstruiert: Gemessen an diesem Bild von Kirche und christlicher Lehre kann die religiöse Wirklichkeit gar nicht anders als defizitär erscheinen, was dann wiederum als Bedeutungsverlust von Glaube und Kirche mehr oder minder offen entweder beklagt oder begrüßt wird. Gelebter Glaube war aber nie identisch mit der Zustimmung zu formulierten Lehrsätzen und der Erfüllung von Vorgaben institutioneller Erwartungen, was aber aus theologischer Perspektive gerade nicht bedeutet, dass solche Wirklichkeit gelebten Glaubens als defizitär aufzufassen wäre. Was die theologische Tradition als die Wirksamkeit des Geistes Gottes beschreibt, der, wie der fünfte Artikel der Confessio Augustana betont, den Glauben wirkt, wo und wann Gott will, hat eben auch zur Folge, dass die Artikulationsformen des Glaubens nicht reduzierbar sind auf eine fixierte Lehre. Glaube ist nicht die Wiederholung von Katechismussätzen, wobei durchaus auch zu fragen ist, welcher Katechismus und welches Katechismusverständnis dabei im Blick ist. Die Erhellung der Bedingungen, die etwa dazu führten, dass Luthers Lehrpraxis zum Lehrstoff wurde, wäre selber von großer Relevanz für die Religionsforschung. Die bloße Wiederholung von Katechismusformulierungen jedenfalls ist gerade nicht das, worauf Luthers Katechismen abzielen, die sehr bewusst als Modelle für individuelle und kreative christliche Rede angelegt sind (vgl. dazu Ingrid Schoberth 2005). Auch die Religionsforschung sollte sich nicht in Kategorien verfangen, die die religiöse Wirklichkeit kaum erfassen, sondern allenfalls ein Spiegelbild klerikaler Vorstellungen verfolgen, die einem kaum aufgearbeiteten Erbe der Religionskritik nur zu gelegen kommen. Das Ineinander von institutionellen Interessen einerseits, der unbefragten Geltung gängiger religionssoziologischer Kategorien andererseits haben eine Verfestigung der Wahrnehmung hervorgerufen, die weder empirisch noch theologisch fruchtbar ist. Die empirische Feststellung der Differenz der religiösen Wirklichkeit von einer „offiziellen“ Kirchenlehre erzeugt methodisch eine Alternative, die für die Theologie wie für die Religionsforschung irreführend sein muss. Dass man niemanden in Glaubensdingen etwas vorschreiben solle, ist schließlich nicht erst eine (unverzichtbare) moralische Forderung, sondern im Wesen des Glaubens begründet. „Was die Menschen wirklich glauben“, ist nicht nur empirisch kaum zu fassen, sondern nach theologischer Einsicht letztlich unabbildbar – auch dies ist eine Implikation der theologischen Rede von der „Unverfügbarkeit“ des Glaubens. Die auch von Christen nicht selten gestellte Frage, ob man dies oder jenes „glauben müsse“, dokumentiert darum eine Verunsicherung dem gegenüber, was Glauben eigentlich ist, die wiederum daraus hervorgeht, dass sich die Theologie nicht hinreichend Rechenschaft über die ihrem Gegenstand entsprechende Normativität gegeben und darum immer wieder die Gestalt einer Aufstellung autoritativer Lehrgebäude angenommen hat. Darum ist hier ohne Zweifel auch innertheologisch eine Auseinanderset229
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zung nötig. Die Religionsforschung wird sich aber fragen lassen müssen, wem sie faktisch die Definitionsmacht in Sachen christlicher Glaube zubilligt, wenn sie das Bild starrer Kirchenlehre weiter kolportiert. Weil dieses Bild theologisch wie religionsanalytisch zur Unfruchtbarkeit führen muss, will ich hier an das kulturell-sprachliche Modell von (christlicher) Religion erinnern, wie es George A. Lindbeck in seinem 1984 erschienenen Buch „The Nature of Doctrine. Religion and Theology in a Postliberal Age“1 vorgestellt hat. Das Buch löste in der englischsprachigen Theologie eine breite Debatte aus, wurde in der deutschen Theologie aber wenig rezipiert. Die Gründe dafür wie auch für die teilweise heftige Kritik, die Lindbecks Ansatz auf sich gezogen hat, liegen gerade in dem, was ihn für die Kooperation von Religionsforschung und Systematischer Theologie so interessant macht. Lindbecks Studie bewegt sich nämlich nicht in den Bahnen der klassischen dogmatischen Arbeit, sondern ist an den Grenzen von Innen- und Außenperspektive angesiedelt und hat den Übergang zwischen beiden im Fokus. Damit nimmt sie bewusst in Kauf, theologisch weniger bestimmt argumentieren zu können als das bei solchen systematisch-theologischen Arbeiten möglich ist, die sich innerhalb des Geltungskontextes des Bekenntnisses bewegen, wie das für die Entfaltung dogmatischer Gegenstände unerlässlich ist, wie gerade Lindbecks Überlegungen zeigen das. Die Zielrichtung seines Buches ist freilich auch eine andere: Er entfaltet keine Lehre, sondern reflektiert deren Bedingungen und Funktionsweisen und entwickelt daraus ein heuristisches Religionsmodell, das sowohl religionsanalytisch hilfreich ist als auch in die Selbstwahrnehmung christlicher Religion rückübersetzt werden kann. Seine Quellen sind keine genuin theologischen, sondern entstammen der Philosophie, Ethnologie und Soziologie. Die „kulturell-sprachliche Religionstheorie“, die Lindbeck vorschlägt, ist nach seiner Darlegung, „mit Ausnahme ihres Namens, von Clifford Geertz adaptiert“ (Lindbeck 1994: 18). Ihre philosophischen Grundlagen liegen in der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins; weiterhin sind Anregungen durch die Wissenssoziologie, vor allem durch Peter Berger, zu nennen,2 wobei es Lindbeck keineswegs auf eine treue Adaption ankommt; er gebraucht diese Theorieelemente vielmehr „ad hoc und unsystematisch“ (18), soweit sie ihm für seine Fragestellung hilfreich erscheinen. 1
2
Die deutsche Übersetzung erschien 1994: „Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens. Religion und Theologie im postliberalen Zeitalter“. Einfache Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Übersetzung. Lindbeck geht freilich andere theologische Wege als Berger selbst, weil er dessen theologische Überlegungen für unzureichend und durch seine eigene Theorie nicht gedeckt hält. „Es kann sein, daß Berger es versäumt hat, theologisch von seiner eigenen kulturellen Theorie Gebrauch zu machen“ (42) und stattdessen dem von Lindbeck kritisierten ‚erfahrungs- und ausdrucksorientierten‘ Modell folgt.
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Die philosophischen, soziologischen und ethnologischen Quellen, die Lindbeck namhaft macht, sollten erwarten lassen, dass diese Religionstheorie geradezu selbstverständlich sein sollte. Überraschenderweise ist aber eben dies zumindest bei der Wahrnehmung der christlichen Religion nicht der Fall; hier dominiert nach wie vor die Identifikation der christlichen Religion mit einem System von festgelegten Glaubenssätzen einerseits und die Identifikation von Kirche mit bestimmten Strukturen andererseits. Die Zustimmung zu diesen Sätzen (oder ihre Ablehnung) wiederum erscheint dann als Grad der Übereinstimmung mit der christlichen Lehre, der methodisch vergleichsweise einfach zu ermitteln ist; die Erfüllung von Teilnahmeerwartungen gilt dann als Ausweis der Kirchlichkeit. Meine Erinnerung an die Religionstheorie Lindbecks hat demnach eine doppelte Stoßrichtung: Innertheologisch geht es um die Entfaltung eines Verständnisses von Kirche und Theologie, das sowohl der Wirklichkeit gelebten Glaubens gerecht werden kann als auch die christliche Lehre in einer Weise zur Geltung bringt, die der Eigenart des Glaubens entspricht. Wenn in der theologischen Wissenschaft auch immer wieder der Eindruck vermittelt wird, als sei christliche Lehre ein System von Sätzen, das zwar zwischen den verschiedenen Theologen durchaus strittig ist, letztlich aber doch auf das Ziel eines kohärenten und einheitlichen Lehrgebäudes ausgerichtet sei, dann ist dem deutlich zu widersprechen. Vornehmlich geht es in meinem Beitrag aber um einen Beitrag zur Revision der eingespielten Kategorien der Religionsforschung. Meine Interpretation von Lindbecks Vorschlag will diesen also nicht umfassend darstellen und diskutieren, sondern ist darauf ausgerichtet, Perspektiven anzudeuten, die die Religionsforschung in die Lage versetzen, christliche Religion angemessener wahrzunehmen. Die fundamentaltheologischen Implikationen von Lindbecks Überlegungen und die Anfragen an sie werden mithin nur in begrenztem Umfang diskutiert; andererseits erfordert meine Zielsetzung auch eine Ausweitung von Lindbecks Gedanken auf ein Feld, das er selbst nur andeutet, wenn er im Schlussteil seines Buches auf die Aufgaben für die Kirchen zu sprechen kommt, die sich aus seinen Überlegungen ergeben.
An s a t z u n d O r t d e r „ k u l t u r e l l - s p r a c h l i c h e n “ R e l i g i o n s t h e o r i e G e o r g e A. L i n d b e c k s Auch wenn Lindbeck selbst seine Überlegungen als „Religionstheorie“ bezeichnet, ist ihr Anspruch deutlich begrenzt: Sein Gegenstand ist primär das Christentum und er gibt keine umfassende oder auch materiale Theorie der Religion, in die sich etwa das Christentum als Spezialfall oder Spitze einzeichnen ließe; vielmehr bietet er zunächst eine formale Beschreibung der (christlichen) Religion. Sein Vorschlag hat zwei wesentliche Momente: Er 231
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schlägt vor, Religion als ein kulturelles und sprachliches System aufzufassen und die Funktion der christlichen Lehre als Regeln zu verstehen, die diesem System seine Kohärenz geben. Zum Verständnis dieses Vorschlages müssen der systematische Ort und der Anlass seiner Überlegungen beachtet werden. Sie sind Konsequenz seiner langjährigen ökumenischen Arbeit als lutherischer Vorsitzender einer gemeinsamen lutherisch-katholischen Arbeitsgruppe, die nach ökumenischen Verständigungsmöglichkeiten suchte, und wurden ausgelöst durch die Irritation „durch das sowohl in kirchlichen Verlautbarungen als auch in theologischen und nichttheologischen wissenschaftlichen Abhandlungen […] vorherrschende Verständnis kirchlicher Lehre“ (17). Es ist eben dieser Ort, der Lindbecks Ansatz auch für die Religionsforschung bedeutsam macht: Er positioniert sich nicht innerhalb einer konfessionellen Tradition, sondern sucht nach Wegen, wie die Lehren der anderen Konfession so wahrgenommen werden können, dass sie in ihrer eigenen Berechtigung in ihrem Kontext erfasst werden können; dabei wird aber gerade die Geltung des eigenen Bekenntnisses nicht in Relativität aufgelöst.3 Respektvolle Distanz aber ist die Bedingung ökumenischer Verständigung. Damit legt Lindbeck einen exemplarischen Entwurf vor, der das Verstehen der anderen Konfessionen ermöglicht und zugleich die Anerkennung ihrer Verbindlichkeit für ihre Anhänger, aber auch die Treue zu dem eigenen Bekenntnis im Blick behält. Der ökumenische Kontext, in dem Lindbecks Überlegungen verwurzelt sind, weist Besonderheiten auf, in denen sich das Problem des Verstehens von Religion zuspitzt: Einerseits werden hier wesentliche Prämissen, Diskursvoraussetzungen und Ansprüche (etwa im Rekurs auf dieselbe Schrift und dieselbe Tradition) geteilt, andererseits ist gerade darum der Dissens zwischen den Konfessionen nicht nur tiefgreifend, sondern auch eine besondere Herausforderung der eigenen Identität, weil aus scheinbar denselben Voraussetzungen teilweise diametrale Konsequenzen gezogen werden. Der Dissens ist hier geradezu bedrohlich, weil hier nicht nur divergierende, sondern unmittelbar konkurrierende Wahrheitsansprüche, die sich auf dieselben Quellen und Kriterien beziehen, erhoben werden. Andererseits macht Lindbeck die Erfahrung aus den ökumenischen Dialogen namhaft, dass „lehrmäßige Versöhnung ohne Kapitulation“ (37) möglich ist. Diese Erfahrungen belegen, dass sich im Dis3
Nur weil Ingolf U. Dalferth (1997: 19) diesen Ort nicht hinreichend wahrnimmt, kann er Lindbeck vorwerfen, er löse Religion, weil er sie als „Funktion der Gesellschaft“ begreife, in die Beliebigkeit einer Gruppenidentität auf. Dem will Dalferth mit einer sprachphilosophischen Erneuerung des ontologischen Gottesbeweises (vgl. ebd.: 30f.) wehren. Der ontologische Gottesbeweis aber setzt, wie schon Anselm bewusst war, allemal voraus, dass man sich bereits in der Sprache des Glaubens bewegt, wenn er mehr als eine formale Implikation der Vernunft benennen soll. Darum fällt Dalferth Kritik hinter Lindbecks Ansatz zurück, der gerade diese Voraussetzung reflektiert.
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kurs zwischen den verschiedenen Konfessionen scheinbar ausschließliche Gegensätze in Einklang bringen lassen; die Bedingungen solcher Versöhnung, die gerade nicht auf Kosten der theologischen Prägnanz geht, will Lindbeck verstehen. „Das Ziel meiner Untersuchung ist nicht die Legitimation von Lehre, sondern, das Ineinander von Veränderbarkeit und Unveränderbarkeit christlicher Lehre zu erforschen, um es konzeptionell zu erleichtern, das Engagement für die Suche nach kirchlicher Einheit mit der Treue zu den historischen Bekenntnissen und Konfessionen zu verbinden“ (18). Das Religionsmodell, das Lindbeck dazu entwickelt, erweist sich aber als hilfreich über den Kontext hinaus, in dem es entstand, indem es die festgefahrene Alternative zwischen fixierter Lehre einerseits, religiöser Erfahrung und Individualität andererseits auflöst.
E i n e f a l s c h e Al t e r n a t i ve : L e h r e vs . E r f a h r u n g Diese Alternative spiegelt sich in den beiden vorherrschenden Religionsmodellen, die Lindbeck als „kognitiv-propositional“ und „erfahrungs- und ausdrucksbezogen“ bezeichnet. Das „kognitiv-propositionale“ fasst eine Religion vornehmlich als ein System von Aussagen (Propositionen) auf, die definite Wahrheitsansprüche erheben. Religionen in diesem Sinn sind „gleich Philosophien oder Wissenschaften gedacht, wie dies den klassischen Vorstellungen entsprach.“ (34) Darum kann dieses Modell auch für den „Ansatz der traditionell orthodoxen (wie auch vieler heterodoxer) Theologien“ (34) vorausgesetzt werden, weil es dem gängigen Wissenschaftsbegriff entsprach und entspricht. Lehraussagen, wie sie etwa in Bekenntnissen formuliert wurden, sind demnach (wie andere wissenschaftliche Aussagen) entweder immer wahr gewesen und werden immer wahr sein, oder sie sind schon immer falsch gewesen. Eben weil dieses Modell so stark in Analogie zum Begriff objektiver Wahrheit konzipiert ist, scheint es in der Wahrnehmung von Religion weithin selbstverständlich. Gleichwohl ist dieses Modell bei näherem Hinsehen unhaltbar. Die Gründe dafür liegen nicht in der (möglicherweise) stark nachlassenden Akzeptanz christlicher Propositionen – Wahrheit ist hier ja gerade nicht abhängig von der allgemeinen Zustimmung –, sondern in innersystematischen Aporien. Zunächst erweist sich dieses Modell, wie auch der Wissenschaftsbegriff, der ihm zugrunde liegt, als Idealisierung, die das faktische Vorgehen von Wissenschaft und Theologie eben nicht erfasst. Schon innerhalb einer christlichen Konfession und unter den Gläubigen werden die tradierten Lehraussagen gerade nicht in derselben Weise verstanden; erst recht belegt die Existenz der verschiedenen Konfessionen und Denominationen, dass aus denselben Lehrsätzen sehr unterschiedliche Folgerungen gezogen werden können. Das „kognitiv-propositionale“ Modell würde also zur Folge haben, dass letztlich nur eine Theologie wahr sein kann; sie müsste die 233
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Falschheit aller anderen behaupten. Im ökumenischen Kontext von Lindbecks Überlegungen werden die problematischen Implikationen dieses Modells offensichtlich: Die interkonfessionell strittigen Lehren könnten dann, wie alle Propositionen, nur entweder wahr oder falsch sein, und die fatale Konsequenz wäre nicht zu vermeiden, dass die Einheit der Kirche nur um den Preis der Aufgabe von grundlegenden Positionen einer der Konfessionen zu haben wäre: Eine „Versöhnung in der Lehre ohne Kapitulation“ (34) wäre unmöglich. In der Theologie wird dieses Modell in seiner strengen Form faktisch kaum mehr vertreten,4 auch wenn das in der Außensicht (nicht zuletzt in der medialen Öffentlichkeit, aber auch in der Religionsforschung) kaum wahrgenommen wird. In der Theologie und vor allem der kirchlichen Praxis dominiert vielmehr ein Verständnis von (christlicher) Religion, das keineswegs die tradierten Lehrsätze im Zentrum hat, sonder vielmehr ausgeht von lebensweltlichen Bedürfnissen und Erfahrungen, die als gegeben vorausgesetzt werden. Lindbeck bezeichnet dieses Religionsmodell als „erfahrungs- und ausdrucksbezogen“ („experiential-expressive“), weil in ihm die kirchlichen Lehren von allenfalls sekundärer Bedeutung sind gegenüber den religiösen Erfahrungen. Nach diesem Modell können verschiedene Lehrsätze und Lehrsysteme dieselben Grunderfahrungen zum Ausdruck bringen. Christliche Lehren sind in diesem Modell nur dann akzeptabel und sinnvoll, wenn sie als Ausdruck allgemein plausibler Erfahrungen ausgewiesen werden können. In der kirchlichen Praxis, aber auch in der Theologie wird diese Figur zumindest ergänzend fast durchweg gebraucht: Religion hat es eben nicht (nur) mit einer eigenen, transzendenten Wirklichkeit zu tun, sondern vollzieht sich im Horizont der Erfahrungen des Lebens. Dieses Verständnis von Religion bietet offensichtlich ökumenisch, aber auch interreligiös und für das Gespräch mit Nicht-Religiösen gewichtige Vorteile. 5 Bei allen Vorzügen weist aber auch das „erfahrungs- und ausdrucksbe4 5
Das gilt natürlich nicht für lehramtliche Erklärungen: Diese folgen einer genuinen Gattungslogik, die hier nicht weiter untersucht werden kann. Eben das macht dieses Modell auch für die Religionsforschung und Religionssoziologie so attraktiv: Es enthebt zunächst von der Aufgabe, die jeweiligen Lehren selbst zu reflektieren, weil es im Kern ja um die hinter den Lehren liegenden Erfahrungen geht. Der religiöse oder konfessionelle Konflikt in der Lehre scheint sich aufzulösen. Wenn aber die fundamentalen Erfahrungen als allgemein-menschlich plausibel gemacht werden können, scheint auch eine positive Wertung von Religion wissenschaftlich legitim; und religiöse Symbole ließen sich auch in anderer, wissenschaftsnäherer Sprache ausdrücken. So geschieht das etwa bei Peter L. Berger, neuerdings aber auch auf hohem Niveau bei Hans Joas (2004). Sein Gesprächsangebot an Theologie und Kirche ist freilich, so weit ich sehe, bedauerlicherweise kaum angenommen worden. Auch wenn nach meiner Überzeugung an diesem Ansatz kritische Anfragen zu richten sind, dokumentiert er gegenüber der eingespielten Weigerung, die Theologie als Gesprächspartner zu akzeptieren, einen wichtigen Neuansatz. Bei Joas kommt
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zogene“ Modell eine Reihe von Schwierigkeiten auf, die es für Lindbeck letztlich ungeeignet erscheinen lassen.6 So ist es zunächst eine bloße Behauptung, dass sich die Konfessionen und Religionen lediglich in verschiedener Weise auf dieselben Erfahrungen beziehen, die sie nur in unterschiedlichen Symbolen ausdrücken. Ist z.B. die Marienfrömmigkeit für evangelische Christen im Vollsinn nachvollziehbar? Im „erfahrungs- und ausdrucksbezogenen“ Modell müssten die gemeinsamen Erfahrungen namhaft gemacht werden können, die sowohl die katholische Marienfrömmigkeit wie ihre evangelische Ablehnung gleichermaßen tragen. Es liegt auf der Hand, dass dies nur um den Preis einer starken Abstraktion gelingen könnte. Die Reduktion auf gemeinsame oder gar universale Erfahrungen macht genuin religiöse Erfahrungen fortschreitend inhaltsleer: Das Ergebnis ist eine bloße Verdopplung einer vorausgesetzten Anthropologie, die selbst uneinlösbare universale Ansprüche erhebt. Auch dieser Ansatz macht tendenziell den Glauben zu einer Sache von Virtuosen – darin ist er dem „kognitiv-propositionalen“ Modell ganz ähnlich –, weil er mit der Unterscheidung zwischen dem Gemeinten und dem Gesagten operieren muss. Die Konsequenz ist, dass der Glaube der „normalen“ Gläubigen, die diese Differenz nicht vollziehen, wie im ersten Modell als defizitär erscheint. Gewichtiger noch ist die damit verbundene innersystematische Problematik, dass die Frage der normativen Geltung nicht gelöst oder beseitigt, sondern nur verschoben ist. Zwar wird der Geltungsanspruch nicht mehr für die Lehraussagen selbst erhoben, aber doch für die sie tragenden Erfahrungen und ihre „Deutung“. Das Modell setzt voraus, dass in der Fülle der Erfahrungen unterschieden wird zwischen „echten“ und abgeleiteten Erfahrungen, die wiederum auf diejenigen zurückgeführt werden müssen, die als gültige und universalisierbare Erfahrungen bestimmt werden können und bestimmt wurden. Damit wird faktisch doch die Geltung bestimmter Lehren be-
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der Erfahrung der Selbsttranszendenz konstitutive Bedeutung zu; eben diese konstitutive Rolle der Erfahrung ist zu bestreiten, nicht die Bedeutung der von Joas beschriebenen Erfahrung selbst. Eben darum bezeichnet Lindbeck das Ziel seiner Überlegungen als ‚postliberale‘ Theologie, weil das ‚erfahrungs- und ausdrucksbezogene‘ Modell zuerst im Kontext liberaler Theologie entstanden ist; Schleiermacher wird meist als sein erster bedeutender Vertreter benannt. Freilich ist dieses Modell mittlerweile zumindest faktisch so weit rezipiert, dass in dem hier umrissenen Sinn auch orthodoxe und konfessionell orientierte Theologien als ‚liberal‘ bezeichnet werden können. Um Missverständnisse zu vermeiden, ist auch zu betonen, dass der Terminus ‚liberal‘ als Bezeichnung einer theologischen Richtung und theologischer Grundüberzeugungen keineswegs mit der politischen Kategorie zusammenfällt.
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ansprucht, zumindest auf der Ebene anthropologischer Vorannahmen über die Bedürfnisse und Fähigkeiten des Menschseins.7
Ein „kulturell-sprachliches“ Verständnis von Religion Nach Lindbecks Überzeugung verfehlen beide Modelle sowohl die Wirklichweit gelebten Glaubens wie auch des Wesens christlicher Lehre (wie der Titel der amerikanischen Originalausgabe lautet: „The Nature of Doctrine“). Darum sucht Lindbeck nach einer Alternative, die zwar die Wahrheitsmomente der beiden Modelle nicht vernachlässigt, andererseits aber ihre Aporien vermeiden kann. Der Grundgedanke seines „kulturell-sprachlichen“ Modells ist einfach: „Eine Religion kann als eine Art kulturelles und/oder sprachliches Grundgerüst und Medium betrachtet werden, das die Gesamtheit von Leben und Denken formt [...]- [Eine Religion] gleicht einem Idiom, das die Beschreibung von Realität, die Formulierung von Glaubenssätzen und das Ausdrücken innerer Haltungen, Gefühle und Empfindungen ermöglicht“ (56).8 Eine wesentliche Differenz zum „erfahrungs- und ausdrucksbezogenen“ Modell liegt im Ort und in der Funktion religiöser Erfahrung, deren Bedeutung Lindbeck keineswegs bestreitet (vgl. 52, 62). Ihr kommt freilich kein konstitutiver Rang zu. Lindbeck kehrt vielmehr die Logik, auf der das „erfahrungs- und ausdrucksbezogene“ Modell basiert, um. In sprachphilosophischer Hinsicht beruht dieses Modell nämlich auf der irreführenden Annahme einer vorsprachlichen, unmittelbaren Erfahrung, die erst in einem zweiten Schritt in Sprache (also auch Lehrsätze und Bekenntnisformulierungen) gefasst würde. Erfahrungen werden aber erst dann möglich, wenn Wirklichkeit bereits sprachlich erschlossen ist: Wirklichkeit wird wahrgenommen im Rahmen einer gegebenen Sprache.9
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Dass solche Vorannahmen zumeist sehr viel weiter reichen, muss hier nicht weiter diskutiert werden. Es ist aber offensichtlich ein Unterschied, ob dabei etwa ein essentieller Transzendenzbezug des Menschen vorausgesetzt wird, oder ob der Sinnhorizont der religiösen Erfahrung ausschließlich in immanenten Faktoren gesucht wird. In jedem Falle ist ein spezifisches Ensemble von Überzeugungen die Basis, das selbst sinnvollerweise als religiös bezeichnet werden könnte. Dabei ist es durchaus von Bedeutung, dass Lindbeck hier einen Vergleich anbietet, der für die gegebene Problematik weiterführend sein kann, und folglich gar nicht beansprucht, Religion vollständig oder auch nur hinreichend zu erfassen. Das ‚kulturell-sprachliche‘ Modell lässt sich „als ob“ oder als heuristisches Bild auffassen. Es ist dann nicht primär die Frage, ob Religion so ist, wie Lindbeck sie beschreibt, sondern ob dieses Modell heuristisch hilfreich ist – in Theologie und Religionsforschung gleichermaßen. Die mögliche Diskussion, ob dem nicht doch wieder eine unmittelbare Wirklichkeitswahrnehmung vorausliegt, ist wenig ergiebig: Diese wäre allemal auf
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Für das Verstehen von Religion folgt daraus, dass sie nicht auf anderes (wie Erfahrungen, Funktionen und Bedürfnisse) zurückgeführt werden kann, weil sie allererst den Rahmen vorgibt, in dem Erfahrungen möglich werden und daher letztlich irreduzibel ist. „Anstatt also die äußeren Merkmale einer Religion von innerer Erfahrung abzuleiten, wird gerade die innere Erfahrung als abgeleitet betrachtet“ (58). Mit der Betonung der sprachlichen Konstitution von Religion erweist sich die konkrete Gestalt einer Religion und mit ihr ihre Tradition im Gegensatz zum „erfahrungs- und ausdrucksbezogenen“ Religionsmodell als unhintergehbar; der Verweis auf die Kultur erweist, dass auch das Individuum nicht als Ausgangspunkt fungieren kann. Demgegenüber betont Lindbeck, dass Religion primär eine Praxis ist, die das ganze Leben umfasst. Religion drängt nicht erst auf Vergemeinschaftung, sondern ist ein irreduzibel soziales Geschehen. Gerade darum erweist sich das „kulturellsprachliche“ Verständnis von Religion als das „intellektuell und empirisch angemessenste“ (53). Religion in diesem Verständnis ist freilich nicht identisch mit einem System theologischer Sätze. Vielmehr „werden Religionen als umfassende Interpretationsschemata betrachtet, üblicherweise eingebettet in stark ritualisierte Mythen oder Erzählungen, die die menschliche Erfahrung und das Verständnis des Selbst und der Welt strukturieren“ (55).10 Folglich ist Religion auch nicht auf explizite Teilnahme zu beschränken, sondern kann auch diejenigen formen, die sich teilweise bewusst von ihr abwenden: „eine Religion kann selbst dann einen immensen Einfluss darauf ausüben, wie Menschen sich selbst und ihre Welt erfahren, wenn sie ihr nicht mehr explizit angehören“ (56). Religion ist demnach auch nicht das Resultat willentlicher Entscheidung, sondern liegt ihr gleichsam voraus, weil auch die Entscheidungen (auch die, ob man einer Religionsgemeinschaft angehören will oder nicht) selbst abhängig sind von Kriterien, die in ihrer Gesamtheit und Verbindlichkeit religiös genannt werden müssten. Von „Religion“ wäre im Vollsinn erst zu sprechen, wenn dabei die Formung des ganzen Lebens, Denkens und Handelns, aber auch Fühlens und Wahrnehmens im Blick ist: „Ein Christ zu werden, das bedeutet auch, dass man die Story von Israel und von Jesus so gut erlernt, dass man sich selbst und seine Welt verstehen und erfahren kann in ihren Begriffen.“11 die bloßen Sinneseindrücke begrenzt; hier ist aber von Erfahrung die Rede, die eine sinnhafte Strukturierung voraussetzt. 10 Freilich ist der Ausdruck ‚Interpretationschemata‘ (interpretative schemes) nicht ganz glücklich, insofern der ein Verständnis nahezulegen scheint, das das Verhältnis von Erfahrung und Sprache eben nicht dialektisch, sondern einlinig auffasst und damit gegenüber Lindbecks Intention umkehrt. 11 Meine Übersetzung nach dem amerikanischen Original, Lindbeck (1984: 34): „To become a Christian involves learning the story of Israel and of Jesus well enough to interpret and experience oneself and one’s world in its terms“.
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Eine Regeltheorie christlicher Lehre Damit ist zugleich die Differenz zum kognitiv-propositionalen Modell deutlich: Nicht die Lehrsätze, sondern die Praxis des Glaubens und die sie tragenden Stories machen die christliche Religion aus. Lehrsätze sind im kulturellsprachlichen Modell im genauen Sinn sekundär: Sie sind abgeleitete Sprechweisen; Lindbeck spricht darum von Lehrsätzen als von Sätzen zweiter Ordnung. Das mindert freilich in keiner Weise ihre Bedeutung, sondern erlaubt vielmehr, sie in ihrem tatsächlichen Funktionieren und darin ihrer Notwendigkeit besser zu verstehen. Sie sind Sätze zweiter Ordnung, weil sich das Leben des Glaubens nicht in ihnen vollzieht, sondern im Gebet, in Liedern, im Lesen und Erzählen der biblischen Geschichten, im diakonischen Handeln etc.12 Nicht die Sätze der Theologie stellen die entscheidenden Wahrheitsaussagen des Glaubens auf, sondern finden sie vielmehr im religiösen Sprechen auf: Sie entstehen, „wenn man danach trachtet, sich und andere performativ durch Gottesdienst, Verheißung, Gehorsam, Ermahnung und Predigt darauf einzustimmen, was man für das Allerwichtigste im Universum hält“ (109). In Lindbecks „kulturell-sprachlicher“ Religionstheorie hat demnach die Kreativität und Offenheit der religiösen Sprache den Vorrang von der Formulierung in Lehrsätzen. Dies ist nicht nur der Wirklichkeit gelebten Glaubens angemessener – man wird nicht Christ, indem man die Lehrsätze auswendig lernt und akzeptiert, sondern indem man in die Praxis des Glaubens hineinwächst und mit seiner Sprache vertraut wird –, sondern auch der Lehrentwicklung in der Geschichte der Kirche. Auch hier waren es die liturgischen Vollzüge und die Herausforderungen des Glaubens im Leben, die eine Sprache hervorbrachten, die dann sekundär zu Formulierung von Lehrsätzen führten. Gleichwohl hält Lindbeck eine Ergänzung und Konkretisierung des „kulturell-sprachlichen“ Modells für unerlässlich, die die Funktion der Lehraussagen in einer Regeltheorie fasst. Diese Ergänzung ist notwendig, weil die Kohärenz christlicher Rede und Erfahrung ohne eine regulative Instanz nicht zu denken ist; die Lehrbildung ist auf die Identität der Sprache des Glaubens bezogen, aber nicht ihre primäre Quelle.13 Diese regulative Instanz ist freilich bezeichnenderweise nicht außerhalb der Wirklichkeit des gelebten Glaubens gedacht, sondern in ihr selbst enthalten. Legt das Kulturmodell das Gewicht auf die produktive Offenheit christlicher Religion, so muss jetzt zur Geltung gebracht werden, wie diese Offenheit ihre spezifische Gestalt findet. Darum 12 Die „erstintentionalen Gebrauchsweisen religiöser Sprache“ (108) entsprechen mithin dem, was Friedrich Mildenberger (1991) als „einfache Gottesrede“ bezeichnet. 13 In Ausnahmefällen ist sicher auch möglich, dass Lehrbildungen selbst in einer Weise sprachschöpferisch werden, die einen Gewinn für die ‚einfache Gottesrede‘ darstellt.
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haben die Lehrsätze eine unverzichtbare, wenn auch nicht konstitutive Bedeutung: Sie bringen Glauben nicht hervor, sondern regulieren ihn. Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, ist auch hier der Vergleich mit einer natürlichen Sprache hilfreich: Lindbeck schlägt vor, christliche Lehre als Grammatik des Glaubens zu verstehen. Damit ist zugleich ihre Bedeutung für sinnvolle und kohärente christliche Sprache (und christliches Leben) im Blick wie das eigentümliche Phänomen, dass explizite theologische Sätze im Alltag des Glaubens keineswegs im Zentrum stehen. In dem von Lindbeck gebrauchten Bild: Um ein kompetenter Sprecher einer Sprache zu sein, ist es keineswegs nötig, die grammatischen Regeln explizit formulieren zu können. Der Sprecher einer Sprache muss sich nicht einmal bewusst sein, was diese Regeln im Einzelnen besagen – und doch gebraucht er sie und „spürt“ Regelverstöße sofort. Der Grammatiker wiederum ist nicht der kompetentere Sprecher, aber er reflektiert die Regeln, die solchem „Spüren“ zugrunde liegen. Erst so wird verständlich, wie die Kreativität der Sprache des Glaubens ihre Identität nicht auflöst, sondern jeweils neu zur Geltung bringt. Die Sprecher dieser Sprache sind wie „im Falle der Sprachkompetenz in natürlichen Sprachen […] nicht an starre Formeln gebunden, sondern können vielmehr zwischen den endlos vielfältigen, notwendigerweise innovativen Weisen unterscheiden, wie altes und neues Vokabular auf unvorhergesehene Situationen anzuwenden ist; sie können sie verstehen und sprechen. Sie mögen zwar keine formale theologische Ausbildung haben, aber sie sind höchstwahrscheinlich ganz mit der Sprache der Schrift und/oder der Liturgie „gesättigt“. Man könnte bei ihnen vielleicht von einer „flexiblen Frömmigkeit“ sprechen: sie haben die Grammatik ihrer Religion derart verinnerlicht, daß sie zwar nicht gleich Formulierungen christlicher Lehre (denn diese mögen für sie zu wissenschaftlich sein, um sie verstehen zu können) beurteilen können, aber doch die Annehmbarkeit oder Unannehmbarkeit der Folgen dieser Formulierungen für das gewöhnliche religiöse Leben und die Sprache“ (149f.). Der Vergleich mit der Grammatik bedeutet also gerade nicht, dass hier die Regeln formuliert sind, die man erlernen müsste, um sie „richtig“ anzuwenden. Vielmehr ist Grammatik die Bedingung dafür, dass Sprache Sinn hat und also nachvollziehbar ist. Das hat weitreichende Konsequenzen für das Verstehen von Bekenntnissätzen. Sie sind nach diesem Verständnis zunächst nicht präskriptiv, sondern deskriptiv. In besonderen Fällen können sie freilich zu wesentlichen Elementen der Sprache erster Ordnung werden: So etwa, wenn das theologisch subtil reflektierte Bekenntnis von Nizäa als gesprochenes Bekenntnis im Gottesdienst doxologischen Rang gewinnt. Bekenntnissätze summieren die gesprochene Sprache des Glaubens14 und können erst so ihre 14 Den Ausdruck „Summierung“ zur Klärung der Funktionsweise solcher Regeln, verwendet Ritschl (1988).
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regulative Bedeutung gewinnen, weil und insofern sie sich als hilfreich für das Funktionieren der Sprache und Kultur des Glaubens erweisen.15 Die Treue zu solchen Lehrsätzen bedeutet wiederum nicht, „sie zu wiederholen; vielmehr verlangt Treue bei der Erstellung irgendwelcher neuer Formulierungen die Befolgung derselben Direktiven, die bei ihrer ersten Formulierung wirksam waren“ (123). Die Bekenntnisse und Lehrsätze geben die Grenzen vor, innerhalb derer sich das Reden und Tun der Christen bewegen muss, wenn es sich in dem durch die biblischen Stories vorgegebenen Raum aufhalten will. Wo solche Grenzen überschritten werden, ist nicht zuvor festzulegen und ebenso wenig durch eine autoritative Instanz durchzusetzen. Die Grenzen der Identität christlichen Sprechens ist vielmehr wiederum strittig und theologisch nicht anders als im Rekurs auf das Wirken des Heiligen Geistes zu denken, den eben nie einer im Besitz hat: Eben darin manifestiert sich das Leben des Glaubens.
Konsequenzen Lindbecks „kulturell-sprachliches“ Modell und die mit ihm verbundenen Regeltheorie erlaubt es, die Transformationen christlicher Religion in der Geschichte der Kirche und in der Gegenwart theologisch und empirisch angemessener wahrzunehmen und bietet zugleich ein dogmatisch vertieftes Verständnis christlicher Lehre in ihrer Variabilität und Identität. Wird nämlich christliche Lehre als Grammatik einer lebendigen Sprache verstanden, löst sich die irreführende Alternative von starrer Lehre einerseits, religiöser Erfahrung und individueller religiöser Praxis andererseits auf. Für die Religionsforschung bedeutet das freilich auch, dass sie anderer und genauerer Verfahren bedarf, um die religiöse Wirklichkeit zu erfassen als die Applikation religionsexterner Kategorien oder die Überprüfung der Zustimmung oder Ablehnung angeblich offizieller Lehre. Dazu bedarf es einer engen Kooperation zwischen Religionsforschung und systematischer Theologie, die in deutlicher Unterscheidung der jeweiligen Perspektiven die für die Erforschung des komplexen Phänomens Religion notwendige Komplementarität zur Geltung bringen. Im Zusammenhang der Fragestellungen der Religionsforschung ist die Theologie zunächst als hermeneutische Disziplin gefragt, die ihren Ort an den Grenzen zwischen der Innen- und Außenperspektive hat, dann aber auch in dem Bezug auf Normativität, der für die Theologie unaufgebbar ist; dies freilich nicht in dem Sinn, dass sie Normen setzt, sondern die für das Christentum
15 Der kirchenrechtliche Gebrauch von Bekenntnissen steht darum in Spannung zu ihrem genuinen Sinn; freilich gilt für jede gehaltvolle Behauptung, dass sie ihr Gegenteil ausschließt und darum auch Trennungen impliziert.
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(wie für jede Religion) charakteristische Normativität offenlegt, zur Diskussion stellt und diese Diskussion im Kontext wissenschaftlicher Reflexion exemplarisch führt. Ihre Aufgabe ist es dabei also nicht, die christliche Lehre apologetisch zu vertreten – die notwendige christliche Apologetik hat einen anderen Ort –, sondern zu einem Verständnis der religiösen Wirklichkeit beizutragen, indem sie die Sensibilität für die religiösen Gehalte mitbringt, die oft genug verborgen erscheinen, gerade weil sie sich nicht in tradierten Termini bewegen. Diese Differenz zu den tradierten Glaubenssätzen muss gerade nicht als Gegensatz wahrgenommen werden; vielmehr kann sich dabei gerade ein Potential entwickeln, das theologisch produktiv ist. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit gelebten Glaubens ist darum auch von genuin theologischem Interesse,16 zumal niemand ganz in dem lebt, was als „Innenperspektive“ bezeichnet werden kann: Nicht nur sind Christen allemal selbst geprägt durch die Gegenwartskultur, sondern niemand „hat“ auch den Glauben; er liegt vielmehr auch den Glaubenden voraus. Innen- und Außenperspektive sind deutlich zu unterscheiden in ihrem Geltungsanspruch, der „von außen“ allemal relativiert werden muss, weil hier per definitionem konkurrierende Geltungsansprüche im Blick sind, „von innen“ aber nicht relativiert werden kann: Assertorische Sprachformen sind essentiell für die Sphäre dessen, was Religion heißen kann. Die genaue Wahrnehmung dieser Differenz ist Voraussetzung für ein Verstehen von Religion; sie wird sowohl in einer abstrakten Religionstheorie verwischt wie auch im Verzicht auf ein materiales Verstehen von Religion. Religionsforschung muss also Relativität und Objektivität gleichermaßen zur Geltung bringen. Anders wäre es unmöglich, die religionsanalytische Sicht in die Selbstwahrnehmung der Glaubenden zurückübersetzen zu können, wie es für ein Verstehen eines Sinnsystems unabdingbar ist. Ein Christ deutet nicht seine Endlichkeit als Geschöpflichkeit, sondern erfährt sich als Geschöpf Gottes; und die liturgische Antwort auf die Zusage der Auferstehung Christi kann nicht anders lauten als: „Er ist wahrhaftig auferstanden“. Hier ist freilich zwischen „intra-systematischer“ und „ontologischer“ Wahrheit zu unterscheiden (100). Diese „intra-systematische“ Wahrheit ist für eine Religion unverzichtbar; für ihre Anhänger ist sie aber auch „ontologisch“ wahr: Das freilich liegt jenseits dessen, was der Außenperspektive zugänglich ist.17 Der Nachvollzug 16 Den Nutzen der Außenperspektive für die Innenperspektive will auch Barth (2003: 29–87). Worin dieser Nutzen besteht, zeigt er allerdings nicht, weil er durchweg in der Außenperspektive bleibt. Der abstrakte Religionsbegriff, den er entwickelt, verläßt die Ebene der Metareflexion jedenfalls nicht. Lindbecks Modell ist hier deutlich ergiebiger; bei Barth sehe ich die Gefahr, dass er eben die Selbstreferentialität der Theologie, die er kritisiert, selbst reproduziert. 17 Lindbeck zufolge ist die Verifikation der ‚ontologischen‘ Wahrheit auch nicht die Aufgabe der Theologie, sondern verweist an die Orte der erstintentionalen Sprache des Glaubens: an den Gottesdienst, das Gebet etc.
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„intra-systematischer“ Wahrheit und der Respekt vor ihr sind freilich für ein Verständnis von Religion grundlegend. Bei Lindbeck wird aber auch deutlich, dass innerhalb einer Religion unhintergehbare Wahrheit in striktem Sinn nur für die Basissätze und den Rahmen einer Religion insgesamt gilt und eben nicht für einzelne abgeleitete Lehrsätze, die gerade um der Geltung des Rahmens willen veränderbar sein müssen, wenn sie in Konflikt mit ihm geraten. Die Geltung der dogmatischen Grundlagen ist aber auch die Voraussetzung dafür, dass innerhalb einer Religion überhaupt sinnvoll Wahres von Falschem unterschieden werden kann, auch wenn diese Unterscheidung (wie jeder menschlicher Rekurs auf Wahrheit) fehlbar ist. Lindbeck formuliert dies an einem prägnanten Beispiel: So ist „der Schlachtruf der Kreuzfahrer ‚Christus est Dominus‘ dann falsch, wenn er dazu benutzt wird, jemanden zu autorisieren, dem Ungläubigen den Schädel zu spalten (auch wenn dieselben Worte unter anderen Umständen eine wahre Aussage sein mögen)“ (101). Solche Urteile sind unmöglich, wenn keine klaren Wahrheitsansprüche erhoben werden; eine vorgeblich undogmatische Religion würde jedes beliebige Handeln legitimieren. Die Voraussetzung eines solchen „intrasystematisch“ wahren Rahmens gilt aber nicht nur für organisierte Religion und setzt auch keine formalisierte Lehrbildung voraus. Charles Taylor formuliert prägnant, dass es in jedem Leben „einen unbezweifelt feststehenden Rahmen [gibt], der die Forderungen zu bestimmen hilft, anhand deren diese Menschen ihr Leben beurteilen und gleichsam dessen Fülle oder Leere messen (Taylor 1994: 38). Die Artikulation und Reflexion dieses Rahmens wäre sinnvollerweise „Dogmatik“ zu nennen; dann folgt daraus aber, dass jeder Mensch seine Dogmatik hat: Überzeugungen davon, wie die Welt beschaffen ist, und was von Menschen zu erwarten ist; Vorstellungen davon, was das Leben zu einem guten macht. Diese Fragen sind in einem genauen Sinn dogmatische. Ein Verstehen religiöser Gegenwartskultur müsste daher bei den Gehalten konkurrierender Dogmatiken ansetzen. Mit Lindbecks Modell ließe sich fragen: Welche Grammatik steuert das jeweilige Sprechen? Welche (religiösen) Basisüberzeugungen geben den Aussagen und Handlungen Sinn? Hier eröffnet sich ein weites Feld empirischer Arbeit, für dessen Erschließung freilich auch erst die adäquate Methodik zu entwickeln wäre. Dazu muss bewusst bleiben, dass isolierte religiöse Aussagen unverständlich bleiben müssen, wenn nicht auch das sprachliche Netz präsent ist, in dem ihre Begriffe allererst Sinn haben. Die tradierten dogmatischen Sätze können nur missverstanden werden, wenn ihre Bedeutung im Ganzen der Sprache des Glaubens nicht nachvollzogen wird. So „scheitern in bestimmter Weise jene, die in der Sprache des Glaubens keine Fertigkeiten besitzen, nicht nur daran zu behaupten, daß ‚Jesus der Herr‘ ist, sie können es vielmehr nicht einmal bestreiten“ (107). Außerhalb dieses Netzes sind solche für den Glauben fundamentalen Sätze schlicht sinnlos; aus 242
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dem bloßen Befund, dass Menschen solchen Sätzen, wenn sie ihnen vorgelegt werden, zustimmen oder sie ablehnen, ist unmittelbar kein Erkenntnisgewinn zu ziehen. Daraus folgt aber auch, dass die (Selbst-)Definition religiöser Positionen als „undogmatisch“ selbstwidersprüchlich sein muss: sie setzen allemal die Geltung dogmatischer Prämissen voraus. Darum ist Luckmanns geradezu als Norm gebrauchte These zu bestreiten: „Ist die Religion erst einmal zur ‚Privatsache‘ geworden, kann das Individuum nach freiem Belieben aus dem Angebot ‚letzter‘ Bedeutungen wählen. Geleitet wird es dabei nur noch von den Vorlieben, die sich aus seiner sozialen Biographie ergeben“ (Luckmann 1991: 141). Auf den Gegensatz von organisierter und individueller Religion fixiert, verstellt diese Alternative den Blick für die wesentlichen Fragestellungen. Was ein Individuum „frei wählt“, ist eben nicht seine Religion, sondern allenfalls deren Ausdrucksformen, wobei auch deren „Wahl“ bei genauerem Hinsehen nicht „frei“, sondern in der Anwendung von Kriterien und Plausibilitäten erfolgt, die die Identität dieses Menschen ausmachen und keine bloßen „Vorlieben“ sind – eben das unterscheidet eine solche „Wahl“ von blanker und unverständlicher Willkür. Die leitenden Kriterien und Kategorien sind aber keineswegs individuell, sondern sozial und kulturell vermittelt: Hier erst beginnt die religionsanalytische Aufgabe. Die Ablösung der Säkularisierungsthese durch die Vorstellung einer Individualisierung von Religion ist darum unzureichend, weil ihr Wahrheitsmoment, das im Übergang eines einlinigen Konstrukts zur Wahrnehmung der Mannigfaltigkeit des Religiösen liegt, erst dann zum Tragen kommen kann, wenn das Paradigma, dem auch die Individualisierungsthese verhaftet bleibt, verlassen wird. „Individualisierung“ und „Privatisierung“ unterstellen eine Quasi-Geschichtsphilosophie, nach der christliche Religion einheitlich, geschlossen und in Übereinstimmung mit der offiziellen Lehre war und es immer weniger ist – was man dann, je nach Standort, entweder bedauert oder begrüßt. In Lindbecks Modell kommt demgegenüber zur Geltung, dass Lehren allemal Rahmen für unterschiedliche Lebens- und Denkformen des Glaubens sind, was sich im Übrigen durch reiches historisches Material belegen lässt. Wer nur ein wenig mit der Geschichte christlicher Frömmigkeit und Theologie vertraut ist, kennt genügend Beispiele, die dieses Bild nur als Fiktion erscheinen lassen: Hochgradig „individualisiert“ und „privatisiert“ war etwa der Pietismus seit seiner Entstehung. Wollte man das durch den Verweis auf gemeinsam geteilte Grundüberzeugungen bestreiten, so würde nicht nur jede Verständlichkeit religiöser (wie aller sozialer) Phänomene aufgelöst. In dem von Lindbeck gebrauchten Bild: Die gemeinsame Grammatik verhindert nicht individuelles Sprechen, sondern ist dessen Bedingung. Auch die religiöse Gegenwartskultur würde unverständlich – bzw. nur noch auf Theoriekonstrukte 243
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reduzierbar, die empirisch gar nicht mehr belegbar oder doch nur wegen ihrer vagen Allgemeinheit unwiderlegbar, weil inhaltsleer sind. Die religiöse Grammatik der Gegenwartskultur bzw. ihre konkurrierenden Grammatiken werden im Interpretationsrahmen „Individualisierung“ kaum sichtbar, ironischerweise wohl gerade darum, weil der Begriff auf die gegenwärtig fast allgemein akzeptierte Basisregel verweist, nach der Individualität in den Rang eines höchsten Wertes einrückt. Dabei wird freilich kaum reflektiert, ob dieses Konzept das Versprechen, das mit ihm verbunden ist, unter den gegenwärtigen Bedingungen überhaupt noch einzulösen in der Lage ist; es wird auch einigermaßen umstandslos als soziale Realität genommen. Die Frage stellt sich, ob dabei nicht die Innenperspektive einer impliziten sozialen Religion mit der Außenperspektive unzulässig vermischt wird, wenn die gängigen Sprachmuster als Realität ausgegeben werden. Die religiöse Gegenwart kann darum gerade nicht als „Selbstermächtigung des religiösen Subjekts“18 beschrieben werden, schon weil die darin enthaltene Unterstellung, in „traditionellen“ Formen der Religiosität seien Gläubige unmündig, kaum haltbar ist. Für diese Behauptung fehlen schon die empirischen Daten. Für die Vergangenheit ist das verständlich, weil entsprechende Fragestellungen weder im Blick noch methodisch erschließbar waren. Aber auch noch in der Gegenwart ist das Interesse der Religionsforschung in aller Regel auf die „Ränder“ und Sondergruppen konzentriert, der religiöse „mainstream“ aber, wenn es ihn denn gibt, kaum erforscht wurde.19 Von dem hier vorgestellten Verständnis christlicher Lehre aus greift es erheblich zu kurz, wenn konstatiert wird, dass „in den christlichen Kirchen eine neue, hochgradig ‚individualisierte‘ Generation von ‚Gläubigen‘ heran[wächst], die sich den dogmatischen Lehrsätzen und Machtansprüchen der Kirchenleitungen und der Theologie ‚stillschweigend‘ entzieht, um ihre eigenen religiösen und spirituellen Bedürfnisse auf je individuelle Art und – vor allem – in eigener Verantwortung zu befriedigen“ (Gebhardt/Engelbrecht/Bochinger 2005: 136). Eben dies gehört immer schon zur Wirklichkeit gelebten Glaubens, dass religiöse und spirituelle Bedürfnisse auf je individuelle Art und in eigener 18 Gebhardt/Engelbrecht/Bochinger (2005). Der Beitrag fasst die Ergebnisse eines empirischen Projekts zusammen, an dem ich selbst beteiligt war. In der Forschergruppe war ein Dissens festzustellen im Hinblick auf die Eignung des Interpretationsrahmens; insofern lässt sich mein Beitrag zum Teil auch als Begründung für meine Auffassung lesen, dass dieser Rahmen für ein Verständnis der religiösen Gegenwartslage wenig hilfreich ist. 19 Dieses Defizit ist nicht auf die Religionsforschung beschränkt: Auch in der Praktischen Theologie ist zu beobachten, dass die sog. „Kerngemeinde“ kaum Gegenstand der Untersuchung ist – wohl weil man sie zu kennen scheint. Das kann sich als kräftiger Irrtum herausstellen. Zudem ist hier ebenfalls zu fragen: Wird so nicht methodisch ein irreführendes Bild religiöser Wirklichkeit konstruiert?
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Verantwortung befriedigt werden. Dies kann ja durchaus auch in einer Weise geschehen, die sich tradierter religiöser Formen und Sprechweisen bedient, aber auch ganz eigene Wege gehen kann, wie die Dokumente und Traditionen der Volksfrömmigkeit reichhaltig belegen. Vielmehr dürften hier vorrangig unterschiedliche Ebenen und unterschiedliche Gattungen religiöser Sprache zum Tragen kommen: Der „offizielle“ Diskurs ist eben nie identisch gewesen mit dem „was die Leute glauben“ – und er konnte und sollte es nie sein, weil seine Aufgabe eine andere ist als die der religiösen Sprache erster Ordnung. Dass aber die Wirklichkeit gelebten Glaubens mittlerweile größere Aufmerksamkeit findet, ist der eigentliche Ertrag der Veränderungen in der Religionsforschung seit der Entplausibilisierung der Säkularisierungsthese. Die religionsanalytischen Folgerungen daraus stehen aber, soweit ich sehe, erst an ihrem Anfang. Die Veränderungen des dogmatischen Rahmens religiöser Artikulation erfordern eine genaue Beschreibung, die sich nicht auf die Oberfläche der Verbalisierungen beschränken kann, sondern deren religiöse Tiefengrammatik in den Blick nehmen müsste. So ist eben zu fragen, ob es sich in den Veränderungen religiöser Sprache nicht eher um neue Sprachformen und Sprachgewohnheiten als um eine substantielle Abkehr handelt. In solchen Transformationen religiöser Sprache kann es sich auch um eine Adaption an kulturelle Muster handeln, in der die Gehalte tradierter Lehre erhalten und aktualisiert werden – oder auch nicht. Aber das wäre erst zu erforschen. So ist z.B. die anscheinend wachsende Popularität der Rede von der „Reinkarnation“ noch kein Resultat, sondern ein Indiz für die Forschung, dass hier weitere Arbeit erforderlich ist. Die religionskulturelle Akzeptanz der Begrifflichkeit ist bekanntlich keineswegs mit einer Übernahme ostasiatischer Religiosität zu verwechseln, insofern sie deren Implikationen keineswegs übernimmt. Ist hier möglicherweise ein Reflex auf die theologische Betonung der Unanschaulichkeit von Auferstehung zu erkennen, die einen anderen Begriff erforderlich macht, um sich überhaupt noch etwas vorstellen zu können, was der eschatologischen Hoffnung Sinn gibt? Das wäre freilich auch kein gutes Zeugnis, dass der theologischen Dogmatik ausgestellt wird. Die hier angedeuteten Konsequenzen, die sich aus Lindbecks Ansatz für die Religionsforschung ergeben, müssen freilich auch die eingespielte Selbstwahrnehmung der kirchlichen Praxis irritieren. Besteht die Signatur der religiösen Gegenwartskultur nicht einfach in einem Bedeutungsverlust organisierter Religion, sondern vor allem in den Transformationen der religiösen Grammatik, so sind die üblichen kirchlichen Therapievorschläge eher Teil des Problems als ihre Lösung: Wenn sie überhaupt wirken, dann möglicherweise in einer Verstärkung der Entwicklung, denen sie wehren wollen. Vor mehr als vierzig Jahren hat Joachim Matthes die These von der „Emigration der Kirche aus der Gesellschaft“ kritisch beleuchtet (Matthes 1964). Gegenwärtig kann es den Anschein haben, als ob diese These wieder 245
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Konjunktur hat und geradezu zum Programm geworden ist: Die Bedeutung des christlichen Glaubens soll dadurch aufgewiesen werden, dass man seine Leistungsfähigkeit für die Befriedigung privater Bedürfnisse herausstellt; Glauben wird als Lebenshilfe verstanden und als „Deuteangebot“ für biographische Widerfahrnisse. Dabei steht außer Zweifel, dass christliche Religion das auch leistet und immer geleistet hat: Glaube tröstet und stärkt. Aber das ist eben nicht alles, sondern Glaube fordert auch und Glaube ficht an; seine tröstende und stärkende Kraft hängt aber gerade daran, dass er nicht soziale und kulturelle Plausibilitäten verdoppelt, sondern gegen sie an der Wahrheit Gottes festhält. Die öffentliche Bedeutung christlicher Religion besteht eben darin, dass sie diese Wahrheit präsent hält und darum auch die Sprache, in der sie sinnvoll ausgesagt und gehört werden kann. Eben darum ist auch die zur Selbstprivatisierung christlicher Religion komplementäre Verlockung, Kirche als Produzentin und Bewahrerin gesellschaftlicher Werte anzubieten, daraufhin kritisch zu befragen, wie diese Werte sich zur Grammatik des Glaubens verhalten, in der das Herrsein Christi die Mächte dieses Äons delegitimiert. Die Erinnerung daran erfordert eine christliche Lehre, die die alte „innersystematische“ Wahrheit neu und diskursbereit erfasst, und eine kirchliche Praxis, die sich dem Streit der religiösen Grammatiken aussetzt.
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Das Proble m de r Ge ne ratione n: Kultursoziologische Konseque nzen einer w issenssoziologischen Debatte 1 GEORG KAMPHAUSEN „Das ausgehende XIX. Jahrh. hat einen neuen Typus menschlicher Beziehungen zur Herrschaft gebracht. In wenigen Jahrzehnten hat das gegenseitige Verhältnis von Mensch zu Mensch scheinbar endgültig einen gesellschaftlichen Allgemeincharakter angenommen und damit seine traditionale, ständische, lokale Unmittelbarkeit abgestreift. In einigen wahrhaft revolutionären Schlägen vollzieht sich diese Vergesellschaftung des Menschen und die Aushöhlung seiner Partikularordnungen, in denen seine scheinbar unmittelbaren Lebensbeziehungen verwurzelt waren. Nun wird das Verhältnis von Mensch zu Mensch zunehmend vom allgemein-gesellschaftlichen Geschehen abhängig, vom Prozeß der Industrialisierung, von der Verkehrslage, vom Kapital- und Arbeitsmarkt, von Krise und Konjunktur, von der Mode und der öffentlichen Meinung, und abnehmend von Sitte und Konvention, von den Partikularordnungen innerhalb des Berufs, des Standes, der Stadt oder des Dorfes.“ (Ernst Manheim 1933: 3)
Wie ein roter Faden zieht sich die Frage nach den kulturellen Chancen menschlichen Handelns unter den Bedingungen einer zunehmend unübersichtlich gewordenen Moderne durch die Debatten der Jahrhundertwende. Dabei geht es nicht zuletzt um das Problem der kausalen Zurechnung jener Individualisierungs-, Differenzierungs- und Rationalisierungsprozesse, die alles Bestehende und Geltende, alles Gültige, Bewährte und Unhinterfragte im Strom des unaufhaltsamen sozialen Wandels mit sich reißen. Ernst Mannheim, der zu Unrecht fast vergessene Cousin Karl Mannheims, hat die sozio1
Der vorliegende Beitrag beruht im Wesentlichen auf Überlegungen, die ich im Umkreis meiner „Generation von 1890“ angestellt habe (vgl. Kamphausen 2002). Joachim Matthes Aufsatz zum Problem der Generationen bei Karl Mannheim aus dem Jahre 1985 war für meine eigene Sichtweise des „Generationenproblems“ von entscheidender Bedeutung.
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logische Zeitdiagnose einer zunehmenden Strukturlosigkeit moderner Daseinsverhältnisse aus der (seinerzeit ungewöhnlichen) Perspektive eines „Strukturwandels der Öffentlichkeit“ beleuchtet und dabei insbesondere auf den mit der „publizistischen Vergesellschaftung“ des modernen Massenmenschen einhergehenden Bedeutungswandel hingewiesen, der sich aus dem Strukturverlust hoch differenzierter Gesellschaften für die individuelle Zurechnungsproblematik ergibt. Die „publizistische Vergesellschaftung“, die in der modernen Industriegesellschaft zu einer fast völligen Abhängigkeit des Menschen von der „öffentlichen (veröffentlichten) Meinung“ geführt hat, findet ihre erste soziale Heimat in den Geheimgesellschaften, Clubs, Salons, Konventikeln, Zirkeln und Sekten, in deren Räumen das bürgerliche Subjekt seine geistige, kulturelle und politische Eigenständigkeit und Urteilskompetenz erprobt und formt. Im Unterschied zu dieser Privatisierung (Personalisierung) der bürgerlichen Vergesellschaftungsformen ist der Strukturwandel der Öffentlichkeit moderner Massengesellschaften durch eine Zunahme sekundärer Erfahrungen gekennzeichnet, die ihrerseits durch gemeinsam geteilte Meinungen, also kollektiv geteilte Begriffsräume kompensiert werden. Das „Problem der Soziologie“ ergibt sich somit einerseits aus der offensichtlichen und erlebbaren Einsicht in die zunehmende Komplexität moderner Lebensverhältnisse, deren Steuerbarkeit, also Offenheit für menschliche Handlungsalternativen als zunehmend problematisch angesehen wird, andererseits aus den sich hieraus ergebenden Steuerungs- und Begründungsnotwendigkeiten. Weil weder Natur noch Tradition, weder Herkunft noch der Hinweis auf das Schicksal stabilisierend wirken, erscheint es zunehmend plausibel, alles Unverstandene (Determinierende) im Bild der Gesellschaft zu fixieren, die das große Rätsel und zugleich die einzige Bezugsgröße ist. Furcht und Hoffnung, Verzauberung und Enttäuschung liegen eng beieinander, weshalb der Begriff der „Gesellschaft“ von Anfang an die widersprüchlichsten Erwartungen tragen muss. Indem ganz heterogene Erscheinungsformen, Charakterzüge und Strukturbesonderheiten der „modernen Gesellschaft“ (zumeist im Singular) begrifflich gebündelt werden (Rationalisierung, Säkularisierung, Bürokratisierung, Individualisierung etc.), verspricht der Gesellschaftsbegriff im Konzept der gesellschaftlichen Verumständung alles individuellen Handelns und des gesamten menschlichen Institutionengefüges eine „kausale Zurechnung“, die das Einmalige, Einzigartige und Besondere der Ereignisgeschichte in den Hintergrund drängt. Der individualisierenden Methode des Historikers („Männer machen Geschichte“) wird eine Gesellschaftsgeschichte entgegen gestellt, die – selbst wenn sie vergleichend angelegt ist – auf Strukturähnlichkeiten, Modernisierungsfolgen oder Transformationsprozesse, also auf gesellschaftliche Faktoren verweist. Nachdem die heroisierende (National-)Geschichtsschreibung durch Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte ergänzt, kor250
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rigiert und auf ganz neue Forschungsfelder geführt wurde, entstand um 1900, also zeitgleich mit dem Entstehen einer Soziologie, „die nichts als Soziologie“ sein wollte und Soziales aus Sozialem zu erklären versprach, eine ganz andere, „kulturwissenschaftlich“ orientierte Sozialwissenschaft, deren individualisierende Perspektive auf ein Verständnis der gesellschaftlichen Vielfalt der unterschiedlichen Räume und Zeiten zielte. Ihr gelten soziologische Begriffe nicht als Platzhalter gesellschaftlicher Realitäten, sondern als „konjunktive“, zeitspezifische und raumbegrenzte, idealtypische Versuche, die Vielfalt der gesellschaftlichen Phänomene unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutsamkeit zu gliedern. Die Wissenssoziologie ist ein wesentlicher Teil dieser (spezifisch deutschen) Daseinsanalyse und Zeitdiagnose. Vor allem der Generationsbegriff Karl Mannheims kann als eine kultursoziologische Formel für den Zusammenhang von Ort und Zeit unter den Bedingungen des Strukturverlustes der Moderne, als ein „ideenpolitisch“ geprägter Milieubegriff gelesen werden (Generation als Überzeugungsgemeinschaft; Generation als Konsumgenossenschaft; Generation als „emotive Gemeinschaft“ auf der Grundlage gemeinsam geteilter Begriffe etc.). Soziologisch interessant ist der Generationsbegriff gerade deshalb, weil er die gängige „soziale Zurechnung“ auf Gesellschaft hin in Frage stellt, also eine Neubestimmung des Verhältnisses von Überbau und Unterbau, von Idee und Interesse, Sein und Bewusstsein ermöglicht und damit eine Identitätsverheißung unter den Bedingungen zunehmender Differenzierung verspricht. Als analytische Kategorie einer „Soziologie des Geistes“, die auf ein Verständnis des beschleunigten sozialen Wandels zielt, den sie als einen solchen der Weltanschauungen2 und Mentalitäten begreift, taucht der Begriff der Generation in seiner soziologisch „reflektiertesten“ Fassung zuerst im Umkreis der Wissenssoziologie Karl Mannheims auf. 3 Aber bereits am Ende des neunzehnten Jahrhunderts gehören Generationstheorien und die mit ihrer (zumeist) zyklischen Geschichtsbetrachtung einhergehende Vorstellung von der „Degeneration“ und „Regeneration“ nationaler Kulturen zum gängigen Selbstver2 3
Vgl. hierzu Karl Mannheim (1923): dort heißt es in Anlehnung an Dilthey, dass Weltanschauungen nicht Erzeugnisse des Denkens sind (239). Karl Mannheim (1928): Eine Soziologie der Intelligenz entsteht insbesondere im Umkreis der Dreyfus-Affäre, aber auch im Kontext des Neo-Machiavellismus der Elitetheorien der Jahrhundertwende, also bei Mosca, Pareto, Sorel, Ferrero und LeBon. Verglichen mit den romanischen Ländern gab es eine gesellschaftliche Debatte um die Rolle der Intellektuellen in Deutschland erst sehr viel später. Diese „Verspätung“ der deutschen Intellektuellen-Soziologie wird thematisiert bei Theodor Geiger (1949). Auch Geiger handelt von der „Geburt der Intelligenz“ (bezeichnenderweise nicht: der Intellektuellen); Geigers „Intelligenz“ ist eine Gruppe „großer Individuen“, deren „Durchbruch“ und Wirksamkeit er mit der Renaissance beginnen lässt.
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ständigungsmittel eines Bürgertums, das seine „Krise“ und „Lebensverlegenheit“ (E.R. Curtius) intellektuell zu bewältigen sucht. „Es war wohl um die Jahrhundertwende, dass der Begriff der Generation zu einem Schlagwort geworden war, zu einem jener Schlagworte, die die Diskussion seit über zwei Jahrzehnten hartnäckig beherrscht haben.“ Dieses Schlagwort verfügte über eine fast mystische Lebendigkeit, „bot es doch in einer Zeit wachsender sozialer Spannungen und religiösen Zerfalls so etwas wie eine neue Formel der Einigkeit und Einigung. In dieser Zeit, da alles problematisch geworden war, Staat und Volk, Stand und Familie, da alle alten Einheiten sich zu lösen begannen, fanden viele in dem Gedanken der Altersgemeinschaft, in dem Gedanken der Generation einen neuen Halt und eine neue Stütze“ (Hasbach 1930: 106). Wenn wir uns im Folgenden dem Generationsbegriff als Kategorie einer „Soziologie des Geistes“ widmen, sehen wir zunächst von den geläufigen konzeptuellen Unterscheidungen (Generation als Kategorie zur Unterscheidung der Abstammungsfolgen in Familien: genealogischer Generationenbegriff; Generation als pädagogisch-anthropologische Grundkategorie, in der es um das Verhältnis zwischen vermittelnder und aneignender Generation geht: pädagogischer Generationenbegriff) ab und werden uns ausschließlich auf die dritte Bedeutungsvariante des Generationsbegriffs konzentrieren, die auch im Mittelpunkt der Mannheimschen Analyse steht. Dabei geht es um die Unterscheidung kollektiver historischer und sozialer Gruppierungen, die sich durch ihr gemeinsames Erleben, durch prägende Ereignisse und durch gemeinsame Denkvoraussetzungen und kulturelle Chancen auszeichnen (historisch-gesellschaftlicher Generationenbegriff).
Problembegriff einer Epoche Als einen „unerlässlichen Führer bei der Erkenntnis des Aufbaues der sozialen und geistigen Bewegungen“ bezeichnet Karl Mannheim den Begriff der Generation (vgl. Mannheim 1928). Ortega y Gasset nennt ihn den „wichtigsten Begriff der Geschichte und gleichsam die Angel, in der sie sich dreht“ (Ganser 1928: 82). Das „Schlagwort von der Generation“, so Theo Hasbach, bezeichne die „Problematik einer ganzen Epoche, nur zu verstehen aus den Schwierigkeiten, denen sich der Individualismus des vergangenen Jahrhunderts seit langem gegenübersah“ (ebd.).4 In dem Jahrzehnt vor und den Jahren 4
Mit dem Begriff der Generation wird ein ganz neues Konzept gesellschaftlicher Integration eingefordert. Die Auflösung der „beharrenden Verbände“, also die Dekorporierung der Gesellschaft, nicht aber die Vervielfältigung unterschiedlicher Lebensformen wird hier als „Problem des Individualismus“ beschrieben. Die entsprechenden Fragen lauten: Wie ist Gesellschaft möglich? Welche (funktionierenden) Gemeinschaftsformen kann es in der modernen Gesellschaft geben?
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nach der Jahrhundertwende erlebte der Generationsbegriff, zumal in Deutschland, eine große Karriere. Generationserscheinungen wurden nicht nur wie andere Phänomene der modernen Massengesellschaft in ihrer besonderen Kulturbedeutung analysiert; man sah in ihnen vor allem ein Gegengewicht zur fortschreitenden Fraktionierung der Gesellschaft, also eine Art sozialen Kitts, der aber nun nicht mehr als Einbindung in bestehende Sozialverhältnisse, sondern als Verpflichtung auf glaubwürdige Ideen, Identität, Sicherheit und Konsens stiften sollte. Der Begriff wird zum Ausdruck des (Bildungs-)Bürgertums im Zeitpunkt seiner Krise, er ist zugleich ein Mittel der Zeitdiagnose und der Selbstbeschwörung. Einig sind sich alle Generationstheoretiker der Jahrhundertwende jedenfalls darin, dass sich die Bedeutung des Generationsbegriffs aus der Unsicherheit der Selbstbestimmung und Selbstverortung des Bürgertums erklärt. Unbezweifelbar, so Alewyn, nehme die Geltung des Begriffes zu mit der „Schwächung der beharrenden Verbände“ und einer „Auflösung von Sonderstrukturen“. „Darum ist der Generationsbegriff in unseren Tagen mit solchem Pathos formuliert worden, darum taucht er jetzt als historisches Prinzip auf“ (Alewyn 1929: 527). Aus der Krise der bürgerlichen Gesellschaft und der damit einhergehenden Fragwürdigkeit der Selbstbeschreibungen des neunzehnten Jahrhunderts gewinnt der Begriff seine Plausibilität. Mit ihm entsteht ein geschärftes Bewusstsein für die unglaubliche Macht des Wortes, also die Einsicht, dass Begriffe zum entscheidenden Mittel der Gehorsamserzwingung geworden sind und dass nur im Kampf der Begriffe kulturelle Geltungen durchzusetzen sind. Es war Wilhelm Dilthey, der dem bereits weit vor der Jahrhundertwende einsetzenden Theoretisieren über Generationen eine neue Wendung gab. Im Gegensatz zu der in der positivistischen Denktradition vorherrschenden veräußerlichten, mechanisierten Vorstellung von Zeit als einem objektiven Maß für einen geradlinigen Fortschritt, betonte er die im Generationserleben nur qualitativ erfassbare, innere Erlebniszeit. Generationseinheiten, so Dilthey, erlauben ein nacherlebbares, anschauliches Abmessen geistiger Bewegungen. „Für jeden ist die gleiche Zeit eine andere Zeit, nämlich ein anderes Zeitalter seiner selbst, das er nur mit Gleichaltrigen teilt“ (Pinder 1926: 21). Eine radikale Subjektivierung und Ästhetisierung erfuhr dieses „Zeitempfinden“ im Stilbegriff der Literatur- und Kunstgeschichte der Jahrhundertwende. Im Konzept der „Entelechie“ schließlich wird die einer Zeit „inhärierende Tendenz“, ihr Welt- und Lebensgefühl als das innere Ziel einer Generation beschrieben. Begriffe wie ‚Stil‘,5 Zeitgeist‘6 oder ‚Mentalität‘ beschreiben nun 5 6
Vgl. hierzu insbesondere Snell (1957). Unter Zeitgeist wird zumeist der Inbegriff aller jener Bestandteile eines bestimmten Fühlens, Wollens und Vorstellens verstanden, von welchem die Mehrzahl der Menschen in einer bestimmten Zeit erfüllt ist und von dem ihr Denken und Handeln beeinflußt wird (Schultze 1894: 1).
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gemeinsam geteilte „konjunktive Erfahrungsräume“ von Generationen. In ihnen bildet sich zugleich auch ein neuer Zugang zum akkumulierten Kulturgut heraus, der in Konkurrenz tritt zu dem, der von vorhergehenden Generationen vertreten und kraft ihrer gesellschaftlichen Vormachtstellung behauptet und bewahrt wird.7 Von einer „soziologischen Theorie“ der Generation8 oder des „generativen Verhaltens“ ist um die Jahrhundertwende aber noch keine Rede. Vielmehr geht es um den Versuch, den durch Historismus, Individualismus und Subjektivismus geschärften Blick auf die „Vieldeutigkeit“ der Wirklichkeit, die mit einem Verlust der Eindeutigkeit der überlieferten Strukturbegriffe einhergeht und die Frage nach der Beziehung zwischen Ideen und Interessen erneut aufwirft, auf den Begriff zu bringen. Der nicht zufällig aus der Kunstund Stilgeschichte entlehnte Begriff9 stellt daher im Kontext einer „Soziologie des Geistes“ die Ansprüche und Selbstverständlichkeiten des soziologischen Denkens selbst radikal in Frage, indem er einer an Strukturbegriffen orientierten Theorie der Gesellschaft jede Plausibilität verweigert. Generationseinheiten beschreiben vielmehr die „geistige Textur des sozialen Geschehens“ (Mannheim 1928: 521); sie erlauben ein „inneres Abmessen geistiger Bewegungen“ (ebd.: 516).10 Nicht nur bei Mannheim wird das Zurückschrecken vor den (nicht nur erkenntnistheoretischen) Konsequenzen einer solchen Sichtweise11 deutlich und es ist kein Zufall, dass er den Form- und Struktur-
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Die Vorstellung wird bestimmend, daß sich der gesellschaftliche Wandel in einem solchen Widerspiel von gesellschaftlicher Erinnerung, Vergessen und neueinsetzender Tat vollzieht. 8 Wie z.B. im Kontext der Jugend- oder Familiensoziologie (vgl. u.a. Schelsky 1957; Bengtson 1974). 9 Hans Speier hat darauf aufmerksam gemacht, dass Mannheims Essay auf Anregung des Kunsthistorikers Max Dvorak entstanden ist (vgl. Speier 1988: 91). Die Wissenssoziologie, so Mannheim, habe sich belehren zu lassen durch die Methoden der Kunstgeschichte als Stilgeschichte. Ideologien seien zu analysieren als „Denkstile“; vgl. hierzu auch die Ausführungen von Rodney (1992). Ganz ähnlich auch die Stilanalyse über die Sozialpathologie von Mills (1943). Interessanterweise liegt auch dem Ansatz Mills die Vorannahme zugrunde, dass fundamentale Erfahrungen und Haltungen nicht im Substratum individueller Leben in Isolation entstehen, sondern dass Individuen, die in der gleichen Gruppe zusammen sind, eine gemeinsame Grundlage von Erfahrungsinhalten teilen. Dieser gemeinsam geteilte Erfahrungsraum, so Mill, führt zu spezifischen Denkstilen, die eine gewisse interne Kohärenz aufweisen und etwas begründen, was man als Lebenssystem begründen könnte. Mannheim behauptet nun, dass solche Weltanschauungen mit konkreten sozialen Gruppenbildungsprozessen einhergehen, vermag aber nur wenig über die Mechanismen zu sagen, die einer solchen Gruppenbildung zugrunde liegen. 10 Vgl. hierzu auch Gumplowicz (1897). 11 Eine ähnliche Einsicht liegt bekanntlich der „idealtypischen“ Methode Max Webers zugrunde.
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verlust der modernen Gesellschaft zwar als Ästhetisierungsprozess, also als einen Vorgang des Abbaus sozialer Verbindlichkeiten beschreibt, diesen aber selbst wieder soziologisch, also aus (scheinbar) „gegebenen“ sozialen Strukturen und Gruppen ableiten und erklären will.
Willensgemeinschaften und Glaubenskollektive Die Generationseinheit wird zunächst und vor allem als eine Willensgemeinschaft, als Glaubenskollektiv vorgestellt, deren Weltanschauung die Individuen auf einen bestimmten Spielraum möglichen Geschehens beschränkt und dadurch eine bestimmte Art des Erlebens und Handelns, eine spezifische Art des Eingreifens in den historischen Prozess nahelegt. Die Ähnlichkeit dieser Auffassung mit dem für Max Weber zentralen Begriff der kulturellen Chance ist offensichtlich. Die kulturelle Chance einer Generation besteht darin, dass sie über besondere Denkmittel, Schlagworte, Ideen, politische Alternativen und Entscheidungsstrategien verfügt. Die dadurch gegebenen Möglichkeitshorizonte zu bestimmen, die denkbaren ideenpolitischen Alternativen auszuloten und auf ihre Motivkraft sowie ihre Fähigkeit, Fügsamkeit herzustellen, zu überprüfen, wird nun zur interessantesten Frage einer Soziologie der Ideen und zu einer besonderen Aufgabe der Religionssoziologie, die die kulturellen Grenzen und Vorgaben dieser Möglichkeitshorizonte in ihrer geschichtlichen Genealogie (in ihrem „so und nicht anders Gewordensein“, Max Weber) untersucht. Die Dynamisierung der Gesellschaft erscheint nun im Gewand eines beschleunigten generationellen Wandels. Mit dem Auftreten neuer Generationen auf der Bühne des gesellschaftlichen Geschehens werden nun auch gesellschaftliche Veränderungen verknüpft: die Erneuerung oder Zersetzung des Überlieferten, die Selbstsicherheit der Jungen und die Ungewissheit der Alten. Das damit einhergehende Bedürfnis nach Inklusion und Zugehörigkeit schärft das Bewusstsein für die Grenze und für das Fremde und fördert nicht nur den Bruch mit der Generation der Väter, sondern auch den eigenen Selbstbehauptungswillen (Nationalismus, Heroismus) und die damit verbundenen Polarisierungen und Entgegensetzungen. Der enge Zusammenhang zwischen Mannheims Wissenssoziologie und seiner Studie über das „Problem der Generation“ ist bislang kaum gesehen worden, sieht man von einer einzigen Ausnahme ab: Joachim Matthes Aufsatz aus dem Jahre 1985 über „Karl Mannheims ‚Das Problem der Generationen‘, neu gelesen“ (Matthes 1985). Das fachsoziologische Desinteresse an diesem Thema lässt sich leicht erklären, berührt das Thema doch die entscheidende Frage nach dem Verhältnis von Ideen und Interessen und das sich daraus ergebende Problem einer Soziologie als „Theorie der Gesellschaft“, also die nicht nur in methodologischer Hinsicht schwer wiegende Problematik 255
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der „kausalen Zurechnung“. Man geht daher nicht zu weit, wenn man die Wissenssoziologie als den letzten Versuch begreift, das Problem der Beziehung zwischen Ideen und Interessen im Kontext einer Theorie der Gesellschaft zu lösen. Denn auch Mannheim beharrt – wie Durkheim – darauf, dass eine Soziologie ohne eigenen Gegenstandsbereich nicht denkbar sei. Jedes „soziologische“ Argument bedürfe der Ableitung aus einer als real vorgestellten gesellschaftlichen Wirklichkeit. Während Durkheims ehrgeiziges Programm noch darauf abzielte, Soziales durch Soziales zu erklären, war es das bescheidenere Anliegen der Wissenssoziologie Mannheims, Geistiges durch Soziales zu erklären. Der Generationenaufsatz Mannheims macht auf die Schwierigkeiten und Widersprüche einer solchen Soziologie des Wissens aufmerksam.
Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen Während die eine Seite ihr Ideal in der Quantifizierbarkeit der Problematik sah und die Grenzdaten, also den scheinbar regelmäßigen Wechsel zwischen den Generationen quantitativ zu bestimmen suchte, verzichtete der qualitative Zugriff auf diese mathematischen Spekulationen und versuchte, den Generationswechsel aus einer Korrespondenz zwischen bedeutsamen historischen Ereignissen und den sich daraus ergebenden gemeinsam geteilten „inneren Erfahrungen“ zu bestimmen.12 Für den Liberalen und Positivisten, also den – aus deutscher Perspektive – idealtypischen Franzosen war das Generationsproblem zumeist ein Beleg für die geradlinige Fortschrittskonzeption (Mannheim 1928: 515). Aber gerade diese Fortschrittskonzeption, die mit einem mechanischen Zeitbegriff operierte, wurde im romantisch-historisch fundierten deutschen Denken, das im Generationsproblem geradezu einen Gegenbeweis gegen die Linienhaftigkeit des historischen Zeitablaufes sich zu finden bemühte, grundsätzlich in Frage gestellt. Das Generationsproblem wird hier zum Problem des Vorhandenseins einer nicht messbaren, rein qualitativ erfassbaren inneren Erlebniszeit: im Miteinandersein in derselben Welt und in der Entschlossenheit für bestimmte Möglichkeiten sind die Schicksale im Vorhinein schon geleitet. Was am Generationsphänomen besonders interessiert, ist hier gerade die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, also die Vorstellung, dass in derselben chronologischen Zeit verschiedene Generationen leben und sich „überlagern“. Dieser Gedanke der Gleichzeitigkeit des Un-
12 Während von positivistischer Seite aus immer wieder versucht wurde, ein generelles Gesetz der historischen Rhythmik zu suchen, zeigt das Buch Pinders, daß man auch von einer romantisch-historischen Fragestellung ausgehen und doch bei dem Versuch des Aufweises eines generellen Gesetzes der historischen Rhythmik enden kann (vgl. Pinder 1926).
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gleichzeitigen13 stammt von Wilhelm Pinder und war, nicht nur in der Kunstund Stilgeschichte, von großer Bedeutung. Insbesondere in der Kulturgeschichte erlaubte der Begriff der Generation das Problem der Periodisierung der „Moderne“ zu umgehen. Weder der Wechsel der Jahrhunderte, noch die Abfolge bedeutsamer politischer Ereignisse (1789, 1848, 1870) gaben dem Bedürfnis, „inneren Halt“ in einer sich beschleunigenden Zeit zu finden, einen Anhaltspunkt. Die Gemeinsamkeit des „inneren Erlebens“ wird zum Bezugspunkt der geschichtlichen Selbstverortung, und diese wiederum beruht auf der Verbreitung von „Schlüsselwörtern“, die diese Zeiterfahrung auf den Begriff bringen: Säkularisierung, Ökonomisierung, Amerikanisierung, Kapitalismus etc. Mit der „Sprunghaftigkeit einer biologischen Mutation“, so meinte Richard Alewyn, trete „ein neues Geschlecht“ (eine neue Generation) mit einem neuen, eigentümlichen Weltgefühl auf den Plan (vgl. Alewyn 1929: 519ff.). Nicht nur Alewyn, auch Pinder, Petersen, Utitz und Wechßler (vgl. hierzu ins.: Utitz 1930; Wechßler 1927; Mentre 1920) finden es daher wenig sinnvoll, den Geburtsschein oder das Reifezeugnis über die Zugehörigkeit zu einer Generation bestimmen zu lassen. Ausschlaggebend für sie alle ist, dass Generationen – wie alle historischen Wirklichkeiten – zunächst Evidenzen, „Gestalten“ sind und nicht rechnerische oder sonstige Konstruktionen. Wo keine solche Evidenz vorliegt, ist auch keine Generation, auch wenn die Geburtsjahre aufeinander folgen. Wo aber evidente Generationserscheinungen vorliegen, können sie durch eine widersprechende Chronologie nicht widerlegt werden.
Soziale Standortlosigkeit und die „Soziologie des Geistes“ Seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gewinnt der Generationsbegriff eine systematische Bedeutung.14 Die Vorstellung setzt sich durch, dass die 13 Der Begriff der Generation markiert daher die „kulturelle Entdeckung der Zeit“; es geht um eine kulturelle Regelung der Zeitlichkeit des Menschen (vgl. Matthes 1985). 14 Der Grundgedanke der „politischen Generation“ geht auf Bagehot (1872) zurück. Er benutzt den Begriff zur Darstellung des Elitenwandels. Bürger undStaatsmänner, so Bagehot, werden von der jeweiligen Verfassung geprägt. Normalerweise erfolge der Wechsel zwischen den Generationen geräuschlos: Permanent würden ältere Mitglieder der politischen Elite durch jüngere ersetzt. Gelegentlich trete aber auch einmal eine ganze Elitengeneration ab. Nichts habe einen entscheidenderen Einfluss auf die Politik als ein solcher Vorgang. Vgl. hierzu und im Folgenden ins. die Arbeit von Fogt (1982) zur Bedeutung der Generationentheorie für die politische Soziologie geht. Die herkömmliche politische Soziologie, so Fogt, hat das Generationsproblem vernachlässigt, indem sie das Lebensalter vornehmlich als eine sozialstrukturelle Kategorie behandelte.
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gemeinsame Teilhabe am geschichtlich-gesellschaftlichen Prozess über gemeinsam erfahrene Großereignisse im Lebenslauf bestimmt wird: Kriege, Revolutionen, Katastrophen, einschneidende Veränderungen im politischen und sozialen Gefüge15 werden zum Gemeinschaft stiftenden Bezugspunkt einer Generationseinheit erklärt. Hergestellt wird eine solche Generations-Gemeinschaft als Bekenntnis zu einem Glauben, der eben nicht der Glaube der Väter, sondern der Glaube an ein imaginiertes Kollektiv ist. Dieses neuartige Verständnis von der Generation als einer Schicksalsgemeinschaft der Gleichaltrigen setzt sich als Medium der Selbstverständigung am Ende des neunzehnten Jahrhunderts zunehmend durch. Generationstheorien16 tauchen nun überall auf: in der Kunst- und Literaturgeschichte, in der Kultur- und Sozialgeschichte, und sie beschreiben den Lebensraum der Jugend, der Avantgarde und der Intellektuellen als der Partei des gesellschaftlichen Fortschritts. Der Begriff der Generation ist ein Produkt des Historismus und tritt mit ihm gleichzeitig in Erscheinung. Er beschreibt Ähnlichkeitsverhältnisse zwischen Menschen, die ihre eigene Verortung in der Gesellschaft aus dem Bewusstsein ihrer zunehmenden sozialen Standortlosigkeit heraus definieren. Erst der Historismus bereitet den Boden für die Soziologisierung des Geistes, indem er den Blick für die Folgeprobleme der Auflösung und Verflüssigung überzeitlicher Wahrheitsannahmen und Handlungsprinzipien schärft und damit deutlich macht, dass die Geschichte nicht mehr als unmittelbar wirksame Tradition,17 sondern nur noch als gewusste Geschichte zu wirken vermag. Der Begriff der Generation ist daher zugleich ein Medium der Selbstbeschreibung gesellschaftlich entwurzelter Intellektueller (der „frei schwebenden Intelligenz“), wie auch ein ideenpolitisches Instrument zur Beschreibung und Analyse einer Gesellschaft, die sich aus den überkommenen sozialen Bindungen zunehmend gelöst hat und die überlieferten gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen des neunzehnten Jahrhunderts radikal in Frage stellt. Das Bedürfnis nach einer historischen Rechtfertigung des Lebens wächst im gleichen Maße wie ein (scheinbar) „traditionsloser“ Kapitalismus und Industrialismus die politische Funktionslosigkeit des neuen Bürgertums verstärkt. Insbesondere für Deutschland gilt, dass dieser Traditionsverlust durch ein starkes politisches Geschichtsbild weder gebremst noch verlangsamt werden konnte und sich die Historisierung nicht in den Grenzen und im Rahmen der Wissenschaft halten ließ. Helmuth Plessner hat gezeigt, wie aus diesem Gefühl der zunehmenden Ortlosigkeit heraus der Kampf der Weltanschauungen geboren wurde. Der deutsche Mangel an einem maßgeblichen politischen 15 Dies gilt nicht nur für den eigenen, nationalen Kontext, sondern auch für den geopolitischen Großraum. 16 Die keine „Theorien“ im engeren Wortsinne sind. 17 Die Bedeutung des Generationsbegriffs, so Plessner, werde durch einen Prozess der Enttraditionalisierung verstärkt (vgl. 1974).
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Geschichtsbild, ein Mangel, der nicht aus einem Zuwenig, sondern aus einem Zuviel, aus einem Wettstreit gegeneinander nicht ausgeglichener Traditionen und Geschichtsbilder entstand, habe, so Plessner, zu einem „Verlegenheitshistorismus“ geführt: aus diesem „Mangel an Fülle“ resultiere in Deutschland die Tendenz zur Verabsolutierung jeweils besonderer Traditionen.18 Der nahezu beliebige Griff in die Vergangenheit ließ die unterschiedlichsten Weltanschauungen ins Kraut schießen.19 Über alle Unterschiede hinweg waren sich die „historistischen Mythenkonstrukteure“ (Butterfield 1950) jedoch in ihrer negativen Tendenz gegen Liberalismus, Kapitalismus, Materialismus, Positivismus und Individualismus einig. Unbestritten ist zudem, dass sich die Geschichtsgläubigkeit im historistischen Relativismus nicht lange zu halten vermag: indem man den beständigen Wechsel der Meinungen und Tendenzen, Moden und Avantgarden zum Prinzip erhebt, wird gleichzeitig der Hass auf das entgegen gesetzte Prinzip geschürt. An die Stelle des Glaubens tritt das Achselzucken der Skepsis, an die Stelle des Ideals die Einsicht in die geschichtliche Bedingtheit aller Ideale. Aus der Notwendigkeit der Überwindung des Historismus, der die Welt in seine Bestandteile zerlegt, folgt das Bedürfnis, im Besonderen und voneinander Getrennten eine Einheit wieder zu finden. Die Herstellung dieser Einheit aber ist durch das Leben und durch die Geschichte selbst nicht gegeben, sondern verdankt sich allein einer intellektuellen Leistung, sie ist eine Konstruktion, eine Kopfgeburt, sie ist nur auf dem Wege einer idealtypischen Begriffsbildung, die ganz bewusst nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, denkbar. Es wird zunehmend deutlich, dass eine Zeit, die sich von der Monopolsituation der kirchlichen Weltauslegung weitgehend emanzipiert hat,20 im wesentlichen dadurch charakterisiert ist, dass viele isolierte Lebenskreise sich anheischig machen, die Erbschaft der offiziellen Weltauslegung zu übernehme (vgl. Mannheim 1982: 341). „Es gehört zur Struktur der Demokratisierung des Geistes, daß hierbei jede Partikularansicht die Aspiration hat, zum universellen Auslegungsschema zu werden […]“ (ebd.: 345).
18 Plessner (1982): Der damit einhergehende „Butzenscheibenstil“, so Plessner, griff in seinem Verwandtschaftsgefühl zum 16. Jahrhundert nicht fehl, weil es die letzte Epoche einer blühenden deutschen Städtekultur war. 19 Eine außerordentlich aufschlussreiche und hellsichtige Kritik des damit einhergehenden ideenpolitischen Opportunismus stammt von Leisegang (1922). 20 Während die Reformation nur die Autoritäten pluralisierte, hat sie das 19. Jahrhundert säkularisiert. Es liegt daher bereits ein demokratisierender Zug darin, daß die Weltauslegung des Laienverstandes den Anspruch erhebt, zur offiziellen Weltausalegung zu werden; so Karl Mannheim (1982: 344).
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G l a u bw ü r d i g k e i t u n d O p p o r t u n i s m u s : der Verrat der Intellektuellen Die Wissenssoziologie Mannheims21 ist ein Versuch, die Zurechnungsproblematik einer modernen Zeitdiagnostik unter den Bedingungen des Zusammenbruchs stabiler sozialer Milieus einer soziologischen Betrachtung zugänglich zu machen. Daher redet sie „aus einer Situation heraus, die sich als eigene Not ausspricht“ (Ernst 1932: 89). Und diese Situation heißt: Lebensverlegenheit. „Jene Lebensverlegenheit, aus der alle unsere Fragen aufsteigen, ist zusammenfassbar in der einzigen Frage: wie kann der Mensch in einer Zeit, in der das Problem der Ideologie und Utopie einmal radikal gestellt und zu Ende gedacht wird, überhaupt noch denken und leben?“ (Curtius 1932: 89). Welches Problem, fragt Curtius, verbirgt sich also wirklich hinter der „spezialwissenschaftlichen“ Terminologie Mannheims? Es ist, grob gesagt, folgendes: Die bisherige Menschheit war gläubig: sie glaubte an Offenbarungen oder Wertungen oder Vernunftsätze. Sie bejahte objektive geistige Gehalte. Dies ist nun anders geworden. Der heutige Mensch hat diese Gehalte als Täuschungen entlarvt. Sie sind entweder Ideologien oder Utopien (vgl. Dunkmann 1929: 71ff.); in jedem Fall Fiktionen – nichts weiter. Bei solcher geistiger Haltlosigkeit muss es freilich ein Problem sein, „überhaupt noch zu denken und zu leben“ (Curtius 1932: 89). Die bereits „von Nietzsche beschriebene Bewußtseinshaltung entwurzelter moderner Intellektuellenschichten“ (Dunkmann 1929: 90): der Nihilismus wird mit der Verbreitung des „totalen Ideologieverdachtes“ zu einem gesellschaftlichen Problem und überall wird nun die Frage nach dem Verhältnis von „Wissen“ und „Glauben“ neu gestellt. Die vorgeschlagenen „Heilmittel“ gegen diese europäische „Krankheit“ sind bekannt: Lebensphilosophie, Unmittelbarkeit, neue Gemeinschaft, Steigerung der Bekenntnisfähigkeit, wesenerschließende Gesamtschau, mit einem Wort: Ontologie. „Der heute verbreitete Relativismus“, so Curtius in seinem kritischen Kommentar zur Wissenssoziologie Mannheims, „wäre durch eine Lehre von den Konstanten aller ontologischen Gebiete zu berichtigen. Es könnte sich dann ergeben, daß die heute vielbekämpften Absolutheiten aller Art zu einem Teil wenigstens als Konstanten verstanden und anerkannt werden müssen. Unter diesen Konstanten dürfte sich mindestens die Vernunft befinden, deren Formen und Anwendungen wandelbar sind, während ihr Wesen durch allen Wandel hindurch mit sich selbst identisch ist“ (Curtius 1932: 93). Die von Mannheim und der Soziologie insgesamt vertretene „Moral des Dynamismus“ unterschiebe jedoch (fälschlicherweise) all jenen, die noch an „Absolutheiten“ festhielten, eigennützige Motive. Dagegen, so Curtius, sei zu hoffen, dass insbesondere die deutsche Jugend sich von kei21 Vgl. insbesondere Karl Mannheim (1926).
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ner wissenschaftlichen Autorität ihren Sinn für Größe und Idealismus verbieten lasse. Der radikale Gegenwartsbezug (der eine bewusste Auswahl aus dem historischen Erbe erst ermöglicht) verbindet sich mit dem Anspruch der Intellektuellen auf gesellschaftliche Repräsentanz. Weil die Masse, die Vielen, die „zählen“, nicht wirklich zählen, kann der Wille aller nur im Erkenntnisvermögen der wenigen zum Ausdruck gelangen. Und diese wenigen sind zur Weltauslegung berechtigt, weil sie sich mit den tief empfundenen Kräften einer gemeinsam geteilten Geschichte einig wissen. „Wir, wir!“ schrieb Hofmannsthal 1895, „ich weiß, daß ich nicht von der ganzen großen Generation rede, sondern nur von ein paar tausend Menschen in den großen europäischen Städten. Aber diese wenigen haben eine große Bedeutung. Sie sind nicht notwendigerweise der Kopf oder das Herz der Generation, sie sind ihr Bewußtsein.“ Weil die frei schwebende Intelligenz aus unterschiedlichsten sozialen Klassen stammt, ist sie prädestinierter Anwalt der geistigen Interessen des Ganzen.22 Gerade weil sich die Intellektuellen als eine von allen gesellschaftlichen Bindungen losgelöste, frei schwebende Intelligenz begreifen, scheinen sie nur umso fester mit jenen Kräften verbunden zu sein, die den Erfahrungsraum ihrer Generation prägen: mit der Nation, dem Volk, der gemeinsam erlebten Zeit, dem unentrinnbaren Schicksal der geschichtlichen Entwicklung. Gerade weil der Realitätsgehalt dieser Begriffe begrenzt, ja zumeist nur eine Funktion der Rhetorik ist, also immer wieder neu beschworen und erzeugt werden muss, kann er sich den unterschiedlichsten Bedingungen außerordentlich flexibel anpassen. Die Generationseinheit und die sie jeweils repräsentierenden Intellektuellen werden so zu den entscheidenden Statthaltern der gesellschaftlich anerkannten Ordnungsprinzipien, ja zur Stimme des Lebens selbst, das aus ihren Worten spricht: die Lebensphilosophie, der organische Gemeinschaftsbegriff, das zumeist heroisch aufgeladene Verständnis der Persönlichkeit, das große Bedürfnis nach Mystik und Ganzheitlichkeit und vieles andere mehr sind nur ein, wenn auch typischer Ausdruck dieser Generation von 1890. Die Dynamisierung der Begriffe verschärft schließlich das Bedürfnis nach Polarisierung. Begriffe sollen nichts mehr beschreiben, sie haben nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun, sondern sollen in ihrer Funktion als Schlagworte und Kampfbegriffe das Handeln steuern. Der Begriff der Generation beschreibt daher nicht nur den besonderen Bewusstseinszustand von Intellektuellen, sondern bezeichnet darüber hinaus die von ihnen vertretene Einsicht, dass die Menschen, je unabhängiger sie sich von sozialen Bindungen wähnen, umso mehr zu Gefangenen ihrer eigenen Vorstellungswelt werden, 22 Karl Mannheim (1985: 127); die „Intelligenz“ sucht typischerweise ihren sozialen Anknüpfungspunkt im Prinzip der Stellvertretung.
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in der nur noch Bilder, Schlagworte und geglaubte Ideen wirklich überzeugen können. „Worte, früher schlichte Benennungen, werden Schlagworte; Sätze, früher schlichte Feststellungen, werden Kampfrufe; dies ändert vollständig ihren denksozialen Wert; sie erwerben magische Kraft, denn sie wirken geistig, nicht mehr durch ihren logischen Sinn...sondern durch bloße Gegenwart“ (Fleck 1994: 40). Die Verfügung über die eigene Zeit wird zu einem Bekenntnisakt, die geschichtliche Selbstverortung zu einer Schicksalsfrage und die Generationseinheit zur Schicksalsgemeinschaft. Vor allem die Jugendbewegung, die das antibürgerliche Motiv zu ihrem entscheidenden Bestimmungsgrund machte, förderte das Interesse an Theorien über altersspezifische Kollektiverscheinungen. Mit vielen Intellektuellen teilte sie die Auffassung, dass nur eine Avantgarde, die sich von den Vätern und den Traditionen radikal zu lösen habe, der Gesellschaft eine Zukunft weisen könne. Dieser intellektuellen Avantgarde dient der Generationsbegriff zuerst und vor allem als eine Beschwörungsformel. Er braucht sich nicht auf eine tatsächlich existierende Gefolgschaft zu berufen, sondern kann selbst als Aufruf an die Jungen und Unverbrauchten formuliert werden. In diesem Sinn will der Begriff zu einem erst zu organisierenden Interesse überreden. Das Generationsbewusstsein bleibt zudem immer unterbestimmt, weil seine einzige relevante Determinante die Zeit ist, ihr einziger Inhalt der Zeitgeist,23 dessen prägende Signaturen von innen her beliebig ausgefüllt werden können. Der Generationsbegriff, der eine nur qualitativ messbare und erfassbare innere Erlebniszeit bezeichnet, dient geradezu als Gegenbeweis gegen die Linienhaftigkeit des historischen Zeitablaufs. Bereits Dilthey hatte darauf aufmerksam gemacht, dass der Begriff der Generation den des Zeitgeistes voraussetzt. Ein „Kind seiner Zeit zu sein“, bedeute, unter dem Einfluss der gleichen Ideenströme gestanden zu haben. Damit einher geht die Vorstellung, dass man über den Begriff der Gemeinsamkeit der Zeit ein Ähnlichkeitsverhältnis herstellen könnte. Bestimmend für die Art der Einwirkung ist die „Entelechie“:24 das innere Ziel einer Zeit, der „Zeitgeist“, der „Geist einer Epoche“. Diese „Einheit“ ist aber alles andere als einheitlich: der innerhalb einer Generation gestiftete Zusammenhang wird erst durch den Willen der Menschen geformt und in eine bestimmte Richtung gelenkt (Voluntarismus).
23 Als „materielles Korrelat des Zeitgeistes, der Mentalität“, als „spekulativer Träger gedanklicher Tendenzen, die unsere Wirklichkeitsvorstellung prägen“, bezeichnet Jaeger die Generation (1977: 433). 24 Eine charakteristische geistige „Formungstendenz“, die, so Hans Driesch, weder aus irgendeinem sozialen Milieu abgeleitet, ja überhaupt nicht kausal erklärt werden kann (Driesch, zit. nach Jaeger 1977: 438).
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Die soziale Textur der Generation In seiner Kommentierung der Generationstheorien der Jahrhundertwende macht Karl Mannheim eine aufschlussreiche Bemerkung: Was hier ins Auge falle sei, „daß wir in keiner Reihe der Faktoren das Gesellschaftliche auch nur im entferntesten Sinne erwähnt finden“ (Mannheim 1964: 509ff.). Leider geht Mannheim diesem Gedanken, der ihn zu einer deutlicheren Fassung seines „kultursoziologischen“ Problems geführt hätte, nicht weiter nach, sondern schaltet eine Bemerkung ein, die dem zunächst unbestimmten Verhältnis von Ideen und Interessen wieder eine feste Kontur gibt. Es sei eine Tatsache, so Mannheim, „daß zwischen der naturalen Sphäre... und der geistigen (Ideen, Bewußtsein) noch die Ebene der gesellschaftlich formierenden Kräfte (Interessen, soziale Strukturen etc.) liegt“ (Mannheim 1964: 556). Das Phänomen der Generation muss daher, so Mannheim, als „Textur sozialen Geschehens“ durchleuchtbar sein. Diese soziale Textur der Generation wird aber wiederum durch die Tatsache bestimmt, dass die Generationseinheit nicht auf eine konkrete Gruppenbildung hin ausgerichtet ist; Mannheim betont, dass es sich um einen „bloßen Zusammenhang“ im Gegensatz zu konkreten Gruppenbildungen handelt. Generationszusammenhänge sind also nicht identisch mit „Gemeinschaften“ und sind mit gesellschaftlichen Formationen wie etwa Zweckverbänden oder Interessengruppen nicht vergleichbar. Trotzdem ist der Generationszusammenhang eine zentrale Kategorie zum Verständnis der modernen Gesellschaft. Obwohl er keine unmittelbare Ableitung aus dem Bereich der gesellschaftlichen, ökonomischen oder politischen Interessen erlaubt, also von diesen Faktoren unabhängig ist, handelt es sich, so Mannheim, um ein „soziales Phänomen“, das man soziologisch erklären kann.25 Erklären kann man den Generationszusammenhang durch die Heranziehung einer „ganz anders gearteten sozialen Kategorie“, die vom Generationszusammenhang grundverschieden ist, aber eine „gewisse Ähnlichkeit“ aufweist: die Klassenlage, eine schicksalsmäßig verwandte Lagerung bestimmter Individuen im ökonomischmachtmäßigen Gefüge der jeweiligen Gesellschaft. Man ist Proletarier, Unternehmer, Rentner, man befindet sich in einem ganz bestimmten gesellschaftlichen Gefüge, einer Lagerung, die man nicht durch einen willensmäßigen Akt aufkünden kann. In einer Klassenlage befindet man sich (Sein) und es ist sekundär, ob man davon weiß oder nicht. Der Begriff der Klasse verweist auf einen Rest an sozialer Unvermeidlichkeit, er verweist auf die Notwendigkeit, das Verhältnis von Ideen und Interessen in ein soziologisches Kausalitätsmodell zu überführen, das eine Ableitung erlaubt. Diese Klassen-
25 Eine argumentative Wendung, die Joachim Matthes als „rationalistische Falle“ bezeichnet (1985).
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lage ist aber nicht notwendig verbunden mit einem Klassenbewusstsein. Unter der Hand reduziert Mannheim dabei die Klassenlage auf „das Phänomen der Lagerung im sozialen Raum“, wobei unbestimmt bleibt, wie dieser „soziale Raum“ definiert werden soll. Und er geht sogar so weit zu behaupten, dass ein Phänomen (wie das des Generationszusammenhangs), das durch ein anderes fundiert ist (Klassenlage), zwar nicht ohne es bestehen könnte, aber in sich ein „dem Fundierenden gegenüber unableitbares, qualitativ eigenartiges Superadditum“ darstellt. Paradox formuliert: Generationszusammenhänge sind durch soziale Faktoren mitbestimmt und gleichzeitig von ihnen völlig unabhängig. Denn: gäbe es keine „bestimmt geartete Struktur der Gesellschaft“ und eine „auf spezifisch gearteten Kontinuitäten beruhende Geschichte“, gäbe es auch keinen Generationszusammenhang. Anders formuliert: die Diagnose einer zunehmenden Auflösung der bestehenden Gesellschaftsordnung wird durch den Rückgriff auf Selbstbeschreibungen des neunzehnten Jahrhunderts (Klassenlage) und den Hinweis, dass es irgendwelche „gesellschaftlichen“ Ordnungsstrukturen geben muss, wieder relativiert. Das wird auch deutlich, wenn Mannheim die einer jeden sozialen Lagerung „inhärierende Tendenz“ nicht aus einer bestimmten gesellschaftlichen Interessenlage ableitet, sondern nur darauf hinweist, dass sich aus diesen Lagerungen ganz unterschiedliche (individuelle) Möglichkeiten des Denkens, Handelns, Erlebens und Fühlens ergeben (Chancen menschenmöglichen Handelns).26 Damit aber wird der Ball wieder den jeweils herrschenden „geistigen“ Tendenzen27 zugespielt und über eine „soziologische Rhetorik“ nur der Eindruck erzeugt, als handle es sich hierbei um Phänomene mit einer gewissen gesellschaftlicher Bodenhaftung. Von einer verwandten Lagerung kann nach Mannheim nur gesprochen werden, „als und insofern es sich um eine potentielle Partizipation an gemeinsam verbindenden Ereignissen und Erlebnisgehalten handelt“. Nicht die „soziale Struktur“ ist entscheidend, sondern die Erfahrung, das Erlebnis, die Teilhabe an den in einer jeweiligen Zeit verfügbaren „geistigen Impulsen.“ Generationseinheiten werden deutlich durch die „weitgehende Verwandtschaft der Gehalte, die das Bewußtsein des einzelnen erfüllen“. Diese „geistigen Gehalte“, so Mannheim, sind soziologisch bedeutsam, weil sie „sozialisierend“ wir26 „[...] eine Geistesart, eine bestimmte Art des Fühlens und Denkens, Empfangens und Gestaltens, eine bestimmte Richtung unseres Gemütes und Wollens ist es, die uns jene bevorzugte geistige Gemeinschaft mit dem Volksgenossen gibt [...]“ (Mannheim 1964: 556). Die Arbeiten O. Spanns aus den zwanziger Jahren machen deutlich, welche Verbindungslinien sich zwischen den Theorien der Generation und des Stils und den Theorien über Rasse, Raum und Volk ziehen lassen. 27 „Tendenzen“ werden zum Bindemittel und zur eigentlich sozialisierenden Kraft. Der „zündende Gedanke“ wird wichtiger als die soziale Situation; das Bewusstsein eines gemeinsamen Zieles verdrängt schließlich auch die Gemeinsamkeit des gleichen Alters, so Plessner (1977: 82).
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ken (hier wird also die Argumentationskette wieder umgedreht: nicht das Sein, die soziale Lagerung bestimmt das Bewusstsein, sondern umgekehrt). „Vom geprägten Schlagwort bis zum ausgebauten System, von der scheinbar isolierten Geste bis zum gestalteten Kunstwerk, wirkt sich oft dieselbe Formierungstendenz aus, deren soziale Bedeutung eben darin besteht, daß durch sie und in ihr sich Individuen sozial zu verbinden vermögen“ (Mannheim 1928: 168). Generationszusammenhänge, so Mannheim, beruhen auf einer verwandten Lagerung der einer Generation zurechenbaren Individuen im sozialen Raum. Interessant und aufschlussreich an seiner Definition ist allerdings die Tatsache, dass Mannheim diesen sozialen Raum eben nicht anders als durch die Ähnlichkeit mentaler Dispositionen zu beschreiben weiß. Entgegen seiner eigenen Absicht, die gängige soziologische Vorstellung von der „Parallelität“ von Phänomenen des „Seins“ und des „Bewusstseins“ zu überwinden, verlässt Mannheim den mit seiner „Denksoziologie“ vorgezeichneten Weg wieder sehr schnell, um den „Fahrplan der Generationenanalyse dem der Klassenanalyse nachzubilden.“28 Dieser Versuch, das soziologische „Proprium“ seiner Wissenssoziologie zu retten, misslingt jedoch. Denn trotz seines Bemühens, den „sozialen Raum“ (beobachtbare Gruppen und soziale Träger bestimmter Ideen) eines je spezifischen „Generationsempfindens“ zu bestimmen und damit die klassisch-soziologische Entsprechung von „bewusster Zugehörigkeit“ und „objektiver Zurechnung“ zu retten, verweist Mannheim schließlich darauf, dass es sich bei dem Phänomen der Generation um eine besondere, „kulturelle Struktur der Weltwahrnehmung“ handelt, für das „gruppenhafte Phänomene nur als Indikatoren, nicht aber als deren soziale Formierung stehen. Solche Strukturen der Weltwahrnehmung sind auch keine bloßen ‚Bewußtseinsphänomene‘, die an Individuen letztlich und eindeutig abgelesen, womöglich aus ihrer Gruppenzugehörigkeit erschlossen werden oder dazu dienen können, nach ihrer Ermittlung Zurechnungen von Individuen zu Gruppen vorzunehmen. Vielmehr handelt es sich bei Generationsphänomenen um kulturelle im Sinne von Regelsystemen, die Prozesse der Weltwahrnehmung steuern und Muster des Weltverhaltens generieren“ (Matthes 1985: 368).29 Die Konkurrenz sozialer Klassen wird nun vor allem zu einer Konkurrenz auf 28 S. Matthes (1985); Matthes ist einer der ganz wenigen Soziologen, dem diese merkwürdige Widersprüchlichkeit der Mannheimschen Soziologie überhaupt aufgefallen ist. 29 An anderer Stelle: „[N]icht die Ableitung von gruppenhaft in Erscheinung tretenden Generationseinheiten aus dem generationellen Zusammenhang und der generationellen Lagerung derer, die ihm zugehören, kann das angemessene Ziel und Verfahren einer kultursoziologischen Generationenanalyse sein: vielmehr sind umgekehrt als solche in Erscheinung tretende generationelle Gruppen als Indikator zu nehmen in einer durch sie hindurchgreifenden Erfassung kultureller Muster“ (Matthes 1985: 363).
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dem Gebiet des Geistigen (vgl. Mannheim 1982), zu einem Kampf der Weltanschauungen und Ideen, zu einem Streit um die Erringung und Beherrschung der richtigen sozialen Sicht auf einem ganz neuen Markt der öffentlichen Meinungsbildung (Propaganda), an dem sich potentiell jeder beteiligen kann, der sich zur „freischwebenden Intelligenz“ rechnet. Alle „Gesellschafts“-Theorien der Jahrhundertwende werden von der Einsicht mitbestimmt, dass sich das überkommene Geflecht sozialer Verbindlichkeiten und Bindungen auflöst und dass schon allein die Frage, wie unter diesen Bedingungen gesellschaftliche Ordnung möglich sei, auf den Ernst der Situation verweist. Von diesen Veränderungen bleiben die Geistes- und Geschichtswissenschaften, aber auch die Soziologie nicht unberührt. Unter dem Eindruck der „Krise“ im Zeitalter des Historismus verlieren insbesondere alle Vorstellungen und Begriffe, die sich auf die Selbstverständlichkeit einer überlieferten und überzeitlichen Ordnung berufen, an Plausibilität. Sie werden unplausibel, nicht weil sie der Wirklichkeit widersprechen, sondern weil diese Wirklichkeit eben auch ganz anders vorstellbar wird. Der Horizont denkbarer Fragen und sinnvoller Antworten öffnet sich ins Unermessliche. Karl Mannheims Wissenssoziologie ist der (bereits von seinen Zeitgenossen als „Soziologismus“ kritisierte) Versuch, die „Herrschaft der Worte“ (Friedrich Gottl), den Kampf der Weltanschauungen und Lebensphilosophien sowie die Tendenz zur individualistischen oder ästhetisierenden Auflösung aller Formen als ein soziologisches Problem zu definieren und damit für ein lösbares zu halten. Sein „Kunstgriff“ besteht darin, dass er die begrifflichen Grundlagen des Generationskonzeptes in struktureller Analogie zum Begriff der Klassenlage ausbaut, worunter er eine „schicksalsmäßig verwandte Lagerung bestimmter Individuen im ökonomischen Bereich“ (ebd.: 366) versteht. Gemeint ist damit eine mit positiven oder negativen Sanktionen oder Lebenschancen ausgestattete soziale Grundsituation, die der Einzelne nur unter bestimmten Voraussetzungen verlassen kann.30 Der Generationszusammenhang beruht also auf einer verwandten Lagerung der einer Generation zurechenbaren Individuen im sozialen Raum.31 Klassenlage und Generationslage haben das Gemeinsame, dass sie, als Folge einer spezifischen Lagerung, die Individuen auf einen bestimmten Spielraum möglichen Geschehens beschränken (inhärierende Tendenz) und damit eine spezifische Art des Erlebens und Denkens, eine spezifische Art des Eingreifens in den historischen Prozess nahelegen. „Eine jede Lagerung schaltet also primär eine große Zahl der möglichen Arten und Weisen des Erlebens, Denkens, Fühlens und Handelns überhaupt 30 Vgl. hierzu Dilthey (1957: 37), Bagehot (1971), Redlich (1976). 31 Ein Begriff, der einen Zusammenhang rekonstruieren soll, ohne auf äußere Tatsachen Bezug nehmen zu müssen und der zudem starken appellativen Charakter hat und zur Gemeinsamkeit in einer bestimmten Weltanschauung überreden will.
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aus und beschränkt den Spielraum des sich Auswirkens der Individualität auf bestimmte umgrenzte Möglichkeiten“ (Mannheim 1964: 529). Diese Möglichkeitshorizonte zu bestimmen, ist Aufgabe der Soziologie, genauer: einer Wissenssoziologie, die von Mannheim als eine soziologisch „fundierte“ Ideengeschichte konzipiert wird, die die kulturellen Grenzen und Vorgaben der Möglichkeitshorizonte, die herrschenden „Motivationskräfte“, die bestimmten, kulturell und geschichtlich vorgegebenen Räumen eigentümlich sind, ausleuchten soll. Neben diesen negativen Beschränkungen lassen sich aber auch positive Bestimmungsgründe ausmachen: „Es inhäriert einer jeden Lagerung im positiven Sinne eine Tendenz auf bestimmte Verhaltungs-, Gefühls- und Denkweisen, die aus dem eigenen Schwergewicht der Lagerung heraus vom Soziologen aus verstehend erfaßbar ist“ (ebd.: 528). Auf den einfacheren Stufen des gesellschaftlichen Lebens, so schreibt Mannheim, ist die Vergangenheit eher komprimiert und intensiv vorhanden. Auch auf der gegenwärtigen Stufe gesellschaftlichen Daseins wirkt sich in den tiefer gelegenen geistig-seelischen Beständen, für die das Tempo des Fortbildens nicht so relevant wird (Beharrung und Fortschritt) eine eher unbewusst selektive Art aus. Bewusstmachen, Reflexivwerden wird nur dort nötig, wo traditionalistisch halbbewusste Transformationen nicht mehr ausreichen. „Rationalisiert, reflexiv gemacht werden primär jene Sphären, die durch die Wandlungen des historisch-sozialen Gefüges fraglich geworden sind, wo ohne Reflexionen die nötige Transformation sich nicht mehr vollziehen würde und die Reflexion als eine Technik der Auflockerung angewandt wird“ (ebd.: 533). Von einer verwandten Lagerung einer zur gleichen Zeit einsetzenden Generation kann also nur insofern gesprochen werden, als und insofern es sich um eine potentielle Partizipation an gemeinsam verbindenden Ereignissen und Erlebnisgehalten handelt. Das Entscheidende ist nicht die biologische Zurechenbarkeit, das Datum der Geburt, sondern das gemeinsame Schicksal, und vor allem: das gemeinsame Bekenntnis, der Wille, sich zu einer solchen Generationslagerung zu bekennen. Die Richtung und die „Bindekraft des zündenden Gedankens“ werden zum Bindemittel und erweist sich als die eigentlich sozialisierende Kraft. „In dem Maße, in welchem das Lebensalter von der Gemeinsamkeit der Lebenssituation und diese wiederum von der einer Überzeugung in den Schatten gestellt wird, bildet sich innerhalb bestimmter Gruppen eine „Generation“ im geschichtlich faßbaren Sinne heraus“ (Plessner 1974: 82). Das offensive Generationsbewusstsein der Jahrhundertwende, so meinte Helmuth Plessner, gehöre zu einer glaubenslosen, agnostischen und nach Glauben hungernden Jugend. Gerade sie greife nach einem radikal vitalistischen Prinzip, das „alles verspricht und zu nichts verpflichtet“ (ebd.: 85). Der gemeinsame historisch-soziale Lebensraum ermöglicht, dass die geburtsmäßige Lagerung in der chronologischen Zeit zu einer soziologisch relevanten wird. Aber nur der gemeinsam bekannte Glaube ermöglicht 267
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Bindung und Orientierung im Chaos der Möglichkeiten. Die nur chronologische Gleichzeitigkeit reicht nicht aus, eine verwandte Generationslagerung zu konstitutieren. In dem Maße, in dem sich die traditionellen sozialen Bindungen auflösen, soll der Geist, sollen Ideen und Schlagworte einen neuen, „generationellen“ Zusammenhalt begründen. Bereits Mannheims Versuch, die Generationstheorien seiner Zeit „theoriefähig“ im Sinne einer sozialwissenschaftlichen „Ableitung“ zu machen, ähnelt den gegenwärtigen Schwierigkeiten, Begriffe wie Milieu, Lebensstil, Zeitgeist etc. „soziologisch“ zu präzisieren. Die Beschleunigung der gesellschaftlichen Dynamik, so Mannheim, zerstört nicht nur die letzten Reste jener Vorstellungen und Begriffe, die mit einer gewissen „Statik“ gesellschaftlicher Verhältnisse rechnen und den Begriff der Gesellschaft mit der Annahme einer ihr inhärenten „Struktur“ verbinden; die Auflösung aller Strukturbegriffe in Prozesskategorien, die mit der Beschleunigung der gesellschaftlichen Dynamik einhergeht, ist für Mannheim geradezu „die Veranlassung zum Aktivwerden der in der Generationslage schlummernden Potentialität zur Schaffung des neuen Generationsimpulses“ (ebd.: 85). Karl Mannheims Aufsatz über das Problem der Generationen macht deutlich, dass es ihm keinesfalls um eine Soziologie des generativen Verhaltens oder um das Verhältnis zwischen Generationen geht, sondern um die Frage nach der spezifischen Eigenart soziologischer Erkenntnis. Generationstheorien sind stets mit dem Nominalismus verbundene Rettungsversuche, aus einer erstarrten, anschauungs- und leblos gewordenen begrifflichen Formenwelt der Kultur einer Gegenwart herauszukommen. Statt jedoch danach zu fragen, wann, wie, wo und unter welchen Bedingungen Menschen dazu kommen, bestimmte Beziehungen, die sie eingehen, bestimmte Verhältnisse, in denen sie zueinander stehen, als solche generationeller Art zu bestimmen und zu deuten, fragte Karl Mannheim danach, was Generationen denn eigentlich seien, als gäbe es sie im Sinne einer eigenen Wirklichkeitsqualität außerhalb der gesellschaftlichen Selbstverständigung der Menschen. Mannheim ging also letztlich davon aus, dass es so etwas wie Generationen als soziologischen Tatbestand mit eigenem Wirklichkeitscharakter gibt. Dabei verliert er aus den Augen, dass Generationen und Generationsverhältnisse definiert und hergestellt werden, dass es sich bei der Generation also um eine Tatsache des Bewusstseins handelt. Entscheidend ist zudem, was man unter „Erfahrungsinhalten“ versteht. Mannheim verstellt sich diese Frage dadurch, dass er eben nicht die Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit jener gesellschaftlichen Selbstbestimmungen zum Thema macht, die mit dem Konzept der Generation gegeben ist, sondern die Unbestimmtheit der gesellschaftlichen Selbstbezeichnung in die Bestimmtheit seiner wissenschaftlichen Begrifflichkeit verwandelt. Damit bleibt er letztlich einer Denkstruktur verhaftet, die er mit 268
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seinem Programm eigentlich überwinden wollte, indem er weiterhin der Vorstellung von der Parallelität von Phänomenen des Seins und des Bewusstseins folgt. Zum anderen unterschlägt Mannheim in seiner Soziologie der Generationen die Tatsache, dass dieses Phänomen in das Spektrum einer europäischen Verfallsgeschichte gehört. Denn die Basis, auf die hin die Ideen „abgeleitet“ werden soll, wird immer stärker naturalistisch, vitalistisch, schließlich ganz und gar irrationalistisch gefasst und zersetzt sich damit selbst. Das Argument fällt zurück in den Überbau, was nichts anderes bedeutet, als dass die Unterscheidung zwischen Überbau und Unterbau sich selbst entwertet (vgl. Plessner 1931/32). Obgleich Mannheim zunächst die Vorbestimmung von Generationen als gruppenhaft wahrnehmbare Phänomene ein wenig zurücknimmt, kommt er im weiteren Verlauf auf diese Vorstellung immer wieder zurück. Denn irgendwie müssen sie ja für den soziologischen Blick identifizierbar, beobachtbar sein. Hinzu kommt, dass sich mit der Fixierung auf die besondere Gruppenstruktur der jeweiligen Generationseinheiten immer wieder die Vorstellung von einer inneren Homogenität von Generationen einschleicht. Joachim Matthes hat daher zu Recht darauf hingewiesen, dass in der Definition von Generationsverhältnissen sich ein Bemühen ausdrückt, innergesellschaftliche Fremdheit in den Griff zu bekommen, die dann entsteht, wenn in einer Gesellschaft die vertikale Kontinuität kultureller Überlieferungen strukturell gebrochen ist und damit horizontale, konjunktive Erfahrungsräume Vorrang gewinnen. Festzuhalten bleibt, dass die Geburt des Generationenbegriffs in der Selbstverständigung europäischer Gesellschaften seit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert als Ausdruck und Lösungsversuch einer binnengesellschaftlichen Fremdheitserfahrung gesehen werden kann, und dies ist es, was einer sozialwissenschaftlichen Erforschung der Generationsverhältnisse stets präsent sein sollte. Es geht um die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, aber auch um die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen.
Herrschaft der Begriffe Je vielschichtiger, differenzierter und unübersichtlicher der Blick auf die Wirklichkeit wird, umso bedeutungsvoller werden Bilder, die in der Lage sind, Erfahrungsmängel zu kompensieren und komplexe Zusammenhänge auf einen einfachen Begriff oder eine griffige Formel zu bringen. Die Polarisierung der Welt ist daher die andere Seite ihrer Beliebigkeit. Alles Mögliche kann gedacht, alles Mögliche getan werden. Alle Handlungsmaximen und moralischen Direktiven, also alles das, was auf Lebensführung zielt, wird zugleich inflationär und knapp. Inflationär, weil es unglaublich viele Orientierungsmöglichkeiten gibt; knapp, weil jeder zugleich weiß, dass es auch anders richtig wäre. Die Weltanschauungskämpfe werden zu einer Art von SchattenBoxen, zu einem „ideenpolitischen Dadaismus“ (Hugo Ball). Es bedarf daher 269
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der heroischen Geste des Verzichtes auf andere Möglichkeiten, einer gewissen Theatralik des Scheiterns, um überhaupt noch wählen zu können. Und dieser Heroismus drängt alles Denken in Richtung der Extreme, auf Gegensätze, die möglichst einfach gebaut sein müssen, um überzeugen zu können. Klarheit gibt es nur am äußersten Rand. Die eigene Identität ist nur auf Kosten eines klaren Feindbildes zu haben. Das Denken wird strategisch und macht sich dadurch von der Wirklichkeit frei, es wird illusionär.32 Es wird zudem deutlich, dass alle Alternativen zur Moderne in ihr selbst angelegt sind. So ist der Fortschrittszweifel ein direktes Ergebnis der Erfahrung, dass der äußere Fortschritt permanent und unaufhaltsam ist, aber kulturell immer bedeutungsloser wird. All dies hat Konsequenzen für das gesellschaftliche Selbstverständnis. Der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft wird in dem Moment problematisch, in dem er zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung wird und zugleich deutlich wird, dass die Menge unverstandener Umwelt sich beständig erhöht. In dieser Situation ist das einzig Sichere die Unsicherheit. Unwissen wird zur Macht und Unkenntnis führt zum Erfolg. Begriffe werden zu Beschwörungs-Formeln, denen keinerlei konkrete Realität zu entsprechen scheint. Jede Vergewisserung in Symbolen, jeder Verweis auf Zeichen und Gesten läuft leer: wir wissen bereits um die Wirkung des Symbols, bevor wir uns ihm aussetzen. Warum aber, so Ernst Manheim, schließt sich der Mensch der einen, aber nicht der anderen Meinung an? Wie löst er das Problem der Überzeugungen und der Urteilskompetenz in einer immer schnelllebigeren Zeit? Der Mensch, so Ernst Manheim, ist nicht nur standort- und seinsgebunden in seinem sozialen Milieu, seiner Gruppe und seiner sozialen Einstellung Er kann diese auch wechseln. Dieser Wechsel allerdings soll sich möglichst schmerzfrei vollziehen, das bedeutet, er soll möglichst wenig Reibungsverluste und Transaktionskosten nach sich ziehen, weil wir aus einer Vielzahl unterschiedlicher Meinungen leben, die wir je nach Opportunitätsgesichtspunkten zu wechseln verstehen, ist uns mit Argumenten nicht wirklich beizukommen. Da wir keine feststellbaren Kriterien der Rationalität mehr anwenden können, richten sich unsere Problemstellungen zumeist nach den vorfindbaren Problemlösungen. Anders formuliert: wir haben heute mehr Antworten auf Fragen, die niemand gestellt hat. Jede Kommunikation braucht zudem den Schutz des Unausgesprochenen. Nur innerhalb der unmittelbaren Mitwelt als eines Erfahrungsraumes, den wir sinnlich erschließen können und nicht nur aus Erfahrungen zweiter Hand kennen, entsteht die Einsicht, dass die Fülle des 32 Nicht: „idealistisch“. Wenn Max Weber von seiner „Illusionslosigkeit“ und der „klaren Erkenntnis der nüchternen Gesetze des sozialen Lebens spricht“, wird vor allem der appellative Charakter seiner „Einsicht“ deutlich, keinesfalls aber dessen Bezug zur Wirklichkeit.
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Möglichkeiten die Fähigkeit beeinträchtigt, zwischen Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden zu können. Wer die Frage nicht beantworten kann, was wissenswert ist, kann nur schwer entscheiden, was handlungsrelevant ist. Es geht also um die Fähigkeit, die widersprüchlichsten Auffassungen nebeneinander bestehen zu lassen. Dem gegenüber ist die ideologische Vergleichgültigung das Toleranzgebot der Gegenwart. Vor dem Hintergrund dieser Zeitdiagnose geht es Ernst Manheim nicht nur um die soziale Gebundenheit im Sinne Karl Mannheims, sondern er erweitert die Perspektive auf die Frage nach der sozialen Mobilität des Wissens. Begriffe und Vorstellungen sind zwar die soziale Heimat des modernen Menschen, aber diese Heimat ist prekär und immer fragwürdig. Der Opportunismus dieser ideenpolitischen Beweglichkeit fördert die Fähigkeit, Differenzen zu integrieren, also den heterogensten Meinungen einen gemeinsam geteilten Hintergrund von Überzeugungen stillschweigend zu unterstellen. Erleichtert wird dies durch Clichés und das Verschieben von Begriffen in Bilderfolgen und Vorstellungssequenzen. Abstraktion wird die einzige Form von Konkretheit, mit weiten Begriffen zu operieren zur kommunikativen Verpflichtung in Politik, Kirche und Universität. Während sich Karl Mannheim der Frage widmet, wann und wo in Aussagestrukturen historisch-soziale Strukturen hineinragen, und in welchem Sinne die letzteren die ersteren bestimmen, stellt sich Ernst Manheim die umgekehrte Frage: inwiefern Aussagestrukturen ihrerseits die historisch-soziale Struktur bestimmen. Es geht ihm nicht nur um Wissenssoziologie, sondern um Kommunikationssoziologie. Aber diese ist mehr als eine Soziologie der Sprache, eine Soziologie der Mitteilung, also eine Bindestrich-Soziologie, sondern sie verweist bereits auf jenen Strukturwandel der Öffentlichkeit, der in der Kommunikationstheorie des Jürgen Habermas zur Grundfrage der Gesellschaftstheorie überhaupt wird. Eine Gesellschaftstheorie, die sich nicht nur für die Sprechakte und den Kommunikator interessiert, sondern auch und vor allem ihr Interesse dem Medium zuwendet über das da kommuniziert wird.
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Inte gra tion – e ine w isse nssoz iologisc he Sk izze 1 HANS-GEORG SOEFFNER UND DARIUŠ ZIFONUN Zwischen Wissenssoziologie und Integrationsforschung ist es bisher kaum zu einem Austausch gekommen. Weder hat man sich auf Seiten der Wissenssoziologie mit Fragen der Migration eingehend beschäftigt, noch haben sich Migrationssoziologen bei der Suche nach Antworten auf theoretische Fragen in ihrem Untersuchungsbereich der Wissenssoziologie zugewandt.2 Dies ist verwunderlich, da die Themenstellungen und Studieninteressen des einen Forschungsfeldes von höchster Relevanz für das jeweils andere sind. Und es ist umso erstaunlicher, als im wohl bekanntesten wissenssoziologischen Theoriebeitrag, Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns ‚Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit‘ (‚required reading‘ für Soziologiestudenten zumindest im englischsprachigen Raum), der Ausdruck ‚Integration‘ – vom Begriff wie von der Sache her – eine Schlüsselstellung einnimmt. Im Folgenden soll danach gefragt werden, wie aus wissenssoziologischer Sicht Integration unter den Bedingungen globaler Migration theoretisiert werden kann. Dafür ist es zunächst notwendig, einige der Ausgangsüberlegungen der Wissenssoziologie ins Gedächtnis zu rufen.
Wissen, Gesellschaft und Integration Berger und Luckmann haben ihre Neuformulierung der Wissenssoziologie bewusst als allgemeine Soziologie angelegt, indem sie sich die komplementären Fragen Webers und Durkheims zu Eigen machten: „Wie ist es möglich, daß subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird? Oder, in der Terminologie Webers und Durkheims: Wie ist es möglich, daß menschliches Handeln (Weber) eine Welt von Sachen hervorbringt?“ (Berger/Luckmann 1980: 20; Herv. im Original). Die Antwort auf diese doppelte Frage liegt nach 1 2
Dieser Aufsatz ist auch erschienen in: Heitmeyer/Imbusch (2005). Zum Stand der migrationssoziologischen Integrationsforschung vgl. Heitmeyer (1997), Hoffmann-Nowotny (1994), Kalter (2003b).
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Berger und Luckmann in der ‚gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit‘. Mittel und Inhalt dieser Konstruktion ist Wissen: Gattungsmäßig ist der Mensch als ‚instinktreduziertes‘ Wesen darauf angewiesen, sein Verhalten selbst zu steuern und Ordnung selbst herzustellen. Er bedient sich dazu kollektiver Wissensbestände, die in Interaktion hergestellt und reproduziert werden. Individuell eignet er sich Wissen – und damit Gesellschaft – im Sozialisationsprozess an, in dessen Verlauf sich auch die persönliche Identität jedes einzelnen Menschen ausbildet. Schon Alfred Schütz hat entsprechend unterschieden zwischen subjektivem und gesellschaftlichem Wissensvorrat (vgl. zum Folgenden Schütz/Luckmann 2003). Der subjektive Wissensvorrat umfasst „Lösungen zu Problemen meiner vorangegangenen Erfahrungen und Handlungen“ (Schütz/Luckmann 2003: 37). Er ist insofern rückwärtsgewandt. Ich bediene mich seiner aber fortlaufend für die Bewältigung neuer Erfahrungen und ich tue das solange problemlos, wie sich diese im Rahmen meiner bisherigen Erfahrungen bewegen. Entscheidend für die Zukunftstauglichkeit des Wissens ist, dass es in Form von Typisierungen vorliegt, d.h. abgelöst ist von seinem ursprünglichen Entstehungs- und Verwendungszusammenhang. Ich eigne mir neues Wissen an, sobald ich feststelle, dass ich neue Situationen nicht mehr zu bewältigen in der Lage bin. Daraus folgt, dass ich mir Wissen nicht willkürlich aneigne, sondern in pragmatischer Weise, d.h. nur insofern, als es nützlich und notwendig, d.h. relevant ist, um sich in der Welt zu orientieren und in ihr zu handeln. Lebensweltliches Wissen ist nicht notwendigerweise optimal. Solange es von ausreichender Qualität für die Bewältigung meiner Probleme ist, werde ich mich damit begnügen. Vor allem ist lebensweltliches Wissen nicht widerspruchsfrei. Da das jeweils pragmatisch eingesetzte und erworbene Wissen unterschiedlichen Erfahrungsbereichen zugeordnet ist, kommt es nicht zur Kollision widersprüchlicher Wissenselemente. So sehr Wissen also einerseits mein eigenes, subjektives ist, so stark ist es andererseits geprägt vom Wissen anderer. Ich bediene mich zur Lösung meiner Probleme der bereits vorhandenen Handlungsmuster, die andere vor mir entwickelt haben und die sich im gesellschaftlichen Wissensvorrat vorgefertigt und abrufbereit vorfinden. Dieser gesellschaftliche Wissensvorrat gliedert sich in Allgemeinwissen, das für jeden relevant und frei verfügbar ist und in Sonderwissen, das nur für bestimmte ‚soziale Typen‘ von Belang ist. Im Falle einer einfachen sozialen Verteilung des Wissens existieren keine institutionellen Schranken, die dem Einzelnen den Zugang zu den Sonderwissensbeständen verwehren würden. Zudem ist das Wissen über die existierenden Formen des Sonderwissens selbst Bestandteil des Allgemeinwissens. „Bei einfachen sozialen Verteilungen des Wissens bleibt daher die Wirklichkeit, vor allem aber die Sozialwelt, noch für ‚jedermann‘ verhältnismäßig überschaubar“ 280
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(ebd.: 419). Im Falle komplexer sozialer Verteilung des Wissens verändert sich jedoch die Situation: Zum einen wird es, aufgrund der weiteren Differenzierung und Spezialisierung des Sonderwissen, für den Einzelnen unmöglich, dieses in seiner Gesamtheit zu überblicken oder gar zu erwerben. „Die Tatsache, daß es verschiedene Bereiche des Sonderwissens gibt, gehört zwar zum Allgemeinwissen. Die faktische soziale Verteilung des Sonderwissens gehört jedoch nicht mehr zum Bestand des ‚gleichmäßig‘ verteilten Allgemeinwissens. Außerdem wird im [A]llgemeinen die Kenntnis auch nur der Umrisse der Struktur des Sonderwissens und dessen Grundgehalts verschwommener“ (ebd.: 419). Zum anderen differenziert sich auch das Allgemeinwissen in unterschiedliche ‚Versionen‘ aus. Berger und Luckmann haben diese Unterscheidung von subjektivem und gesellschaftlichem Wissensvorrat in ihrer Handlungs- und Prozesstheorie aufgegriffen. Demzufolge entstehen aus subjektivem Handeln, im Prozess der Externalisierung von Sinn, sowohl Verfestigungen und Reproduktionen als auch Veränderungen des gesellschaftlichen Wissensvorrates. Von der Habitualisierung über die Institutionalisierung bis zur Legitimation von Handlungen entsteht so ein objektiviertes gesellschaftliches Wissen, das die Welt mit Sinn versieht und zur geteilten Wirklichkeit der Gesellschaftsmitglieder werden lässt. Hinsichtlich der sozialen Wirklichkeit bedeutet dies, dass auch die Ausprägung und Wahrnehmung der Sozialstruktur als objektiviertes Wissen zu verstehen ist. Die Konstruktion von Gruppen, Schichten, Positionen und personale Handlungstypen (Rollen) basiert ebenfalls auf vorgegebenem Wissen. Zugleich werden die Konstruktionen ihrerseits zu elementaren Bestandteilen des Wissens der Gesellschaft über sich selbst. Umgekehrt verfügen die jeweiligen Gesellschaftssegmente über typisches, eigenes Wissen. Im Prozess der (primären und sekundären) Sozialisation werden diese kollektiven Wissensbestände schließlich von den Individuen internalisiert, d.h. zur Bewältigung individueller Erfahrungen dem subjektiven Wissensvorrat eingegliedert. Da also die Konstruktion und Reproduktion der Wirklichkeit ausgeht von den individuellen Konstruktionsleistungen aller Beteiligten und da letztere ihre situativen Interessen und Bedürfnisse in den Konstruktionsprozess einbringen, ist dieser Prozess auch als Kampf um die Durchsetzung von Wirklichkeitsdeutungen zu verstehen. Diese stellen die Objektivationen im Wissensvorrat über institutionalisierte Machtverhältnisse dar und werden, sobald sie sich Geltung verschafft haben, im Prozess der Legitimation an nachfolgende Generationen weitervererbt. Integration, zunächst ganz allgemein verstanden als Teilhabe an ‚der Gesellschaft‘ und Einfügung in gesellschaftliche Ordnungen, ist dem Menschen gattungsmäßig auferlegt. Mit Berger und Luckmann muss Integration dementsprechend als umfassendes soziales Phänomen verstanden werden. Sie stellt sich keineswegs als passive Aufnahme vorgegebener Strukturen (Nor281
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men, Werte etc.) dar, sondern wird im doppelten Prozess der Externalisierung und Internalisierung von Wissen epi-prozessual mit der Konstruktion von Wirklichkeit vollzogen. Mit Berger und Luckmann kann zwischen zwei Ebenen der Integration unterschieden werden. Integration in die und innerhalb der Welt des Alltags vollziehe ich fortlaufend im Handeln: (1) Personal integriere ich mich in die Gesellschaft, indem ich dem gesellschaftlichen Wissensvorrat Lösungen für meine Probleme entnehme und mein Wissen dem gesellschaftlichen Wissensvorrat einfüge. (2) Positional integriere ich mich, indem ich soziale Rollen einnehme, die die Gesellschaft zur Verfügung stellt. (3) Sozial integriere ich mich, indem ich mein Handeln mit dem anderer – durch die Anwendung geteilten Wissens – abstimme. Symbolische Integration dagegen entzieht sich zu gutem Teil meinem persönlichen Tun. Symbolisches Wissen dient der Erklärung und Rechtfertigung der institutionellen gesellschaftlichen Ordnung und liegt in verschiedenen Graden der Abstraktion und Reichweite vor. Auf niedriger Stufe finden sich „theoretische Postulate in rudimentärer Form“, etwa in Form von „Lebensweisheiten, Legenden und Volksmärchen“ (Berger/Luckmann 1980: 101). Darüber sind explizite Legitimationstheorien angeordnet, die einen größeren Ausschnitt der institutionellen Ordnung umfassen. Zu ihrer Formulierung etablieren sich nun eigene Expertenkreise und es entstehen eigenständige Institutionen, die dieses Wissen tradieren und verwalten. Von den vorausgegangenen Stufen lässt sich die Ebene symbolischer Sinnwelten unterscheiden. Auf ihr vollziehen sich die Integration der verschiedenen Sinnprovinzen und die Überhöhung der institutionellen Ordnung als „symbolische Totalität“ (ebd.: 102). Symbolische Integration stellt die Ereignisse im Leben des Einzelnen ebenso wie gesellschaftliche Tatsachen in den Zusammenhang einer umfassenden Ordnung: (1) Die Integration meiner Biographie, meine symbolische Sinnwelt, lässt mein Leben insgesamt sinnvoll erscheinen, meine Teilhabe an unterschiedlichen, nicht zusammengehörenden Tätigkeiten genauso wie die Brüche in meinem Lebenslauf. (2) Die Integration der Gesellschaft als ganzer in ein umgreifendes Sinnsystem legitimiert soziale Unterschiede und Ungleichheiten zwischen verschiedenen Gruppen einer Gesellschaft und die Existenz von Sonderwissensbeständen und institutionellen Zugangsbeschränkungen zu diesen. Zentrale Institutionen symbolischer Integration mit ihren je eigenen Modi der Integration sind neben Politik (vgl. Zifonun 2004b) und Religion die (Massen-)Medien. Gemeinsam ist ihnen ein integrativer ‚Überschuss‘ gegenüber der Ebene der Alltagsintegration: Neben ihrer Fähigkeit, alltagsweltliche Probleme auf ‚höherer‘ Ebene zu lösen, konstruieren bzw. perpetuieren sie Probleme, die es im Alltag gar nicht (so) gibt und liefern Wirklichkeitsdefini-
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tionen, die im Alltag (so) nicht gebraucht werden, aber dennoch auf ihn zurückwirken.3 Die Trennung von Alltag und symbolischen Sinnwelten ist, dies muss betont werden, eine analytische. Tatsächlich erfährt der Mensch Wirklichkeit in der ‚Lebenswelt‘, verstanden als „das Insgesamt von Sinnwelten“ (Honer 1999: 64). Die Lebenswelt wird vom Einzelnen nie in ihrer Totalität erfasst. Er lebt vielmehr in unterschiedlichen ‚sozialen Welten‘ (Anselm Strauss) oder ‚kleinen sozialen Lebens-Welten‘ (‚Small Life-Worlds‘, Benita Luckmann), in Figurationen aus Alltagswelt und symbolischen Sinnwelten. Das Ensemble dieser Figurationen wird von ihm als Wirklichkeit erfahren. Bei sozialen Welten handelt es sich um „relativ dauerhafte, durch relativ stabile Routinen ‚arbeitsteilig‘ abgesicherte, d.h.: ‚institutionalisierte‘ Wahrnehmungs- und Handlungsräume“ (Soeffner 1991: 6), die sich als verhältnismäßig eigenständige Sonderwissensbereiche darstellen. Soziale Welten sind keineswegs notwendigerweise territorial organisiert, sondern können ein hohes Maß an „geographischer Streuung“ (Strauss 1994: 194) aufweisen. Entscheidend für ihre Konstitution ist die Teilhabe ihrer Mitglieder an einem gemeinsamen Interaktionszusammenhang, nicht die Festsetzung territorialer Grenzen. An der institutionellen Ordnung der Gesellschaft teilzuhaben, bedeutet für die Individuen nicht allein, Handlungs- und Deutungsmuster zu übernehmen und im Rollenspiel der Institutionen mitzuwirken, sondern auch am affektiven Haushalt der Gesellschaft zu partizipieren. Die Integrationsbemühungen kommen dabei nie zum Abschluss. Denn zum einen geht der Einzelne nie auf in der Gesellschaft: Alltagsweltlich bleibt eine Differenz zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen subjektivem und gesellschaftlichem Wissensvorrat immer erhalten (vgl. Berger/Luckmann 1980: 144). Zum anderen bilden symbolische Sinnwelten immer widersprüchliche Einheiten: In ihnen werden strukturelle Widersprüche symbolisch harmonisiert, aber nicht ‚aufgehoben‘ (vgl. Soeffner 2000b). Entsprechend ist die Spannung zwischen Integration und Desintegration kennzeichnend für menschliches Zusammenleben. Von einer ‚integrierten Gesellschaft‘ zu sprechen ist letztlich eine unzulässige Verdinglichung von prinzipiell dynamischen Zuordnungsprozessen, mit der dieser Zusammenhang unsichtbar gemacht wird.
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Die Unterscheidung zwischen Alltagsintegration und symbolischer Integration ist eine handlungstheoretische Reformulierung der funktionalistischen Unterscheidung zwischen sozialer Integration und Systemintegration. Zur wissenssoziologischen Kritik am Funktionalismus vgl. Berger/Luckmann (1980: 67ff.).
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As p e k t e d e r I n t e r k u l t u r a l i t ä t Gesellschaftliche Differenzierung und Komplexitätssteigerung sind ganz wesentlich nicht nur Produkte ‚interner‘ gesellschaftlicher Prozesse, sondern geprägt von ‚äußeren‘, ‚globalen‘ Einflüssen. Insgesamt ist die Vorstellung einer geschlossenen gesellschaftlichen ‚Binnenlage‘ fragwürdig geworden. Diese Sichtweise wird zunehmend verdrängt durch eine Situation, die nach am treffendsten mit dem Begriff ‚Interkulturalität‘ zu beschreiben ist (vgl. Soeffner 2000a). Frühere Epochen waren gekennzeichnet durch einen begrenzten Kontakt zwischen Kulturen, zu dessen Bewältigung, wenn es nicht zu kriegerischen Auseinandersetzungen kam, ein klar definiertes, rituelles Kontaktwissen (insbesondere in Form des Gastrechts) existierte. Der weltumspannende Zusammenschluss von Medien und Verkehrsmitteln, der internationale ‚Umschlag‘ von Massenwaren und Massentouristen durch übernationale Konzerne, die Bildung supranationaler politischer Organisationen und Zusammenschlüsse, die weltweite Standardisierung der Fertigungs- und Verwaltungstechniken und schließlich die globale Arbeits- und Elendsmigration haben die universellen Kontaktmöglichkeiten in einen universellen, permanenten Kontaktzwang zwischen den Kulturen überführt, der vielfältige Folgen zeitigt. Als Reaktion auf diesen Kontaktzwang haben sich die unterschiedlichsten Formen der Interkulturalität ausgebildet. Alfred Schütz ging davon aus, dass im menschlichen Leben vier Grundannahmen in aller Regel Gültigkeit besitzen: dass alles bleibt, wie es ist; dass wir uns auf das überlieferte Wissen verlassen können; dass Wissen über den allgemeinen Typus von Ereignissen ausreichend ist; schließlich, dass ein von allen geteiltes Allgemeinwissen existiert, das die zuvor genannten Grundannahmen einschließt (vgl. Schütz 1972a: 58f.). Schütz sah die Lage des Fremden dadurch definiert, dass diese vier Grundannahmen für diesen als ‚Außenseiter‘ keine Gültigkeit besitzen. ‚Interkulturelle‘ Gesellschaften scheinen nun aber das Schützsche Konzept zu sprengen und geradezu durch eine „Generalisierung der Fremdheit“ (Hahn 1994: 162) gekennzeichnet zu sein: der Bestand an gemeinsamem Wissen, mit dessen Hilfe Interaktion routinemäßig bewältigt werden könnte, wird für alle Gesellschaftsmitglieder zunehmend prekär; es treten vermehrt ‚Wissensasymmetrien‘ auf, deren Überwindung sich zusehends schwierig gestaltet (vgl. Günthner/Luckmann 2002); es kommt zu einer Ausdehnung der Zonen, über die ich nichts weiß, bei gleichzeitig gegebenen (oder zumindest potentiellen), vielfältigen Abhängigkeiten und Verflechtungen; ich suche immer öfter vergebens im gesellschaftlichen Wissensvorrat nach Lösungen für meine Probleme und finde dabei widersprüchliche Lösungen. Als Reaktion auf die dadurch ausgelösten Desintegra-
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tionserfahrungen haben sich innerhalb und an den Rändern sozialer Welten4 vielfältige alltagsweltliche und symbolische Ordnungsmuster und personale Bewältigungsstrategien entwickelt, die in unterschiedlichen Graden der Öffnung und Schließung die Probleme der Integration neu formulieren und bisweilen auch schon beantworten. Die Mitglieder – idealtypisch gefasster – weithin vergangener ‚einfacher‘ Gesellschaften bewohnten eine einzige solche ‚soziale Welt‘, mit einem gemeinsamen Relevanzsystem und geteiltem Wissen. Moderne Gesellschaften dagegen gliedern sich in eine Vielzahl von verselbständigten sozialen Welten, in deren Zentrum zumeist eine Tätigkeit oder soziale Rolle steht. „Instead of being a full-time member of one ‚total and whole‘ society, modern man is a part-time citizen in a variety of part-time societies. Instead of living within one meaningful world system to which he owes complete loyalty he now lives in many differently structured ‚worlds‘ to each of which he owes only partly allegiance“ (Luckmann 1978: 282). Meist wählen Menschen eine soziale Welt aus als „nucleus around which his other life-worlds can be arranged“ (Luckmann 1978: 285). Wenn Einwanderung nicht individuell, sondern in Form von Masseneinwanderung aus derselben Herkunftsregion erfolgt, erwerben Migrantenmilieus nicht selten die Funktion einer solchen Kernwelt (vgl. Heckmann 1992: 96ff.). Sie dienen ihren Bewohnern als Mittel zur Bewältigung der Migrationssituation und ihrer Folgen. Damit unterscheiden sich Migrantenmlieus strukturell sowohl von der Herkunftsgesellschaft als auch von den restlichen sie umgebenden sozialen Welten. In solchen nur relativ geschlossenen Milieus werden überkommene Kulturmuster transformiert und angepasst, genauso wie neu erworbenes Wissen umgeformt und eingepasst wird. In Migrantenmilieus schaffen sich Einwanderer neue Institutionen, es entstehen eigene Muster ökonomischer und sozialer Reproduktion sowie interne soziale Differenzierungen mit eigenen Status- und Rangordnungen, die zu einer Stabilisierung dieser sozialen Welt führen. Andererseits stellt sich für Nachfolgegenerationen die Frage, inwieweit diese Transformationsmilieus noch ihren, gegenüber der ersten Migratengeneration veränderten Problemlagen angemessen sind. Migrantenmilieus weisen, wie alle soziale Welten, über sich hinaus (vgl. Soeffner 1991: 6ff.). Ihre Angehörigen sind zugleich Mitglieder anderer sozialer Welten, denen sie ebenfalls Loyalität schulden und zu deren Gunsten sie ihr milieuspezifisches Engagement ruhen lassen oder gar beenden können. Durch solche Austauschprozesse werden die Migrantenmilieus ständig mit neuem Wissen versorgt. Soziale Welten können so die in den Mehrfachmitgliedschaften ihrer Mitglieder angelegte Dynamik aufgreifen und den 4
Bei Schütz ist noch die Rede von ‚der Sozialwelt‘ bzw. ‚der sozialen Welt‘ im Singular (vgl. Schütz 1972b: 86; Schütz/Luckmann 2003: 419).
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Wandel vollziehen (sich also letztlich selbst überwinden) oder sie können auf diese zentrifugalen Kräfte mit Schließung reagieren. Wo Beziehungen und wechselseitige Abhängigkeiten zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Gruppen bestehen, gibt es auch ein Minimum an Wissen, mit dem diese Beziehungen koordiniert werden. Migranten sind insofern, wie der Fremde bei Georg Simmel, „ein Element der Gruppe selbst“ (Simmel 1992b: 765), also nicht lediglich eine abstrakte Größe. Aus der Sicht der autochthonen Bevölkerung werden Einwanderer allerdings dann zu Unbekannten, wenn man wechselseitig für einander irrelevant wird, d.h. wenn die sozial-strukturelle Differenzierung so weit geht, dass keinerlei Beziehungen zwischen beiden Seiten hergestellt werden: ein zwar graduell möglicher, aber prinzipiell unwahrscheinlicher Fall. Bezogen auf Migrantenmilieus vollziehen sich solche Abgrenzungsprozesse tendenziell dann, wenn entschiedene ethnische Selbstorganisation zur Schließung der Gruppe führt. Eine solche ethnische Schließung wird besonders wahrscheinlich, wenn ‚Ethnie‘ und Schichtzugehörigkeit deckungsgleich sind und die Gruppe zugleich ‚ethnisch‘ und sozialstrukturell in Differenz zur sie umgebenden Gesellschaft steht.5 Der Versuch der Verortung in einer sich derart abschließenden sozialen Welt kann dann umschlagen in die Suche nach einer totalen Sinnwelten: die Entstehung sogenannter ethnischer ‚Inseln‘ oder ‚Parallelgesellschaften‘ ist eine mögliche Folge. Die Angleichung von Wissensbeständen vollzieht sich demgegenüber in sozialen Welten, die nicht primär die Bewältigung von Migrationsfolgen zum Gegenstand haben. Assimilation im Sinne einer vollständigen Übernahme des vorhandenen Wissensvorrates der Mehrheitsgesellschaft durch die Migranten bei gleichzeitigem Ausbleiben eines Eindringens von Wissen aus dem Wissensvorrat der Einwanderer in die Aufnahmegesellschaft ist dabei eine Möglichkeit. Voraussetzung für die Etablierung solcher Assimilationsmilieus ist, dass nur einer verhältnismäßig geringen Zahl von Migranten Zugang gewährt wird und dass wirksame Abwehr- und Kontrollmechanismen eingerichtet werden, die das Eindringen ‚fremden Wissens‘ verhindern. Selbst in diesem Fall verändert sich jedoch der Wissensvorrat, da ihm zumindest Wissen darüber zugeführt wird, welche Formen fremden Wissens existieren und welche Migrantentypen assimilierbar sind. Eine andere Möglichkeit ist die Entstehung einer Interkultur im engeren Sinne. Ein solcher Kultursynkretismus ist allerdings nicht allein eine Folge von Migration, sondern eine Konsequenz des globalen Kulturkontaktes insgesamt. Die lokale Aneignung global verfügbarer Stile und Waren spielt dabei eine herausragende Rolle. Inwieweit 5
Hartmut Esser hat wiederholt darauf hingewiesen, dass dauerhafte ethnische Differenzierung – empirisch nachweisbar – regelmäßig mit ethnischer Schichtung einhergeht, die allein durch ‚strukturelle Assimilation‘ vermieden werden kann (vgl. Esser 2000: 292–306).
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sich im bundesdeutschen Fall die Folgen der Arbeitsmigration der vergangenen 50 Jahre in der institutionellen ‚Tiefenstruktur‘ des gesellschaftlichen Wissensvorrats niederschlagen werden,6 wird man allerdings frühestens in weiteren 50 Jahren beurteilen können. Auf der Ebene personaler Bewältigungsmuster der globalisierten Integrationsproblematik findet kulturelle Hybridisierung ihre Entsprechung in Form von individualistischen Mischidentitäten. Bei ihnen handelt es sich weniger um spezifische Formen einer neuen „Bastelexistenz“ (Hitzler/Honer 1994), in denen versucht wird, die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen sozialen Welten biographisch zu integrieren (vgl. Luckmann 1978: 285), als vielmehr um jenes Phänomen, das Georg Simmel schon früh als Kennzeichen moderner, plural organisierter Gesellschaften gesehen hatte: um die Überschneidung verschiedener ‚sozialer Kreise‘, an denen ein Individuum teilhat, in eben diesem Individuum (vgl. Simmel 1992a). Anders als es das Klischee will, sind Kinder von Migranten nicht verloren zwischen zwei Kulturen, sondern pflegen oftmals (und unabhängig von ihrer sozialen Statuszugehörigkeit) einen ‚ethnisierten Individualismus‘: Die Erfahrung, in keiner (National-) Kultur aufzugehen, nährt ein distanziertes Verhältnis zu kollektiven Zugehörigkeiten und kann sogar Prozesse der Selbstcharismatisierung in Gang setzen, in denen die subjektive Wahrnehmung und Betonung außergewöhnlicher personaler Qualitäten und Leistungen eine zentrale Rolle spielt. Während die kulturelle Dynamik der globalisierten Welt in einem ‚ersten Typus‘ sozialer Welten (s.o.) durch eine (relative) kulturelle Schließung beantwortet wird und in einem ‚zweiten Typus‘ Prozesse (relativer) kultureller Kreolisierung in Gang setzt, so schlägt sie sich in einem ‚dritten Typus‘ in Form von Konflikten nieder. „Während die für die traditionelle Moderne typischen direkten Verteilungskämpfe an Bedeutung verlieren [...], werden allenthalben mannigfaltige indirektere, unreguliertere Verteilungskämpfe aller Art um materielle Güter, um Weltdeutungen, um Kollektiv-Identitäten, um Lebensgewohnheiten und -qualitäten, um soziale Räume, Zeiten und Ressourcen, um Gestaltungschancen, um Grundsatz- und Detailfragen ausgetragen [...] d.h. die gesellschaftliche Normalität besteht [...] aus einer Vielzahl kleiner, im alltäglichen Umgang aber sozusagen permanenter Querelen, Schikanen und Kompromisse, die sich zwangsläufig im Aufeinandertreffen und Aneinanderreiben kulturell vielfältiger Orientierungsmöglichkeiten und individueller Relevanzsysteme ergeben“ (Hitzler 1999: 479f.). Was – oberflächlich gesehen – als Tendenz zur Anomie, als scheinbar unumkehrbarer Verlust gesellschaftlicher Ordnung erscheint, erweist sich – bei genauerer Beobachtung – allerdings als Beginn der Ausprägung neuer Ordnungen, selbst auf der 6
Davon könnte dann die Rede sein, wenn etwa sprachliche Hybridbildungen Eingang in den Alltagswortschatz und in den offiziellen Sprachgebrauch finden.
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Ebene der Entstehung und Austragung von Konflikten. Diese entstehen nicht zufällig und wahllos, sondern in Zonen spezifischer Interessenkollisionen, für die nach einer Lösung gesucht wird. Es sind nicht nur die neuen sozialen Welten und Milieus, in denen sich die Konflikte entzünden, sondern auch die klassischen sozialen Welten (Schule, Arbeit, Wohnquartier). Sie werden zu jenen Kontaktzonen, in denen soziale Welten aufeinanderstoßen und Grenzziehungskämpfe ausgefochten werden (vgl. Dörre 1997; Häußermann 1998). In solchen Kämpfen müssen die Fragen: „Wer bin ich?“ und „Wer sind wir?“ beständig neu beantwortet werden. Zugleich sind Konflikte Anzeichen für Formen neuer Integrationsprozesse. In ihnen drückt sich die wechselseitige Relevanz der Akteure füreinander aus. Mehr noch: Norbert Elias hat darauf hingewiesen, dass es die Veränderung des Machtgefälles zwischen Gruppen – zugunsten der Außenseiter – ist, die zu ständigen Konflikten, aber auch neuen Ordnungsmustern führt (vgl. Elias 1990: 27f.). Kennzeichnend für diese Situation ist u.a., dass die herkömmliche Form der Stereotypisierung (vgl. Luckmann/Luckmann 1983; Nazarkiewicz 1997) Stereotypen der Interkulturalität Platz macht: Im Gegensatz zu herkömmlichen Etablierten-Außenseiter-Konstellationen, in denen erstere ihre negativen Stereotype weitgehend ungehindert setzen können und letztere relativ sprachlos bleiben, werden in der geschilderten Konstellation wechselseitige Stereotypisierungen vorgenommen. Es kommt zu einer Symmetrie der Beziehungen. Die verwendeten Stereotype konstituieren überdies zwar eine Ungleichheit der Interaktionspartner, jedoch keine Ungleichwertigkeit. Sie zielen nicht auf ‚kategorialen Ausschluss‘ (vgl. Neckel 2003: 163f.) der jeweils anderen Gruppe. Schließlich werden die Stereotype in der Interaktion wechselseitig als gültig anerkannt und büßen spätestens dadurch ihre negative Polung weitgehend ein. Für ein weiteres Abschleifen von Stereotypen müssen jedoch zusätzliche Voraussetzungen vorliegen: „Nur wenn es Kontakte von Personen mit gleichem Status in für beide Seiten problematischen Situationen gibt und wenn diese das nachhaltige Erlebnis einer gemeinsamen Problemlösung sind, ändern sich die (negativen) Stereotype und machen sympathischen Gefühlen Platz“ (Esser 2000: 298f.). Soziale Welten sind nicht notwendigerweise Teil einer umfassenden Gesamtgesellschaft (eines Staates oder einer Nation). Sie können vielmehr an unterschiedlichen Gesellschaften partizipieren und damit die territorialen Grenzen nationaler Gesellschaften überschreiten. Dabei spielt neben den regelmäßigen Reisebewegungen der Angehörigen solcher sozialer Welten zwischen den involvierten Regionen der Einsatz von interaktiven Medien und Massenmedien eine wesentliche Rolle: Whereas ‚old ethnicity‘ has been a ‚community of the ground‘ (Gumperz 1990) ,a ‚place-defined group‘ (Fitzgerald 1992: 113) linked by recurrent interaction, ‚new ethnicity‘ is based on different kinds of communication network. Communication by different inter288
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active media, such as the telephone or the use of mass media (television, radio, newspaper) enables this kind of ethnicity to be contextualised as a ‚community of the mind‘“ (Knoblauch 2001: 27; vgl. auch Appadurai 1996; Portes et al. 1999: 229). Integration findet also zunächst allein in eine soziale Welt statt, so etwa in die Welt des Sports. Integration z.B. durch Sport, d.h. Integration in die Gesamtgesellschaft durch die Teilhabe am Sportmilieu, ist dagegen äußerst voraussetzungsreich. Sie ist nur solange möglich, wie die Welt des Sports selbst in die Gesamtgesellschaft integriert ist und hängt ab von der Stellung des Sports im Gesamtgefüge der Gesellschaft. In hochdifferenzierten Gesellschaften mit verselbständigten Subsinnwelten, die über ihre je eigene Logik verfügen, ist Integration durch Sport nur noch schwer denkbar. In der Öffentlichkeit, in den einzelne soziale Welten übergreifenden ‚Arenen‘ (Anselm Strauss, vgl. Soeffner 1991: 8ff.) der Auseinandersetzung um die Gültigkeit konkurrierender Problemdefinitionen und Gestaltungsoptionen für die Bearbeitung geteilter Problemlagen, treten die charakteristischen Züge von modernen Einwanderungsgesellschaften besonders deutlich zu Tage. (Mediale) Auseinandersetzungen um die Verteilung knapper Ressourcen, um den Zugang zu Positionen im öffentlichen Raum, um Teilhaberechte und chancen gleichen selten dem Ideal vernunftorientierter Konsensfindung. Sie nehmen vielmehr die Form von (unlösbaren) Konflikten um Symbole (‚Kopftuchstreit‘), emotionalisierten ‚Ausländerdebatten‘ (‚Mehmet‘) oder (akademischen) ‚Identitätsdiskursen‘ (einschließlich des unvermeidlichen Rassismusvorwurfes) an, die sie als Bestandteil einer Inszenierungs- und Geschwätzigkeitskultur ausweisen, mittels derer moderne Gesellschaften die Fragwürdigkeit, Offenheit und offengelegte Ambivalenz ihrer Ordnungsmuster und Vergesellschaftungsformen bewältigen. Es sind Konflikte, die bisweilen – in den cultural studies zu Formen des ‚Widerstands‘, von Soziologen zur ‚reflexiven Moderne‘ – verklärt werden. Wenig beachtet wurde dabei bisher, dass diese Auseinandersetzungen hochgradig durchstrukturiert sind und in weitgehend vorgegebenen Bahnen verlaufen, dass also die kollektive ‚Dauerreflexion‘ durchaus eine Institutionalisierung erfahren hat (vgl. Schelsky 1965), die der Gesellschaft, auf neue Weise, Sicherheit und Ordnung verleiht. Grundlegende Fragen der (Neu-) Verteilung bzw. Sicherung von Machtanteilen werden allerdings in dieser Form öffentlicher Auseinandersetzung in den Bereich des ‚Kulturellen‘ verschoben und damit unsichtbar gemacht. Diese neuartigen (medialen) Ritualisierungen und Strukturierungen des öffentlichen Austauschs können überdies nicht über die grundlegenden Schwierigkeiten symbolischer Integration in hochmodernen Gesellschaften hinwegtäuschen: „Die Vielfalt der Perspektiven erschwert es [...], die gesamte Gesellschaft unter ein Dach, das heißt unter ein integriertes Symbolsystem zu
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bringen“ (Berger/Luckmann 1980: 91). Einige mehr oder weniger geglückte Versuche, dies dennoch zu leisten, können genannt werden. Die ‚geglaubte Gemeinsamkeit bzw. Gemeinschaft‘ (Weber) der Nation war ein Produkt der kapitalistisch-bürgerlichen Revolution in Europa. Der Nationalstaat war von Anbeginn durch das Paradox gekennzeichnet, einerseits die Besonderheit der eigenen Nation zu behaupten, andererseits aber – als Ordnungsmuster – zum geteilten Wissensbestand Europas und später der Welt zu gehören. In ihrer formalen Offenheit lag die Voraussetzung für den Erfolg der Idee der Nation. Musste die nationalstaatliche Ordnung zu Beginn gegen vielfältige Widerstände (insbesondere lokaler und religiöser Mächte und der ‚transnationalen‘ Aristokratie) durchgesetzt werden, so ist die Bindekraft nationaler Integration heute erneut in Frage gestellt. Selbst wenn wir von den Folgen transnationaler Migration absehen, ist dies offensichtlich: Die Gesellschaft ist gegliedert in Lebensstilmilieus, die sich über eine ‚kollektive Identität‘ als gemeinsamem Besitz nicht mehr zu verständigen in der Lage sind. Besonders deutlich wird dies bei dem Bemühen um die Konstruktion von ‚Nationalitätsbewusstsein‘ durch den Rückbezug auf die Geschichte, der weltweit Konjunktur hat (vgl. Levy/Sznaider 2001). Erinnerung wird dabei einerseits (auch hier) zum Medium der ‚Institutionalisierung der Dauerreflexion‘ (Schelsky 1965) kollektiver Identität: An die Stelle „der unreflektierten Anerkennung kultureller Selbstverständlichkeiten“ (Schelsky 1965: 256) rückt die hochgradig formalisierte und institutionell abgesicherte Beschäftigung mit den Zweifeln an eben diesen Selbstverständlichkeiten. Diese gut strukturierte Konfliktinteraktion in einer institutionell abgesicherten öffentlichen Arena wird selbst zum Kernbestand des kollektiven Selbstverständnisses. Andererseits werden – noch im institutionalisierten Zweifel – rückwärtsgewandte Mentalitätsmuster konstruiert, die zur Inklusion gegenwärtiger Differenzierungen gerade nicht geeignet sind und stattdessen weitreichende exkludierende Folgen haben (vgl. zum deutschen Fall Soeffner 2004; Zifonun 2004a). Symbolische Sinnwelten dringen tief in die Alltagswelt ein, erlangen aber in der Regel nur Geltung in der einen sozialen Welt, für die sie entworfen wurden und der sie angehören. Über diesen Geltungsbereich hinaus zu wirken, gelingt ihnen kaum. Der Einzelne kann sie für sich zum ‚Sinnbasteln‘ nutzen, einen allgemeinverbindlichen Status erreichen sie nicht. Wenn darüber hinaus Politik tendenziell auf die Ebene einer Subsinnwelt unter anderen herabsinkt, wird die Vorstellung politischer Integration immer fragwürdiger (vgl. Zifonun 2004b). Mit dem Versuch neonationaler Schließung durch Erinnerungspolitik wurde ein symbolisches Reaktionsmuster genannt, das zumindest tendenziell dazu in der Lage zu sein scheint, integrative Wirkung zu entfalten. In ähnlicher Weise lassen sich religiöse Radikalismen interpretieren, die ja gerade nicht Ausdruck des Fortbestandes traditioneller Formen der 290
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Frömmigkeit sind. Vielmehr reagiert religiöser Fundamentalismus auf die in pluralen Gesellschaften stattfindenden Formen der Aushöhlung früher gültiger religiöser Totalitätsansprüche. Je stärker spürbar solche Aushöhlung ist, umso vehementer und radikaler fallen die Reaktionen und der Wunsch nach totaler (totalitärer) Sinngebung aus. Schließlich sind neben nationalen Erinnerungsdiskursen und religiösen Heilsverkündigungen noch die bereits erwähnten ‚Ausländerdebatten‘ zu nennen, die als symbolische Abwehrdiskurse Einheit und Identität dort zu schaffen versuchen, wo beides nicht (mehr) existiert. Das Bild vom imaginären ‚Ausländer‘ dient so zur Konstruktion eines imaginären Bildes vom ‚Deutschen‘, auf das sich die Gesellschaft sonst, d.h. ohne ‚Ausländer‘, nicht zu verständigen in der Lage wäre. Die mediale Verdinglichung (etwa des Islam) produziert einen symbolischen Überschuss in Form von Stereotypen, der im Alltag kaum eingeholt korrigiert und aufgefangen werden kann. Wir verlassen uns dementsprechend weitgehend auf das symbolische Wissen über ‚fremde‘ Gruppen, das von den Massenmedien zur Verfügung gestellt wird. Komplementäre Probleme ergeben sich aus der Verkündigung humanistischer Ideale mit dem Ziel der Versöhnung der Menschheit. Konzepte wie die einer ‚humanen Gesellschaft‘, die Aufforderung zu ‚Toleranz und Akzeptanz‘, zu ‚menschenwürdiger Behandlung‘ und zu ‚Solidarität zwischen allen Menschen‘ (vgl. z.B. Küng/Kuschel 1993) leiden an ihrem ungeheueren Grad an Abstraktion. Eine Übersetzung dieser ebenso wolkigen wie abgehobenen Ideale der ‚Fernstenliebe‘ in die gesellschaftliche Alltagspraxis ist kaum möglich. Größerer Erfolg scheint da der ‚unsichtbaren Hand‘ des Marktes beschieden zu sein: Die transnationalen Symbole der Massen- und Konsumkultur lassen Teilhabe allein als Fragen des Geschmacks und vor allem des Geldes erscheinen.
Schlussbemerkungen Ihrem ursprünglichem Wortsinn nach meint ‚Integration‘ die Vervollständigung eines Ganzen, die Wiederherstellung einer Gesamtheit durch das Einfügen ihrer notwendigen Bestandteile in ein Ganzes. In diesem Sinn verwendet auch die Integrationsforschung den Begriff, etwa wenn Hartmut Esser Integration definiert als den „relativ gleichgewichtigen Zusammenhalt der Teile eines Ganzen und dessen Abgrenzung gegen eine unspezifische Umgebung“ (Esser 2000: 285). Wenn wir also vorschlagen, theoretisch nicht von der Gesellschaft, sondern vom Einzelnen auszugehen, bedeutet dies eine Umkehrung der Frage der Integrationsforschung. Diese Umkehrung erlaubt es, die gesellschaftliche Totalitätsvorstellung aufzugeben, stattdessen danach zu fragen, an welchen Vergesellschaftungen der Einzelne teilhat und diese Frage zu verstehen als eine nach den lebensweltlichen Vergesellschaftungsprozessen und In291
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tegrationsmechanismen. Das bedeutet selbstverständlich keineswegs, die Relevanz der Fragestellungen und Ergebnisse der Integrationsforschung in Abrede zu stellen. Insbesondere die ‚Mannheimer Schule‘ der Integrationsforschung hat analytische Differenzierungen und empirische Ergebnisse zu Tage gebracht, die für eine Wissenssoziologie der Migration von größter Bedeutung sind (vgl. z.B. Diehl 2002; Esser 2000: 261ff.; Kalter 2003a). Die ‚lebensweltliche‘ Erforschung von ‚Integration‘ verhält sich somit komplementär zur (quantitativ verfahrenden) Strukturanalyse gesellschaftlicher Integration, beide ergänzen sich wechselseitig. Alfred Schütz und seine Schüler gehen – bei aller Betonung, die sie auf die Anonymisierung sozialer Beziehungen, die ungleiche soziale Verteilung von Wissen und die Schwierigkeiten symbolischer Integration legen – noch von einem nationalstaatlichem Ordnungsrahmen, von einer gesellschaftlichen ‚Binnenlage‘ aus, d.h. von der Begrenztheit und Abgeschlossenheit des gesellschaftlichen Wissensvorrates. Sie stellen die Gültigkeit dieses Rahmens nicht in Frage. Tut man dies jedoch, so verändert sich die Perspektive. Einerseits wird dann die Ausweitung der Problemsituation sichtbar. Andererseits stellt sich manches Integrationsproblem, das Schütz noch gesehen hat, (so) nicht (mehr). Transnationale und lokale Integration in soziale Welten schließen Lücken, die eine verringerte nationale Integrationsfähigkeit hinterlassen hat. Die Frage, ob der Mensch die ihm auferlegte Notwendigkeit zur Integration in eine gesellschaftliche Ordnung als Zwang zur Subordination unter einen fremden Willen, zur Aufgabe eigener Erfahrungen und eigenen Wissens, erfährt oder ob er sie als Mittel für die Ausbildung eigener Identität und als Quelle für Freiheit nutzen kann, ist weniger eine Grundsatzfrage der philosophischen Anthropologie als vielmehr eine Aufgabenstellung, derer sich die historischen Sozialwissenschaften empirisch anzunehmen haben. Die im Verlauf der Menschheitsgeschichte erprobten Integrationsmuster erweisen sich – je nach historisch gegebenen Gesellschaftsstrukturen – als äußerst variabel. Inwieweit Integration als Zwangsmechanismus oder als Aushandlungsprozess mit Freiheitsräumen gestaltet wird, ist auch im ‚globalen Zeitalter‘ nicht durch die freie Imagination phantasievoller Zeitdiagnostikessayisten zu beantworten, sondern durch systematische Beobachtung, sorgfältige Diagnose und vorsichtige, bedingte Prognostik. Bisher finden sich beide Integrationsvarianten in unterschiedlichen Mischungen in Form von interkulturellen Vergesellschaftungen der verschiedensten Arten wieder. Dahinter verbergen sich Prozesse der Ausbildung neuer Ordnungen. Ihnen haben Beobachtung und Diagnose vorrangig zu gelten.
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Au torinne n und Autore n
Bohnsack, Ralf (*1948), Dr. rer. soc., Dr. phil., Professor für Qualitative Bildungsforschung an der Freien Universität Berlin. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Praxeologische Wissenssoziologie, Bildungsforschung im Bereich von Adoleszenzentwicklung, Jugendmilieus, Geschlechter- und Generationenverhältnissen, Bildungsforschung im Blick von Organisationskulturen. Ausgewählte Veröffentlichungen: Alltagsinterpretation und soziologische Rekonstruktion, Opladen: Westdeutscher Verlag (1983); Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung, Opladen: Leske + Budrich (1991/1993/1999/2000); Qualitative Bild- und Videointerpretation. Die dokumentarische Methode, Opladen/Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich/UTB (2009). Cappai, Gabriele (*1956), Dr. phil., Professor für Theorien und Methoden der empirischen Sozialforschung an der Universität Bayreuth. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Theorien interkulturellen Verstehens, Kulturtheorie, Kommunikation, Organisation und Migration in Europa, Kulturvergleich, Übersetzung als Voraussetzung für gesellschaftliche Integration. Ausgewählte Veröffentlichungen: Modernisierung, Wissenschaft, Demokratie. Untersuchungen zur italienischen Rezeption des Werkes von Max Weber, Baden Baden: Nomos (1994); Im migratoriaschen Dreieck. Eine empirische Untersuchung über Migrantenorganisationen und ihre Stellung zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft, Stuttgart: Lucius & Lucius (2000); Sozialwissenschaftliches Übersetzen als interkulturelle Hermeneutik, Mailand/Berlin: Dunker & Humblot (2003) (hg. mit A. Zingerle); Forschen unter Bedingungen kultureller Fremdheit, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (Hg. 2008). Kamphausen, Georg (*1955), Dr. phil., Professor für Politische Soziologie an der Universität Bayreuth. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Kultur297
INTERPRETATIVE SOZIALFORSCHUNG UND KULTURANALYSE
und Religionssoziologie, politische Ideengeschichte, Amerikastudien. Ausgewählte Veröffentlichungen: Hüter des Gewissens? Zum Einfluß sozialwissenschaftlichen Denkens in Theologie und Kirche, Berlin: Dietrich Reimer Verlag (1968) (mit W. Gebhardt); Zwei Dörfer in Deutschland. Mentalitätsunterschiede nach der Wiedervereinigung, Opladen: Leske + Budrich (1994) (mit W. Gebhardt); Die Erfindung Amerikas in der Kulturkritik der Generation von 1890, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft (2002). Kokemohr, Rainer (*1940), Dr. phil., em. Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Bildungsprozessforschung, Interaktionsanalyse in pädagogischer Absicht, interkulturelle Kommunikation, erziehungswissenschaftliche Biographieforschung und historisch-systematische Einzelstudien zur Bildungsphilosophie, Aufbau einer Modellschule im ländlichen Raum Kamerun. Ausgewählte Veröffentlichungen: Zukunft als Bildungsproblem. Die Bildungsreflexion des jungen Nietzsche, Ratingen/Kastellaun/Düsseldorf: Henn (1973); Biographien in komplexen Institutionen. Studentenbiographien I (1989) und II (1990), Frankfurt/M./Bern/New York/Paris: Peter Lang (hg. mit W. Marotzki). Nohl, Arnd-Michael (*1968), Dr. phil., Professor für Erziehungswissenschaft, insbesondere systematische Pädagogik an der Helmut Schmidt Universität der Bundeswehr Hamburg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Identitätssoziologie, Bildungssoziologie, Qualitative Bildungsforschung, Systematische Pädagogik. Ausgewählte Veröffentlichungen: Migrationslagerung und Differenzerfahrung. Vergleichende Milieurekonstruktionen zu männlichen Jugendlichen aus einheimischen und zugewanderten Familien in Berlin und Ankara, Berlin: Freie Universität Berlin (2000); Bildung und Spontaneität: Phasen biografischer Wandlungsprozesse in drei Lebensaltern. Empirische Rekonstruktionen und pragmatistische Reflexionen, Opladen: BudrichVerlag (2006); Konzepte interkultureller Pädagogik: Eine systematische Einführung, Heilbrunn: Klinkhardt (2006); Interview und dokumentarische Methode: Anleitungen für die Forschungspraxis, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (2009). Schoberth, Wolfgang (*1958), Dr. phil., Professor für Systematische Theologie (Dogmatik) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Anthropologie, Theologische Ästhetik, Philosophische Theologie, Erforschung der religiösen Gegenwartskultur. Ausgewählte Veröffentlichungen: Das Jenseits der Kunst. Beiträge zu einer wissenssoziologischen Rekonstruktion der ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos, Frankfurt/M./Bern/New York/Paris: Peter Lang (1988); Der All298
AUTORINNEN UND AUTOREN
mächtige. Annäherungen an ein umstrittenes Gottesprädikat, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (1997); Kirche – Ethik – Öffentlichkeit. Christliche Ethik in der Herausforderung, Berlin/Münster/Wien/Zürich/London: LitVerlag (2002) (mit I. Schoberth); Einführung in die theologische Anthropologie, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft (2006). Shimada, Shingo (*1957), Dr. phil., Professor für Modernes Japan mit sozialwissenschaftlichem Schwerpunkt an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Theorie und Methode des Kulturvergleichs, Wissensoziologie, sozialer Wandel in der japanischen Gesellschaft, Alterung der Gesellschaften im Vergleich. Ausgewählte Veröffentlichungen: Grenzgänge – Fremdgänge. Japan und Europa im Kulturvergleich, Frankfurt/M./New York: Campus (1994/2007); Die Erfindung Japans. Kulturelle Wechselwirkung und politische Identitätskonstruktion, Frankfurt/M./New York: Campus (2000/2007); Alternde Gesellschaften im Vergleich. Solidarität und Pflege in Deutschland und Japan, Bielefeld: transcript (2006) (mit Chr. Tagsold). Soeffner, Hans-Georg (*1939), Dr. phil., em. Professor für Soziologie, Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie an der Universität Konstanz, seit 2007 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Wissenssoziologie, Kultursoziologie, Religionssoziologie, Kommunikationssoziologie, Rechtssoziologie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Die Auslegung des Alltags – der Alltag der Auslegung, Frankfurt/M.: Suhrkamp (1989); Die Ordnung der Rituale, Frankfurt/M.: Suhrkamp (1992); Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von Ordnungskonstruktionen, Welerswist: Velbrück (2000); Zeitbilder. Versuche über Glück, Lebensstil, Gewalt und Schuld, Frankfurt/M./New York: Campus (2005). Straub, Jürgen (*1958), Dr. phil., Professor, seit 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Sozialtheorie und Sozialpsychologie in der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum; er baut dort derzeit in Lehre und Forschung einen kulturpsychologischen Schwerpunkt auf, u.a. in Kooperation mit der Mercator Research Group „Spaces of Anthropological Knowledge: Production and Transfer“ und dem Research Department „Center for Religious Studies“ (CERES). Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Kommunikation und Kompetenz, Kulturpsychologie, Sozial- und Kulturtheorie, komparative Sozialforschung und Kulturanalyse, Handlungstheorie, Identitätstheorie, Gedächtnistheorie und Biographietheorie, Hermeneutik und qualitative Methoden. Ausgewählte Veröffentlichungen: Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 2: Paradigmen und Disziplinen. Stuttgart: Metzler 299
INTERPRETATIVE SOZIALFORSCHUNG UND KULTURANALYSE
(2004) (hg. mit Friedrich Jäger); Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Stuttgart: Metzler (2007) (hg. mit A. Weidemann und D. Weidemann); Dark traces oft he past. New York, Oxford: Berghan (2010) (hg. mit Jörn Rüsen); Wie lehrt man interkulturelle Kompetenz? Theorie, Methoden und Praxis in der Hochschulausbildung, Bielefeld: transcript (2010) (hg. mit A. Weidemann und S. Nothnagel). Zifonun, Dariuš (*1968), Dr. rer. soc., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am KWI (Kulturwissenschaftlichen Institut) Essen. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Soziologie moderner Wissensgesellschaften, Kultur- und Wissenssoziologie, Ethnizitäts- und Migrationsforschung, Erinnerungspolitik, Methodologie empirischer Sozialforschung, Politische Soziologie, Organisationsforschung. Ausgewählte Veröffentlichungen: Der Sinn der Politik. Kulturwissenschaftliche Politikanalysen, Konstanz: UVK (2002) (hg. mit M. Müller und T. Raufer); Gedenken und Identität. Der deutsche Erinnerungsdiskurs (Wissenschaftliche Reihe des Fritz-Bauer-Instituts, Band 12), Frankfurt/M./New York: Campus (2004); Zur Kulturbedeutung von Hooligandiskurs und Alltagsrassismus im Fußballsport. In: Zeitschrift für Qualitative Forschung, Jg. 8, H. 1, S. 97–117 (2007); Integration – An Outline from the Perspective of the Sociology of Knowledge. In: Qualitative Sociology Review, Jg. 4, H. 2, S. 3–23 (2008) (mit H.-G. Soeffner). Zingerle, Arnold (*1942), Dr. phil., em. Professor für Allgemeine Soziologie der Universitäth Bayreuth. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Vergleichende Kultursoziologie, Historische Soziologie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Max Weber und China, Berlin: Duncker und Humblot (1972); Max Webers historische Soziologie, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft (1981); Magie und Moderne, Berlin: Guttandin und Hoppe (1987) (hg. mit C. Mongardini); Ehre: Archaische Momente in der Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp (1994) (hg. mit L. Vogt); Thanatosoziologie, Berlin: Duncker & Humblot (2005) (hg. mit H. Knoblauch); Das kulturelle Gedächtnis Europas. In: R. Hettlage und H.-P. Müller, die europäische Gesellschaft, Konstanz: UVK (2006), S. 87–108.
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Kultur und soziale Praxis Sylke Bartmann, Oliver Immel (Hg.) Das Vertraute und das Fremde Differenzerfahrung und Fremdverstehen im Interkulturalitätsdiskurs Juli 2010, ca. 240 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1292-9
Lucyna Darowska, Thomas Lüttenberg, Claudia Machold (Hg.) Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität August 2010, ca. 146 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1375-9
Özkan Ezli (Hg.) Kultur als Ereignis Fatih Akins Film »Auf der anderen Seite« als transkulturelle Narration August 2010, ca. 150 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1386-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur und soziale Praxis Sabine Hess, Jana Binder, Johannes Moser (Hg.) No integration?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa 2009, 246 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-890-2
IPSE – Identités Politiques Sociétés Espaces (Hg.) Doing Identity in Luxemburg Subjektive Aneignungen – institutionelle Zuschreibungen – sozio-kulturelle Milieus Juli 2010, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1448-0
Doris Weidemann, Jinfu Tan Fit für Studium und Praktikum in China Ein interkulturelles Trainingsprogramm Juli 2010, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1465-7
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Kultur und soziale Praxis Iman Attia Die »westliche Kultur« und ihr Anderes Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus 2009, 186 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1081-9
Jutta Aumüller Assimilation Kontroversen um ein migrationspolitisches Konzept 2009, 278 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1236-3
Aida Bosch Konsum und Exklusion Eine Kultursoziologie der Dinge Januar 2010, 504 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1326-1
Anne Broden, Paul Mecheril (Hg.) Rassismus bildet Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft Mai 2010, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1456-5
Nesrin Z. Calagan Türkische Presse in Deutschland Der deutsch-türkische Medienmarkt und seine Produzenten Juli 2010, ca. 246 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1328-5
Kathrin Düsener Integration durch Engagement? Migrantinnen und Migranten auf der Suche nach Inklusion Januar 2010, 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1188-5
Jörg Gertel Globalisierte Nahrungskrisen Bruchzone Kairo Juli 2010, ca. 450 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1114-4
Jörg Gertel, Ingo Breuer (Hg.) Alltags-Mobilitäten Aufbruch marokkanischer Lebenswelten Juli 2010, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-89942-928-2
Martina Grimmig Goldene Tropen Zur Koproduktion natürlicher Ressourcen und kultureller Differenz in Guayana September 2010, ca. 320 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-89942-751-6
Hans-Walter Schmuhl (Hg.) Kulturrelativismus und Antirassismus Der Anthropologe Franz Boas (1858-1942) 2009, 350 Seiten, kart., inkl. Begleit-CD-ROM, 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1071-0
Asta Vonderau Leben im »neuen Europa« Konsum, Lebensstile und Körpertechniken im Postsozialismus Juni 2010, 238 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1189-2
Arne Weidemann, Jürgen Straub, Steffi Nothnagel (Hg.) Wie lehrt man interkulturelle Kompetenz? Theorien, Methoden und Praxis in der Hochschulausbildung. Ein Handbuch Mai 2010, 572 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1150-2
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