Internationalität und Interdisziplinarität der Editionswissenschaft 9783110372359, 9783110367317, 9783110385960

This volume discusses the diversity of scholarly traditions, methods of textual analysis, and editorial practices that c

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German Pages 332 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. Interdisziplinäre Perspektiven der elektronischen Edition
Beyond Editions. Historical Sources in the Digital Age
Editionen als fächerübergreifende Grundlage für datenbankbasierte Forschung. Ein Praxisbericht
An Introduction to the Phylogenetic Analysis of Non-Biological Data
Phylogenese und Textkritik der Parzival-Überlieferung. Bioinformatische Anregungen zur Lösung genealogischer Klassifizierungsprobleme in der Editionsphilologie
The HisDoc Project. Automatic Analysis, Recognition, and Retrieval of Handwritten Historical Documents for Digital Libraries
Die Normierung von Metadaten als Standardisierungsinstrument in der digitalen Briefedition
II. Medialität und Materialität
Überlegungen zum Editionsmodell der Mikrogramme in der Kritischen Robert Walser-Ausgabe
Papier und Feder. Zur Schriftentwicklung bei Jeremias Gotthelf
„Lebenssprache, wie man sie auf der Kanzel nicht duldet“. Gotthelfs Predigtmanuskripte im Spannungsfeld zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit
III. Nationale und internationale Bezüge
Die Internationalität der neutestamentlichen Textkritik zwischen Praxis und Theorie seit Karl Lachmann
The Italian ‘Third Way’ of Editing between Globalization and Localization
Annexation and Restitution. The Politics of Textual Scholarship and the Dutch-German Literary Continuum
Musikerbriefeditionen in Großbritannien, Frankreich, Deutschland. Schwerpunkte, Regularien, Unzulänglichkeiten, Chancen
Funktionen des Kommentars. Erfahrungsbericht anlässlich der Edition von Jeremias Gotthelfs politischer Publizistik
Vom Kommentieren
IV. Editorische Fallbeispiele
Wege des Textes. Sieben Fragen zur Edition der Deutschen Predigten Meister Eckharts
„Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption“. Benjamin-Edition zwischen Rettung und Ruinen
Authentizität oder Kompromiss? Zur internationalen Editionsgeschichte von Paul Klees Schriften
InterNationalität und InterDisziplinarität der Hans Kelsen Werke (HKW)
Satirische Quellen kommentieren. Ein Werkstattbericht der Edition Silvesterpost 1920
Recommend Papers

Internationalität und Interdisziplinarität der Editionswissenschaft
 9783110372359, 9783110367317, 9783110385960

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B E I H E F T E

Z U

Herausgegeben von Winfried Woesler

Band 35 38 Band

Internationalität und Interdisziplinarität der Editionswissenschaft Herausgegeben von Michael Stolz und Yen-Chun Chen

De Gruyter

ISBN 978-3-11-037235-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-036731-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038596-0 ISSN 0939-5946 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Simone Hiltscher, Bern Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt

Michael Stolz Einleitung � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 1 I. Interdisziplinäre Perspektiven der elektronischen Edition Jürgen Renn Beyond Editions. Historical Sources in the Digital Age� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 9 Helmut W. Klug Editionen als fächerübergreifende Grundlage für datenbankbasierte Forschung. Ein Praxisbericht  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 29 Heather F. Windram and Christopher J. Howe An Introduction to the Phylogenetic Analysis of Non-Biological Data � � � � � � � � � � 43 Kathrin Chlench und Gabriel Viehhauser Phylogenese und Textkritik der Parzival-Überlieferung. Bioinformatische Anregungen zur Lösung genealogischer Klassifizierungsprobleme in der Editionsphilologie � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 57 Andreas Fischer, Horst Bunke, Nada Naji, Jacques Savoy, Micheal Baechler and Rolf Ingold The HisDoc Project. Automatic Analysis, Recognition, and Retrieval of Handwritten Historical Documents for Digital Libraries � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 83 Jochen Strobel Die Normierung von Metadaten als Standardisierungsinstrument in der digitalen Briefedition � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 99 II. Medialität und Materialität Wolfram Groddeck Überlegungen zum Editionsmodell der Mikrogramme in der Kritischen Robert Walser-Ausgabe � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 111

VI

Inhalt

Norbert D. Wernicke Papier und Feder. Zur Schriftentwicklung bei Jeremias Gotthelf� � � � � � � � � � � � � � � 123 Manuela Heiniger und Franzisca Pilgram-Frühauf „Lebenssprache, wie man sie auf der Kanzel nicht duldet“. Gotthelfs Predigtmanuskripte im Spannungsfeld zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 143 III. Nationale und internationale Bezüge Eberhard Güting Die Internationalität der neutestamentlichen Textkritik zwischen Praxis und Theorie seit Karl Lachmann � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 161 Marina Buzzoni and Eugenio Burgio The Italian ‘Third Way’ of Editing between Globalization and Localization � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 171 Herman Brinkman Annexation and Restitution. The Politics of Textual Scholarship and the Dutch-German Literary Continuum � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 181 Jürgen Schaarwächter Musikerbriefeditionen in Großbritannien, Frankreich, Deutschland. Schwerpunkte, Regularien, Unzulänglichkeiten, Chancen. � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 191 Barbara Mahlmann-Bauer Funktionen des Kommentars. Erfahrungsbericht anlässlich der Edition von Jeremias Gotthelfs politischer Publizistik� � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 199 Christian von Zimmermann Vom Kommentieren � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 219 IV. Editorische Fallbeispiele Freimut Löser Wege des Textes. Sieben Fragen zur Edition der Deutschen Predigten Meister Eckharts � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 241 Gérard Raulet „Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption“. Benjamin-Edition zwischen Rettung und Ruinen � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 263

InhaltVII

Wolfgang F. Kersten Authentizität oder Kompromiss? Zur internationalen Editionsgeschichte von Paul Klees Schriften � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 291 Angela Reinthal InterNationalität und InterDisziplinarität der Hans Kelsen Werke (HKW)� � � � � � 303 Roland S. Kamzelak Satirische Quellen kommentieren. Ein Werkstattbericht der Edition Silvesterpost 1920 � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 315

Michael Stolz

Einleitung

Der vorliegende Band enthält Beiträge der vierzehnten internationalen Tagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition zum Thema „InterNationalität und InterDisziplinarität der Editionswissenschaft“, die vom 15. bis 18. Februar 2012 an der Universität Bern, Schweiz, stattfand. Der Kongress wurde gemeinsam mit der European Society for Textual Scholarship, der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen und der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung durchgeführt. Vorbereitet und organisiert wurde die Tagung von Michael Stolz, Professor für Germanistische Mediävistik an der Universität Bern, in Zusammenarbeit mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie mit Frau PD Dr. Irmgard Wirtz, Leiterin des Schweizerischen Literaturarchivs. Mit dem Tagungsthema reagierten die Veranstalter auf die in der internationalen Praxis der Editionswissenschaft vielfach zu beobachtende Heterogenität von wissenschaftsgeschichtlichen Traditionen, texttheoretischen Zugängen und editionspragmatischen Verfahren: Auch in einer zunehmend globalisierten Welt herrschen in den verschiedenen Ländern Editionspraktiken, die aus den jeweils unterschiedlichen Entwicklungen einzelner Nationalphilologien und ihrer tragenden Institutionen resultieren. Diese Heterogenität bereichert die länder- und sprachübergreifende editionswissenschaftliche Kommunikation, erschwert sie aber auch. Zu der bestehenden Vielfalt tritt die Tatsache hinzu, dass die Editionswissenschaft zunehmend in einem interdisziplinären Austausch steht, an dem in jüngerer Zeit auch die Informations- und Naturwissenschaften beteiligt sind (etwa bei der Bestimmung von Schreiberhänden, Schreibmaterialien oder textgenetischen Phänomenen). In einer von beschleunigter Kommunikation geprägten Wissensgesellschaft berühren und vermischen sich diese verschiedenen Ansätze, dies nicht zuletzt im Kontext medialer Veränderungen. Zugleich erweisen sich nationale und fachspezifische Konventionen auch unter diesen gewandelten Bedingungen als erstaunlich zählebig – sie bestimmen wissenschaftliche Formen der Interaktion und Kooperation mitunter mehr, als dies den beteiligten Partnern bewusst ist. An dieser Problematik setzte die Berner Tagung an. Gemäß dem Call for Papers waren Beiträge erwünscht, welche sich mit dem ‚Dazwischen‘ (inter), d. h. mit Vermittlungseffekten, Synergien, Reibungen und Brüchen nationaler und disziplinärer Zugänge in der Editionswissenschaft auseinandersetzen sollten, indem sie gleichermaßen deren Entstehungsbedingungen wie deren Entwicklungspotentiale in veränderten Umfeldern berücksichtigten. Als thematisch relevant angesehen wurden Untersuchungen zu nationalen oder disziplinären Editionstraditionen und den Grün-

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Michael Stolz

den ihrer vorhandenen bzw. nicht vorhandenen internationalen bzw. interdisziplinären Wirkungen. Die editions- und textwissenschaftliche Situation der Schweiz erwies sich in diesem Kontext als paradigmatisch, da sie aufgrund der politisch-geographischen Gegebenheiten vom engen Kontakt westeuropäischer Sprachen und einer damit einhergehenden Reflexion geprägt ist – Eigenschaften, welche die Förderung einschlägiger Institutionen in Bibliotheken und Archiven, die Entwicklung sprach-, text- und editionstheoretischer Ansätze sowie in jüngerer Zeit die Initiierung innovativer Digitalisierungsprojekte prägten und begünstigten. Ziel der Tagung war es, vor dem Hintergrund dieses Modellfalls gesamteuropäische und globale Perspektiven in den Blick zu nehmen. Die zahlreichen Beiträge wurden angesichts der Kooperation mit diversen wissenschaftlichen Gesellschaften in verschiedenen Publikationsorganen veröffentlicht. Der Großteil der Hauptvorträge sowie einige Sektionsvorträge erschienen in der Zeitschrift Editio, Band 26 (2012) und Band 27 (2013), einige englischsprachige Referate im Publikationsorgan der European Society for Textual Scholarship, der Zeitschrift Variants, Band 10 (2013); einzelne Vorträge mit schweizerischer Thematik wurden in die Zeitschrift Germanistik in der Schweiz, Heft 9 (2012), aufgenommen. Die hier versammelten Aufsätze vermögen das breit angelegte Tagungsthema damit nur noch segmentär wiederzugeben. Die ursprünglichen Tagungsbeiträge werden dabei unter den thematischen Schwerpunkten der elektronischen Edition und der nationalen bzw. internationalen Relevanz der Editionswissenschaft gruppiert; aufgenommen sind auch einschlägige editorische Fallbeispiele sowie Detailstudien, die sich mit den Themenkomplexen von Medialität und Materialität sowie mit der zur editorischen Arbeit gehörenden Kommentierung auseinandersetzen. Zum Auftakt der Tagung am 15. Februar 2012 sprachen vier renommierte Forscher im Berner Zentrum Paul Klee über Editionsvorhaben, die Texte von Autoren mit internationaler Ausstrahlung und Bezug zur Stadt Bern betreffen (alle Beiträge sind im vorliegenden Band abgedruckt). Jürgen Renn (Max Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin) bezog sich in seinem Referat über historische Quellen im digitalen Zeitalter unter anderem auf die Digitaledition der Collected Papers von Albert Einstein, zu der die 1905 in Bern verfassten Arbeiten über die Relativitätstheorie, Lichtquantenhypothese und Brown’sche Bewegung gehören. Unter dem Motto „Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption“ behandelte Gérard Raulet (Université Paris-Sorbonne, Maison des Sciences de l’Homme, Paris) Editionsprobleme der Thesen Über den Begriff der Geschichte von Walter Benjamin und berücksichtigte dabei auch Texte aus Benjamins Berner Studienjahren (1917–1919). Hinsichtlich der Frage „Authentizität oder Kompromiss?“ erörterte Wolfgang F. Kersten (Kunsthistorisches Institut, Universität Zürich) die internationale Editionsgeschichte von Paul Klees Tage- und Skizzenbüchern, die in der Berner Schaffenszeit entstanden sind. Wolfram Groddeck (Deutsches Seminar, Universität Zürich), Leiter der Kritischen Robert Walser-Ausgabe, stellte Überlegungen zum Editionsmodell der Mikrogramme an, die Walser in seinen Berner Jahren in winziger Bleistiftschrift anfertigte. An den Folgetagen fanden jeweils vor den zahlreichen Sektionssitzungen Plenarvorträge statt, die zum Rahmenthema „InterNationalität und InterDisziplinarität der

Einleitung3

Editionswissenschaft“ fachgeschichtliche Perspektiven und methodisch orientierte Aufrisse beisteuerten. Bodo Plachta (Amsterdam) stellte die Frage „Wie international ist die Editionswissenschaft?“ und warf damit einen „Blick in ihre Geschichte“ (vgl. Editio 26, S.  13 – 29). Jean-Louis Lebrave (Paris) stellte die ‚Genese‘ der Critique génétique aus heterogenen europäischen Strömungen wie der Textkritik und dem Strukturalismus vor (nicht publiziert). Bénédicte Vauthier (Bern) gab einen Überblick über Anwendungsweisen der Critique génétique in der Edition zeitgenössischer hispanischer Manuskripte (vgl. Editio 26, S. 38 – 58). Paul Eggert (Canberra, Australia) sprach über Konzepte und Methoden der Textkritik im anglo-amerikanischen Raum, Sukanta Chaudhuri (Kolkata, Indien) über solche in Bengali (nicht publiziert). Paulius Subačius (Vilnius) widmete sich der ‚Janusköpfigkeit‘ der baltischen Editionswissenschaft zwischen russischen und deutschen Traditionen (vgl. Editio 26, S.  72 – 85). Wolfgang Lukas (Wuppertal) verdeutlichte, dass digitale Editionen mit den ihnen eigenen Verfahren der Enkodierung eine (Re-)Modellierung des edierten Gegenstands betreiben, die auch inhaltliche Konsequenzen haben kann (nicht publiziert). Wim Van Mierlo (London) stellte Überlegungen zur Interaktion von Textkritik und Buchgeschichte im Kontext sozial- und materialhistorischer Betrachtungsweisen an (vgl. Variants 10, S.  113 –161). Reinmar Emans (Bochum/Saarbrücken) behandelte die Interdependenzen von Text, musikalischem Werk und Aufführungspraxis in der musikwissenschaftlichen Editionsphilologie (vgl. Editio 26, S. 1–12), Christine Siegert (Berlin) die Darstellungsproblematik der Mehrsprachigkeit in der Musikedition (vgl. Editio 26, S. 86 –107). Ursula von Keitz (Konstanz) beschrieb die zwischen Editionsphilologie, Filmstudien, Computer- und Archivwissenschaften angesiedelte historisch-kritische Filmedition als ein ‚interdisziplinäres Szenario‘ (vgl. Editio 27, S. 15 – 37). In der Anordnung des hier vorliegenden Bandes bilden die oben erwähnten Eröffnungsvorträge jeweils die zentralen Komponenten der Mehrzahl der thematischen Schwerpunkte. Jürgen Renns Beitrag „Beyond Editions. Historical Sources in the Digital Age“ leitet den Abschnitt über Perspektiven der elektronischen Edition ein. Helmut Klug (Graz) berichtet über die praktische Arbeit mit Datenbanken, u. a. dem Portal der Pflanzen des Mittelalters, und erläutert die darin zur Anwendung kommenden elektronischen Verfahren. Heather Windram und Christopher Howe (Cambridge UK) stellen phylogenetische Analysemethoden der Evolutionsbiologie vor, die in den letzten Jahren zunehmend zur Erforschung der handschriftlichen Überlieferung mittelalterlicher Texte herangezogen werden. Eine Anwendung dieser Verfahren auf die Texttradition des Parzival-Romans Wolframs von Eschenbach zeigen Kathrin Chlench und Gabriel Viehhauser (Bern) mit ihrem anschließenden Beitrag auf. Material der Parzival-Überlieferung findet auch in dem von Andreas Fischer und weiteren Autoren (aus Bern, Neuchâtel, Fribourg) beschriebenen HisDoc-Projekt zur automatischen Schrifterkennung Verwendung, welches das ehrgeizige Ziel verfolgt, die für Digitalprojekte wichtige Basis der Handschriftentranskription dereinst durch automatisierte Prozesse ergänzen oder gar ersetzen zu können. Einen Einblick in den aktuellen Stand von Auszeichnungsverfahren anhand der Normierung von Metadaten

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Michael Stolz

bietet der Beitrag von Jochen Strobel (Marburg) zur digitalen Edition am Beispiel der Briefe von August Wilhelm Schlegel. Nationale und internationale Bezüge der Editionswissenschaft sind im vorliegenden Sammelband nur mit wenigen ausgewählten Beiträgen vertreten, da viele dieser Thematik gewidmete Referate in die oben erwähnten Publikationsorgane (Editio, Variants) Eingang gefunden haben. Eberhard Güting (Wallenhorst) erläutert in seinem Aufsatz die auf methodischen Prämissen von Karl Lachmann aufbauende neutestamentliche Textkritik. Demgegenüber zeigen Marina Buzzoni und Eugenio Burgio (Venezia) einen in Italien praktizierten, zwischen der ‚rekonstruierenden‘ Methode Lachmanns und dem ‚dokumentierenden‘ Leithandschriftenprinzip vermittelnden Weg auf, der unter Nutzung digitaler Editionsverfahren beschritten werden kann; als Beispiel dient das an der Università Ca’ Foscari Venezia angesiedelte Editionsprojekt zum altsächsischen Heliand. Herman Brinkman (Den Haag) erörtert anhand von handschriftlich fassbaren Schreibermaßnahmen wie ‚Umschreibungen‘ und ‚Umdichtungen‘ die schwierige Zuordnung von Texten in einen ‚niederländischen‘ bzw. ‚deutschen‘ Bereich und die daraus resultierenden philologisch-editorischen Konsequenzen. Die gerade im internationalen Rahmen erst in den Anfängen begriffene Standardisierung von Musikerbriefeditionen ist das Thema des Beitrags von Jürgen Schaarwächter (Karlsruhe); die herangezogenen Beispiele beziehen sich auf Briefkorpora bzw. deren Editionen aus Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Zum Abschnitt der editoris chen Fallbeispiele gehört neben den im Zentrum stehenden Abhandlungen von Gérard Raulet zu Walter Benjamin und von Wolfgang Kersten zu Paul Klee auch ein mediävistischer Beitrag: Freimut Löser (Augsburg) befragt die Edition der Deutschen Predigten Meister Eckharts nach einem Kriterienkatalog, der Kategorien wie Autorschaft, Textgestalt und die Vernetzung innerhalb des Œuvres beinhaltet; die dem Tagungskonzept zugrunde liegende Thematik des ‚Dazwischen‘ (inter) wird dabei auf der Ebene des Zusammenspiels der diversen Kriterien angesetzt. Anders akzentuiert ist das ‚Dazwischen‘ in dem Beitrag von Angela Reinthal (Freiburg i. Br.) über die Edition der Werke des Rechtsgelehrten Hans Kelsen (1881–1973), dies im Hinblick auf die internationalen Produktions- und Rezeptionsbedingungen der Texte sowie auf deren Erschließung im Grenzbereich von Editionsphilologie und Rechtswissenschaft. Der Abschnitt zu Medialität und Materialität bietet mit dem einleitenden Beitrag zu Robert Walsers Mikrogrammen von Wolfram Groddeck ein Kabinettstück editorischer Entzifferung, die sich in einem Zwischenraum von materieller und hermeneutischer Erschließung bewegt. Eine vergleichbare Doppelspurigkeit begegnet im Beitrag von Norbert Wernicke (Bern) zur Schriftentwicklung bei Jeremias Gotthelf; anhand der politischen Publizistik kann der Verfasser zeigen, dass Ausprägungen des Schriftduktus nicht nur mit unterschiedlichen Textaggregaten (wie Entwurf oder Reinschrift) und Textsorten, sondern auch mit Haltungen des Verfassers (wie Distanzierung oder Ironie) in Zusammenhang stehen. Ebenfalls an Gotthelf erläutern Manuela Heiniger und Franzisca Pilgram-Frühauf (Bern) den medialen Grenzbereich von Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Bereich der Predigtmanuskripte mit Blick auf deren Edition.

Einleitung5

Die Interaktion von Ed ition und Kommentar behandeln die Beiträge des letzten Abschnitts. Die grundlegende Abhandlung über die ‚Tugenden‘ und ‚Sünden‘ der Kommentarpraxis von Christian von Zimmermann (Bern) orientiert sich an unterschiedlichen Editionsbeispielen und berücksichtigt dabei eine inzwischen avancierten Fachreflexion innerhalb der Editionsphilologie. Barbara Mahlmann (Bern) führt Funktionen der editorischen Kommentierung mit einem Erfahrungsbericht aus dem Gotthelf-Projekt vor Augen. Anhand der im Deutschen Literaturarchiv im Nachlass von Walther Unus aufbewahrten Archivalie Silversterpost 1920 bietet Roland Kamzelak (Marbach) ein Anwendungsbeispiel, das sich im interdisziplinären Feld von literatur- und geschichtswissenschaftlicher Kommentierung bewegt. Die Berner Tagung wurde auf großzügige Weise unterstützt durch den Schweizerischen Nationalfonds, die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, die Berner Burgergemeinde, die Donation Maria Bindschedler, den Akademie Verlag und den Verlag de Gruyter. Allen Sponsoren gilt der herzliche Dank der Tagungsorganisatoren. Dem Schweizerischen Literaturarchiv und seiner Leiterin PD Dr. Irmgard Wirtz sei gedankt für die Möglichkeit, eine der Parallelsektionen in den Räumlichkeiten der Schweizerischen Nationalbibliothek abhalten zu können. Allen Tagungsteilnehmern ist auch das am selben Ort veranstaltete Podiumsgespräch zwischen Hans Magnus Enzensberger und Dirk von Petersdorff zum Thema „Herausgeben, was einem nicht gehört. Editorische Künste, Freiheiten und Zwickmühlen“ in bester Erinnerung. Den reibungslosen Ablauf der Tagung gewährleisteten die Berner Mitarbeiterinnen Sonja Schneider, Franziska Güder, Sarah Tran und Mirjam Geissbühler. An der Redaktion der Beiträge waren Herr Dr. Julian Reidy und Frau Dr. des. Yen-Chun Chen beteiligt, wobei letztere Aufgaben als Mitherausgeberin übernahm. Simone Hiltscher zeichnete nicht nur für die ansprechende Tagungsbroschüre und die Tagungswebsite, sondern auch für die Drucklegung des vorliegenden Bands verantwortlich. Herrn Prof. Dr. Winfried Woesler sei für die Aufnahme in die Reihe Beihefte zu Editio gedankt, Frau Dr. Manuela Gerlof für die umsichtige Betreuung von Verlagsseite. Michael Stolz

Bern, im Juli 2014

Inte rdisziplinäre P erspekt i v en d er el ek t ro n i s ch en E d i t i o n

Jürgen Renn

Beyond Editions Historical Sources in the Digital Age

1. Introduction Editions that provide access to sources form the empirical basis of historical humanities. Editions and editorial techniques are currently evolving in close interaction with the research questions and methods of the humanities as well as with the media and information processing technologies available for their realization. Today’s continuing changes in these dimensions ‒ both the intellectual and the technological ‒ confront the very concept of “edition” with new challenges: the sources themselves can be represented in new ways; in new modes of collaboration they can be analyzed using new tools and, through the Internet, their dissemination becomes much more rapid and effective. This development leads to research and editorial work interacting in new ways. The representation, analysis, dissemination, and interplay between editions and research are the four aspects that will be discussed in more detail in the following.

2. Integrated Humanities Before entering a more detailed discussion, the two principal challenges faced by traditional editorial practices today will be addressed. In the intellectual dimension, the humanities move more and more toward what I would like to call “integrated humanities”. Integrated humanities are characterized by being more “problem oriented” than “discipline oriented”. The research undertaken by the Excellence Cluster TOPOI1 in Berlin exemplifies this problem-oriented approach. In studying ancient societies under the particular perspective of space and knowledge, TOPOI investigates how ancient cultures mastered and conceptualized the challenging complexities of their natural environment, of their social structures, and of their own intellectual traditions. In the past, the objective material aspects of this question concerning, for instance, the use of natural resources have often been discussed independent of cultural aspects such as philosophy, art, science or language. This separation becomes problematic, however, when one realizes that understanding the interaction between practical experiences and intellectual traditions is actually key to understanding the ancient societies themselves, and as well their developmental dynamics. TOPOI addresses 1

http://www.topoi.org/.

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Jürgen Renn

this fundamental question for a specific domain: it investigates how ancient cultures dealt concretely with the space in which they lived, how they conceptualized space, and how their understanding of space interacted with their mastery of space. Space and knowledge are therefore investigated not as separate categories, but rather as categories that mutually presuppose and determine each other. Evidently, this question cannot be approached from a purely disciplinary perspective, focusing either on texts or on archeological remains. Not even the interdisciplinarity between the sciences that traditionally deal with the ancient world suffices to address this challenge. Geographers need to be involved in order to reconstruct and assess the natural environment in which a particular historical development took place, social scientists are required to develop models of innovation processes and their dissemination, while physicists and chemists may be asked to propose new archeometric approaches. What role can editions play in this new research environment? Clearly, they can and must still take on a key role in providing access to the historical sources, only now they must cover a much wider set of data and materials supporting their interconnectivity, they must address a wider interdisciplinary community, and they must be capable of being integrated within much wider ranging collaborations and also in more complex technical networks.

3. An Epistemic Web The second principal challenge confronting editions today is represented by the new information technologies and, in particular, the Web. These new information technologies make it possible to address the demands emerging from the new intellectual perspectives mentioned above. The Web enables a wider range of historical sources to be represented than has been possible in the past. Manuscripts, images, objects and data can be interconnected in new and flexible ways. This in turn provides scope for new access structures that aid in bridging disciplinary gaps, for instance, by offering online help with languages or specialist background information. The Web offers a high impact potential to an unprecedented number of people, as well as high collaborative scalability. In principle, many scholars can collaborate on the creation of annotations and commentaries of a particular source. The Web exhibits exceptional plasticity: it can readily accommodate new ways of organizing content as well as new types of content that can be changed rapidly and frequently. The Web also allows ambient findability. Amidst the vast stockpiles, the required information can be located almost instantaneously from anywhere in the world. The Web’s distinctive potentials, however, have yet to be systematically achieved. The present Web remains a prototype of what the Web could become, namely an Epistemic Web: a Web optimized for the representation of human knowledge and its global processing. Collaborative scalability is limited, in particular, by the lack of tools for the shared annotation of heterogeneous data. The Web’s potential universal interconnectivity cannot be achieved without tools for visualizing and manipulating the complex structures of relations between documents. The present Web is furthermore characterized by a lack of commonly accepted standards and procedures for

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modeling data structures. This, however, would be necessary to connect the discipline and domain specific databases and online archives already in existence in order to make them accessible in innovative ways that may, of course, deviate from their originally intended use. From the perspective of these two grand challenges ‒ integrated humanities and an Epistemic Web ‒ work on digital humanities may take on a new role. It may become a pilot venture capable of guiding future technical developments by the intellectual quest to use historical sources to understand our past, and in doing so, address the challenges of the future.

4. The Cuneiform Digital Library Initiative The dimensions that characterize the way in which new editorial practices differ from traditional ones and help to pave the way for a future Epistemic Web are, as mentioned above, representation, analysis, dissemination, and the interplay between editions and research. Rather than discussing these systematically, I will instead illustrate the development of editorial practices by recounting some examples from personal editorial experiences and from those of my colleagues at the Max Planck Institute for the History of Science (MPIWG).2 I cannot even begin to relate these experiences without commemorating my friend and colleague Peter Damerow, a pioneer of the digital humanities who unfortunately died at the end of 2012. Among many other things, he was, together with Bob Englund, the founder of the Cuneiform Digital Library Initiative (CDLI),3 the largest open-access archive of cuneiform writings, which currently comprises more than 270.000 documents, 90.000 of which are transcribed. The project began with a stack of punch cards containing data on the earliest documents of human writing that Peter received in the early 1980s from a colleague who claimed that they were no longer readable. CDLI as a pilot project provided guidance for all our efforts, directing them above all toward making historical sources openly available, rather than accepting the still widespread scholarly practice of museums that reserve certain archival resources for scholars involved in special projects, or even attempt to commercialize their documentation.

2 3

http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/. http://cdli.ucla.edu/.

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Figure 1: 3D-scan of a sealed cuneiform tablet from the Hilprecht Collection at Jena.

5. Galileo Galilei’s Notes on Motion My first encounter with editorial practices was in the context of my work on Galileo. When I tried to understand the background to Galileo’s key work on the science of motion, the Discorsi from 1638, I soon realized that manuscripts preserved at the Biblioteca Nazionale in Florence provided important insights into his thought processes. These were comprised of around 180 unbound folio pages with scattered entries in no obvious chronological order, which were produced over a period of more than 30 years of research on problems of motion. Although a masterful edition of Galileo’s writings was created by Antonio Favaro at the turn from the nineteenth to the twentieth century, the manuscripts in question are only very partially represented. In this traditional printed edition, the lengthier text passages are transcribed but the calculations and drawings, for the most part, are omitted. In the late 1970s, the Galileo scholar Stillman Drake published a collection of snippets based on photographs of these manuscripts. Drake claimed to know the sequence in which Galileo’s entries were made and therefore cut these photographs into small pieces which he then published in a speculative chronological order. But there was no way the original image of the manuscript could be reconstructed from these snippets. Later, a microfilm reproduction of the manuscripts circulated among specialized scholars. The quality

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of this, however, was so bad that it generated learned disputes in a leading journal of the history of science on whether certain lines were actually drawn by Galileo or merely represented damage on the film. In short, there was no serious way to access these sources other than by visiting the National Library in Florence. Naturally, this had profound consequences on the kind of scholarship that was possible. The considerable effort required to access this material encouraged specialization and discouraged what I have called the “integrated humanities”.

Figure 2: Galileo Galilei’s Notes on Motion: An electronic representation of an early modern manuscript, Ms. Gal. 72.

My own access to manuscripts in Florence was limited by the fact that I had accepted a position in Boston, working for the Collected Papers of Albert Einstein. This editorial project was supported by the National Science Foundation (NSF) and consumed much of the budget it allocated to the history of science. In the late 1980s, an NSF committee announced a visit to check on our progress. As an editorial assistant, one of my tasks was to calculate the planned termination date of the edition. On the basis of a rough estimate, I arrived at the year 2017. The committee, led by Norton Wise, was shocked and challenged the editors with the proposal to abandon the paper edition and instead to produce a CD-ROM version that focused on electronic facsimile reproductions of the sources rather than on their annotations. The proposal created quite some debate among the editors. Against the background of my knowledge of Peter Damerow’s work and the experience I made with Galileo’s manuscripts, I suggested the creation of an international initiative for exploring the feasibility of electronic editions in the history of science. Shortly afterwards, we got in touch with scholars pursuing similar interests, in particular with Paolo Galluzzi at the Museum for the History of Science in Florence and

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with Robert Caillou at CERN, who at the time was working with Tim Berners Lee to create the Web. The result was a proposal to develop an online archive for Galileo’s and Einstein’s papers as a test case for further projects of this kind. In contrast to the original proposal by the NSF site-visit committee, we did not limit ourselves to electronic representations, but emphasized the necessity to also develop new interactive tools for working on these representations. One of our key ideas was that the results of research could be turned into new access structures to electronically represented information. In this way, the new electronic media would directly support the recursive nature of scholarship in which results are continuously turned into means for further research. The proposal was strongly supported by the NSF and its visionary program officer Ron Overman, but could not be realized because the issue of rights to include Einstein materials could not be resolved at the time. Instead, only an electronic representation of Galileo’s manuscripts4 was created as a pilot project. The planned online representation of Einstein’s manuscripts5 was created only much later, as a joint project of the Collected Papers of Albert Einstein and the Hebrew University. The electronic representation of Galileo’s manuscripts on motion is characterized by the combination of high-quality reproductions with transcriptions of texts, diagrams, and calculations. Different access levels were created in order to deal with problems of limited bandwidth. Static html pages rather than a database backend ensured low maintenance and high stability. Various indices nevertheless allowed for flexible semantic access. From the point of view of editorial practices, it is remarkable to see how transcriptions, in the presence of high-quality reproductions, take on a different role. They are no longer an end product delivered by the editor to the reader, but rather a reading aid that facilitates access to the original source and supports its link structure with other sources or metadata.

6. The Opera del Duomo in Florence This simple model of electronic representation immediately proved helpful in salvaging other projects that were at risk of disappearing in the turmoil of early digital humanities. A rich documentation of the years in which Filippo Brunelleschi built the cupola of Santa Maria del Fiore in Florence had been prepared on the basis of the cathedral archives by a group of medievalists and historians of art at the Opera del Duomo in Florence,6 under the leadership of Margaret Haines. The extensive documentation, combining transcriptions from the archives with detailed annotations and classifications, was stored in a proprietary and outdated database, and was not publically available. A working group at the MPIWG led by Jochen Büttner established a workflow that enabled the database output to be transformed into XML files, thus forming the starting point for a Web presentation of the cupola archives that

4 5 6

http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/Galileo_Prototype/MAIN.HTM. http://www.alberteinstein.info/. http://operaduomo.firenze.it/cupola/.

Beyond Editions15

now represents the main publication output of this unique project. This project has transformed the results of an in-depth scholarly analysis into a navigational tool for accessing the primary sources, thus realizing one of our original visions. In cooperation with the Kunsthistorisches Institut in Florence, we were also able to supplement this project with a photodocumentation of construction details of the cupola.7 To this day, however, we have been unable to salvage a detailed documentation of the restoration of the frescos by Zuccari that decorate the cupola. These are preserved in a proprietary program produced by a company that no longer exists and stored on outdated hardware at the Sopraintendenza in Florence. Much work remains to be done on the cupola project itself. An electronic working environment replacing the original database setting for data ingestion is still lacking. Also one would like to explore this unique material for innovative research projects such as a computer-assisted reconstruction of the workflows at the cupola construction site. This leads to a general observation: in the future, electronic working environments will be needed not only to produce electronic representations, but also to integrate electronic data with models representing the targets of historical research.

Figure 3: Construction details of the Florentine Cathedral.

7

http://echo.mpiwg-berlin.mpg.de/cupola/photocampaign/.

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7. Archimedes Open Digital Research Library At the MPIWG, an integrated working environment of this kind in the context of our research on the history of mechanical knowledge has been realized. This history is characterized by long-term processes reaching from antiquity to the present, by the interaction between technical and theoretical knowledge, and by the intercultural dimension given by the fact that mechanical knowledge also played an important role in Arabic and Chinese science. Accordingly, a wide range of sources and texts in many languages, as well as images have to be considered by such a research project. In a joint endeavor with Harvard University supported by DFG and NSF, we built up the Archimedes Open Digital Research Library8 which incorporates a vast collection of historical sources on mechanics. Following the model of the pioneering Perseus Project9 led by Greg Craine, we included language technology that enables the user to look up words in a dictionary in whatever grammatical form they occur, thus permitting semantic searches across languages. This language technology was made available, partly by integrating accomplished work, for Greek, Latin, Italian, German, Dutch, and Chinese. Work on Arabic was begun but never completed. The texts are presented as high-quality facsimiles and as transcriptions with minimal XML markup. In contrast to the Perseus project, we planned to realize the Archimedes infrastructure in a more modular, flexible form, but only partly succeeded in achieving this goal. This approach was taken with a view toward the possibility of scholars and institutions uploading new sources independently.

Figure 4: Database Machine Drawings within the Archimedes Open Digital Research Library.

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http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/en/research/projects/DEPT1_520Fuchs-Archimedes. http://www.perseus.tufts.edu/hopper/.

Beyond Editions17

The Archimedes Open Digital Research Library also includes a database of machine drawings10 prepared by Marcus Popplow and Wolfgang Lefèvre, mostly from Renaissance and early modern sources, and presents a classification of the machine parts. The Archimedes Project became the starting point for several undertakings that are still ongoing at the MPIWG. Needless to say that essentially all our resources are still available online and open access.

8. Arboreal In order to enable the computer-assisted analysis of source materials in the Archimedes Project, a project team led by the late Malcolm Hyman developed an XML browser called Arboreal, which allows the user to navigate through the tree structure of an XML file, to simultaneously display related XML files, for example, different versions of a text or a text with its translations, to efficiently perform searches, for instance with the help of regular expressions, to integrate language technology as needed for a particular purpose, to create annotations, and to support the identification of technical terminology in a text. We conceived Arboreal as the prototype of a new kind of Web browser that we call “interagent” and that is distinguished from current browsers by allowing the user to interact on a much deeper level with the information available on the Web. The interagent should allow the user to annotate existing documents and to create new documents as easily as the current Web user can browse documents. The interagent thus comprises information production as well as consumption, breaking down the division between client and server. We envisioned the interagent as a thin client that runs on a user’s computer, but which is radically extensible through Web services such as language technology.

Figure 5: The working environment of Arboreal: An XML text browser and editor.

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http://dmd.mpiwg-berlin.mpg.de/home.

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An interagent of this kind may even become an enabling technology of a future Epistemic Web. A key way of extending knowledge on the Epistemic Web would be the federation of documents whereby a group of federated documents would be brought together by means of a federating document. For example, several editions, translations, and commentaries on a literary work may be federated into a synoptic edition. In general, federation is a way of bringing together knowledge from existing documents to represent new knowledge. Whereas in the traditional Web the structures of links between documents are mostly hidden and do not allow for annotation, in the Epistemic Web these structures will be exposed as federating documents containing enriched links. In turn, such federating documents may be annotated or recursively federated. In an Epistemic Web, all data will be metadata and all documents will be perspectives into the universe of knowledge. Ordinarily, librarians envisage metadata as a canonical structured vocabulary that describes the contents and form of certain knowledge representations. By allowing for greatly enriched links between documents (incoming as well as outbound links, multi-directional links, transitive and intransitive links, links with attached semantic labels, links with specified behaviors), the Epistemic Web will allow documents to describe one another. Since any document can refer to any other set of documents, a document may be understood as a projection of the universe of knowledge that is instantiated in the Web. Each document serves as a perspective into the entire universe of available knowledge, and the extent of the view from this perspective is a function of the document’s degree of connectivity. Documents thus resemble Leibniz’s monads, which “are nothing but aspects [perspectives] of a single universe”.11 Any document that is connected to other documents is in one or another sense about those other documents and can be thus construed as metadata. Due to Malcolm Hyman’s premature death, we have unfortunately not been able to advance this vision as vigorously as we otherwise might have.

9. ECHO – Cultural Heritage Online Initiative Another venture emerging from the Archimedes Project was the ECHO – Cultural Heritage Online Initiative,12 coordinated by our Institute. ECHO was funded in 2002 as a research, technological development, and demonstration activity within the Fifth Framework Program of the EU. The idea behind ECHO was to take the generic features of more specialized digital libraries, such as that of the Cuneiform Digital Library Initiative or the Archimedes Project, and to build from them an overarching infrastructure open for all kinds of cultural heritage materials. Existing libraries should be integrated into the ECHO environment as “seed collections” that would demonstrate what is possible and help to encourage a self-organizing process by which more and more cultural resources would become openly accessible on the Web. At a time when the technical equipment necessary to present such resources

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Gottfried Wilhelm Leibniz: The Monadologie. Translated by Robert Latta, 1898, §57 (http://philosophy.eserver.org/leibniz-monadology.txt). 12 http://echo.mpiwg-berlin.mpg.de/home.

Beyond Editions19

online was not yet widely available, the ECHO environment was intended to also support smaller archives, libraries, and collections in publishing their sources online, if possible, in cooperation with scholars working on these materials.

Figure 6: The ECHO website and working environment.

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The aim of ECHO was to encourage broad participation in this initiative by creating what we termed “ECHO added value”, constituted by a higher visibility of the responsible institution and an enrichment of the materials made available, for instance, by connecting them with language technology, scholarly work, and with links to related materials. High-quality reproductions connected with transcriptions and language technology is a standard achieved for a considerable part of the ECHO material. The ECHO team collaborated with holders of sources and with scholars who were interested in them to create digitization projects feeding directly into ECHO. Successful examples were the cooperation with various Italian archives and libraries, the joint Spanish-German Humboldt Project,13 which collects data dispersed throughout Europe on scientific activities related to the Canary Islands, and the creation of digitization centers for historical materials in Beijing and in Ulan Batar.14 Today ECHO is constantly augmented under the coordination of Simone Rieger, supported by Robert Casties, Urs Schoepflin and Dirk Wintergrün. It contains material provided by fifty institutions worldwide, including sources related to anthropology, archaeology, botany, demography, geography, history of art and architecture, history of science, language study, literature, philosophy, psychology, and religious studies. Current holdings comprise ca. 890,000 high-resolution images of documents and artifacts, ca. 57,000 page transcriptions in XML, and ca. 240 video sequences. ECHO played a pioneering role in preparing larger initiatives such as the Europeana15 and the German Digital Library (DBB).16

10. The Berlin Declaration The policies of the ECHO project are documented in the ECHO charter, which has become one of the starting points for a much broader declaration in favor of open-access to the results of scientific research and to cultural heritage data, the Berlin Declaration.17 The other starting point was a meeting in 2002 in Bethesda near Washington where an international group of universities and research organizations met to formulate a declaration in favor of open access. The Bethesda declaration, however, never came into being in the sense in which it was originally intended. Instead, in 2003, following a proposal by Robert Schlögl, Bernard Schutz and myself, the President of the Max Planck Society, Peter Gruss, launched the Berlin Declaration that has meanwhile been signed by over 480 institutions worldwide and that has become the starting point of an international conference series, The Berlin Conferences on Open Access.18

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http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/en/research/projects/DEPT1_462Renn-Humboldt. http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/en/research/projects/DEPT1_431Renn-Globalization3. http://www.europeana.eu/portal/. http://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/. http://oa.mpg.de/berlin-prozess/berliner-erklarung/. http://www.berlin10.org/.

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11. The Max Planck Digital Library At the time of the creation of the Berlin Declaration, a working group at the MPIWG also proposed to create an innovation center for digital humanities with the idea to further develop and support the ECHO infrastructure. Initially, the hope was to mobilize further support from the European Community, but it took a very long time before these suggestions were realized, in particular, in the form of the launch of the Europeana19 and the creation of the European Strategy Forum on Research Infrastructures (ESFRI)20 initiative. Meanwhile, the Max Planck Society had begun to create its own support center, now established as the Max Planck Digital Library.21 Part of its original agenda was indeed to realize the original vision of the ECHO project, that is, to create an infrastructure for digital humanities, pursued under the label of an e-workbench. One of the main targets still to be realized in this context is the creation of a peer-reviewed publication channel for primary sources in high-quality reproductions, encouraging archives, museums, and libraries, but also scholars, to make their materials openly available with appropriate metadata and thus creating public recognition for this novel kind of publication. This approach is similar to the initiatives for a peer-reviewed publishing of primary data in the natural sciences.

12. XML-Workflow Together with the Max Planck Digital Library, a group at the MPIWG has been developing in the past years a complete pipeline for the transformation of raw data to structured XML and a content-based access mechanism for these texts that incorporates language technology. The workflow that we have established supports the correction of errors in the transcription, the markup of the structurally meaningful divisions of the documents, the markup of basic semantic units, and correlation of page boundaries in the transcription with digital page images. This project differs both from largescale commercial endeavors such as Google Books or corpus linguistic approaches, on the one hand, and from digital editions, on the other. The first type of endeavor aims at the digitization of vast collections of printed materials, with the goal to make the materials available to the public. Only rudimentary search facilities are provided, which are based on full-text indexing of unstructured text obtained via OCR. The second kind of endeavor continues the philologically oriented tradition of editions that focus typically on single works or on the works of a single author. By contrast, our aim was to make a carefully selected set of resources available to scholars pursuing projects in integrated humanities, with sophisticated content-based access and support for interactive distributed research. We are thus trying neither to create corpora nor editions, but rather living networks of documents and scholarly metadata. For a long time, tools and standards for making textual sources available online – either as facsimiles or as transcriptions – were at the focus of our developments. 19 20 21

http://www.europeana.eu/portal/. http://ec.europa.eu/research/infrastructures/index_en.cfm?pg=esfri. http://www.mpdl.mpg.de/.

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Hopefully, projects like TextGrid22 and also our own efforts, from the image viewer Digilib to the language tools involved in our XML workflows, will help to make standardized tools for the provision of digital sources widely available.

Figure 7: XML workflow.

13. Atlas of Innovations While the provision of textual sources gradually becomes less problematic, the electronic representation of non-textual sources in the net is still a desideratum. This is due to a variety of reasons such as copyright issues, but also because of the often more complex structure of the data. Artifacts held in museums, archeological data, and reproductions of paintings are in the majority of cases either inaccessible or can be accessed only in very restricted ways. Yet, as I mentioned in the beginning, integrated humanities projects such as TOPOI need the access to such information, which should be flexibly interlinked with textual and other data. Another challenge, also briefly mentioned earlier, is the generalized access to existing databases. These databases often represent a much richer result of historical research than articles produced on their basis. Although often freely accessible via the Web, they can rarely be

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http://www.textgrid.de/.

Beyond Editions23

combined to allow queries that extend the originally intended use ‒ not to speak of the problem of long-term stability. A major challenge for the future is the integration of artifacts, databases, as well as textual sources into generalized digital editions, or rather, as I would prefer to describe it, into epistemic models adapted to the needs of research. An example, on which we are presently working in cooperation with Svend Hansen from the German Archeological Institute, is the creation of a virtual atlas of innovation documenting the location and spatial interrelation of past technological developments and integrating a variety of information from published work, from databases, and from archeological excavations. This should make it possible to trace the spread of innovations with a geographic information system.

Figure 8: Working environment of “Atlas of Innovation”.

Such virtual research environments need to support the weaving of a network of sources by adding annotation and meaningful links between them and by allowing for the addition of new sources wherever necessary. To make such a network equivalent to a research publication, the authorship of links has to be traced by adding contextual information to the links. Moreover, ways have to be found to tell a narrative, that is, to suggest a preferred path through the network representing a specific perspective on the elements in the network. The standard methods of describing connections in a network developed by the semantic Web movement in form of RDF seem not to be sufficient for this task. Conceptual work on this issue is an important future task for integrated humanities.

14. Virtual Spaces One of our own first major experiences with non-textual data was made in the context of the Berlin Einstein exhibition 2005. The idea, originally suggested by Peter Damerow, was to combine the interactive multi-media part of the exhibition with a full Internet representation of the exhibition itself. This “exhibition without walls” should serve the visitor of the physical exhibition and the Web at the same time. In fact, the

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virtual Einstein exhibition23 is still online and is being developed further. It has also turned from a means to represent the results of research into an instrument for pursuing further research. While the original software was based on a content-management system, a new Virtual Space software24 has been developed by Julia Damerow which allows the flexible representation of spatially organized information on the Web. It has meanwhile been used in a combined archeological and historical research project on the Renaissance garden of Pratolino25, coordinated by Matteo Valleriani, allowing historical information dispersed over various archives to be virtually united with information about the site itself. It is also being used by Matthias Schemmel and Jackie Stedall in an ongoing project at the MPIWG for a reconstruction of the mutual relations between hundreds of unordered and undated manuscript pages by the English scientist Thomas Harriot, a contemporary of Galileo. It is of course also possible to interlink various virtual exhibitions among each other. In other words, a virtual worldwide museum may emerge as a new epistemic model, comparable to the Wikipedia and Google Earth models.

Figure 9: Image from the virtual tour of “Pratolino: The History of Science in a Garden”.

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http://einstein-virtuell.mpiwg-berlin.mpg.de/. http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/de/forschung/projects/DEPT1_506Damerow-VirtualSpaces. http://pratolino.mpiwg-berlin.mpg.de/.

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Figure 10: Image from the virtual tour of “Pratolino: The History of Science in a Garden”.

Figure 11: Image from the virtual tour of “Pratolino: The History of Science in a Garden”.

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15. Edition Open Access One of the current endeavors initiated by the MPIWG is Edition Open Access26 and the Max Planck Research Library for the History and Development of Knowledge, an initiative supported by three Max Planck Institutes. The basic idea behind this endeavor is to confront the problem that open access to books in the humanities is much less developed than open access to scientific journals. Yet, academic books are often forbiddingly expensive with publishers charging high fees for “open access” in the order of up to tens of thousands of euros, while the standards of service remain low or have become even lower. What is more, virtually none of the innovative potentials of the Web are being realized in commercial publishing in the humanities. On the contrary, the results of research projects typical for the integrated humanities, such as working group volumes, distinguished from traditional edited books by presenting the results of highly integrated research, are often less welcome to publishers than are traditional monographs.

Figure 12: Entry Page of Edition Open Access. 26

http://www.edition-open-access.de/.

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Against this background, Edition Open Access (EOA), initiated together with Peter Damerow, developed, with the technical support of Kai Surendorf and under the editorial supervision of Lindy Divarci, realizes a new approach to publishing that presents research results and relevant sources in a format combining the advantages of traditional publications with the digital medium. The EOA volumes are available both as low-cost print-on-demand books, and also as online open-access publications in a variety of formats, all produced from the same data source. The online version of the book is freely available as HTML, as a PDF file, and as an ebook, implementing a rich link structure and providing access to sources and interactive features. The various series, collected under the umbrella of EOA, are comprised of peer-reviewed publications, submitted under the scholarly responsibility of members of the Edition’s Scientific Board and their academic peers. The Sources series, in particular, makes the rich historical sources assembled in ECHO available with scholarly introductions and commentaries. On the initiative of Matteo Valleriani, it is now being realized jointly with the University of Oklahoma Libraries under the label Edition Open Sources. In the future, the label Edition Open Access will be used more and more to qualify scholarly book publication projects that realize peer-review and open access in a similar vein.

16. Digital Scrapbook In order to support the new paradigm of making rich sources available on the Web, we have launched an initiative to create a special virtual working environment. We have called this new environment the “digital scrapbook.” The idea was stimulated by the notebooks of Mathematica27 and was elaborated jointly with Jochen Büttner, Robert Casties, Jörg Kantel, and Dirk Wintergrün. The digital scrapbook should make it possible to combine, annotate, and manipulate parts of different sources from anywhere on the Web in one single document. Work is not undertaken with reproductions of excerpts from sources, but rather using digital views of the sources that make visible only the parts selected by the scholar. In this way, redundancy is avoided and direct contact to the original source is maintained. Since the scrapbook assembles within a single medium all pieces of a collection of materials living in the dispersed world of the Web, the recombination of sources guided by the research process is facilitated and a homogeneous collection emerges on which collective work becomes possible. It should also be possible to link back from the source to the scrapbook. In the scrapbook paradigm, the transition from a collection of materials to a scholarly publication acquires a new meaning. Traditionally, collections of materials eventually become interpretations. These are published in printed form, leaving aside a large part of the original collections which are hence no longer available to future research. This often necessitates the reproduction of a similar collection of materials. But more importantly, the sources themselves continue to be presented with no

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http://www.wolfram.com/mathematica/.

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Jürgen Renn

acknowledgment of the interpretations and are thus unable to realize their natural function as nodes in the network of interpretations. In contrast, in the scrapbook paradigm the pathway from a digital excerpt, via its annotation and evaluation, to the final interpretation is digitally represented in a continuous process without media breaks. From the very beginning, the digital sources remain part of the evolving network and also remain accessible. Since the source now acknowledges the interpretation, a network of connections and reflections emerges. The scrapbook paradigm thus comprises the classical approach of the humanities to source analysis, annotation, and publication, but goes beyond it by including reversibility and interactivity. In consequence, a comprehensive work of scholarship is created, which can be resolved and traced back to the sources and collections of materials used, as well as to the circumstances of its creation. Readers wanting to continue and extend a scholarly achievement no longer need to reproduce the empirical basis of the work, but can rather build on it and relate their own research to preexisting interpretations. In one word, the scrapbook paradigm promises to realize the vision of the recursive character of scholarship mentioned at the beginning of this paper, turning research results into structures of access to the historical sources. This vision is presently being realized jointly with the Max Planck Digital Library.28

Abstract The paper discusses the meaning of editions in a rapidly changing digital environment. It considers two main challenges, the intellectual challenge represented by the emergence of integrated humanities and the technological challenge represented by the Web. It reviews various initiatives undertaken at the Max Planck Institute for the History of Science since 1994 to deal with these challenges by developing electronic representations of historical sources and tools for working with them. One of the key ideas driving these initiatives is the transformation of research results into access structures to data. Another key idea is to create an open access environment for the humanities. The vision behind these initiatives is to contribute to the emergence of an Epistemic Web that is optimized to represent, disseminate, and extend human knowledge on a global scale.

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http://www.mpdl.mpg.de/?la=en.

Helmut W. Klug

Editionen als fächerübergreifende Grundlage für datenbankbasierte Forschung Ein Praxisbericht

Wissenschaftliches Arbeiten beruht weitgehend auf dem Prozess der Wissensvermittlung: Das wird meist bei der Vermittlung von Arbeitstechniken oder einer generellen Methodik beginnen und letztendlich in einem (inter)disziplinären Diskurs enden. Im Zentrum steht bei diesem Prozess immer die Bewertung, die Erklärung, die Anwendbarkeit theoretischer und praktischer Zusammenhänge einer Disziplin, so wie sie an der Schnittstelle zum Benutzer, zum Kritiker wahrgenommen werden. Gerade die Editionswissenschaft ist ein Forschungsbereich, dem diese Vermittlungsaufgabe zentral ist. Dabei befindet er sich durch den rasant fortschreitenden medialen Wandel und die damit einhergehenden fachrelevanten Umwälzungen immer im Umbruch. Aus der laufenden Beschäftigung mit Editionen entsteht aber oft der Eindruck, dass die Arbeit für einen Editor, eine Editorin mit der (Print-)Publikation des Editionswerks abgeschlossen und beendet ist: Die Arbeit mit dem edierten Text – das kann vom simplen Rezipieren des Textes bis hin zu den unterschiedlichsten Auswertungen von Text, Apparat und Kommentar reichen – wird anderen überlassen. Untrennbar verbunden mit der Erstellung einer Edition ist aber die Verantwortung des Editors dem edierten Text gegenüber, was schlussendlich in einer Verantwortung des Editors gegenüber den Benutzern seiner Edition mündet: Entsprechende Überlegungen bezüglich der Rezeptionsmöglichkeiten einer Edition dürfen von den Editoren und Editorinnen also nicht vernachlässigt werden. Zentral ist dabei sicher die Berücksichtigung des radikalen Medienwandels in den Wissenschaften und damit verbunden die Überlegung, wie für eine möglichst breite Dissemination der Arbeit gesorgt werden kann. Inhärente Probleme wie Publikationsdruck, Verlagsverträge und Ähnliches sollen an dieser Stelle natürlich nicht unerwähnt bleiben, müssen aber wie auch die Frage nach der Open-Access-Verfügbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse und einer generellen ‚open data policy‘ in den Wissenschaften gesondert diskutiert werden. In der vorliegenden Darstellung möchte ich mich im Rahmen eines Werkstattberichtes darauf konzentrieren, meine Erfahrungen ausgehend von der praktischen Arbeit mit Editionen zusammenzufassen. Den praktische Rahmen für meine laufende Dissertation 1 bilden die Konzeption und der Aufbau eines Online-Portals

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Die Dissertation wird seit dem Sommersemester 2012 durch ein Stipendium des Geisteswissenschaftlichen Dekanats der Karl-Franzens-Universität Graz gefördert; Betreuer ist Wernfried Hofmeister. Eine detaillierte Beschreibung des Dissertationsvorhabens kann nachgelesen werden bei Helmut W. Klug: Pflanzen in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters. Eine datenbankgestützte Bestandsaufnahme mit Analysen literatur-, sprach- und kulturwissenschaftlicher Zusammenhänge. In: Erstaus-

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Helmut W. Klug

zur mediävistischen Pflanzenforschung – das Portal der Pflanzen des Mittelalters / Medieval Plant Survey 2  –, wobei für diese Qualifikationsarbeit einschränkend ein Schwerpunkt auf deutschsprachige Texte des Mittelalters gelegt wird. Bei einer intensiven Beschäftigung mit den Pflanzen des Mittelalters wird rasch klar, dass derartige Forschungen nicht die Aufgabe von Einzelpersonen sein können, sollen sie ein umfassendes, auf Historizität Wert legendes Ergebnis präsentieren: Dieses Ziel zu erreichen, ist, bedingt durch den Forschungsgegenstand und dessen historische Entwicklung, nur über interdisziplinäre Anstrengungen möglich.3 Ein Internetportal wie das Portal der Pflanzen des Mittelalters, das offenes Korpus und Online-Arbeitsplatz in Einem ist, stellt ein passendes Werkzeug dafür dar. Im Rahmen der Dissertation ist es meine Aufgabe, die wissenschaftliche Konzeption und den inhaltlichen Aufbau dieses Portals sowie die Sammlung und Verarbeitung exemplarischer Daten (Texte wie auch Forschungsergebnisse) voranzutreiben. Anhand eines Grundstocks von Texten soll die Funktionalität und vor allem der Mehrwert dieser Arbeitsmethode veranschaulicht werden. Unterstützung und Feedback im Rahmen von konstruktiven Diskussionen erhalte ich dabei von Roman Weinberger,4 der die technische Umsetzung des Projektes leitet. Das wissenschaftliche Konzept, das dieser Arbeit zu Grunde liegt, wird gerade wegen des Umfangs des Projektes einfach gehalten. Ganz im Sinne des interdisziplinären Charakters der Forschung fungieren historische und moderne Pflanzennamen als Angelpunkte zwischen den einzelnen Disziplinen: An ein Netzwerk aus semantisch verknüpften Pflanzennamen ist ein Korpus historischer Belegtexte angebunden. Ein Etappenziel ist die umfassende Sammlung von Quellenmaterial für die weitere, intensivere Erforschung von Einzelpflanzen. Jegliche Art der historischen Forschung ist von qualitativ hochwertigen und dabei aber auch leicht verfügbaren Quellentexten abhängig. Daraus resultiert folgende Grundregel, die zentraler Teil des methodischen Konzeptes des Portals der Pflanzen des Mittelalters ist: Historische Quellen müssen immer über die aktuellste Edition repräsentiert sein.5 Durch diesen Filter werden

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gabe. Veröffentlichungen junger WissenschafterInnen der Karl-Franzens-Universität Graz, Bd. 2. Hrsg. von Karl-Franzens-Universität Graz. Graz 2009, S. 55‒ 64. Helmut W. Klug und Roman Weinberger: Modding Medievalists: Designing a Web-Based Portal for the Medieval Plant Survey / Portal der Pflanzen des Mittelalters (MPS/PPM). In: Herbs and Healers from the Ancient Mediterranean through the Medieval West. Essays in Honor of John M. Riddle. Hrsg. von Anne Van Arsdall u. Timothy Graham. Burlington, VT 2012 (Medicine in the Medieval Mediterranean), S. 329 ‒358. Vgl. dazu auch Peter Seidensticker: Pflanzennamen. Überlieferung – Forschungsproblem – Studien. Stuttgart 1999 (Beiheft zur Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 102), S. 11‒12; Carole Biggam: Anglo-Saxon Plant-Names Survey. Online unter: http://www.gla.ac.uk/schools/critical/research/funded researchprojects/anglo-saxonplant-namessurvey (11.07.2014); Bernhard Schnell: Pflanzen in Bild und Text. Zum Naturverständnis in den deutschsprachigen illustrierten Kräuterbüchern des Spätmittelalters. In: Natur im Mittelalter. Konzeptionen, Erfahrungen, Wirkungen. Akten des 9. Symposiums des Mediävistenverbandes, Marburg, 14. ‒ 17. März 2001. Hrsg. von Peter Dilg. Berlin 2003, S. 442‒ 461, hier S. 442. Siehe http://roman-weinberger.net (11.07.2014). Thomas Bein: Die Multimedia-Edition und ihre Folgen. Zum Verhältnis von Literaturgeschichtsschreibung, Literaturtheorie und aktueller Editionspraxis in der germanistischen Mediävistik. In: editio 24, 2010, S. 64 ‒78, hier S. 70.

Editionen als fächerübergreifende Grundlage für datenbankbasierte Forschung31

die gesammelten Daten aber stets auch auf die historischen Informationsträger, also die Handschriften, zurückgeführt. Die gesammelten Textstellen müssen daher über adäquate Referenzangaben in beiden Medien – in der Handschrift und der Edition – verankert sein. Somit sind Editionen ein zentrales Hilfsmittel für meine Forschungsarbeit. Das Ziel dieser Arbeit kann wohl am besten mit den Worten Thomas Beins zusammengefasst werden: Es geht [...] darum, mit Hilfe geeigneter wissenschaftlicher Methoden und Techniken Erkenntnisse zu gewinnen, in unserem Fachgebiet bedeutet das: über historische Texte Einblicke zu bekommen in einen weit entfernten Kulturraum, der seinerseits Teil eines großen Netzwerks ist, zu dem insbesondere noch soziale, politische und religiöse Räume gehören.6

Bein spricht hier natürlich von Editionen, aber für kaum einen Forschungsbereich trifft der Kern seiner Aussage mehr zu als für die mediävistische Pflanzenforschung. Ein weiterer, entscheidender Teil meiner Arbeit ist das Anreichern der in der Datenbank gesammelten historischen Texte um beschreibende Meta-Informationen – also das Tagging. Damit sollen die Texte für die zusätzlichen Funktionen der elektronischen Datenverarbeitung, zum Beispiel semantische Suchabfragen, erschlossen werden. Dem Forschungsthema entsprechend wird hier sehr selektiv gearbeitet. Das Tagging konzentriert sich im Rahmen der Dateneinspeisung auf pflanzenrelevante Aspekte im historischen Text und die Erhebung von allfälligen weiterführenden Informationen, die in Apparat und Kommentar einer Edition vorhanden sind. Daher bin ich mit meinen Forschungen von einer umsichtigen und verantwortungsvollen Editionswissenschaft abhängig: Editionen sind mein Fenster in die Vergangenheit. Die Verarbeitung edierter Texte im Portal der Pflanzen des Mittelalters stellt somit eine auch für moderne Begriffe überdurchschnittliche Benutzung von Editionen dar und geht in vielen Fällen wohl über die ursprüngliche Intention der Editoren hinaus. Im Sinne von Wilhelm Jacobs will ich bei der Einschätzung der Grundlagenarbeit, die im Rahmen des Projektes geleistet wird, sogar so weit gehen, die Überführung der Editionstexte in unsere Datenbank als eine erneute editorische Leistung zu sehen. Jacobs stellt nicht umsonst fest: „Editorische Arbeit bezieht sich auf schriftliche Tradition. Schrift ist für unsere Arbeit das Medium schlechterdings. Wir übersetzen Schrift in Schrift“.7 Auch bei der Aufnahme von Editionstexten in das Textkorpus des Portals werden Schriftdaten wiederum in Schriftdaten überführt. Der Mehrwert liegt hier allerdings nicht in der Bergung der Texte aus einem historischen Kontext, sondern in der Überführung in ein neues Medium: in einen um zusätzliche Informationen angereicherten, maschinenverarbeitbaren e-Text.8 Dieser Arbeitsprozess soll im Weiteren näher beschrieben werden. Um aber einen entsprechenden Kontext zu

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Bein 2010 (Anm. 5), S. 65. Wilhelm G. Jacobs: Überlegungen zum Medienwandel. In: editio 24, 2010, S. 14‒ 22, hier S. 14. Zurzeit liegen die Texte nur ASCII-codiert vor. Beschreibende Daten sind separat in einer relationalen Datenbank gespeichert. Im Sinne der wissenschaftlichen Nachhaltigkeit werden die Texte sukzessiv mit den entsprechenden Metadaten angereichert und in TEI-konforme XML-Editionen übergeführt.

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schaffen, will ich zuerst die Konventionen, die jeder Textsammlung 9 des Portals zugrunde gelegt sind, erläutern. Das primäre Ziel einer Sammlung von Quellenmaterial im Rahmen des Portals war und ist es, die Texte rasch verfügbar und vor allem in einem maschinenverarbeitbaren Format vorliegen zu haben. Dafür wurden folgende Regeln festgelegt: -- Die Editionstexte müssen in einen plattformübergreifend maschinell verarbeitbaren Unicode- Zeichensatz übertragen werden. -- Texte sollen außerdem ohne programmtechnischen Zusatzaufwand durchsuchbar sein. Das wiederum bedeutet eine radikale Reduzierung der Diakritika: Es werden in der Basisumwandlung nur Zeichen verwendet, die über eine herkömmliche Tastatur eingegeben werden können. Längenzeichen, Trema oder überschriebene Diakritika zur Markierung von Diphthongen werden entweder weggelassen oder entsprechend aufgelöst, so wird zum Beispiel < o > mit Superskript < e > gleich wie die Ligatur < œ > in der Übertragung als < oe > dargestellt.10 Dieser Eingriff in den Text der Edition wird natürlich nur so vorgenommen, dass keine semantische Veränderung des Textes auftritt. Für die aktuell bearbeiteten frühmittelhochdeutschen Texte stellt diese Konvention kein Hindernis dar. -- Textgliedernde Merkmale wie Zeilenumbrüche oder Absätze werden nur dann übernommen, wenn die Edition selbst eine handschriftengetreue Abbildung darzustellen versucht. -- Auszeichnungen in Form von Textformatierungen, die von den Bearbeiterinnen und Bearbeitern der Printeditionen zur Hervorhebung von zum Beispiel Emendationen verwendet werden, fließen nicht in den elektronischen Text ein. -- Foliowechsel hingegen werden auch in der elektronischen Edition immer im Fließtext notiert. -- Es ist wichtig, dass die Textbelege nach aktuellen Konventionen referenziert werden und in gleichem Maße auch zitierfähig sind. Die elektronischen Texte sind über entsprechende Referenzinformationen nicht nur in den zugrundeliegenden Editionen verankert, sondern es wird auch auf eine entsprechende Lokalisierung in den Handschriften geachtet (z. B. Folioangaben). Damit wird allen Bearbeitern die Möglichkeit geboten, die Texte ‚ad fontes‘ mit den Quellen zu vergleichen. -- Anmerkungen, die im Fließtext der Edition aufscheinen, werden übernommen, Fußnoten hingegen werden in der Darstellung des historischen Textes generell

9

Die Datenbank des Portals der Pflanzen des Mittelalters ist als polyfunktionales Repository gedacht: In einem ersten Schritt sollen in sich geschlossene, aber inhaltlich adäquate Sammlungen aufgenommen werden. Um diese eventuell auch auf thematisch anderen Ebenen (als der Pflanzenforschung) verwandten Texte entsprechend zu kennzeichnen, werden einzelne Textsammlungen innerhalb des Repository in Einzelkorpora zusammengefasst. Die für die Dissertation zusammengestellte Sammlung wird als ‚Korpus der mittelalterlichen Kochrezepttexte‘ bezeichnet und beinhaltet alle bis dato edierten spätmittelalterlichen, deutschsprachigen Kochrezepttexte (siehe unten). Das Korpus wird bei Publikation neuer Editionen um die entsprechenden Texte ergänzt. Eine weitere Textsammlung ist das ‚Corpus Regiminum duodecim Mensium‘, das Texte verschiedener Regimina sanitatis beinhaltet und von Johanna Maria van Winter zur Verfügung gestellt wurde. 10 Vgl. auch die Beispiele weiter unten.

Editionen als fächerübergreifende Grundlage für datenbankbasierte Forschung33

weggelassen, es sei denn, sie beinhalten pflanzenrelevante Informationen: Diese werden als Metainformation in die Datenbank aufgenommen. Diese Regeln wurden bei der Erstellung des vorliegenden Korpus intensiv getestet und haben sich sehr gut bewährt. Die Überlieferungssituation für dieses ‚Korpus der mittelalterlichen Kochrezepttexte‘ stellt sich so dar: Es sind bis dato 58 Handschriften bekannt, die deutschsprachige Kochrezepttextsammlungen überliefern.11 Von diesen sind seit 1864 34 Sammlungen in Form von Printeditionen 12 publiziert worden. Die meisten Editionen sind in den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts im Umkreis Trude Ehlerts entstanden, die dem Forschungsbereich ‚Kulinarik des Mittelalters‘ erst richtig Geltung verschaffen konnte und die deutschsprachige Forschung auf diesem Gebiet ungemein vorangetrieben hat. Diese Entwicklung kann als ein Höhepunkt im Bereich der Fachprosaforschung eingestuft werden, die, begründet von Gerhard Eis,13 noch bis weit in die Siebzigerjahre als ein Kuriosum angesehen wurde. Vielen der frühen Editionen kann man diesen Sonderstatus ansehen, aber in allen kann man immer sehr deutlich den editorischen ‚Zeitgeist‘ spüren: Während Anton Birlinger im 19. Jh. weder die Signatur der Handschrift noch eine brauchbare Handschriftenbeschreibung liefert und die Rezepte zusätzlich in einer individuellen, von der Hand-

11

Von diesen sind 45 verzeichnet in: Constance Hieatt, Carole Lambert et al.: Repertoire des manuscrits mediévaux contenant des recettes culinaires. In: Du manuscrit à la table. Hrsg. von Carole Lambert. Montreal, Paris 1992, S. 315‒ 362; weitere drei in: Trude Ehlert: Indikatoren für Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der deutschsprachigen Fachliteratur am Beispiel der Kochbuchüberlieferung. In: ‚Durch aubenteuer muess man wagen vil‘. Festschrift für Anton Schwob zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Wernfried Hofmeister u. Bernd Steinbauer. Innsbruck 1997 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe 57), S.  73‒ 85, hier S.  75. Seit dieser letzten Erhebung wurden in dieser Liste weitere Handschriften hinzugefügt, die Kochrezepttexte tradieren: zusätzliche acht in Graz von Karin Kranich-Hofbauer (Hildesheim, Dombibliothek, 750; München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 4206; München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 5919; Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, 3227a, vgl. Trude Ehlert u. Rainer Leng: Frühe Koch- und Pulverrezepte aus der Nürnberger Handschrift GNM 3227a [um 1389]. In: Medizin in Geschichte, Philologie und Ethnologie. Festschrift für Gundolf Keil. Hrsg. von Dominik Groß u. Monika Reininger. Würzburg 2003, S.  289 ‒320; Pannonhalma, Szent Benedek Rend Föapátsági Könyvtar, 118.J.42; Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. vind. 2898; Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, Cod. Guelf. 28.1. Aug. 8°; Zürich, Zentralbibliothek, Cod. C 101/467) und vom Autor zwei (Hausbuch von Schloss Wolfegg [unbek. Privatbesitz], vgl. Das mittelalterliche Hausbuch. Nach dem Originale im Besitz des Fürsten von Waldburg-Wolfegg-Waldsee. Im Auftrage des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft. Hrsg. von Helmuth Th. Bossert u. Willy F. Storck. Leipzig 1912, S. XXVI; München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 8137, vgl. Anton Birlinger: Kalender und Kochbüchlein aus Tegernsee. In: Germania 9, 1864, S. 192‒207). 12 Informationen zu Handschriften (Siglen, Kurzbeschreibung) und Editionen (Titelzitate) bekommt man unter nachstehender Adresse bei der Suche nach einer Handschrift ohne weitere Parameter: Advanced Search. In: Portal der Pflanzen des Mittelalters / Medieval Plant Survey. Redaktion: Helmut W. Klug. Technische Leitung: Roman Weinberger. 2009 ‒2012. Online unter: http://medieval-plants. org/mps-daten/advanced-search (11.07.2014). 13 Vgl. u. a. Gerhard Eis: Mittelalterliche Fachprosa der Artes. In: Deutsche Philologie im Aufriß. Hrsg. von Wolfgang Stammler. 2., überarb. Aufl. Berlin, Bielefeld, München 1960, Sp. 1103‒1216. Eine aktuelle Zusammenschau bieten z. B. Bernd Dietrich Haage und Wolfgang Wegener: Deutsche Fachliteratur der Artes in Mittelalter und Früher Neuzeit. Unter Mitarb. von Gundolf Keil u. Helga Haage-Naber. Berlin 2007 (Grundlagen der Germanistik 43).

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Helmut W. Klug

schrift abweichenden Anordnung aufzeichnet,14 bieten die jüngsten Editionen eine genaue Deklaration der Editionsrichtlinien, sprachgeschichtliche und -geografische Analysen, Übersetzungen und oft sogar Faksimileabbildungen der Handschriftenseiten.15 Man kann bei einer chronologischen Sichtung der Editionen also nicht nur den methodischen und technischen Fortschritt erkennen, sondern auch zunehmend ein gesteigertes germanistisches Fachinteresse an diesen Texten selbst, denn neben der kulturhistorischen Auswertung der Inhalte und der Verknüpfung derselben mit der Dichtung trat zunehmend die sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit Fachprosatexten in den Vordergrund. Die Editionen der einzelnen Kochrezepttextsammlungen standen mir für den Aufbau des Korpus in den unterschiedlichsten Vorlagen zur Verfügung: Forscherkolleginnen und -kollegen stellten e-Texte in Form von Textfiles, Office-Dokumenten und PDF-Dateien sowie eine Datenbank mit Rezepttexten zur Verfügung.16 Für die Erstellung aller ASCII-basierten e-Texte zeichnet Thomas Gloning verantwortlich, der ausgezeichnet aufbereitete Dateien auf seiner Website bereitstellt.17 Die Datenbank von Christian Suda DEMAK: Datenbank zur Erfassung mittelalterlicher Kochrezepte wurde als Hilfsmittel zur Erforschung von Parallelüberlieferungen von Trude Ehlert initiiert und baut zum Teil auf Glonings e-Texten, eigenen Retrodigitalisierungen und einer Edition in Form einer Magisterarbeit auf. Ich konnte hier also auf sehr viel Material zurückgreifen, das bereits in elektronischer Form vorhanden war. Zusätzlich waren alle Editionen natürlich in gedruckter Ausgabe vorhanden. Der Umstand, dass knapp die Hälfte der Texte bereits in elektronischer Form vorlag, hat die Erstellung des Korpus bis zu einem gewissen Grad erleichtert. Dennoch war der Weg zu einer SQL-Datenbank mit allen Kochrezepttexten ein sehr mühsamer, denn die vorhandenen Daten mussten den projektinternen Editionsrichtlinien angepasst werden. Dieser Prozess soll nun für die einzelnen elektronischen Quellentypen im Detail aufgeschlüsselt werden. Glonings e-Texte mussten nur um die Kodierung der Superskripte, deren Darstellung am Beginn der einzelnen Textdateien detailliert aufgeschlüsselt ist, angeglichen werden, was über Suchen-und-Ersetzen-Routinen problemlos durchzuführen war: So steht bei Gloning < o:e > für < o > mit übergesetztem < e >, im elektronischen Text steht

14

Vgl. z. B. Anton Birlinger: Ein alemannisches Büchlein von guter Speise. In: Sitzungsberichte der königl. bayer. Akademie der Wissenschaften zu München 2, 1865, S. 171‒ 199. Die jüngste Edition, die diesen Anforderungen entspricht, ist Küchenmeisterei. Edition, Übersetzung und Kommentar zweier Kochbuch-Handschriften des 15. Jahrhunderts. Solothurn S 490 und Köln, Historisches Archiv GB 4° 27. Mit einem reprographischen Nachdruck der Kölner Handschrift. Hrsg. von Trude Ehlert. Frankfurt a. M. et al. 2010 (Kultur, Wissenschaft, Literatur – Beiträge zur Mittelalterforschung 21). 16 Ich möchte mich bei folgenden Text-Spenderinnen und Spendern bedanken: Melitta Weiss Adamson (Editionen im PDF-Format), Trude Ehlert (DEMAK – Datenbank zur Erfassung mittelalterlicher Kochrezepte; Editionen im PDF-Format), Thomas Gloning (Editionen im TXT-Format), Miriam Schulz (Kopie der Magisterarbeit), Christian Suda (DEMAK, Kopie der Magisterarbeit). 17 Thomas Gloning: Monumenta Culinaria et Diaetetica Historica. Corpus of Culinary & Dietetic Texts of Europe from the Middle Ages to 1800. Online unter: http://www.staff.uni-giessen.de/gloning/kobu.htm (11.07.2014). 15

Editionen als fächerübergreifende Grundlage für datenbankbasierte Forschung35

˂ oe >; < v > mit übergesetztem Doppelpunkt ist bei Gloning < v:: > im elektronischen Text nur < v >. Weitaus spannender gestaltete sich die Übertragung der Daten aus DEMAK: Die Datenbank wurde 1997 mit dem Programm Tool Book 3.0, einer Autorsoftware für multimediale Programme geschrieben. Die windowsbasierte Software wird nach einigen Firmenumbenennungen und Fusionierungen noch heute in der Version 11 von SumTotal Systems vertrieben. Die Rückwärtskompatibilität der Software war zwar gegeben, das Hauptproblem beim Datenzugriff war aber das Fehlen eines entsprechenden Passwortes zur geschützten Originaldatei, ein Problem, das auch vom Ersteller der Datenbank nicht gelöst werden konnte. Dennoch gelang nach einer langen Reihe von Fehlversuchen ein nichtreproduzierbarer Export in eine csv-Datei: Die wohl nur durch einen glücklichen Zufall gewonnenen Daten umfassen Handschriftenreferenzen, Folioangaben, Rezeptnummern, Texte und neuhochdeutsche Rezepttitel. Zur Datenbank gab es keine Dokumentation außer Informationen zu den darin erfassten Editionen,18 deshalb war bei allen Texten ein minutiöser Abgleich mit den Druckausgaben unerlässlich. Dabei stellte sich zum Beispiel auch heraus, dass einzelne Rezeptsammlungen nur fragmentarisch übernommen worden waren. Sechs edierte Kochrezepttextsammlungen lagen als WordPerfect-File beziehungsweise als aus WordPerfect-Dateien erstellte PDF-Dateien vor:19 Die Verarbeitung dieser Dateien gestaltete sich je nach Verwendung von Superskripten beziehungsweise der eigens für die jeweilige Edition erstellten Superskriptkonstruktionen als unterschiedlich schwierig. Das Programm mag zur Herstellung von Ausdrucken als Mastercopy für die Reproduktion im Druck sehr gut geeignet sein, es besitzt aber keine entsprechende Exportfunktion, die diese Sonderzeichen in ein anderes Dateiformat übertragen könnte: Hier war das Ergebnis immer ein korrumpierter Text. Eine Umwandlung in das PDF-Format über systeminterne Druckertreiber ist ebenso wenig hilfreich, da die oben genannten Probleme in dieses Format mitkonvertiert werden. Microsoft Office kann WordPerfect-Dateien nicht lesen und bei der Umwandlung über die OpenOffice Software gehen alle konstruierten Superskripte wie zum Beispiel überschriebene Diphthonge verloren: Auch hier entsteht korrumpierter Text, der wiederum korrigiert werden muss. Über einen Export in Textfiles wurden die Dateien in ein geeigneteres Format umgewandelt und mit automatisierten Suchen-und-Ersetzen-Strategien konnten viele der durch die Umwandlung entstandenen korrumpierten Stellen, wie etwa fehlende Zeichen, wieder bereinigt werden. Knapp die Hälfte der Texte stand nur in Form eines Druckwerkes zur Verfügung. Die elektronischen Kopien dieser Editionen wurden mithilfe der OCR-Software Ab-

18 Vgl.

Trude Ehlert: Handschriftliche Vorläufer der ‚Küchenmeisterei‘ und ihr Verhältnis zu den Drucken. Der Codex S 490 der Zentralbibliothek Solothurn und die Handschrift G.B. 4° 27 des Stadtarchivs Köln. In: De consolatione philologiae. Studies in Honor of Evelyn S. Firchow. Hrsg. von Anna Grotans, Heinrich Beck u. Anton Schwob. Göppingen 2000 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 682/1), S. 41‒ 65, hier S. 49 und speziell Anm. 45. 19 Über die hohe Akzeptanz dieser Office-Software bei Editoren vgl. Ulrich Müller: Computer-Based Medieval Research (with an Emphasis on Middle High German). In: Handbook of Medieval Studies. Terms – Methods – Trends. Hrsg. von Albrecht Classen. Berlin 2010, S. 343‒ 352, hier S. 344.

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byy FineReader in elektronischen Text umgewandelt: Die Software leistet auch bei qualitativ schlechten Vorlagen hervorragende Arbeit, dennoch gibt es neuralgische Stellen (z. B. Kopierfehler im Bereich des Buchfalz) und Buchstabenkombinationen (z. B. Superskripte), die unweigerlich zu Erkennungsfehlern führten. Da in diesem Fall aber keine Regelmäßigkeit vorliegt, wie zum Beispiel bei der Umwandlung aus WordPerfect- oder PDF-Dateien, mussten diese Texte vor der Einspeisung in die Datenbank manuell bereinigt werden. Einen Eindruck von der erhobenen Fehlerzahl und deren Verteilung über die einzelnen Quellen in Bezug auf Diakritika, Orthografie und die Makrostruktur der Texte 20 gibt die Auswertung der Kollation der Texte nach der Einspielung in die Datenbank (vgl. Abb. 1):21 Alle retrodigitalisierten Texte wurden vor der Eingabe in die Datenbank mindestens einmal korrekturgelesen, e-Texte, WordPerfect und DEMAK-Daten wurden direkt nach den automatisierten Bereinigungsdurchläufen eingespeist. Die Auswertung zeigt deutlich, was auch schon oben thematisiert wurde: Die Kollation der retrodigitalisierten Texte vor der Aufnahme in die Datenbank ist für die geringe Fehleranzahl verantwortlich; die automatisierte Bereinigung der WordPerfect- und PDF-Vorlagen lässt viele der im Zuge der maschinellen Umwandlung entstandenen Lücken offen. Die von Thomas Gloning vorbereiteten e-Texte sind nahezu fehlerfrei. Nur jene Texte, die aus der bestehenden Datenbank DEMAK entnommen wurden, zeigen ein überdurchschnittliches Fehlervolumen. Dort ist jene Fehleranzahl, welche die Makrostruktur der Texte betrifft, ein auffälliger Wert, der sich folgendermaßen erklärt: In DEMAK wurden ursprünglich mehrere Editionen aufgenommen, für die im Druck die Form des diplomatischen Abdrucks gewählt wurde; dieser wurde in DEMAK nicht übernommen, für das Korpus der mittelalterlichen Kochrezepttexte aber, den Prinzipien der Datengestaltung folgend, nachgetragen. Eine statistische Auswertung der Fehlerverteilung auf Zeichenebene, gegliedert nach Editionsquelle und unter Berücksichtigung des jeweiligen Textumfanges, zeigt eine leicht geänderte Wertung in der Fehlerverteilung bei WordPerfect-Quellen im Gegensatz zu retrodigitalisierten Editionen, die einen leicht erhöhten Korrekturaufwand in Relation zum Zeichenumfang benötigten. Hervorzuheben ist aber, dass in Bezug auf den Zeichenumfang der einzelnen Quellen eine Fehlerquote von unter 0,4% vorliegt. Für das Gesamtkorpus liegt dieser Wert bei 0,14%.

20 21

Das beinhaltet z. B. Seiten- und Zeilenumbrüche. An der Karl-Franzens-Universität arbeitete im SS 2011 eine Studierendengruppe im Rahmen eines Bachelor-Seminars unter der Leitung von Karin Kranich-Hofbauer u. a. an der Kollation der elektronischen Texte: Grundlage für die vorliegende Auswertung sind die Aufzeichnungen der Studierenden.

Editionen als fächerübergreifende Grundlage für datenbankbasierte Forschung37 Prozentuale Fehlerverteilung 0,4

retrodigi

0,3

0,2

wordperfect

0,1

e-text

0

retrodigi

wordperfect

Diakritika

e-text

Orthografie

demak

Makrostruktur

demak

500 Diakritika

Orthografische Fehler

1.000

1.500 Makrostruktur

Abb. 1: Gezählte Anzahl der Fehler, die im Zuge der Kollation bereinigt wurden, mit statistischer Auswertung.

Damit will ich meinen Werkstattbericht aber auch schon beenden: Da die meisten Texte mittlerweile mehrmals kollationiert und bereits online abrufbar sind, ist die Versuchung groß, die mühsame Kollations- und Transkriptionsarbeit als ein notwendiges Übel über der damit erzielten Neuschöpfung zu vergessen. Das Fehlen entsprechender Erfahrungsberichte in der einschlägigen Fachliteratur lässt darauf schließen, dass diese Art der Grundlagenarbeit, eben jene lästigen Details, die individuell Probleme geschaffen haben, gerne vergessen wird. Viele Projekte erarbeiten auf gleiche oder ähnliche Weise elektronische Daten, dennoch gibt es zu wenige Berichte aus der Praxis, die Schwierigkeiten benennen und Lösungswege aufzeigen. Es scheint, dass in jedem Projekt wiederholt die gleichen Erfahrungen gesammelt werden müssen. Innerhalb eines klassischen Editionsprojekts stellt die Transkription eine zentrale Leistung dar. Beim vorliegenden Projekt gäbe es ohne die oben skizzierten Konvertierungsprozesse keine Texte in der Datenbank. Gilt für eine klassische Edition, dass sie ohne Transkription nicht funktionieren kann, so sollte aber die Übertragung einer modernen Edition in eine Datenbank in Zeiten omnipräsenter elektronischer Datenverarbeitung sehr wohl mühelos funktionieren. Die Forderung nach originalen eTexten mag für Publikationen aus dem Jahre 1996 22 und davor vielleicht vermessen sein, aber gerade in Zeiten der e-Humanities, des ‚humanities-computing‘ und der Digital Humanities 23 müssten Überlegungen zur elektronischen Verfügbarkeit 22

Dieses Datum markiert den Beginn einer verstärkten Edition von Kochrezepttextsammlungen: 1996 drei Editionen, 1998 fünf Editionen, 1999 sechs Editionen, 2000 vier Editionen, 2002 zwei Editionen. Für die entsprechenden bibliografischen Informationen vgl. Anm. 12. 23 Alle Begriffe bezeichnen die computergestützte Forschung in den Geisteswissenschaften. Die terminologische Vielfalt unterstreicht die Novität dieser Entwicklung.

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Helmut W. Klug

und Verfügbarhaltung der Daten zweifellos in den Arbeitsprozess mit eingebunden werden: Das zu verwirklichen ist nicht allein die Aufgabe des Editors, sondern betrifft in gleichem Maße auch (Reihen-)Herausgeber und Verleger, wenn sie im Dienste der Wissenschaft agieren wollen. Daher müsste jede Edition, die heutzutage angestrebt wird, im Sinne einer umfassenden Nachhaltigkeit und Wertschöpfung auch in einer maschinenverarbeitbaren oder besser noch maschinenlesbaren Version erstellt werden. Obwohl die computergestützte Mediävistik auf eine lange Geschichte zurückblicken kann 24 und es Forderungen nach e-Text-basierten Editionen bereits 1986 gab,25 scheint das für die überwiegende Mehrzahl der Editionsvorhaben eine nach wie vor unerfüllbare Forderung zu sein. Im Sinne der wissenschaftlichen Nachhaltigkeit muss man im gleichen Atemzug außerdem nach einer Normierung dieses Prozesses verlangen: Das ist aber gerade deshalb einfach, weil es die notwendigen technischen Voraussetzungen und die nötigen Methoden dazu bereits gibt. Dass derartige Bestrebungen sehr wohl im Zentrum aktueller Diskussionen stehen, berichtete auch Martin Schubert im Rahmen der Tagung mit dem Vortrag „Standardsetzung und -beschreibung für verteilte elektronische Ressourcen am Beispiel altdeutscher Texte“.26 Ein mittlerweile de facto-Standard für elektronische Editionen wurde auf Basis von XML von der Text Encoding Initiative geschaffen und wird unter Einbeziehung von Fachwissenschaftlern kontinuierlich weiterentwickelt. Edierte Texte in dieser Auszeichnungssprache anzubieten, gewährleistet nicht nur eine plattformübergreifende Verfügbarkeit, sondern auch die Grundlage für die Realisierung nachhaltiger Langzeitarchivierungsszenarien.27 Eine Verwendung von XML im Editionsprozess setzt dabei auch nicht zwingend voraus, dass man als Editor diese Auszeichnungssprache beherrschen oder aus einem gewohnten Arbeitsumfeld zu neuer Software wechseln muss: Es gibt ausreichend Möglichkeiten, bestehende Texte in eine XML-Struktur zu konvertieren, wenngleich die Arbeit mit dem entsprechenden technischen Basiswissen und in einer entsprechenden Arbeitsumgebung natürlich weitaus ergiebiger ist. Als Paradebeispiel für editorische Mehrwertschöpfung kann ich ein Beispiel aus der Grazer Germanistik anführen: Ausgehend von einem ‚Dynamischen Editionskonzept‘, das Andrea Hofmeister-Winter entwickelt hat,28 publizierte Wernfried Hofmeister 2005 eine Studienausgabe zu den Liedern Hugos von Montfort.29 Da Studienausgaben generell auf Lesefreundlichkeit ausgerichtet sind, wurde nur ein Bruchteil der Informationen, die 24 25

26 27

28 29

Vgl. Müller 2010 (Anm. 19). Vgl. Andrea Hofmeister-Winter: Das Konzept einer ‚Dynamischen Edition‘ dargestellt an der Erstausgabe des ‚Brixner Dommesnerbuches‘ von Veit Feichter (Mitte 16. Jh.). Göppingen 2003 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 706), S. 109. Gehalten am 16.02.2012 im Rahmen der Sektion Mittelalterliche Texte; leider wurde dieser Beitrag nicht für die Publikation zur Verfügung gestellt. Vgl. Hubert Stigler: Neue Wege in der Digitalen Edition. Jenseits von Hypertext und Nicht-Linearität. In: Wege zum Text. Überlegungen zur Verfügbarkeit mediävistischer Editionen im 21. Jahrhundert. Grazer Kolloquium 17. – 19. September 2008. Hrsg. von Wernfried Hofmeister u. Andrea Hofmeister-Winter. Tübingen 2009 (Beihefte zu editio 30), S. 203‒ 212, hier S. 211. Vgl. Hofmeister-Winter 2003 (Anm. 25), S. 95‒174. Hugo von Montfort: Das poetische Werk [Texte, Melodien, Einführung]. Hrsg. von Wernfried Hofmeister. Mit einem Melodie-Anhang von Agnes Grond. Berlin et al. 2005 (De-Gruyter-Texte).

Editionen als fächerübergreifende Grundlage für datenbankbasierte Forschung39

in der Basistransliteration der Handschriftentexte erhoben wurden, mitübernommen. Die Basistransliterationen aller der Edition zugrundeliegenden Handschriften sind als ergänzendes Arbeitsmaterial im Internet abrufbar30 und können somit auch von anderen Forschern verwendet und bearbeitet werden. Die aus den Handschriften erhobenen Informationen umfassen weit mehr Details31 als zum Beispiel das Vorhandensein beziehungsweise die genaue Lokalisierung von i-Punkten. Aber gerade dieser Information kam im Projekt DAmalS (Datenbank zur Authentifizierung mittelalterlicher Schreiberhände)32 zentrale Bedeutung bei der Analyse der unterschiedlichen Schreiberhände der Heidelberger HS cpg 329 zu.33 Um die für diese Analyse notwendigen mathematischen Berechnungen durchführen zu können, wurde die in einem herkömmlichen Textverarbeitungsprogramm realisierte Basistransliteration am Zentrum für Informationsmodellierung in den Geisteswissenschaften der Grazer Universität34 automatisiert in eine XML-Struktur überführt. Der so konvertierte Editionstext war danach Basis für das bereits genannte Projekt wie auch Basis für eine die Studienausgabe ergänzende und in diesem Bereich wegweisende Paralleldarstellung von Faksimileseiten und Transkriptionstext im Internet.35 Zu diesen primären Forschungsarbeiten kommt noch eine entsprechend große Zahl an sekundären Publikationen, die von der Edition angeregt wurden. In seiner Gesamtheit betrachtet, muss dieser Forschungsprozess als idealtypisches Beispiel für nachhaltige wissenschaftliche Arbeit und wissenschaftlichen Diskurs genommen werden. In Abb. 2 werden die Ergebnisse dieses einen Editionsvorhabens schematisch dokumentiert: Die Grafik zeigt die überaus breite Dissemination einer einzelnen Editionsleistung und veranschaulicht dabei sehr deutlich, was im Rahmen der aktuellen Forschung unter ‚Mehrwertschöpfung‘ verstanden werden muss.

30

Hugo von Montfort: Das poetische Werk. Begleitende Internet-Plattform zur Neuausgabe. Online unter: http://www-gewi.uni-graz.at/montfort-edition (11.07.2014); zuletzt aktualisiert: 06.2014. 31 Diese Details können der Alphabet- (http://www-gewi.uni-graz.at/montfort-edition/mat/Alpha bet-Kodierung.pdf) und der Sonderzeichenkodierungstabelle (http://www-gewi.uni-graz.at/mont fort-edition/mat/Sonderzeichen-Kodierung.pdf) entnommen werden. 32 Vgl. Wernfried Hofmeister und Andrea Hofmeister-Winter: Schriftzüge unter der High-Tech-Lupe. Theoretische Grundlagen und erste praktische Ergebnisse des Grazer Pilotprojekts DAmalS (‚Datenbank zur Authentifizierung mittelalterlicher Schreiberhände‘). In: editio 22, 2008, S. 90 ‒117. 33 Vgl. Andrea Hofmeister-Winter: Die Grammatik der Schreiberhände. Versuch einer Klärung der Schreiberfrage anhand der mehrstufig-dynamischen Neuausgabe der Werke Hugos von Montfort. In: Edition und Sprachgeschichte. Baseler Fachtagung 2. ‒ 4. März 2005. Hrsg. von Robert Schöller, Gabriel Viehhauser u. Michael Stolz. Tübingen 2007 (Beihefte zu editio 26), S. 89 ‒116. 34 Zentrum für Informationsmodellierung in den Geisteswissenschaften. Online unter: http://informati onsmodellierung.uni-graz.at (11.07.2014). 35 Hugo von Montfort: Das poetische Werk Online unter: http://gams.uni-graz.at/montfort (11.07.2014). Vgl. dazu auch Wernfried Hofmeister und Hubert Stigler: Die Edition als Interface. Möglichkeiten der Semantisierung und Kontextualisierung von domänenspezifischem Fachwissen in einem Digitalen Archiv am Beispiel der XML-basierten ,Augenfassung‘ zur Hugo von Montfort-Edition. In: editio 24, 2010, S. 79 ‒95.

40

Helmut W. Klug

Basistransliteration ONLINE

Studienausgabe

Musik CD

Publikationen

Projektantrag

DAmalS

Publikationen Editionsprojekt

deskriptive Basistransliteration Melodie-Edition

Publikationen

XML-Konvertierung

MHDBDB

'Augenfassung'

Projektantrag

Publikationen

Abb. 2: Flowchart zur Dissemination der Edition der Lieder Hugos von Montfort.

Weitere Beispiele, die ähnlich zukunftsorientiert planen oder schon arbeiten, lassen sich in der einschlägigen Literatur genug finden: So beschreibt z. B. Joachim Veit die „Wechselwirkungen zwischen digitalen und ‚analogen‘ Editionen“ mit Schwerpunkt auf Musikedition36 und Thomas Bein reflektiert über den Mehrwert, den eine web-basierte Walther-Edition bieten könnte.37 Im Rahmen der Tagung hat Thomas Bein auch von einer „Vision“ gesprochen, die „Historische Wissenskompendien in inter- und transdisziplinärer editorischer Aufarbeitung“38 umfasst – eine äußerst wünschenswerte Vision, die indes, wenn überhaupt, nur von einer nachhaltigen Editionswissenschaft erfüllt werden kann. Mit Hans Gerhard Senger möchte ich abschließend die äußerst pragmatische Frage nach der Zeit nach einer Edition39 in den Mittelpunkt der Überlegungen rund um jedes neue Editionsvorhaben rücken, denn es sind dabei nicht nur pragmatische oder organisatorische Aspekte zu bedenken. Die zentrale Frage im Sinne einer zeitgemäßen Vermittlung von Wissen durch eine fächerübergreifende Editionsphilologie muss nämlich sein: Was ist der maximale Mehrwert, der mit einem neuen Editionsvorhaben erzielt werden kann?

36

Joachim Veit: Es bleibt nichts, wie es war – Wechselwirkungen zwischen digitalen und ‚analogen‘ Editionen. In: editio 24, 2010, S. 37‒52. 37 Bein 2010 (Anm. 5), S. 73‒78. 38 Gehalten am 16.02.2012 im Rahmen der Sektion Mittelalterliche Texte; leider wurde dieser Beitrag nicht für die Publikation zur Verfügung gestellt. 39 Hans Gerhard Senger: Nach der Edition ist vor der Edition. In: editio 23, 2009, S. 191‒202, hier S. 191‒194.

Editionen als fächerübergreifende Grundlage für datenbankbasierte Forschung41

Abstract The article presents an assessment of conventional and electronic publications based on researches carried out within the Medieval Plant Survey (http://mps.uni-graz.at/ mps-daten). Problems emerged while editions of recipe collections printed between 1844 and 2010 were processed electronically. Based on this experience, the paper discusses select modern editorial concepts from a praxis-oriented and methodological point of view, placing special emphasis on an assessment concerning the question whether the problems introduced above can be solved by a modern editorial approach, and / or if these up-to-date concepts generate new problems of their own. The paper is meant to make editors aware of the fact that their work does not come to an end with the publication of an edition but, on the contrary, sets in motion various new lines of research. Therefore it is vital to include into their fundamental research work forward-looking planning that takes the reality of modern research conditions into account.

Heather F. Windram and Christopher J. Howe

An Introduction to the Phylogenetic Analysis of Non-Biological Data1

1. Introduction Phylogenetic analysis refers to the use of biological data to uncover the evolutionary history of different groups of organisms. The analysis does not necessarily use direct genetic data (it might use morphological data, for example), but the increasing availability of genetic data, together with great improvements in computing power in the 1950s and early 1960s, led to their use for the reconstruction of evolutionary history, reviewed by Edwards (2009). The earliest genetic studies used information on blood groups,2 but as methods for determining the sequence of amino acids in proteins and of nucleotides in RNA and DNA became available, the emphasis switched to using biological sequence data. Increasingly, scholars in the arts and humanities began to apply taxonomic and evolutionary principles to the study of textual traditions. Griffiths (1968, 1969) applied principles of numerical taxonomy (which concentrated on classification of organisms into groups, without necessarily attempting to recover evolutionary history) to studies of the works of Juvenal, and of the Gospels. More explicitly evolutionary analyses were carried out by Lee (1989) and Robinson and O’Hara (1996), and the field received greater publicity with the publication in 1998 by Barbrook and colleagues of a phylogenetic analysis of The Wife of Bath’s Prologue from Chaucer’s Canterbury Tales.3 The application of phylogenetic methods to textual traditions relies on the principle that both DNA sequences (which directly determine RNA and protein sequences) and texts follow a process of copying with the incorporation of heritable changes. Computer programs developed for phylogenetic analysis in the biological context are able to deal with large amounts of data, and may therefore be a valuable tool for textual scholars. Inevitably, the application of phylogenetic methods to textual traditions has received some criticism, not least because the potentially widespread process of contamination violates the assumption of a simple tree-like evolutionary process. Contaminated traditions would be expected to be represented by networks (which could be multidimensional) rather than simple branching trees. Criticisms of the phylogenetic approach have been addressed elsewhere.4 Many of them are unjustified, and others may apply equally to traditional approaches to stemmatology rather than just to phylogenetic methods. We stress that 1 2 3 4

The authors thank the Isaac Newton Trust, University of Cambridge, for financial support. E.g. Edwards / Cavalli-Sforza 1963. Barbrook et al. 1998. Howe et al. 2012.

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Heather F. Windram and Christopher J. Howe

phylogenetic methods should not be seen as a replacement for traditional scholarly approaches, but a tool to augment them. Figure 1 summarizes the typical stages in a phylogenetic analysis of a textual tradition. In the subsequent sections we discuss the stages consecutively.

Figure 1: Stages in phylogenetic analysis of textual traditions. The dotted line indicates that the alignment may be revised in the light of the regularisation.

2. Alignment, Regularisation and Nexus files The first stage of text preparation is common to both traditional and phylogenetic analysis and requires the preparation of transcriptions from the primary sources. The transcription may be a full diplomatic transcription recording every detail of the source, but for the purposes of phylogenetic analysis the transcription must be prepared in a format which can then be used by the alignment algorithms e.g. as a text file, which may retain features such as original punctuation, if this is deemed significant for the tradition in question. There are various alignment and regularisation programs available that can work with textual material. Mac users have tended to favour the Collate package developed by Robinson (1994), while PC users have preferred a multiple alignment program based on the algorithms used for the alignment of biological sequence data. We generally use such a multiple alignment program developed by Spencer and Howe (2004), which runs in a Matlab environment. This algorithm creates a tabular alignment where each row represents a single source and each column represents a location (usually a word) within the text (Figure 2).

An Introduction to the Phylogenetic Analysis of Non-Biological Data45

Figure 2: Example of a section of text from the poem His Age by Robert Herrick (1591–1674), modified from Howe and Windram (2011). Numbers indicate positions in the text; tilde indicates absence of a word.

The alignment given by the algorithm is generally very accurate and can be optimised during the regularisation procedure if required. Regularisation of the aligned text is usually required e.g. to remove spelling variation in a tradition copied prior to the standardisation of spelling. In the example alignment given in Figure 2, spellings such as ‘conspiring’ and ‘conspiringe’ need to be regularised or they will count as separate variant readings in the later analyses. Regularisation clearly requires the expertise of the textual scholar to identify which differences should be regarded as significant, and can be very time-consuming. Figure 3 shows the text from Figure 2 after regularisation. In the regularised text insignificant differences, in this case spelling variants, have been removed, leaving only those variants required for the analyses.

Figure 3: Aligned text from Figure 2 after regularisation, from Howe and Windram (2011). In this case, spelling variants have been edited to the majority form. Variants considered significant are shown in red.

The regularised data are then converted either within Collate or by a separate command (for example, when using Matlab), into a Nexus file, where each variant reading

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Heather F. Windram and Christopher J. Howe

in a column is represented by a different number. The Nexus file readings for the section of text illustrated in Figures 2 and 3 are given in Figure 4. The first text is given a code of 0 at all locations. Where other texts agree with the first text they are also given a 0 reading. Each variant reading in a column is given a different code (1, 2, 3 etc), with identical readings being given the same codes.

Figure 4: Section of Nexus file prepared for the section of text illustrated in Figs. 2 and 3, from Howe and Windram (2011). For a description of the symbols ‘?’ and ‘-’ see text.

The row of ‘?’s represents a source from which that section of text is missing, and these characters do not score as differences in the analyses. The ‘-’ represents the first gap in a sequence, or a single gap of only one column, and this symbol does count as a difference. Therefore a deletion of any size will count as a single difference, reflecting the fact that the omission of several words, or even a line or verse of text usually reflects a single act of omission, due e.g. to eye-skip. This Nexus file is then used directly for analysis by the phylogenetic algorithms. A number of phylogenetic packages are available, such as PAUP,5 MacClade6 and SplitsTree.7

3. Reconstruction of trees/networks Although there is a very wide range of methods available for phylogenetic reconstruction from biological sequence data, only a subset has been widely used so far for textual analysis. We discuss the most widely used ones below. Some other methods, such as maximum likelihood-based methods and Bayesian methods, have not as yet been widely used for textual analysis. In addition, there are methods that were developed specifically for stemmatic reconstruction, such as the RHM method.8

5 6 7 8

http://paup.csit.fsu.edu/about.html http://macclade.org/macclade.html http://www.splitstree.org/ Roos / Heikkilä 2009.

An Introduction to the Phylogenetic Analysis of Non-Biological Data47

3.1. Maximum parsimony Maximum parsimony has its philosophical justification in the view that one prefers the hypothesis (in this case the stemma) that requires the smallest number of events (mutations in biological terms, and textual changes in the context of stemmatics). In essence, therefore, maximum parsimony analysis considers possible bifurcating trees and identifies the one that requires the smallest number of changes (i.e. is most parsimonious). If a given change occurs in several witnesses, it will be more parsimonious if the change is assumed to be the result of one alteration that was then copied, rather than the results of two or more independent identical changes. Identifying the most parsimonious tree is likely to be a difficult computational problem with large datasets, as the number of possible tree topologies increases more than exponentially as the number of members of the dataset (i.e. witnesses) increases. Searching all possible trees may not be feasible, but a number of algorithms exist to reduce the number of searches while keeping as low as possible the risk of missing trees that are more parsimonious than the best one found. 3.2. Neighbor-joining9 This is a widely-used example of a class of methods referred to as ‘distance matrix’ methods. In these methods, a matrix of distances between pairs of witnesses is first drawn up. Each witness is represented by a row and a column, and the value at the intersection between a row corresponding to one witness and a column corresponding to another is a measure of the extent of differences between them. Distance matrix methods attempt to find the tree topology and branch lengths that give the best fit between the distances measured on the tree between pairs of witnesses and the distances actually determined and shown in the matrix. In practice there is never a perfect fit, and algorithms attempt to identify the closest fit. 3.3. Network methods A number of methods are available that depict phylogenetic relationships as networks, rather than branching trees.10 This allows the representation of multiple affiliations, which may be particularly useful when dealing with examples of contamination. One such algorithm is NeighborNet,11 which is a distance matrix method. Split decomposition,12 implemented in SplitsTree, represents the multiple splits (in effect divisions into different groups) within the data as a network.

9 10 11 12

Saitou / Nei 1987. Moulton / Huber 2009. Bryant / Moulton 2004. Bandelt / Dress 1992.

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Heather F. Windram and Christopher J. Howe

3.4. Consensus networks and Supernetworks Consensus network13 and Supernetwork methods14 were developed in the field of evolutionary biology to allow the visualisation of the overall relationships within a group of species as determined from a consensus of the trees obtained for a number of different genes. If the individual input trees contain contradictory information then the outcome will be a network indicating the multiple affiliations of the species. The Consensus network algorithm requires that the input trees all contain data for exactly the same species, while the Supernetwork algorithm will produce a consensus tree or network even if some species are not represented in every input tree. These consensus methods clearly may also be applicable to textual traditions where there are a number of sections of text (e.g. individual Tales of a tradition such as The Canterbury Tales) which may or may not be transmitted in exactly the same manuscripts, and which may produce individual trees containing conflicting manuscript affiliations. The consensus algorithms are not in themselves methods of phylogenetic analysis, but they take as their input the trees produced by phylogenetic methods and, from these data, create an overview that enables the representation of incongruities between the individual input trees. A simple example with 2 input trees may be given with some data from The Canterbury Tales. The Wife of Bath’s Prologue (WOBP) is present in 58 sources while The Nun’s Priest’s Tale (NP) is present in 55 sources, 53 of which also include WOBP. Maximum parsimony trees of WOBP and NP show the manuscript Ps grouping with the Mc/Ra1 pair in WOBP and with the Gl/Ra3 pair in NP, while the Tc1 manuscript groups with the Gl/Ra3 pair in WOBP and with the Mc/Ra1 pair in NP (Figure 5).

13 14

Holland et al. 2004. Huson et al. 2004.

An Introduction to the Phylogenetic Analysis of Non-Biological Data49

a)

b)

Figure 5: Maximum parsimony trees for a) The Wife of Bath’s Prologue (WOBP) and b) The Nun’s Priest’s Tale (NP)

The Supernetwork algorithm combines the trees as shown in Figure 6 to give a region of reticulation representing the inter-relationship between the manuscripts in the two input trees.

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Heather F. Windram and Christopher J. Howe

Figure 6: Supernetwork for WOBP and NP

One disadvantage of both the Consensus network and the Supernetwork methods is that currently they are only able to accept trees, and not networks, as input data. This means that information about multiple affiliations that would have been visible from network analysis is not included in the consensus analyses. This represents an area of possible future development for the methods.

4. Data exploration Rather than simply accepting a single tree or network generated by a phylogenetic analysis, it is appropriate to consider it critically and in more detail. We concentrate here on two topics, statistical testing and the analysis of changes of exemplar. 4.1. Statistical testing It is possible to measure the degree of statistical support for a given grouping of witnesses in a stemma using the technique known as bootstrapping.15 Essentially, 15

Felsenstein 1985.

An Introduction to the Phylogenetic Analysis of Non-Biological Data51

this involves generating subsidiary datasets from the initial dataset. A position is picked at random from the primary dataset and the characters recorded and replaced. A second position is picked at random and the characters at that position recorded and replaced again. The process is repeated until a subsidiary dataset has been generated that has the same number of positions as the original dataset. Some of the positions in the primary dataset will be represented multiple times in the subsidiary dataset, while others will not be represented at all. The whole process is repeated to generate a large number of subsidiary datasets, and a phylogenetic tree is calculated from each dataset. The fraction of trees (the ‘bootstrap value’, often expressed as a percentage) in which a particular group occurs is typically shown as a number on the phylogenetic tree close to the node that defines the group in question. Bootstrap analysis can give only an indication of the reliability of groups against random errors. If there is a systematic error, for example when the data are evolving in a way that is not adequately modelled by the phylogenetic program being used, the bootstrap analysis will not detect it. Bootstrap analysis is widely available with phylogenetic software packages. 4.2. Chi-squared analysis and change of exemplar In some instances a copy of a text was made from two (or more) exemplars, with the scribe changing from one exemplar to another at a reasonably clearly-defined point in the text. It may be possible to detect this by exploring the dependence of the topology of the inferred trees on the regions of the text used. For example, if witness A showed an association with witness B in trees constructed on the first half of the text, and moved to show association with witness C in trees constructed on the second half, this might suggest that the scribe used an exemplar closely related to B to make the first half of A, and an exemplar closely related to C for the second half. The position of exemplar change can be mapped more accurately in such cases using the ‘maximum chi-squared’ method.16 This method is derived from a statistical procedure used in biology to identify sites in DNA where genetic recombination has occurred.17 Genetic recombination is a process where two similar (but not identical) pieces of DNA are broken and rejoined at equivalent sites. This generates a hybrid molecule, with the first part derived from one of the original molecules, and the second part from the other. Clearly, it is similar in principle to a situation where a scribe copied from one exemplar initially, and then switched to a different one at a particular point for completing the copy. The chi-squared method was developed to map the junction within a hybrid DNA molecule where the two original molecules were joined. As applied to textual traditions, it is used to map the point at which the scribe changed exemplar. (It is of course possible that the change was a gradual process, without a switch at a single defined point, but the method may still be useful in that situation.) The chi-squared method compares witnesses in pairs. It considers each location in turn along the text of each witness. For each such point, the number of differences 16 17

Windram et al. 2005. Maynard Smith 1992.

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Heather F. Windram and Christopher J. Howe

between the two witnesses on each side of the selected point is counted and compared with the numbers expected if the witnesses were equally closely related throughout their length. If one of the two witnesses has been subject to an exemplar shift, it is likely that they will be more closely related in one part than in another. Consequently, the number of differences on each side of the arbitrary point will be different from that expected if they were equally related throughout (Figure 7). A measure is calculated of the deviation of the observed distribution of differences from that expected if the witnesses are equally related; this measure is called the chi-squared value. The chi-squared value is calculated for a series of points moving along the text. The chisquared value associated with a given point is plotted graphically against the position of that point. It can be shown that the maximum peak of the graph indicates the point of maximum discrepancy between the observed and expected number of differences, and is the point at which exemplar shift is most likely to have taken place (Figure 8).

Figure 7: Maximum chi-squared analysis. The figure shows the calculation of the chi-squared value at two points (A and B) in the witnesses being compared. The horizontal rectangles represent two witnesses and the ‘x’s represent differences between them. The first pair (left) are equally related throughout and the differences are evenly distributed. Exemplar change in one of the second pair (right) occurred at the point where white shading changes to grey. The maximal chi-squared value is reached for the calculation at point B, which corresponds to the exemplar shift.

A statistical test can be applied to determine if the chi-squared value is significant, indicating that the distribution of differences is indeed likely to have arisen by exemplar shift rather than by chance variation.18 It should be noted that, although the method has been used very effectively to determine points of exemplar shift, it is not

18

Windram et al. 2005.

An Introduction to the Phylogenetic Analysis of Non-Biological Data53

Chi−squared Value

60 40 20 0

0

200 400 600 800 1000 Column Number

Percentage of Differences

directly applicable to simultaneous contamination, where more than one exemplar is used throughout the generation of a given witness.

20 15 10 5 0

0

200 400 600 800 1000 Column Number

Figure 8: Results of chi-squared analysis and Percentage of Differences plot for a pair of texts taken from an ‘artificial’ tradition of textual data prepared according to a known copying history. The chi-squared analysis (left) indicates an exemplar change at col. 396 (actual breakpoint known to be at col. 400) and the Percentage of Differences plot (right) shows that the two texts become more similar at that point.

Although the maximum chi-squared analysis allows one to locate the most likely point of exemplar change, it does not indicate the directionality, i.e. whether the two witnesses being compared are more similar before that point or after it. This can be done using the ‘Distribution of Differences’ plot.19 In this method, a window of a pre-determined size is moved along the texts for a pair of witnesses. The number of positions within the window where the witnesses differ is calculated and expressed as a percentage of the total number of positions in the window. Plotting this value against the character number at the mid-point of the window generates a graph that shows whether the witnesses become more or less similar after the point of exemplar change. Both the maximum chi-squared analysis and the Distribution of Differences plot have been implemented in Matlab.20

5. Concluding remarks There is no single ‘correct’ strategy for application of phylogenetic methods to non-biological data, such as literary traditions. Once trees have been generated, exploration of the data is likely to generate further questions. For example, it may be appropriate to conduct analyses omitting certain types of variant, or concentrating 19 Ibid. 20 Ibid.

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Heather F. Windram and Christopher J. Howe

on subsections of the traditions. These subsections might focus on subsets of the witnesses, or on specific regions of the text, perhaps to shed light on contamination. One of the virtues of computer-based phylogenetic analyses is that, once the data are encoded in a suitable form, individual analyses and re-analyses can be done very quickly. Above all, it should remembered that although the phylogenetic methods do provide a very rapid tool for analysis once data are available in a suitably encoded form, they are only an aid to be used alongside careful scholarship and a thorough understanding of the texts.

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An Introduction to the Phylogenetic Analysis of Non-Biological Data55

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Abstract Phylogenetic computer algorithms, developed in the biological sciences to infer the evolutionary history of different groups of organisms, have more recently been applied to a range of non-biological data sets, including literary texts. These algorithms have been used to gain insights into the transmission histories of cultural artefacts according to their patterns of inherited variation. In test cases, the phylogenetic methods have been shown repeatedly to give results that tally closely with those obtained by more traditional stemmatic analyses. In this paper, we give a brief description of phylogenetic analysis of textual traditions for those unfamiliar with these methods.

Kathrin Chlench und Gabriel Viehhauser

Phylogenese und Textkritik der Parzival-Überlieferung Bioinformatische Anregungen zur Lösung genealogischer Klassifizierungsprobleme in der Editionsphilologie

I. Auf den ersten Blick scheinen die beiden Disziplinen Biologie und Germanistik wenig gemein zu haben, verläuft doch zwischen ihnen der tiefe Graben, der die naturwissenschaftliche von der geisteswissenschaftlichen Methode trennt. Geisteswissenschaftler fühlen sich zumeist genötigt, die Unüberwindbarkeit dieser Kluft zu betonen, um nicht angesichts der performativen Vorzüge der exakten Naturbeschreibung ihren eigenen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit aufgeben zu müssen und unter den Legitimationsdruck der Nützlichkeitsforderung zu geraten. Dennoch muss sich gerade eine Germanistik, die ihre eigenen Grundlagen historisch reflektiert, eingestehen, dass die Disziplin vor der Orientierung an biologischen Paradigmen nicht immer gefeit war.1 Bekanntester Berührungspunkt ist etwa das Modell des Stammbaums, das die Naturwissenschaft ebenso wie die Literatur- und Sprachwissenschaften vor allem in ihren Anfängen im 19. Jahrhundert geprägt hat: Die in der Evolutionstheorie verbreiteten Stammbaum-Modelle gibt es nicht nur bei der Beschreibung der indogermanischen Sprachfamilien, sondern insbesondere auch in der Textkritik, bei der Aufdeckung der an der handschriftlichen Überlieferung ablesbaren Textgenese.2 Interessanterweise ist die wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Klassifikationsmethoden in den beiden Disziplinen bis zu einem gewissen Grad umgekehrt verlaufen. In der biologischen Systematik lässt sich eine Ablösung der zunächst typologischen Artenbeschreibung, wie sie etwa Carl von Linné entwickelt hat, durch die genetisch-genealogisch ausgerichtete Evolutionstheorie beobachten, die den historischen Prozess der Stammesgeschichte zur Grundlage aller Klassifikation gemacht

1

Vgl. hierzu etwa Ulrich Hunger: Die altdeutsche Literatur und das Verlangen nach Wissenschaft. Schöpfungsakt und Fortschrittsglaube in der Frühgermanistik. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp. Stuttgart, Weimar 1994, S. 236 –263, hier S. 249. 2 Vgl. Matthis Krischel, Frank Kressing und Heiner Fangerau: Die Entwicklung der Deszendenztheorie in Biologie, Linguistik und Anthropologie als Austauschprozess zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. In: Deszendenztheorie und Darwinismus in den Wissenschaften vom Menschen. Hrsg. von Hans-Klaus Keul u. Matthis Krischel. Stuttgart 2011, S. 107–121, die die Entwicklung des Evolutionsgedankens geradezu als interdisziplinäres Projekt ansehen. Zur Wissenschaftsgeschichte des Stammbaums vgl. ferner Thomas Macho: Stammbäume, Freiheitsbäume und Geniereligion. Anmerkungen zur Geschichte genealogischer Systeme. In: Genealogie und Genetik. Schnittstellen zwischen Biologie und Kulturgeschichte. Hrsg. von Sigrid Weigel. Berlin 2002, S. 15– 43; sowie Claudia Castañeda: Der Stammbaum. Zeit, Raum und Alltagstechnologie in den Vererbungswissenschaften. In: Weigel 2002 (Anm. 2), S. 57– 69. Zur Analogie von Sprachwissenschaft, Textkritik und Biologie vgl. Norman I. Platnick u. H. Don Cameron: Cladistic Methods in Textual, Linguistic, and Phylogenetic Analysis. In: Systematic Zoology 26, 1977, S. 380–385.

58

Kathrin Chlench und Gabriel Viehhauser

hat.3 In der Germanistik zeigt sich hingegen vor allem in jüngerer Zeit ein zunehmendes Unbehagen an der Aufdeckung von genetischen Zusammenhängen, und, insbesondere in der Editionswissenschaft, die verstärkte Hinwendung zur Beschreibung des handschriftlichen Phänotyps. Im Bereich der mittelalterlichen volkssprachlichen Literatur ist diese Entwicklung darauf zurückzuführen, dass sich deren Überlieferung als besonders widerständig gegen die Anwendung von Stammbaum-Methoden erwiesen hat. Mittelalterliche Literatur zeichnet sich durch ein hohes Maß an Varianz und Offenheit der Texte aus. Die germanistische Mediävistik, die in ihren Anfängen im Bann der Lachmann’schen Textkritik stand, hat sich bekanntlich erst nach und nach zu der Einsicht durchringen können, dass diese Varianz nicht einen Effekt fehlerhafter Überlieferung darstellt, der zugunsten der Rekonstruktion von integren Originaltexten zu korrigieren ist, sondern eine besondere Form der Textualität vormoderner Literatur indiziert: Mittelalterliche Texte liegen offenbar von Anfang an nicht in einer gültigen, festen Gestalt vor, sondern in verschiedenen Fassungen, die sich mehr oder weniger unterscheiden. Der Grad der Unfestigkeit der Texte ist dabei von der jeweiligen Gattung abhängig, so sind etwa Geschichtsdichtung und Lyrik wesentlich variantenreicher überliefert als die höfische Epik, die dementsprechend lange als die letzte Bastion der klassischen Textkritik galt. Erst die einflussreichen Arbeiten von Joachim Bumke, insbesondere zur Nibelungenklage, haben auch auf diesem Gebiet den Fokus von einem zu rekonstruierenden Original auf die handschriftlich tatsächlich gegebenen Textzustände verschoben.4 Joachim Bumke ist dabei von der Beobachtung ausgegangen, dass sich auch bei den höfischen Epen am Ausgangspunkt der Überlieferung in der Regel nicht ein einzelner Text auffinden lässt, sondern unterschiedliche Versionen.5 Diese Versionen bezeichnet Bumke bekanntlich als Fassungen, wobei der Begriff an bestimmte Kriterien gebunden wird. Eine Textversion ist nach Bumke erst dann als Fassung anzusprechen, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Zum einem dürfen die Abweichungen, die eine Version aufweist, nicht auf bloße Versehen oder Schreiberfehler zurückzuführen sein, sondern müssen einen deutlich erkennbaren Gestaltungswillen offenbaren, zum anderen muss sich die Fassung einer stemmatologischen Ableitbarkeit von anderen Versionen widersetzen; das heißt also, nur wenn es unmöglich ist, eine Textversion 3

Vgl. den Überblick bei Bernhard Wiesemüller, Hartmut Rothe u. Winfried Henke: Phylogenetische Systematik. Eine Einführung. Berlin et al. 2003, S. 1–15; sowie Elliott Sober: Reconstructing the Past. Parsimony, Evolution and Inference. Cambridge (Mass.), London 1988, S. 7–10. 4 Vgl. Joachim Bumke: Die vier Fassungen der Nibelungenklage. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Berlin, New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte N.F. 8) [= Bumke 1996a]; sowie ders.: Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Die Herbort-Fragmente aus Skokloster. Mit einem Exkurs zur Textkritik der höfischen Romane. In: ZfdA 120, 1991, S. 257–304; ders.: Der unfeste Text. Überlegungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. In: ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘ in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von JanDirk Müller. Stuttgart, Weimar 1996, S. 118–129 [= Bumke 1996b]; ders.: Retextualisierungen in der mittelalterlichen Literatur, besonders in der höfischen Epik. In: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Joachim Bumke u. Ursula Peters. Berlin 2005, S. 6– 46. 5 Vgl. Bumke 1996b (Anm. 4), S. 119.

Phylogenese und Textkritik der Parzival-Überlieferung59

aus einer anderen abzuleiten, handelt es sich bei ihr um eine Fassung, andernfalls ist lediglich von einer Bearbeitung eines vorangegangenen Textzustandes auszugehen.6 Im Gegensatz zur klassischen Textkritik verzichtet Bumke damit auf eine Rekonstruktion eines in der Überlieferung nicht mehr einholbaren Originals. Jedoch wird die genealogische Stoßrichtung der älteren Textkritik nicht vollständig durch eine rein typologische Sichtweise ersetzt, sondern bleibt aufgrund der beiden Kriterien des Fassungsbegriffs weiterhin bestimmend.7 An die Stelle der Rekonstruktion des Originals tritt die Rekonstruktion der Fassungen. Demnach bleibt die Aufarbeitung von Fassungen mit den Fährnissen der genealogischen Methode behaftet, was bei der konkreten Anwendung zu einigen Widersprüchen führt. Insbesondere die Möglichkeit einer Unterscheidung von Bearbeitungen und Fassungen ist in der Auseinandersetzung mit Bumkes Ansatz häufig in Frage gestellt worden. Dabei wurde zumeist dafür plädiert, die Unterscheidung zwischen Fassung und Bearbeitung aufzugeben.8 Wir können die Debatte hier nicht im Einzelnen nachzeichnen, sondern möchten uns im Folgenden anhand eines konkreten Falls, nämlich der Parzival-Überlieferung, mit zwei Dimensionen auseinandersetzen, die uns für die Diskussion des Fassungsbegriffs von Bedeutung erscheinen, nämlich mit dem Gegensatz zwischen der typologischen und der genealogischen Beschreibung. Im Mittelpunkt soll dabei die Frage stehen, ob man bei der Bestimmung von Textversionen auf eine genealogische Dimension verzichten kann oder soll, welche alternativen typologischen Beschreibungsmodelle möglich wären und welche Konsequenzen sich für die Interpretation von Fassungs- oder eben Bearbeitungstexten ergeben, je nachdem, welche Betrachtungsweise man anlegt. Diese Überlegungen sollen die Grundlage bilden für den Brückenschlag zu den im zweiten Teil des Aufsatzes beschriebenen evolutionsbiologischen Methoden, bei denen das Spannungsfeld von Typologie und Genealogie in ganz ähnlicher Weise von Bedeutung ist. II. Bumkes Modell der frühen Parallelfassungen ist bei der Aufarbeitung der Überlieferung des Parzival, Wolframs von Eschenbach berühmten Gralsromans aus der Zeit um 1200, von besonderer Relevanz. Dies belegt gerade schon die Einschätzung Karl Lachmanns, der 1833 die erste und bis heute nicht vollständig ersetzte Ausgabe

6 7

Vgl. Bumke 1996a (Anm. 4), S. 45– 46. Vgl. hierzu Peter Strohschneider: [Rezension zu:] Bumke 1996a (Anm. 4). In: ZfdA 127, 1998, S. 102–117, hier S. 114. 8 Vgl. hierzu insbesondere die Rezensionen von Strohschneider 1998 (Anm. 7), von Nikolaus Henkel (In: PBB 123, 2001, S.  137–144) und Jens Haustein (In: ZfdPh 118, 1999, S.  442– 445) sowie die Aufsätze von Albrecht Hausmann: Mittelalterliche Überlieferung als Interpretationsaufgabe. ‚Laudines Kniefall‘ und das Problem des ‚ganzen Textes‘. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450. Hrsg. von Ursula Peters. Stuttgart, Weimar 2001, S. 72–95; und Hans-Jochen Schiewer: Fassung, Bearbeitung, Version und Edition. In: Deutsche Texte des Mittelalters zwischen Handschriftennähe und Rekonstruktion. Berliner Fachtagung 1. – 3. April 2004. Hrsg. von Martin Schubert. Tübingen 2005, S. 35–50; sowie die einlenkende Stellungnahme bei Joachim Bumke: [Rezension zu:] Schöller 2009 (Anm. 12) und Viehhauser-Mery 2009 (Anm. 12). In: ZfdA 139, 2010, S. 240 –294, hier S. 241.

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Kathrin Chlench und Gabriel Viehhauser

des Parzival erarbeitet hat.9 Lachmann war aufgefallen, dass sich die Überlieferung in zwei Klassen teilt, die von ihm als *D und *G bezeichnet wurden.10 Zwar gab er in seiner Edition zumeist der Klasse *D den Vorzug, da er auf die Herstellung des einen, gültigen Textes fixiert war, musste aber eingestehen, dass die beiden Klassen grundsätzlich von „gleichem werth“ sind.11 Mit *D und *G liegen demnach zwei Textversionen vor, die im Bumke’schen Sinn als Fassungen bezeichnet werden können. Wie neuere Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte des Parzival gezeigt haben, lassen sich neben *D und *G jedoch noch weitere Textversionen ausfindig machen, die von grundlegender Bedeutung für die Textgeschichte sind, nämlich die Handschriftengruppen *m und die *T.12 Diese beiden Gruppierungen wurden in der älteren Forschung, wenn sie überhaupt wahrgenommen wurden, zumeist den Hauptklassen *D und *G untergeordnet, also stemmatisch auf vorhandene Textversionen zurückgeführt, so dass in Anwendung der Bumke’schen Kriterien von Bearbeitungen, und nicht von Fassungen auszugehen ist. *m wurde dabei *D zugeordnet, *T der Fassung *G.13 Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit eine solche, in der Forschung zumeist unkritisch hingenommene Ableitung überhaupt stichhaltig vorgenommen werden kann. 9

Der Text erschien im Rahmen seiner Wolfram-Gesamtausgabe: Wolfram von Eschenbach. Hrsg. von Karl Lachmann. Berlin 1833. Die heute gängigen Studienausgaben von Bernd Schirok (Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. 2. Auflage. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation von Bernd Schirok. Berlin, New York 2003) und Eberhard Nellmann (Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann. Übertragen von Dieter Kühn Bd. 1: Text. Bd. 2: Text und Kommentar. Frankfurt a.M. 1994 [Bibliothek des Mittelalters 8,1/2]) stützen sich auf den von Lachmann erstellten Text. Eine neu erarbeitete Textbasis bieten erst die Leithandschriften-Ausgabe von Joachim Bumke (Wolfram von Eschenbach: Parzival. Auf der Grundlage der Handschrift D herausgegeben von Joachim Bumke. Tübingen 2008) sowie die in Arbeit befindliche überlieferungsgeschichtliche Hybridausgabe des Berner Parzival-Projekts (Leitung Michael Stolz, www.parzival.unibe.ch [17. Juli 2014]). 10 Vgl. Lachmanns Vorrede zur Ausgabe von 1833, der besseren Verfügbarkeit wegen zitiert nach dem Abdruck in Schiroks Ausgabe (2003; Anm. 9), hier S. XVI. 11 Ebd., S. XIX. 12 Vgl. hierzu die beiden im Rahmen des Berner Parzival-Projekts entstandenen Dissertationen von Robert Schöller: Die Fassung *T des Parzival Wolframs von Eschenbach. Untersuchungen zur Überlieferung und zum Textprofil. Berlin, New York 2009 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte N.F. 56); und Gabriel Viehhauser-Mery: Die Parzival-Überlieferung am Ausgang des Manuskriptzeitalters. Handschriften der Lauberwerkstatt und der Straßburger Druck. Berlin, New York 2009 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte N.F. 55). 13 Vgl. zu *T etwa Eduard Hartl: Die Textgeschichte des Wolframschen Parzival. I. Teil: Die jüngeren *G-Handschriften. 1. Abteilung: Die Wiener Mischhandschriftengruppe *W (Gn Gδ Gμ Gφ). Berlin, Leipzig 1928; und Gesa Bonath: Untersuchungen zur Überlieferung des Parzival Wolframs von Eschenbach, 2 Bde. Lübeck, Hamburg 1970 u. 1971, hier insbesondere Bd. 1, S. 54 –55, und Bd. 2, S. 150–164. Zu *m: Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel. Hrsg. und erklärt von Ernst Martin, 2 Bde. Halle a.d.S. 1900 und 1903, hier Bd. 1, S. XVIII−XXII; Bonath 1970 (Anm. 13), Bd. 2, S. 11– 41; und, mit Ansätzen zur Neubestimmung, Eberhard Nellmann: Neues zur Parzival-Überlieferung. In: ZfdPh 85, 1966, S. 321–345; Nigel F. Palmer: Zum Liverpooler Fragment von Wolframs Parzival. In: Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift für Werner Schröder zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Kurt Gärtner u. Joachim Heinzle. Tübingen 1989, S.  151–181; sowie Sabine Rolle: Bruchstücke. Untersuchungen zur überlieferungsgeschichtlichen Einordnung einiger Fragmente von Wolframs Parzival. Erlangen, Jena 2001 (Erlanger Studien 123), hier S. 77.

Phylogenese und Textkritik der Parzival-Überlieferung61

Zwar weisen die Fassungen *D und *m auf der einen und *G und *T auf der anderen Seite unbestreitbar Gemeinsamkeiten in der Textformulierung auf und lassen sich damit – gleichsam unter typologischer Perspektive – zusammenordnen,14 eine solche typologische Ähnlichkeit beweist jedoch noch keine genealogische Abhängigkeit. Die Feststellung, ob eine Dependenz vorliegt, ist jedoch wie ausgeführt unabdingbar, um den Fassungsstatus der einzelnen Versionen im Bumke’schen Sinn zu bestimmen. Um einen unvoreingenommenen Blick auf die Beziehungen zwischen den vier Fassungen zu eröffnen, empfiehlt es sich zunächst, die Terminologie der einzelnen Gruppierungen zu klären. Zwar wurde selbst von den prononciertesten Vertretern der klassischen Textkritik, die sich mit der Überlieferung des Parzival befasst haben, kein Versuch unternommen, ein Stemma der Handschriftenverhältnisse zu konstruieren, dennoch lassen sich die Vorstellungen der traditionellen Parzival-Philologie ansatzweise in einer Baumstruktur darstellen. Geht man von Lachmanns Annahme aus, dass die Überlieferung in *D und *G zweigeteilt ist, und es sich bei *m und *T um untergeordnete Gruppierung handelt, dann würde sich eine graphische Präsentation der Verhältnisse wie folgt darstellen:

*D

*D

*G

*m

*G

*T

Abb. 1: Stemma *D und *G

Problematisch ist nun die Benennung der beiden linken unteren Knoten, denn es ist misslich, dass zwei Punkte im Stemma mit demselben Namen benannt werden. Für eine unvoreingenommene Betrachtungsweise ist es daher hilfreich, die beiden oberen Knoten *D und *G in *Dm und *GT umzubenennen. Die Bezeichnung *D bleibt damit allein den Handschriften in *Dm vorbehalten, die nicht zu *m gehören, dasselbe Prinzip gilt für *G und *T.15 Worin bestehen nun die typologischen Gemeinsamkeiten von *D und *m bzw. von *G und *T? Die Nähe der Versionen *D und *m wird schon bei einer Analyse des Textbestandes ersichtlich, denn an insgesamt elf Stellen fehlen in *D und *m Verse, die in den anderen Handschriften vorhanden sind. Es handelt sich dabei um die Verse 17.1–2, 52.3– 8, 101.3– 4, 103.3– 4, 140.1–2, 172.5– 6, 185.17–18, 203.23–24,

14

Vgl. hierzu die Beispiele unten sowie ausführlich Schöller 2009 (Anm. 12) und Viehhauser-Mery 2009 (Anm. 12). 15 Diese Umbestimmung des Bereichs von *D und *G im Vergleich zu Lachmann entspricht der Nomenklatur in der Neuedition des Berner Parzival-Projekts.

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Kathrin Chlench und Gabriel Viehhauser

654.25–26 sowie jeweils 2 Verse nach 385.7 und 397.14, die auch Lachmann nicht in seinen Text aufgenommen hat.16 Es ist nicht auszuschließen, dass die Häufung dieser Stellen zu Beginn des Textes nicht zufällig ist, sondern dass diese Varianz im Versbestand mit der Kleingliederung des Parzival zusammenhängt oder zumindest in Relation steht: Lachmann ging bekanntlich davon aus, dass der Parzival in Abschnitten von je dreißig Versen gedichtet wurde. Ob es diese Dreißigergliederung ursprünglich gegeben hat, ist indes umstritten. Dem Befund, dass die Dreißigerabschnitte Lachmanns öfter nicht mit Sinn- oder gar Satzeinheiten des Textes übereinstimmen, steht jener gegenüber, dass tatsächlich in vielen der erhaltenen Handschriften eine Gliederung durch Initialen vorgenommen wird, die den Dreißigerabschnitten entspricht; davon ausgenommen ist jedoch zumeist der Beginn des Textes, der sich auch in der Überlieferung der Lachmann’schen Einteilung widersetzt.17 Fast alle der *D und *m gemeinsamen Minusverse18 stammen nun aus diesem Anfangsabschnitt, der auch gliederungstechnisch zu den unfesteren Partien des Parzival zu gehören scheint. Einzig die beiden Verspaare nach 385.7 und 397.14 sowie die Verse 654.25–26 treten in den späteren, stärker durchgegliederten Partien auf. Gerade diese Verspartien sind jedoch etwas auffällig, da sie sich in ihrer Struktur von den vorangehenden Minusstellen unterscheiden. Während die Minusstellen zu Beginn keine weiteren Änderungen nach sich ziehen, handelt es sich bei 385.7ff. und 397.14ff. um umfangreichere Formulierungsvarianten, die mehr als nur das jeweilige Verspaar betreffen.19 Eher eine Alternative als einen Ausfall dürfte das Verspaar 654.25–26 darstellen, was schon daran ersichtlich wird, dass sich die Überlieferung an dieser Stelle in zwei Gruppen teilt: die eine Gruppe hat die Verse 23–24 (Gâwâns sorge gar verswant: niht wan freud er im herzen vant), dafür die beiden folgenden, sinngemäß sehr ähnlichen und redundant wirkenden nicht (Gâwân ûz sorge in fröude trat. den knappen erz 16

Vgl. hierzu auch die Aufstellung bei Joachim Bumke: Zur Textkritik des Parzival. Der Textbestand in den Handschriften D und G. In: ZfdA 139, 2010, S. 453– 485. Vgl. etwa Bernd Schirok: Der Aufbau von Wolframs Parzival. Untersuchungen zur Handschriftengliederung, zur Handlungsführung und Erzähltechnik sowie zur Zahlenkomposition. Diss. Freiburg i. Br. 1972, S. 449– 459; Bonath 1970 (Anm. 13), Bd. 1, S. 77–107; sowie Bernd Schirok: Die Handschriften und die Entwicklung des Textes. In: Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch. Hrsg. von Joachim Heinzle. Berlin, Boston 2011, Bd. 1, S. 308 –334, hier S. 323–325. 18 Die Termini ‚Minusvers‘ bzw. ‚Plusvers‘ sollen keine Bearbeitungsrichtung implizieren, in dem Sinne, dass es sich bei Minusversen automatisch um Versausfall, bei Plusversen um Verszusatz handeln muss. Es geht bei diesen Begriffen lediglich darum, die An- bzw. Abwesenheit von Versen im Vergleich zu anderen Versionen zu benennen. 19 Vgl. die Passage ab 385.4 in D: Gawan nam siner tioste vliz. do lerte Melyanzen pîn. von Orastegentesin. der starche roerine scaft. dvrch den scilt in dem arme er gehaft (Wort in D auf Rasur [!], *m: brast). ein richiv tiost da gescach. mit jener in G: gawan nam siner tioste fliz. div lerte melianzen pin. von orastegente sin. Der starche rorime schaft. wart da getriben mit hurte chraft. daz det gawan der werde gast. dur den schilt in den arm er brast. ein richiv tiost al da geschach; sowie 397.15f. in D: Obilot des weinde vil. si sprach. nv fvoret mich mit iv hin gegen G: daz was obilote leit. wan si groz weinen niht vermeit. do sprach si herre sit ih bin. iwer so fvoret mich mit iv hin (Abkürzungen und Superskripta wurden stillschweigend aufgelöst). Legt man die vielleicht in D erst nachträglich getilgte Lesart von *m zu Grunde, dann handelt es sich in beiden Fällen um eine Stelle mit unreinen Reim in *Dm, die zur Änderung Anlass gegeben haben könnte. Zur Bewertung der Stellen vgl. Bumke 2010 (Anm. 16), S. 463. 17

Phylogenese und Textkritik der Parzival-Überlieferung63

verswîgen bat), bei der zweiten Gruppe ist es genau umgekehrt. Diese Zweiteilung entspricht nun aber nicht der Lachmann’schen Aufspaltung der Überlieferung in eine *D und eine *G-Klasse, denn zu der ersten Gruppe gehören nicht nur die *D und *m-, sondern auch die *T-Handschriften, womit die von Lachmann postulierte Aufteilung der Überlieferung durchbrochen wird. Das Verspaar nimmt also in gewisser Weise eine Sonderstellung ein, auf die wir später noch zurückkommen werden. Was bedeutet nun der Befund, dass *D und *m gemeinsame Fehlverse im Vergleich zu den anderen Handschriften teilen, für den Fassungsstatus der Gruppierungen? Selbst unter Anwendung der Methoden der klassischen Textkritik lässt sich nicht mit zwingender Notwendigkeit folgern, dass *D und *m auf dieselbe Stufe *Dm zurückgehen, denn auffälligerweise sind diese Verse für ein bruchloses Textverständnis überhaupt nicht notwendig. Ebenso gut wie um Fehlverse in *Dm könnte es sich bei diesen Versen daher auch um Zusätze in *GT handeln. In diesem zweiten Fall wäre die Übereinstimmung zwischen *D und *m in der Diktion der Textkritik jedoch als eine ‚Übereinstimmung im Richtigen‘ zu bezeichnen, die keinen stemmatologischen Aussagewert hat. Diese Passagen trennen also *D und *m von *G und *T, aber sie können nicht mit letzter Sicherheit als Bindefehler gelten.20 Die Ansetzung eines genealogischen Knotens *Dm lässt sich demnach nach den Regeln der Stemmatologie nicht erweisen; dieser Knoten hat, so könnte man sagen, dementsprechend nur typologische Bedeutung. Wir kommen damit zur anderen Seite der Überlieferung, zur Gruppe *T und ihrer Stellung zu *GT. In der Literatur werden für gewöhnlich folgende 22 Stellen als klassenkonstituierende Minusverse von *G angegeben: 140.11–14, 159.3– 4, 163.25–28, 208.21–22, 290.29 –30, 318.5– 8, 323.7– 8, 328.27–28, 336.1–337.30, 584.15–18, 589.28 –29, 595.3 – 4, 597.25 –26, 653.11–14, 654.13–14, 654.23–24, 699.9 –12, 736.15 –16, 736.23 –24, 770.5–30, 772.3–23 sowie 793.21–22.21 Von diesen Minusversstellen fehlen jedoch nur acht auch in *T.22 Die älteren textkritischen Studien zur Parzival-Überlieferung, die *T der Gruppe *G untergeordnet haben, konnten sich diesen Befund nicht anders erklären, als dass *T die exklusiv in *G auftretenden Minusverse durch Kontamination mit *Dm wiedergewonnen hätte. Betrachtet man den Befund typologisch, dann könnte man ihn in dem Sinn deuten, dass *T gewissermaßen eine Mittelstellung zwischen *G und *Dm einnimmt; denn *T teilt zwar einige Minusverse von *G, aber nicht alle. Zudem teilt *T jedoch auch nicht die Minusverse von *Dm, bis auf den oben angesprochenen Sonderfall der ‚Alternativverse’ 654.25–26.23 Für eine Bestimmung des Fassungsstatus im Bumke’schen Sinn, der hier Ausgangspunkt der Überlegungen war, ist jedoch weiter

20

Vgl. hierzu schon Bonath 1970 (Anm. 13), Bd. 1, S. 124–126; sowie Joachim Heinzle: [Rezension zu:] Bonath 1970 (Anm. 13). In: AfdA 84, 1973, S. 145–157, hier S. 150–152. 21 Vgl. Bonath 1970 (Anm. 13), Bd. 2, S. 107–108. 22 Nämlich 290.29–30, 318.5– 8, 323.7– 8, 328.27–28, 595.3– 4, 654.13 –14, 736.15 –16 und 736.23– 24. Vgl. hierzu Schöller 2009 (Anm. 12), S. 151–153. 23 Vgl. Schöller 2009 (Anm. 12), S. 153; sowie Bernd Schirok: [Rezension zu:] Schöller 2009 (Anm. 12) und Viehhauser-Mery 2009 (Anm. 12). In: ZfdPh 130, 2011, S. 127–139, hier S. 135. Eine solche Zwischenstellung nimmt unter typologischer Betrachtung auch *m zwischen *D und *GT ein.

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nach der genealogischen Komponente zu fragen. Die traditionellen Beschreibungen der *GT-Gruppe gehen von der stemmatischen Vorannahme aus, dass *GT als eine Abspaltung des Archetyps durch die Gesamtheit der *G-Minusverse konstituiert wird. Wenn man sich aber überhaupt an einer stemmatologischen Beschreibung der Verhältnisse versucht, dann wäre die folgende Konstellation die eigentlich viel näher liegende Ableitung: Die sowohl in *G als auch in *T auftretenden acht Minusversstellen konstituieren zunächst eine Gruppierung *GT, aus der sich erst auf einer späteren Stufe die Gruppe *G entwickelt hat, auf der weitere 14 Verspartien ausgelassen wurden. *GT Minusverse: 290.29-30, 318.5-8, 323.7-8, 328.27-28, 595.3-4, 654.13-14, 736.15-16, 736.23-24

*G

*T

Minusverse: 140.11-14, 159.3-4, 163.25-28, 208.21-22, 336.1-337.30, 584.15-18, 589.27-28, 597.25-26, 653.11-14, 699.9-12, 770.5-30, 772.3-23, 793.21-22 Abb. 2: Stemma *GT

Dass eine solche stemmatische Konstellation in der älteren Forschung nicht ernsthaft erwogen wurde, dürfte mit der erst späten Entdeckung und dem geringen Bekanntheitsgrad der *T-Handschriften in Zusammenhang stehen. Lachmann kannte aus der *T-Gruppe lediglich den offensichtlich stark kontaminierten Text des Frühdrucks W,24 der nur sehr bedingt repräsentativ für die Version ist. Eduard Hartl ist an einer genauen Bestimmung des Verhältnisses von *G und *T aufgrund der Verworrenheit der Über-

24

Vgl. die Aufstellung bei Schirok in der Einleitung zu seiner Studienausgabe (Schirok 2003 [Anm. 9], S. LXXV–LXXVI). Zur Stellung von W innerhalb von *T vgl. Schöller 2009 (Anm. 12), S. 149.

Phylogenese und Textkritik der Parzival-Überlieferung65

lieferung, aber auch wegen seiner eigenen Inkonsequenzen gescheitert.25 Und selbst die sorgfältigste der nach den traditionellen Mustern der Textkritik verfahrenden Parzival-Philologen, Gesa Bonath, hat sich der *T-Handschriften wohl voreilig und aus pragmatischen Gründen entledigt, indem sie *T als kontaminierte Handschrift der *G-Gruppe, und damit für eine nähere Betrachtung irrelevant, erachtete.26 Bonath ging dabei zunächst vom Verspaar 219.11–12 aus, das sie als Kronzeuge für die Kontamination von *T anführte. An dieser Stelle haben *Dm gemeinsam mit den beiden *G-Handschriften G und I einen anderen Text als die restlichen *G und *T-Zeugen, die Bonath auf eine eigene Textstufe γ innerhalb von *G zurückführt: *D*mGI Den tisc stiez von im zehant Chlamides scenescalt 27

219.11 27



LMOQRF21F40TUVW (a)nder stvnt sin fræude swant Den tisch stiez er von im zehant 28

28

Da also *T auf γ zurückgehe, müssten sämtliche Übereinstimmungen von *Dm mit *T gegen *G durch Kontamination zustande gekommen sein. Wie Bonath selbst im zweiten Band ihrer Untersuchungen, offenbar nach einer genaueren Durchsicht des Materials, ausführt, ist diese Stelle jedoch der einzige Bindefehler von γ, der sich finden lässt.29 Und selbst dessen Beweiskraft bleibt problematisch, da nach Bonath sämtliche Handschriften der γ-Gruppe im Verbund oder einzeln kontaminieren. Es könnte sich bei der alternativen Formulierung von 219.11–12 um eine *T-Formulierung handeln, die von den anderen *GT-Handschriften mit Ausnahme von G und I übernommen wurde. Eine derart üppig wuchernde Kontaminationspraxis ist dabei an dieser Stelle weniger ungewöhnlich als es zunächst scheint, denn die Verwendung des der französischen Vorlage nachgebildeten Reimworts scheneschalt bzw. scheneschant hat auch andernorts den Schreibern Schwierigkeiten bereitet. Im Parzival tritt das Wort an fünfzehn Stellen auf und wird in Buch III und IV zumeist auf eine -ant-Endung gereimt, in Buch VI auf -alt.30 Ein Blick auf diese Stellen zeigt, dass das Wort ganz offenkundig öfter für gröbere Verwirrungen in der Überlieferung gesorgt hat. Dabei kommt gerade in der *T-Gruppe die konsequenteste Strategie zur Anwendung, da in ihr der Begriff in den meisten Fällen in Buch III und IV gänzlich vermieden wird; die alternative Formulierung von 219.11–12 trägt somit deutlich den Charakter der Version *T. Wie Bonath teilweise auch selbst eingestehen

25 26 27

28 29 30

Vgl. Hartl 1928 (Anm. 13). Zu den Schwächen von Hartls Arbeit vgl. die Auseinandersetzung bei Bonath 1970 (Anm. 13), Bd. 1, S. 39–53; sowie Schöller 2009 (Anm. 12), S. 42–53. Vgl. Bonath 1970 (Anm. 13), Bd. 1, S. 55. Text nach Handschrift D, der Leithandschrift der Gruppe *D. Die Handschriften der *m-Gruppen haben die Form scunscant für scenescalt. Zu den beiden Endungsalternativen vgl. Gesa Bonath: Scheneschlant und scheneschalt im Parzival. Eine Beobachtung zur Lehnwortrezeption im 13. Jahrhundert. In: Wolfram-Studien 1, 1970, S. 87–97. Text nach O. Die *T-Handschriften lesen 219.12: er stiez den tisc von im zehant (TW) bzw. Er stiez von im den disch zuo hant (UV). Bonath 1970 (Anm. 13), Bd. 2, S. 157. Vgl. die Belege bei Bonath 1970 (Anm. 27), S. 88–91.

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muss,31 lässt sich eine Stufe γ daher nicht beweisen. Damit fällt aber auch der Beleg für eine Nachordnung von *T unter *G bzw. das Gegenargument gegen die oben dargestellte stemmatische Ableitung von *G und *T aus *GT aus.32 Die Ableitung von *G und *T aus *GT brächte nicht nur für die stemmatische Darstellung einige Erleichterungen mit sich,33 sie hätte auch erhebliche Konsequenzen für die Interpretation eines Gestaltungswillens in *G. Denn dann wären die 13 Fehlstellen von *G von den acht Minusstellen in *T und *G interpretatorisch streng zu trennen und ihre Auslassung dürfte nicht auf denselben intentionalen Akt zurückgeführt werden. Tatsächlich ist es in diesem Zusammenhang etwa auffällig, dass erst auf Stufe *G Minusversstellen begegnen, die deutlich umfangreicher sind. Das prominenteste Beispiel ist hier die Auslassung der Verse 336.1–337.30, die wiederholt mit einer möglichen Erstfassung des Parzival in Verbindung gebracht wurden. Die Verspartie ist nämlich an einer wichtigen Nahtstelle des Textes angesiedelt, an der es zu einem Protagonistenwechsel kommt: An die Stelle von Parzival tritt der als Parallelfigur zu Parzival angelegte Ritter Gawan ins Zentrum der Geschichte. Die Passage trägt deutlichen „Epilogcharakter“34 und ist für den Fortgang der Handlung nicht essentiell. Der 337. Dreißiger endet zudem mit einer fingierten oder tatsächlichen Abbruchsdrohung des Erzählers. Dieser inhaltliche Befund hat Anlass zur Vermutung gegeben, dass es sich bei den beiden Dreißigern um eine (vorläufige) Schlusspartie handeln könnte, „die einer früheren Textschicht angehörte und bei der endgültigen Redaktion ausgeschieden wurde.“35 Diese endgültige Redaktion hätte demnach dem Umfang des Textes von *G entsprochen (ohne 336.1–337.30), während die Passage in den übrigen Handschriften mehr oder minder irrtümlich erhalten geblieben wäre. Trotz umfassender textgeschichtlicher Bemühungen konnte diese Vorveröffentlichungs-These nicht bestätigt, aber bislang auch noch nicht gänzlich widerlegt werden.36 Nimmt man nun die oben aufgezeigte stemmatische Konstellation zum Aus31 32

Bonath 1970 (Anm. 13), Bd. 2, S. 162. Dem hier erwogenen Modell würde damit eher dem Ansatz einer ‚Vulgataklasse *M‘ entsprechen, den Hartl zuletzt erwogen hatte und den Bonath mit der für sie wahrscheinlicheren ‚Gegenthese‘ γ zu widerlegen suchte. Mit *M sind offensichtlich die *G-Hss. ohne *T gemeint. Hartl konnte diesen Gedanken, den er lediglich im Handschriftenverzeichnis der von ihm betreuten 7. Auflage von Lachmanns Edition äußerte (vgl. den Abdruck bei Schirok 2003 (Anm. 9), S. XL), jedoch nicht mehr näher ausführen. Die Überprüfung der Annahme durch Francis Nock: Die *M-Gruppen der Parzivâl-Handschriften In: PBB (Ost) 90, 1968, S. 145–173, ist methodisch unzureichend, vgl. Bonath 1970 (Anm. 13), Bd. 2, S. 150–151. Zur Alternative von γ und *M sowie zur noch ausständigen Aufklärung der Verhältnisse in der *G-Gruppe vgl. Schirok 2011 (Anm. 17), S. 313. 33 Sie gehorcht damit dem Prinzip der Parsimonität, also der Sparsamkeit, dem nicht nur bei Ockham, sondern auch bei den phylogenetischen Berechnungen der Evolutionsbiologie eine tragende Rolle zukommt, siehe dazu unten. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Tradition des Prinzips in Philosophie und Biologie vgl. Sober 1988 (Anm. 3). 34 Nellmann 1994 (Anm. 9), S. 625. 35 So formuliert Bumke in der ersten Auflage seines Einführungsbandes zu Wolfram von Eschenbach seinen anfänglichen Verdacht. Stuttgart 1964, S. 26 –27. In späteren Auflagen äußert sich Bumke vorsichtiger. Vgl. zur Vorveröffentlichungsthese zuletzt Eberhard Nellmann: Parzival (Buch I–VI) und Wigalois. Zur Frage der Teilveröffentlichung von Wolframs Roman. In: ZfdA 139, 2010, S. 135–152. 36 Vgl. hierzu die Pionierstudie von Günter Kochendörfer und Bernd Schirok: Maschinelle Textrekonstruktion. Theoretische Grundlegung, praktische Erprobung an einem Ausschnitt des ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach und Diskussion der literaturgeschichtlichen Ergebnisse. Göppingen 1976

Phylogenese und Textkritik der Parzival-Überlieferung67

gangspunkt, die einen Ausfall der Verse erst auf der *GT nachgeordneten Stufe *G favorisiert, dann ergäbe sich ein weiteres starkes Indiz für die Annahme, das es sich beim Wegfall von 336.1–337.30 lediglich um eine sekundäre Auslassung handelt, die nicht mit der Entstehungsgeschichte des Parzival in Zusammenhang steht. Die Ableitung von *G aus *GT brächte zudem noch weitere Vereinfachungen mit sich, sie würde etwa auch problemlos den oben angesprochen ‚Ausreißer‘ unter den gemeinsamen Minusversen von *Dm erklären, nämliche die Alternativverse 654.25– 26, die ja sowohl in *Dm als auch in *T fehlen: Man hätte einfach davon auszugehen, dass es sich bei diesen Versen um einen Zusatz von *G handelt. In diesem Fall wäre die Vermutung bestärkt, dass *Dm Änderungen im Versbestand nur in jenen Anfangspartien aufweist, die schon durch die Unregelmäßigkeit der Dreißigergliederung als offener für Versausfall bzw. -zusatz angesehen werden müssen.37 Schließlich ließe sich anhand der Umkehrung der stemmatischen Konstellation in der *GT-Gruppe noch die Frage diskutieren, welche Leithandschrift die Fassung *G am besten repräsentieren könnte. Die bislang dafür herangezogene Handschrift G ist nämlich deswegen nicht optimal geeignet, weil sie eine Reihe von Eigenständigkeiten aufweist und zudem noch durch eine weitere Bearbeitungsstufe von *G getrennt ist.38 Joachim Bumke hat in seinen letzten Beiträgen zur Parzival-Philologie scharfsinnig erwogen, ob nicht unter Umständen sogar T, die Leithandschrift der Gruppe *T auch als Leithandschrift für *G geeignet wäre. Konkret hat Bumke diesen Gedanken nicht ausgeführt, sondern lediglich angedeutet, dass eine solche Entscheidung die *G-Untergruppierungen abseits von *T in die Position von Nebenfassungen rücken würde. Offenbar hatte Bumke also eine ähnliche Konstellation wie die hier aufgezeigte vor Augen.39 Zu beachten ist dabei aber, dass T selbst eine Reihe von Sonderlesarten teilt, die nicht für *G verbindlich gemacht werden können, nämlich die Gruppenlesarten von *T. Demnach erscheint es zielführender, die Klassen *T und *G auch weiterhin zu unterscheiden und *G mangels besserer Alternativen G als Leithandschrift zugrunde zu legen. Gegen eine Zusammenlegung von *T und *G spricht zudem, dass auch die hier aufgezeigte stemmatische Konstellation keinesfalls zwingend ist, denn bei den gemeinsamen acht Minusversen von *GT verhält es sich ähnlich wie bei den gemeinsamen Minusversen von *Dm: Auch diese Verse sind für das Textverständnis nicht essentiell, und es lässt sich daher nicht erweisen, ob es sich bei diesen Passagen tatsächlich um Auslassungen in *GT handelt oder um Zusätze in *Dm. Denkbar wäre also durchaus auch das Szenario, dass die Verse lediglich in *Dm hinzugekommen sind und *T und *G keinen gemeinsamen Ursprung teilen. Der Knoten *GT ist dem-

(GAG 185); sowie zuletzt die Diskussion der Stelle bei Schöller 2009 (Anm. 12) S. 153–161, Schirok 2011 (Anm. 17), S. 322, und Bumke 2010 (Anm. 16), S. 481– 482. 37 Gegen diese These sprächen immer noch die Passagen 385,4ff. und 397.15f. (siehe oben Anm. 19), die allerdings schon Lachmann als Zusätze von *G (bzw. hier: *GT) ansah. 38 Gemeint ist die deutlich erkennbare Stufe *GI, die durch zahlreiche gemeinsame Lesarten der Handschriften G und I konstituiert wird. 39 Vgl. Bumke 2010 (Anm. 8), S. 249; sowie Bumke 2010 (Anm. 16), S. 485.

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Kathrin Chlench und Gabriel Viehhauser

nach wie schon der Knoten *Dm typologisch zu verstehen und kann nicht mit Sicherheit genealogisch festgelegt werden. Wir ziehen ein kurzes Fazit: bei allen vier Fassungen lässt sich eine stemmatische Abhängigkeit von einer anderen Version nicht beweisen, die Möglichkeit, dass die beiden Paare *D und *m sowie *G und *T auf je gemeinsame Ursprünge zurückgehen, ist aber auch nicht zu widerlegen. Ob es sich bei diesem Befund um einen Effekt der Unübersichtlichkeit der Überlieferung oder der besonderen Produktionsbedingungen mittelalterlicher Literatur handelt, ist aus einer solchen Konstellation nicht abzulesen. Mit anderen Worten: Es könnte sich bei *D, *m, *G und *T im Bumke’schen Sinn um gleichwertige Parallelfassungen handeln, aber bei einigen von ihnen auch um Bearbeitungen, bei denen der Bearbeitungsstatus nicht zu erweisen ist. Dennoch bleibt ein solcher Unterschied im Textstatus von entscheidender Bedeutung für die Bestimmung des historischen Aussagewertes der Varianz. Wie etwa am Beispiel der Gruppe *G gezeigt wurde, hätte eine durchaus mögliche Nachordnung der Gruppe hinter *GT Konsequenzen für die Beurteilung ihrer Lesarten. Eine rein typologische Beschreibung kann diese mögliche ‚historische Differenz‘ nicht fassen.40 Es zeigt sich hier das bekannte grundsätzliche Problem typologischer Klassifikation, nämlich, dass diese kaum über eine bloße Ähnlichkeitsbeschreibung hinauszugehen vermag. Im Bereich der biologischen Systematik hat erst der evolutionsgeschichtliche Ansatz dazu geführt, die Linné’sche Taxonomie mit verbindlicher Substanz zu füllen. Auch im Bereich der Textkritik scheint uns der Einbezug einer genealogische Komponente weiterhin von Bedeutung, um mittelalterliche Varianz ‚zum Sprechen zu bringen‘, aber nur dann, wenn man sich dessen bewusst ist, dass auf diesem Weg keine eindeutigen Lösungen, sondern nur mehr oder weniger wahrscheinliche Erklärungsmöglichkeiten zu gewinnen sind. Dabei wird die Aufklärung der Überlieferung offensichtlich umso schwieriger, je weiter nach ‚oben‘ man in einer stemmatisch dargestellten Überlieferung vordringt: Die Zusammenfassung einzelner Handschriften zu Gruppen gelingt relativ rasch (wenngleich auch die Gruppenzugehörigkeiten wechseln, was sich am einfachsten mit der Annahme von Kontamination erklären lässt). Wie sich diese Gruppen unter-

40

Die Problematik scheint uns etwa an Bumkes letzter Arbeit Zur Textkritik des ‚Parzival‘ ersichtlich zu werden, vgl. Bumke 2010 (Anm. 16). Er geht darin von den Minusversen der Handschrift D aus und kategorisiert diese nach ihrem Umfang und danach, ob durch das Fehlen der Verse ein ‚bruchloser‘ Text entsteht oder nicht. Unter die Kategorie der ‚bruchlosen‘ Minusversstellen im Umfang eines Verspaares (ebd. S. 461) fallen zehn Stellen, von denen vier alleine in D fehlen, sechs jedoch aus dem Verband der oben angeführten Minusverse stammen, die sowohl in *D als auch in *m fehlen. Bumke konstatiert dazu: „Die bruchlosen Minusstellen sind alle bis auf eine syntaktisch selbständig. Hier muß ein Dichter oder ein Redaktor am Werk gewesen sein.“ Dem ist grundsätzlich zuzustimmen, aber es kann sich nicht um ein und denselben Dichter oder Redaktor gehandelt haben, da die Minusstellen auf unterschiedlichen Textstufen auftreten (zumindest gesetzt den Fall, dass die Textversionen *Dm und D bzw. 'D nicht auf dieselbe Person zurückgehen). Zum Problem der historischen Kontextualisierung von Varianten vgl. auch Rüdiger Schnell: Was ist neu an der „New Philology“? In: Alte und neue Philologie. Hrsg. von Martin-Dietrich Gleßgen u. Franz Lebsanft. Tübingen 1997, S. 61–95.

Phylogenese und Textkritik der Parzival-Überlieferung69

einander verhalten, ist fast nie mit letzter Sicherheit festzustellen.41 Stemmatologisch ausgedrückt besteht die Schwierigkeit also in erster Linie bei der Bestimmung der Wurzeln des Handschriftenstammbaums. Dieses Problem ist nun auch in der biologischen Evolutionstheorie bekannt, weshalb nicht nur wissenschaftstheoretische Analogien gezogen, sondern auch Verfahrensweisen der Bioinformatik für textgeschichtliche Untersuchungen eingesetzt werden können, um die nicht restlos aufklärbaren genealogischen Zusammenhänge ‚schwieriger‘ Überlieferungen wie jener des Parzival zu visualisieren und einer modellhaften Beschreibung zuzuführen. III. Die ursprünglich für das Feld der Evolutionsbiologie entwickelten Methoden der Phylogenetik dienen in der Biologie dazu, Verwandtschaftsbeziehungen auf Basis eines DNA-Vergleichs zu rekonstruieren. Eine gängige Darstellungsform aus diesem Bereich sind Phylogramme. Anders als ein traditioneller Stammbaum, dessen Äste und Zweige alle auf einen Ursprung zurückzuführen sind, stellt ein Phylogramm nur die Beziehungen der Arten untereinander dar. Das heißt: Es gibt in der Regel in einem Phylogramm keine Wurzel und auch keinen Ursprung, da ausschließlich Ähnlichkeitsbeziehungen genutzt werden, um die Äste anzuordnen. Dies passt auch zu einem Konzept von Fassungen, die sich eben nicht auf einen einzigen Ursprung zurückführen lassen, wie Bumke sie kennzeichnet. Anstelle von genetischen Codes werden Handschriftentexte gemäß ihrer Gemeinsamkeiten und Abweichungen verglichen, um ein genaueres Bild der Beziehungen der überlieferten Textzeugen untereinander zu gewinnen. Für eine solche Anwendung phylogenetischer Methoden auf nicht-genetische Elemente ist zuletzt die Bezeichnung phylomemetics oder Phylomemetik eingeführt worden.42 Im Folgenden wird erörtert, wie Phylogramme für die Parzival-Überlieferung gewonnen werden können, welche philologischen Entscheidungen und Interpretationen dabei notwendig sind und wo schlussendlich Möglichkeiten und Grenzen für den Einsatz der Phylomemetik für die Untersuchung der Überlieferungsgruppen von Wolframs Parzival liegen. In einem ersten Schritt werden alle Handschriften derselben mindestens 100 Verse umfassenden Textstelle unter Beibehaltung größtmöglicher Handschriftennähe transkribiert.

41

Dies entspricht durchaus dem von Bumke 1996 (Anm. 4), S. 30–32 aufgezeigten Modell, dass sich die Überlieferung mittelhochdeutscher Texte im Verschriftlichungsprozess immer mehr verfestigt, und widerspricht den Annahmen der klassischen Textkritik von der zunehmenden Verderbnis der Überlieferung. 42 Vgl. Christopher J. Howe u. Heather F. Windram: Phylomemetics – Evolutionary Analysis beyond the Gene. In: PLos Biology 9, 2011, 5, S. 1–5.

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Kathrin Chlench und Gabriel Viehhauser

Abb. 3: Transkription und Anordnung der Zeugen 249.27

Die Abbildung zeigt als Beispielausschnitt eine synoptische Darstellung der Transkriptionen zum Parzival-Vers 249.27. In der ersten Zeile ist ein normalisierter Text der Handschrift G (nu wizzet vrouwe mir ist leit) als Vergleichsgröße angegeben, in der zweiten Zeile folgt dann die diplomatische Umschrift der Handschrift D, in der dritten die der Handschrift m, in der vierten die von n usw. Da die Ähnlichkeiten und Abweichungen des handschriftlichen Textbestandes untersucht werden sollen, ist es notwendig, im nächsten Schritt eine Normalisierung der handschriftengetreuen Umschriften vorzunehmen. Andernfalls würden die graphischen Abweichungen der Handschriften mitberücksichtigt werden, was jedoch bei der Untersuchung ausgeklammert werden soll.

Phylogenese und Textkritik der Parzival-Überlieferung71

Abb. 4: Normalisierter Text 249.27

Bei jedem dieser beiden die phylomemetische Untersuchung vorbereitenden Schritte ist bereits eine philologisch motivierte Interpretation eingeflossen: Zuerst bei der Transkription, die zwar nach dem Prinzip der größtmöglichen Handschriftennähe erfolgt, aber dennoch niemals interpretationsfrei sein kann,43 und in einem zweiten Schritt bei der Normalisierung. Gerade bei Handschriften, die im Fall des Parzival zwischen dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts und der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in unterschiedlichen Dialekten geschrieben wurden, ist zu überlegen, inwiefern diachrone und diatopische Veränderungen anzugleichen sind. Ferner muss bedacht werden, ob die grammatischen Kategorien, wie z. B. Tempus, Modus, Flexionsart usw., bei der Normalisierung erhalten werden sollen. Jede Wortform, die in irgendeiner Weise nach dem Normalisierungsprozess von einer anderen ihrer Spalte abweicht, wird bei der phylogenetischen Analyse als eine Differenz gezählt werden. Um die handschriftlichen Texte phylomemetisch weiterverarbeiten zu können, wird jedes einzelne Wort mit seiner Entsprechung im normalisierten G-Text verglichen. Diesen Schritt bezeichnet man als multiple Alinierung. Jedes Wort innerhalb einer Spalte, das keine Abweichung zum G-Text zeigt, wird durch eine 0 ersetzt. Fin43

Vgl. Peter M.  W. Robinson: Computer-Assisted stemmatic analysis. In: Studies in Stemmatology. Hrsg. von Pieter van Reenen u. Margot van Mulken. Amsterdam 1996, S. 71–103, hier S. 100.

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Kathrin Chlench und Gabriel Viehhauser

det sich eine erste Abweichung wie im Fall von wizzet und sprach, wird es durch eine 1 ersetzt, findet sich eine zweite Abweichung wie bei wizzet und sagete, durch eine 2 usw. Wörter, die ausgelassen wurden, wie Nu in den Handschriften D, m, n, o, Fr51 und Fr69 werden durch einen Strich ersetzt. Auf diese Weise entsteht eine Matrix, deren Zeilen und Spalten genau dokumentieren, wo sich Abweichungen finden. Um auch Mutationen der Wort- oder Zeilenreihenfolge erfassen zu können, werden eine oder ggf. mehrere zusätzliche Spalten geschaffen, in der bzw. denen Abweichungen analog zu dem eben beschriebenen System festgehalten werden.

Abb. 5: 0-1-Matrix Alignment

In einem weiteren Schritt rechnet jetzt ein Programm aus, wie viele Abweichungen jede Handschrift zu jeder anderen in Prozent hat und stellt dies in einer Distanzmatrix dar.

Phylogenese und Textkritik der Parzival-Überlieferung73

Abb. 6: Distanzmatrix mit auf drei Nachkommastellen gerundeten Einträgen (1 = 100%)

74

Kathrin Chlench und Gabriel Viehhauser

Überschriften für die Zeilen und Spalten der Matrix sind jeweils die Namen der Handschriften G, D, m, n, o usw.44 Die symmetrische Matrix ist wie folgt zu lesen: Die Abweichungen von G zu sich selbst belaufen sich natürlich auf 0%; die Abweichung von G zu m beträgt ca. 12,7%, die von G zu R ca. 10,3%; die von L zu o ca. 13,6% usw. Die Matrix, in deren Einträgen ein nicht geringer Rechenaufwand steckt, ist Grundlage für alle weiteren Darstellungen, die das typologische Verhältnis der Handschriften zueinander sichtbar machen. Eine solche Darstellung ist das folgende Phylogramm, wie es die Forschergruppe um Christopher Howe der Universität Cambridge mit Hilfe des Programms SplitsTree errechnet hat.45 I

G

Z

R

F51

M

O F21

F36

F40 Q D

L

m n V

T

o

U W

F26

0.01

Abb. 7: Phylogramm 249.1–255.30

An den Endpunkten der Kanten des Phylogramms befinden sich die Handschriften. Diese sind durch Kanten und Knoten miteinander verbunden. Der Baum wurde mit dem Neighbour Joining-Verfahren so konstruiert, dass die Zeugen, die die größte Übereinstimmung aufweisen, jeweils durch einen gemeinsamen Knoten getrennt sind.46 So sind die Handschriften n und o beispielsweise sehr ähnlich, wohingegen 44

Für die Berechnung der Distanzmatrix blieben von vorn herein die Fragmente 60 und 69 unberücksichtigt, da ihr Umfang an der betrachteten Stelle 249.01–255.30 so gering ist, dass aufgrund der Textmenge im phylomemetischen Verfahren keine zuverlässige Zuordnung möglich ist. 45 SplitsTree ist ein open source-Programm, das unter www.spiltstree.org kostenfrei heruntergeladen werden kann. 46 Die Knoten eines Phylogramms geben also die Struktur vor, an denen die Kanten fixiert sind. Dies entspricht – anschaulich dargestellt – einem Mobile, dessen Stangen (= Kanten) an den Gelenkstellen (= Knoten) befestigt sind.

Phylogenese und Textkritik der Parzival-Überlieferung75

M und W durch mehrere Knoten getrennt sind und größere Unterschiede zeigen. Ein Knoten kann als gemeinsamer Vorgänger von dem interpretiert werden, was sich an ihm verzweigt. In das Verfahren der Baumkonstruktion ist nämlich die Annahme des ‚principle of parsimony‘ oder der ‚minimum evolution‘ der Biologie eingeflossen. Diese Prinzipien, die man auch als ‚Prinzip der Einfachheit’ bezeichnen kann, beinhalten, dass es bei Abweichungen zwischen zwei Arten immer eine direkte Verbindung gibt, die im Phylogramm durch einen gemeinsamen Vorgängerknoten repräsentiert ist.47 Ob es einen solchen ‚Vorfahren‘ tatsächlich gegeben hat, ist damit nicht bewiesen, sondern ein modellbedingtes wahrscheinliches Ergebnis; ebenso ist das Aussehen dieses ‚Vorfahren‘ jenseits der Gemeinsamkeiten unklar. Die unterschiedlichen Kantenlängen im Phylogramm geben an, wie viele Abweichungen sich in einem Textzeugen im Vergleich zu anderen finden. So errechnet sich die Kantenlänge vom gemeinsamen Knoten T U bis U aus den Lesarten, die nur in U zu finden sind. Die Kantenlänge von T U V zu T U gibt an, wie viele Lesarten nur T und U gemeinsam sind usw.48 An dieser Stelle soll nochmals der Normalisierungsprozess reflektiert werden. Auf den ersten Blick erscheint es fragwürdig, dass alle Abweichungen nach der Normalisierung gleich behandelt werden. So werden offensichtliche Schreibfehler genauso gewertet wie planvolle Änderungen. Intuitiv würde man die offensichtlichen Fehler gerne aussortieren, um ein ‚richtigeres‘ Phylogramm zu erhalten. Dies ist jedoch nicht notwendig, da eine einzelne Abweichung, die nur an einer Stelle in einer Handschrift zu finden ist, lediglich die Länge einer äußeren Kante verlängert, die zu dieser Handschrift führt. Strukturell ändert sie das Phylogramm nicht, da sie die Knotenbildung nicht beeinflusst. Insofern ist es also ein großer Vorteil des Phylogramms, dass die Varianten nicht nach inhaltlichen Gesichtspunkten sortiert und anschließend gewichtet werden müssen. Strukturbildend hingegen sind Varianten, die sich an einund derselben Stelle in mehreren Handschriften finden – sie werden herangezogen, um die Knoten zu konstruieren. Ein besonderes Augenmerk muss dementsprechend den Veränderungen gelten, die sich in mehreren Textzeugen an gleicher Stelle finden, aber nichts über eine mögliche gemeinsame Vorlage aussagen. Dies sind vor allem Abweichungen, die sich durch eine ähnliche Schreibsprache der jeweiligen Handschriften erklären. Hierzu einige Beispiele: Die frühneuhochdeutsche Apokope wird bereits in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts im Bairischen und bairisch-alemannischen Übergangsgebiet verschriftlicht und breitet sich von dort weiter aus. Ausdrucksseitig ist nach dem Eintreten der Apokope die 3. Person Singular Indikativ Präsens der schwachen Verben nicht mehr von der 3. Person Singular Indikativ Präteritum zu unterscheiden. Deswegen sollten diese beiden Formen bei der Normalisierung, sofern es Handschriften gibt, die in diesem Passus die Apokope verschriftlichen, vereinheit47

Dies impliziert in der Regel eine Bifurkation der Kanten; der Fall, dass drei Handschriften genau dieselbe Anzahl von verschiedenen Abweichungen haben und es zu einem Knoten käme, von dem nicht zwei, sondern drei Kanten zu den Handschriften führen, wäre zwar denkbar, aber überaus unwahrscheinlich. 48 Die Länge der vom Programm gelieferten Skala gibt die Entfernung an, die einem Hundertstel (1%) Abweichung entspricht.

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Kathrin Chlench und Gabriel Viehhauser

licht werden. Ebenso ist bei der pronominalen Adjektivflexion zu bedenken, dass der Nominativ Singular Femininum im Mitteldeutschen auf -e endet und somit stark pronominale und schwache Flexionsart nicht unterscheidbar sind. Auch dies sollte bei der Normalisierung angeglichen werden. Dasselbe gilt für die Flexion und das Aussehen der Pronomina, deren Ausdrucksseite zwischen Mitteldeutschem und Oberdeutschen stark differiert, oder auch für Erscheinungen, die auf den Sprachwandel in frühneuhochdeutscher Zeit zurückzuführen sind, wie Infinitivkonstruktionen mit zu. Alle diese Angleichungen lassen in der Normalisierung einen Text entstehen, der nicht einem normalisierten Mittelhochdeutsch entsprechen muss, sondern lediglich relevante Unterschiede festhält und irrelevante eliminiert, so dass bei der anschließenden Auswertung im Phylogramm eben nicht Phänomene wie Übereinstimmungen der Apokope, Adjektivflexion, Pronomina oder der sich gewandelten Syntax abgebildet werden, sondern tatsächlich eine wahrscheinliche genealogische Dimension konstruiert werden kann. Auf diese Weise werden im Phylogramm die typologischen Beziehungen aller Handschriften zueinander dargestellt. Ein Archetyp kann auf diese Weise nicht gefunden werden, dies war ja auch weder philologisch wünschenswert noch in den verwendeten phylomemetischen Methoden angelegt. Vielmehr sollte das Phylogramm dazu herangezogen werden, die Fassungen greifbar werden zu lassen, wie sie in der neueren Parzival-Philologie herausgearbeitet wurden und bei einer Neuedition zu berücksichtigen sind. Insofern müsste man nun entscheiden, wo man Grenzen zieht, um die an einer Fassung beteiligten Handschriften zusammenzufassen; man müsste das Phylogramm quasi in Teile ‚zerschneiden‘. Wo man dabei ansetzt und wie viele Gruppen bzw. Fassungen man veranschlagt, gibt das Phylogramm selbst nicht vor. Es handelt sich vielmehr um eine Interpretation, die philologisch begründet werden muss. Lässt man nun aber das philologische Wissen um die vier Fassungen des Parzival in das Phylogramm einfließen, dann gehören zur Fassung *D die Handschrift D, zur Fassung *m die Handschriften m n o, zu *G die Handschriften G I O L M Q R Z Fr2 1 Fr36 Fr40 Fr51 und zu *T die Handschriften T U V W Fr26.49 Die vier Fassungen werden durch ihre Anordnung klar greifbar, da alle ihnen zugeordneten Zeugen im Phylogramm beieinander liegen. Es gibt nämlich jeweils einen Knoten, den man als Fassungsknoten bezeichnen könnte. Von diesem führen zwei Kanten und die daran anschließenden Knoten und Kanten zu den Zeugen seiner Fassung; die dritte Kante bildet die Verbindung zu den übrigen Zeugen. Die Knoten symbolisieren die Gemeinsamkeiten aller Handschriften der jeweiligen Fassung; wie die Fassung darüber hinaus ausgesehen hat, lässt sich nicht sagen. Betrachten wir das Verhältnis der Fassungen *T und *G, so gibt es für jede dieser Fassungen einen Fassungsknoten sowie einen gemeinsamen Knoten für *GT. Damit weist das Phylogramm auf eine mögliche Existenz von *GT hin, kann jedoch nicht als Beweis dienen.

49

Ferner wären die bei der phylomemetischen Analyse nicht berücksichtigten Fragmente 60 der Fassung *G und 69 der Fassung *m zuzuordnen.

Phylogenese und Textkritik der Parzival-Überlieferung77

Im hier gezeigten Beispiel passt das Phylogramm also ausgezeichnet zu den philologischen Erkenntnissen. Dies lässt sich jedoch nicht so einfach verallgemeinern, wie sich anhand des Phylogramms für 433.1– 436.30 erläutern lässt. U T R

W

V

L M

Q D O

Z

G I

m o

n 0.01

Abb. 8: Phylogramm 433.1– 436.30

Die Handschrift Z teilt hier einen gemeinsamen Knoten mit D, obwohl sie nach den Erkenntnissen der Philologie zum Zweig der *G-Handschriften G I L M O Q R gehört;50 von diesen ist sie jedoch weiter entfernt als D, dem einzigen Repräsentanten der *D-Version. Dies lässt sich mit zwei philologischen Beobachtungen in Einklang bilden. Erstens gehen *D und *G in diesem Passus (Buch VII–XI) eng zusammen.51 Zweitens ist Z kontaminiert, hat also zwei Vorlagen, eine insgesamt dominierende 50

Problematisch im Phylogramm ist die Stellung der Gruppe *O Q R, repräsentiert durch die Handschriften O Q R, da R einen gemeinsamen Knoten mit dem *T-Zeugen W teilt. Dies mag dadurch zu Stande gekommen sein, dass es generell in diesem Passus wenig Varianz gibt, wobei die Lesarten, die zu dem Phylogramm führen, meist wenig aussagekräftig sind: 433,24: sit D G Z ] omittit I L M; 433.28 der D G M Z ] er I L; 434.1 ouch D G Z ] omittit I L M; 434.9 sider sich D G Z ] sich sît I sich sider L sich M; 434.22 gezert D G L Z ] verzert I M; 435.11 ce versuochen D G Z ] zesuechen I suchen L vorsuchin M; 435.12 do D G L Z ] omittit I M. Insofern wäre es hier dringend geboten, den Textausschnitt zu vergrößern, um ein genaueres Bild zu erhalten. 51 Schon Karl Lachmann stellt im Vorwort seiner Parzival-Ausgabe fest: „Die zahlreichen handschriften des Parzivals (denn von keinem werke des dreizehnten jahrhunderts haben sich so viel erhalten) zerfallen, wie schon eine oberflächliche vergleichung lehrt, in zwei klassen, die durchgängig einen verschiedenen text haben, nur daß im achten und den zwei folgenden büchern (398 –582) der gegensatz fast ganz verschwindet. Lachmann 1833 (Anm. 9), S. XV. Auch Gesa Bonath nennt für diesen Bereich im Vergleich zu den anderen Büchern des Parzival nur wenige Lesarten von *D, die gegen bessere von *G stehen. Vgl. Bonath 1971 (Anm. 13), Bd. 2, S. 28–30. Bonath wertet diese wenigen Differenzen so stark, dass sie folgert, dass *D und *G in diesem Passus übereinstimmen. Vgl. Bonath 1970 (Anm. 13), Bd. 1, S. 62. Vgl. weiter Schöller 2009 (Anm. 12), S. 195–200.

U

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aus dem Zweig der Fassung *G und eine aus dem der Fassung *D, die sorgfältig ineinander gearbeitet wurden,52 wobei Z in den hier untersuchten drei Dreißigern mehr Gemeinsamkeiten mit D hat. Dadurch, dass sich Abweichungen einer Vorlage in einer anderen Handschrift finden, die jedoch nicht deren Kopie ist, wird gegen eine der zugrunde gelegten Annahmen der phylogenetischen Rekonstruktion verstoßen. Der durch die phylomemetische Analyse erzeugte Baum muss dementsprechend eine Darstellung liefern, die der Überlieferung nicht gerecht wird. Wählt man jedoch bei der phylomemetischen Analyse in SplitsTree das Baumformat Network, das nicht dem Prinzip der Bifurkation folgt, sondern auch Querverbindungen zwischen einzelnen Kanten darstellen kann, dann wird die Verwobenheit von Z mit D und G offenbar, die als ‚Kontamination‘ zu interpretieren ist. Das in einem traditionellen Stammbaum nicht darstellbare Phänomen der ‚Kontamination‘ scheint also in diesem phylomemetischen Baum auf. Dabei ist jedoch deutlich geworden, dass zusätzliches philologisches Wissen einzubringen ist, um das Phylogramm sinnvoll zu interpretieren, denn ein Phylogramm ist keinesfalls mit dem ‚wahren Stemma‘ blind gleichzusetzen.53 T

V

O

Z

D

G

0.01

Abb. 9: Network D G Z

Dennoch ist die Phylomemetik ein überaus nützliches und zudem verlässliches Werkzeug. Die Qualität der phylomemetischen Untersuchungsmethoden wurde verschiedentlich geprüft, indem man sie nicht nur auf tatsächliche handschriftliche Überlieferungskorpora anwendete, sondern auch auf künstliche Korpora, die zu ei-

L

52

Bonath bezeichnet den Text der Handschrift Z als „ein interessantes Dokument mittelalterlicher ‚Wolframphilologie‘, denn er ist das Resultat einer außerordentlich sorgfältigen Kontamination zweier Vorlagen“. Vgl. Bonath 1970 (Anm.13), Bd. 1, S. 175, 181–187. 53 Vgl. Zur Problematik einer zu kleinen und zu wenig aussagekräftigen Stichprobe vgl. Anm. 51. mk M

n

ok

Phylogenese und Textkritik der Parzival-Überlieferung79

ner vorgegebenen Überlieferung konstruiert wurden. In beiden Fällen zeigten die gewonnenen phylomemetischen Ergebnisse hohe Übereinstimmungen mit der bisherigen Forschung sowie im zweiten Fall mit der tatsächlichen Überlieferung.54 Dieses Ergebnis erlaubt es, dass man die Phylogramme nicht nur als nachträgliche Bestätigung der philologischen Ergebnisse nutzen kann, sondern dass man umgekehrt auch von den Phylogrammen ausgehen kann, um philologische Überlegungen anzustellen. L

M

R U Q

I G Z D

V W n m

o

V‘

Abb. 10: Phylogramm 793.17–796.30

So können Vorlagenwechsel durch phylomemetische Methoden sichtbar gemacht werden. Während W in den ersten beiden Phylogrammen eine deutliche Nähe zu

54

Vgl. Howe u. Windram 2010 (Anm. 42) , S. 2.

80

Kathrin Chlench und Gabriel Viehhauser

den anderen Handschriften der Fassung *T zeigt, ist W im dritten Phylogramm in der Gruppe der Handschriften der Fassung *m beheimatet. Dass für W ein Vorlagenwechsel angenommen werden muss, steht allein durch seine gewechselte Position im Phylogramm zu vermuten. Tatsächlich hat dies auch die Parzival-Philologie längst nachgewiesen.55 Als ebenfalls überaus hilfreich haben sich Phylogramme bei einer unübersichtlichen Überlieferungslage mit vielen Zeugen erwiesen, da die einzelnen Abweichungen nicht gewichtet werden müssen, sondern eine durchdacht normalisierte Version der einzelnen Texte ausreicht. Auch für Neufunde und ihre Zuordnungen liefert die Phylomemetik brauchbare Ergebnisse. Während ein traditionelles Stemma durch einen Neufund eventuell gänzlich neu überdacht werden muss und eine Fassung nach Bumkes Konzept ihren Status verlieren könnte und zur Bearbeitung wird, sofern sich eine stemmatologische Ableitbarkeit erweisen ließe, lässt sich das Phylogramm einfach neu berechnen; es kann zwar nicht herangezogen werden, um den Status von Fassung oder Bearbeitung im Sinne Bumkes zu beweisen, wohl aber, um die Zugehörigkeit einer Handschrift zu einer Fassung zu begründen.56 Aus den bisherigen Erläuterungen lässt sich nun resümierend festhalten: Phylomemetische Methoden können bei der Untersuchung der Überlieferungsverhältnisse eines Textes sehr nützlich sein, da sie die tatsächliche Überlieferung recht gut abbilden. Sie eignen sich deswegen einerseits dazu, philologische Ergebnisse zu bestätigen, können andererseits aber auch erste Anregungen zu weiterführenden philologischen Untersuchungen geben. Als Input genügt ein sinnvoll ausgewählter und normalisierter Abschnitt aller Überlieferungsträger einer fraglichen Textstelle, wobei in die maschinenlesbare Erfassung und die Normalisierung bereits eine Fülle von philologischen Interpretationen eingeflossen ist. Eine Klassifizierung von Lesarten als sogenannte Trenn- und Binde- oder Leitfehler unterbleibt, ebenso wie eine Gewichtung von Lesarten. Es fließt auch nirgends ein, von wo nach wo sich eine Lesart fortgesetzt haben mag. Insofern handelt es sich um eine typologische Bewertung des Materials, auf deren Basis eine wahrscheinliche genealogische Dimension rekonstruiert wird. Phylomemetische Methoden ersetzen demnach also nicht die philologische Arbeit, da sie eben nicht in allen Teilen die ‚wahre’ Überlieferung eines Textes angeben. Ebenso wenig offenbaren sie automatisch Fassungen. Hier ist und bleibt 55 56

Vgl. Lachman 1833 (Anm.9), S. XVIII; Hartl 1928 (Anm. 13), S. 114–115 und Bonath 1971 (Anm.13), S. 11, 39–51. Hier sei auf den modifizierten Fassungsbegriff von Schiewer verwiesen, der Fassungen nicht durch ihre Ableitbarkeit definiert wissen will, sondern durch die Parameter ‚überlieferungsgeschichtliche und literaturgeschichtliche Relevanz‘: „Die performanzbedingten Gegebenheiten des säkulären mittelalterlichen Literaturbetriebs setzen stemmatologische Argumente außer Kraft, weil wir mit auktorialen, semiauktorialen bzw. redaktionellen Textänderungen rechnen müssen, die nicht ausschließlich und lückenlos auf kontinuierlicher Schriftlichkeit und Vertikalität beruhen müssen.“ Mit dem Adjektiv ‚stemmatologisch‘ wird hier die vertikale Derivation von verschiedenen Textfassungen untereinander gefasst, wie sie ein traditionelles Stemma nahelegt. Stemmatologische Darstellungen, die wie in der Phylomemetik ausschließlich aufgrund von typologischen Merkmalen gewonnen werden und somit auch auf horizontaler Ebene entstandenen Parallelfassungen Rechnung tragen können, scheint er dabei nicht im Blick zu haben, obwohl diese exakt zu seinem Konzept passen. Vgl. Schiewer 2005 (Anm. 8), S. 35–50, hier S. 39.

Phylogenese und Textkritik der Parzival-Überlieferung81

die Philologie gefragt, die ein ‚mehr‘ an Wissen einbringen muss – sei es durch die mediale Beschaffenheit der Handschriften, sei es durch die kritische Auswertung und den Vergleich des Sprachmaterials. Für die Gruppierung und Einordnung von Handschriften in der Editionspraxis eignen sich die Methoden, sofern das Datenmaterial in geeigneter Form aufbereitet und bewertet wird, jedoch hervorragend.57

Abstract This paper seeks to revive the discussion on Bumke’s path-breaking concept of ‘Fassung’ by using an interdisciplinary approach that draws on the methods of evolutionary biology. In biology, unrooted phylogenetic trees (phylograms) are used to visualise the relationship between phenotypes. These phylogenetic procedures can also be applied to manuscript traditions, as it was done with the material of the Parzival-transmission within the Bernese Parzival-project. Since the phylograms show a close agreement to the sortation of the manuscripts that resulted from the application of traditional philological methods, it is a promising approach to reflect on the status of these manuscript-groups as they appear in the phylograms (as mathematically calculated nodes) and in philological research (as textual versions).

57

Der zweite Abschnitt wurde von Gabriel Viehhauser, der dritte von Kathrin Chlench verfasst.

Andreas Fischer, Horst Bunke, Nada Naji, Jacques Savoy, Micheal Baechler and Rolf Ingold

The HisDoc Project. Automatic Analysis, Recognition, and Retrieval of Handwritten Historical Documents for Digital Libraries1

1. Introduction In order to preserve the cultural heritage represented by handwritten historical documents, libraries all around the world digitize large numbers of manuscripts. Storing scanned manuscript images saves the world’s cultural heritage from being lost due to the degradation of paper and parchment and makes the electronic documents easy to access worldwide. After digitization, however, the libraries are facing a challenging and yet unsolved problem: to make the textual content of millions of document images readily accessible to researchers and the public. Such an access could be established in digital libraries with search engines similar to the ones on the Internet. To that end the historical scripts have to be transcribed into machine-readable text. Manual transcription is not feasible in reasonable time considering the large amount of document images. Instead, there is a growing interest in pattern recognition methods that may allow users to create electronic text editions fully automatically or at least support human experts in their work.2 In case of printed documents, commercial systems for optical character recognition (OCR) with near-perfect accuracy exist for modern printings. For historical printings, additional difficulties arise, e.g., because of paper decay, special document layouts, and unusual fonts. While no commercial solution is currently available for mass digitization, there are several projects that aim at making such solutions available in the foreseeable future, for instance the IMPACT project3 that brings together industrial systems as well as state of the art research methods in order to make old printed documents accessible in digital libraries. Handwriting recognition, on the other hand, is still considered largely unsolved in computer science, although it has been an active area of research for more than half a century.4 Standard OCR approaches fail in the presence of unconstrained layouts and highly varying character shapes encountered in handwritten documents. Commercial recognition systems that achieve nearly perfect performance are nowadays only 1

This work has been supported by the Swiss National Science Foundation (Project CRSI22-125220). We want to thank cordially everyone who has helped us building up the database of historical documents, especially Prof. Michael Stolz and Dr. Gabriel Viehhauser (University of Bern), Prof. Christoph Flüeler (University of Fribourg), Prof. Anton Näf (University of Neuchâtel), Max Bänziger (Monumenta project), and Prof. Ernst Tremp (Abbey Library of Saint Gall). 2 Antonacopoulos / Downton 2007. 3 http://www.impact-project.eu (5.9.2013). 4 Lorette 1999.

84

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available for tasks with a restricted vocabulary such as address reading5 and bank check reading.6 Although historical handwritings are often very neatly written, they impose additional difficulties. While modern handwriting spans a rather short period of time, the variety of writing supports, scripts, and languages in historical documents is immense. At the image level, the writing support may interfere with the recognition system, for instance in case of parchment if there are wrinkles, holes, stains, stitches, faded ink, ink bleed-through etc. At the language level, expert knowledge is often needed to provide even basic language information to the recognition system such as an alphabet and a vocabulary. In order to process scanned manuscript images into a searchable electronic text edition, three system components are needed in a typical scenario. First, layout analysis is required to identify text elements on the page image and separate them from margins, illustrations, ornaments, etc.7 Usually, the text foreground is separated from the page background by means of binarization,8 text blocks are segmented into lines,9 and, if possible, lines are segmented into words10 to facilitate further processing. Secondly, handwriting recognition is needed to transcribe the segmented text images into machine-readable text. First attempts towards automatic handwriting recognition in historical documents include, for example, the recognition of old Greek manuscripts,11 medieval Latin manuscripts,12 and letters from George Washington.13 Due to the difficulties involved in historical handwriting recognition, alternatives to an automatic transcription have been pursued, namely keyword spotting14 and semi-automatic transcription with interactive systems.15 Finally, information retrieval is required to perform a robust full text search on the potentially erroneous transcription result.16 The goal is to retrieve documents based on search terms and present them in a ranked list to the users of a digital library, similarly to a search on the Internet. In this paper, we introduce the HisDoc research project,17 short for “Historical Document Analysis, Recognition, and Retrieval”, which has started in 2009 and brings together three partners from the Universities of Fribourg (layout analysis), Bern (handwriting recognition), and Neuchâtel (information retrieval) in Switzerland in order to investigate the complete processing chain needed to integrate historical manuscripts in digital libraries. This research project funded by the Swiss National 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Srihari / Shin / Ramanaprasad 1996. Gorski / Anisimov / Augustin / Baret / Maximor 2001. Namboodiri / Jain 2007. Stathis / Kavallieratou / Papamarkos 2008. Likforman-Sulem / Zahour / Taconet 2007. Manmatha / Rothfeder 2005. Ntzios / Gatos / Pratikakis / Konidaris / Perantonis 2007. Edwards / Teh / Forsyth / Bock / Maire / Vesom 2005. Lavrenko / Rath / Manmatha 2004. Manmatha / Han / Riseman 1996. Bourgeois / Emptoz 2007; Toselli / Romero / Pastor / Vidal 2010. Mitra / Chaudhuri 2000. http://hisdoc.unine.ch (5.9.2013).

The HisDoc Project85

Science Foundation under the Sinergia program is one of the first projects that bring together three lines of research that are usually treated separately. The aim of the HisDoc project is to develop generic methods for historical manuscript processing that can principally be applied to any script and language. Prerequisite for a successful application are a number of annotated manuscript images provided by human experts that enable the training of the generic system for a specific script and language. In the best case, all characters of the alphabet appear in the annotations and a full coverage of the vocabulary can be provided for the language. If a large electronic text corpus is available for the language, it can be used further to train statistical language models. Since handwriting recognition remains a largely unsolved problem, it is important to point out that no error-free transcription can be expected even under such optimal conditions. However, even if errors are present in the transcription, the results may already be sufficient to build a reliable index for searching in digital libraries. Proposed methods are implemented as prototypes and are validated on a certain range of scripts and languages, focussing mainly on medieval manuscripts.

Figure 1: HisDoc modules.

The remainder of the paper is organized as follows. First, we present the database used for experimental evaluation in Section 2. Then, we discuss the current state of the different HisDoc modules separately. An overview of the modules and their linkage is shown in Figure 1. Section 3 describes the layout analysis module, which detects different layout elements on the scanned manuscript pages and provides segmented text line images as an output.18 The text line images are then transcribed by the handwriting recognition module discussed in Section 4. The resulting machine-readable text is finally provided to the information retrieval module presented in Section 5. Conclusions we can draw from the project are stated in Section 6. 18

We decided not to segment the lines into words, since segmentation without handwriting recognition is highly demanding for historical manuscripts and prone to errors that would be propagated to the subsequent modules.

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2. Database In this section, we describe the database of historical manuscripts used for experimental evaluation in the HisDoc project. It was necessary to create a new database because of a severe lack of publicly available research data in this field.19 Following a semi-automatic procedure,20 different annotations have been added to scanned manuscript pages in order to train and evaluate the HisDoc methods. These annotations, which are made by humans and are as free of errors as reasonably possible, are called the ground truth of the pattern recognition problem. In our case, the ground truth consists of boundaries around the layout elements of interest together with machine-readable transcriptions of individual text lines. The database has been made freely available online.21

Figure 2: From left to right: exemplary images of the Saint Gall data set (Cod. Sang. 562, page 7), the Parzival data set (Cod. 857, page 36), and the George Washington data set (Letterbook 1, page 300).

19

Partly, the lack of data can be explained by the high human effort needed to create a database. But unfortunately, copyright constraints can also prohibit the free distribution of research data in this field. 20 Fischer / Indermühle / Bunke / Viehhauser / Stolz 2010. 21 http://www.iam.unibe.ch/fki/databases/iam-historical-document-database (5.9.2012).

The HisDoc Project87

Data Set

Century

Script

Language

Writers

Pages

Saint Gall

9th

Carolingian

Latin

1

60

Parzival

13th

Gothic

German

3

47

George Washington

18th

Longhand

English

2

20

Table 1: Data set statistics

In order to include a certain range of scripts and languages, we have annotated three different data sets, namely the Saint Gall, the Parzival, and the George Washington data set. Basic statistics are listed in Table 1, exemplary images are shown in Figure 2, and a short description of each data set is provided in the following. 2.1. Saint Gall data set The Saint Gall data set is based on a medieval Latin manuscript from the 9th century that contains the hagiography Vita sancti Galli by Walafrid Strabo. In his work, Strabo describes the life of Saint Gall who gave the name to the later established Abbey of Saint Gall, Switzerland. The Abbey Library holds a manual copy of the work within the Cod. Sang. 562, which was written by a (probably) single experienced hand in Carolingian script with ink on parchment. 60 manuscript pages are included in the data set.22 The digital images of the manuscript were made available online by the e-codices project,23 a virtual manuscript library from the Medieval Institute of the University of Fribourg, Switzerland. A text edition of the manuscript was attached at page level to the e-codices images by the affiliated Monumenta project24 based on the Patrologia Latina edition.25 Besides the Cod. Sang. 562, we are currently annotating other Latin manuscripts with Carolingian script, for instance the Cod. Sang. 231, which is used in this paper to evaluate the layout analysis module. 2.2. Parzival data set The Parzival data set is based on a medieval German manuscript from the 13th century that contains the epic poem Parzival by Wolfram von Eschenbach. There exist several manual copies of the poem that differ in writing style and dialect. For the Parzival data set, the Cod. 857 held by the Abbey Library of Saint Gall, Switzerland is considered. It was written in Middle High German by several scribes with ink on

22 23 24 25

Cod. Sang. 562, pages 3–50 and 54 – 65. http://www.e-codices.unifr.ch (6.9.2012). http://www.monumenta.ch (6.9.2012). J.-P. Migne PL114, 1852.

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parchment using Gothic minuscules. 47 pages written by three writers are included in the data set.26 The manuscript was digitized by the German Language Institute of the University of Bern, Switzerland. Based on the TUSTEP software27 for managing transcriptions of Latin and non-Latin manuscripts, an electronic manuscript edition was created and published on CD-ROM.28 2.3. George Washington data set The George Washington data set is based on English letters written by George Washington and his associates in the 18th century with ink on paper. They were digitized and made available online by the Library of Congress alongside with transcriptions.29 20 pages are included in the data set.30 The corresponding letters were written between October and December 1755 by George Washington and one of his aide-decamp. Several other researchers before have used the same letters, e.g., Lavrenko / Rath / Manmatha 2004 for word recognition and Rath / Manmatha 2007 for keyword spotting. Although the ground truth differs slightly from our own, it allows us to make a comparison with previous results for the handwriting recognition module.

3. Layout Analysis The HisDoc layout analysis module detects different graphical elements on scanned manuscript pages and provides segmented text line images as results, which are used afterwards in the handwriting recognition module. In order to train the layout analysis module for a specific type of document, a number of learning samples in form of annotated images are needed initially. That is, a human user has to mark the different graphical elements on scanned page images, for example, colored initials, text blocks, text lines, etc. To facilitate this process, we have devised a semi-automatic system that proposes possible annotations to the user who can edit and correct them.31 3.1. Methods The proposed layout analysis method follows a pyramidal recognition approach as illustrated in Figure 3. First, each pixel of a downscaled, small page image is classified into foreground, background, or out of page. Next, the foreground and the background

26 27 28 29

Cod. 857, pages 6 –10, 33 – 39, 43 –  44, 124  –127, 143 –144, and 262 –288. http://www.tustep.uni-tuebingen.de (6.9.2012). http://www.parzival.unibe.ch (6.9.2012). George Washington Papers at the Library of Congress from 1741–1799, Series 2, to be found at http:// memory.loc.gov/ammem/gwhtml/gwseries2.html (6.9.2012). 30 Letterbook 1, pages 270 – 279 and 300 – 309. 31 Baechler / Bloechle / Ingold 2010.

The HisDoc Project89

are refined to text blocks and out of text blocks based on a higher image resolution. Out of text blocks includes illustrations, ornaments, colored initials, marginalia, etc. Finally, the text blocks are refined to text lines using a detailed, large image. The recognition system used is a special form of neural network. Pixels are classified based on several features that include the position, the color, the color of neighboring pixels, and the classification output from the preceding level of the pyramid. For more details on the recognition system and the features, we refer to Baechler / Ingold 2011.

Figure 3: Pyramidal approach to extract foreground, text blocks, and text lines (Cod. Sang. 231, page 14).

3.2. Results A first experimental evaluation was conducted on the Cod. Sang. 231 (see Section 2.1). The first 10 pages of the manuscript are used as learning samples. On the next 50 pages, the system performance is measured. Pixel Class

Error Rate

Background

9.8%

Text Blocks

11.8%

Text Lines

7.8%

Table 2: Layout analysis errors.

90

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Table 2 lists the error rates, i.e., the percentage of wrongly recognized pixels, for the background, the text blocks, and the text lines. Not included in the table are the out of page class, which is almost perfectly recognized, and the decoration and degradation classes, for which the system fails so far.

Figure 4: Learning sample for handwriting recognition.

The results serve as a solid proof of concept for the pyramidal approach. In a next step, individual lines have to be extracted from the text line pixels. The performance of this next step, which is also the final performance of the layout analysis module, remains unknown at the moment. The qualitative results shown in Figure 3 indicate a high potential to achieve an accurate line segmentation.

4. Handwriting Recognition In this section, the HisDoc handwriting recognition module is described. It receives text line images as input and automatically creates a machine-readable transcription. In order to train the module for a specific script and language, several prerequisites must be met: 1. A number of learning samples must be provided by human experts in form of text line images together with their machine-readable transcription. They are used to train character appearance models, which become more robust the more learning samples are provided. An exemplary learning sample is shown in Figure 4. 2. A vocabulary is needed for the language, preferably together with inflection rules, common abbreviations, and other spelling variants. In contrast to OCR for printed documents, recognition is performed at word level and hence a set of valid words is required to transcribe a text line image. 3. If available, a large electronic text corpus can provide useful information for the recognition. Besides an extraction of vocabulary words, such a corpus can be used to build statistical language models32 that estimate the probability of co-occurrences for consecutive words. These prerequisites are rather demanding and cannot always be met. The HisDoc module is, in fact, also capable to work with less prerequisites, namely for keyword

32

Marti / Bunke 2001.

The HisDoc Project91

spotting33 which does not require a vocabulary and for transcription alignment34 which aligns existing, possibly erroneous transcriptions with manuscript images. Both system variants are novel contributions of the HisDoc project, but beyond the scope of this paper. For a detailed discussion, we refer to the publications mentioned. 4.1. Methods In a pre-processing step, the skew, i.e., the inclination of the text line, and the slant, i.e., the inclination of the characters, are removed and the width and height of the images are normalized.35 This pre-processing step aims at reducing the variation between different writing styles before recognition. For recognition, handwritings impose a challenging problem also known as Sayre’s paradox.36 For printed documents, text lines can typically be segmented into character images before recognition. Then, single character recognition is performed. Because of the high variation in character shapes and ligatures, this is usually not feasible for handwriting. A reliable segmentation requires recognition, but a reliable recognition requires segmentation. To resolve this paradox, text lines are usually over-segmented into small pieces, which are then connected to characters, words, and sentences during recognition. Only few recognition systems exist that can cope with this situation. In the HisDoc project, we use hidden Markov models (HMM)37 and special neural networks (NN)38 to model the character appearance. In our typical setting, they rely on nine geometrical features39 that describe the character pieces with the position of the contours, the inclination of the contours, the number of foreground-background transitions, etc. We have also developed novel graph-based features40 that have shown high potential for increasing the recognition accuracy for medieval scripts. 4.2. Results Experiments are conducted on the three data sets described in Section 2. Each data set is first split into a training, validation, and test set. Character appearance models are trained on the training set and various system parameters are optimized on the validation set. Also, the training and validation set are used for estimating a bigram language model, i.e., the co-occurrence probabilities of two consecutive words. The vocabulary is built over the complete data set. In this closed vocabulary scenario, errors stemming from unknown words are disregarded. Finally, the system perfor-

33 34 35 36 37 38 39 40

Fischer / Keller / Frinken / Bunke 2012; Frinken / Fischer / Manmatha / Bunke 2012. Fischer / Frinken / Fornés / Bunke 2011; Fischer / Indermühle / Frinken / Bunke 2011. Marti / Bunke 2001. Sayre 1973. Ploetz / Fink 2009. Graves / Liwicki / Fernandez / Bertolami / Bunke / Schmidhuber 2009. Marti / Bunke 2001. Fischer / Riesen / Bunke 2010.

92

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mance is measured on the independent test set in form of a word error rate, that is, the percentage of words that are wrongly recognized. Data Set

Training

Alphabet

Vocabulary

HMM

NN

Saint Gall

468

49

5762

10.6%

6.2%

Parzival

2237

93

4934

15.5%

6.7%

George Washington

325

82

1471

24.1%

18.1%

Table 3: Word recognition errors.

Table 3 lists three important statistics, i. e., the number of text lines used for training, the number of characters in the alphabet,41 and the number of words in the vocabulary, alongside with the word error rates achieved for HMM-based and NN-based recognition on the test set. With respect to the nine geometrical features used, the NN-based system significantly outperforms HMM-based recognition. The word error rate is considerably higher for the George Washington data set. In this case, the small amount of 325 learning samples were not sufficient to cope with the variable shapes of the 82 characters. Still, the achieved 18.1% word error rate ranks among the top results reported for this data set.42 When compared with a state-of-the-art error rate of about 26% for modern English handwritings,43 the 6.2% error rate achieved for the Carolingian script of the Saint Gall database and the 6.7% achieved for the Gothic script of the Parzival database are promising results. As expected, no error-free transcription is feasible, but the low error rates encourage the development of semi-automatic tools that can support human experts in the creation of electronic text editions. Note, however, that these results describe an isolated assessment of the handwriting recognition module. Errors stemming from the layout analysis module are not yet included as well as out-of-vocabulary errors that occur if words are missing in the vocabulary. Also, we cannot predict with these experiments how well, for example, the system trained on the Saint Gall database would perform without retraining for other Carolingian manuscripts. We intend to perform some of these studies in the future, especially the conjoint evaluation of layout analysis and handwriting recognition.

5. Information Retrieval The HisDoc information retrieval module receives machine-readable texts as input and performs a full text search on them. The users of digital libraries can then be presented with a ranked list of manuscripts as a result, similarly to a search on the In-

41 42 43

Including punctuation marks, special abbreviation symbols, etc. Howe / Feng / Manmatha 2009; Lavrenko / Rath / Manmatha 2004. Espana-Boquera / Castro-Bleda / Gorbe-Moya / Zamora-Martinez 2011.

The HisDoc Project93

ternet.44 When compared with a search on a perfect transcription, a special challenge is to cope with the errors of the handwriting recognition module. 5.1. Methods First, the search terms and the machine-readable texts are normalized in order to take different spelling variants into account. Inflectional variants (e.g., “Parcival”, “Parcivale”, and “Parcivals” in the Cod. 857) as well as orthographical variants (e.g., “Parcival”, “Parcifal”, and “Parzifal” in the Cod. 857) can be treated as the same entity if desired by the user. Prerequisite is the availability of rules or lists of the spelling variants. If this information is not available we also consider generic alternatives such as truncation and n-gram representation.45 Afterwards, the relevance of the normalized texts has to be determined for ranking with respect to the search terms. Instead of simply ranking them by the frequency of the search terms in the text, the state of the art provides a number of more reliable models. We have taken five models into account, two vector space schemes (Lnu-ltu, tf idf), two probabilistic models (Okapi, DFR-I(ne)B2), and a language model. For more details, we refer to Naji / Savoy 2011.

Figure 5: Multiple hypotheses representation.

A special multiple-hypotheses text representation has been developed in the HisDoc project to deal with recognition errors. The handwriting recognition module not only provides the most likely transcription of a text line image, but also several word hypotheses together with their likelihood. Alternative hypotheses are added to the text representation if their likelihood is close to the best result, i.e., if there is a high chance of confusion. An example is shown in Figure 5. The correct transcription, which is emphasized in the figure, corresponds in most cases with the best result. However, the third word was wrongly recognized as “dine” instead of “dirre”, which appears as the second best result. Because the likelihood of

44 45

Manning / Raghavan / Schütze 2008. McNamee / Mayfield 2004.

94

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“dirre” is close to the likelihood of “dine” there is a high chance of confusion and the hypothesis is added to the searchable text. 5.2. Results A first module evaluation has been performed on the Parzival data set (see Section 2). Instead of text line recognition (see Section 4), we have recognized pre-segmented word images, which simplifies the generation of multiple recognition hypotheses. The corresponding word error rate is around 6%. In the chosen setting, the user enters one up to three words as search terms in order to find a particular text line of interest. The user input is simulated for 60 text lines of interest by a random selection of search terms according to Azzopardi / de Rijke 2006. The system performance is measured by the mean reciprocal rank, which is high if the text lines of interest appear in the top ranks. We have compared the retrieval performance for a perfect transcription with the performance for an automatic transcription. For the latter, we have distinguished between the standard single-hypothesis representation and the proposed multiple-hypotheses representation. The results are listed in Table 4 for single search terms as well as for three search terms. They are expressed as the performance loss in percentage when compared with a perfect transcription, averaged over the five retrieval models used (see Section 5.1). As a first observation, the loss in retrieval performance is below the 6% word error rate of the handwriting recognition module in all cases. This is a promising result and shows that the information retrieval module can, indeed, cope with errors in automatic transcriptions. Secondly, we report a significant improvement of the retrieval performance with the proposed multiple-hypotheses representation in case of single search terms. For a higher number of search terms, the standard single-hypothesis representation performed better. Overall, the results encourage the use of automatic transcriptions for searching in digital libraries. Even if the transcriptions contain errors they can be used to retrieve manuscript images based on their textual content. In future studies, we intend to integrate text line recognition instead of single word recognition, to extend the experiments to the other HisDoc data sets, and to perform a conjoint evaluation together with the layout analysis module. Another open issue is the automatic generation of user inputs. It would be desirable to integrate search requests from real users.

6. Conclusions In this paper, we have introduced the HisDoc research project, which aims at developing tools to support cultural heritage preservation by making historical documents, particularly handwritten medieval manuscripts, electronically available for access in digital libraries. The aim is to develop generic methods for an automatic transcription of scanned handwritings into a machine-readable text that can be easily adapted to different scripts and languages. The processing chain starts with a scanned page im-

The HisDoc Project95

age and involves layout analysis, handwriting recognition, and information retrieval. HisDoc is one of the first projects that bring together these three lines of research that are usually treated separately. A new database containing three different manuscripts was created in order to evaluate the HisDoc methods and was made publicly available online. The Saint Gall data set contains scanned pages from a 9th century Latin manuscript written in Carolingian script, the Parzival data set from a 13th century German manuscript written in Gothic script, and the George Washington data set from a 18th century English letters collection written in longhand script. The layout analysis module pursues a pyramidal recognition approach to recognize different graphical elements on scanned manuscript pages. It is adapted to specific manuscript types with a number of annotated page images that serve as learning samples. The final output of the module consists of segmented text line images. A first experimental evaluation on a Carolingian manuscript provided a proof of concept for the pyramidal approach. In a next step, text line segmentation is needed to extract individual lines from the recognition output. Qualitative results indicate a high potential for accurate line segmentation. The handwriting recognition module includes two recognition models, namely hidden Markov models and special neural networks, to transcribe text line images into machine-readable text. Mandatory prerequisites for an application of the module are, first, the availability of learning samples (text line images together with their correct transcription) and, secondly, a vocabulary of words for the language under consideration. First results of an individual assessment of the module are promising, especially for the Carolingian script of the Saint Gall data set, where a word error rate of 6.2% is reported, and for the Gothic script of the Parzival data set, where a word error rate of 6.7% was achieved. As expected, no error-free transcription is feasible, but the low error rates encourage the development of semi-automatic tools that can support human experts in the creation of electronic text editions. The information retrieval module includes five retrieval models to perform a full text search on the automatic transcription results. In a first experimental evaluation on the Parzival data set, the loss in retrieval performance was below the achieved word error rate when compared with a perfect transcription. This is a promising result and shows that the information retrieval module can, indeed, cope with errors in automatic transcriptions. For single search words, we have further shown that the performance can be significantly improved by means of a multiple-hypothesis representation of the transcription. Overall, the results encourage the use of automatic transcriptions for searching in digital libraries. Even if the transcriptions contain errors they can be used to retrieve manuscript images based on their textual content. Future work in the HisDoc project will include, foremost, a conjoint evaluation of the three modules to obtain a global assessment of the HisDoc methods. Furthermore, we aim at investigating possible feedback loops between the modules, for instance by supporting the layout analysis module with handwriting recognition capabilities. The possibility to investigate interactions between the three different modules is one of the great benefits of the multidisciplinary approach pursued in the HisDoc project.

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Andreas Fischer, Horst Bunke, Nada Naji, Jacques Savoy, Micheal Baechler and Rolf Ingold

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Abstract This paper gives an overview of the HisDoc project, which aims at developing adaptable tools to support cultural heritage preservation by making historical documents, particularly medieval documents, electronically available for access via the Internet. HisDoc consists of three major components. The first component is image analysis. It has two main goals, namely image enhancement, which aims at improving image quality in order to simplify all subsequent processing steps, and layout analysis, which aims at providing a structural description of the scanned document pages. The second component is text recognition. The project strives to develop flexible and robust recognition systems that are suitable to automate the transcription of historical texts. In this context, flexibility means that the system can be adapted to new writing styles without great effort, and robustness means that the recognizer should attain a high rate of correctly recognized words. The third component is information retrieval. Methods are sought to allow effective information retrieval from non-perfectly transcribed texts.

Jochen Strobel

Die Normierung von Metadaten als Standardisierungsinstrument in der digitalen Briefedition

Der Trend zur Digitalisierung archivarischer, bibliothekarischer und editorischer Daten beschert der Briefforschung besondere Vorteile, und auf die Nutzerperspektive wissenschaftlicher Briefeditionen zielt das hier geführte Plädoyer ab: Es steht etwa zu hoffen, dass mit einer zunehmenden Digitalisierung von Archivgut auch die Quellenbasis für umfängliche, über das Briefwerk eines Schreibers hinausgehende digitale Briefeditionen verbreitert wird. Mehr und mehr kann sodann auch an die Vernetzung von zunächst separat voneinander entstehenden Editionen gedacht werden. Dies klingt zugleich utopisch, wenn man sich die Heterogenität der bereits vorliegenden, aber auch der entstehenden Briefeditionen vergegenwärtigt. Heterogen sind sie in höherem Maß aufgrund jeweiliger Entscheidungen hinsichtlich der Textkritik sowie aufgrund der je verwendeten Metadaten als aufgrund technischer, informatischer Standards. Es soll hier erstens darum gehen, gleichsam die Notwendigkeit briefeditorischer Diversität aus den Eigenheiten der Textgattung heraus zu rechtfertigen – es wäre also naiv, zu glauben, Brief sei gleich Brief –, zweitens sind wenigstens exemplarisch Probleme der Standardisierung, wie sie in der Diskussion immer wieder aufgeworfen werden, zu benennen. Zugleich ist eine Lanze zu brechen zugunsten einer weitgehenden Normierung brieflicher Metadaten. Schließlich soll drittens, aus diesen Überlegungen heraus, ein 2012 begonnenes Forschungsprojekt vorgestellt werden, das auf die Digitalisierung und elektronische Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels abzielt.

1. Der Blick der Kulturwissenschaften auf den ‚Brief‘ ist bis heute zumeist geschult an den breiten Strömen autographer Überlieferung aus den Nachlässen von Künstlern, Gelehrten oder auch Staatsmännern des 18. bis 20. Jahrhunderts. Oftmals ging die Entscheidung darüber, ob ein Brief aus dem immensen postalischen Material überleben durfte, auf die Vorstellungen und besonderen Interessen von Sammlern, von Auktionatoren, Archivaren und Bibliothekaren vor allem des 19. Jahrhunderts zurück, die das Autograph – und das hieß schon aus Gründen der Quantität fast immer: den Brief – als zweite Physiognomie seines Schreibers verstanden wissen wollten. Nicht die auf den Dachböden der Bürger vielleicht zufällig gelandeten Familienbriefe schlechthin, sondern die als Sammelobjekte für würdig befundenen Briefe werden als Archivalien bald auch zur Quelle für Forscher und manchmal zur Lektüre für Lieb-

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Jochen Strobel

haber. Briefe werden in der Regel auf die Biographie einer Person hin, meist die des Schreibers, oft auf ein Œuvre hin gelesen und bald auch ediert. Bis heute ist Brief­ edition in der Regel mit einer einst dem Mythos der großen Persönlichkeit, heute oft auch wissenschaftlicher Ökonomie geschuldeten Hartnäckigkeit personenzentriert. Vieles spricht dafür, Briefkultur oder Briefkommunikation auch dort, wo es um Künstler, Wissenschaftler, Staatsmänner geht, ganz anders strukturiert zu denken, nämlich netzwerkförmig, in aller Regel auch interkulturell. Auch wenn es um alltagsund mentalitätsgeschichtliche oder ethnologische Forschungsinteressen geht, genügt die Konsultation personenbezogener Briefausgaben nicht. Es muss kaum begründet werden, dass der ‚große Mann‘ – wie immer er heißen mochte – auch nur Schnittstelle bei den in Briefen diskutierten Themen seiner Zeit war, dass die Briefe etwa eines Schriftstellers auch Schnittstelle zwischen ‚Werk‘ und intertextuellen Referenzen sein können. Wo die Dichte herkömmlicher Briefeditionen hoch ist – aus germanistischer Sicht etwa um 1800 –, konnte man sich bereits zu Zeiten gedruckter Briefausgaben diese Dimension der Vernetzung vorstellen. Zu erinnern ist an die 1966 begründete Berliner ‚Zentralkartei der Autographen‘, jene kumulative Sammlung von abertausend Katalogkärtchen aus den Beständen deutscher Bibliotheken und Archive,1 von denen die allermeisten Einzelbriefe repräsentierten. Benutzer jener konventionellen ‚Suchmaschine‘ durften sich wünschen, in absehbarer Zeit wenigstens im deutschsprachigen Raum mit gewisser Vollständigkeit Orte und Signaturen der überlieferten Korrespondenz eines Schreibers oder Empfängers rekonstruieren zu können, dessen Systemstelle im großen Netzwerk der jeweiligen Zeit somit nachvollziehen zu können. Das epistolare Kommunikationsnetz einer Person oder eines Personenkreises zu kennen, gar die verhandelten Themen, Schreibanlässe und Schreibweisen zu überblicken und somit möglichst viele Informationen auch über einen nicht edierten Brief zu erhalten, dies wird sich mit dem elektronischen Nachfolge-Tool der Zentralkartei, also Kalliope, gewiss bald realisieren lassen.2 Briefe funktionieren nicht werk-, sondern netzförmig; Briefeditionen als Personaleditionen überspielen geradezu historische Kontingenzen, indem sie die Ordnung einer Biographie oder die scheinbar zwingende Entstehungsabfolge eines Lebenswerkes zu simulieren versuchen. Zwar ist der Brief eine Gebrauchsform; dennoch liegt kein Irrtum vor, wenn sich ausgerechnet Literaturwissenschaftler der Briefforschung besonders annehmen, gibt es doch eine seit langem anhaltende Traditionslinie der Verschränkung von Brief und Fiktion, von Brief und literarischem Kunstwerk, die bekanntlich im 18. Jahrhundert einsetzte, mit dem europäischen Briefroman und einer Subjektivierung und Sentimentalisierung des Privatbriefs. Freilich dürfen diese ästhetisierenden Parameter nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Brief trotz einer bis ins 20. Jahrhundert hinein noch erkennbaren rhetorischen Normierung in textsemantischer Hinsicht eine Wunderkammer mit kaum beherrschbaren Prä- und Kontexten ist. Eine Kommentierung oder zumindest eine semantische Tiefenerschließung in Gestalt einer Verschlagwor-

1

Vgl. Jutta Weber: Die Zentralkartei der Autographen. Neue Angebote und Kooperationsmöglichkeiten. In: editio 13, 1999, S. 205 – 214. 2 http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de/ (10.9.2012).

Die Normierung von Metadaten als Standardisierungsinstrument in der digitalen Briefedition101

tung ist fast immer dringend notwendig – insbesondere, weil Briefe systembedingt vieles verschweigen oder auf vieles nur anspielen, was den Korrespondenzpartnern aufgrund vorausgegangener mündlicher Kommunikation oder auch aus gemeinsamem, von uns heutigen Lesern nicht mehr geteiltem Alltags- oder auch Spezialwissen bekannt ist. Der Brief ist ein Medium der Entgrenzung – er lässt sich weder auf ein Werk oder auf einen Schreiber als Autor beschränken noch kann mit gutem Grund ein Briefwechsel für sich gelesen werden. Jeder Briefeditor wird sich seiner Verantwortung für künftige Nutzer mit ihren heute kaum absehbaren Forschungsinteressen bewusst sein und nach bestem Wissen in der Auszeichnung (und damit der Registererstellung) Schwerpunkte setzen – diese werden von Projekt zu Projekt, von Quellenkorpus zu Quellenkorpus differieren. Positiv gewendet: anders als die große, trennscharfe historisch-kritische Werkedition eines ‚klassischen‘ Autors ist die Briefedition prädestiniert für einen möglichst umfassenden, besonders auch internationalen Zuschnitt, welcher der Netzwerkförmigkeit der Briefkultur Rechnung trägt. Das Zeitalter des digitalen Edierens sollte also zugleich eine große Ära der Briefedition einläuten. Wo sonst ist die Schwerfälligkeit dickleibiger Bände, in denen der Nutzer nach einzelnen, seine momentanen Forschungsinteressen betreffenden Texten sucht, so anachronistisch wie im Umgang mit Briefen? Wo sonst ist die durch die Buchedition beförderte lineare Lektüre über weite Strecken so unwahrscheinlich, kommt es auf die nach Nutzerinteresse individuelle Zusammenstellung von Daten so sehr an wie beim Brief? Wo sonst ist so sehr an der Präsentation von Metadaten bis hin zu Verschlagwortung oder Sachkommentar gelegen wie beim Brief? Doch wo sind einheitliche editorische Standards angesichts semantischer und formaler Diversität der Textzeugen zugleich so schwer zu haben?

2. Wenn von Standardisierung in der geisteswissenschaftlichen Editionspraxis die Rede ist, dann ist selbstverständlich vor allem an die Richtlinien zur Textauszeichnung zu denken, also an die „als De-facto-Standard akzeptierte[] Datenauszeichnung nach den Richtlinien der TEI“.3 Es ist zweifellos wünschenswert und mutmaßlich weithin auch bereits Praxis, dass sich mehr und mehr Editoren auf XML und die spezifisch abgewandelten Konventionen der TEI-SIG Correspondence berufen, so etwa das Schweizer Alfred-Escher-Projekt, das 2012 erste Ergebnisse vorlegte.4 An die aktuel-

3

Friederike Zelke: [Tagungsbericht:] Digitale Briefeditionen. Tagung an der Staatsbibliothek zu Berlin, 21./22. Oktober 2010. In: editio 25, 2011, S. 195 –199, hier S. 199. 4 „Sämtliche Briefe werden im XML-Format mit einer Minimalauszeichnung versehen. Dazu gehört neben dem Erfassen der Metadaten (Sender, Empfänger, Briefdatum, Wochentag, Provenienz, Schlagwörter) die Kennzeichnung aller genannten Personen und Orte mit einer eindeutig identifizierbaren Normbezeichnung in moderner Orthographie. Weiterhin werden systematisch erwähnte Datumsangaben, Abkürzungen und erwähnte Escher-Korrespondenz gekennzeichnet. [...] Begleitend und ergänzend zu den Briefen werden verschiedene weitere Texte und Dokumente erstellt, für die, wie für die Briefe, das XML-Dateiformat verwendet wird. Die Struktur der Dokumente wird in DTDs oder XML-Schemata definiert, die sich an den Richtlinien der Text Encoding Initiative (TEI) orientieren“ (http://www.briefedition.alfred-escher.ch/ziele-und-prinzipien [10.9.2012]).

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Jochen Strobel

len Guidelines, wie Peter Stadler sie für die Carl-Maria-von-Weber-Edition erarbeitet hat, wird sich auch das hier vorzustellende Projekt zu August Wilhelm Schlegel halten. Die Verantwortlichen der ‚Special Interest Group‘ verhehlen nicht, dass sie ihre Regeln anhand von Briefen des 19. Jahrhunderts entwickelt haben, an Material also, das aus neugermanistisch-editorischer Sicht als geradezu typisch zu bezeichnen wäre. Es wird zugleich heute niemand leugnen, dass mit jeder neu beginnenden digitalen Briefedition, zumal weltweit betrachtet, neue Konventionen erprobt werden. Damit sind auch Abweichungen innerhalb der TEI-SIG-Guidelines Correspondence gemeint, die derzeit diskutiert werden.5 Hubert Stigler bemerkte im Oktober 2011 in Weimar, die Beschreibung und Realisierung editorischer Workflows stellten noch ein Desiderat dar.6 Auch ein erster Blick auf einige im Netz publizierte Briefeditionen lässt erkennen, dass die Vielzahl zu treffender Entscheidungen die Festlegung umfassender, über die XML-Codierung hinausreichender Standards wohl auf längere Sicht unwahrscheinlich macht. Auf den ersten Blick sehr unterschiedlich sind schon die Präsentationsoberflächen, damit einhergehend der Lese- und Suchkomfort. Die sehr avancierte Escher-Briefedition verknüpft wohl erstmals Faksimile und diplomatischen Text in einer Zeile-für-Zeile-Ansicht, die editorische Entscheidungen unmittelbar überprüfbar macht.7 Die zugrunde liegenden Datenbankstrukturen differieren von Projekt zu Projekt oder sind anbieterspezifisch. Verdienstvolle Retrodigitalisierungsprojekte wie das Heine- und das Grabbe-Portal stehen unverbunden nebeneinander.8 Als Winfried Woesler 1991 die Standards für die Briefedition des späten Gutenberg-Zeitalters publizierte, benötigte er einen Katalog von 126 Punkten, die von einer eher engen Briefdefinition über die formale Präsentation bis zum Apparat reichten. So deklarierte er etwa, „Computerbriefe“9 würden in der Regel nicht aufgenommen. Dass die Zahl der Differenzkriterien für die digitale Briefedition nicht kleiner geworden sein kann, liegt auf der Hand – die Richtlinien für die Carl Maria von Weber-Briefausgabe umfassen etwa 30 Druckseiten –;10 dass schon Woeslers Vorschläge eine Diskussionsgrundlage boten und eben auch keine Norm, ebenfalls. Eine gewisse Permanenz textgattungstypischer Konventionen – die wir manchmal unbewusst an das 18. Jahrhundert, das „Jahrhundert des Briefes“11 also, anlehnen – darf nicht davon ablenken, dass es sich selbst beim Objekttypus, den wir Brief nennen, um heterogene Zeichenkonfigurationen handelt, die sich im Zeitalter der gedruckten Edition noch viel schwerer als heute vollständig editorisch übertragen

5 6

7 8 9 10 11

Vgl. http://wiki.tei-c.org/index.php/SIG:Correspondence/EncodingComparisons (10.9.2012). Vgl. Zelke 2011 (Anm. 3) sowie den Bericht zur Weimarer Tagung ‚Briefedition im digitalen Zeitalter‘, 5. – 7.10.2011: http://h-net.msu.edu/cgi-bin/logbrowse.pl?trx=vx&list=H-Germanistik&month=1112­ &week=a&msg=MOi9kquqYEHUNfsRw93AQw&user=&pw= (10.9.2012). Vgl. Anm. 4. Vgl. http://www.heine-portal.de und http://www.grabbe-portal.de (10.9.2012). Winfried Woesler: Vorschläge für eine Normierung von Briefeditionen. In: editio 2, 1988, S. 8 –18, hier S. 9. http://www.weber-gesamtausgabe.de/de/Editionsrichtlinien (10.9.2012). Georg Steinhausen: Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes, Bd. 1. Leipzig 1889, S. 245.

Die Normierung von Metadaten als Standardisierungsinstrument in der digitalen Briefedition103

ließen. Folglich setzten Editoren immer schon Schwerpunkte, beschränkten sich etwa auf den ‚eigentlichen‘ Brieftext und vernachlässigen die Materialität des Briefs, waren auf den Schreiber als ‚Autor‘ fixiert und marginalisierten Adressaten und mögliche Mit-Leser. Kuverts, Adressaten- und Besitzervermerke, Exzerpte, Entwürfe und Abschriften oder auch Beilagen und Beigaben spielen eine mehr oder weniger große Rolle. Es sind vor allem nichtsprachliche Zeichen des Briefs, für die man sich erst im Kontext digitaler Ausgaben (und im Rahmen der Digitalisierung der Kommunikation überhaupt) nachhaltig zu interessieren begann:12 die Semantik der Materialität, die den Brief endlich als Gegenstand zu Ehren kommen ließ. Auch wenn Image-Digitalisate von Handschriften vorliegen, wird eine editorische Erschließung nichtsprachlicher Zeichen notwendig sein, also das, was wir traditionell als Handschriftenbeschreibung kennen. Hierfür aber einheitliche Kriterien einführen zu wollen, denen Briefeditoren grundsätzlich folgen würden, dürfte vorerst utopisch bleiben. Damit nicht genug. In absehbarer Zeit kaum im Sinn einer Normierung zu klärende Grundsatzfragen sind etwa: Was wollen wir unter semantischer Erschließung vor allem größerer Briefkorpora (und in Zeiten von Wikipedia) verstehen?13 Wie gehen wir mit Beigaben und Beilagen um?14 Wann sprechen wir von verschollenen beziehungsweise erschlossenen Briefen und wie repräsentieren wir sie in der Edition? Ein abschließendes Beispiel aus dem Bereich der Briefdefinition mag dafür einstehen, wie weit wir heute von einer Normierung von Briefeditionen entfernt sind. Wenn man sich einige im Netz veröffentlichte Editionen auf ihren Umgang mit Entwürfen und Konzepten hin ansieht, ist man erstaunt: Mitunter ist für den Nutzer nicht zu klären, wie sich mehrere variante ‚Fassungen‘ bilddigitalisierter Briefe überhaupt zueinander verhalten, kaum werden Entwurf, Konzept etc. definiert. Eine bestimmte komplexe Praxis des planmäßigen Briefeschreibens mit den Zwischenstufen Konzept und Entwurf, nämlich Goethes Briefpraxis und die zugehörige editorische Tradition, legt es dem Editor allererst nahe, sein Augenmerk hierauf zu lenken.15 Allein die mustergültige Carl-Maria-von-Weber-Ausgabe äußert sich in ihren Editionsgrundsätzen folgendermaßen: Soweit Entwürfe (Konzepte, Brouillons) nicht wesentlich vom endgültigen Text abweichen, sind abweichende Lesarten mit in die Übertragung des Originaldokuments integriert. [...] Sind die Abweichungen umfangreicher und insbesondere zahlreiche Streichungen, Rand-

12

Vgl. den Ausstellungskatalog: Der Brief – Ereignis und Objekt. Hrsg. von Anne Bohnenkamp u. Waltraud Wiethölter. Frankfurt a. M. 2008, sowie: Materialität in der Editionswissenschaft. Hrsg. von Martin Schubert. Tübingen 2010. 13 Ein Regelwerk, das die Verzeichnung der Regesten der Briefe an Goethe steuern soll, umfasst 271 Druckseiten, und es ist allein auf die spezifische Überlieferungslage und auf die editorischen Interessen in Bezug auf dieses eine Handschriftenkorpus abgestellt: http://www.klassik-stiftung.de/ fileadmin/user_upload/Einrichtungen/Goethe-_und_Schiller-Archiv/Bestandserschliessung.pdf (10.9.2012). 14 Vgl. etwa zur ‚Briefbeigabe‘ die Beiträge Ulrike Leuschners, Roger Lüdekes und Wolfgang Lukas’ in: Wiethölter u. Bohnenkamp 2008 (Anm. 12). 15 Vgl. Jochen Strobel: Der Brief als Prozess. Entwurf und Konzept in der digitalen Edition. In: Brief-Edition im digitalen Zeitalter. Hrsg. von Anne Bohnenkamp-Renken u. Elke Richter. Berlin, Boston 2013, S. 133 –146.

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Jochen Strobel

und Zeileneinschübe sowie Überschreibungen wiederzugeben, empfiehlt es sich, den Entwurftext als eigene Datei zu behandeln.16

Entwürfe werden also auch in dieser Edition nur relativ sparsam zugänglich gemacht; die Kriterien „wesentlich“ und „umfangreicher“ sind nicht recht eindeutig. Zu folgern ist aus diesen Beobachtungen, dass es auf längere Sicht von Selbstüberforderung zeugte, hier überhaupt nur weitgehende Standards anzustreben. Zwar haben Politik und Forschungsförderorganisationen erkannt, dass es für die Nachhaltigkeit von heute erzeugten Forschungsdaten unabdingbar ist, Standards für Langzeitarchivierung und Hosting zu benennen, doch sind wir von einer Festlegung informatischer Standards weit entfernt. Der Wettbewerb zwischen verschiedenen IT-Anbietern würde gebremst, gäbe man einem dieser Anbieter mit seinen Tools den Vorzug. Nach wie vor ist es üblich, dass neu geförderte Editionsprojekte zwar in Kenntnis voneinander arbeiten, jedoch nicht auf eine gemeinsame Zukunft ihrer Forschungsergebnisse hin. Wie der Nutzer mehrerer Print-Editionen sich nolens volens auf unterschiedliche editorische Standards von Ausgabe zu Ausgabe – die vielfach historisch, nicht quellenspezifisch bedingte Standards sind – von Neuem einstellen muss, so tut dies auch der Nutzer voneinander getrennter digitaler Editionen. Woeslers Normierungsvorschläge dienten zwar auch der Homogenisierung von Editionen, vor allem aber definiert jene Liste eine Art Maximalstandard für historisch-kritisches Edieren von Briefen. Mit anderen Worten: Briefedition meinte auch vor 20 Jahren, möglichst viele qualifizierte Informationen zu einem Brief zu geben, möglichst in konventionalisierter Form und Anordnung. Hatte sich bislang der Leser damit abfinden müssen, auch mit weniger auszukommen, so hat sich der Nutzer digitaler Briefeditionen mit einer neuen Unübersichtlichkeit anzufreunden. Dies ist nicht schlimm, solange Einzelprojekte problemlos auffindbar sind und solange sie unabhängig voneinander existieren. Aus Sicht der wissenschaftlichen Nutzer dürfte etwas anderes entscheidend sein als ausgerechnet die Angleichung technischer und textkritischer Standards: Wenn es um Standardbildung zum Zweck der Auffindbarkeit und Durchsuchbarkeit bestimmter Einzelbriefe aus einem Datenpool großen Umfangs gehen soll – und hiermit dürften die Nutzerinteressen am ehesten konvergieren –, dann sollte das größte Augenmerk auf eine Vereinheitlichung der formalen Verzeichnung von Briefen, auf die Normierung von Metadaten gelegt werden. Dies geschieht teils auch heute schon, wenn etwa die Weber-Edition Schnittstellen zur Personennormdatei PND und zu Kalliope bietet.17 Es sind bibliothekarische Angebote wie Kalliope und ihre europäische Erweiterung Malvine,18 von denen aus künftig immer zuverlässigere Recherchen möglich sein sollten. Für Briefeditoren erwächst hieraus weniger die Aufgabe, die technischen und auch die textkritischen Standards der eigenen Edition denjenigen anderer Editionen unter allen Umständen anzugleichen, sondern vielmehr diejenige, jeden

16

http://www.weber-gesamtausgabe.de/de/Editionsrichtlinien#d207e1069 [Die Einbeziehung von Brief-Entwürfen] (10.9.2012). 17 Vgl. Anm. 16. 18 http://www.malvine.org (10.9.2012). Malvine versammelt derzeit die Handschriftenkataloge mehrerer europäischer Bibliotheken, zudem Kalliope.

Die Normierung von Metadaten als Standardisierungsinstrument in der digitalen Briefedition105

edierten Brief mittels vordefinierter Formalverzeichnungskriterien für eine Suchmaschine tauglich zu machen, die den typischen Nutzerinteressen entgegenkommt. Jeder Brief muss eine persistente URL erhalten, mit der die Katalogdaten verlinkt sind, dazu Kopfdaten sowie eine eher flache, aber nutzerrelevante Verschlagwortung nach streng einheitlichen Verzeichnungskriterien unter Berücksichtigung der Personennormdatei (PND) sowie, in Erweiterung dieser Regelung, der Gemeinsamen Normdatei der Deutschen Bibliothek (GND). Folgende Daten sollten normiert werden: Name des Schreibers, Name des Adressaten, Ort des Schreibers, Ort des Adressaten, im Brief genannte oder erwähnte Namen (und Werke), Orte, Periodika. Die Vorzüge des technisch möglichen Baukastenprinzips im Bereich digitaler Briefedition müssten sich folglich nutzerseitig nicht so sehr über die Nutzung einer einzelnen, einer bestimmten Briefedition, sondern eben eines solchen Such-Tools entfalten lassen. Ein derartiges Rechercheinstrument wird erst dann wirksam, wenn es die nationalen Grenzen überschreitet. Endziel wäre ein weltweiter Handschriften-OPAC, der Brief für Brief Daten über und letztlich den Zugang zu allen Briefhandschriften und -editionen weltweit bietet. Diese Utopie implizierte einen Paradigmenwechsel von der Vernetzung bestehender oder entstehender Briefeditionen hin zu einer weltweiten Digitalen Bibliothek des Briefs, die über Schnittstellen die Wege von den Metadaten aus zu den konventionellen und den elektronischen Produkten der Editionen ebnet: zum Image-Digitalisat der Handschrift, zu den retrodigitalisierten Drucken, aber auch zum edierten Text, soweit er born digital ist. Größter Wert ist also auf die Vereinheitlichung der Metadaten zu legen – denn sie machen Briefe und Briefedition erst auffindbar. Hieraus folgt aber: Digitales Edieren von Briefen sollte die einzelne Edition als Referenzgröße hinter sich lassen – auch wenn aus ökonomischen Gründen natürlich nach wie vor personenzentriert beziehungsweise oeuvrezentriert gearbeitet werden muss. Zumindest für bestimmte Zeiträume, vielleicht sogar für die Summe erhaltener Briefe aus dem Europa und Nordamerika des 18. bis 20. Jahrhunderts, wäre ein Ziel anzuvisieren, das nicht mehr mit Edition zu bezeichnen ist, sondern als digitale Forschungsumgebung zum Objekttypus Brief. Eine möglichst umfassende Forschungsumgebung zum Brief bietet Objektdaten und zugleich Forschungs- beziehungsweise Metadaten. Im Sinn der Definition des Wissenschaftsrates handelte es sich dabei um eine Forschungsinfrastruktur kleineren Umfangs.19 Ein Modell für eine allerdings umfassend angelegte digitale Forschungsumgebung bietet die Forschungsdatenbank ECHO (European Cultural Heritage Online) des Berliner Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte.20

19

Vgl. Wissenschaftsrat, Drs. 2359-12: Empfehlungen zur Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Informationsinfrastrukturen in Deutschland bis 2020. Online unter: http://www.wissenschaftsrat.de/ download/archiv/2359-12.pdf (10.9.2012). 20 http://echo.mpiwg-berlin.mpg.de/home (10.9.2012).

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Jochen Strobel

3. Das DFG-Projekt zu August Wilhelm Schlegels Korrespondenz möchte paradigmatisch Nachlasserschließung und -digitalisierung mit online und in open access verfügbar gemachter digitaler Tiefenerschließung und Edition verbinden.21 Nicht zuletzt insofern Software des Trierer ‚Kompetenzzentrums für elektronische Erschließungsund Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften‘ verwendet wird, bietet das Projekt Ansätze zur Vernetzung von Briefeditionen. Perspektiven der internationalen Zusammenarbeit sind ohnehin gegeben, wenn es um den europaweit und noch darüber hinaus aktiven Briefschreiber August Wilhelm Schlegel geht. Er war unter den romantischen Netzwerkern einer der umtriebigsten und gewiss der vielseitigste, zugleich ist er editorisch unterrepräsentiert. Auch heute ist er durch seine mustergültige Shakespeare-Übersetzung in aller Munde. Seine Wirksamkeit weit über die damaligen deutschen Grenzen hinaus kann kaum überschätzt werden: ob als Metriker und Literaturkritiker, als Verfasser einer Ästhetik und zahlreicher Schriften zu einer komparatistisch angelegten Literaturgeschichtsschreibung, als Übersetzer und Lyriker, als einflussreicher Erzieher im Dienst Germaine de Staëls und als Politiker in schwedischen Diensten, schließlich jahrzehntelang als Bonner Professor und Mitbegründer der Sanskrit-Forschung auf deutschem Boden. Dies alles macht seine weitverzweigte Korrespondenz zu einer bedeutsamen, bis heute nur teilweise erschlossenen Quellenbasis für interkulturelle Forschung zur Geschichte der Literatur und des Wissens um 1800 und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In Schlegels Nachlass in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden liegen mehr als 3’000 Briefe; zu rechnen ist weltweit mit etwa 5’000, knapp 100 Standorte sind bereits bekannt. Weit über 2’000 Briefe sind seit dem 19. Jahrhundert im Druck erschienen. Der Germanist Josef Körner hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in mehreren großen und kleineren, reich kommentierten Editionen einen bis heute unübertroffenen Standard gesetzt. Es ist an der Zeit, mit den Mitteln des digitalen Edierens die gesamte Korrespondenz für die weitere Forschung zu erschließen. Es geht weniger um absolute Vollständigkeit als darum, so viele, so zuverlässige und so differenzierte Daten wie möglich zu jedem bekannt werdenden Brief (auch zu verschollenen Briefen) zu ermitteln und adäquat zu präsentieren. Nicht zufällig arbeiten Bibliothek und Universität in diesem Projekt Hand in Hand: Es zielt auf die Verzeichnung, Digitalisierung und Edition aller in Dresden und weltweit andernorts liegenden Briefe von und an Schlegel. Die Komponenten lauten Nachlasserschließung, digitale Präsentation der handschriftlichen und der gedruckten Briefe sowie Neuedition der bisher ungedruckten Briefe an der Philipps-Universität Marburg. Die Ermittlung, Digitalisierung und Verzeichnung zunächst der Drucke findet am Standort Dresden statt, die Ermittlung, Verzeichnung, Zuordnung der Handschriften sowie die Transkription bisher unedierter Handschriften schließen sich an. Zu rechnen ist mit einer Bearbeitungszeit von fünf Jahren; eine Printkomponente ist nicht vorgesehen. Die Transkriptionen der Handschriften sowie die Volltexte der

21

Die Präsentationsoberfläche ist online: www.august-wilhelm-schlegel.de (13.7.2014).

Die Normierung von Metadaten als Standardisierungsinstrument in der digitalen Briefedition107

bereits verfügbaren und digitalisierten Drucke werden in das für die Projektziele adaptierte Trierer ‚Forschungsnetzwerk und Datenbanksystem‘ (FuD) eingearbeitet.22 XML-Daten entstehen jeweils im Hintergrund; die Textauszeichnung soll sich an Vorgaben der TEI-SIG Correspondence orientieren. Neben der Formalerschließung wird eine Verschlagwortung von Namen, Werktiteln, Orten, Periodika sowie Inhalten geboten werden. Bei allen Ansetzungen sollen, um die Nutzbarkeit aller Daten für bibliothekarische Normdaten zu gewährleisten, PND und GND hinzugezogen werden. Bei den bibliographischen Daten gelten die Vorgaben des Südwestdeutschen Katalogverbundes SWB; auf diese Weise ist mit Verlinkungen zu OPAC-Einträgen und teils auch zu Volltexten der in den Briefen genannten Bücher zu rechnen. Wenn also Schlegel in einem Brief seine Macbeth-Übersetzung nennt, dann könnte – nach entsprechender Auszeichnung der Textstelle durch den Editor – der Nutzer der Edition mit einem Mausklick zum Digitalisat des Erstdrucks gelangen. Das Projekt folgt dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gewünschten Prinzip der Nachnutzbarkeit bereits entwickelter Tools, indem neben den zu entwickelnden Schnittstellen zu Kalliope und zur GND im Rahmen der Dresdner Digitalen Bibliothek Digitalisierungswerkzeuge wie Goobi sowie der DFG-Viewer genutzt werden,23 weiterhin die vom Trierer Kompetenzzentrum entwickelte Arbeitsplattform FuD sowie ein in Trier entwickeltes Transkriptionstool. Der Referenzcharakter des Projekts besteht vor allem darin, bibliothekarische und wissenschaftliche Interessen und Standards in einen Workflow zusammenzubringen sowie im Rahmen zweier Präsentationen nutzbar zu machen. Soweit es sich um Dresdner Daten handelt, sind sie in der dortigen Digitalen Bibliothek publiziert worden,24 alle editorischen Daten werden im Rahmen der Online-Edition vorliegen. Via Kalliope-Schnittstelle werden die erzeugten Daten zusätzlich den differenzierten Bedürfnissen des Nutzers jener Datenbank zufließen. Die entstehende Briefedition beginnt also sogleich, die eigenen Grenzen zu sprengen.

Abstract The paper outlines in its first part certain essential problems of the genre letter-writ­ ing that concern the standardization of letter editions. The author then presents and compares digital letter editions that are available online, discussing problems that have emerged on the basis of significant examples and addressing systematic gaps like citability or sustainability. Hereby, he questions the added value of the digital editions and their adherence to minimal standards of the conventional letter edition. Finally, the author gives an introduction to the DFG-project Digitalisierung und elektronische Edition der Korrespondenz August Wilhelm Schlegels, stressing its intercultural and transdisciplinary aspects, which include the problem of translating foreign texts and passages.

22 23 24

http://www.fud.uni-trier.de (10.9.2012). http://www.digital.slub-dresden.de (10.9.2012); http://www.goobi.org (10.9.2012). http://digital.slub-dresden.de/kollektionen (13.7.2014).

Me dialität und Materia lit ät

Wolfram Groddeck

Überlegungen zum Editionsmodell der Mikrogramme in der Kritischen Robert Walser-Ausgabe

Robert Walser hat in den 20er und beginnenden 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts, in seiner Berner Zeit, ein faszinierendes Spätwerk geschaffen, das er zu einem bedeutenden Teil in den sogenannten Mikrogrammen realisiert hat, einem Konvolut von über 500 Einzelblättern, die mit einer nur schwierig zu entziffernden, stark verschliffenen Kleinstschrift beschrieben sind und die erstmals von Jochen Greven und Martin Jürgens und dann systematischer von Bernhard Echte und Werner Morlang entziffert worden sind. Im Folgenden möchte ich einige prinzipielle Überlegungen zu dem Editionsproblem der Mikrogramme mitteilen, wie es sich im Rahmen der neuen Kritischen Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte Robert Walsers (KWA) darstellt.1 Die KWA soll ca. 50 Bände umfassen und wird im Wesentlichen vom Schweizerischen Nationalfonds und den Universitäten Zürich und Basel gefördert. Acht Bände dieser Ausgabe, die sowohl als Printausgabe wie auch als begleitende elektronische Edition (KWAe) erarbeitet wird, sind bereits erschienen, zwei weitere befinden sich im Druck. Die editorische Grundorientierung der KWA, die sich in sechs Abteilungen gliedert,2 ist das Textträgerprinzip. Im Fall von Walsers zu Lebzeiten publizierten Büchern, Abteilung I, ist das nichts Besonderes. Aber in der Abteilung II und III, welche die unselbstständigen Veröffentlichungen Walsers in Zeitschriften und Zeitungen enthalten werden, haben wir das Prinzip des Druckortes dem der Chronologie vorgeordnet. Gliederungsprinzipien nach Gattungen oder gar Themen3 haben wir prinzipiell verworfen. Das Leitprinzip des Druckortes entspricht unseren Überlegungen nach am besten der Kontur von Walsers schriftstellerischem Schaffen, da er – vereinfacht gesagt – für die Neue Zürcher Zeitung anders geschrieben hat als z. B. für das Berliner Tageblatt oder die Prager Presse oder gar die Weltbühne. Walser hatte nicht ein Publikum, sondern gewissermaßen an verschiedenen Ecken Europas mehrere, auf die er sich in seinen Texten auch mehr oder weniger deutlich erkennbar eingestellt hat.4 1

Robert Walser: Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte. Hrsg. von Wolfram Groddeck u. Barbara von Reibnitz. Basel, Frankfurt a. M. 2008ff. Zu detaillierteren Informationen vgl. den Editionsplan in: Robert Walser: Kritische Robert Walser-Ausgabe. Editionsprospekt. Basel, Frankfurt a. M. 2008, S.  29. Vgl. ferner: http://www.kritische-walser-ausgabe.ch. 3 So ist die bis heute verbindliche Werkausgabe von Jochen Greven organisiert: Robert Walser: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hrsg. von Jochen Greven. Zürich, Frankfurt a. M. 1985. 4 Dazu ausführlicher: Barbara von Reibnitz: Feuilletons für Zürich, Berlin, Frankfurt und Prag. Zum druckortbezogenen Editionskonzept der Kritischen Robert Walser-Ausgabe. In: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 12, 2012, 3, S. 581– 598. 2

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Wolfram Groddeck

Insofern sind die Kontexte von Walsers Publikationen in Zeitschriften und Zeitungen, die in der KWA auch anhand einer Kartographierung dokumentiert werden, durchaus von prinzipieller editorischer Bedeutung, auch wenn die editorische Darstellung oft zwischen Kontext und Kontingenz schillert. Die Drucke Walsers, die Abteilungen I – III, werden in Basel von Barbara von Reibnitz, Matthias Sprünglin und Hans-Joachim Heerde erarbeitet. Die Abteilungen IV–VI, die den handschriftlichen Nachlass Walsers betreffen, werden in Zürich von Angela Thut, Christian Walt und mir erarbeitet. Auch für diesen Teil der Edition, den handschriftlichen Nachlass, sind das Textträgerprinzip und die editorische Orientierung am Kontext verbindlich, auch wenn sich hier das Kontextprinzip als eines innerhalb von Walsers Schaffen zeigt. Insbesondere bei den Mikrogrammen konkretisiert es sich in der Fokussierung auf den Entstehungs-Kontext, während es bei den Drucken der Rezeptions-Kontext ist; merkwürdigerweise spielt auch hier, beim Entstehungs-Kontext, der Doppelaspekt von Kontext und Kontingenz eine besondere Rolle. Das aus 526 Einzelblättern bestehende Konvolut der Mikrogramme ist Gegenstand der sechsten Abteilung. Es ist vermutlich 1937, d. h. nach Walsers Internierung in der psychiatrischen Anstalt von Herisau, in Carl Seeligs Hände gelangt, der im selben Jahr auch Vormund von Robert Walser geworden war. Seelig hat die Blätter 20 Jahre verwahrt und erst 1957, im Jahr nach Walsers Tod, in der Monatszeitschrift DU bekannt gemacht, wo er auch ein Faksimile des Mikrogramm-Blatts 300 und einen vergrößerten Ausschnitt desselben publizierte.5 Der spätere Herausgeber von Walsers Werk, Jochen Greven, hat die von Seelig als Beispiel für die angebliche „Geheimschrift“6 Walsers im Faksimile mitgeteilte Handschriftenprobe jedoch als eine entzifferbare, in deutscher Kurrentschrift notierte Aufzeichnung erkannt. Greven hat sämtliche Blätter erst 1967 sichten können und sie nach ihrer vorgefundenen Anordnung durchnummeriert.7 Etwa die Hälfte der Aufzeichnungen konnte er bereits bekannten Texten Walsers zuordnen. Und einige bisher unbekannte Texte hat Greven noch in seiner eigenen Edition mitgeteilt: eine Reihe von Gedichten, den sogenannten Räuber-Roman und die sogenannten Felix-Szenen. Ab 1980 wurden dann Werner Morlang und Bernhard Echte von der Carl Seelig-Stiftung damit beauftragt, die Blätter systematisch zu entziffern. Die sechsbändige Ausgabe erschien, als Ergänzung der Greven’schen Sämtlichen Werke, unter dem Titel Aus dem Bleistiftgebiet.8 Echte und Morlang haben ihre Arbeit in aufschlussreichen Nachworten und auch in mehreren Aufsätzen anschaulich kommentiert.9 Ihre

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Du. Schweizerische Monatszeitschrift 10, 1957, S. 46. Ebd., S. 46. Jochen Greven: Robert Walser – ein Außenseiter wird zum Klassiker. Abenteuer einer Wiederentdeckung. Konstanz 2003, S. 148. 8 Robert Walser: Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme 1924  –1933, 6 Bände. Im Auftrag des Robert Walser-Archivs der Carl Seelig-Stiftung, Zürich, entziffert. Hrsg. von Bernhard Echte u. Werner Morlang. Frankfurt a. M. 1985 – 2000 (im Folgenden zitiert als: AdB Band, Seite). 9 Genannt seien je zwei wichtige Aufsätze: Bernhard Echte: „Ich verdanke dem Bleistiftsystem wahre Qualen“. Bemerkungen zur Edition von Robert Walsers „Mikrogrammen“. In: TEXT. Kritische Beiträge 3, 1997, S. 3 – 23. Und ders.: „Nie eine Zeile verbessert“? Beobachtungen an Robert Walsers Manuskripten. In: Wärmende Fremde. Robert Walser und seine Übersetzer im Gespräch. Akten des

Überlegungen zum Editionsmodell der Mikrogramme in der Kritischen Robert Walser-Ausgabe 113

Edition der Mikrogramme bildet die dankbar anzuerkennende conditio sine qua non unserer eigenen Arbeit an der sechsten Abteilung der KWA, auch wenn bisher knapp die Hälfte der mikrographischen Aufzeichnungen unpubliziert und wohl auch unentziffert geblieben ist. Die Voraussetzungen für eine Neuedition der Mikrogramme sind also nicht schlecht. Der Herausgeber des sechsten Bandes Aus dem Bleistiftgebiet stellt im „Anhang“ in Bezug auf die nicht veröffentlichten Mikrogramm-Texte explizit fest: „Grundsätzlich wäre es wünschenswert, auch diese Entwürfe gesamthaft zu edieren, was im Rahmen der vorliegenden Ausgabe allerdings nicht möglich war – handelt es sich doch um rund 2000 Seiten Text.“10 Zunächst möchte ich nun einige eher theoretische Überlegungen zu dem editorisch singulären Gegenstand Mikrogramme anstellen. Was so bezeichnet wird, ist wie gesagt eine Ansammlung von 526 Blättern verschiedenen Formates, wobei es zwei größere Untergruppen gibt. Eine erste besteht aus 108 meist einseitig beschriebenen Blättern von gestrichenem Papier im Format von ca. 21,5 × 13,5 cm und 9 Blättern gleicher Beschaffenheit, die aber etwas kleiner sind (15,7 × 11,8 cm). Walser hat sie vom Herbst 1924 bis Herbst 1925 verwendet. Die andere große Untergruppe besteht aus 157 Blättern im Format von ca. 17,5 × 8 cm, die sich Walser aus dem Tuskulum-Kalender für das Jahr 1926 zurechtgeschnitten hat, indem er die Blätter des Kalenders halbierte. Die Schrift ist auf diesen Blättern noch einmal erkennbar kleiner als in der ersten Gruppe. Einzelne Blätter sind beidseitig beschriftet. Im Weiteren gibt es mehrere kleinere Gruppen ganz verschiedenen Formats aus verschiedenen Jahren, meist jedoch nach 1927, z. B. 39 Blätter aus Honoraravis des Berliner Tageblatts, 31 Blätter aus der Korrespondenz Walsers, 25 Blätter aus Einschlagpapier, 24 Blätter aus Seiten der Zeitschrift Sport im Bild. Die Schrift verkleinert sich in den letzten Jahren noch mehr – und wird damit noch schwerer zu entziffern. Es ist sicher nicht falsch, sich zu fragen, was eigentlich genau mit dem Wort ‚Mikrogramm‘ bezeichnet und dadurch gelegentlich auch etwas mystifiziert wird.11 Meint man mit ‚Mikrogramm‘ das Blatt selbst oder die Schrift darauf oder aber einen in dieser Schrift notierten Text? Es zeigt sich hieran, dass man, zumindest in der Walser-Forschung, die triviale, aber für die neuere Editionstheorie dennoch fundamentale und folgenreiche Unterscheidung zwischen Schrift und Text nicht recht zu sehen vermag bzw. für unwichtig hält.12 Was bisher als Mikrogramme ediert wurde, sind nicht die Mikrogramme selbst, sondern die daraus mittels Entzifferung gewonne-

Kolloquiums an der Universität Lausanne, Februar 1994. Hrsg. von Peter Utz. Bern 1994, S. 61–70. Dazu: Werner Morlang: Gelegenheits- oder Verlegenheitslyrik? Anmerkungen zu den späten Gedichten Robert Walsers. In: Robert Walser. Hrsg. von Klaus-Michael Hinz u. Thomas Horst. Frankfurt a. M. 1991, S.  115 –133. Und ders.: „Eine Art Tagebuch“. Zur Kontextualität von Robert Walsers Mikrogramm-Gedichten. In: „Immer dicht vor dem Sturze …“ Zum Werk Robert Walsers. Hrsg. von Paolo Chiarini u. Hans Dieter Zimmermann. Frankfurt a. M. 1987, S. 55 – 67. 10 AdB 6, S. 539. 11 Vgl. dazu den Aufsatz von Werner Morlang: Melusines Hinterlassenschaft. Zur Demystifikation und Remystifikation von Robert Walsers Mikrographie. In: Runa (Revista portuguesa de estudos germanísticos) 21, 1994, 1, S. 81–100. 12 Vgl. dazu ausführlicher Angela Thut, Christian Walt u. Wolfram Groddeck: Schrift und Text in der Edition der Mikrogramme Robert Walsers. In: TEXT. Kritische Beiträge 13, 2012, S. 1–15.

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Wolfram Groddeck

nen Texte. Die Bilder der Handschrift dienen in der Edition lediglich als Schmuckbeilage. Eine Ausnahme bilden dabei die von Bernhard Echte und Werner Morlang herausgegebene Faksimileedition der 24 Mikrogramm-Blätter zum sogenannten Räuber-Roman13 und die Faksimile-Edition der Mikrogramme zum sogenannten Tagebuch-Fragment, die, in beträchtlichem Überformat, 1996 erschienen ist.14 Eine solche editorische Aufarbeitung macht die mikrographische Aufzeichnung lesbar ohne dabei ihren skripturalen Aspekt auszublenden.15 Für die Schrift, in der die Texte auf den Mikrogramm-Blättern notiert sind, liest man zwar gelegentlich die Bezeichnung ‚Mikrographie‘, aber für die Texte selbst wird dann oft wieder die Bezeichnung ‚Mikrogramm‘ verwendet. Das kann zur Verwirrung führen, wenn ein ‚Mikrogramm‘ auf einem ‚Mikrogramm‘ steht, wobei eigentlich auf einem als ‚Mikrogramm‘ qualifizierten Manuskript ein mikrographisch notierter Text steht. Andererseits ist die inzwischen durchgesetzte Bezeichnung ‚Mikrogramm‘, die von ihrem Erfinder Greven in Analogie zum Begriff ‚Stenogramm‘ gebildet worden ist, insofern aufschlussreich, als darin sozusagen spontan zum Ausdruck kommt, dass man hier den Text nicht so problemlos von der Schrift trennen kann, wie man das – möglichweise auch zu Unrecht – bei anderen Texten Walsers zu tun pflegt. So wird in der Walser-Forschung z. B. allgemein von den ‚Mikrogramm-Gedichten‘ gesprochen, auch wenn man sich nur mit den editorisch konstituierten Texten beschäftigt, während ein Begriff wie ‚Manuskript-Gedichte‘ wahrscheinlich als sinnlos empfunden würde. Was also sind ‚Mikrogramme‘? Zunächst bezeichnet der Begriff ‚Mikrogramme‘ ja lediglich einen Teil des handschriftlichen Nachlasses von Walser, der sich von den ebenfalls sehr zahlreichen übrigen Manuskripten vor allem dadurch unterscheidet, dass hier die Niederschriften mit Bleistift und in einer sehr kleinen Schrift notiert sind.16 Fast die Hälfte dieser Aufzeichnungen lässt sich als Vorstufen zu Texten Walsers identifizieren, die entweder noch zu Walsers Lebzeiten gedruckt wurden oder reinschriftlich überliefert sind. So verstanden bilden die Mikrogramme gar keinen eigenen Werk-Teil – wie man das aufgrund der bisherigen Editionslage mit den sechs Bänden Aus dem Bleistiftgebiet meinen könnte –, sondern bloß eine Sammlung erster Niederschriften oder Vorentwürfe zu späteren Texten. Es ist durchaus denkbar, dass Walser selbst, der einmal in Anspielung auf seine Bleistift-Niederschriften immerhin von

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Robert Walser: Der Räuber. Roman. Faksimileausgabe. Hrsg. von Bernhard Echte u. Werner Morlang im Auftrag des Robert Walser-Archivs der Carl Seelig-Stiftung, Zürich. Zürich, Frankfurt a. M. 1986. Robert Walser: „Tagebuch“-Fragment. Faksimile und Transkription des „Mikrogramm“-Entwurfs. Hrsg. von Bernhard Echte. Mit französischer Übersetzung. Biel 1996. 15 Vgl. dazu Roland Reuß: Neuerlich im Bleistiftgebiet. Zur Faksimile-Edition des „Tagebuch“-Fragments von Robert Walser. In: TEXT. Kritische Beiträge 3, 1997, S. 153 –161. 16 Interessanterweise finden sich jedoch auch in den reinschriftlichen Manuskripten aus der Berner Zeit vereinzelte Bleistiftkorrekturen in Mikrographie, siehe dazu zum Beispiel die erste Seite des Manuskripts zum Prosastück „Etwas Sagenhaftes“, RWZ, Slg. Robert Walser, MS 129; abgebildet in: Editionsprospekt (Anm. 2), S. 9. 14

Überlegungen zum Editionsmodell der Mikrogramme in der Kritischen Robert Walser-Ausgabe 115

„Brouillon[s]“17 gesprochen hat, die Aufzeichnung in seiner Blättersammlung eher in diesem Sinne verstanden hat. Auch Jochen Greven vertritt entschieden die Meinung, dass die Mikrogramme kein eigenes „Gesamtkunstwerk“ darstellten, sondern einfach „zufällig erhaltene Protokolle“ aus einer „Werkstatt“, aus der Walser seine gültigen Texte abgeleitet habe.18 Würde man den handschriftlichen Nachlass Walsers in diesem editorisch traditionellen Sinne auffassen, so wären die Mikrogramme ähnlich zu edieren wie diejenigen Reinschriftmanuskripte, die als Vorlagen für die Erstdrucke gedient haben, nämlich als Vorstufen. Man müsste dann etwa die Hälfte der Bleistiftentwürfe als lemmatisierte Varianten zu gedruckten oder reinschriftlichen Texten verzeichnen, der ganze Rest der Bleistiftaufzeichnungen wäre als Nachlass-Edition darzustellen. Dieser Teil würde dann umfangmäßig der sechsbändigen Edition Aus dem Bleistiftgebiet entsprechen, die im Grunde keine Edition der Mikrogramme darstellt, sondern eine Textsammlung der von Walser nicht weiter verwerteten Entwürfe. Wir haben uns in der KWA entschlossen, die Mikrogramme integral als eigene Abteilung zu edieren. In dieser Entscheidung koinzidieren zwei Argumente, die im Prinzip unabhängig von einander bestehen. Zum einen leitet uns das editionstheoretische Argument, den gesamten handschriftlichen Nachlass faksimiliert zu edieren. Dies nicht nur wegen der Offenlegung der editorischen Entscheidungen und der Sicherung und Sichtbarmachung der materiellen Überlieferung, sondern auch, weil eine Apparatierung der teilweise sehr stark abweichenden Mikrogramm-Notate als Vorstufen praktisch unlesbar würde. Durch das Verfahren der Faksimilierung und integralen Edition wird die gesamte Überlieferung von Walsers Werk gleichsam aufgefaltet. Das andere Argument, das mit dieser editorischen Grundentscheidung koinzidiert, betrifft die Schrift-Bildlichkeit von Walsers Mikrogrammen, die dem neuen Interesse an der „graphischen Dimension der Literatur“19 Rechnung trägt. Allerdings birgt der editorische Einbezug der visuellen Komponente der Mikrographie auch die Gefahr einer nachträglichen Ästhetisierung der Manuskripte, wie sie

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An Max Rychner. In: Robert Walser: Briefe. Hrsg. von Jürg Schäfer unter Mitarbeit von Robert Mächler. Frankfurt a. M. 1979, S. 301. 18 „So reizvoll und spannend die Beschäftigung mit den filigranen Bleistiftnotaten Walsers ist, die auch in ihrem graphischen Bild ästhetisches Entzücken auslösen, sollte sie nicht zu einer erneuten Mythisierung verführen: Es handelt sich hier um zufällig erhaltene Protokolle oder ‚Halbzeuge‘ aus seiner schriftstellerischen Werkstatt, kaum aber um ein eigenes literarisches Genre oder gar ein ganz für sich stehendes geheimnisvolles Gesamtkunstwerk.“ Jochen Greven: Robert Walser – ‚Aus dem Bleistiftgebiet‘. In: Kindlers Literatur Lexikon. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. 3. Aufl. Stuttgart, Weimar 2009 (zitiert nach: Kindlers Literatur Lexikon Online – Aktualisierungsdatenbank: http://www.kll-online. de). Andernorts schreibt Greven: „Und ich sehe auch mit Skepsis auf Ansätze, nach denen Walsers Bleistiftentwürfe insgesamt als ein poetisches-graphisches Gesamtkunstwerk sui generis aufzufassen seien, gar als die eigentliche Frucht seines schöpferischen Geistes in den betreffenden Jahren, wobei dann die von ihm zur Veröffentlichung weiterbearbeiteten Texte gewissermaßen nur bruchstückhafte Zweitprodukte, nebensächliche Ableitungen darstellen würden.“ Jochen Greven: „Indem ich schreibe, tapeziere ich.“ Zur Arbeitsweise Robert Walsers in seiner Berner Zeit. In: Bildersprache Klangfiguren. Spielformen der Intermedialität bei Robert Walser. Hrsg. von Margit Gigerl u. Anna Fattori. München 2008, S. 13 – 32, Zitat S. 25. 19 Vgl. z. B. Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur. Hrsg. von Davide Giuriato u. Stephan Kammer. Frankfurt a. M., Basel 2006.

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Wolfram Groddeck

sich meines Erachtens in den neueren „Auswahleditionen“ der Mikrogramme zeigt. So etwa in der amerikanischen Auswahlausgabe, die unter dem Titel Microscripts 2010 in New York herausgegeben wurde,20 oder in der kürzlich erschienenen Publikation Mikrogramme in der Bibliothek Suhrkamp,21 wo in einem sehr schön gemachten Band 33 Mikrogramm-Blätter in technisch hervorragenden Faksimiles farbig mit recto- und (manchmal auch leeren) verso-Seiten gedruckt werden. Hier wird z. B. auf S. 164ff. das Faksimile des Mikrogramm-Blatts 481 mit einem einzigen – aus der schon genannten Edition Aus dem Bleistiftgebiet entnommenen – Text konfrontiert, dem Bärengrabenaufsatz. Auf dem Blatt 481 stehen allerdings noch drei weitere Texte: Eine im Juli 1931 in der Prager Presse publizierte Dialogszene Zwei Männer reden, ein im August 1926 in der NZZ veröffentlichtes Prosastück Das Ankeralbum und ein nur auf diesem Blatt überliefertes Gedicht Meine Blumen sind bleich. Die vier verschiedenen Aufzeichnungen sind auf diesem Blatt so notiert, dass die beiden später publizierten Texte von rechts nach links, die beiden nur als Entwürfe überlieferten Text aber von links nach rechts notiert sind. Oder von oben nach unten und von unten nach oben – je nachdem, wie man das Blatt hält: Die Aufzeichnungen stehen sich sozusagen als Antipoden gegenüber. Die neue Auswahl­ edition teilt jedoch nur den Text des unveröffentlichten Bärengrabenaufsatzes mit. Dies wird im Anhang der Ausgabe mitgeteilt.22 Der Textblock mit dem Bärengrabenaufsatz ist dort rot umrandet. Eine andere, gestrichelte rote Linie gibt an, dass das Mikrogramm-Blatt für die Reproduktion für das Format der Bibliothek Suhrkamp zu groß war und daher beschnitten werden musste. Das Editionsbeispiel zeigt einerseits anschaulich, wie hier die ästhetische Faszination durch die Verkleinerung der Schrift vor einer textphilologischen Erschließung absoluten Vorrang hat. Des weiteren zeigt das Beispiel auch die enorme Schwierigkeit, Walsers mikrographischen Nachlass editorisch adäquat in die Form eines Buches zu überführen, da sich die graphische Konstellation der Texte auf dem Blatt gegen die Wiedergabe im Prokrustesbett des Buchs offensichtlich zu sperren scheint.23 Die untere Abbildung im Anhang der besagten Mikrogramm-Ausgabe, S. 200, (Abb. 1) bezieht sich auf das Mikrogramm-Blatt 484 und zeigt die Lage eines Gedichtentwurfs an, der die Nichtübersetzbarkeit von Paul Verlaine thematisiert und sich auf dem Blatt am linken Rand befindet. Der Text/Bild-Teil der Edition gibt nur diesen Gedichtentwurf in der Version der variantenlosen Lesefassung wieder, wie man sie auch in AdB 2, S.  355 findet. Auf dem Mikrogramm-Blatt 484 (Abb. 2)24

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Robert Walser: Microscripts. Translated from the German and with an Introduction by Susan Bernofsky. Afterword by Walter Benjamin. New York 2010. Robert Walser: Mikrogramme. Nach der Transkription von Bernhard Echte und Werner Morlang im Auftrag der Robert Walser-Stiftung Bern ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Lucas Marco Gisi, Reto Sorg u. Peter Stocker. Berlin 2011. Ebd., S. 200. – Siehe Abb. 1. Zu diesem Aspekt grundlegender Wolfram Groddeck: Jenseits des Buchs. Zur Dynamik des Werkbegriffs bei Robert Walser. In: TEXT. Kritische Beiträge 12, 2008, S. 57–70. Als Sonderdruck auch in: Editionsprospekt (Anm. 2), S. 15 – 28. Die Abbildung des Mikrogrammblatts 484 musste hier dem Format der EDITIO angepasst, d. h. verkleinert werden (Originalgröße: 21,6 × 13 cm).

Überlegungen zum Editionsmodell der Mikrogramme in der Kritischen Robert Walser-Ausgabe 117

sind allerdings noch wesentlich mehr Textentwürfe notiert: oben ein Prosatext, dann insgesamt 12 oder gar 13 Gedichtentwürfe, davon 4 Sonette. Diese Aufzeichnungen bilden untereinander eine Konstellation, welche als notationale Schrift-Bildlichkeit – auch zur Erhellung der Poetik Robert Walsers – durchaus deutbar sind.25 Die editorische Herausforderung bei der Entwicklung eines adäquaten Editionsmodells für das Mikrogramm-Konvolut liegt also nicht nur in dem hohen Schwierigkeitsgrad der Entzifferung, sondern auch schlicht in der Quantität der Textmasse, die sich in diesem Konvolut – man darf schon sagen – verbirgt. Echte und Morlang haben den Gesamtumfang der Mikrogramm-Texte einmal auf ca. 4000 Druckseiten veranschlagt, insgesamt befinden sich auf den Blättern ca. 1300 Einzeltexte. Eine andere Schwierigkeit ergibt sich aber noch in Hinblick auf die in der KWA angestrebte Faksimilierung und die diplomatische Umschrift. Denn letztere droht in vielen Fällen jedes handhabbare Buchformat zu sprengen. Wenn man eine traditionelle diplomatische Umschrift von diesem Blatt herstellen würde, so wäre ein Format von mindestens DIN A2 erforderlich. Trotzdem scheint uns eine Umschrift, welche die Konstellationen der Aufzeichnungen auf dem Blatt zugänglich macht, unerlässlich. Unser Vorschlag (Abb. 3) einer erschließenden Umschrift26 ist das Ergebnis verschiedener typographischer Experimente. Die etwas wacklig erscheinende typographische Umschrift bezeichnen wir als „kongruente Umschrift“, weil sie den Schriftverlauf der Typen so modifiziert, dass die Zeilen der Umschrift mit denen von Walsers Handschrift kongruent sind. Diese wird in den Bänden von KWA VI mit den Faksimiles der Handschriften in Originalgröße konfrontiert. „Kongruent“ ist die Umschrift deshalb, weil man sie – virtuell – über das Faksimile legen kann und die Zeilen (allerdings nicht immer die einzelnen Wörter) so kongruierbar sind, dass man, auch als Entzifferungs-Anfänger, den Schriftverlauf nachverfolgen kann. Die Kongruenz von Faksimile und Umschrift könnte in der KWAe, der begleitenden digitalen Edition, dergestalt realisiert werden, dass die kongruenten Umschriften über die hochauflöslichen Scans der Mikrogramm-Blätter gelegt werden und nach Bedarf ein- oder ausgeblendet werden können. Nun denken manche fortschrittsorientierte Philologen vielleicht: Wenn das wirklich gelingen sollte, warum dann überhaupt noch eine gedruckte Edition? Neben verschiedenen, ausführlicheren Antworten  – etwa zur Frage der Langzeitspeicherung der editorischen Arbeit – an dieser Stelle nur diese eine: Eine bloße Umschrift ist, in Bezug auf das mikrographische Universum, lediglich eine Dokumentation unserer Entzifferungen und der unserer Vorgänger, es ist noch keine Edition. Um den lesenden Überblick über die Konstellation der Aufzeichnungen zu behalten, ist der Bildschirm zu unruhig. Für die oft sehr komplexe Umschrift ist die ruhende Buchseite als 25

Vgl. dazu ausführlicher: Wolfram Groddeck: Verzweigte Bezüge. Robert Walser und Paul Verlaine. In: Der Dichter und sein Schatten. Emphatische Intertextualität in der modernen Lyrik. Hrsg. von Uta Degner u. Elisabetta Mengaldo. München 2014, S. 39 –56. 26 Die als Abb. 3 gezeigte Umschrift musste gegenüber dem Buchformat der KWA hier ebenfalls verkleinert werden. Für die Abteilungen IV bis VI, welche die Handschriften-Edition enthalten, steht in der KWA ein Format von 23,5 × 33 cm bereit.

118

Wolfram Groddeck

dokumentierender Ausgangspunkt notwendig. Außerdem ist noch, in einem zweiten Schritt, eine eigentliche editorische Erschließung aller einzelnen Niederschriften zu leisten. Hier werden die einzelnen Aufzeichnungen – unter Einschluss aller Verschreibungen und Korrekturen – in lesbarer Form aufbereitet: Prosastücke und dialogische Szenen werden in Blocksatz ediert, Gedichtentwürfe im eigenen Zeilenfall und wo nötig mit einem Stufenapparat oder einem zusätzlichen ‚Lesetext‘, also mit einer hypothetischen Textkonstitution ohne Varianten. Vor jeder isoliert edierten Aufzeichnung wird sich ein Ikon befinden, das den Ort der Aufzeichnung auf dem Mikrogramm-Blatt indiziert und mit einer graphischen Karte zur Textverteilung auf dem Blatt korrespondiert. Bei der Mikrogramm-Karte stehen auch die philologischen Kommentare mit den Hinweisen darauf, ob der edierte Text von Walser selbst abgeschrieben und wo er gegebenenfalls gedruckt wurde. In besonderen Fällen ist hier auch der Ort für weitere Kommentarnotizen inhaltlicher oder kontextueller Art. Der entscheidende Unterschied zu den bisherigen Versuchen, Robert Walsers Mikrogramme editorisch zu erschließen, liegt zum einen darin, dass die Entzifferbarkeit der mikrographischen Aufzeichnungen offengelegt und im günstigen Fall auch ermöglicht werden soll. Zum anderen – und dies ist vielleicht der wichtigere Aspekt – gilt es, die ursprüngliche werkimmanente Konstellation der zahllosen mikrographischen Notate sichtbar und deutbar zu machen. Ob es sich bei der offengelegten Überlieferung in der visuellen Kontiguität der mikrographischen Aufzeichnungen um bloß zufällige Nachbarschaften oder um sinn­ erzeugende Konstellationen handelt, kann und soll in jedem einzelnen Fall der Leser oder die Leserin selbst entscheiden können. Für sie ist die Edition bestimmt.27

27

Für intensive Diskussion und Korrektur der hier vorgelegten Überlegungen danke ich herzlich Angela Thut und Christian Walt.

Überlegungen zum Editionsmodell der Mikrogramme in der Kritischen Robert Walser-Ausgabe 119

Abb. 1: Robert Walser: Mikrogramme. Nach der Transkription von Bernhard Echte und Werner Morlang im Auftrag der Robert Walser-Stiftung Bern ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Lucas Marco Gisi, Reto Sorg u. Peter Stocker. Berlin 2011, S. 200.

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Wolfram Groddeck

Abb. 2: Mikrogrammblatt 484 (verkleinert, Originalgröße: 21,6 × 13 cm). Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Robert Walser-Stiftung, Bern.

Überlegungen zum Editionsmodell der Mikrogramme in der Kritischen Robert Walser-Ausgabe 121 Lieber Salzmann, der Sie ein Maler sind, von dem anzunehmen ist, daß er etwas kann, so malen Sie mir meine Tochter sprach der Vater dieser Tochter, eine Art Kaµerherr [¿]oder Reichmarschall zum Maler, der sich natürlich sogleich dienstbereit verneigte. Die Tochter war bildhübsch. Am andern Tag stand die bildhübsche Tochter des Kaµerherrn in all ihren zarten Anziehungen vor dem Maler Salzmann in dessen Atelier. Der Maler bat nicht seine Tochter aber die Tochter des Vaters, der der Meinung Ausdruck ver[¿]liehen hatte, daß der Maler doch wohl schon über ein gewisses Können verfüge, sich zu setzen, das tat sie. Und so saß sie ihm nun, wie man kurzerhand zu sagen pflegt und [er]so fing er sie nun also an zu malen, wobei eine merkliche Unruhe [¿]über ihn fiel. Das bildschöne Mädchen machte ihm so tiefgehenden Eindruck, daß er von der Staffelei wegtrat, um a[n]m [d]Gewand der Tochter des Kaµerherrn etwas zu ändern, wobei er vor dem Leib, den dieses Gewand deckte, hinfiel. Er hat sie ganz einfach sozusagen angebetet, ohne sich zu fragen, ob er es dürfe Ich liebe dich wahnsinnig“ hauchte er. Ich finde das sehr nett, gab sie zur Antwort, die doch schon einem Herrn in hohem Amt [¿]so gut wie versprochen war, wovon unser Maler Salzmann gar nichts, aber auch rein gar nichts ahnte. Die, die nichts ahnen, benehmen sich meist ganz entzückend. Und so kam es dann zu reinem Weineinschenken, d.h. zu Aussprachen, die auf die Seele des Malers Salzmann wie Gewichte herabfielen. Ob das Bild der Tochter des Vaters, der Kaµerherr war und vom Maler dachte, er habe sich bereits Fertigkeiten im Bildermalen angeeignet, fertig gemalt worden ist oder nicht, wissen wir nicht, wir wissen nur, daß [s]die Tochter dem Maler schrieb: Werter Freund, hingebungsvoller Abküsser meiner Hände, ich muß dir die ganz ergebene Mitteilung machen.. Weiter brauchte er sich mit Entziffern nicht zu bemühen, er wußte woran er war und irrte infolge dessen ziellos, wie man zu schreiben pflegt, in den Straßen der Residenz herum. [Di¿]Anbetenswürdige spielen mit Anbetern mitunter etwas stark. Beide Teile schienen mir aber diesbezüglich durchaus straflos. Fasse dich junger Mann“ sagte dann ein Bierbrauereibesitzer, der seinerseits auch eine Tochter sein eigen nannte, zu demjenigen, der nötig hatte, daß sich [¿]ein Gutmütiger seiner ein wenig annehme. Was sollte mir ein Industrieller von Ihrer Bedeutung Erwähenswertes zu sagen haben, fragte der Maler, es wurde ihm erwidert: Meine Tochter sitzt zu Hause und stickt und denkt an Sie, denn [S]sie liebt Sie. Sie ?

ver[¿]birgt zwar sozusagen ihre Liebe. Einem aufmerksamen Vater sind nun aber ?diese Geheimnisse [¿]keine Geheimnisse. Ich verlange gar nicht erst von Ihnen, daß Sie mir ihr Bild malen sondern bekenne

mich bereit, um der Sympathie willen, die Sie mir einflößen, Ihnen meine Tochter zur Frau zu geben, falls Ihnen das Angebot lieb ist. Der Maler lehnte die Offerte keineswegs ab, sagte vielmehr freudig ja dazu, und als die Bierbrauereibesitzerstochter das vernahm, hörte sie auf zu sticken und hörte auf, an den Maler zu denken, den sie ja nun zum Mann bekoµen sollte, sie lächelte, als sie dachte, daß sie bald Frau Salzmann heißen sollte, [¿¿]aber der Verfasser lacht schon mehr als daß er nur zu lächeln fähig wäre. Warum er das tut, liegt ja auf der Hand Wer freut sich nicht, wenn er mit einer Aufgabe fertig geworden ist. Ich schaue zum Fenster hinaus. Ich pflege das jedesmal zu machen, wenn mir am Schreibtisch irgendwas entstanden ist. Auch sie sieht dieses nasse schwere Schneien sie die so lieb ist, ich auch hab’s erfahren und alle die mit ihr verbündet waren hört ihr den Jüngling zum Erbarmen schreien Sie gingen nie im Abendlicht zu Zweien Schwerfällig senken sich die nassen Schaaren sie rissen ihn bei seinen goldnen Haaren der Laienbruder sang die Litaneien Sie die so lieb ist schaut nun auch dies Fallen Was fiel nicht Hohes schon seit Adams Zeiten Weßhalb sollt’ man sich nicht auch Weh bereiten verlassne Durch ?blutgerinselartig wüste stille Hallen liefst du ¿¿ auf den ausgespreizten Krallen seh ich sie still sie die so lieb ist still von dannen schreiten. Hier wird sorgsam übersetzt das Gedicht von Paul Verlaine wo der Regen hat genetzt jene [¿]Dächer an der Seine Ganz Paris steht grau in grau [¿]nach der Sehnsucht ich mich sehne da [¿]Sieh ich mache hierauf Sieh mal an ich mach miau Ähnlich wie einst Paul Verlaine

Wußte ich’s denn eigentlich nicht iµer, wie ich viel, viel zu artig mit ihr umging. Frauen ¿ umgegangen viel zu galant zu ihr gewesen bin Sie war bei mir in einem fort verlegen versicher ich euch. Und weßhalb das? Weil ich si[¿]e liebte? Und nun bettelt sie, nun fleht sie um bloß ein Krümchen Zärtlichkeit mich an Ich meinerseits verlange nun von ihr daß sie umworben und verherrlicht und [¿]verängstigend und fabelhaft gewandet vor mir erscheine, doch es zeigt sich, daß all ihre Freunde sie verraten haben Nicht schön ist es von mir, daß ich die gänzlich Verlassene verlache. Solche[s]s hätte ich selber ich selbst mir ?niµer zugetraut und staune natürlich kollossal deßhalb mich an Was gibt’s jedoch im [g]Grunde da zu staunen trug ich denn nicht von jeher Mö hundert Arten der Fähigkeit in mir, mich zu erheitern Nicht daß ich wüßte daß dies Glück abhanden mir kam, daß sich mir dieser hohe Vorzug verflüchtigte, ich bin derselbe noch und nehm’s wie ehemals fröhlich mit den eignen Launen noch auf [¿]sowie mit allem andern Es scheint, es macht ein bischen Spaß, was man achtet zugleich ein wenig zu verachten Begehrtes ?nun ?behaglich zu betrachten

Er liebte sie und sagte es ihr nie [¿]O schöne Erde, du geliebte, lasse ob [¿]ihr mir glaubt, was ich euch da erzähle dich mit verfiebertem beglücktem Mute [¿]Er [¿]hatte [¿]ihr mit wundersamen Augen mit stockendem und quilln’dem wildem Blute die Seel erlegt, so daß sie mit getöteten gestorbnem lobpreisen und dich auch, du schlanke Blasse Empfinden umgehn mußte, mit im höchsten die ich im Geiste ungestört umfasse Maße belebtem wieder könnte man [?Sie]Du [¿]dachte[st] [sich]dir, [sie]du würde mir zur Rute auch sagen und sie schoß auf ihn und blutend Ein Zweig indessen lacht mir auf dem Hute zog er in das Gemach sich dann zurück und Unbeküµertheiten in der Rasse das unter eines Doms gewalt’ger Schwere lag um im Schiµer hier von hunderten Hoch von den Felsen schauen mich die Zinnen ? von Kerzen, die ihm eine fleiß’ge Dien’rin mit der Burgen an und dann ?[¿¿]zu ?Lyrainnen Künstlerinnen anzündete’ auf dem Blute, das ihm aus die in[’s] die Seele mir [die]ihre Lieder singen der Wunde floß wie auf ein Purpurlager Gemüt hin zu ruhen und des Leides sich zu freuen Die Zeit auf das Angenehmste zu verbringen und eine Lust sich aus dem Schmerz zu machen [um mich] zu ?Leicht[¿]igkeit emporzuschwingen und vor sich hinzuflüstern Wie entzückt mich um mich zu edlem Leichtsinn aufzuschwingen dies Sterben dies liebe zur Leichtigkeit mich dies redlich mir erworbne süße Sterben in’s Eigenwill’ge mich dran hindert mich ?kein ?inniges Andichsinnen [¿]Die, die ihm mit der Kugel solchen Kuß gab nicht tiefstes hat sich aufs’ [¿]Löblichste hernach vermählt und spielt in der Gesellschaft eine Rolle heut in Nicht wahr, das ist noch etwa eine Tolle

Ein jeder meint, man schätze ihn ach, wie sie alle eitel sind und eifrig in sich selbst verliebt

Als man die Treppe mich herabtrug

[d]sie glauben all’ man suche sie

und mit ?verbundenem Munde mich

fänd ohne ihren Fingerzeig

entführte¿ ich also zur Entfernung

den Weg nicht, ohne ihre Gnad

genötigt worden war, da gingen

[¿]keinen Gewinn. Nein, liebe Leut sie zu den Leuten, um wegzulocken O du mehr als schon genug übertragenes Gewähne die Schönste aus bisheriger Wohnstatt euch hab ich nie gesucht und auch Denk’ gar nicht dran, bei ihr zu sein traulichen [¿]Einst vor Jahren fr zwanzig Jahren frug und um zu lachen über solchen noch heute fällt mir dies nicht ein sie zu umranken mit Gedanken solch liebenden [sie mit so schüchternen und schwanken] Stolz ich auch sehr nach Paul Verlaine Streich, ich nun, als ich wieder kam ? Hochfahrend wie ihr seid, [¿¿]koµt ihr mir vor [Gedanken liebend zu umranken] solch traulich liebenden- ¿¿ zu ¿¿ sie nicht mehr fand und sie dann suchte [d¿]als wärt ihr nicht des Ansehns wert Ich bin für sie ja viel zu fein Stiµungsvoll ist zweifellos und allen diesen höchst el’ganten Euch lieben? Du mein lieber Gott! was ich dehne da und dehne Ruf all die Träume mir zurück herein Hallunken einen Anblick darbot Habt ihr denn auch schon je einmal in der punkto Neuigkeit war groß die Tauben flatternde und blanke aufflatternden und blanken des Sehnens, wie sie sich da freute [¿]euch Müh gegeben, zu erspähen unser Papa Paul Verlaine die blindlings ihr zu Füßen sanken. die Schurk’sche Meute böser Leute wie man sich aufzuführen hat O wie erscheint sie mir nun klein Gebet eine Zwiebel mir um liebenswert zu sein? Euch nenn daß die Träne mir auch träne Die die mich unterjochen woll’n ich Pack! hellen Nie will ich recht mehr an sie denken [¿]die [¿]einst unsrem Paul Verlaine

höchste Zeit ?

auch mal endlich auch ma ein

Höchste Zeit ist’s wie ich meine daß nun auch [¿¿]nun endlich Robert Wals sich uns vorstellt auch mal vorstellt als [V]ein Verdeutscher von Verlaine Die Geliebte des Herzogs von ?Guise Warum, warum taucht plötzlich jetzt in all ihrer Schöne so unverletzt die Liebste des Herzogs von ?Guise so vor mir auf, warum wohl der hübsche Tor ein so prächtiger Mann hat sein müssen so galant, so bieder, so zum küssen so tapfer und so nonschalant sie bat ihn, zu ihm hingewandt Geh lieber noch nicht an den Hof Er ging, gestützt auf ihre Zof sich wußte allmählich[¿]sie zu fassen So einen talentierten Mann zu hassen

und mit der ich mich verziert ?

ausgestattet und geknechtigt weiß Wie alle mich umgarnen und

umhegen wollen, s ist ein Graus

hat, wiederbringen, diesem hoch

Kaum tret ich achtlos aus dem Haus

entwickelten Menschen.

so geht das Tanzen an, flieh ich so lachen sie mich Knaben aus

Daherjagt’

Dann wieder schelten sich mich acht-

Allem Anschein war’s Mitternacht daherjagt Ein ?[Pferd]Reiter galoppierte in voller Macht

respekt lieb und auch rücksichtslos interesselos, was sind sie doch

der Harrenden [zu]prompt zu melden

sich mutig in’s Ungemach geschickt

beibringen woll[¿]ten, koµen sie

sie trat in ihre innern Ziµer entkleidete sich bei[m] der Kerze[n] [Sch]Ffliµer

ihre Gedanken etwas zu zerteilen

sie hatte recht, in einen Hauf

sie [¿]legte in den Sekretär

Gedungener fiel er hinein ¿¿ schau um dich, du Herzoglein

das Schreiben voll Beweis von Ehr und atmete schwer und seufzte sehr Vom Glück koµt alles Unglück her sprach sie am nächsten Tage zu sich

die Bäume schauen dunkelblau

wie würdig ihre Äste he niederhängen ob ihr wohl Späßlein je gelängen jedfalls ist nichts an ihr das flennt und fleht uns Müh’ mir Ob wohl d[er]ie Zufall sonst noch her was weht womit wir unsren Gegenstand besängen Sie scheint [uns]die Tanne scheint uns nicht sehr reich an Klängen

der Fluß ist ganz durchdrungen von

sie bläht ¿¿ dafür sich nicht mit Qualität

Gewölk, und hinter Wäldchen

jedoch sie bläht sich jedoch nicht

guckt hie und da ein Haus hervor O [¿]wie ich eine Frau im Mittag

Als [¿]Kleidung trägt sie ein verhaltnes Grün

hinreißend schön behandschuht fand sie stieg grad in’s Elektrische

scheint eher abgeklärt als keck und kühn ?

wie [¿]Bindung ?seht ?sie dar von Wärm und Kälte stellt eine

Die ganze Welt Erde kam mir heut wie so [¿]ein zartes Dingelchen

Sie ist das ständig Aufsichselbstgestellte

von Mädchen vor, ja, wie sie halb woran schon ?[so oft]häufig Dringlichkeit zerschellte gesund, halb krank Tiefen umzingelt ? schweb’ über das was sich auch in acht niµt beim Erglühn Tiefen, ich seh ihn jeden Tag besinnt noch ?

was das auch bedächtig sei

den siamesischen Palast

sonst im übrigen, du Geduldige

der Welt, ihnen aber ist das

mit liebenden Seelen redet iµer von dem was vorfällt irgendein Schiµer

und was geschehen sei tät ihm Leid

Drei Herren dort sind Musiker

zufrieden sein mit mir und mit

Ihr [stand]lag ja alles, was geschah lang vor des Melders Ankunft nah

Er schrieb [von]ihr von Notwendigkeit

wie höfliche Bekannte stehen

so nie und niµer satt, ich könnt

der Inbegriff der Blödigkeit

stieg in der Gattin die Ahnung auf

und Hündchen bleiben beieinand

Wie feierlich so eine Tanne steht

Als ob sie mir den Lebenssinn sacht an mich ran oft auch so zart Doch will ein jeder mich bloß sich zu Diensten sehn, und solche Art unnütz’ger Eigennützigkeit tat manch Gescheitem nun schon leid

Was war es für ein herrliches

Das Leben atmet auf und ab und wiegt sich sanft im leisen Wind der das Wasser [¿]kräuselt

Vor einigen Tagen schon hat’s mich

sie etwa könnten ¿¿ vergessen haben, wer viel vergißt, hat auch an viel auch gedacht, im Frühling ?gilt ?

Natur [für]uns nachbarschaftlich nah sie sträubt sich und weiß nicht warum tut ihr das Knospen denn so weh? Wer kann es wissen und dann ist

In höhrem Sinn erzogen woll’n

Weisheit ja niµer ihrer froh

sie von demjenigen sein, den zu

Streben und Sein sind das Höchste.

und gab sich Müh zu [¿]überschauen

wird nur befehlen, wer’s versteht

wie sich das ziemt für kluge Frauen

und wer [¿]versteht das heute noch?

ihre und anderer Leute Lage.

Sie sind ja alle alle so

auf eben so gelinde Art [von]aus seiner Tiefe angeschaut O wie die Wolken wahrlich sich im Wasserspiegel badeten Ein Kahn lag still am Rand Ein Gäßchen dicht dabei In Wassers Abgrund wuchs ein Wald und alles Heitere was oben in der schönen Luft

bin ein Geschöpf, [¿¿]¿¿ ¿¿ ¿¿ ¿¿ befielt nur, wer das

Antlitz das in der ruhigen Flut sich gestern abgebildet hat Des Abends schönes [¿]Angesichte war’s

wovor sich Menschen fragen, was

[¿]erziehen sie Miene machen. Ich [Mir] befehl’n mir will, soll

besonnen.

die du stets lieb bist, hält sich

[still]stehen eine Ewigkeit lang und hundert Stunden lang alles in runder Nähe ruhig

Da hat sie bloß dazu genickt

legte sich schlafen mit leisem Gewiµer

Zu Hause stand ein Fenster offen

sich sehnen, die mein Eigentum

darum nirgends. Ich, Geschöpf muß wohl soll’s ihm das was er von sich weggejagt

Dem König gelang’s mit einigen Zeilen

Er fiel von zwanzig Dolchen getroffen

der rötlichen und bläulichen

sie finden es in sich nicht mehr und

gebot dem König die Politik

Er kehret nie ?undniµermehr zurück

sie nach dem bischen Lustigkeit nach jener Kinderauffassung

nach Selbstverständlichem etwas

Er fürchtete sich vor Guisens Blick vor seiner Macht und seinem Glück

unmäßig witzig amüsant galant, gefällig sein, O wie

wie soll ich sagen auf der Such’

den jähen Untergang des Helden

jerusalemisch an, so fremd so altbekannt auch wiederum stehn sie gesprächigstuµ herum die Brücken zittern beim Begehen

wand sich ein rotes ?Lächelein

Freut uns daß der Robert Wal[z]s

lieb, traulich und womöglich stets

¿¿

Verwöhnens machen, ich soll duµ

spielend sich zutrug stand nun in ab dem Strome geschrieben, der iµer ¿ indessen er dahinfloß, iµer über die Welt zu staunen schien die in ihm spiegelnd sich gefiel.

Die Wangen waren goldig-bleich

[?Der]Ihr scheuer und verlogner Schritt

erzählt ja offen wie sie litt [¿]nun auch endlich einmal seine ? [ Will Darf] Soll ihr keine Achtung mehr schenken. nun nichts Zärtliches Uebersetzung grob mit Schmalz vom berühmten Paul Verlaine

Richtig scheint daß Robert Walz

Die Hügel muten mich

sie möchten ja weiter nichts als mich zum Gegenstand des Schätzelens

das Haar war braun die Augen blau und um den weißen Mund herum ¿¿ ¿¿ ¿¿ ¿¿ was ich jetzt

gibt [Schö]Gott sei Dank hat Robert Walz

merk’s ihnen ja so deutlich an

und wenn vor Augen sie mir tritt soll sie die ihr’gen vor mir senken.

Das Antlitz glich fast einer Schlacht

rinnelte auf [sein]das Papier sein rinnelt auf das Schreibpapier

als kämpfe jemand mit sich selbst und lasse das die and das das uns alle einsehn

?

Abb. 3: Vorschlag einer „kongruenten Umschrift“ des Mikrogrammblatts 484 in Rahmen der KWA (verkleinerte Abbildung, Format KWA: 23,5 × 33 cm).

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Wolfram Groddeck

Abstract An adequate edition of Robert Walser’s micrographic writings from his time in Berne (1924–1933) presents a great challenge. In addition to the eminent difficulties of decipherment, the form of the manuscripts turns out to be incompatible with a traditional book edition. The Critical Robert Walser Edition (Kritische Robert Walser-Ausgabe, KWA) attributes a specific prominence to writing with regard to the work char­ acter of Walser’s literary legacy, and has developed a unique model for the editorial presentation of the micrograms that is put forward in the paper for discussion.

Norbert D. Wernicke

Papier und Feder. Zur Schriftentwicklung bei Jeremias Gotthelf

Materialität ist schon seit einigen Jahrzehnten in den Mittelpunkt kulturwissenschaftlicher Betrachtungen gerückt, und auch in der Editionswissenschaft lässt sich ein vermehrtes Interesse an der Materialität der Überlieferung feststellen. Was für die Mediävistik schon immer eine Selbstverständlichkeit war, setzt sich in der neueren Abteilung auch flächendeckend durch, nämlich die genaue Beachtung der Schreibmaterialien.1 Das im Jahr 2010 erschienene Beiheft zur Reihe editio zeugt von diesem neuen Interesse, mit dem Konzepte zur wissenschaftlichen Erfassung und eine Neuformulierung von Fragen an das Material erarbeitet werden.2 Im Folgenden soll ein Bereich beachtet werden, der noch im weiteren Sinne die Materialität betrifft und der in der Edition neuerer Autoren noch wenig Beachtung gefunden hat, nämlich die Schriftentwicklung. Grundlage für die Analyse waren die Handschriften der politischen Publizistik von Albert Bitzius /Jeremias Gotthelf,3 zudem noch einige weitere Manuskripte verschiedenster Themen. Für eine weitreichendere Analyse wären noch weitere Textgattungen heranzuziehen, beispielsweise die Predigten aus einer frühen Lebensphase des Autors, zudem die noch vorhandenen Romanmanuskripte. Die zwei ältesten von mir eingehender betrachteten Manuskripte stammen aus dem Jahre 1828 – Bitzius war 31jährig –, das letzte aus dem Jahre 1850, vier Jahre vor seinem Tod im Alter von 57 Jahren. Es sind im Korpus der politischen Publizistik sowohl Entwürfe als auch Druckmanuskripte erhalten, was für Bitzius nahezu einzigartig ist, da häufig entweder Entwürfe vorhanden sind, aber die Druckmanuskripte verloren gegangen sind, oder nur ein Druckmanuskript erhalten ist, Vorfassungen aber fehlen. Die Entwürfe sind in einigen Fällen nur stichwortartige Notizen, in anderen Fällen liegen mehrere ausgearbeitete Entwurfsfassungen ein und desselben Textes vor. Alle bei Bitzius vorhandenen Möglichkeiten der Textüberlieferung sind also vorhanden.

1

Beispielhaft sind hierbei die Arbeiten von Bodo Plachta zum handschriftlichen Nachlass von Annette von Droste-Hülshoff. Vgl. Bodo Plachta: Der handschriftliche Nachlass der Annette von Droste-Hülshoff. Bern et al. 1988 (Arbeiten zur Editionswissenschaft 1). Marianne Bockelkamp sucht in ihrer Beschäftigung mit den Handschriften Heines die Grenzen einer von ihr so genannten „Analytischen Handschriftenforschung“ als neuer Disziplin auszuloten, vgl. Marianne Bockelkamp: Analytische Forschungen zu Handschriften des 19. Jahrhunderts. Am Beispiel der Heine-Handschriften der Bibliothèque Nationale Paris. Hamburg 1982. 2 Materialität in der Editionswissenschaft. Hrsg. von Martin Schubert. Berlin 2010 (Beihefte zu editio. 32). 3 Vgl. Jeremias Gotthelf: Politische Publizistik 1828 –1854, Band 1: Text. Hildesheim, Zürich u. New York 2012 (HKG F 1.1); ders.: Politische Publizistik 1828 –1854, Band 2: Kommentar 1828 –1840. Hildesheim, Zürich u. New York 2012 (HKG F 1.2); ders.: Politische Publizistik 1828 –1854, Band 3: Kommentar 1841–1854. Hildesheim, Zürich u. New York 2013 (HKG F 1.3).

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Norbert D. Wernicke

1. Die Schrift Ähnliche Arbeiten sind vor allem aus den mediävistischen Disziplinen bekannt.4 Bei der Betrachtung der modernen Handschrift von Bitzius bestehen allerdings einige grundlegende Unterschiede. Zum einen muss die Hand nicht identifiziert werden, denn sie ist, anders als in den meisten mittelalterlichen Kodizes, schon bekannt: Es handelt sich bei den Manuskripten von Gotthelf durchgehend um eigenhändige Niederschriften. Zum andern sind in den Individualschriften des 19. Jahrhunderts Unterschiede auf der Mikroebene wie schreibertypische Neigungswinkel u. Ä. zu groß, als dass man sie hier produktiv nutzen könnte.5 Dafür gibt es allerdings andere Merkmale, die einige Buchstaben betreffen und die unter Umständen Hinweise zur Datierung von Handschriften geben können. Die Handschrift des Menschen wandelt sich im Laufe seines Lebens, und bei der statistischen Auswertung von Buchstabenformen können eventuell Wahrscheinlichkeitsaussagen zum Abfassungszeitraum einer Handschrift gemacht werden. Ähnliches hat Heinz Ritter in den 1960er Jahren bereits mit der Handschrift von Novalis versucht. Seine präzise Untersuchung orientiert sich dabei an von ihm so genannten „Zeitschlüsseln“ und „Kennbuchstaben“. In diesen sieht er Fixpunkte, anhand derer Manuskripte datierbar seien.6 Wenn auch der vorliegende Artikel die Veränderung von Buchstabenformen zur Datierung von Manuskripten nutzbar machen will und sich dazu an Fixpunkten, oder besser gesagt Richtzeiträumen, orientiert, so liegt der Schwerpunkt hier doch auf einem anderen System als demjenigen Ritters. Die große Varianz der Individualschriften des 19. Jahrhunderts scheint es sinnlos zu machen, die Schriftrichtung, Ab- und Aufstriche oder Bogenformen einzelner Buchstaben gradgenau zu vermessen. Dies könnte im Gegenteil sogar dazu führen, dass Merkmalen eine Bedeutung beigemessen wird, die gar nicht vorhanden ist.7 Andererseits erwähnt Marianne Bockelkamp in ihrer Analyse der Handschrift Heines nur allgemein die Möglichkeit, die individuelle Schreibentwicklung zu analysieren und bietet drei Musterbeispiele für die junge, mittlere und alte Hand Heines. Objektivierbare Merkmale der Schriften des 19. Jahrhunderts nennt sie nicht.8 Abseits einer millimetergenauen Vermessung einzelner Graphe gibt es allerdings in der deutschen Schrift des 19. Jahrhunderts mehrere Allographe, die durch die im 19. Jahrhundert übliche Vermischung verschiedener Schriftsysteme – die deutsche Fraktur, die deutsche Kanzlei,

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5

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Wernfried Hofmeister u. Andrea Hofmeister-Winter: Schriftzüge unter der High-Tech-Lupe. Theoretische Grundlagen und erste praktische Ergebnisse des Grazer Pilotprojekts DAmalS (‚Datenbank zur Authentifizierung mittelalterlicher Schreiberhände‘). In: editio 22, 2008, S. 90 –117; vgl. ferner Wernfried Hofmeister und Georg Thallinger: Projekt-Endbericht zur Pilotstudie DAmalS (Datenbank zur Authentifizierung mittelalterlicher Schreiberhände). Graz 2009. Eine Abklärung, ob Neigungswinkel der Schrift oder Rundungsformen einzelner Buchstaben für bestimmte Lebensphasen von Bitzius doch wider Erwarten typisch und somit aussagekräftig sind, muss am vorliegenden Korpus noch geklärt werden. Heinz Ritter: Der unbekannte Novalis. Friedrich von Hardenberg im Spiegel seiner Dichtung. Göttingen 1967, S. 297– 320. Entsprechend unübersichtlich, zufällig bis nichtssagend sind die von Ritter angeführten Ergebnisse, vgl. bspw. die Tabellen im Anhang von Ritter 1967 (Anm. 6). Bockelkamp 1982 (Anm. 1), S. 94  – 97.

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die deutsche Kurrent, die Druckantiqua und die Antiquakursive9 – entstanden und die durch eine Quantifizierung Hinweise auf bestimmte Schaffensphasen erkennen lassen. Die Form der neugotischen Kurrent, auch ‚deutsche‘ Kurrent genannt, die Bitzius benutzte, ist anhand seiner Vorbilder leicht zu identifizieren. Er wurde vermutlich von seinem Vater im Schreiben unterrichtet.10 So verwundert es nicht, dass er dessen Schreibduktus übernahm und die Handschrift besonders des jungen Bitzius derjenigen seines Vaters stark ähnelt. Der Formenbestand geht mit einigen Ausnahmen zurück auf Johann Jakob Roschis Schreibvorschrift von 1789,11 die noch bis ins 19. Jahrhundert für die bernischen Schulen verwendet wurde. Sie erschien bei C. A. Jenni in Bern in gedruckter Form und wurde beispielsweise auch in Studers Hausfreund oder Kalender für das Schweizervolk für die Jahre 1837 und 1838 abgedruckt, war also allgemein zugänglich. Auch andere gedruckte Schreibvorschriften aus Bern zeigen einen ähnlichen Formenbestand.12 Als Bitzius das Schreiben erlernte, befand sich die Schrift im Wandel. Die frühklassizistischen neugotischen Kurrentschriften enthalten je nach Schreibvorschrift und individuellem Schreiber ein bestimmtes Formenrepertoire. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann man eine Tendenz zu klareren Buchstabenformen erkennen, die die Lesbarkeit deutlich erhöhen; hier verdrängten die einfacheren Kurrentformen von G und B die stärker verzierten, an die Fraktur angelehnten Formen des 17. und 18. Jahrhunderts.13 Die Schreibvorschrift von Johann Brunner (1766) kannte beispielsweise nur eine, an die Fraktur angelehnte G-Form, während die etwas jüngere von Roschi zwei (in jeweils zwei Varianten) kannte, nämlich einerseits die sich an die Fraktur anlehnende und andererseits die eigentliche Kurrentform, die als majuskalisiertes Minuskel-g der noch bis heute benutzen Antiquakursivform (‚lateinische‘, ‚neulateinische‘ oder im Folgenden ‚französische‘ Schrift genannt) ähnelt und im 19. Jahrhunderts die ältere Frakturform vollkommen verdrängte (vgl. Abb. 1).

Abb. 1: Die Schreibvorschrift von Roschi kennt für die Versalie G die Fraktur- und die Kurrentform in jeweils zwei Varianten (links). In der französischen Schrift (rechts) schlägt er zwei G-Varianten vor. Für A kennt Roschi hier eine runde und spitze Form und als Drittes das majuskalisierte Minuskel-a. 9

Vgl. die Beispiele bei Johann Jakob Roschi: Vorschrift zum Nutzen der Bernerischen Jugend. Wädischwyl 1789 – 95. Karl Fehr: Jeremias Gotthelf. Zürich 1954, S. 34. Roschi 1789 – 95 (Anm. 9). Vgl. bspw. Johann Jacob Brunner: Vorschrift zu nuetzlicher Nachahmung und einer fleissigen Uebung. Basel 1766; vgl. auch Johann Knöri: Schul-Methode oder Anleitung für Landschulmeister und christliche Aeltern um ihre Kinder in den nöthigsten und nützlichsten Kenntnissen auf die leichtmöglichste Art zu unterrichten. Bern 1813, Tafel zu S. 55. 13 Hellmut Gutzwiller: Die Entwicklung der Schrift in der Neuzeit. In: Archiv für Diplomatik 38, 1992, S. 381– 488 inkl. Abb., hier S. 412 – 415. 10 11 12

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Beide erwähnten G-Formen wurden von Bitzius benutzt, stellenweise direkt nebeneinander in einer einzigen Zeile.14 Dies ist keine schreibtechnische Inkonsequenz, sondern entspricht einem ästhetischen Empfinden der Zeit und sollte, wie Krünitz in seiner ökonomischen Enzyklopädie schrieb, bewusst eingesetzt werden: „In Ansehung der Gestalt müssen Anfangsbuchstaben eine Veränderung leiden; denn wenn sie mehrere Male nahe an oder übereinander vorkommen, in verschiedenen Formen gebildet werden, weil Einerlei dem Auge nicht so angenehm ist, als Abwechselung“.15 Genauso finden sich bei Bitzius auch verschiedene Formen des A, des C, des O, des U, des V und des W. In den Minuskeln finden sich neben den üblichen Varianzen einer Buchstabenform vor allem jeweils zwei unterschiedliche Formen für p und Doppel-p und für Doppel-f.

Abb. 2: „Artikel die Aufschrift“. Verschiedene Versalformen stehen direkt nebeneinander: das majuskalisierte Minuskel-a mit Bogen gegen den Uhrzeigersinn und das an die Fraktur angelehnte Majuskal-A mit Bogen im Uhrzeigersinn und Schleife in der linken Ecke (zum Kehren der Schreibrichtung der Feder); Bern, Burgerbibliothek, N Gotthelf 25.10.1.26.

Wie für die Zeitgenossen üblich, benutzte Bitzius für fremdsprachliche, also lateinische oder französische Wörter, bei Komposita gelegentlich sogar nur für einzelne Wortbestandteile die Antiquakursive, die in Frankreich und England schon seit dem 16. Jh. gebräuchlich war (und auch im deutschsprachigen Raum an Schulen gelehrt wurde, um französische Wörter lesen und schreiben zu können). Das generelle Bewusstsein für die unterschiedlichen Schriftarten kann man in einer Preisschrift zu einem Wettbewerb der Ersparnisskasse Wangen im Jahre 1830 sehen.16 Dort schreibt Bitzius an einer Stelle das Wort ‚Examen‘ in einer Antiquakursive, also in der fran14

Um genau zu sein: Bitzius benutzte nicht das (nach rechts geschlossene) Kurrent-G, sondern das (nach rechts offene) französische G. 15 Johann Georg Krünitz: Oekonomisch-Technologische Enzyklopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft und der Kunst-Geschichte in alphabetischer Ordnung. 242 Bde. Berlin 1773 –1858, hier Bd. 148, S. 284. 16 Bern, Burgerbibliothek, N Gotthelf 7.8b, [Preisaufgabe über eine Dienstbotenersparnißkaße]. [Lützelflüh] 1830; vgl. Jeremias Gotthelf: Sämtliche Werke in 24 Bänden. Ergänzungsbände [EB]. Hrsg. von Rudolf Hunziker et al, 18 Bde. Erlenbach-Zürich 1922, hier Bd. 18, S. 109 –121, 300 – 302, für deren Edition aber die Abschrift aus unbekannter Hand zu Grunde lag.

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zösischen Schrift, streicht es dann aber durch und schreibt es erneut, diesmal aber in der neugotischen, deutschen Kurrent; ihm war also der lateinische Ursprung bewusst, doch hat er das Wort nach einigem Nachdenken nicht mehr als Fremdwort identifiziert. Das ist umso bedeutsamer, als er in einem zwei Jahre zuvor geschriebenen Brief an den Schultheißen von Bern das Wort in französischer Schrift schrieb, ohne sich zu korrigieren,17 in einem Manuskript zu einem Zeitungsartikel vom Januar 1838 das Wort aber in deutscher Kurrent schrieb.18 Die Preisschrift von 1830 ist also der augenfällige Nachweis, dass Bitzius in diesem Jahr das Fremdwort vollkommen integrierte und als deutsches Wort ansah.

Abb. 3: In einer Preisschrift aus dem Jahre 1830 korrigiert Bitzius das Wort „Examen“ von lateinischer zu deutscher Schrift. Nicht nur das E und das x unterscheiden sich sichtbar, sondern auch m und n werden in der französischen Schrift schulmeisterlich oben gerundet, im Gegensatz zur unteren Rundung in der Kurrent. Diese Differenz führte Bitzius selten so klar aus wie hier.

Typisch für Bitzius ist, dass bei ihm zwar ein Bewusstsein für die Unterschiede zwischen deutscher und französischer Schrift vorliegt, er die französische Schrift aber nicht konsequent benutzte und Buchstabenformen unterschiedlicher Schreibstile miteinander vermischte. An einer Stelle beispielsweise schrieb er ‚Jesus‘ im selben Text mal französisch, kurz darauf deutsch, wie an I /J und s/ſ eindeutig erkennbar ist.19 In einem andern Text schrieb er das Wort ‚kurirt‘ einmal in Kurrent mit k, kurz darauf in Antiquakursive mit c.20 Bei einigen Versalien wie dem G und dem W stehen deutsche und französische Formen unterschiedslos nebeneinander,21 bei Minuskeln wie a, l, m, n oder t wird der theoretisch vorhandene Unterschied von Bitzius kaum durchgeführt. Aufgrund der großen Varietät der Individualschriften des 19. Jahrhunderts ist die genaue Übersetzung bestimmter Zeichen nicht immer fraglos möglich. Beispiel wäre das Doppel-s. Die französischen Schreiber und Drucker benutzten schon seit dem 17 18 19 20 21

Bern, Staatsarchiv, B III 377 (Konvolut Schulwesen Lokales Verschiedenes), Brief vom 14. Mai 1828 an den Schultheißen von Bern, S. 1. Bern, Burgerbibliothek, N Gotthelf 25.10.1.21; vgl. HKG F 1.1 (Anm. 3), Nr. 40, S. 79. Bern, BBB, N Gotthelf 7.5a. [Christliche Freiheit und Gleichheit in Vergangenheit und Gegenwart]; vgl. EB (Anm. 16), Bd. 12, S. 193 – 212. Burgdorf, Bibliothek des Schlossmuseums, X 3176e [Der Bauer und das Holz]; vgl. HKG F 1.1 (Anm. 3), Nr. 77, S. 179. Um genau zu sein: Bitzius schrieb ein Kurrent-W und eine einfache horizontale Zickzacklinie, die nicht als französisches W, sondern als Druckbuchstabe zu identifizieren wäre.

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16. Jahrhundert kein ß mehr, in Drucken aber noch bis in das 18. Jahrhundert und in Handschriften noch bis in das 19. Jahrhundert das ſ. Die Verwendung des ſ war aber nicht an die im deutschen Sprachraum übliche Verwendung gebunden ( ſ im An- und Inlaut, s im Morphemauslaut), und so hatte jeder französische Schreiber sein eigenes System, Schaft- und Rund-s zu gebrauchen oder im Doppel-s zu kombinieren: ss, ſ ſ, ſs oder auch umgekehrt sſ . Deutschsprachige Schreiber und Drucker, die in deutschen Texten die französische Schrift beziehungsweise die Druckantiqua benutzten, standen vor dem Problem, wie sie mit dem im Deutschen regulierten Gebrauch der beiden s-Formen umgehen, und auch, wie sie das ß umsetzen sollten. Im deutschsprachigen Raum setzte sich in der Druckantiqua eine eigenständige Letter für ß erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch. Häufig wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deshalb ‚ſs‘ in Drucken beziehungsweise ſs in Handschriften als Ersatz für ß benutzt. Dies wurde auch in Schreibvorschriften vorgeschlagen.22 Jakob Grimm zum Beispiel benutzte die Form ſs immer dann, wenn nach der Adelung’schen s-Regel ein ß zu schreiben war; nachdem er aber davon überzeugt war, dass der Buchstabe ß keine ss-Ligatur, sondern eine sz-Ligatur ist, schrieb er in diesen Fällen konsequent nur noch sz.23 Ähnliches lässt sich beispielsweise in einem Zürcher Druck aus dem Jahre 1831 finden, der als deutscher Text in Antiqua gesetzt ist und nur das runde s benutzt außer in den Fällen, in denen nach Adelung’scher Regel ein ß stehen müsste: Dort setzt er ‚ſs‘.24 Weitere Beispiele dieser Art ließen sich anführen.25 Bitzius nun schrieb in der deutschen Schrift Doppel-s nahezu ausnahmslos als ß, also auch z. B. ‚müßen‘ statt ‚müssen‘.26 Wenn er die französische Schrift benutzte, schrieb er ebenso nahezu ausnahmslos ſs. Es wäre mithin zu fragen, ob Bitzius die generelle ß-Schreibung in der deutschen Schrift auch für französisch geschriebene Wörter übernahm, ob also seine Schreibung ſs durch ß wiedergegeben werden müsste.27

22 23

24 25

26

27

Beispielsweise in der Vorschrift bei Knöri 1813 (Anm. 12), Tafel zu S. 55. Vgl. Abb. 4. Ulrich Hussong: Beobachtungen zur Handschrift von Jacob Grimm. Zugleich Überlegungen zur Edition von Autographen des 19. Jahrhunderts. In: Archiv für Diplomatik 45, 1999, S. 423 – 440; für die zweite Auflage seiner Deutschen Grammatik von 1822, die anders als die erste Auflage von 1819 in Antiqua erschien, wurde sogar „das ‚ß‘ nicht durch das lange s und das runde s wiedergegeben, sondern mit einer eigenen Schrifttype dargestellt [...]. Die Letter paßt aber nicht in das Schriftbild, sondern weist einen kursiven, handschriftlichen Charakter auf, fast wie im Kupferstich. Offensichtlich mußte das ‚ß‘ erst nachträglich gegossen werden“, vgl. Christina Killius: Die Antiqua-Fraktur Debatte um 1800 und ihre historische Herleitung. Wiesbaden 1999, S. 432. Felix Ulrich Lindinner: Brevier eines siebenzigjährigen Greisen, in Ansicht und Betrachtungen, für ihn und seine Freunde. Als Manuscript. Zürich 1831. Allerdings nicht im vermutlich einzigen Text von Bitzius, der zu seinen Lebzeiten in Antiqua gedruckt wurde und in dem der Drucker kein ‚ſ‘, folglich auch kein ‚ſs‘ benutzt: die in Magers Pädagogischer Revue 1844 erschienene Geschichte des Primarschulwesens im regenerirten Canton Bern; vgl. die in Vorbereitung befindliche Edition der pädagogischen Publizistik, HKG F 2.1. Als Ausnahmen gelten natürlich Wort- oder Morphemfugen. Hier schrieb Bitzius wie üblich z. B. ‚ausſehen‘ statt ‚außehen‘. Regelmäßige Ausnahme von dieser Regelung ist das Wort ‚deßelben‘, das er nahezu immer mit ß schrieb. Gelegentliche Korrekturen vor allem von s zu ſ, z. B. bei der Korrektur von ‚uns‘ zu ‚unſere‘ (mit Überschreibung des s; vgl. HKG F 1.1 [Anm. 3], Nr. 121, S. 273) zeigen, dass er die Unterscheidung bewusst traf. Anders dazu die jetzige Edition, vgl. meine Ausführungen in HKG F 1.2 (Anm. 3), S. 34.

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Abb. 4: Die Schreibvorschrift von Knöri schlägt für ß in der französischen Schrift ſs vor.

Generell lässt sich bei Bitzius über die Jahre eine Tendenz zur Antiquaschreibung28 und zur Vereinfachung der Buchstaben feststellen. Das ausführliche neugotische Kurrent-G ist in den späten hier edierten Texten kaum noch zu finden: In seinem Entwurf für eine Einsendung an den Schweizer-Boten von 1828 tritt es in 14 Fällen fünfmal auf; in einem Text über das ‚Tellen‘ vom 2. Januar 1840 finden wir es kein einziges Mal mehr, alle neun G sind in der einfacheren französischen Form geschrieben. Der immerhin 24 Seiten umfassende Entwurf zum Herbst-Gespräch bei Anlaß der Nationalraths-Wahlen vom Jahre 1850 enthält 180 Wörter, die mit einem G beginnen; von diesen sind nur zwei mit der ausführlichen Kurrentform geschrieben, alle 178 anderen mit der französischen. Im Laufe der 1830er Jahre hat Bitzius also offensichtlich die umständlichere G-Form durch die einfachere nahezu vollkommen ersetzt. Bei A ist die Sachlage sogar noch komplexer, aber in ihrer Entwicklung auch eindeutiger: Es lassen sich die aus der Fraktur abgeleitete Kurrentform, die majuskalisierte Form des Kurrent-a und eine rein lateinische A-Form finden. Hier verdrängt das majuskalisierte Kurrent-a beide echten Majuskelformen im Laufe der 1830er und wird von Bitzius im Fließtext ca. ab 1840 sowohl in der deutschen als auch in der französischen Schrift als Versalie benutzt. Beide Entwicklungen lassen sich an zwei Texten deutlich zeigen: Die Einsendung für den Schweizer-Boten von 1828 weist drei Fraktur-A, acht majuskalisierte Minuskel-a und zweimal das Wort ‚Apostel‘ mit einem echten französischen A auf; das G ist, wie erwähnt, fünfmal in Fraktur und neunmal französisch. Ein offener Brief an Charles Neuhaus, aus inhaltlichen Gründen auf die Zeit nach November 1845 zu datieren (s. u.), zeigt nur im Titel das Fraktur-G, alle 23 anderen G sind französisch (inklusive zweier Korrekturen von Klein- zu Großschreibung); im Falle des A schrieb Bitzius in allen 19 Fällen das majuskalisierte Minuskel-a, wobei 28

So schon Werner Juker: Einführung. In: EB (Anm. 16), Bd. 10, S. 5 –10, hier 8.

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er dies auch bei dem nachweislich in französischer Schrift geschriebenen ‚Adieu‘ tat (vgl. Abb. 5). 1839 noch hatte er das Wort ‚Anno‘ in einer Einsendung an den Berner Volksfreund mit französischem Versal-A geschrieben (vgl. Abb. 6).

Abb 5: „Adieu“ schreibt Bitzius 1845 franzö- Abb. 6: Das französische A in einem Text sisch, wie an dem nach links gezogenen von 1839; Bern, Burgerbibliothek, d, dem runden e und dem fehlenden N Gotthelf 25.10.1.33. u-Bogen gesehen werden kann. Als A benutzt er die majuskalisierte Minuskelform.

Einzig in seiner Unterschrift bleibt Bitzius einigermaßen einheitlich, doch selbst hier wechselt er zeitweilig vom Fraktur-A zum majuskalisierten Minuskel-a. Sein Brief an den Schultheißen von 1828 hat das Fraktur-A, eine Einsendung für den Volksfreund vom 25. Juli 1833 aber das Minuskel-a,29 und so erscheint es auch in einer Eingabe an den Grossen Rat 1850 (vgl. Abb. 7). In den Rechnungsberichten des Lützelflüher Schulfonds, der 1836 eingerichtet worden war und für den von 1836 bis 1853 nahezu jedes Jahr eine Abrechnung von Bitzius’ Hand erhalten ist (1845 fehlt), lässt sich eine Entwicklung des A nachzeichnen.30 Er schreibt hier seinen Namen ‚Albert‘ mal mit Fraktur-A, mal mit Minuskel-a, wobei in der ersten Hälfte der 1840er Jahre das Minuskel-a klar vorwiegt, danach wieder das Fraktur-A: Minuskel-a schreibt er 1837, 1840, 1841, 1843, 1844 und dann nochmals 1853, in den anderen Jahren Fraktur-A. Der Name steht allerdings jeweils nicht als Unterschrift am Schluss der Berichte oder innerhalb eines längeren Fließtextes, sondern als Titel zu Beginn. Bitzius benutzt hier also offensichtlich eine Auszeichnungsschrift, im Alter sogar noch mehr als in den 1840er Jahren. Sein Name ist hier nicht eine unverwechselbare amtliche Unterschrift, sondern Überschrift, was sich auch daran zeigt, dass er die für seine Unterschrift typische Umkreisung seines Namens, die er 1836 und 1837 noch setzte,31 ab 1838 weglässt. In den ersten Jahren hatte Bitzius also offensichtlich seinen Namen in der 29 30 31

Burgdorf, Bibliothek des Schlossmuseums, X 3176a; vgl. HKG F 1.1 (Anm. 3), Nr. 15. Im Besitz der Gemeinde Lützelflüh. Zur Umkreisung vgl. Abb. 7. Der starke Einfluss auf die Schreibung des eigenen Namens durch die Unterschrift lässt sich an einem Entwurf zu einem Zeitungsartikel vom Dezember 1837 zeigen, in dem Bitzius über seinen Vetter Karl Bitzius schreibt und bei Erwähnung des gemeinsamen Familiennamens den für seine eigene Unterschrift typischen Bogen um das Wort zeichnet, obwohl es sich nicht um eine Unterschrift handelt; vgl. HKG F 1.1 (Anm. 3), Nr. 39, S. 76 und das Faksimile S. 78. Anders dagegen die nochmalige Erwähnung des Namens auf der anderen Seite des Entwurfs, vgl. S. 77. Ohne den Bogen auch in Nr. 9, S. 27f., obwohl Bitzius hier von sich selbst spricht, aber nicht unterschreibt.

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Titulatur als eine Art Unterschrift angesehen, im Laufe der Jahre wurde aus der Unterschrift aber mehr und mehr ein reiner Titel, weswegen er den Frakturbuchstaben bevorzugte. Von 15 Verlagsverträgen aus den Jahren 1842 bis 1853 unterschrieb er einen einzigen mit dem majuskalisierten Minuskel-a, alle andern mit Fraktur-A.32

Abb. 7: Bitzius unterschreibt einen Brief an den Schultheißen im Jahre 1828 (links) mit dem aus der Fraktur abgeleiteten Kurrent-A; Bern, Staatsarchiv, B III 377 (Konvolut Schulwesen Lokales Verschiedenes). In einer Eingabe vom Dezember 1850 (rechts) unterschreibt er mit Minuskel-a; Bern, Staatsarchiv, A II 3312. Beide Unterschriften weisen die typische Umkreisung seines Namens auf.

Eine Tendenz zur Antiquaschreibung lässt sich beim C finden. Besonders hier können sich Schwierigkeiten ergeben zu entscheiden, ob für das ganze Wort deutsche oder französische Schreibung vorliegt. In allen vorliegenden Handschriften bis Januar 1840 schrieb Bitzius das Wort ‚Canton‘ grundsätzlich in Kurrent mit einem deutschen C – wenn er es nicht mit K schreibt, was auch häufiger vorkommt. In seinem Text über die „Ein- und Ausfuhrtabellen“ vom 5. Januar 1840 aber kommt das Wort zwei Mal vor, zunächst in Kurrent, dann mit einem französischen C.33 Da die Unterscheidung zwischen deutscher und französischer Schrift bei den anderen Buchstaben a, n, o und t schwach ausgeprägt ist, könnte man kaum entscheiden, ob das Wort hier nun deutsch oder französisch geschrieben ist, wenn es nicht im Genitiv stehen würde und das Schluss-s eindeutig auf die französische Schreibung verwiese. Auch in seinem Text zur „Übervölkerung der Strafanstalten“34 vom Februar 1844 schreibt er das Wort einmal mit deutschem und einmal mit französischem C, letzteres wieder durch ein Genitiv-s eindeutig als Antiquaschreibung ausgezeichnet. Wie um die Situation noch zu verkomplizieren, schreibt er in demselben Text das Wort aber auch in deutscher Schrift mit K, und mit K schreibt er es auch in einem Artikel im Oberländer Anzeiger vom Mai 1850.35 In seinem Entwurf zum Herbst-Gespräch von 1850 dagegen immer mit französischem C, und keines hat ein Genitiv-s, welches die 32

Die Verträge liegen mir als Fotokopien aus dem Nachlass des Gotthelfforschers Hanns Peter Holl vor; die Originale befinden sich in der Burgerbibliothek Bern in den Mappen N Gotthelf 24.6 und 24.8. Es handelt sich um Verlagsverträge vom 26. Mai 1842, 25. Mai 1845, 23. April 1847, 29. Januar 1848, 9. Juni / 21. Juli 1849, 19. Februar 1850, 28. Januar 1851 (3 Verträge), 1. Juni 1851, 15, Juli 1851, 10. November 1851, 28. April 1852, 13. Oktober 1853 und 30. Dezember 1853. Den letzten unterschrieb Bitzius mit Minuskel-a. 33 HKG F 1.1 (Anm. 3), Nr. 74, S. 155 –158. 34 HKG F 1.1 (Anm. 3), Nr. 105, S. 231– 243. 35 HKG F 1.1 (Anm. 3), Nr. 127, S. 282 – 284.

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Schreibweise vereindeutigen würde. Zusammenfassend lässt sich sagen: Während er bis inklusive 1840 das Wort, wenn er es denn nicht mit K schreibt, in 23 von 24 Fällen mit deutschem C schreibt, im Jahre 1842 in einem Text einmal mit französischem und in einem anderen dreimal mit deutschem C, lässt sich für die Zeit ab 1844 in sieben Fällen nur ein deutsches C nachweisen, die anderen sechs sind französisch. Es scheint also ein Wechsel um die Wende vom Jahr 1841 zu 1842 vorzuliegen. Ähnliche systematische Veränderungen lassen sich bei einigen Kleinbuchstaben beobachten. Hiervon sei das Doppel-p als Beispiel herausgegriffen. In den Manuskripten der politischen Publizistik benutzte Bitzius bis 1839 das pp immer seinem Kontext entsprechend, so beispielsweise im französisch geschriebenen Wort ‚Appelationen‘ in einem Text von 1833.36 In seinem Text über die Posttaxen vom 7. November 1839 schreibt er die Abkürzung ‚rapp.‘ (für Rappen) mit französischem pp. In seinem Text über den Staatsrechnungsbericht pro 1838 vom 12./16. Januar 1840 schrieb er das Wort ‚Appenzell‘ einmal eindeutig in deutscher Kurrent, ein weiteres Mal ebenso in Kurrent, allerdings mit Antiqua-pp, wobei das dem Doppel-p folgende e vermutlich durch den Schreibfluss auch noch in Antiqua erscheint, nach dem z allerdings wieder in Kurrent (vgl. Abb. 8). Seine Abhandlung über die „Erbschleicherei“ kann aufgrund inhaltlicher Hinweise auf die Zeit nach dem 5. Mai 1840 datiert werden; hier schreibt er das Doppel-p in deutschen Wörtern konsequent in Kurrent. Ab seiner Abhandlung über das Verhältnis des Erziehungsdepartements zu den Geistlichen vom 24. April 1845 aber schreibt Bitzius Doppel-p nur noch als Antiquakursive, selbst wenn der Buchstabenkontext eindeutig neugotische Kurrent und das Wort wie z. B. ‚öppis‘ (dialekt. ‚etwas‘) eindeutig kein Fremdwort ist. Bitzius hatte ab 1840 offensichtlich die Antiquaform in sein Formenrepertoire aufgenommen und spätestens ab 1845 in jedem Fall benutzt, ohne damit eine Fremdwortmarkierung zu intendieren. Auch bei einem einfachen p tendierte er in dieser Zeit dazu, die Antiquaform der Kurrent vorzuziehen.

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Burgdorf, Bibliothek des Schlossmuseums, X 3176 d [Antwort eines Mitgliedes der großen Schulkomißion an Herrn von Fellenberg]; vgl. HKG F 1.1 (Anm. 3), Nr. 16, S. 39f.

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Abb. 8: Das Wort „Appenzell“ erscheint einmal mit Kurrent-pp (2. Zeile), einmal mit französischem pp (6. Zeile); Bern, Burgerbibliothek, N Gotthelf 25.10.1.48.

Diese Tendenz zur Vereinfachung lässt sich allgemein im deutschen Sprachraum beobachten. Bitzius hat dies sogar in seinen literarischen Texten thematisiert, wo in der Erzählung Der Ball die beiden Bauerntöchter Trineli und Stini die „neumodische Gschrift“ nicht lesen, sondern nur buchstabieren können, oder in der Käserei in der Vehfreude, in der Peterli die neue Schrift für „welsch“ hält, der Briefträger ihn aber berichtigt: „Allem an ist es die neue Gschrift, welche aufkommt in den Schulen, man nennt sie die deutsche. Ich verstehe mich auch nicht darauf, aber sie soll schöner sein als die alte“.37 Andere zeittypische Entwicklungen hat Bitzius nicht mitgemacht: Die Auflösung der ſch-Ligatur, die durch einen Wechsel der Strichrichtung des ſ von aufwärts nach abwärts bedingt ist,38 lässt sich bei ihm nicht beobachten (vgl. Abb. 9).

Abb. 9: Auch noch 1850 schrieb Bitzius das ſ von unten nach oben und verband es direkt mit dem nachfolgenden c zur ſch-Ligatur; Bern, Burgerbibliothek, N Gotthelf 7.9a [Entwurf zum Herbst-Gespräch]. 37

Jeremias Gotthelf: Sämtliche Werke in 24 Bänden [SW]. Hrsg. von Rudolf Hunziker, Hans Bloesch, Kurt Guggisberg et al. 24 Bd. Erlenbach-Zürich 1911, hier Bd. 12, S. 51; Bd. 21, S. 219 – 221. Hans Bloesch erklärte die Bezeichnung als „deutsche“ Schrift mit dem Einfluss deutscher Flüchtlinge. 38 Hussong 1999 (Anm. 23), S. 435, Anm. 51.

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Bei der Analyse solcher Buchstabenformen gibt es natürlich einige Momente, die neben der rein quantitativen Aufnahme beachtet werden müssen, als da wären -- der Status des Textes, also ob es sich um einen Entwurf oder eine Reinschrift handelt, -- die sich häufig daraus ergebende allgemeine Qualität der Schrift, also ob sie eher ordentlich oder eher flüchtig ist, -- die Textsorte (Brief, literarischer Text, Zeitungsartikel, etc.), -- die Position des Buchstabens im Manuskript sowohl in Bezug auf die Makrostruktur – also zu Beginn oder eher zu Ende eines Textes – und auf die Mikrostruktur, also etwa Beginn einer Seite oder eines Absatzes, als Korrektur oder Ähnliches, -- welche strukturelle Funktion die Schrift einnimmt, also z. B. ob es sich um einen Titel in Auszeichnungsschrift, um Fließtext, um Tabellen, Aufzählungen oder nicht zuletzt um eine amtliche Unterschrift handelt. Exemplarisch sei ein Blick auf das Versal-V geworfen. Hier benutzt Bitzius eine Kurrentform, die allerdings in einem Großteil der Fälle sehr abgeschliffen wirkt und so teilweise nur noch als einfacher Haken erscheint, sozusagen als Antiquadruckbuchstabe. Anders als beim G konnte im Untersuchungszeitraum keine signifikante Änderung des Anteils voll ausgeführter Kurrentformen im Vergleich zu abgeschliffenen Formen festgestellt werden. Betrachtet man die Verteilung der unterschiedlichen Formen aber innerhalb eines Manuskripts, kann man eine Beobachtung machen (vgl. Tab. 1). 12 10

Anzahl

8 6 V ausführliche Form

4

V einfache Form

2

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 Seite

Tabelle 1: V-Formen im Herbst-Gespräch zu Anlass der Nationalraths-Wahlen (1850).

Im schon erwähnten 24-seitigen Entwurf zum Herbst-Gespräch bei Anlass der Nationalraths-Wahlen von 1850 lässt sich innerhalb des Manuskriptes eine eindeutige Entwicklung hin zur einfachen, abgeschliffenen Form des V ausmachen. Während auf der ersten Seite noch alle fünf mit einem großen V beginnenden Wörter die ausführliche Kurrentform aufweisen, lässt sich schon auf der zweiten Seite in allen drei Fällen nur noch die einfachere finden. Während Seite drei ein nahezu ausgeglichenes

Papier und Feder. Zur Schriftentwicklung bei Jeremias Gotthelf135

Verhältnis ausweist, findet sich auf Seite vier in allen acht Fällen nur die einfache Form. In der zweiten Hälfte des Manuskriptes pendelt sich zum Schluss des Manuskriptes ein Verhältnis von 1:4 zugunsten der einfachen Form ein, die auf den letzten vier Seiten (mit einer Ausnahme) die einzige V-Form ist. Offensichtlich hat Bitzius im Verlauf des Schreibprozesses zunehmend die einfachere Form bevorzugt; insgesamt zeigt das Manuskript eine flüchtige, unleserliche Schrift, die ein Hinweis auf eine schnelle Niederschrift ist, wozu die Bevorzugung der einfachen Form passt. Ein Ansteigen der Anzahl der ausführlichen Form auf den Seiten fünf und sechs, Seite acht, Seite zehn und Seite zwölf und dreizehn könnte ein Hinweis auf Schreibpausen sein, nach denen Bitzius sich jeweils wieder einer langsameren Schreibart befleißigt haben könnte. Wichtig ist also nicht nur die absolute Anzahl, sondern auch ihr Bezug auf den Kontext. Hätte Bitzius den Entwurf schon nach zwei Seiten abgebrochen, würde sich ein vollkommen anderes Verhältnis zwischen den Buchstabenformen ergeben, als es jetzt beim 24-seitigen Manuskript der Fall ist. Ebenso kann die Textsorte offensichtlich einen Einfluss auf die benutzte Schrift haben. Als Beispiel sei hier der schon erwähnte vierseitige Entwurf für einen Artikel im Schweizer-Boten mit der ebenfalls schon erwähnten dreiseitigen Bittschrift an den Schultheißen des Kantons Bern verglichen. Beide Schriftstücke stammen aus dem Jahr 1828. Während Bitzius im Schweizer-Boten-Entwurf bei drei Wörtern das A in seiner ausführlichen Gestalt schreibt und achtmal die majuskalisierte Minuskelform benutzt, haben in der Bittschrift von insgesamt acht Wörtern sieben die ausführlichere Form. Bei G sieht das Verhältnis ähnlich aus: Im Schweizer-Boten-Entwurf stehen fünf Frakturformen neun französischen Formen gegenüber, während in der Bittschrift von 18 Wörtern, die mit einem G beginnen, nur ein einziges ein französisches G aufweist. Dieses französische G ist zudem eine Korrektur von Klein- zur Großschreibung, wodurch die Unterlänge des g eine Korrektur zum französischen G beinahe erzwingt (da die Frakturform keine Unterlänge hat). Für die formelle Bittschrift an den Schultheißen hat Bitzius sich also offensichtlich einer gepflegteren und konservativeren Schrift bedient, während er beim Entwurf für den Schweizer-Boten die Schriftkonvention zugunsten einer einfacheren Schriftart eher gelockert hat. In einem anderen Manuskript zeigt sich, dass die Stellung innerhalb des Textes Einfluss auf den Buchstaben nehmen kann. In seiner kurzen Duplik an den Pädagogen Christian Heinrich Hugendubel vom März 1838 schreibt Bitzius zwei Wörter des sehr sauber geschriebenen Druckmanuskriptes mit einem französischen G. In der zum Schluss des Textes etwas abgesetzten polemischen Spitze über das „Geschrei eines Pädagögeleins in der Klemme“, die zudem zentriert und größer geschrieben ist, benutzt er für ‚Geschrei‘ aber die Frakturform des G. Offensichtlich benutzt er hier die umständliche G-Form als eine Art Auszeichnungsschrift, die besonders ins Auge fallen soll.39

39

Bern, Burgerbibliothek, N Gotthelf 25.10.1.26; vgl. HKG F 1.1 (Anm. 3), Nr. 45, S. 89.

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2. Schrift und Ironie Wie bereits erwähnt und wie aus den Beispielen ersichtlich wurde, hatte Bitzius nur ein allgemeines Bewusstsein für die unterschiedlichen Schriftarten, kümmerte sich aber häufig nicht übermäßig um Buchstabenformen. Trotzdem gibt es Fälle, die bedeutsam für die editorische Arbeit und schlussendlich auch für die Interpretation eines Textes sein können. Schriftart vermittelt in diesem Falle eine Zusatzinformation, die aus der Semantik der Worte allein nicht deutlich wird.40 In einem Zeitungsartikel vom 21. Januar 1838 beschwerte sich Bitzius über die Anstellung eines Pfarrers durch das Berner Erziehungsdepartement. Dieser Pfarrer stammte aus der Romandie und hatte kein Berner Theologieexamen. Vor allem aber fand Bitzius stoßend, dass dieser Pfarrer namens Dubois der Schwager des frankophonen Präsidenten des Erziehungsdepartments Charles Neuhaus war – Bitzius witterte Vetternwirtschaft. Eine Anklage und eine Duplik, also insgesamt zwei Texte, verfasste Bitzius in dieser Angelegenheit.41 Obwohl nun der Name Dubois schon auf den ersten Blick keine deutschen Wurzeln zu haben scheint und obwohl Bitzius auf die Verwandtschaft mit Neuhaus hinweist und im Kanton allgemein bekannt war, dass dieser frankophon war, zeichnete Bitzius den Namen Dubois konsequent durch eine französische Schrift aus. Dies machte er bei dem im selben Text erscheinenden Ludwig Philipp von Bombelles – wie der Name schon zeigt, ursprünglich französischer Abstammung – nicht, ja selbst Napoleon III. wurde in den Erwähnungen von Bitzius anlässlich des ‚Napoleonhandels‘ 1838 nicht mit einer französischen Schreibung beehrt. Auch andere offensichtlich französische Namen wie Benoit schrieb Bitzius in Kurrent – den deutschen Jean Paul dagegen in französischer Schrift. Bei Jesus schwankte, wie erwähnt, die Schreibung sogar innerhalb ein- und desselben Textes. Offensichtlich herrscht bei Bitzius in Bezug auf die Schreibung eine gewisse Indifferenz vor. Im Fall von Dubois ist seine französische Schreibung aber eindeutig und bewusst gesetzt, was man an Korrekturen erkennen kann: Zweimal beginnt er mit einem Kurrent-D, bricht aber sofort ab und korrigiert sich zur französischen Schrift (vgl. Abb. 10). Die Auszeichnung des Namens, die Stigmatisierung als fremdländisch, als unbernerisch, scheint Bitzius also besonders wichtig gewesen zu sein – was man von der Zeitungsredaktion nicht sagen kann, denn sie ignorierte die Schriftauszeichnung von Bitzius geflissentlich und setzte Dubois, wie alle anderen Namen auch, in Fraktur. Bitzius setzt so seine eigene, praktische Antwort auf den um 1800 geführten Schriftenstreit zwischen Fraktur und Antiqua.42 40

Die Nutzung und damit verbunden die Interpretationsmöglichkeit oder sogar -notwendigkeit sowohl makro- als auch mikrotypographischer Elemente wurde bis vor nicht allzu langer Zeit ignoriert oder sogar abgelehnt, während sie seit der Jahrtausendwende zunehmend Einzug in die Literaturwissenschaft hält; vgl. dazu einleitend Thomas Nehrlich: „Es hat mehr Sinn und Deutung, als du glaubst“. Zu Funktion und Semantik typographischer Textmerkmale in Kleists Prosa. Hildesheim 2012, S. 13 – 29. 41 Vgl. HKG F 1.1 (Anm. 3), Nr. 40, S. 79, und Nr. 41, S. 80 – 83; zudem die entsprechenden Kommentare von Marianne Derron in HKG F 1.2 (Anm. 3). 42 Vgl. einleitend Killius 1999 (Anm. 23), S. 428 –  429, S. 436 –  440; Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen 2000, S. 222 – 245.

Papier und Feder. Zur Schriftentwicklung bei Jeremias Gotthelf137

Abb. 10: Bitzius beginnt den Namen „Dubois“ mit einem deutschen D, korrigiert sich aber sofort zu einer französischen Schreibung (was am fehlenden u-Bogen und am fehlenden abschließenden Aufstrich des s eindeutig bestimmt werden kann); Bern, Burgerbibliothek, N Gotthelf 25.10.1.22.

Stigmatisierungen durch Sprache und in deren Folge auch durch Schrift können in weiteren Texten beobachtet werden. Auf den ersten Blick deutlich wird es bei dem Kalendertext Wie ein Welsch Wein verkauft aus dem Neuen Berner-Kalender auf das Jahr 1844, der durch einen hohen Anteil französischer Wendungen das Geschäftsgebaren der Romands auf die Schippe nimmt, was sich auch im Schriftbild niederschlägt (vgl. Abb. 11).

Abb. 11: Im Kalendertext Wie ein Welsch Wein verkauft fällt schon durch die Schrift auf den ersten Blick die häufige Verwendung französischer Fremdwörter und Sprachfloskeln auf.

Nicht so offensichtlich, aber auf den zweiten Blick doch erkennbar, ist ein ähnliches Vorgehen wie im Kalendertext in einem offenen Brief an den Schwager des erwähnten Dubois, an Charles Neuhaus, Präsident des Erziehungsdepartementes, übertitelt Guter Freund! Der Text ist ungedruckt, anhand inhaltlicher Hinweise allerdings auf November 1845 zu datieren. Da Neuhaus frankophon war, sind im Text Gallizismen

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Norbert D. Wernicke

zu finden: „arivirt“, „comité occulte“, „bête noire“, „partout“, „apportieren“, „compromettirt[!]“, „au fait“, „Surprise“, „confuser“. Die meisten dieser Wörter erscheinen in französischer Schrift, wenn auch die Entscheidung nicht immer eindeutig getroffen werden kann.43 Selbst das bereits im 17. Jahrhundert entlehnte ‚passieren‘ bekommt durch das französische p und vor allem durch das französische Doppel-s wieder einen Hauch Frankreich – an anderer Stelle gönnt Bitzius dem französischen Einwanderer ein deutsches p und ein deutsches Doppel-s.44 Ähnliches gilt für den Wortstamm ‚Correspond-‘. In einem älteren Artikel vom 4. März 1838 schreibt er ihn eindeutig deutsch, wie das Kurrent-C und das sp zeigen. In seinem satirischen Artikel über das Landjägerhäuschen von Lützelflüh aus dem Jahre 1841 schreibt er das Wort dann französisch, wie an dem runden e, dem runden s ohne Aufstrich und dem weit nach links gezogenen d gesehen werden kann (vgl. Abb. 12).

Abb. 12: Der Wortstamm „Correspond[]“ in einem Artikel von 1838 in deutscher Kurrent, 1841 in französischer Schrift; Bern, Burgerbibliothek, N Gotthelf 25.10.1.23; N Gotthelf 8.1.15

In dieser Form erscheint es dann auch im offenen Brief an Neuhaus vom Oktober 1845. In der ersten Zeile dieses Briefes allerdings kürzt Bitzius das Wort in einer eigenartigen Mischform ab. Das C ist hier eindeutig deutsche Kurrent, der Rest des Wortes eher französisch. Offensichtlich hatte er das Wort zu Beginn des Textes in deutscher Schrift angefangen, beim Schreiben zur französischen Schreibung gewechselt und an späterer Stelle im Brief das Wort von Beginn an französisch geschrieben. Fünf Jahre später dann schrieb er das Wort wieder in Kurrent, diesmal sogar mit K.45 Die beiden e sind eindeutig Kurrent, er setzte ein deutsches Schluss-s mit deutlich sichtbarem Aufstrich (wo er 1838 noch ein Schaft-s benutzt hatte) und das d mit dem Bogen nach rechts, nicht nach links. Einzig das p ist lateinisch, doch wie erwähnt hatte Bitzius das lateinische p zu dieser Zeit schon in seinen Formenbestand übernommen und benutzte es unterschiedslos auch für deutsche Wörter (vgl. Abb. 13 –15).

43

Bern, Burgerbibliothek N Gotthelf 8.1.26. Vgl. HKG F 1.1 (Anm. 3), Nr. 112, S. 255 – 261; zudem den entsprechenden Kommentar in HKG F 1.3 (wie Anm. 3). Bern, Burgerbibliothek, N Gotthelf, 8.1.26 [Guter Freund]; Bern, Burgerbibliothek, N Gotthelf 8.1.10 [Mißstimmung im Kanton Bern]; vgl. HKG F 1.1 (Anm. 3), Nr. 112, S. 255 – 261, hier 256, und Nr. 93, S. 209 – 214, hier 209. 45 HKG F 1.1 (Anm. 3), Nr. 127, S. 282 – 284. 44

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Abb. 13: Im offenen Brief an Charles Neuhaus schreibt Bitzius das Wort „Correspondenz“ französisch.

Abb. 14: Das Wort „Korrespondenz“ in deutscher Schreibung mit K; Bern, Burgerbibliothek, N Gotthelf 8.1.21.

Abb. 15: Zu Beginn des offenen Briefes an Charles Neuhaus vom Oktober 1845 ist nicht eindeutig, ob das Wort deutsch (vgl. das C) oder französisch (vgl. rr und s) geschrieben ist. Das französische p hatte zu dieser Zeit das deutsche schon abgelöst.

Bei aller Indifferenz gegenüber der Schrift kann die Schriftart also doch einen Hinweis darauf geben, inwiefern Bitzius eine ironische Distanz zu Fremdwörtern aufbaute, inwiefern er Fremdartigkeit nicht nur durch die Semantik, sondern auch durch die Schrift zum Ausdruck bringen wollte oder sich die Distanz mehr un- oder halbbewusst im Schreibprozess niederschlug. Aufgrund dieses Befundes können innerhalb solch eines Kontextes auch indifferente Schreibungen als französisch gedeutet werden. Die ironische Distanz drückt sich zudem inhaltlich aus. Bitzius warf dem frankophonen Neuhaus nämlich vor, dieser treibe „die Sache manchmal so weit, daß dir nicht bloß Gesetze sondern Sprache und Begriffe kauderweltsche Dinge zu sein scheinen, du nennst edel, was schlecht ist, nimst Treubruch und Meineid für hochherzige Thaten, nennst Spitzbuben Vaterlandsfreund“.46 Er führt die politischen Differenzen zwischen sich und Neuhaus also indirekt auf dessen frankophone Herkunft, seine ‚welsche‘ Sprache und die daraus resultierende Sprachunsicherheit zurück, und er markiert diese These auch durch seine Schrift.

3. Ausblick Schon Ulrich Hussong wies in seiner Beschreibung der Schrift von Jacob Grimm darauf hin, dass „[d]ie Wechsel in der Schrift [...] gegebenenfalls wichtig [sind], um undatierte Stücke einordnen zu können, doch müssen die Wechselpunkte genau und widerspruchsfrei bestimmt werden“.47 Er kam zum Schluss, dass „die Schrift in undatierten Stücken [von Grimm] nur eingeschränkt als Mittel für eine Datierung dienen“ könne, „[w]eil der Bruch mit seiner alten Schreibtradition nicht zu einem genau 46 47

HKG F 1.1 (Anm. 3), Nr. 112, S. 255 – 261, hier 259. Hussong 1999 (Anm. 23), S. 425.

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fixierbaren Datum erfolgte“.48 Diese Feststellung hat für Bitzius noch umso mehr zu gelten. Nichtsdestotrotz könnte es im Falle einer Analyse, die auf einer breiten Datenbasis beruht, vielleicht die Möglichkeit geben, undatierte Manuskripte zumindest einer bestimmten Lebensphase zuzuordnen. Typisch für Bitzius ist nun, dass es keinen allgemeinen Wechsel zu einem bestimmten Zeitpunkt gab, sondern dass sich die Buchstabenformen individuell zu bestimmten Zeiten kontextabhängig wandelten. Während Bitzius das Kurrent-G noch bis weit in die 1830er Jahre, gelegentlich bis in die 1850er Jahre benutzte, war zu dieser Zeit die für die Kurrent typische ‚Nase‘ des N und M, die er in den frühen 1820er Jahren noch setzte, bereits weitgehend abgeschliffen. Ebenso benutzte er ab 1830 kaum noch die ff-Ligatur, sondern schrieb meist zwei einzelne Buchstaben. Wie gezeigt, setzte sich das lateinische Doppel-p erst nach 1840 durch. Das deutsche und das französische A wurden an unterschiedlichen Positionen – also im Titel, im Fließtext oder in der (amtlichen) Unterschrift – in unterschiedlichem Maße zu unterschiedlichen Zeiten durch ein majuskalisiertes a ersetzt. Bei bestimmten Wörtern wie ‚Canton‘ oder ‚Correspondenz‘ ist die Schreibung über die Jahrzehnte schwankend und kann auch Ausdruck einer ironischen Distanzierung sein. In den Fällen, in denen Bitzius also seinen Namen als Überschrift schreibt oder eine ‚welsche‘ Sprache zu imitieren versucht, können Allographe abseits jeder zeitlichen Einordnung semantische Funktion bekommen. Umfangreichere Analysen, als zum gegebenen Zeitpunkt möglich sind, müssten zeigen, wie die Entwicklung dieser Buchstaben verlief. Die Bearbeitung des Briefkorpus und der umfangreichen Amtskorrespondenz, die zusammen Briefe in dreistelliger, wenn nicht vierstelliger Zahl umfassen, den Zeitraum von 1814 bis 1851 abdecken und zudem den großen Vorteil haben, dass sie zumeist eigenhändig datiert sind, könnte solch eine Analyse sinnvollerweise mitumfassen. Ein Netz von statistischen Angaben könnte an streng formalisierten Strukturelementen der Korrespondenz – also Adresse, Anrede, Unterschrift, Einleitungsformeln etc. – als Grobraster erstellt und durch Beobachtungen an anderen Textsorten ergänzt werden.49 Dies könnte zwar keine genaue Datierung undatierter Manuskripte begründen, aber doch gewisse Wahrscheinlichkeitswerte für ihre Entstehungszeit bieten. Ein letztes Beispiel dazu sei erlaubt: Für eine Rede über den republikanischen Sinn50 weist die alte Edition der Sämtlichen Werke zwei mögliche Anlässe nach, bei denen Bitzius nachweislich gesprochen hat und dort eventuell diese Rede vortrug. Obwohl die Schrift flüchtig ist, ist es zumindest bemerkenswert, dass Bitzius auf den vier Manuskriptseiten für Versal-A und Versal-G nur die einfachen Formen benutzt, was auf einen späteren Abfassungszeitraum verweist. Zusammen mit dem Fehlen der Nase bei Versal-M und Versal-N ist ein Termin nach 1830, vielleicht sogar nach 1835 wahrscheinlich. Da das Doppel-p in dem Wort ‚üppig‘ aber noch Kurrent-p aufweist, kann man nach dem jetzigen Erkenntnisstand von einer Abfassung vor 1845, 48 49

Hussong 1999 (Anm. 23), S. 430. Dazu ist zu bemerken, dass konventionalisierte Strukturelemente tendenziell eher eine konservative Schriftbenutzung herausfordern, wie die Unterschriften zeigen. Dieses Grobraster kann also vorerst nicht mehr als allgemeine Hinweise liefern. 50 Bern, Burgerbibliothek, N Gotthelf 9.17a; vgl. EB (Anm. 16), Bd. 17, S. 60 – 61.

Papier und Feder. Zur Schriftentwicklung bei Jeremias Gotthelf141

eventuell sogar vor 1840 ausgehen. Von den zwei von den Herausgebern der alten Edition vorgeschlagenen Terminen, 24. September 1839 und 30. September 1851,51 ist deshalb der frühere Termin der wahrscheinlichere. Für eine mehr als stichprobenartige Analyse wäre allerdings aufgrund der Datenmenge eine flächendeckende elektronische Erfassung mit Unterscheidung aller identifizierbaren Allographe nötig, um einigermaßen effizient arbeiten zu können. Die elektronische Markierung hätte dabei zudem kontextuelle Merkmale zu beachten.52 Bis diese Arbeit geleistet werden kann, muss mit diesen Einzelbeobachtungen vorlieb genommen werden.

Abstract Bitzius’ handwritten proposal of how the income of the savings bank at Wangen (E) might be used for the benefit of the poorest reveals his literary talent as early as 1830, for the same arguments will reappear in his famous novel Uli der Knecht. The extreme­ly tidy ms. (22 pages) has only few corrections. One of these (the Latin-derived “Examen”) shows merely a switch from Latin characters to German ‘Kurrentschrift’. The fact that a Latin-derived word can be written in Latin or in German letters calls (or: cries) for an explanation. It seems to be Bitzius’ idiosyncratic way of writing that he cared less for the outward representation of a word in Latin or German letters than for the meaning of the argument in which the word figured. In the paper, however, the author wishes to draw attention to certain implications of the apparently ‘careless’ way in which Bitzius’ handwriting switched from German to Latin letters throughout his life.

51 52

Vgl. EB (Anm. 16), Bd. 17, S. 285 – 286. Eine XML-basierte Transliteration auch der Allographe wäre dazu wünschenswert; vgl. modellhaft Wernfried Hofmeister, Andrea Hofmeister-Winter und Georg Thallinger: Forschung am Rande des paläographischen Zweifels. Die EDV-basierte Erfassung individueller Schriftzüge im Projekt DAmalS. In: Kodokologie und Paläographie im Digitalen Zeitalter. Hrsg. von Malte Rehbein, Patrick Sahle und Thorsten Schassan. Norderstedt 2009, S. 261 – 292, hier: S. 268 – 272; Dominique Stutzmann: Paléographie statistique pour décrire, identifier, dater... Normaliser pour coopérer et aller plus loin? In: Kodikologie und Paläographie im Digitalen Zeitalter 2. Hrsg. von Franz Fischer, Christiane Fritze und Georg Vogeler. Norderstedt 2012, S. 247–  277.

Manuela Heiniger und Franzisca Pilgram-Frühauf

„Lebenssprache, wie man sie auf der Kanzel nicht duldet“ Gotthelfs Predigtmanuskripte im Spannungsfeld zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit

Die Predigt als Zentrum des evangelischen Gottesdienstes ist eine Redegattung, die sich wesentlich auf die Auslegung des biblischen Textes fokussiert. Sie ist auf diesen zurückbezogen, steht aber im Rahmen der Verkündigungssituation immer schon im Spannungsfeld zwischen Schriftbezug und mündlicher Gegenwartsaussage, ist darauf bedacht, als Interpretation der Bibel Erhellendes und Entscheidendes zum Hier und Jetzt des Menschseins zur Sprache zu bringen.1 Der Pfarrer und Schriftsteller Albert Bitzius (1797–1854), bekannter unter dem Pseudonym Jeremias Gotthelf, war weniger daran interessiert, sich selbst innerhalb der im 19. Jahrhundert breit gefächerten theologischen Strömungen eindeutig zu positionieren,2 als vielmehr daran, eben diese homiletische Grundspannung produktiv aufzunehmen. Wie lässt sich der Mensch vor dem Hintergrund der christlichen Tradition ansprechen, so dass er seine Existenz, in anthropologischer und sozialethischer Perspektive, danach ausrichtet? Dass Bitzius zeit seines Lebens um eine dieser Frage angemessene Predigtweise gerungen und erst mit seinen Romanen, Erzählungen und Kalenderschriften, mit einer in narrative Formen verwandelten Theologie also, einen Ausweg aus der „Predigtkrise“ gefunden habe, kann als gängige These auch im Rah-

1

Im Übergang zum 19. Jahrhundert verlagerte sich das reformatorische Interesse an der Schriftauslegung immer mehr auf das an der Mündlichkeit orientierte Predigtgeschehen. So resümierte etwa Johann Friedrich Christoph Gräffe (1754 –1816), der Superintendant und Leiter der homiletischen Seminare in Göttingen, dessen Schriften gewiss auch noch gelesen wurden, als Albert Bitzius 1821 ein Jahr lang in Göttingen studierte: „Es kommt uns bei diesem Institute nicht sowohl darauf an, was der Prädicant im Sinne hatte [...]; als vielmehr darauf, wie er es gesagt, und welchen Eindruck er auf seine Zuhörer gemacht hat. Dieß ist ja die Hauptsache!“ (Johann Friedrich Christoph Gräffe: Über den Werth academischer homiletischer Vorübungen nebst Beschreibung meines homiletischen Seminariums. Göttingen 1812, S. 43) 2 Vgl. Brief an Joseph Burkhalter vom 27. Oktober 1840 (EB 5, S. 91): „Aber darin bin ich verschieden von vielen, daß bei mir das religiöse Element keine andere und besondere Form sucht als das Leben in Gott, und dieses Leben durch mich und andere immer deutlicher darzustellen, und das nicht durch besondere Gesellschaften, Missionen, Formeln etc., sondern eben durch das Leben selbst.“  –  Die Zitate aus den frühen Predigten, dem Neuen Berner-Kalender sowie dem Roman Jacobs Wanderungen sind der Historisch-kritischen Gesamtausgabe (abgekürzt mit HKG) entnommen: Jeremias Gotthelf: Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Barbara Mahlmann-Bauer und Christian von Zimmermann. Hildesheim 2012ff. (für weitere Informationen vgl. http://www.gotthelf.unibe.ch [11.10.2012]). Die in der HKG noch nicht erfassten Texte werden nach den Sämtlichen Werken zitiert: Jeremias Gotthelf:  Sämtliche Werke in 24 Bänden [und 18 Ergänzungsbänden]. In Verbindung mit der Familie Bitzius und mit Unterstützung des Kantons Bern hrsg. von Rudolf Hunziker et al. Erlenbach-Zürich 1911–1977 (abgekürzt mit SW, die Ergänzungsbände mit EB).

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Manuela Heiniger und Franzisca Pilgram-Frühauf

men einer theologisch interessierten Gotthelfforschung gelten.3 Man bezieht sich dabei auf Aussagen des Autors selbst: Die Kalendertexte etwa, so schreibt Bitzius im oft zitierten Brief an seinen Vetter Carl Bitzius (1801–1867), sollen seine Rede dorthin tragen, wo er als Prediger nicht gehört werde, als „Predigten [...], d. h. hohe Wahrheiten, aber entkleidet von allem Kirchlichen, gefaßt in Lebenssprache, wie man sie auf der Kanzel nicht duldet“.4 Mit der These einer ‚Auswanderung aus der Predigt in die Erzählung‘5 läuft man allerdings Gefahr, die verschiedenen Textgattungen einer hierarchischen Ordnung zu unterwerfen, die Predigtmanuskripte abzuwerten und der Forschung vorzuenthalten. Die vorliegende Untersuchung möchte daher gerade in diesen Texten nach Spuren suchen, welche auf den etwas unscharfen Begriff einer von Bitzius bevorzugten, vom Predigtpublikum aber offenbar abgelehnten „Lebenssprache“ hindeuten und es durchaus als ein „lohnenswertes Unterfangen“ erkennen lassen, „die Predigten als Vorstudien zu den Romanen, Erzählungen und Kalendertexten zu lesen“.6 Nach einer knappen Schilderung der Ausgangslage und der Frage nach dem Stellenwert der Manuskripte im Blick auf die gesamte Predigttätigkeit von Albert Bitzius soll die Sprache der schriftlich festgehaltenen Predigten im Hinblick auf biblische Bezüge, aber auch auf ihre Orientierung am mündlichen Vortrag untersucht werden. Anschließend stellen Selbstzeugnisse und -reflexionen zur Predigtpraxis bei Bitzius sowie einige Aussagen von Zeitgenossen einen wirkungsgeschichtlichen Kontext her. Zum Schluss wollen wir kurz erörtern, welche Konsequenzen sich aus der Untersuchung für die editionsphilologische Arbeit ergeben.

1. Vorbemerkungen zu den Predigtmanuskripten Der Nachlass von Bitzius enthält rund 500 Predigtmanuskripte. Diese sind größtenteils in Reinschrift vollständig ausgeführt und nach einem festgelegten Muster aufgebaut:7 Auf der Frontseite des Manuskripts stehen das Zitat der frei – und nicht nach einer bestimmten Perikopenordnung – gewählten Bibelstelle sowie Angaben zum Ort und zum Datum der Predigt, die zuweilen auch an unterschiedlichen Orten mehrmals gehalten wurde. Das Bibelzitat stammt zumeist aus der in Bern damals gebräuchlichen Piscatorbibel, kann aber auch Abweichungen gemäß der Lutherübersetzung 3

4 5 6 7

Vgl. u. a. Lucie Huber: Jeremias Gotthelfs Berner Predigten dogmatisch und homiletisch untersucht. In: Zwingliana 11, 1959, S. 24 – 46, S. 117–152, besonders: S. 151; Ulrich Knellwolf: Gleichnis und allgemeines Priestertum. Zum Verhältnis von Predigtamt und erzählendem Werk bei Jeremias Gotthelf. Zürich 1990; Ulrich Knellwolf: „Ein Mann des Wortes“. Grundzüge der Theologie Jeremias Gotthelfs. In: „…zu schreien in die Zeit hinein…“ Beiträge zu Jeremias Gotthelf/Albert Bitzius (1797–1854). Hrsg. von Hanns Peter Holl u. J. Harald Wäber. Bern 1997, S. 171–193; Rudolf Dells­ perger: Gotthelf im Kontext der Schweizer Kirchen- und Theologiegeschichte. In: Jeremias Gotthelf – Wege zu einer neuen Ausgabe. Hrsg. von Barbara Mahlmann-Bauer u. Christian von Zimmermann. Tübingen 2006 (Beihefte zu editio. 24), S. 235 – 251, besonders: S. 250f. Brief an Carl Bitzius vom 16. Dezember 1838 (EB 4, S. 282). Knellwolf 1990 (Anm. 3), S. 15. Christian von Zimmermann: Geistliche Rede – weltliche Predigt. Ausblick auf die Edition der Predigten und Kalenderschriften. In: Mahlmann-Bauer u. von Zimmermann 2006, S. 27 – 45, hier S. 35. Vgl. zum Folgenden auch Huber 1959 (Anm. 3), S. 36 – 38.

„Lebenssprache, wie man sie auf der Kanzel nicht duldet“145

aufweisen. Die unzähligen Bibelzitate im Lauf der Predigt, die zuweilen etwas unpräzise aus dem Gedächtnis wiedergegeben sind, folgen dann eher dem Wortlaut der Lutherbibel.8 In unzähligen Fällen sind sie aber auch lediglich als Anspielungen und Anlehnungen zu betrachten, die unausgewiesen in Gotthelfs eigene, biblisch fundierte Sprache übergegangen sind. Der eigentliche Predigtkörper ist zweigeteilt in einen „Eingang“ und eine „Abhandlung“, wobei der „Eingang“ etwa einen Viertel der Predigt ausmacht. Er knüpft entweder religionsgeschichtlich beim Bibeltext an oder bei einem konkreten Ereignis aus der Lebenswelt der Zuhörer, etwa bei der gerade aktuellen Jahreszeit und den damit verbundenen bäuerlichen Arbeiten. Am Schluss der Einleitung folgt zumeist ein kurzes Gebet um den Segen für die Verkündigung, einerseits in Bezug auf den Prediger als „Knecht Gottes“, andererseits in Bezug auf die Aufnahmebereitschaft der Predigthörer. Wie intensiv Bitzius die Wirksamkeit der Predigt in den Vordergrund stellt und das Predigtgeschehen reflektiert, zeigt etwa das Eingangsgebet zur ersten Predigt im Passionszyklus 1826: Diesem allem zu genügen gieb Kraft deinem Knechte o Herr, daß er im ˉ er mächtig bleibe seines Gegenstandes, daß er aber auch im ˉ er Zuhörer finde, die mit Andacht hören und mit from ˉ em Sinˉ des Gehörten gedenken.9

Der zweite Teil, die sogenannte „Abhandlung“, geht auf die Details des biblischen Textes ein, aber immer so, dass der Prediger einen Vergleich zur Gegenwart herstellt und eine applicatio, eine Anwendung im Leben der Predigthörer, ableitet. Das folgende Zitat, ebenfalls aus dem Passionszyklus von 1826, markiert einen solchen Übergang. Ja es sind heüte manche unter uns, die, wenˉ in unsern Zeiten Jesus aus ihrer Familie geboren würde und hätte wie damals weder Haus und Hof und nichts wohin er sein Haupt hin legen könnte, sie würden seiner sich schämen und nicht gerne hören daß er ihnen verwandt sey, so wenig wissen die Menschen den wahren Wert der Dinge zu würdigen.10

Die Predigtmanuskripte stammen vorwiegend aus der überdurchschnittlich langen Vikariatszeit in Utzenstorf, Herzogenbuchsee, an der Heiliggeistkirche in Bern und aus dem einen Jahr in Lützelflüh, wo Bitzius dann 1832 als Pfarrer eingesetzt wurde. In dieser frühen Phase seiner Predigttätigkeit hat er seine Kanzelvorträge schriftlich ausformuliert. So wurde es in den homiletischen Lehrbüchern der Zeit den Anfängern im Predigtamt auch empfohlen. Sie sollten die Predigtmanuskripte aber nicht ablesen, sondern memorieren und auf der Kanzel aus dem Gedächtnis vortragen. So heißt es in der Homiletik von Gotthelfs Freund Karl Rudolf Hagenbach (1801–1874):

8

Vgl. Huber 1959 (Anm. 3), S. 35; Alfred Reber: „Geld ist und bleibt Geld...“. Fünf Geschichten rund um Geld und Geiz, Gier und Gewalt, aber auch um Glauben und Gemeinsinn. Bern 2011, S. 15f. 9 Predigt vom 5. März 1826 (Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 16, Nr. 4; HKG E.1.2, S. 613). 10 Predigt vom 12. März 1826 (Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 16, Nr. 6; HKG E.1.2, S. 630).

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Manuela Heiniger und Franzisca Pilgram-Frühauf

Durch das Schreiben hat man in jedem Fall den Gewinn (und dieser ist nicht gering anzuschlagen), daß man sich die Gedanken klar macht, indem man sie zu Papier bringt, und daß man an concisen Ausdruck sich gewöhnt.

Neben der Empfehlung zur Niederschrift der Predigten findet sich in Hagenbachs Homiletik aber auch der wichtige Hinweis zur Mündlichkeit des Predigtstils: Man soll, auch wo der Leib am Schreibtische sitzt, mit dem Geiste auf der Kanzel stehn und soll die Rede innerlich redend concipiren. Das Schreiben tut dabei nur untergeordnete Dienste.11

Obschon auch Bitzius in seinen ersten Jahren als Prediger auf eine sorgfältige Niederschrift bedacht war, geht aus seiner Selbstbiographie hervor, dass er sich als Vikar bei seinem eigenen Vater in Utzenstorf von allem Anfang an das Ablesen des Manuskripts oder den Gebrauch eines Konzepts abgewöhnen musste.12 Dabei werden weder in solchen Selbstzeugnissen noch in den zeitgenössischen homiletischen Empfehlungen die Mühen des Memorierens erwähnt. Vielleicht kann Bitzius’ schalkhafte Nebenbemerkung gegenüber seiner Schwester, es mache der Mama „Angst“, wenn er „Samstag abends die Predigt nicht konnte“,13 in diese Richtung gelesen werden. Einen kleinen Einblick in sein mnemotechnisches Vorgehen geben jedenfalls ein paar wenige kleinformatige Manuskripte, die auf dünnem Papier eine Liste mit scheinbar zusammenhangslos aneinandergereihten Satzanfängen enthalten. Es handelt sich nicht um Auflistungen inhaltlicher Akzente, sondern um Wortmaterial, das in gewissen Intervallen den vorweg eingeübten Redefluss absichern sollte. Wer sucht, findet, dass solche undatierten Satzfragmente etwa der vollständig ausformulierten Predigt vom 16. Juni 1822 wörtlich entnommen sind.14 Unklar ist, wie regelmäßig sich Bitzius solche Vortragshilfen zusammengestellt hat. Es ist anzunehmen, dass es sich ebenfalls um Spuren dieser Praxis handelt, wenn viele Predigtmanuskripte aus dieser frühen Zeit bei einigen scheinbar willkürlich gewählten, inhaltlich nicht besonders herausragenden Satzanfängen Unterstreichungen aufweisen.15 Nach 1832 finden sich in Bitzius’ Nachlass nur noch wenige Predigtmanuskripte. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat er mit wachsender Erfahrung beziehungsweise nach der Wahl zum Gemeindepfarrer von Lützelflüh seine Predigten zumeist nicht mehr niedergeschrieben, sondern auf der Kanzel frei gehalten. Dennoch hat er die Predigten geplant und wohl im Kopf bis ins Detail ausgearbeitet. Belege dafür gibt sein Notizbuch, das ebenfalls in der Burgerbibliothek erhalten ist16 und ab 1834 in tabellarischer Form das jeweilige Predigtdatum, die zugrunde liegende Bibelstelle und ein paar wenige Stichworte oder Sentenzen zum Predigtinhalt festhält.

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Karl Rudolf Hagenbach: Grundlinien der Liturgik und Homiletik. Leipzig 1863, S. 136. Jeremias Gotthelf: Selbstbiographie (EB 18, S. 14). Brief an Marie Bitzius vom 11. Februar 1822 (EB 4, S. 67). Predigt vom 16. Juni 1822 (Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 21.2, Nr. 8 und N Jeremias Gotthelf 12, Nr. 4: 1822; HKG E.1.1, S. 301– 308). 15 Vgl. z. B. Predigt vom 16. Juli 1820 (Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 12, Nr. 1: 1820; HKG E.1.1, S. 67–75). 16 Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 22.

„Lebenssprache, wie man sie auf der Kanzel nicht duldet“147

2. Schriftlichkeit und Mündlichkeit in den Predigtmanuskripten a) Schriftlichkeit und Intertextualität Bitzius’ Predigtsprache ist geprägt durch Zitate und Anlehnungen an den biblischen Text. Dies zeigt sich nicht nur darin, dass er fast allen Predigten17 Bibelstellen zugrunde legte und nach der reformierten Tradition der Homilie über mehrere Sonntage hinweg Vers für Vers ein biblisches Buch durchbuchstabierte.18 Vielmehr kann auch als Stilmerkmal seiner Predigten gelten, dass die Bibel so zur Sprache kommt, dass sich der Prediger der biblischen Wendungen und Bilder bedient, als ob er sie selbst formuliert hätte. Die Bibel als schriftliche Vorlage geht in unzähligen Anlehnungen in die biblisch geprägte Sprache des Predigers Bitzius über, so dass der biblische Text in der Gegenwart fortgeschrieben und -gesprochen wird. Wenn er etwa in der Predigt vom 13. März 1825 seine Gemeinde anspricht: „O ihr Kleinglaübigen alle“, so verwendet er eine Anrede nach biblischem Sprachgebrauch. Er überträgt die Wendung, mit der sich Jesus gelegentlich an seine Jünger richtete,19 wirkungsvoll auf seine eigenen Zuhörer. Der Abschnitt, welcher danach folgt, ist ebenfalls voller biblischer Anlehnungen. Insbesondere die an das Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Mt 25,14 – 30 / Lk 19,12 – 27) angelehnte und von Bitzius mit großer Vorliebe behandelte Rede vom „Lohn der Getreuen“ wird aufgenommen: O ihr Kleinglaübigen [Mt 6,30] alle, warum baut ihr nicht auf den Herrn er führt in die | in die Hölle und wieder heraus [1 Sam 2,6], er ist ja mächtiger als alle Mächtigen und gieb einen reichern Lohn seinen Getreüen als Könige und Fürsten, wer die Gefahr auf sich genom ˉ en unerschroken um seiner Pflicht willen allem Unglück die Stirne geboten und so bestanden ist seiner Prüfung den wird er Herr über viel setzen weil er in wenigem getreü gewesen [Mt 25,21 und 23], er wird ihn verklären und erheben über alle Namen [Phil 2,9].20

Bitzius äußerte sich auf der Kanzel immer wieder zu Sinn und Zweck der Predigt und reflektierte damit sein eigenes Tun.21 Am 16. Juni 1822 etwa unterscheidet er zwischen einem erbaulichen, einem belehrenden und einem ethischen Aspekt und bezieht noch im selben Jahr Stellung, indem er das aufklärerische Drängen nach Belehrung und Besserung des Menschen gegenüber dem ersten Aspekt bevorzugt: Nach der gewöhnlichen Meinung sollen wir durch eine Predigt erbautet (sic!) oder erschreckt werden von unsern Sünden. [...] Aber solcher Meinung bin ich nicht, ich glaube

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Ausnahmen bilden die Konfirmationspredigten am Palmsonntag Nachmittag, die Kinderlehren und Kasualpredigten, denen als reine Themapredigten keine Bibelstelle zugrunde liegt. Diese lectio continua versteht etwa Knellwolf als „Ansatz zu einer Lösung seines Predigtproblems“ und hinsichtlich ihrer narrativen Grundstruktur als Vorbereitung auf Gotthelfs erzählendes Werk (Knellwolf 1990 [Anm. 3], S. 29). Bitzius selbst schreibt in der Predigt vom 9. Januar 1831 (EB 3, S. 328): „[...] ich glaube, man dringe weit tiefer ein in Gottes Wort, wenn man ein ganzes Buch erklärt, das Schwere wie das Leichte; im Zusammenhang erklärt sich gar manches, welches, vereinzelt betrachtet dunkel, [sic] geblieben wäre.“ Vgl. Mt 6,30; 8,26; 16,8. Predigt vom 13. März 1825 (Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 15, Nr. 9; HKG E.1.2, S. 291). Vgl. Huber 1959 (Anm. 3), S. 30 – 33.

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durch eine Predigt sollen die Menschen nicht zu Thränen sondern zur Beßerung bewegt werden, diese wird auf dem natürlichsten und von Jesu vorgeschriebenen Wege dadurch erziehlt daß man zur deütlichen Erkenˉtniß Jesu und seiner Lehren oder ins Licht zu kom ˉ en sucht und nicht daß man im Herzen mit dunkeln Gefühlen sein Wesen treibt und mit dem Mund allerley an sich schöne aber unverstandene Worte durch ein ander wirft.22

Die Aufgabe des Predigers als eines Lehrers liegt in aufklärerischer Manier darin, das Christentum hell und deutlich darzustellen und die irrigen Begriffe von göttlichen Dingen zu zerstreuen.23 Es ist zu vermerken, dass die Kernstücke christlicher Lehre aus Bitzius’ Predigten teilweise wörtlich im späteren literarischen Werk wieder aufgenommen sind. So etwa der Hauptgedanke der Dualität des Menschen als eines leiblichen und geistigen Wesens, der auf die paulinische Theologie zurückgeht.24 Im Zuge der Aufklärungsphilosophie rückte er ins Zentrum anthropologischer Überlegungen: wenn etwa Johann Gottfried Herder (1744 –1803) den Menschen als ein Mängelwesen bestimmte, das seine triebhafte Natur durch Vernunft oder Disziplinierung zu überwinden vermöge.25 In dieser rationalistischen Färbung ist die Dualitätsproblematik auch bei Bitzius in großer Regelmäßigkeit anzutreffen. Sie war für ihn insofern von Bedeutung, als auch er davon ausging, dass das Triebhaft-Tierische durch Ausbildung des Verstandes und Erziehung zur Mündigkeit bekämpft werden könne.26 In der Predigt vom 11. August 1822 heißt es beispielsweise: Wir kom ˉ en auf die Welt ohne Fertigkeiten ohne Kentniße schwach und hülflos, bloß die Anlagen sind angebohren, die theils im Körper theils im Geiste liegen. Natürlich ist unsere Aufgabe hienieden also die, beyde so sehr als möglich auszubilden, den Körper so zu üben daß er tauglich sey zu den Geschäften, denen wir uns gewidmen haben, den Geist so zu bilden wie uns die heilige Schrift vorschreibet, damit er tüchtig zum Him ˉ el und zu einem Engel werde d. h. die Fehler, mit denen er behaftet ist, im ˉ er eifriger zu bekämpfen auszurotten [...].27

Die christlich begründete Problematik wird im Schulmeister-Roman von 1838 / 1839 in ähnlichem Wortlaut wieder abgehandelt: Ein alt, schön Lied sagt, der Mensch sei halb Tier, halb Engel, das heißt, als Tier wird er geboren, ein Engel soll er werden. Dazu besitzt er die Anlagen, dazu hilft ihm Gott, dazu

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Predigt vom 10. November 1822 (Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 12, Nr. 21: 1822; HKG E.1.1, S. 442f.). Zur Lichtmetaphorik vgl. Dellsperger 2006 (Anm. 3), S. 242. Vgl. z. B. Gal 5,17; 6,8. Vgl. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin 1772, S.  31, 38 – 43. – Zu Gotthelfs christlicher Anthropologie im Anschluss an Herder und Schleiermacher vgl. auch die Kommentare in: HKG D.3.1, S. 276 – 283 (zu Die Hoffnung) und S. 546 – 552 (zu Die Liebe). Vgl. Manuela Heiniger: Der mündige Bürger im liberalen Staat. Politische Anthropologie in Jeremias Gotthelfs „Bildern und Sagen aus der Schweiz“, (in Vorbereitung), vgl. besonders die Kapitel 1.3 und 1.4. Predigt vom 11. August 1822 (Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 12, Nr. 10: 1822; HKG E.1.1, S. 349).

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beruft ihn das Christentum. Aus dem Tier muß sich der Engel herauskämpfen, wie aus der Puppe der Schmetterling sich entfaltet.28

Ein weiterer intertextueller Bezug findet sich in der handschriftlichen Fassung zum Kalendertraktat Demuth aus dem Neuen Berner-Kalender für das Schaltjahr 1844, wo die menschliche Bestimmung, das christliche Ziel der Loslösung aus den irdischen Banden, „freudig“ vor Augen gestellt wird: [...] daß die Welt gerade so ist wie sie ist, damit der Mensch werde wie er sein soll und wenˉ die Welt um ihn sich nicht gestaltete, wie er es meinte, so ward er ihrer nicht überdrüßig, sondern that an ihr was er konnte und fügte sich ins Unabanderliche, was Gott so wollte, und trachtete sich selbst so zu gestalten, wie Gott den Menschen haben will. So fühlt er in sich den Engel, der sich entfaltet hat, und harrt freudig seines Gottes, deßen Finger ihm sprengt die dunkle Hülle den Geist entbinde aus dem irdischen Leibe‹.›29

Der belehrende Duktus wird in Bitzius’ Predigten von einem ausgeprägten „seelsorgerlich-erzieherische[n] Predigtzweck“ eingefasst.30 Bereits in den frühen Manuskripten aus der Vikariatszeit wird sein Bestreben deutlich, die christliche Lehre mit dem Leben der Predigthörer zu verknüpfen. So ist neben den langen Ausführungen biblischer, religionsgeschichtlicher oder christlich idealistischer Prägung immer auch die Absicht zu erkennen, über die Belehrung hinaus eine „Gegenwartsbedeutung aufzuzeigen. Für jede Aussage der Bibel findet er eine [...] Beziehung zum ‚Heute‘, das heißt zum konkreten Leben seiner Gemeinde, so dass jeder Text äußerst aktuell wirkt“.31 Der Lebensbezug wird nicht nur inhaltlich, über die Aufnahme der gerade aktuellen bäuerlichen Arbeiten, des jahreszeitlichen Wandels oder aktueller Ereignisse, hergestellt, sondern scheint stellenweise auch in einer an der Mündlichkeit orientierten Sprache auf. b) Textphänomene der Mündlichkeit Ganz nach Hagenbachs Empfehlung, die Predigt „innerlich redend [zu] concipiren“, deutet eine Reihe von Textphänomenen darauf hin, dass Bitzius am Schreibtisch sitzend an die Predigtsituation auf der Kanzel dachte und dem Gegenüber der Predigthörer einen hohen Stellenwert einräumte. Letzteres kommt vor allem in einem ausgeprägten dialogischen Stil zum Ausdruck. Die Predigtmanuskripte sind über lange 28 29

SW 2, S. 86. HKG D.1, S. 693. Dieselbe Stelle lautet im Drucktext: „Es rinnt das Leben Stunde um Stunde dahin, an seinem Werke ringt der Mann seine Kräfte aus, es kömmt der Engel, der mit leisem Finger die Hüfte berührt, und müde sinken dem Greis die Hände nieder, und demüthig sieht er auf zu seinem Gott, daß er das Mangelnde ihm ergänze, daß er die Brücke wölbe über die Kluft, die ihn noch vom Ewigen trennt, den Himmel ihm öffne. Hinter ihm liegt im freundlichen Abendscheine das Leben, dankbar und freudig schaut er über dasselbe hin. Gerungen hatte er mit der Welt, aber entzweit, zerfallen war er nie mit ihr, denn die Demuth hatte ihn nie verlassen, und der Glaube, daß nichts von ungefähr sei, sondern Alles stamme aus Gottes väterlicher Hand. Jetzt weiß er es, daß die Welt, wie sie ist, sein muß, damit der Mensch werde, was er werden soll, daß im Ringen mit ihr des Engels Flügel sich entfalten, im irdischen Kampfe die himmlischen Kräfte wachsen sollen“ (HKG D.1, S. 381f.). 30 Huber 1959 (Anm. 3), S. 32. 31 Ebd., S. 39.

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Passagen hinweg an die zweite Person Plural adressiert, an die Predigthörer, die mit „L. A. [Liebe Andächtige]“ auch expressis verbis angesprochen sind. Zuweilen baut er nachdrücklich dialogische Einschübe ein wie etwa in der Predigt vom 7. Juli 1824: [...] habt ihr euren Wandel geheiligt, bey der Bestim ˉ ung eüer Güter auch an Gottes Willen gedacht? Wollt ihr selbst antworten oder soll ich es für eüch thun?32

Der Prediger bricht das Kollektiv oft in kleinere Untergruppen auf und geht von den Gemeindevorstehern über die Hausväter bis zum Gesinde, von den Betagten über die Eltern bis zu den Kindern alle Personengruppen durch, prüfend, tadelnd und zur Besserung hin zu einem christlichen Lebenswandel aufrufend. Sowohl formal im dialogischen Predigtstil als auch inhaltlich in der Unterteilung der Adressaten zeigt sich Bitzius’ volksaufklärerische Absicht, den Menschen als Individuum anzusprechen und zur Selbstprüfung anzuleiten. Der Mensch kann nicht durch indoktrinierte Wahrheiten und moralische Lehren versittlicht werden, sondern nur, indem er selbst erkennt, was gut und schlecht ist.33 Angesichts der Pflicht, Woche für Woche eine oder manchmal auch mehrere Predigten zu halten, ist kaum verwunderlich, dass die Manuskripte, obgleich sie eine sorgfältige gedankliche Planung erkennen lassen, in der Formulierung und Schriftführung oft auch flüchtig sind und den Eindruck vermitteln, als seien sie ein Zwischenprodukt auf dem Weg zum Kanzelvortrag.34 So benutzte Bitzius gewisse zum Teil durchaus konventionelle Abkürzungstechniken, um beim Schreiben schneller voranzukommen: Verschleifungen am Wortende, wie schon in den vorangehenden Zitaten unterpungiert wiedergegeben, kommen in auffallender Dichte beispielsweise in den Predigtmanuskripten vom Jahresende 1825, aber auch in den wenigen erhaltenen Predigten aus der Zeit nach 1832 vor. Schulden, so haben wirs wie jene saumselig Zahler, die ungemahnt nie ans Bezahlen denken, ihr Geld verschläudern ohne an die Befriedigung ds Glaübigers zu denken bis ds endlich den schlechten Schuldner von Haus und Hof treibt.35

Andere Predigtmanuskripte brechen kurz vor dem Ende der Predigt ab oder münden in einen nur noch stichwortartig ausgearbeiteten Predigtschluss, so dass anzunehmen ist, dass Bitzius diesen abschließenden Passus für den freien mündlichen Vortrag auf der Kanzel aufgespart hat. So heißt es am Ende der Predigt vom 18. September 1825 etwa nur noch: So werdet den wachsam auch im geistigen nicht im leiblichen nur sonst ist alles umsonst. Euere Plage um irdisch. eür Feste, Gebete ect.36

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Predigt vom 7. Juli 1824 (Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 14, Nr. 99; HKG E.1.2, S. 170). Vgl. Heiniger (Anm. 26), vgl. u. a. das Kapitel 2.3 zum Amt des Predigers. Vgl. etwa Karl Fehr: Jeremias Gotthelf. Zürich 1954, S. 110. Predigt vom 6. November 1825 (Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 15, Nr. 36; HKG E.1.2, S. 548). 36 Predigt vom 18. September 1825 (Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 15, Nr. 32; HKG E.1.2, S. 523).

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Auf eine eher flüchtige Schreibweise deuten auch die bei Bitzius in großer Häufigkeit anzutreffenden Buchstabenverdreher wie zum Beispiel „mcöhte“ (statt „möchte“)37 oder die auffällige orthographische Eigenheit der Lautvorwegnahmen hin. Letztere machen den Anschein, dass Bitzius’ Gedanken der Feder weit vorauseilten und dass er sich oftmals verschrieb, während er diese vorauseilenden Gedanken innerlich artikulierte. „Richt rein genug kanˉ unsere Frömigkeit seyn“38 oder „damit ihnen allen ihr Zustank klar sey“39 sind zwei Beispiele für die unzähligen Verschreibungen, die phonetische Vorwegnahmen enthalten. Obschon Bitzius in einer an der Sprache der Bibel orientierten gehobenen Schriftsprache predigte, finden sich in den Predigtmanuskripten auch Dialekteinsprengsel. Aus der langen Liste von Beispielen seien lediglich ein paar wenige erwähnt: „Krönig“ korrigiert zu „Krönung“40 „Fründlichkeit“ statt „Freündlichkeit“41 „Bis willkomen“ statt „Sei willkom ˉ en“42 „geschrauen“ statt „geschrien“43 „sich anlegen“ statt „sich anziehen“44 „Heilang“ korrigiert zu „Heiland“45

Die kurzen, zumeist auf ein Wort oder einzelne Silben beschränkten Wechsel ins mundartliche Register lassen vermuten, dass Bitzius während der Niederschrift eine an den Zuhörern orientierte dialogische Haltung einnahm. Sie sind deutliche Hinweise darauf, dass Bitzius am Schreibtisch die mündliche Situation auf der Kanzel im Kopf hatte.

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Predigt vom 11. September 1823 (Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 13, Nr. 66; HKG E.1.1, S. 758). Predigt vom 5. Juni 1825 (Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 15, Nr. 22; HKG E.1.2, S. 395). Predigt vom 7. September 1820 (?) (Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 21.1, Nr. 1; HKG E.1.1, S. 95). Dritte Klosterpredigt von 1819 (Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 20.1, Nr. 1; HKG E.1.1, S. 54). Predigt vom 7. September 1820 (?) (Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 21.1, Nr. 1; HKG E.1.1, S. 104). Predigt vom 25. Dezember 1820 (Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 12, Nr. 14: 1820; HKG E.1.1, S. 156). Predigt vom 21. Januar 1821 (Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 12, Nr. 19: 1821; HKG E.1.1, S. 239). Predigt vom 5. März 1821 (Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 12, Nr. 23: 1821); HKG E.1.1, S. 254). Predigt vom 17. November 1822 (Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 12b, Nr. 22; HKG E.1.1, S. 452).

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3. Bitzius als Prediger a) Wirkung der Predigten Obschon Bitzius weniger auf die Theologie als Wissenschaft als vielmehr auf eine „Wirksamkeit im praktischen Leben“46 und „Popularität“47 ausgerichtet war, sich um eine wirkungsvolle Predigtweise bemüht und an der Situation seiner Gemeinde orientiert hat, muss sein Erfolg als Prediger eher bescheiden gewesen sein. Dies geht aus Selbstzeugnissen ebenso wie aus Aussagen von Zeitgenossen deutlich hervor. Bereits 1817, in einem frühen Brief aus der Studienzeit, gesteht Bitzius: „Ich will das Predigtamt wählen, wozu ich freilich nicht die besten Organe besitze“.48 Noch zwölf Jahre später, nachdem er als Vikar an die Heiliggeistkirche in Bern berufen worden war, befürchtete er, als Prediger „schlecht zu bestehen“: „Ich bin nie ein tüchtiger Prediger gewesen, es fehlten mir besonders die physischen Anlagen dazu“.49 Tatsächlich dürfte ihn eine Sprechbehinderung, die wohl mit einem sich herausbildenden Kropf im Zusammenhang stand,50 im mündlichen Vortrag eingeschränkt haben. Seine Zuhörer scheinen dies zu bestätigen. Anlässlich der Kirchenvisitation 1834 ging aus der Gemeinde Lützelflüh die etwas pauschale Klage ein, Bitzius „predige unverständlich“.51 Präzisier urteilte der ehemalige Freund Johann Jakob Reithard (1805 –1857) in einem Nachruf auf ihn: Seine Predigtvorträge machten wenig Glück. Er extemporierte meistens, und zwar zuweilen unfließend, anstoßend, weil seine Zunge seiner geistigen Fülle oft nicht mächtig wurde; dann sah man gleichsam die Schatten mächtiger Gedanken drängend über die hohe Stirn fahren.52

Solche Aussagen, in denen wohl auch bereits das in der Rezeptionsgeschichte verbreitete Bild des genialen Dichters Gotthelf mitschwingt,53 haben mit dazu beigetragen, dass man in der Gotthelfforschung den Predigten des Pfarrers Bitzius lan-

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51 52 53

Brief an Sigmund Bitzius vom 20. Januar 1822 (EB 4, S. 62). Brief an Carl Baggesen vom 12. April 1829 (EB 4, S. 91); vgl. auch Kurt Guggisberg: Jeremias Gotthelf. Christentum und Leben. Zürich, Leipzig 1939, S. 41. Brief an Bernhard Studer vom März 1817 (EB 4, S. 13). Brief an Carl Baggesen vom 12. April 1829 (EB 4, S. 91f.). Vgl. von Zimmermann 2006 (Anm. 6), S. 33. Auch Biographen und Zeitgenossen schildern, Bitzius habe einen „dicken Hals“ gehabt, sei auf Jodin angewiesen gewesen (so etwa: Carl Manuel: Gotthelf im Leben und im Tod. In: Jeremias Gotthelfs Persönlichkeit. Erinnerungen von Zeitgenossen. Hrsg. von Walter Muschg. Basel 1944, S. 174) und sei sogar an dieser „übermäßigen Halsanschwellung“ oder den Folgen von deren Behandlung gestorben (Johann Jakob Reithard: Jeremias Gotthelf †. In: Jeremias Gotthelfs Persönlichkeit. Erinnerungen von Zeitgenossen. Hrsg. von Walter Muschg. Basel 1944, S. 194). EB 4, S. 159. Zitiert nach Reithard 1944 (Anm. 49), S. 193. Zur Geschichte der Gotthelf-Rezeption vgl. u. a. Stefan Humbel: In Scherz gekleidete Editionskritik. Carl Albert Looslis ‚Gotthelfhandel‘. In: Quarto 28, 2009, S.  67–75; Christian von Zimmermann: „Wenn es sich ums Menschenherz handelt, kann ja leider oft von Bschüttifass die Rede sein“. Wie Albert Anker Gotthelf las und wie er ihn illustrierte. In: Berner Zeitschrift für Geschichte 72/2, 2010, S. 93 –107; Franzisca Pilgram-Frühauf: 100 Jahre Sämtliche Werke von Jeremias Gotthelf. Familienausgabe oder historisch-kritische Edition? In: Berner Zeitschrift für Geschichte 73/2, 2011, S. 3 – 31.

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ge Zeit eher abwertend begegnete. Man gab sich zufrieden mit Gotthelf als einem „Schriftsteller, der zufällig auch noch reformierter Prediger gewesen“ ist,54 und ließ Selbstzeugnisse unberücksichtigt, die auf ein lebenslanges Suchen nach einer angemessenen Predigtweise hindeuten. Man fragte weder nach intertextuellen Bezügen zwischen den Predigten und dem erzählenden Werk noch nach Bitzius’ Auffassung seiner pastoralen Aufgabe. Erst mit der Idee einer „Einheit des Schreibtisches“ kann in seinem Werk eine volksaufklärerische Konstante untersucht werden,55 die sich von seinem ursprünglich homiletischen Anliegen, das er bereits in den frühen Jahren als Vikar äußerte, über die pädagogischen und publizistischen Schriften bis zum späten literarischen Werk durchzieht: nämlich auf eine Besserung und Versittlichung des Menschen hinzuarbeiten. Ebenso zahlreich wie Bitzius’ Bekundungen zum Ringen nach einer angemessenen Predigtweise sind die Belege dafür, dass er über die Resultate seiner Bemühungen als Prediger enttäuscht war.56 Eine halb leere Kirche, ein verstocktes, schläfriges Publikum werden in den Predigten selbst immer wieder angeprangert. Weil Bitzius die Auffassung vertrat, dass die Predigt eine Kommunikation zwischen Prediger und Gemeinde sei, geht er sogar so weit, ein Versagen des Predigers als Spiegel einer lauen Gemeinde zu verstehen: Erst dann hat man Freüde und Lust zur Arbeit wenˉ man ihre Würkung sieht und die Empfänglichkeit der Menschen dafür. [...] Freymüthig bekenˉ e ich es eüch, daß manchmal die geringe Zahl der die Predigt Besuchenden mir die Lust zur Predigt raubte, es kam ˉ mir vor als ob alles predigen nichts hülfe es kam ˉ mir hart und unbillig vor so lange und mühsam für so wenige Menschen studieren zu sollen, der Gedanke daß vielleicht niemand da sey, den die Predigt angehe raubte mir oft alle Lust an der Ausarbeitung derselben. So daß wenˉ ich im Predigen ganz erkaltet und nachläßig geworden wäre, ich einen Theil der Schuld eüch aufgeladen hätte.57

Vice versa, schärft Bitzius am 9. Mai 1824 den Utzenstorfern zum Abschied ein, müsse eine Gemeinde ihrem Lehrer zeigen, was sie begehre: [...] nämlich durch seinen Unterricht zu from ˉ en Christen und verständigen Menschen zu werden. Beweiset es daß eüch am Gottesdienst an der Religion viel gelegen sey, beweiset ihm die Liebe die Achtung die ihr uns erwiesen, dann könnet ihr versichert seyn, daß der Lehrer das mögliche leisten sein Eifer im ˉ er rege seyn und seine Lust zu eürem Heil zu arbeiten durch eüch imer neü wird erzeügt werden.58

Am Bettag 1824, nun in Herzogenbuchsee, heißt es dann resigniert: „So redet der Prediger in den Wind und die hölzernen Bänke und Stühle sind eben so aufmerksame Zuhörer als die lebendigen Menschen“.59 54 Knellwolf 1990 (Anm. 3), S. 21. 55 Von Zimmermann 2006 (Anm. 6), S. 43. 56 Vgl. Manuela Heiniger: Ein guter Prediger vor halbleeren Bänken. In: UniPress 154, 2012, S. 9f. 57 Predigt vom 9. Mai 1824 (Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 14, Nr. 95; HKG E.1.2, S. 133). 58 Ebd. 59 Predigt vom 9. September 1824 (Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 14, Nr. 101; HKG E.1.2,

S. 199).

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Sei es, dass Bitzius’ Sprechorgane dem Predigtamt nicht gewachsen waren oder dass es an der „Empfänglichkeit der Menschen“ für seine Worte mangelte, die Frage, weshalb die „Würkung“ der Predigten nicht seinen Vorstellungen entsprach, hat gemäß der Stelle aus dem Brief vom 16. Dezember 1838 auch einen Zusammenhang mit der „Lebenssprache, wie man sie auf der Kanzel nicht duldet“.60 Was zeichnet diese „Lebenssprache“ aus, die dem Publikum in der Kirche offenbar missfallen hat? Worin besteht Bitzius’ Predigtideal, das er im Vollzug so oft vermisste? b) Predigtideal Hinsichtlich der Texte im Neuen Berner-Kalender wurde bereits untersucht: „Lebenssprache“ enthält direkte Figurenrede, umgangssprachliche Wendungen und Mundart. In „Lebenssprache“ gefasst sind unterhaltsame Exempel und Einblicke in den von den Leserinnen und Lesern erlebten konkreten Alltag. Allgemein kann die Tendenz beobachtet werden: Je stärker Gotthelf einzelne Figuren in ihrem Lebenskontext darstellt und sprechen lässt und je weniger er sich als kommentierender und belehrender Kalendermann einbringt, desto mehr umgangssprachliche Wendungen und Dialekt enthält der Text.61

Umgekehrt wird für Belehrungen und Kommentare eine gehobene Schriftsprache gewählt. Halten wir kurz fest: Während der Kalender vom vielfältigen Wechsel zwischen den verschiedenen sprachlichen Registern lebt und so eine lebendige Sprache, eben eine „Lebenssprache“ vorzuführen vermag, zweifelte Bitzius daran, ob seine Predigtsprache, die er ebenfalls lebendig gestaltete, nicht am Leben seiner Zuhörer vorbei ziele. Am Begriff der „Lebenssprache“ lässt sich wohl eines der Hauptprobleme aufzeigen, welche er als Prediger mit sich herumtrug. Auch die Predigteinschübe in den Romanen, die teilweise Auszüge aus Bitzius’ eigener Predigttätigkeit enthalten, wurden eingehend untersucht.62 Sie sind nicht nur eindrückliche Beispiele für die intertextuelle, auch Gattungsgrenzen übergreifende Arbeitsweise des Pfarrers und Dichters, Kalendermachers, Publizisten und Pädagogen, sondern geben – im narrativen Kontext einer Romanhandlung – Aufschluss darüber, wie Bitzius sich eine ideale Predigt vorstellte. So ist beispielsweise die Berner Predigt vom 20. Dezember 1829 über Mt 26,29 im Roman Geld und Geist an entscheidender Stelle in direkter und indirekter Rede der Pfarrerfigur wieder aufgenommen.63 Sie enthält den Grundgedanken, dass man jedes 60 61

Brief an Carl Bitzius vom 16. Dezember 1838 (EB 4, S. 282). HKG D.3.1, S. 65 – 79, hier: S. 71; Barbara Berger Guigon: Mundart und Schriftsprache in Gotthelfs Kalendertexten. In: Barbara Berger Guigon, Stefan Humbel, Thomas Richter u. Christian von Zimmermann: Jeremias Gotthelf und sein Neuer Berner-Kalender. Jahresausstellung der Gotthelf-Stube. Lützelflüh 2008, S. 44. 62 Vgl. z. B. Knellwolf 1990 (Anm. 3), S. 166 –183, S. 199 – 206. 63 Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 18, Nr. 19; EB 3, S. 133 –147. Gemäss Notizbuch (vgl. Anm. 16) hat Bitzius am 23. Mai 1841 ebenfalls über Mt 26,29 gepredigt; weil es sich bei diesem Datum analog zur entsprechenden Stelle in Geld und Geist um den Sonntag vor Pfingsten handelt, ist anzunehmen, dass Bitzius diese und weitere Predigten aus dem Jahr 1841 als direkte Vorlagen für den

„Lebenssprache, wie man sie auf der Kanzel nicht duldet“155

Abendmahl genießen soll, als wäre es das letzte, es zum Anlass nehmen soll, sich im Leben auf das Sterben vorzubereiten und sich mit den Mitmenschen zu versöhnen. Im fiktionalen Rahmen der Romanhandlung wird nun möglich, was Bitzius in seiner realen Predigttätigkeit wohl allzu oft vermisst hat: Änneli, die sich mehr widerwillig aufgerafft hat, trotz der anhaltenden Ehekrise ihre zerrüttete Familie in der Kirche zu vertreten, hört die Predigt so, „als hätte der Pfarrer in ihr Herz gesehen und die Worte gerade auf sie gerichtet“.64 Der narrative Kontext des Predigteinschubs macht deutlich: Die Anwendung christlicher, in der Predigt verkündeter und ausgelegter Inhalte auf die Lebenswirklichkeit der Predigthörer, die Bitzius in seinen Predigten mit direkter Anrede oder Beispielen vorzubereiten suchte, kann erst zum Abschluss kommen, wenn das Wort des Predigers gehört und auf existentieller Ebene nachvollzogen wird.65 Änneli lebt beispielhaft vor, wie eine Predigt nach Bitzius’ Idealvorstellung wirken muss. Sie führt zur Gewissensprüfung, zur Erkenntnis des eigenen sündhaften Zustandes und zur Demut und bewegt zu einer neuen Ausrichtung auf Gott und Menschen. Das in der Kirche Gehörte befähigt Änneli dazu, die festgefahrenen, von Streit und Hass beherrschten Familienverhältnisse zu relativieren und wieder einem im Glauben verankerten Frieden Raum zu geben. Auch im Jacob-Roman wird der Protagonist durch Predigten zur Reifung und Besserung erzogen. Der Pfarrer erscheint in der Rolle eines Volksaufklärers, der „vernunftgemäße Sachen“ sagt, dabei aber die Leidensgeschichte Jesu zur Passionszeit „mit ganz einfachen Worten“ so „vor Augen zu stellen“ vermag,66 „daß es den Zuhörern heiß ward ums Herz, daß sie meinten, sie seien dabei, erlebten alles mit, daß in ihre Herzen die lebendige Ueberzeugung kam, was sie hörten, sei die Wahrheit, und kein ersonnen Mährlein“.67 Was die Predigtweise dieser Pfarrerfigur auszeichnet, ist ihre Anschaulichkeit, die eine so vereinnahmende Auswirkung auf die Predigthörer hat, dass diese als neue Menschen die Kirche verlassen; „selbst alte Weibchen schritten rüstiger, husteten weniger, stiegen leichter hinauf an die Halden, wo ihre Heimath war“.68 Die intradiegetische Redesituation der Predigerfigur innerhalb der Romanhandlung führt anhand ihres narrativen Kontextes vor, was sich Bitzius auch für seine Predigttätigkeit gewünscht hätte: Um Anschaulichkeit und existentielle Nähe bemühte Predigten wirken so, dass die Predigthörer das Gehörte adaptieren, ihren Glauben stärken und ihr Leben wieder neu nach einer christlich verankerten Sozialethik ausrichten können. Dass eine anschauliche und lebensnahe, an Situationen aus dem Alltag orientierte Predigtweise für die Kirchgänger in Utzenstorf, Herzogenbuchsee,

Roman benutzt hat (vgl. dazu Heiniger (wie Anm. 26), besonders das Kapitel 3.5.5 zu Predigt und Narration). 64 SW 7, S. 76. 65 Vgl. auch die These in Knellwolf 1997 (Anm. 3), S. 177: „Die Theologie [...] hat [für Bitzius] ihren Zielpunkt im analogischen Nachvollzug biblischer Narration“. 66 HKG A.6.1, S. 721. 67 Ebd. 68 Ebd., S. 728.

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Manuela Heiniger und Franzisca Pilgram-Frühauf

Bern und Lützelflüh oft fremd, unerwartet oder gar unerwünscht gewesen sein muss, zeigt etwa die Reaktion von Charlotte Miescher, welche sich nach einem Predigtbesuch in Lützelflüh über das „seltsame Beispiel des Predigers verwundert äußerte[]“;69 das Bild eines Kindes, das in einem Stall Zuflucht suchte, um sich an einem Kalb zu wärmen, hatte sie irritiert.

4. Konsequenzen für die Predigtedition: Bitzius als zweifacher Kopfarbeiter Mit dem Projekt einer historisch-kritischen Predigtausgabe halten der Aspekt der Mündlichkeit und die Fragestellung der Performanz, welche seit einigen Jahrzehnten die kulturwissenschaftliche Forschung beschäftigt, auch in editionsphilologische Fragestellungen Einzug. Und dies, obwohl die historische Predigtsituation, auch im Rahmen ihres liturgischen Vollzugs, nur annäherungsweise, anhand der Manuskripte, durch theologie- und homiletikgeschichtliche Studien und durch Beobachtung gesellschaftlich-diskursiver Zusammenhänge, rekonstruiert werden kann. Die Untersuchung hat vor allem eines gezeigt: Bitzius’ Predigtmanuskripte spiegeln die homiletische Grundüberzeugung wider, dass der Zweck der Predigt nicht mit dem Vortrag auf der Kanzel, geschweige denn bereits mit ihrer Niederschrift erfüllt sei, dass sie vielmehr erst mit einem Anstoß zu einem besseren Lebenswandel, mit einer existentiell zu verstehenden Anwendung durch die Predigthörer ihr Ziel erreicht habe. Hinsichtlich der Arbeitsweise70 lassen die Manuskripte erkennen, dass Bitzius den Typus eines Kopfarbeiters repräsentiert und lieber eine Predigt nochmals neu geschrieben hat, als auf dem Papier größere Bearbeitungen vorzunehmen. Darüber hinaus gehört zu seiner Arbeitsweise als Prediger, dass er auch ‚Kopfarbeiter‘ in einem zweiten, pragmatischen Sinne war, indem er seine Manuskripte in der Haltung einer direkten Anrede und im Blick auf die einzelnen Predigthörer verfasste, am Schreibtisch zwar, aber „mit dem Geiste auf der Kanzel“ stehend.71 Der Predigtauftrag bestand für Bitzius einerseits in einem aufklärerischen Sinne in der Verkündigung und belehrenden Auslegung der Bibel und insbesondere der paränetischen Texte,72 die er mit dicht gestreuten Zitaten und Anlehnungen in seine Predigtvorträge aufnahm. Er wusste aber auch, dass es mit bloßen Feststellungen und Belehrungen nicht getan ist, sondern dass die Rede über den Menschen, wie sie auch die Bibel kommuniziert, in „Lebenssprache“ gefasst werden muss, will sie auf das Leben selbst abzielen. So steht bei ihm andererseits der seelsorgerlich-erzieherische Predigtzweck ganz im Vordergrund, der sich in den Predigtmanuskripten in vielfältigen Anredeformen, durch Anschaulichkeit und Beispielhaftigkeit äußert und dabei an eine einfache, schmucklose Sprache mit einer Tendenz zur mündlichen Redesituation hält. Beides führt zu einer Diskrepanz, die sich in den Predigtmanuskrip69

Charlotte Antonie Miescher-His: Ein Besuch in Lützelflüh. In: Jeremias Gotthelfs Persönlichkeit. Erinnerungen von Zeitgenossen. Hrsg. von Walter Muschg. Basel 1944, S. 149. Vgl. Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. 2. Auflage. Stuttgart 2006, S. 46 – 58. 71 Hagenbach 1863 (Anm. 11), S. 136. 72 Vgl. Huber 1959 (Anm. 3), S. 34f. 70

„Lebenssprache, wie man sie auf der Kanzel nicht duldet“157

ten niederschlägt: Teils sind sie sehr sorgfältig ausformuliert, mit eindrücklichen, später in den Erzählungen und Romanen wieder aufgenommenen Gedankengängen und sprachlichen Bildern, teils sind sie flüchtig niedergeschrieben, weisen sehr viele Verschreibungen, Sofortkorrekturen und Verschleifungen am Wortende auf und münden gelegentlich auch in einen fragmentarischen Schluss. Im Hinblick auf die historisch-kritische Edition der Predigten bedingt die erste Beobachtung einen ausführlichen Kommentar, der die Predigten in ihrem gesellschaftlich-diskursiven sowie theologie- und homiletikgeschichtlichen Kontext zu verstehen sucht und mit Verweisen deren intertextuelle Vernetzung mit dem Grundtext der Bibel einerseits und dem Werk Jeremias Gotthelfs andererseits offenlegt. Aufgrund der zweiten Beobachtung kann Gotthelfs Predigten nur mit einer minutiösen Arbeit am Textapparat begegnet werden. So wie Bitzius die Aufgabe und Verheißung der Predigt formulierte, so äußerte er sich auch zu ihren Grenzen und seiner Not mit ihr, wenn sich das Predigtpublikum ihrer Wirkung verschloss. In der gescheiterten Verkündigung macht sich bei ihm aber weder nur Resignation breit noch ist der berühmt gewordene Wandel zum Dichter Jeremias Gotthelf als eine Metamorphose zu verstehen, die den Pfarrer Bitzius verdrängt; dieser hat in Lützelflüh und anderswo73 weiterhin regelmäßig gepredigt, auch wenn nach 1832 nur noch wenige vollständig ausgeführte Predigtmanuskripte erhalten sind. Vielmehr entwirft die Grundspannung in Bitzius’ Predigtweise ein auch für die literarischen Werke gültiges Autorverständnis eines Volksaufklärers, dessen Texte nicht bloß die düstere und von der menschlichen Sünderexistenz geprägte Realität feststellen, sondern die Predigthörer und Leser vor allem erziehen und zu einem im christlichen Glauben gegründeten, besseren Lebensvollzug bewegen wollen.

Abstract The sermon manuscripts which Albert Bitzius (the future writer Jeremias Gotthelf) composed mostly in his time as curate from 1820 to 1831 are not to be considered as texts standing for themselves but as parts of a comprehensive context of proclamation and understanding in which the written expressivity of the biblical tradition and the orality of preaching are combined. The paper discusses the importance of the homiletic constellation “between orality and written expressivity” and its significance in correlation to the work of textual scholarship, which is based on the grounds of letters. Included in the examination are indications given by Bitzius’ handwriting and the dialectal characteristics in the above-mentioned manuscripts.

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Vgl. etwa die Predigt vom 10. Juni 1840, gehalten vor dem Kapitel Burgdorf (EB 3, S. 234 – 249).

Na tionale und inte rnation al e B ezü g e

Eberhard Güting

Die Internationalität der neutestamentlichen Textkritik zwischen Praxis und Theorie seit Karl Lachmann

Karl Lachmann gilt als erster Editor eines nach kritischen Prinzipien edierten Neuen Testaments. Seine Leistungen in der Edition klassischer Texte und seine Forschungen auf dem Gebiet der mittelhochdeutschen Literatur waren bahnbrechend. Im Blick auf seine internationale Anerkennung und ebenso angesichts internationaler Kritik ist es heute erforderlich, das Vorgehen dieses Gelehrten genau zu erörtern.

1. Die Leistung Karl Lachmanns in Kritik und Edition des neutestamentlichen Textes In seinem deutsch geschriebenen Rechenschaftsbericht des Jahres 1830 tritt Karl Lachmann, der Herausgeber des ‚strenghistorisch‘ edierten Neuen Testaments selbstbewusst und nicht ohne Schärfe auf.1 Er erkennt die Leistung seines Vorgängers Griesbach an, doch nennt er auch ihre Grenzen. Bezüglich der sogenannten recepta, deren Lesarten von Griesbach akzeptiert wurden, bemerkt Lachmann: „‚Ist Ursach vorhanden, von der gewöhnlichen Lesart abzugehn?‘, war seine Frage, da doch die natürliche nur seyn kann, ‚Ist Ursach vorhanden, von der am besten bezeugten Lesart abzugehn?‘“2 Lachmann ist bereit, sein Verfahren „mechanisch“ nennen zu lassen, die Zeit für innere Kritik ist noch nicht gekommen. „Angesichts des verheerenden Missbrauchs der suggestiven Kritik suchte er nach Kriterien, die objektiv wären und denen man mit Strenge folgen konnte. Die Strenge wurde manchmal mechanisch“.3 Die Sprache des Neuen Testaments und seiner Autoren lässt sich ohne deutliche editorische Fortschritte nicht untersuchen. Lachmann ist nicht imstande, auch nur annäherungsweise den Text neutestamentlicher Autoren zu bieten. Alles, was er bieten kann, sind Texte, wie sie nachweislich in der ältesten Überlieferung des 4. Jahrhunderts im Umlauf waren. Die Argumentation aus der inneren Kritik weist er vorläufig ab.4 Lachmann stützt sich auf die ältesten Zitate neutestamentlicher Texte in der patristischen Überlieferung,5 auf die ältesten, besonders die altlateinischen Übersetzungen 1 2 3 4 5

Winfried Ziegler: Die ‚wahre strenghistorische Kritik‘. Leben und Werk Carl Lachmanns und sein Beitrag zur neutestamentlichen Wissenschaft. Hamburg 2000. Carl Lachmann: Rechenschaft über seine Ausgabe des Neuen Testaments. In: ThStKr 3, 1830, S. 817– 845, hier S. 818. Giorgio Pasquali: Storia della tradizione e critica del testo. 2. Auflage. Firenze 1962, S. 4. Lachmann 1830 (Anm. 2), S. 819. Lachmann 1830 (Anm. 2), S. 833, vgl. S. 836.

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Eberhard Güting

und auf die Arbeit des Hieronymus.6 Den wichtigen Codex Fuldensis der Vulgata hat er selbst zusammen mit Philipp Buttmann kollationiert.7 Lachmann ist sich bewusst, wissenschaftlicher Kritik den Weg freizumachen. Zunächst aber muss diese bereit sein, die Überlieferung zu achten, auch wo sie erweislich auf Unrichtiges führt.8 Diese Überlieferung aber begegnet hier in zwei unterschiedlichen Traditionen, der okzidentalischen und der alexandrinischen. Wo beide einheitlich überliefern, ist keine der beiden ohne weiteres vorzuziehen. Wo eine der beiden uneinheitlich überliefert, verstärkt sie das Zeugnis der einheitlich überliefernden Zeugengruppe.9 Nur im Okzident überlieferte Lesarten, Lesarten also, die im Orient fehlen, werden nicht in den edierten Text aufgenommen. Das ist eine grundsätzliche Entscheidung. Diese Entscheidung ist in der noch stark begrenzten Kenntnis antiker Handschriften begründet.10 Aus heutiger Sicht ist sie zu beanstanden. Denn inzwischen hat Günther Zuntz gezeigt, dass alle drei Traditionsströme aus der Antike, der westliche, der alexandrinische, und ebenso der byzantinische, nachweisbar allein ursprüngliche Lesarten bewahrt haben.11 Lachmann gibt genau an, auf welche Arbeiten er sich bei seiner Edition stützen konnte, ebenso aber auch, auf welche er sich nicht verlassen wollte.12 Sein „mechanisches“ Verfahren veranlasste ihn, „unstreitig fehlerhafte“ Lesarten in seine Edition aufzunehmen. Seine philologisch begründete Kritik erlaubt es, ohne Weiteres zahlreiche Zusätze als sekundär zu kennzeichnen.13 Dabei moniert er auch gelegentlich Zusätze, die in heutigen Editionen noch unrichtigerweise als Text erscheinen, so z. B. in Lk 24,12; 24,51; 24,52. Lachmann hat bereits mit seinen drei kleinen Stereotypeditionen der Jahre 1831, 1837 und 1846, die noch keine Apparate enthielten, den überlieferten Textus Receptus ein für alle Male ersetzt.14 Und dieser Aspekt seiner Leistung wurde von den Zeitgenossen sogleich anerkannt.15 Die große kritische Edition enthielt weitere Fortschritte.16 Lachmann betonte ausdrücklich den 6 7 8 9 10

Lachmann 1830 (Anm. 2), S. 824. Ziegler 2000 (Anm. 1), S. 177–178. Ziegler 2000 (Anm. 1), S. 178; Martin Hertz: Karl Lachmann. Eine Biographie. Berlin 1851, S. 159. Lachmann 1830 (Anm. 2), S. 821. Lachmann 1830 (Anm. 2), S. 826 – 827. Lachmann 1830 (Anm. 2), S. 827, vgl. S. 838 und S. 835, Anm. a. Siehe auch Irving Alan Sparks: Lachmann, Karl (1793 –1851). In: TRE, Bd. 20. Hrsg. von Gerhard Müller. Berlin, New York 1990, S. 368 – 370. 11 Eberhard Güting: The methodological contribution of Günther Zuntz to the text of Hebrews. In: NovT 48, 2006, S. 359 – 378. 12 Lachmann 1830 (Anm. 2), S. 833 – 834. 13 Lachmann 1830 (Anm. 2), S. 842. Novum Testamentum Graece ad antiquissimos testes denuo recensuit apparatum criticum apposuit Constantinus Tischendorf. Editio octava critica maior, Bd. 3: Prolegomena scripsit Caspar Renatus Gregory. Additis curis † Ezrae Abbot. Leipzig 1894, S. 258 – 266. 14 Caspar René Gregory: Textkritik des Neuen Testamentes, 3 Bde. Leipzig 1900 –1909. Siehe Bd. 2, S. 966. So schon Friedrich Lücke: Rezension Lachmann. In: GGA 1843, S. 1330 –1352, siehe S. 1333. 15 Friedrich Lücke: Rezension Novum Testamentum Graece. Ex recensione Caroli Lachmanni. Editio stereotypa. Berlin 1831. In: GGA 1831 S. 657– 676; H. C. M. Rettig: Rezension. In: ThStKr 5, 1832, S.  861– 901; August H. Hahn: Rezension. In: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik 1838, S. 726 –784. 16 Novum Testamentum Graece et Latine. Carolus Lachmannus recensuit. Philippus Buttmannus Ph. f. Graecae lectionis auctoritates apposuit. Tomus prior. Berlin 1842. Tomus alter. Berlin 1850.

Die Internationalität der neutestamentlichen Textkritik zwischen Praxis und Theorie163

selbstständigen Anteil, den Buttmann an der Vollendung der großen Ausgabe hatte. In der Zwischenzeit hatte Lachmann seinen Ansatz verfeinert, sein Verständnis der lateinischen Überlieferung vertieft, seine Beurteilung der frühen Überlieferungsvorgänge gefestigt. Auch die große Ausgabe ist das Ergebnis konsequenter ‚recensio‘. Lachmann bleibt dabei, dass ‚emendatio‘ dieser zu folgen habe, aber zunächst nicht in das Ergebnis eingehen darf.17 Hinsichtlich der alten lateinischen Übersetzungen erkannte Lachmann, dass die besten Zeugen in Afrika entstanden waren, dass die italische Überlieferung durch Überarbeitung dieser Schicht von Zeugen entstand und dass die gallische Überlieferung hiervon zu unterscheiden ist.18 Aus der Untersuchung der Arbeit des Hieronymus ergab sich erstaunlicherweise, dass die in der Itala greifbaren, auf Handschriften gestützten Verbesserungen das Zeugnis alter griechischer Überlieferungsträger verstärkten.19 Lachmann erkannte, dass er in der Väterüberlieferung neben dem ‚Übersetzer des Irenäus‘ auf Cyprian, Hilarius von Poitiers und Lucifer von Calaris sowie in der Johannesapokalypse auf Primasius zurückgreifen konnte.20 Unter den griechischen Vätern stützte er sich aus guten Gründen ausschließlich auf Origenes.21 Lachmann konzentrierte das in seinen Editionen des Neuen Testaments Geleistete, wie gesagt, auf die Darbietung seiner ‚recensio‘ der alten Überlieferung des 4. Jahrhunderts. Darüber hinaus äußerte er sich in den Vorreden der großen Ausgabe zu Fragen der erforderlichen Emendationen. Er nennt Stellen, an denen diese Überlieferung verderbten Text bietet, ohne hier selbst zu ändern.22 Im zweiten Band präsentiert er eigene Konjekturen, allerdings ohne diese in den gedruckten Text aufzunehmen.23 Die beiden Vorreden zur großen Edition des Neuen Testaments lassen erkennen, dass der Gelehrte von übelwollender und ungerechtfertigter zeitgenössischer Kritik tief getroffen war.24 Doch gab es auch eingehende und aufmerksame Anerkennung von vielen Seiten. Die deutschen Theologen Lücke (der die Hermeneutik Schleiermachers eigenständig und kraftvoll vertrat) und Rettig, Bunsen und Tischendorf, der Niederländer J. I. Doedes, die britischen Gelehrten Tregelles, Davidson und Horne sowie der Erzieher Arnold äußerten sich öffentlich. Lücke stellte bereits vor dem Erscheinen des zweiten Bandes in den Göttingischen gelehrten Anzeigen fest, „es gibt jetzt keine protestantische Universität in Deutschland, wo nicht von den Kennern und Sachverständigen Lachmanns Werk in den exe-

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Ziegler 2000 (Anm. 1), S.  163. Im zweiten Band seiner großen Ausgabe erörtert Lachmann ausführlich Probleme des Emendierens, vgl. Novum Textamentum Graece et Latine 1850 (Anm. 16), S. III – XIII. Ziegler 2000 (Anm. 1), S. 172 –175. Ziegler 2000 (Anm. 1), S. 166, Anm. 28 und S. 169. Lachmann 1850 (Anm. 16), S. X. Ziegler 2000 (Anm. 1), S. 168 und S. 171. Lachmann 1850 (Anm. 16), S. XLIV. Lachmann 1850 (Anm. 16), S. V – XIII. Lücke 1843 (Anm. 14), S. 1331.

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getischen Studien, Vorträgen, Seminarien, Gesellschaften mit allem Ernste und aller Achtung gebraucht und erörtert wird“.25

2. Die kritische Wahrnehmung Karl Lachmanns Bereits am 18. 5. 1831 schrieb der bedeutende klassische Philologe Gottfried Hermann an Lachmann: „Allerdings muß die Sache auf diese Weise angegriffen werden, wie Sie gethan haben“.26 Im Rahmen der Einleitung in die Altertumswissenschaft Alfred Gerckes und Eduard Nordens würdigte Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff die außerordentlichen Leistungen Lachmanns umfassend und fand dabei berechtigte Worte der Bewunderung.27 Bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Leistungen Karl Lachmanns ohne ernstliche Kritik anerkannt.28 Sein Vorgehen wurde unter der Bezeichnung ‚Lachmanns Methode‘ in der klassischen Philologie, in der Romanistik,29 in der Mediävistik empfohlen, überall dort also, wo Texte handschriftlich von Kopie zu Kopie tradiert wurden. Man war zuversichtlich, mit Hilfe von Bindefehlern Stemmata aller bekannten Überlieferungsträger erstellen zu können. Doch publizierte der französische Literaturwissenschaftler Joseph Bédier 1928 eine folgenreiche Kritik an den Editionen mittelalterlicher französischer Literaturwerke. Er warf nach der Prüfung von mehr als 100 Editionen den Herausgebern vor, Stemmata willkürlich manipuliert zu haben.30 Vorgelegte Stemmata zeigten nach Bédier in verblüffender Einseitigkeit jeweils zwei Abzweigungen, jeweils zwei Verästelungen mit dem Ergebnis, dass Editoren sich berechtigt glaubten, die jeweils gewünschten Zeugen zu bevorzugen. So wurde also der literarische Geschmack der Editoren zur entscheidenden Größe. Bédier entwickelte im Anschluss an seine Kritik ein statistisches Verfahren, das auf jede philologische Kritik grundsätzlich verzichtete, Lesarten nicht mehr als höherwertig oder als Textfehler bezeichnete, und schließlich auf die numerisch überlegene Bezeugung setzte. Bédier stützte seine Position auf gründliche Analysen der Überlieferung des Lai de l’ombre. Er betonte selbstverständlich die Sonderstellung mediävistischer, insbesondere französischer Überlieferungen gegenüber den in der klassischen Philologie behandelten Texten.

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Friedrich Lücke: Epimetron. In: GGA 1848, S. 499 – 511, hier S. 504. Albert Leitzmann: Briefe an Karl Lachmann aus den Jahren 1814 – 50. In: APAW.PH 1915, S. 41– 42. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Geschichte der Philologie. In: Einleitung in die Altertumswissenschaft, Bd. 1, H. 1. Hrsg. von Alfred Gercke und Eduard Norden. Leipzig, Berlin 1921, S. 1– 80, hier S.  58 – 59. Im Jahre 1998 erschien ein Nachdruck. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Geschichte der Philologie. Mit einem Nachwort und einem Register von Albert Henrichs. Neudruck der Erstauflage von 1921. 3. Auflage. Stuttgart, Leipzig 1998. 28 Edward John Kenney: The Classical Text. Aspects of Editing in the Age of the Printed Book. Berkeley, Los Angeles, London 1974, S. 130. 29 Joseph Bédier: La tradition manuscrite du Lai de l’ombre. Réflexions sur l’art d’éditer les anciens textes. In: Romania 54, 1928, S. 161–196, 321– 356, cf. S. 164, Anm. 1. 30 Bédier 1928 (Anm. 29), S. 168 –171.

Die Internationalität der neutestamentlichen Textkritik zwischen Praxis und Theorie165

Gegen Lachmanns Methode und in wichtigen Punkten im Gegensatz zur Arbeitsweise der klassischen Philologie entwickelte auch Dom Henri Quentin eine eigene Position.31 Wie Lachmann legte er Wert darauf, ‚recensio‘ und ‚emendatio‘ voneinander zu trennen und weiterhin auf jede Auszeichnung guter oder schlechter Lesarten, von Fehlern oder von Bindefehlern zu verzichten.32 Quentin konnte sich auf seine Erfahrungen in der Vulgatakommission Pius’ X. stützen, die in vorbildlicher Weise mit Hilfe von Teststellen eine immense Menge an Oktateuchhandschriften kollationiert und hinsichtlich der Qualität der Überlieferung gemustert hatte.33 Mit einem taxonomischen Verfahren, das Dreiergruppen von Zeugen an ausgewählten Teststellen analysiert, zielte Quentin auf einen Archetyp, der dem zu gewinnenden Text zwar nicht entspricht, aber ihm doch nahe kommt.34 Wie seine Serie von Aufsätzen zeigt, hielt Quentin sein Verfahren für vielseitig einsetzbar. Bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde auch angesichts immer stärkerer Heranziehung computergestützter Kollationen und Textverarbeitungsprogramme mehrheitlich an der stemmatischen Methode Lachmanns festgehalten.35 Dies scheint sich inzwischen zu ändern, der Prozess kann hier jedoch nicht thematisiert werden. Eine grundlegende Darstellung der Textkritik für die Hand des klassischen Philologen, verfasst von Paul Maas, erschien 1927 in Alfred Gerckes und Eduard Nordens Einleitung in die Altertumswissenschaft. Vier Auflagen dieser Textkritik erschienen, bis diese Darstellung von Seiten des Teubner Verlages ersetzt wurde durch Martin L. Wests Textual Criticism and Editorial Technique Applicable to Greek and Latin Texts.36 Man kann beide Darstellungen als aktualisierte Fassungen der Methode Karl Lachmanns bezeichnen. Paul Maas zeigt eingehend, welche Möglichkeiten verschiedene Konstellationen von Zeugen eröffnen. Er erörtert weiter die Identifizierung und Verwendung von Leitfehlern, ein Begriff, den Lachmann noch nicht kennt.37 Eine große Beispielsammlung unterstreicht, dass durchaus junge und isolierte Zeugen alte

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36 37

Dom Henri Quentin: Essais de critique textuelle (Ecdotique). Paris 1926. Kenney 1974 (Anm. 28), S. 135, Anm. 3 bezieht sich auf das kritische Echo, das diese Arbeit von vielen Seiten erhielt. Quentin 1926 (Anm. 31), S. 11. Biblia sacra iuxta latinam vulgatam versionem ad codicum fidem iussu Pii PP. XI. cura et studio monachorum Sancti Benedicti edita. Romae 1926 –1995. Nur der alttestamentliche Teil ist erschienen. Quentin 1926 (Anm. 31), S. 37. Kurt Gärtner: Der Computer als Werkzeug und Medium in der Editionswissenschaft. Ein Rückblick. In: editio 25, 2011, S. 32 – 41, vgl. S. 39. Gerd Mink: Contamination, Coherence, and Coincidence in Textual Transmission. The Coherence-Based Gemealogical Method (CBGM) as a Complement and Corrective to Existing Approaches. In: The Textual History of the Greek New Textament. Changing Views in Contemporary Research. Ed. by Klaus Wachtel and Michael Holmes. Atlanta 2011 (SBL Text-Critical Studies 8), S.  141– 216; Gerd Mink: Problems of a Highly Contaminated Tradition, the New Testament. Stemmata of Variants as a Source of a Genealogy for Witnesses. In: Studies in Stemmatology, Vol. 2. Ed. by Pieter van Reenen, August den Hollander, Margot van Mulken. Amsterdam 2004, S. 13 – 85; Peter M. W. Robinson: Computer-Assisted Stemmatic Analysis and ‚Best-Text‘ Historical Editing. In: Studies in Stemmatology, Vol. 1. Ed. by Pieter van Reenen, Margot van Mulken with the assistance of Janet Dyk. Amsterdam, Philadelphia 1996, S. 71–103. Paul Maas: Textkritik. 4. Auflage. Leipzig 1960. Martin L. West: Textual Criticism and Editorial Technique Applicable to Greek and Latin Texts. Stuttgart 1973. Maas 1960 (Anm. 36), S. 26 – 30.

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und gute Lesarten bewahrt haben können. Publikationen von neu aufgefundenen Papyri belegen dies. Solche Papyrusfragmente und Papyri aus der Antike rechtfertigen in vielen Fällen glückliche Konjekturen bedeutender Philologen. Dass ein eklektischer Umgang mit allem verfügbaren Material vertretbar ist, haben Bernard P. Grenfell mit seinen Papyruseditionen und Eduard Schwartz mit seiner Edition der Kirchengeschichte Eusebs demonstriert. Ein solches eklektisches Vorgehen hat sich seit langem auch die neutestamentliche Textkritik zu eigen gemacht. Beide, Paul Maas und Martin L. West, erwähnen Karl Lachmann nicht, doch hat West darauf hingewiesen, dass Maas den diagnostischen Wert von Emendationen und philologisch begründeten Cruces in die Diskussion eingebracht hat.38 West selbst sah seinen Beitrag zur Theorie der Textkritik in dem Eingeständnis, dass Kontamination in der Überlieferung von Texten ein häufiges und normales Phänomen ist und machte Vorschläge für ein Vorgehen bei teils kontaminierter, teils nicht kontaminierter Überlieferung.39 Giorgio Pasquali widmete sogleich das erste Kapitel seiner monumentalen Geschichte der Textkritik der Lachmann’schen Methode.40 Er hebt Lachmanns sicheres Urteil, seine Fähigkeit, Textfehler zu identifizieren, seine Bereitschaft, in bemerkenswerter Weise zu emendieren, hervor. Lachmanns Bestreben, möglichst alte Überlieferungen nach Zeit und Region genau einzugrenzen, führt in überzeugender Weise zur Identifizierung der durch Hieronymus bezeugten Lesarten und zur Nutzung der lateinischen Väterüberlieferung sowie der Itala. Die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes zeigt sich nicht zuletzt in der unter anderen von Hans von Soden und von Heinrich Greeven weiterentwickelten Untersuchung regionaler Bibeltexte.41 Pasquali weist darauf hin, dass wie bei Lachmann auch in der Neolinguistik die Bewahrung alter Überlieferung in Randgebieten eine bedeutende Rolle spielt.42 Bei aller Anerkennung Lachmanns scheute sich Pasquali nicht, sein Vorgehen auch zu kritisieren. Pasquali monierte, wie rasch Lachmann bereit war, interpolierte Handschriften von der Untersuchung auszuschließen.43 Allerdings sei dies bei Properz, Catull und Lukrez von nur minimalem Nachteil gewesen. Während Lachmann das Vorgehen J. J. Griesbachs kritisierte, hob Pasquali in seiner umfassenden Geschichte der Textkritik die Leistungen Griesbachs hervor.44 Selbstverständlich erörtert Pasquali auch die spezifischen Fortschritte textkritischer Arbeit, die auf Johann Jakob Wettstein (1730), auf Albrecht Bengel (1734) und auf 38 39

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West 1973 (Anm. 36), S. 58, Anm. 10. West 1973 (Anm. 36), S. 38 – 46. Die Diskussion um den vertretbaren Umgang mit Cruces und Emendationen nimmt auch in der Editionswissenschaft eine bedeutende Stellung ein. Vgl. Konjektur und Krux. Zur Methodenpolitik der Philologie. Hrsg. von Anne Bohnenkamp, Kai Bremer, Uwe Wirth und Irmgard R. Wirtz. Göttingen 2010. Pasquali 1962 (Anm. 3), S. 3 –12. Hans von Soden: Diverse Rezensionen. In: Gnomon 6, 1930, S. 199 – 212, besonders S. 204 – 212. Siehe auch Heinrich Greeven: Textkritik des Markusevangeliums. Hrsg. von Eberhard Güting. Münster 2005. Matteo Bartoli: Introduzione alla neolinguistica. Genf 1925, S. 3 – 9. Pasquali 1962 (Anm. 3), S. 8, Anm. 1. Pasquali 1962 (Anm. 3), S. 4. Pasquali 1962 (Anm. 3), S. 10.

Die Internationalität der neutestamentlichen Textkritik zwischen Praxis und Theorie167

Johann Salomo Semler (1765) zurückgehen. Lange nach Pasquali und zwar im Jahr 2000 befasste sich der Latinist Peter Lebrecht Schmidt erneut mit den Leistungen Lachmanns. Zunächst betont dieser Autor, dass er selbst keinen Anlass sehe, die von Romanisten angefochtene stemmatische Methode der Philologie in Zweifel zu ziehen.45 Sodann betont er, dass Lachmann allenfalls als einer unter vielen eines ganzen Kreises von Gelehrten neben J. C. Orelli, C. G. Zumpt, F. W. Ritschl, J. N. Madvig und H. Sauppe zu nennen ist.46 Schmidt kritisiert Lachmann deutlich. Die Leistungen des Editors Bernay zu Lukrez und die Bedeutung eines weiteren damaligen Handschriftenfundes beurteilte Lachmann ausgesprochen abschätzig.47 Schmidt schreibt die genealogische Methode einem Umbruch des frühen 19. Jahrhunderts zu. The genealogical method, applied to Latin texts of antiquity, may be defined as the constitution of manuscript groups or families by means of shared errors of transmission. These families may lead back to an archetype, standing somewhere between the original and the medieval copies. Their historical relationship may then be illustrated by means of a stemmatic reconstruction of the historical process. The recognition of the primary importance of manuscript families constituted the real progress for the first generations of nineteenth-century philologists. F. A. W. Wolf’s Prolegomena, which called for a complete reconstitution of the textual history of ancient authors, had already stressed the need for reducing complexity, an essential element of which was the grouping of manuscripts into classes or familiae.48

Während Lachmann selbst und viele andere Editoren seiner Zeit und nach ihm sich mit dem Auffinden und Edieren einer ‚besten‘ Handschrift zufrieden gaben, setzte sich die genealogische Erforschung der Traditionsgeschichte und ihre stemmatische Darstellung seit etwa 1880 allgemein durch.49 Bei seiner Kritik am Vorgehen Lachmanns versäumt es Schmidt nicht, in einem Punkt die Leistungen Lachmanns positiv hervorzuheben: All this may sound far too negative: there can be no doubt that Lachmann for the most part made excellent use of the manuscript material he chose or adopted. He read the manuscripts more carefully than most scholars at that time, presented the variants sensibly, even though a bit too sparingly for our liking, and established sound texts that, especially in Germanic studies, have become standard.50

Schließlich setzt sich Schmidt mit Bédiers Kritik an Lachmann und an dessen Einfluss auf eine bestimmte Schule der Romanistik auseinander: „I call this misunderstanding paradoxical because Bédier’s decision to exorcize the genealogical method 45

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Peter Lebrecht Schmidt: Lachmann’s Method. On the history of a misunderstanding. In: Traditio Latinitatis. Studien zur Rezeption und Überlieferung der lateinischen Literatur. Hrsg. von Joachim Fugmann, Martin Hose und Bernhard Zimmermann. Stuttgart 2000, S. 11–18, hier S. 11. Timpanaro hat die Vorgeschichte der Lachmann’schen Methode ausführlich behandelt. Siehe Sebastiano Timpanaro: Die Entstehung der Lachmannschen Methode. 2. erweiterte und überarbeitete Auflage. Autorisierte Übertragung aus dem Italienischen von Dieter Irmer. Hamburg 1971. Schmidt 2000 (Anm. 45), S. 12, Anm. 11 und S. 14, Anm. 17. Schmidt 2000 (Anm. 45), S. 13. Schmidt 2000 (Anm. 45), S. 16. Schmidt 2000 (Anm. 45), S. 14.

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as subjective, and his concentration on a ‚manuscrit de base‘ resembles Lachmann’s procedure much more closely than the method he was really attacking“.51

3. Die Relevanz der Lachmann’schen Methode heute Die philologische Methode Karl Lachmanns ist seit mehr als 100 Jahren empfohlen und anerkannt worden. Sein Zugriff auf das Material, seine überlegte Auswahl der Quellen und sein scharfsinniges Urteil wurden international gerühmt. Vielleicht sollte man auch seine unermüdliche Sorgfalt nennen. Allerdings setzte die Verfügbarkeit tüchtig edierter Quellen seinen damaligen Forschungen Grenzen. Diese Grenzen machte er kenntlich. Heute sind auf dem Gebiet der neutestamentlichen Textkritik die verfügbaren Quellen in atemberaubender Weise angewachsen. Dies gehört eindeutig zu den bemerkenswerten Leistungen des Instituts für neutestamentliche Textforschung in Münster. Mir scheint, dass das philologische Können der zeitgenössischen Forschung mit den derzeitigen Möglichkeiten nicht Schritt gehalten hat. Was kann man von Lachmann lernen? Lachmann las alle Texte als literarische Texte. Das Vorgehen der von ihm untersuchten Autoren interpretierte er als ein literarisches Können, nicht indem er erklärte, sondern indem er edierte. Das galt auch für den Autor Markus, dem er sich im Rahmen seiner Editionen des Neuen Testaments zuwandte. Er prüfte den Aufbau des Markusevangeliums, den Ablauf seiner Erzähleinheiten, die literarische Gestalt des Ganzen, und er erkannte, dass das Markusevangelium das älteste der synoptischen Evangelien ist, dass es späteren Evangelien bereits vorlag.52 Wenn ich richtig sehe, hat man ein wichtiges Element seiner Kritik bisher nur ungenügend wahrgenommen, nämlich ein literarkritisches Vorgehen, das die Darstellungsweise des Autors Markus seinen Lesern gegenüber zur Grundlage kritischer Emendation nutzt. Lachmann erkennt, dass der Autor Markus seinen Lesern nicht argumentierend gegenübertritt, sondern vielmehr strikt die Rolle des Erzählers aufrechterhält. Die Verse Mk 1,2 und 1,3 können deshalb trotz ihrer starken Bezeugung unmöglich auf den Autor zurückgehen.53 Man sollte das als Editor zur Kenntnis nehmen. Der bedeutende Philosophiehistoriker und Editor Paul Oskar Kristeller kleidete 1981 in der ersten Nummer der Zeitschrift Text seine Erfahrungen als Editor in die Form einer Rede. In ihr kommen Gehalt und Grenzen der Methode Lachmanns zur Sprache. Kristeller sagte auch, welchen Sinn das wissenschaftliche Edieren habe: For the whole enterprise of history, and especially of intellectual history, rests on the belief, or rather the conviction, that the texts of the past contain a substance and a quality, philosophical, literary, and historical, that still speak to us if properly understood and that should

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Schmidt 2000 (Anm. 45), S. 18. Ziegler 2000 (Anm. 1), S. 243 – 275. Lachmann 1830 (Anm. 2), S. 844 – 845. Greeven 2005 (Anm. 41), S. 53 – 55.

Die Internationalität der neutestamentlichen Textkritik zwischen Praxis und Theorie169

not be reduced to the limits of our contemporary understanding, but should in turn help us to extend and overcome these limits.54

Unbestritten bleibt, dass neue Forschungsschwerpunkte, dass Paradigmenwechsel bei der Erörterung von Grundpositionen, dass Wandlungen auf allen Arbeitsfeldern zu begrüßen sind. Editoren haben ihrerseits Vergessenes in Erinnerung zu bringen.

Abstract Karl Lachmann’s pioneering edition of 1830 displaced once and for all the ‘textus receptus’ which had been valid since early modern times. The article outlines the critical perception of Lachmann’s achievement and his method in classical philology and in the textual criticism of the New Testament.

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Paul Otto Kristeller: The Lachmann Method. Merits and Limitations. In: Text. Transactions of the Society for Textual Scholarship 1, 1981, S. 11– 20, hier S. 20.

Marina Buzzoni and Eugenio Burgio

The Italian ‘Third Way’ of Editing between Globalization and Localization

0. This contribution originated during a collaboration between a Germanic philologist (Buzzoni) and a Romance philologist (Burgio), currently working on a joint project, the digital edition of I Viaggi di Messer Marco Polo (The Travels of Messer Marco Polo) by Giovanni Battista Ramusio (1559).1 This collaboration was made possible not only by a common interest in philology and digital publishing, but also due to the fact that both scholars share a theoretical definition and practice of textual criticism as found in the ‘Italian philological tradition’ of the twentieth century. It is characterized by the wish to cope with “two opposing fetishisms: the fetishism of the critical edition regarded as an absolute result, as an act of faith, and the fetishism of the codex optimus, a positivist response to the crisis of this belief” (“due opposti feticismi: il feticismo dell’edizione critica considerata come un risultato assoluto, come atto di fede; e il feticismo del codex optimus, risposta positivistica alla crisi di questa fede”).2 Here, we would like to present some comments on this definition, and on the position of Italian philology concerning the new context created by the so-called ‘digital revolution’.3

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I Viaggi di Messer Marco Polo is the Milione edition of Marco Polo written by Ramusio for the second volume of Navigationi et Viaggi (see Giovanni Battista Ramusio “editor” of “Milione”: Trattamento di testo e manipolazione dei modelli. Atti del seminario di recerca (Venezia, 9 –10 settembre 2010). Ed. by E. Burgio. Roma, Padova 2011). The research project (2011) Marco Polo elettronico. Per l’edizione critica digitale de I Viaggi di Messer Marco Polo (The Electronic Marco Polo. For the digital critical edition of The Travels of Messer Marco Polo) (G B Ramusio, “Navigationi et voyages”, II, 1559), coordinated by E. Burgio, M. Buzzoni and A. Ghersetti, aims at producing a digital edition built on the model designed by Buzzoni for the Electronic Hêliand project (see M. Buzzoni: Per un’edizione elettronica della messiade antico-sassone. In: Lettura di Heliand. 11° Seminario avanzato in Filologia germanica. Ed. by V. Dolcetti Corazza, R. Gendre. Alessandria 2011a, pp. 115 –127; M. Buzzoni: The ‘Electronic Hêliand project’: Theoretical and practical updates. In: Linguistics and digital philology: issues and projects. Alessandria 2011b, pp. 55 – 67; M. Buzzoni: ‘Uuarth thuo the hêlago gêst that barn an ira bôsma’: towards a scholarly electronic edition of the Hêliand. In: Medieval Texts-Contemporary Media: The Art and Science of Editing in the Digital Age. Ed. by M.G. Saibene a. M. Buzzoni. Pavia 2009, pp. 35 – 55). 2 C. Segre: Critica testuale, teoria degli insiemi e diasistema [1976]. In: C. Segre: Semiotica filologica. Torino 1979, p. 69. 3 In this summary we were preceded by the excellent F. Zinelli: L’édition des textes médiévaux Italiens en Italie. In: Pratiques philologiques en Europe. Ed. by F. Duval. Paris 2006, pp. 77–113. Further brief but clear information on the subject can also be found in the essay by P. Pugliatti: Textual Perspectives in Italy: From Pasquali’s Historicism to the Challenge of ‘Variantistica’ (and Beyond). In: Text. An Interdisciplinary Annual of Textual Studies, Vol 11. Ed. By W. Speed Hill, E. M. Burns a. P. Schillingsburg. Ann Arbor (Michigan) 1998, pp. 155 –188.

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1. In 1995, Varvaro evoked it in Jena with a touch of irony in the midst of the querelle of Éloge de la variante: according to academic doxa, Italian philologists are sectarians who in the twentieth century have embraced the Lachmannian verbum and turned it into an article of faith.4 Of course, it is not only doxa; it suffices to read the talks of C. Segre and A. Stussi at the congress on I nuovi orizzonti della filologia (New Horizons of Philology) (1998)5 to recapture the full Deffence et illustration of the Method, against the rising tide (at the time) of the ‘New Philology’ and its ‘digital’ variants: never forget that “a critical edition is, like any scientific point, a mere working hypothesis, the most satisfactory (i.e. economical) one which would link the data into a system” (“un’edizione critica è, come ogni atto scientifico, una mera ipotesi di lavoro, la più soddisfacente (ossia economica) che colleghi in sistema i dati”);6 and one must not eschew the ‘Procrustean bed’ of the evaluation of variants and the subsequent reconstruction of the stemma codicum. The reference framework has remained intact over time: for this, “l’impact de la New Philology dans l’enceinte des études […] a été très limité, voire inexistent”.7 The echo of Cerquiglini’s theories in post-bédieriste8 France has not been any different, and it would seem that both kinds of ‘deafness’ may be a syndrome of provincialism, confined to the margins of the debate. Things are not exactly so. The French rejection is rooted in a long-term distrust (after Bédier) of theory;9 in Italy, literary theory and editorial practices have always gone hand in hand, so much so that it could be argued that philological culture coincides with the literary culture of Modernity.10 It is not a coincidence then that some of the issues stressed by New Philology – the definition of ‘author’ in medieval vernacular, the role of variance in the construction of the notion of text, etc.11 – have, in Italy, long since been analysed. Yet, this contribution to the theoretical debate has not really been noticed as it is principally written in Italian, and in partibus infidelium Italian non legitur. Of the Italian view, only what is translated is known – often late: the fundamental edition of the Chanson de Roland (1971) by

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A. Varvaro: La “New Philology” nella prospettiva italiana. In: Alte und neue Philologie (Jena Kolloquium, 19 – 21 Oct 1995). Ed. by M.-D. Gleßgen a. F. Lebsanft. Tübingen 1997, pp. 35 – 42. C. Segre: Prolusione. In: I nuovi orizzonti della filologia. Atti (Roma, Acc. Naz. dei Lincei, 27– 29 May 1998). Roma 1999, pp. 11–17; A. Stussi: Relazione conclusiva. In: ibid., pp. 289 – 294. G. Contini: Ricordo di Joseph Bédier [1939]. In: G. Contini: Esercizî di lettura. Torino 1974, p. 369. Zinelli 2006 (n. 3), p. 110. Fr. Duval: La philologie française pragmatique avant tout? L’édition des textes médiévaux français en France. In: Duval 2006 (n. 3), p. 123. See the intervention at the round table Premesse ideologiche della critica testuale by F. Lecoy: L’édition critique des textes. In: XIV congresso internazionale di Linguistica e Filologia romanza (Napoli, 15 – 20 Apr. 1974), I. Napoli, Amsterdam 1978, pp. 479 – 514. Vàrvaro 1997 (n. 4), p. 38. It is not accidental that the founders of the most important Italian journal with a formalist/structuralist setting (Strumenti critici, founded by M. Corti, d’A. S. Avalle, D. Isella and C. Segre), make either overt or covert reference to a philologist, i.e. G. Contini. A paradigmatic example is Saggio d’un commento alle correzioni del Petrarca volgare by G. Contini (1943; now in: G. Contini: Varianti e altra linguistica. Torino 1970, pp. 5 – 31), which inaugurated – in advance of the critique génétique – the study of authorial changes: the text made history since, contrary to Crocian aesthetics, it proposed an idea of poetry as a creative tension that moves through time in a number of systems that undergo change, according to the teachings of Mallarmé and Valéry.

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C. Segre has been acknowledged with a French translation only in 1989,12 while the notion of ‘diffraction’ (see section 2) occurs in practice outside Italy only in 2000 in the edition of the Vie de saint Alexis by M. Perugi, 13 a student of Contini (whose studies of Alexis are missing from the Annotated Bibliography by Storey). 14 2. ‘Documentation’ (Bédier) versus ‘reconstruction’ (Lachmann)? The essential part of this contest – essential for the definition of the ‘style’ of textual criticism among Italian philologists – was played in the thirties of the twentieth century. In 1935, G. Contini published a long review of Storia della tradizione e critica del testo (1934);15 in that essay G. Pasquali had supported the need to integrate stemma reconstruction with the study of the history of tradition (of its material objects and codices), and suggested that certain ambiguities and aporias in the tradition of Latin and vernacular texts could be explained by assuming ab origine the existence of authorial changes. The seminal force of the approach by Pasquali is that it injects into the text – produced by the work of the philologist, who most of the times sets it into an object given once and for all – the antidote represented by history; as grasped by Contini, history even worked effectively as an antidote to the radical scepticism of Bédier before the aura of ‘eternity’ emanated by the stemmas – belied by their variation in repeated recensio.16 The distancing from Bédier by Contini, and thus the prelude to the renewal of the Lachmannian practice, is exemplified by a passage of Tombeau dedicated to Bédier himself (1939), which is a consequence of the affirmation cited in section 1, “Bédier did not realize that conserving critically is as much a hypothesis as innovation [...]; it remains to be seen whether it is the most economical hypothesis” (“Bédier non si rendeva conto che conservare criticamente è, tanto quanto che innovare, un’ipotesi […]; resta da vedere se sia sempre l’ipotesi più economica”).17 Sustaining that editorial practices produce hypotheses and not facts of historical evidences (e.g. ‘texts’) means subtracting their logics to the ars, and returning them to the field of scientific thought (which distinguishes itself for the dialectic between ‘speculation’ and ‘refutation’); it also admits that the historicity of a text is not only made up of ‘fullness’ (the positive outcome of a copy) but also of ‘emptiness’ (the dynamics of textual transmission that can be glimpsed in the discoursive form of the positive datum, variations and errors included), and that the task of the philologist is to take the text in its historical milieu: that is proposing a reconstruction that holds

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La Chanson de Roland. Nouvelle éd. revue p. C. Segre, trans. de M. Tyssens. Genève 1989. La vie de saint Alexis. Éd. critique par M. Perugi. Genève 2000. C. Storey: An annotated bibliography and guide to Alexis Studies (la Vie de Saint Alexis). Genève 1987. See also G. Contini: La «vita» francese «di sant’Alessio» e l’arte di pubblicare i testi antichi [1953/1970] and Scavi alessiani [1968]. In: G. Contini: Breviario di ecdotica. Milano, Napoli 1986, pp. 67– 97 and 99 –134. 15 For the intellectual profile of Contini, it is useful to read the authoritative essays by C. Segre in: Dai metodi ai testi. Torino 2008, pp. 72 –129 (to which we owe a lot). 16 See J. Bédier: La tradition manuscrite du «Lai de l’ombre»: Réflexions sur l’art d’éditer les anciens textes. In: Romania 54, 1928, pp. 161–196 and 321– 356. 17 Contini 1939 (n. 6), p. 369.

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together the fullness and emptiness using the most economical hypothesis.18 Subjected to rebuttal, Bédier’s position therefore reveals itself to be a paradoxical reduction of history to the ‘visible’: Il capovolgimento béderiano (valutazione del manoscritto più delle lezioni; identificazione subliminare di testo e manoscritto) sostituisce una realtà concreta a un fantasma ricostruito; però rinuncia ai soccorsi della tradizione, che noi dominiamo compatibilmente con le distruzioni operate dai secoli, mentre il copista medievale non conosceva di norma che un antigrafo, salvo eventuali supplementi. Così, se il testo lachmanniano si avvicina inegualmente al limite dell’archetipo, il testo béderiano resta fermo, rifiuta i passi avanti resi possibili dal confronto tra i manoscritti. 19 [The inversion promoted by Bédier (evaluation of the manuscript and of the readings; subliminal text and manuscript identification) replaces a reconstructed phantom with a concrete reality, however it refuses the assistance of tradition, which we deem consistent with the destruction wrought by the centuries, while the medieval copyist did not normally have anything except antigraphs, aside from supplements. Thus, if the Lachmannian text does not equally approach the archetype limit, the Bédierian text remains static, and refuses any advances made possible by the comparison between manuscripts.]

On the other hand, Contini appreciated Bédier’s insistence on the value in se of each variant (as a bearer of a historical ‘thickness’), as well as his caution in the treatment of those cases that are beyond the classifications of the ‘law of majority’. In short, one could affirm that the effort of the Italian Neo-Lachmannism was to incorporate in only one context – the critical edition – two layers of historicity: the ‘micro’ from the evidence provided by a single manuscript, and the ‘macro’ from the history of text transmission, renouncing, as we said, any fetish desire for a univocal text definition. The Italian contributions to the editorial theory move in this direction, and here the most important two will be mentioned, namely the notions of ‘diffraction’ and ‘dia­system’. As a specialization of the concept of lectio difficilior – developed by Contini during his work on Alexis (see n. 14) –, diffraction defines the dynamism, for which a reading generates, through its formal or semantic features, variations that are arranged around it in a gradual motion away from the original semiosis. It appears as a repetitive phenomenon within a tradition, and such a seriality is used to corroborate the hypothesis of a relationship between the codices, then formalized in the stemma; however, what counts more – on the epistemological level – is the fact that it pushes the philologist’s attention to focus less on the object (the identification/reconstruction of a ‘good reading’) than on the internal dynamism of the tradition, which is configured as a system of structures under tension. The expression ‘structures under tension’ refers directly to the work by C. Segre on the Chanson de Roland, an edition that for the last forty years has been a reference point for logic and dispositio. It is well known how much philologists are reluctant

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In this sense, the stemma codicum is not only a diagram of a logical procedure, but a statement of this assessment. 19 C. Segre: La critica testuale [Premesse ideologiche della critica testuale 1974]. In: XIV congresso internazionale di Linguistica e Filologia romanza (n. 9), p. 494.

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to talk about ‘originals’ as regards the chansons de geste, and how the manuscript tradition of Roland has been the favoured battleground in the clash between the sectarians of oral production and the supporters of the written production. The edition by Segre – a firm believer in the written character of the creation and transmission of Roland20 – avoids offering an ‘original’, unlike Stengel’s edition which grafted on a text by O (the Oxonian Digby 23, the most authoritative witness) the readings of all the other codices that were deemed original (recreating the linguistic veneer of the Anglo-Norman language of O).21 Using the thinking of U. Weinrich on linguistic interference,22 Segre considers each witness (or group of witnesses) as a ‘diasystem’, a structure that is constantly traversed by the tension between the respect for the antigraph (inherent in every copying act) and the innovative thrust of the copyist; the philologist’s task is therefore to reflect this tension, respecting its results when they produce amended readings which are ‘correct’ albeit not ‘original’ (‘original’ according to the measure of the stemma codicum).23 The location of this operation is no longer the text, but the apparatus: Occorre […] capovolgere i rapporti gerarchici fra testo e apparato, dare la maggiore enfasi all’apparato e considerare il testo come una superficie neutra (quella offerta da un manoscritto o da una famiglia) su cui il filologo ha innestato le lezioni da lui considerate sicure, fra le tante considerate. Ma l’edizione si merita l’attributo di critica molto di più attraverso l’apparato, se discorsivamente problematico: perché esso sintetizza il diasistema della tradizione, e perché svolge un vaglio completo, anche se non sempre conclusivo, delle lezioni.24 [There needs to be a turnaround [...] in the hierarchical relationships between the text and the apparatus, give greater emphasis to the apparatus and consider the text as a neutral surface (that provided by a manuscript or a family) on which the philologist has grafted the read­ings which he deemed certain among the many considered. However, the edition deserves the attribute of being “critical” through the apparatus, if discursively problematic: because it summarizes the diasystem of the tradition, and because it carries out a full assessment, even if not always conclusive, of the readings.]

In this way, “the romantic reconstruction of an archetype, the positivist consecration of a copy are replaced on the one hand by systems, and on the other hand by a virtual image, a structure of describable relationships beyond the brute fact of the supposed objectivity” (“alla romantica ricostruzione di un archetipo, alla positivistica consacrazione di una copia si sostituiscono da un lato dei sistemi, dall’altro un’immagine virtuale, una struttura di rapporti descrivibili, al di là del fatto bruto, della pretesa oggettualità”). 25 20

See the essays (preparatory to the edition of 1971) in C. Segre: La tradizione della Chanson de Roland. Milano, Napoli 1974. Das altfranzösische Rolandslied. Bes. v. E. Stengel. Heilbronn 1878. U. Weinreich: Languages in Contact. New York 1953. In the Segre edition the adoption of the notion of ‘mnemonic correction’ is in fact innovative: the base-text, O, is never corrected when it bears a secondary reading, and the proposed emendation (as a result of the analysis of the competing tradition) is left to the comment. 24 Segre 1974 (n. 19), p. 497. 25 Segre 1974 (n. 19), p. 499. The scholar explains (pp. 498 – 499): “[...] Even if incompletely so, the space between the archetype and the preserved manuscripts is filled by intermediate systems, textual 21 22 23

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3. The younger generations of philologists – quorum nos, of course – have followed the guidelines given by the masters, striving (in the work on Romance, Germanic, Middle-Latin texts) to conjugate the reasons for the reconstruction (i.e. the life of texts over time) with proper recognition for the value of the individual objects that time has bequeathed to us, and give an account of how stemmatics is a specific instance of the history of tradition. Bédier’s teachings have left their most relevant traces in research dedicated to large anthological codices, in particular the canzonieri (song-books) of Romance Origins;26 the study of these books in se brought to the fore publishing and cultural logics historically given by and pertaining to the selection/organization of material: a ‘second truth’, that of the compiler, which is distinct and discernible from that of the auctor.27 Similar considerations are applicable to many codices of the Germanic Middle Ages. Limiting the analysis to Old English, the ‘historical question’ has been repeatedly posed in the nineties by O’Brien O’Keeffe.28 The Italian debate on most of the aforementioned issues is vividly captured in a recent collection of essays titled Storicità del testo, Storicità dell’edizione, which includes the contributions of philologists working on different textual traditions and different cultural areas.29 These studies have confirmed what d’A. S. Avalle wrote in 1972: “la méthode de Bédier n’a du sens que si elle trouve son application sur le terrain du livre médiéval et non pas de l’originale”.30 At the time, Avalle was planning his last great enterprise, Concordanze della lingua poetica italiana delle Origini (Concordances of the Italian poetic language of the Origins) (CLPIO),31 i.e. the critical edition of all the texts in the major thirteenth-century Italian canzonieri, an edition that is the source of a full lexical

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sedimentations to which a date and location has to be attributed. The abstract juxtaposition of competing variants is replaced by the history of characterizable textual sets: they are one thing with text life in the linguistic and formal awareness of those who have passed it on to their contemporaries (and to us)” (“[…] anche se in modo incompleto, lo spazio tra l’archetipo e i manoscritti conservati viene riempito dai sistemi intermedi, sedimentazioni testuali cui ci si dovrà sforzare di attribuire una data e un luogo. All’astratto accostamento di varianti in concorrenza si sostituisce la storia di compagini testuali caratterizzabili: esse sono una cosa stessa con la vita del testo nella coscienza linguistica e formale di coloro che lo hanno trasmesso ai loro contemporanei (e a noi)”). On this see Zinelli 2006 (n. 3), pp. 87 ff. “Double truth” (that of the auctores and that of the witnesses – the codices) is spoken of by d’A. S. Avalle in: I canzonieri: definizione di genere e problemi di edizione [1984]. In: d’A. S. Avalle: La doppia verità. A c. di L. Leonardi. Firenze 2002, pp. 155 –173. K. O’Brien O’Keeffe: Visible song: transitional Literacy in Old English Verse. Cambridge 1990; K. O’Brien O’Keeffe: Text and works: some historical questions on the editing of Old English verse. In: New Historical Literary Study: Essays on Reproducing Texts, Representing History. Ed. by J.N. Cox a. L.J. Reynolds. Princeton (NY), Chichester, pp. 54 – 68. Storicità del testo, Storicità dell’edizione. Ed. by F. Ferrari a. M. Bampi. Trento 2009. See, in particular, the essays by Anna Maria Luiselli Fadda: Quale edizione-nel-tempo (Contini) per I documenti e I testi germanici nel ventunesimo secolo?; Paolo Trovato: Critica testuale e ideologia: riflessioni ed esperienze di un filologo italiano; Alessandro Mengozzi: Scrittura e oralità, diasistemi ed archetipi: riflessioni su edizione e studio di testi aramaici moderni; Maria Vittoria Molinari: Sul Palästinalied di Walther von der Vogelweide; and Paolo Chiesa: Non-neutralità dell’editore e storicità dell’edizione: qualche riflessione sulle Res gestae Saxonicae di Widuchindo. d’A S. Avalle: La critica testuale. In: Grundriss der Romanischen Literaturen des Mittelalters, I. Heidelberg 1972, p. 554. d’A. S. Avalle: Concordanze della Lingua Poetica Italiana delle Origini. Milano-Napoli 1992.

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database which can be queried (for forms and lexemes) on a computer.32 From the structure of the work and the logic that governs it, two implications can be derived. The first is of a philological nature. As rightly observed by Leonardi, textual corpora and databases provide research a ‘new philological frontier’ based on diffraction: caduta da tempo l’illusione nell’autoevidenza dell’errore, e caduta con essa la fede assoluta negli automatismi delle maggioranze stemmatiche, la sfida, per chi non voglia rasse­ gnarsi alla rinuncia di ogni interpretazione diacronica, consiste nell’approfondire l’analisi dell’usus scribendi non solo e non tanto degli autori, quanto di ogni singolo copista; nel tentativo di discernere, in quel diasistema che costituisce ogni copia, i vari livelli della stratificazione successiva che ha prodotto quella particolare versione del testo. 33 [for some time the illusion of errors as being self evident has been dropped, and with it fell the absolute faith in the automatisms of stemmatic majorities, the challenge, for those who do not want to resign themselves to the waiver of any diachronic interpretation, is to deepen the analysis of ‘usus scribendi’ not only and not so much of the authors, as much of each single copyist, in an attempt to discern, in that diasystem constituting each copy, the various levels of the next stratification that has produced that particular version of the text. ]

The second is a prelude to Digital Philology: si, dans le cadre classique d’une édition lachmannienne, les témoins d’une œuvre contiennent une partie de l’original de cette œuvre, dans le CLPIO, c’est bien l’ensemble des témoins qui contiennent la forme originale d’une tradition tout entière. Sa réalisation ultime, dans la dernière configuration du logiciel, n’est pas un texte critique “de synthèse”, mais son “édition virtuelle” au sein des concordances.34

So, querying the database produces a hypertext: the graphic form or lexical unit leads to the textual loci holding it, which in turn leads to a larger context. This is a case in which ‘Neo-Lachmannian’ reconstruction and digital logic work in perfect harmony. 4. It is now commonplace in communication studies that our idea of ‘text’ owes much to the setting of the book-form in the Modern Age, and there is no doubt that even philology, as a ‘science of Text reconstruction’, has not escaped this influence. At the time of the so-called ‘digital revolution’, and the radical questioning of the ‘ontological’ nature of the book/text, one would expect that the virtuality of the on-line page stimulates philologists (those less intimidated by digital technology) to experiment with new solutions for the recensio or the constitutio textus: yet – as noted by Leonardi (see n. 33) – many digital editions stay just short of the digital repository of codex transcriptions and of the adherence to the Bédierian logic. The digital editions that the authors of this paper are currently working on, by contrast, aim at incorporating the full debate of which an account has been given in the preceding paragraphs, as evidenced by the following examples, which use the most innovative views of the 32 33

Zinelli 2006 (n. 3), pp. 82 – 84. L. Leonardi: Filologia elettronica tra conservazione e ricostruzione. In: Digital Philology and Medieval Texts. Ed. by A. Ciula a. Fr. Stella. Pisa 2007, pp. 70 –71. 34 Zinelli 2006 (n. 3), pp. 86 – 87.

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‘return-to-the-manuscript’ approach. It is worth noting that this attitude – often defined as a ‘virtuous middle way’ between Lachmann and Bédier – rests on a critical approach that (at least in principle) should be rooted “in time, opening up in the ‘pragma’ and making the editorial choices be subject to a variable teleology” (“[…] nel tempo, aprendosi nel pragma e facendo sottostare le sue decisioni ad una teleologia variabile”).35 5. One might wonder whether the peculiarities linked to the notions of ‘diffraction’ (Contini) and ‘diasystem’ (Segre) deserve proper consideration while editing a medieval text. The answer to this question is undoubtedly affirmative, since these peculiarities form part of the ‘global sense’ (Coseriu) of the text itself. Thus a question arises as to which kind of edition can render immediately accessible to the reader all the codicological evidence he/she needs to grasp the multi-faceted intratextual and intertextual connections analysed so far. A traditional paper edition risks concealing the communicative power of each single witness. Furthermore, a traditional linear apparatus risks obscuring most of the ‘complex’ linguistic and textual features that manuscript evidence has brought to the fore, mainly because of its being word-oriented rather than sentence-oriented or text-oriented. On the contrary, a scholarly digital edition can provide in the hypertext all the evidence, which permits the reader to grasp both the intertextual and intratextual connections. Such an edition would allow the editor to deliver a critically reconstructed Text, as well as the different versions and the many forms it assumes when it becomes part of a historical transmission chain – Contini’s requirements of an edition-in-time which should be subject to a variable teleology are thus fulfilled in full.36 6. This is the main reason why the Electronic Hêliand Project was started at the University of Venice in 2006, and is now being implemented. The text titled Hêliand (‘The Savior’) by Johann Andreas Schmeller in its 1830 edition is an early ninth-century Old Saxon alliterative reworking of the Gospel characterized by a missionizing intent (the poem is about 6000 lines long and its composition can be traced back to around 830). The poem has come down to us in a nearly complete form in two manuscripts: a continental ms. M (München, cgm. 25, preserved at the Bavarian Staatsbibliothek) and an English ms. C (Cotton Caligula A.vii, preserved at the British Library). Four more fragments transmit short passages of the text: namely V (Codex Palatinus 1447, discovered by K. Zangemeister in 1894 and now housed at the Vatican Library); P (formerly preserved at the University Library of Prague, now in Berlin), S (the Straubing fragment, currently held at the Bavarian Staatsbibliothek) and, last but not least, the newly found L (the Leipzig fragment).

35 36

Contini 1986 (n. 14), p. 14. Luiselli Fadda 2009 (n. 29), pp. 11– 22; Buzzoni 2009 (n. 1); Buzzoni 2011b (n. 1).

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This latter fragment was discovered in April 2006 at the University Library in Leipzig as the cover of a Reformation-period book.37 The diverse number of witnesses that have survived is in itself evidence that the effect of the Hêliand in the Middle Ages may well have been much greater than has been acknowledged. The evidence in our possession points to the involvement of the Ottonian dynasty in disseminating the Hêliand to the locations where the extant manuscripts were unearthed.38 Thus, the historical value of each single manuscript (or fragment) is extremely high, and the number of relevant variant readings is quite acceptable (at least to the eye of a Germanic philologist, who often deals with texts that survive in a single manuscript), which makes the Hêliand an ideal candidate to be edited digitally. 7. Before going on to describe the Project, we will briefly exemplify the notion of diffraction (see section 2) on a set of readings transmitted by fragment L. L reports about 50 lines relevant to most of fit 69 and the beginning of the next one, namely the passage of the text in which after Christ’s Resurrection the three women go to the sepulchre and find it empty. So far, this section of the Hêliand has been handed down only in the Cottonianus (C). Now consider L’s reading te suikle “too sparkling” where C reads te suithi “too strong” (This expression refers to the radiance of God’s angels). C’s reading is of course the one which is included in all the modern editions, but a close scrutiny of the terminology used in the poem (extended to the whole Saxon corpus) reveals that C transmits a less poetic adjective than L (suikle appears in other contexts always in relation to substantives that convey the idea of ‘light, splendour’, l. 3577; l. 5782; ll. 5625 – 5626). L’s reading is thus a better candidate to be included in the ‘reconstructed text’ on the grounds that it appears as the lectio difficilior. In this specific case one may further note that the hypothesis about suikle being the lectio difficilior is corroborated by the fact that the adjective is glossed using the more common term skir.39 At some point in time some copyists for some reasons felt uneasy with the adjective suikle, and resorted to less elaborate lexical choices, namely C: suithi, L (gloss): skir. Both the lectio difficilior and the ‘diffracted’ readings are worth editing since the general disagreement in different variants is a clear case of ‘multiple innovation’, i.e. scribal innovations that appear in the manuscript tradition, and are due to the mental processes at the basis of text 37

Though very limited in it’s content, MS L’s discovery in Leipzig is conspicuous: firstly, the place where L was found indicates that, in all probability, it is a codex which was known to the 16th-century Lutheran humanists (and possibly to Luther himself); secondly, the section of the Hêliand reported in L (about 50 lines relevant to the most part of fit 69 and the beginning of the next) was handed down so far only in the Cottonianus (C), as the Monacensis lacks the corresponding sheets. 38 See T. Blaine Price: The Old Saxon Leipzig Heliand manuscript fragment (MS L): new evidence concerning Luther, the poet, and the Ottonian heritage [PhD Dissertation]. Berkely 2010. 39 On skir see H. Sahm: Neues Licht auf alte Fragen. Die Stellung des Leipziger Fragments in der Überlieferungsgeschichte des Heliand. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 126, 2007, pp. 81– 98 (p. 91) and H.U. Schmid: Ein neues ‘Heliand’-Fragment aus der Universitätsbibliothek Leipzig. In: ZfdA 135, 2006, pp.  309 – 323 (English transl. in V.A. Pakis: Perspectives on the Old Saxon Heliand. Morgantown 2010, pp. 281ff.)

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reproduction. These innovations can provide crucial evidence on the ‘historicity’ of the text transmitted in the manuscript in which they appear. 8. To conclude, some technical information is now provided. Inspiration was taken from the template used by the editors of the Parzival-Projekt led by Michael Stolz (http://www.parzival.unibe.ch/editionen.html/), and then a new application was developed. The template used in our project is based on a series of click-and-drag resizable windows, which can be activated or deactivated by the user, so that the material to view can be freely chosen in any order, according to the user’s interests (either reconstruction or innovation orientated, or even both). Technically, the modal windows were developed using a Java/Ajax Open Source Framework, which can be used to construct a multi-layered structure. Quite obviously, the windows are not isolated elements; they are connected through hyperlinks. By clicking on a word in the main window (the one at the top-left of the screen) the user can activate other windows such as, for example, the one containing the image of a manuscript, or the one providing its transcription.40 Thus, a hyper-textual environment and a hyper-textual way of using the digital edition is being built, based not on a static but on an interactive model. The main principles followed are text mobility, on the one hand, and flexibility of text representations, on the other. This is, in our opinion, the best way to convey the notion of diasystem as defined by Segre, as well as to make the reader appreciate how the text develops over time in the Continian fashion.

Abstract The dichotomy between conservation and reconstruction, between the historical value of each single manuscript and the diachronic perspective provided by the ‘stemma codicum’, between the copyist’s ‘truth’ and the author’s ‘truth’ has been at the core of the philological debate for over a century, starting even before the so-called ‘Bédierian 1913 revolution’. Well known are Bernard Cerquiglini’s accentuation of the ‘mouvance’ of medieval texts and the thence incented debate that favoured the consolidation of ‘New Philology’. What is perhaps less known is that the most innovative positions of the ‘return-to-the-manuscript’ approach were somehow anticipated in Italy by Pasquali, and then by Contini, Avalle, Segre and many others, who provided a sort of ‘third way’ to the aforementioned dichotomy. The paper provides a critical overview of what one might call ‘the Italian way of editing’, also in the light of the application of ICT methods and tools to textual criticism. A set of examples taken from the Electronic Hêliand Project, started in Venice in 2006, illustrates the most important issues at stake.

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Buzzoni 2009 (n.1), pp. 52 –55.

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Annexation and Restitution The Politics of Textual Scholarship and the Dutch-German Literary Continuum

In 2005, preceding a conference of the European Society for Textual Edition in Amsterdam, a workshop was organized under the title From Europe to nations and back again: Scholarly editing between the universal appeal of the classics and the national pasts.1 In the introduction to the collection of studies that resulted from it, Joep Leerssen sketches a vivid image of the rise of national philologies within the context of the emergence of nation states in post-Napoleontic Europe. Following the so-called ‘Sattel-Zeit’, language and literature became the backbone of national identity.2 Medieval texts that had remained obscure for centuries were rediscovered; they became the object of dispute and appropriation among newly defined nations that were reinventing themselves and eager to construct a past that would strengthen their cultural importance.3 Leading philologists started to redefine, recategorize and claim literary texts that had originated and were transmitted through a pre-national Europe as heirlooms, using sometimes militant and occasionally even bellicose prose. Philology in many ways reflected the diplomatic and political realities of nineteenth century Europe.

1. ‘National literature’ and cultural space Texts like Beowulf and the Chanson de Roland were widely recognized as undisputed highlights of medieval literature and therefore had a great potential for being elevated to the status of national epic. Their diffuse origin and their dissemination throughout large geographical areas that cover territory whose boundaries were nowhere near the borders of the nineteenth-century nation states, however, made these texts historically evasive and ultimately unfit to serve nationalistic goals. Literary canons, especially those of medieval texts, often became constructs that were badly rooted in the historical-linguistic reality. At the same time national languages were standardized and became normative, to the detriment of living dialects that over the centuries had remained closer to the medieval linguistic realities.

1

The exploratory workshop funded by the European Science Foundation took place in December 2005; it was organized by Dirk Van Hulle, Marita Mathijsen and Joep Leerssen. 2 Joep Leerssen: Introduction: Philology and the European Construction of National Literatures. In: Editing the Nation’s Memory: Textual Scholarship and Nation-building in the Nineteenth Century. Ed. by Dirk Van Hulle & Joep Leerssen. Amsterdam 2008. European Studies. 26, p. 13 – 28. 3 See also Dirk Van Hulle: A Darwinian Change in European Editorial Thinking. In: Van Hulle & Leerssen 2008 (Note 2), p. 31– 43.

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Nevertheless, these developments did have some positive effects on European awareness of the literary heritage from the Middle Ages. As far as the classics are concerned – that is to say: texts that marked or were associated with pivotal moments in European history or its literary development – contending claims to ‘ownership’ gave rise to debates that did keep these texts alive: never since have those texts lacked attention, and time and again they have been rediscovered by new generations of philologists in different countries. Epics of the crusades, Arthurian romances, troubadour poetry, these were all phenomena that transcended national literatures. The least one can say is that a politicized philology insured a permanent presence for them in the European cultural consciousness. There is, however, a downside to the positive. There remains a vast body of literature that, due to the mentioned process of dividing Europe’s literary treasures between the nations, became eclipsed, or rather orphaned. Many geographical areas that once were literary centers became peripheral, not only on the map, but in literary studies and textual scholarship as well. This happened for instance to Provençal literature, as Philippe Martel has demonstrated convincingly.4 It bequeathed to us troubadour poetry, but could as a whole by no effort be raised to the level of national French poetry and therefore had to stay peripheral, the main reason being that it was written in the langue d’oc instead of the langue d’oïl, the language that developed into modern-day French. A cultural space that transcends present-day boundaries is the area that was once called ‘daz Niderlant’. Although the name may be similar to the country the Dutch call Nederland, there is only a partial overlap between ‘daz Niderlant’ and the Netherlands, just as ‘daz Niderlant’ cannot be equaled to the Low Countries by which the Netherlands and present-day Flanders or even Belgium and Luxemburg often are referred to. Johan Oosterman, in his Nijmegen inaugural lecture in 2007, has tried to bring Niderlant from a peripheral region to a more central position in our historical perception.5 He situates the core of this landscape between the rivers Maas and Rhine, the so-called Lower-Rhine area, stretching from the cities of Arnhem and Nijmegen in the north, to Maastricht and Cologne in the south. Texts from this area can, from a modern point of view, be designated peripheral in two respects: both geographically and linguistically. In the Netherlands and in Germany the landscape is perceived to be a peripheral area because its historical dialects differ considerably from standard Dutch and German. Medieval texts that were written here, for a long time, have been neglected and treated with indifference or even depreciation by modern philology. A case in point is the fifteenth-centu-

4

Philippe Martel: The Troubadours and the French State. In: Van Hulle & Leerssen 2008 (Note 2), p. 185 – 219. 5 Johan B. Oosterman: In daz Niderlant gezoget. De periferie als centrum: het Maas-Rijngebied als speelveld voor filologen. Nijmegen 2007, following a position that a.o. Helmut Tervooren had repeatedly taken in the years before (cf. Bernd Bastert, Helmut Tervooren & Frank Willaert: Einleitung. In: Dialog mit den Nachbarn. Mittelniederländische Literatur zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert. Ed. by Bernd Bastert, Helmut Tervooren & Frank Willaert. Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie 130, 2011, p. 6).

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ry manuscript Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz, mgf 922, which among other texts contains 86 songs from that region, 12 of them having musical notation.6 Not long after its discovery in 1836, this manuscript was sent to Jakob Grimm. Following its entry into the Staatsbibliothek, a description was given in 1863 by Ernst Martin, who was more interested in the poems than in the songs. He characterized the songs as ‘unimportant and tasteless love songs in a very bad textual condition’.7 Some of them were then published, but, as Oosterman points out, in the century that follows, the Berlin songbook scarcely drew the attention of Dutch schol­ ars and is completely eclipsed in literary histories and in important overviews of source manuscripts of medieval Dutch literature. Historians of Dutch literature were happy to grant the study of these texts to their German colleagues.8

For generations, however, the “German colleagues” showed little concern, as demonstrated by the publication date 1941 of the first integral edition of the songs.9 Something of a turning point came around 1970 with studies by Tilo Brandis, Ingeborg Glier, Melitta Rheinheimer and others, but it took another fifteen years before Dutch scholarship recognized the importance of those songs, mainly through the work of Frank Willaert.10 And even up to this date the manuscript is only partially represented in the large database of Middle Dutch sources, the Bibliotheca Neerlandica Manuscripta. Even now medieval reality has to succumb to the divisions between nationally oriented scholarly disciplines.

2. Cultural boundary and disfunctionality of dialect One can wonder if the problems of claims on texts on the one hand, and negligence or voluntary restitution on the other, are characteristic of border regions between modern countries that have national languages with related origins. The concept of ‘cultural space’ may be helpful in identifying a raising awareness of the existence and specific problems of regions that once were culturally coherent but have become peripheral over time. However, these regions are perhaps hard to locate with any precision. It would be a mistake, in my opinion, to assume that by fencing in such

6 7 8

9

10

Cf. recently Herman Brinkman: Die Gruuthuse-Handschrift und andere Überlieferungsträger der Liedkultur um 1400. In: Bastert, Tervooren a. Willaert 2011 (Note 5), p. 51– 65. Oosterman 2007 (Note 5), p. 7. Oosterman 2007 (Note 5), p. 8. Margarete Lang: Zwischen Minnesang und Volkslied. Die Lieder der Berliner Handschrift germ. fol. 922. Die Weisen bearbeitet von Josef M. Müller-Blattau. Berlin 1941. Tilo Brandis: Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische Minnereden. Verzeichnis der Handschriften und Drucke. München 1968 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 25); Ingeborg Glier: Artes Amandi. Untersuchung zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der rheinischen Minnereden. München 1971 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 34); Melitta Rheinheimer: Rheinische Minnereden. Untersuchungen und Edition. Göppingen 1975 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 144); Frank Willaert has published widely on the subject. A ground breaking article is: “Dw welt dw ist an allen orten reinisch”. Über die Verbreitung zweier rheinischer Liedgattungen im Spätmittelalter. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 108, 1989, p. 156 –171.

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regions with more or less well defined geographical or geophysical boundaries a cultural region could be adequately identified. A much better option, in my opinion, would be to focus on the functioning of a historical-literary continuum. In the case of ‘daz Niderlant’, editors of texts from this region have to deal with a landscape that once stretched from the western part of Flanders well into present day Germany.11 As it is hard to locate the geophysical borders of this area – apart from the North Sea in the West and the Baltic Sea in the Northeast – philologists could use another criterion to indicate the existence of a cultural boundary, namely the disfunctionality of a related but distinct dialect. A few examples from epical and lyrical poetry may show that the existence of this cultural area needs to be taken into account by both German and Dutch textual scholars, and that any claiming or granting of texts to one discipline or another would mean to ignore historical realities and obscure the functions and mechanisms of medieval literary culture. My first concern would be to establish the regions where literature from a related but distinct dialect starts to lose its functionality. Do these regions coincide with the periphery of historical-linguistic continuum, or do they differ significantly? I will give two examples of indications that will help determine a border region. The first example is the process of reworking a text from another area. Linguistic makeovers of Middle Dutch epic poetry were common in large parts of northern Germany, although they usually receive poor treatment in literary history. Many of these texts, some of which are only known in their original language through fragments, have completely been preserved in Low German renderings: Jacob van Maerlants Historie van den grale, his Boec van Merline, and Lodewijk van Velthems continuation of it, the novel Heinric ende Margriete van Limborch (more than once, in different dialects), and many others, as well as texts in other genres like the anonymous didactical poem Dietsce doctrinale have all at one point been adapted to one of the dialects that are labelled as Middle Low German.12 To say that these texts have been rendered from one language into another doesn’t mean that they were translated. The similarities between Middle Dutch, which is in fact a common designator for a group of dialects that were for the most part spoken and written within the present day Netherlands: Flemish, Brabant, Holland, Ut­recht, Limburg and, rather vaguely Eastern Middle Dutch – these similarities were so apparent and the dissimilarities so easily recognizable that scribes most of the time only needed to change the texts of their exemplars on a phonological level and rather seldom on a lexical level. In German this process is called ‘Umscheibung’ or ‘Um11

See recently Jan Goossens: Zur linguistischen Problematik Deutsch / Niederländisch im Spätmittelalter und in der Frühmoderne. In: Bastert, Tervooren a. Willaert 2011 (Note 5), p. 13 – 21. 12 Jacob van Maerlant: Historie van den Grale und Boek van Merline. Nach der Steinfurter Handschrift herausgegeben von Timothy Sodmann. Köln 1980 (Niederdeutsche Studien 26); on Heinric ende Margriete van Limborch cf. Rita Schlusemann: Der Minne- und Aventiureroman ‘Margriete van Limborch’. In: Bastert, Tervooren & Willaert 2011 (Note 5), p. 179 –192; Der Leyen doctrinal. Eine mittelniederdeutsche Übersetzung des mittelniederländischen Lehrgedichts Dietsche Doctrinale (nach der Handschrift Codex Guelf, Blankenburg 127a der Herzog August-Bibliothek zu Wolfenbüttel). Herausgegeben von Gunilla Ljunggren. Lund 1963 (Lunder germanistiche Forschungen 35).

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schrift’, literally: rewriting. When nineteenth century philologists like Jacob Verdam and Johannes van Vloten discovered such texts in German private libraries they did not hesitate to ‘reclaim’ them for the Dutch literary canon by ‘rewriting’ them into their supposed original language and present the results as true scholarly editions.13 Although later generations (and in the case of Van Vloten even his contemporaries) strongly objected, anyone with an understanding of Middle Dutch who reads these texts will feel the urge to transform the Middle Low German (at least in his mind) into Middle Dutch and cannot but feel some sympathy for men like Verdam and Van Vloten who did something that would be strictly forbidden to a modern textual scholar. To return to the topic of cultural boundaries: this system of rewriting has its limitations. As the distance between the original language and the target language grows, the functionality of the rewriting process diminishes to a point where it shows signs of breaking down. This will tell us that we have reached the fringes of a cultural space. I will illustrate this with an example from Rheinfranken, where, in the fifteenth century, the Middle Dutch chivalric romance Ogier van Denemarken was rendered into German by a professional scribe. In this particular case we have the situation that a complete Middle Dutch original is lost and only fragments are preserved. The only complete version is a Ripuarian Franconian text in a Heidelberg manuscript. Very recently Amand Berteloot has taken up the question whether this version is a translation of the original, as German textual scholarship would commonly assume, or whether it was a reworking (‘Umdichtung’), or rather a word-by-word rewriting (‘Umschreibung’).14 Berteloot shows convincingly that, firstly, it has been the scribe himself who is responsible for the German version, and, secondly, that this man does not deserve to be called a translator. Moreover, according to him, this text should not be considered as a reworking (Umdichtung), because the German text is through large parts only superficially intelligible. The scribe has in fact done nothing else than to try to convert another Germanic text by means of a word-by-word re-writing into a text that more or less would suit his own dialect. As Berteloot points out, his commissioner may not have been very pleased with the result, since the manuscript shows no signs of later use and seems to have been put on a shelf without being consulted ever since. That the common procedure of rewriting completely failed, mainly because of the disfunctioning of the distinct dialect, seems to be an indication that a boundary of the literary-historical continuum that begins in the West of Flanders is actually reached in Rheinfranken. My second example of the way in which we may recognize the periphery of a cultural space is taken from the western end of the Dutch-German linguistic continuum. In Bruges around 1400, a Middle Dutch songbook was written that is heavily tainted

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Jacob van Maerlants Merlijn. Naar het eenig bekende Steinforter handschrift uitgegeven door J. van Vloten. Leiden 1882, and Episodes uit Maerlant’s Historie van Troyen. Naar het te Wissen gevonden handschrift uitgegeven door Jacob Verdam. Groningen 1873. 14 Amand Berteloot: Gewollt und nicht gekonnt? Oder erst gar nicht gewollt? Die Heidelberger “Ogier von Dänemark”. In: Bastert, Tervooren & Willaert 2011 (Note 5), p. 193 – 201.

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Herman Brinkman

with a German idiom: the so-called Gruuthuse Manuscript.15 The songbook is the middle section of what in fact is a tripartite manuscript. It consists of 147 songs, most of which are courtly love songs. Apart from a few exceptions all have been provided with musical notation. Interestingly, many songs are written in an idiom that contains eastern and even Middle High German elements. It is no wonder that the first nineteenth century editor considered the collection to be of mixed origin: part of it was supposed to have been written in Western Flanders, but another part must have been the work of a poet who might have lived in Limburg or Kleve. Others considered that author to be someone who tried to rewrite original German songs into Middle Dutch. It was Jacob Verdam who proposed that the German in the texts was no more than a germanization, a textual coloration, which he associated with the cultural influence of Bavarian rule in Holland at the time. Although it is a fact that the presence of a Bavarian court attracted many wandering poets to the Netherlands and to Holland in particular, there are few scholars who still believe that there is a strong relation between Bruges and the court in Holland at that time. The idea, however, that this idiomatic colouring was a fashionable literary device was taken up. Today there is a consensus that the German element was intended to evoke the atmosphere of either High German Minnesang or the song culture of the Lower Rhine area, which was held in high esteem. Corrie de Haan in her dissertation has established beyond any doubt that the songs in Gruuthuse with the German coloring are in fact the work of a Flemish poet (which can be demonstrated by his use of rhymes), and that there are several layers of germanization.16 Throughout the songbook she observed a basic level that gradually becomes enriched by more sophisticated forms. Apparently the poet – or the poets, the question of the authorship is still under debate – learned more German as time went by. It is very interesting to see that while often correct Middle High German is produced, in some cases grammatical rules that govern Flemish are being imposed on German words, resulting in words that do not exist either in Low or in High German. In writing this would-be-German the poet demonstrates that he is working in the other end of the historical-literary continuum. This is not to say that the Gruuthuse songs should be considered a Middle Dutch curiosity, on the contrary. There are many songs that demonstrate a highly developed ability of literary expression. And although on the formal level substantial relationships with French poetic forms are present, on a linguistic level the orientation is mainly eastwards. The songs actually do belong in this literary continuum, because they fully participate in the literary culture of German song, as becomes apparent after a comparison between the idiom of the Gruuthuse songs and that of the songs in songbooks from different parts of Germany, especially the middle part. Whereas very few contemporaneous songs from the Low Countries have been preserved – which 15

The Hague, Royal Library, Ms. 79 K 10. For a facsimile edition with a transcription and bibliographical references see http://www.kb.nl/bladerboek/gruuthuse/index.html [last consulted August 31, 2012]; further: Brinkman 2011 (Note 6). A new critical edition will be published by Herman Brinkman and Ike de Loos (†) in 2015. Information here presented refers to that edition. 16 Corrie de Haan: Dichten in stijl. Duitse kleuring in Middelnederlandse teksten. Amsterdam 1999 (Nederlandse Literatuur en Cultuur in de Middeleeuwen 20), p. 23 – 57.

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makes it very hard to situate the Gruuthuse songbook within a chronological development of Dutch song culture – it is very revealing to compare the Gruuthuse songs with fifteenth century songbooks like the Berlin Songbook mgf 922, the Lochamer Songbook, the Songbook of Clara Hätzlerin, the (burned) Fichard Songbook, the Königsteiner Songbook and others.17 The songs in these songbooks all come from an area that stretches from the Lower Rhine in the North through Rheinfranken and some cities in the North of Bavaria. Many of them use the same formulaic expressions: the stereotypical language of courtly love that evolved from classical Minnesang. This is found in all regions, Western Flanders included, as can be demonstrated by the song from the Gruuthuse Manuscript Ich aen ghegeven hertze ende zin. This song is a ballad that consists of four stanzas, with one line recurring as a refrain. Gruuthuse Manuscript (II.3)

Parallels in German songbooks

Ich aen ghegeven hertze ende zin an eene vrouwe goet. Hoe verre dat ic van haer bin, soe es mi in den moet. Ten vruechden anich cranken spoet, of ic en zie haer lievelic scijn. Dan mach mir nicht verghessen zijn.

Ich hain gegeben voer den tzeil / mijn hertz, mijn lijp18

Liever boel ic nie ghewan, no nemmermeer en sal. Eist, dat soe mi der dueghet jan, so ne claghic gheen mesval. Mijn hertkin es in vruechden al, als ic aenzie de vrouwe mijn. Dan mach mi niet verghessen zijn. 18

17

18 19 20 21 22 23

19

20

21

wye verre das ich van yr keren 19 Wie ich an sich iren lieplichen schein 20 Mag ich doch nit vergessen dein 21 Chain lieber mensch ich ye gewan Vnd nymmermer gewynnen kan 22 Ze handd so frä ich mich Wann ich mein lieb an sich 23 22

23

Berlin, SPK, mgf 922: Lang 1941 (Note 9); Das Lochamer-Liederbuch (Kleine Ausgabe). Ed. by Walter Salmen a. Christoph Petzsch. Wiesbaden 1973; Carl Haltaus: Liederbuch der Clara Hätzlerin. Mit einem Nachwort von Hanns Fischer. Berlin 1966; Johann Carl von Fichard: Altdeutsche Lieder und Gedichte aus der ersten Hälfte des XVten Jahrhunderts. In: Frankfurtisches Archiv für ältere deutsche Litteratur und Geschichte 3, 1815, p.  196 – 323; Paul Sappler: Das Königsteiner Liederbuch. Ms. germ. qu. 719 Berlin. München 1970 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters. 29). Berlin mgf 922, Nr. 27, 830 – 831, also used as opening lines. Berlin mgf 922, Nr. 59, 1732. Hätzlerin, Nr. I.87, 6 and also ‘Darumb ich nit vergessen mag’ (id., Nr. I.48, 32). Hätzlerin, Nr. I.64, 5, 22 – 23. Hätzlerin, Nr. I.5, 22 – 23, cf. also ‘Das ich liever nye gewan’ (Kossmann, E.F.: Die Haager Liederhandschrift. Faksimile des Originals mit Einleitung und Transskription. Haag 1940, Nr. 18, 20). Hätzlerin, Nr. II.9, 143 –144.

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Herman Brinkman

Hoe soudic dat ghelaten connen? Soe es so dueghdelijc. Met gansen wille willix haer jonnen, soe maect mi vruechden rijc. Nie en vandic haers ghelijc, so goetlic es de vrouwe mijn. Dan mach mi nicht verghessen zijn. Al haddic allen weinsch ghewolde, so ne gherdic nemmer bas dan ich haer eewich dienen solde, want ich das nie vergas. Vor al dat es of ye ghewas blivic in trauwen haer eighijn. Dan mach mi nicht verghessen zijn.



24



25

Mit ganzem willen wünsch ich dir24 Sie macht mich freuden rich25

und hett ich aller wünsch gewalt26

26

Obviously this kind of courtly poetry is built to a large extent around fixed formulas. Still that does not mean that there is no room for subtleties, verbal playfulness or formal ingenuity. Every song is a new creation in its own right. There may be strong relations with songs from elsewhere, but a direct influence from the German songs on the Gruuthuse repertoire must be excluded, simply because the German songs postdate the Gruuthuse Manuscript by decades. Such similarities reveal the existence of a literary continuum that reaches much further than the cultural space that is called ‘daz Niderlant’. In the case of an edition of the Gruuthuse Manuscript, like the one that is in preparation at the moment, there can be no question that this whole culture has to be taken into account, just as any editor of a German songbook should be aware of the fact that far beyond the Dutch-German border a literary culture was alive with corresponded closely with literature in the heart of Germany and well beyond the linguistic line that divided Middle Low German from High German dialects.

3. Conclusion To conclude, apart from the odd anthologist I know of no textual scholar who has seriously attempted to restore the Germanized texts of the Gruuthuse-songbook into pure Middle Dutch. The hypothesis that this German colouring was a fashionable literary device and therefore something that was actually intended by the author may have been proposed too early for this to happen. In the case of Ogier van Denemarken, Amand Berteloot has in fact taken up the challenge to convert the germanized 24

Lochamer Songbook, Nr. 31, 1; for other versions of this song see Christoph Petzsch: Das Lochamer-Liederbuch. Studien. München 1967 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters. 19), p. 144. 25 Fichards Songbook, Nr. 43, 36 and ‘Magst du mich machen fräden reich’ (Hätzlerin, p. 61, 18). 26 Königsteiner Songbook, Nr. 56, II, 5, cf. also ‘Hette ich nu aller wünsche gewalt’ (Fichards Songbook, Nr. 27, 6) and ‘het ich aller wunsch gewalt’ (Lochamer Songbook, Nr. 39, 3).

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text into Middle Dutch. His motives are – no doubt – primarily philological: once the mechanisms by which the German scribe went about had been laid bare, he felt he had the instruments to construct an approximation of the original with enough confidence to call the experiment scholarly sound. Although the concept of this kind of retranslation (‘Rückübersetzung’) has been out of grace since the late 19th century and may seem to be an almost heretical act in the present day editorial climate – at least in the Netherlands, where extreme conservatism seems to be the norm – we must grant him, that we cannot compare his effort to that of Theodor Frings and Gabrielle Schieb who restored the German texts of Heinric van Veldeke into Middle Dutch and by doing so gave Veldeke so to speak back to the Dutch. The question whether Veldeke has ever written Minnesang in Middle Dutch remains uncertain, but is in fact these days considered to be highly improbable.27 The novel Ogier van Denemarken however, did once exist in Middle Dutch, which makes that another matter altogether. To Berteloot his rewriting of Ogier may be nothing more than a philological challenge. So when he ironically writes that Dutch literary scholarship owes the preservation of the Dutch Ogier to the commissioner of that work, because that man did not spend money on a more complete and thorough reworking; and when he accuses the scribe for having done a superficial job, thereby depriving Germany of one of the most important French epics for its literary canon, Berteloot playfully echoes sentiments that were vigorous in the 19th century but seem to be outdated now.28 In present-day Europe there is no place for restitution or annexation of literary heritage from a common medieval past.

Abstract From a present-day point of view, national literary history is often inadequate for describing literature that defies categorisation in nationalistic terms, especially when that literature predates the rise of the nation-state. Nevertheless, attempts at such a categorisation have to be accepted as historical facts that have influenced editorial policies and canonisation of literary texts up to modern times. The paper is concerned with the mechanisms and consequences of inclusion and rejection of literary texts in the national literary canon on linguistic grounds and the role of scholarly textual editing in this process within different philological traditions. Special focus is laid on the Dutch-German region, before the issue is considered within the wider perspective of national editing in parts of Europe where national borders do not coincide with linguistic borders.

27

Cf. Helmut Tervooren: “Wan so suochen birn ûf den buochen”. Zur Lyrik Heinrichs van Veldeke und zu seiner Stellung im deutschen Minnesang. In: Queeste 4, 1997, p. 1–15. 28 Berteloot 2011 (Note 14), p. 200.

Jürgen Schaarwächter

Musikerbriefeditionen in Großbritannien, Frankreich, Deutschland. Schwerpunkte, Regularien, Unzulänglichkeiten, Chancen.

Es ist nicht völlig überraschend, wenn Musikerbriefeditionen in unterschiedlichen Kulturbereichen teilweise ohne Berücksichtigung oder auch nur Kenntnis der Gepflogenheiten in anderen Ländern erstellt werden. Immer wieder scheint die jeweilige Sprachzone ein Hindernis, das es erst einmal zu überwinden gilt. Und obwohl wir alle wissen, dass zu eigentlicher Forschung entsprechende Briefeditionen essenziell sind und somit automatisch ein gewisser Austausch in methodischer Hinsicht vorstellbar sein sollte, so ist es doch umso bedauerlicher, wenn – quasi unter bewusstem Verzicht auf den ‚Blick über den Tellerrand‘ – die Chancen und Möglichkeiten anderer Editionskonzepte ignoriert werden. Zumeist sind die Besonderheiten von Musikerbriefeditionen ausgerichtet auf die potenzielle Leserschaft, die in der Tat international eine teilweise unterschiedliche Zusammensetzung aufweist. Während sich besonders im deutschsprachigen Raum die wissenschaftliche Edition als Standard etabliert hat, ist für viele andere Editionen auffallend, dass sie sich offenkundig vornehmlich nicht an ein wissenschaftlich vorgebildetes Publikum richten und damit ihren Gegenstand sozusagen ins Leben der ‚normalen Menschen‘ tragen wollen. Der Grund ist einfach – die Absatzchancen auf einem entsprechenden musikwissenschaftlich interessierten Markt scheinen – gerade mit Blick auf die in manchen Ländern proportional recht hohen Herstellungskosten – gering, so dass nur wenige ‚Leuchtturmprojekte‘ angegangen werden. Andere Projekte laufen aus mehr oder weniger privater Initiative heraus, ohne die Anbindung an eine Universität oder Forschungseinrichtung. Dies ist in manchen Fällen die einzige Möglichkeit, überhaupt solche Projekte umzusetzen. Natürlich ist private Initiative nicht unbedingt gleichbedeutend mit Dilettantismus, doch werden in manchen Fällen bei solchen Editionen nicht einmal die von wissenschaftlicher Seite zu stellenden Mindestanforderungen gedeckt. Hier seien die beiden Extremfälle als Ausgangspunkte genommen, um in einem weiteren Schritt einige Beispiele vorzustellen, die eine Art Mittelweg verfolgen. 1997 erschienen, im Auftrag der Arbeitsgruppe Musikerbriefe der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung, Richtlinien-Empfehlungen zur Edition von Musikerbriefen.1 In diesen umfassenden Richtlinien-Emp-

1

Bernhard R. Appel, Werner Breig, Gabriele Buschmeier, Sabine Henze-Döhring, Joachim Veit u. Ralf Wehner: Richtlinien-Empfehlungen zur Edition von Musikerbriefen. Mainz 1997. Siehe http://www. adwmainz.de/fileadmin/adwmainz/MuKo_Publikationen/richtlinien-musikerbriefe.pdf (konsultiert 9. Juli 2014).

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Jürgen Schaarwächter

fehlungen, die hier nicht einmal ansatzweise detailliert diskutiert werden können, wird versucht, für die wissenschaftliche Musikerbriefedition für nahezu jede Eventualität Lösungsvorschläge anzubieten, zunächst einmal idealiter ohne jedwede Art von Einschränkung bezüglich Platz und gegebenenfalls entstehender Kosten. Kaum eine Musikerbriefedition wird es sich beispielsweise wie die Goethe-Briefedition2 je leisten können, Edierten Text und Apparat in separaten Bänden vorzulegen (eine Ausnahme bildete erst jüngst die neue Hugo Wolf-Briefausgabe, diese faktisch ein Projekt halbprivater Initiative, nämlich der Internationalen Hugo-Wolf-Gesellschaft).3 Typische Beispiele für Editionen, in denen Edierter Text und Apparat klar separiert werden (wenn auch nicht in separaten Bänden), sind Richard Wagners Sämtliche Briefe,4 die Beethoven Briefwechsel Gesamtausgabe5 (mittlerweile teilweise auch online unter ‚Beethoven digital‘ verfügbar, dort jedoch ohne den Apparat)6 sowie die Schumann Briefedition.7 Wie die Arbeitsgruppe selbst einräumte, war in den Richtlinien-Empfehlungen der Blickwinkel der vorliegenden Empfehlungen im Hinblick auf den historischen Geltungsbereich möglicherweise verengt [...], da alle [an der Erarbeitung der Empfehlungen beteiligten] Mitglieder der Arbeitsgruppe ausschließlich mit Briefen aus dem 19. Jahrhundert befaßt sind.8

Eine Ausweitung der Empfehlungen sowohl mit Blick auf Korpora aus der Zeit vor wie auch seit dem 19. Jahrhundert sowie auch auf digitale Briefedition wäre in nicht allzu ferner Zukunft unbedingt empfehlenswert.9 Möglicherweise müsste mit Blick auf digitale Editionen auch das vormalige Verständnis des Apparats als (so die Richtlinien-Empfehlungen) „lediglich Anhang des Edierten Textes“10 einer Prüfung unterzogen werden. Denn durch die Hinzuziehung ergänzenden Materials können weitere wichtige Erläuterungsschichten erschlossen und eine ganz andere Art der Kontextualisierung ermöglicht werden, die im Printmedium nicht oder nur eingeschränkt umsetzbar – oder gar nicht intendiert – waren. 2 3 4 5 6

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8 9

10

Johann Wolfgang Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Georg Kurscheidt et al. Berlin 2008ff. Hugo Wolf: Briefe 1873 –1901. Mit Kommentar vorgelegt von Leopold Spitzer, 4 Bde. Wien 2010 –2011. (Bd. 4 ist der Kommentarband). Richard Wagner: Sämtliche Briefe. Hrsg. von versch. Herausgebern. Leipzig u. Wiesbaden 1967ff. Ludwig van Beethoven: Briefwechsel Gesamtausgabe. Hrsg. von Sieghard Brandenburg. München 1996ff. (CD-ROM-Edition 1998). http://www.beethoven-haus-bonn.de/sixcms/detail.php?id=1505&template=einstieg_digitales_archiv_de&_mid=Schriftdokumente%20Ludwig%20van%20Beethovens%20und%20anderer%20Personen (konsultiert 9. Juli 2014). Schumann Briefedition, bislang 9 Bde. Hrsg. von versch. Herausgebern. Köln 2008ff. Während die Beethoven Briefwechsel Gesamtausgabe Abbildungen integriert hat, verzichten die Wagner- und die Schumann-Briefeditionen auf solche – die Wagner-Briefausgabe bedingt durch den Veröffentlichungsbeginn 1967. Appel et al. 1997 (Anm. 1), S. 5. Die Editionsrichtlinien der in Vorbereitung befindlichen digitalen Ausgabe der Briefe, Tagebücher und Dokumente Carl Maria von Webers, welche unter: http://www.weber-gesamtausgabe.de/de/Editionsrichtlinien (konsultiert 9. Juli 2014) zugänglich sind, umfassen nicht weniger als 20 Seiten. Appel et al. 1997 (Anm. 1), S. 16.

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Voraussetzungen für solche eher opulenten Editionen sind zumeist eine gesicherte Finanzierung und ein genügender Zeitrahmen, die solchen Projekten die nötige Reifung ermöglichen. Derartige Idealvoraussetzungen sind in der Musikwissenschaft rar gesät, weitere Briefeditionen entstehen quasi als ‚Nebenprodukt‘ und nicht selten in unregelmäßigen Abständen. Zentraler Ausgangspunkt für eine Edition ist naturgemäß die Auswahl des zu edierenden Briefkorpus. Sollen nur die Postsachen von A an B veröffentlicht werden, die Korrespondenz zwischen A und B, sämtliche bekannten Postsachen aus einem klar begrenzten Zeitraum, eine themenbezogene Sammlung etwa die Schaffung oder Rezeption eines Werkes betreffend, ‚Sämtliche Briefe‘ oder eine Auswahl? All diese Fälle können unterschiedlichste Probleme bieten, die nicht immer durch Editionen gelöst werden können. Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, dass auch wir selbst nur wenig Post, die wir erhalten, aufbewahren, und Gleiches können wir auch von unseren Korrespondenzpartnern erwarten. Wenn man sich also überlegt, Postsachen eines gewissen Zeitraumes zu edieren, was passiert dann beispielsweise mit den allfälligen ‚Gelegenheitsschreiben‘ – Geburtstags- oder Weihnachtspost etwa oder Urlaubsgrüßen? Gerade bei Korrespondenz des 20. Jahrhunderts sind solche Postsachen immer wieder erhalten, doch ergibt eine vollständige Veröffentlichung in irgendeiner Weise Sinn? Zumeist wird ein Herausgeber versuchen, ein entsprechendes Korpus ‚handhabbar zu machen‘. Eine praktikable und kluge Lösung wurde bei den Weihnachtskarten Peter Warlocks aus dem Jahre 1927 gefunden: Alle erhaltenen Karten werden sukzessive dargeboten, mit dem Bildmotiv in der Eröffnungszeile.11 Auch von Max Reger ist eine beachtliche Anzahl von Weihnachts- und Neujahrsgrüßen erhalten. Jedoch hat sich das Max-Reger-Institut bislang nur in einem einzigen Fall dafür entschieden, sämtliche bekannten Postsachen aus einem bestimmten Zeitraum zu veröffentlichen, nämlich jene der Jahre bis 1899 – also kurz vor Max Regers 27. Geburtstag, zusammen mit den ebenfalls aus diesem Zeitraum stammenden Dokumenten, um so eine Art „Jugendbiografie in Dokumenten“ vorzulegen.12 Der Grund war einfach – die Zahl der in diesem Zeitraum entstandenen und heute bekannten Postsachen ist mit 315 Stücken ausgesprochen überschaubar und extreme Duplizierung (wie bei Regers jeweils rund zwanzigfach überlieferten Nachrichten über die Verleihung seiner Ehrendoktorwürden 1908 beziehungsweise 1910) findet hier noch nicht statt. Zum Vergleich: Allein aus dem Jahr 1900 sind 165 Postsachen bekannt, aus den Folgejahren 1901–1904 195, 515, 397 beziehungsweise 636. Bedingt ist diese Staffelung aus der erst allmählich sich durchsetzenden Bekanntheit Regers, die immer häufiger die Bewahrung dieser Dokumente durch den Empfänger nach sich zog. Gegenbriefe an Max Reger haben sich nur in Ausnahmefällen erhalten.13 11

[Peter Warlock:] The Collected Letters of Peter Warlock (Philip Heseltine), 4 Bde. Hrsg. von Barry Smith, Bd. 4. Woodbridge 2005, S. 182. [Max Reger:] Der junge Reger. Briefe und Dokumente vor 1900. Hrsg. von Susanne Popp. Wiesbaden 2000. 13 Zu den weiteren Briefeditionen zu Max Reger siehe Max Reger: Briefe an Fritz Stein. Hrsg. von Susanne Popp. Bonn 1982; Max Reger: Briefe an Karl Straube. Hrsg. von Susanne Popp. Bonn 1986; 12

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Ein anderer, ähnlich problematischer Fall kann partnerschaftliche Korrespondenz sein. Während im Fall Robert und Clara Schumanns bekanntermaßen die erhaltene Korrespondenz durch Haushalts- und Ehetagebücher ergänzt wird,14 fehlt in vielen Fällen Vergleichbares, so dass die Briefe nur ein lückenhaftes, teils sogar extrem lückenhaftes Bild ergeben. Sollte es Aufgabe des Herausgebers sein, diese Lücken durch anderweitig überlieferte Dokumente ‚aufzufüllen‘, die erhaltenen Postsachen also stärker zu kontextualisieren, oder geht das über eine Briefedition weit hinaus? Hier seien zwei Fälle vorgestellt, bei denen diese Problematik besonders offenkundig ist. Nehmen wir zum Beispiel die Korrespondenz zwischen Max und Elsa Reger seit ihren ersten erhaltenen Briefdokumenten vom Dezember 1899. Am 25. Oktober 1902 heirateten die beiden – aus dem dazwischen liegenden Zeitraum sind 253 Postsachen bekannt. Aus der Zeit danach – bis zu Regers Tod am 11. Mai 1916 – sind gerade einmal 178 Postsachen überliefert, nicht nur bedingt durch das Zusammenleben der beiden (Reger war viel auf Konzertreisen, wobei ihn seine Frau nur selten begleitete), sondern auch weil weder Max noch Elsa es für nötig befanden, ihre Korrespondenz aufzubewahren. Elsa Regers Erinnerungen15 geben naturgemäß ein stark tendenziös gefärbtes Bild der Ehe, so dass eine wirklich angemessene Würdigung dieser Beziehung problematisch ist. Ein anderer Fall sind die Gesammelten Briefe Peter Warlocks16 (oder Philip Heseltines), in denen jedwede Ehekorrespondenz fehlt; auch die Korrespondenz an den Schriftsteller D. H. Lawrence ist nicht enthalten – obschon der Rechtsstreit zwischen den Künstlern beider Schaffen nicht unwesentlich beeinflusste. Die Briefe D. H. Lawrences wurden separat veröffentlicht.17 Im Gegensatz zu entsprechenden Korpora des 18. und 19. Jahrhunderts sind bekanntermaßen neuere Bestände insofern schwerer zu edieren, da insbesondere im späten 19. sowie im 20. Jahrhundert für gewöhnlich der Bestand der erhaltenen Postsachen (a) zumeist ungleich größer als bei entsprechenden Korpora der vorhergehenden Epoche und (b) zumeist längst noch nicht komplett bekannt ist. Die Gründe für Letzteres sind vielfältig: Zum einen leben die Briefempfänger oder ihre Erben häufig noch und sind nicht selten nicht einmal über ihre eigenen Bestände informiert oder wünschen aus persönlichen Gründen (noch) keine Veröffentlichung der Dokumente. Deshalb wird zum andern der Autographenmarkt in dieser Hinsicht noch lange nicht zur Ruhe kommen; und schließlich sind selbst in öffentlichen Sammlungen vorhandene Bestände noch längst nicht vollständig erschlossen. Von einem endgültigen Kenntnisstand kann nur selten annäherungsweise die Rede sein, und wenn, dann zumeist nur bei beschränkten Korpora wie dem Briefwechsel zwischen zwei Part-

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Max Reger: Briefe an die Verleger Lauterbach & Kuhn, 2 Bde. Hrsg. von Susanne Popp u. Herta Müller. Bonn 1993 und 1998; Max Reger: Briefwechsel mit dem Verlag C. F. Peters. Hrsg. von Susanne Popp u. Susanne Shigihara. Bonn 1995; Max Reger: Briefe an den Verlag N. Simrock. Hrsg. von Susanne Popp. Stuttgart 2005; Max Reger: Briefe an den Verlag Bote & Bock. Hrsg. von Herta Müller u. Jürgen Schaarwächter. Stuttgart 2011. Robert Schumann: Tagebücher. Kritische Gesamtausgabe, 3 Bde. Hrsg. von Georg Eismann u. Gerd Nauhaus. Leipzig 1977ff. Elsa Reger: Mein Leben mit und für Max Reger. Erinnerungen. Leipzig 1930. Warlock 2005 (Anm. 11). The Letters of D. H. Lawrence, 8 Bde. Hrsg. von James T. Boulton et al. Cambridge 1979ff.

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nern. Und hier erweisen sich sprachraummäßig die Musikerbriefeditionen als durchaus offenkundig ähnlichen Prinzipien folgend. Allerdings gehen Stéphane Topakians Edition von Henri Duparcs Briefen an den Komponistenkollegen Jean Cras,18 die von Juliane Brand, Christopher Hailey und Andreas Meyer veranstaltete Ausgabe der Korrespondenz Alban Bergs und Arnold Schönbergs19 und Rachel O’Higgins’ Ausgabe der Korrespondenz zwischen Alan Bush und John Ireland20 von unterschiedlichen Grundvoraussetzungen aus – im Fall der französischen Edition fehlen die Gegenbriefe Cras’, während in den beiden anderen Editionen auf beiden Seiten nur jeweils einzelne Postsachen fehlen. Die englischsprachige Edition entspricht, mit der jeweiligen Nennung der Bibliothekssignaturen und der gesamten Editionsdarstellung, stärker der germanistischen Tradition mit dem Apparat am Ende des Edierten Textes, während die französische Ausgabe durch Nutzung von Fußnoten und reicher Bebilderung eher den Tendenzen der neueren deutschen Musikerbriefedition entspricht. Zu demselben Feld gehört eine weitere hier zu nennende französische Edition, die allerdings einen noch abseitigeren Weg verfolgt, eine Edition von Briefen verschiedenster Musiker an Camille Saint-Saëns, die vor allem deshalb ediert wurden, weil sie allesamt einer Sammlung entnommen sind, dem Saint-Saëns-Nachlass im Château-Musée de Dieppe.21 Der mustergültig illustrierte Band legt Wert auf die Herausstellung der unterschiedlichen Kontakte Saint-Saëns’ und bietet so – gerade angesichts des vollständigen Fehlens anderer neuerer Briefeditionen zu diesem Komponisten – einen wichtigen Einblick in Leben und Welt Saint-Saëns’. Im nichtdeutschsprachigen Raum gibt es nur ganz wenige Projekte, die sich von vornherein ambitioniert einer mehrbändigen Briefedition annehmen (die sechsbändigen Letters from a Life. The Selected Letters of Benjamin Britten22 etwa oder The Collected Letters of Peter Warlock (Philip Heseltine) in insgesamt vier Bänden).23 Wie gesagt, liegen die Gründe nicht selten vor allem im rein Pragmatischen – in Geld- und Personalmangel, oder, positiv ausgedrückt, im Willen zur Konzentration auf das für alle Leser Wichtige. Naturgemäß ist es für einen Herausgeber schwer, sich eine derart unspezifische Leserschaft vorzustellen, und so müssen wir leider davon ausgehen, dass die Editoren solcher Ausgaben gelegentlich dazu tendieren, nicht wissenschaftlich überprüfbar vorzugehen. Das größte Problem bei solchen Auswahleditionen, die in den letzten Jahren besonders in Großbritannien nahezu Mode geworden sind – solchen zu William Wal-

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Henri Duparc: Lettres à Jean Cras ‚le fils de mon âme‘. Hrsg. von Stéphane Topakian. Lyon 2009. Briefwechsel Arnold Schönberg –Alban Berg, 2 Bde. Hrsg. von Juliane Brand, Christopher Hailey u. Andreas Meyer. Mainz 2007. The Correspondence of Alan Bush and John Ireland 1927–1961. Hrsg. von Rachel O’Higgins. Aldershot 2006. Lettres de compositeurs à Camille Saint-Saëns. Hrsg. von Eurydice Jousse u. Yves Gérard. Lyon 2009. Letters from a Life. The Selected Letters of Benjamin Britten 1913 –1976, 6 Bde. Hrsg. von Donald Mitchell, Philip Reed u. Mervyn Cooke. London u. Woodbridge 1991ff. Warlock 2005 (Anm. 11).

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ton,24 Ralph Vaughan Williams25 und Michael Tippett26 etwa, doch selbst die Britten-Briefedition strebt keine Vollständigkeit an –, ist der subjektive Selektions-Anteil des Herausgebers (womöglich teilweise bedingt durch Vorgaben des Verlags oder der Rechteinhaber). Betrachtet man die musikwissenschaftliche Sekundärliteratur, findet man in ihr immer wieder weitere Postsachen, die in diesen Auswahleditionen fehlen und von denen also weiterhin kein vollständig veröffentlichter Brieftext vorliegt. Gerade bei Komponisten, zu denen die Literaturlage noch nicht ausgesprochen reichhaltig ist, ist dies also eher ein Hemmschuh denn eine Forschungsunterstützung. Gerade in solchen englischen Musikerbriefeditionen fehlen zumeist exakte Angaben über den Fundort der Postsachen, geschweige denn über die Art der Postsache. Selbst die Informationen zu den Briefeigentümern in den Editionen der Briefe Benjamin Brittens oder Peter Warlocks erscheinen allenthalben als Liste der Briefeigentümer am Buchende (während die Editionen der Briefe an Camille Saint-Saëns oder des Briefwechsels Arnold Schönberg – Alban Berg detaillierte Informationen zur Art der Postsache inklusive Format und Umschlagbeschriftung bieten).27 Die Kommentarebene ist zumeist ebenfalls eher knapp28 – auch dies offenbar bedingt entweder durch mangelnde Grundlagenforschung in diesem Gebiet oder durch zu geringe Zeit oder Arbeitskraft, die in das Projekt gesteckt werden konnten. Der wirkliche Wert dieser Editionen wird durch diese extrem verknappten ‚Metadaten‘ teilweise extrem eingeschränkt – insbesondere dann, wenn eine Briefedition aus den 1950er-Jahren sich durch eine (deutlich umfangreicher angelegte) Edition von 2008 nicht nur als nicht überholt erweist, sondern als nicht einmal qualitativ annäherungsweise gleichwertig (so geschehen bei Korrespondenz zwischen Ralph Vaughan Williams und Gustav Holst).29 Die Kopfleisten solcher Editionen bestehen nicht selten aus nicht mehr als dem Namen des Empfängers – danach beginnt sogleich der Brieftext. Gerade die Zählung von Briefen (sinnvoll, wenn eine definitiv feststehende, nicht mehr erweiterbare Zahl von Postsachen veröffentlicht wird) wird in solchen Bänden zum nicht mehr nachvollziehbaren Selbstzweck (etwa in den Letters of Ralph Vaughan Williams 1895 –1958).30 In allen Fällen der letztgenannten Ausgaben fällt auf, dass 24 25 26 27

The Selected Letters of William Walton. Hrsg. von Malcolm Hayes. London 2002. Letters of Ralph Vaughan Williams 1895 –1958. Hrsg. von Hugh Cobbe. Oxford 2008. Selected Letters of Michael Tippett. Hrsg. von Thomas Schuttenhelm. London 2005. Die meisten anderen Editionen, darunter die Korrespondenz zwischen John Ireland und Alan Bush sowie fast alle deutschsprachigen Editionen, ermöglichen durch Mitteilung der Originalsignaturen die Überprüfbarkeit – wobei die Editionen der Briefe Hugo Wolfs und Richard Wagners in größerem Maße Bibliothekssiglen und Kürzel verwenden, zu deren Aufschlüsselung das Abkürzungsverzeichnis konsultiert werden muss. 28 Eine Ausnahme bildet die Britten-Briefedition, die teilweise sehr umfangreiche Kommentare enthält. Sie ist von den nichtdeutschsprachigen Musikerbriefeditionen auch die einzige, die die Korrespondenzstelle zumindest ansatzweise erläutert. 29 Ralph Vaughan Williams u. Gustav Holst: Heirs and rebels. Letters and occasional writings on music. Hrsg. von Ursula Vaughan Williams u. Imogen Holst. London et al. 1959. 30 Auf eine Zählung wird verzichtet in Walton 2002 (Anm. 24) sowie in den in loser Folge erscheinenden Briefausgaben des Max-Reger-Instituts (siehe Anm. 13). Während bei einer Auswahlausgabe wie jener der Walton-Briefe ein Verzicht auf eine durchgehende Zählung unmittelbar einsehbar ist, hat sich das Max-Reger-Institut vor allem angesichts der großen Menge (noch) fehlender Postsachen gegen eine Zählung entschieden.

Musikerbriefeditionen in Großbritannien, Frankreich, Deutschland197

die Lesbarkeit deutlich über der philologischen Genauigkeit der Darstellung rangiert, das heißt, dass Streichungen oder Einfügungen durch den Schreiber nur in den seltensten Fällen überhaupt mitgeteilt werden; die Britten-Briefausgabe überliefert als einzige Ausnahme solche Streichungen. Treten wir nun zurück und stellen wir uns vor, dass wir uns in einer solchen Situation befinden – uns wird vom Verlag, der sich bereit erklärt hat, die Edition zu veröffentlichen, klar gesagt, dass eine Edition ein breiteres Publikum ansprechen, also eher allgemein verständlich und handhabbar sein muss. Heißt das, dass wir auf alle ‚Metadaten‘ verzichten müssen, dass der Apparat rudimentär bleiben muss? Dies scheint im englischsprachigen Raum fast der Fall zu sein (Ausnahmen bestätigen wie gesagt die Regel). Wir alle wissen, dass dem nicht so ist, und bemühen uns in unseren Editionen, wissenschaftlichen Anspruch und Interesse auch für den allgemein Musikinteressierten zu verbinden. Möglicherweise weil wir oft genug nicht auf die Negativbeispiele in unserem Umfeld achten, gehen auch wir gelegentlich Irrwege, versuchen – gerade bei Einzelbandeditionen oder bei in loser Reihung erscheinenden Editionen – unser eigenes Konzept stets weiter zu optimieren. Das kann ganz unterschiedliche Bereiche betreffen – die Art und den Umfang des Kommentars ebenso wie rein pragmatische Dinge wie die Präsentation der Notenbeispiele im Text. In der Edition des Briefwechsels Max Regers mit seinem Verlag C. F. Peters etwa bestand die Notwendigkeit, manche Seiten im Zweifarbendruck zu präsentieren – weil Reger in zu korrigierenden Notenbeispielen die falschen Töne mit roter Tinte hervorhebt (hieran kann sich die Frage anschließen, ob bei Briefeditionen neu gesetzte kurze Notenbeispiele Faksimiles vorzuziehen sind – eine Frage, die wohl nach dem Einzelfall entschieden werden muss).31 Auch sei hier zu bedenken gegeben, dass eine reine Edition des Textes ohne entsprechende Erläuterung zu beispielsweise fehlenden Postsachen oder gar längeren brieflosen Perioden – also quasi ohne Kontextualisierung – heutigen Anforderungen wohl kaum noch entspricht. Es mag Komponisten geben, bei denen solche Lücken nicht kommentiert werden müssen, da bereits detaillierte Biografien oder zumindest gedruckte Tageskalender vorliegen (beispielhaft etwa Richard Strauss. Chronik zu Leben und Werk).32 Insbesondere scheint aber vor allem der Verzicht auf Bebilderung heute ein im Grunde als überholt zu bezeichnendes Relikt aus einer Zeit, da die Einbeziehung von Illustrationen mit hohen Kosten verbunden war. Naturgemäß bietet die digitale Edition ganz andere Möglichkeiten der Kontextualisierung der Postsachen, doch auch hier ist ein klares Konzept mit Blick auf die Frage des zu edierenden Briefkorpus unabdingbar. Gerade ohne einen (durch die Buchpublikation zwangsläufig vorgegebenen) ‚Thread‘, einen logisch aufgebauten Präsentationsstrang, kann die Präsentation einzelner Postsachen zu einer für den Nutzer nicht immer nachvollziehbaren Kontextualisierung führen und damit im schlimmsten Fall 31

Da sich in Regers frühen Briefen häufiger auch Zeichnungen oder Tintenflecke finden, die teilweise unauflöslich mit den Notenbeispielen verbunden sind, wurden in Reger 2000 (Anm. 12) die Notenbeispiele faksimiliert, während durch die problematische Quellenlage (fast nur Briefabschriften vorhanden) in Reger 2011 (Anm. 13) neu gesetzte Notenbeispiele bevorzugt wurden. 32 Franz Trenner: Richard Strauss. Chronik zu Leben und Werk. Wien 2003.

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Jürgen Schaarwächter

zum Eindruck der Beliebigkeit, der Unentschiedenheit der Editoren. Und gerade dies würde die unzweifelhaft vorhandenen Vorteile digitaler Edition nicht nur reduzieren, sondern geradezu konterkarieren.

Abstract Quite naturally, musicians’ letters are edited individually in diverse cultural surroundings, partly without consideration of the achievements and conventions in other countries. The paper investigates the editorial approaches and principles of a number of such editions. Mostly the characteristics of the editions are oriented towards a potential readership that may be indeed composed differently according to nationalities. The special orientation to the target readership can naturally cause a setting of deviant priorities that sometines cause largely incongruous editorial rules that may, like general editorial principles, even interact interdisciplinarily. What in one country may be regarded as a special strength of an edition may under different external requirements even be perceived to be a deficiency. Yet these diverse positions with respect to the presentation of the original document, ‘metadata’ or commentary can be relevant not only for musicology, but well beyond.

Barbara Mahlmann-Bauer

Funktionen des Kommentars. Erfahrungsbericht anlässlich der Edition von Jeremias Gotthelfs politischer Publizistik

Die Zeitungsartikel von Albert Bitzius und die Romane Jeremias Gotthelfs spiegeln die Erfahrungswelt eines Berner Pfarrers wider, der seit 1830 in der liberalen Regenerationsbewegung engagiert war und die Berner Politik zeitlebens kritisch kommentierte. Was soll und kann der Kommentar einer historisch-kritischen Ausgabe zu Zeitungsartikeln eines Romanciers leisten, der im Tagesgeschehen die Stoffe seiner Zeitromane fand? Meine Antwort hat drei Teile: 1. eine methodische Einleitung, 2. eine Typologie der kommentierungswürdigen Äußerungen (Kapitel II –V) und 3. Perspektiven, die sich aus der Kommentierung der politischen und pädagogischen Publizistik Jeremias Gotthelfs für die Erschließung seiner Romane ergeben. In Diskussionen über Funktion und Tragweite des Kommentars und der Sacherläuterungen in historisch-kritischen Werkausgaben wurde der Frage nach dem epistemologischen Status von stark zeit- und anlassgebundenen Aussagen und Werturteilen eines Autors noch nicht nachgegangen, obgleich kein Zweifel besteht, dass sie heutigen Lesern mit historisch-politischen Hintergrundinformationen verständlich gemacht werden müssen. Es ist in einem ersten Schritt erforderlich, den Sprechaktcharakter der Äußerungen zu bestimmen; danach ist zu erörtern, ob ihnen aus Sicht der Kommunikationspartner oder intendierten Leser Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit zukommen. Wolfgang Detel hat in seinem Entwurf einer modernen philosophischen Hermeneutik erklärt, wie „Geist und Verstehen“ sich gegenseitig bedingen. Autoren verständigen sich mit Lesern durch sprachliche Zeichen, die stets mit expressiven Zeichen verbunden sind. Was sie mitteilen, referiert auf reale Ereignisse, Personen oder Zeitangaben. Damit eine Kommunikation darüber gelingt, ist stets der expressive Modus der Mitteilung mit zu berücksichtigen. Expressive Zeichen haben auch einen semantischen Gehalt (der meist Bedeutung oder Sinn genannt wird) und einen psychologischen Modus (der meist Sprechakt genannt wird). Zudem sind viele sprachliche Zeichen wahr oder falsch, und ihre Bedeutungen sind holistisch vernetzt. [...] Eine Handlung ist ein Verhalten, das von einer semantisch gehaltvollen Absicht begleitet ist. Die Handlung wird erst durch die korrelierte Absicht spezifiziert und kann daher auch nur in Kenntnis des semantischen Gehalts der Absicht identifiziert werden.1

1

Wolfgang Detel: Geist und Verstehen. Historische Grundlagen einer modernen Hermeneutik. Frankfurt 2011 (Philosophische Abhandlungen. 104), S. 41f. und 43.

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Barbara Mahlmann-Bauer

Äußerungen eines Schriftstellers über Politik in Zeitungen sind derartige Sprechhandlungen. Die Absicht des Sprechers und die Gründe für das, was er glaubt, müssen im Kommentar herausgearbeitet werden. Die Aufgabe geht über eine schlichte Verifikation von Behauptungen über das, was der Fall ist, hinaus. „Das Verstehen einer Handlung besteht im grundlegenden Fall darin, den semantischen Gehalt der korrelierten Absicht zu erfassen.“2 Zeitungsartikel z.B. wollen aufrütteln, überzeugen, das Wahlverhalten beeinflussen. Sie appellieren an Wertvorstellungen, indem sie selbst wertend Stellung nehmen. Lebhaft wurde die Kontroverse unter Editoren darüber geführt, wie weit ein Kommentator mit Handreichungen gehen darf, welche die Interpretation anleiten, und ab wann Sacherläuterungen in Interpretationen umschlagen. Verbreitet ist die Ansicht: Wer dem Leser eine Deutung vorschlägt, bevormundet ihn.3 Beobachtungen zum Zeitgeschehen zu kommentieren, heißt aber mehr, als nur Sacherläuterungen und Informationen zu historischen Personen zu geben. Die Meinung des Autors muss von den Urteilen anderer abgegrenzt werden und deren Tendenz freigelegt werden. Der Benutzer einer historisch-kritischen Ausgabe sollte in die Lage versetzt werden zu beurteilen, ob der Journalist recht hat, ob er eine Sachlage falsch deutet und wie viele aus seiner Berufs- oder Altersgruppe seine Ansicht teilen. Er wird eine publizistische Stellungnahme erst dann verstehen, wenn er die Absicht des Autors kennt und seine Position im politischen Meinungsspektrum verorten kann. Die Kommentare zu Bitzius’ Zeitungsartikeln vermitteln dem Leser viel Kontextwissen, damit ihm der expressive Gehalt seiner Äußerungen verständlich wird. Wenn er keine Ansätze zur Deutung der Artikel erhält, überfordern ihn die journalistischen Interventionen des Pfarrers von Lützelflüh mit ihrer Fülle von Anspielungen, die nur Zeitung lesende Berner Zeitgenossen zu verstehen vermochten. Ein Vorbild für meinen Zugang zum Verständnis publizistischer Texte von Albert Bitzius ist der Kommentar der historisch-kritischen Ausgabe der Werke Heinrich Heines. Trostreich ist die Düsseldorfer Ausgabe für das Langfrist-Unternehmen der Gotthelf-Editoren deswegen, weil sie nach 26 Jahren in 16 umfangreichen Bänden (mit 23 Teilbänden), die einen Umfang von 20400 Seiten haben, seit 1997 abgeschlossen vorliegt. Die Zeitbezüge in Heines Reportagen aus Berlin oder Polen z.B. erfordern ausführliche historische Sacherläuterungen, damit Heines Sicht in das Meinungsspektrum anderer Zeitbeobachter eingeordnet und der für Zeitgenossen erkennbare satirische Impetus seiner Briefe von Späteren überhaupt diagnostiziert werden kann. Seine Briefe aus Polen, die 1823 in Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz erschienen, beziehen sich auf Theaterkritiken in der Posener Stadt-Zeitung. 2 3

Ebd., S. 44. Waltraud Hagen: Von den Erläuterungen. In: Vom Umgang mit Editionen. Eine Einführung in Verfahrensweisen und Methoden der Textologie. Hrsg. von Siegfried Scheibe, Waltraud Hagen, Christel Laufer und Uta Motschmann. Berlin 1988, S. 205 – 224; Marita Mathijsen: Die ‚sieben Todsünden‘ des Kommentars. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth u. a. Berlin 2000, S. 245 – 260; Gunter Martens: Kommentar – Hilfestellung oder Bevormundung des Lesers? In: Editio 7, 1993, S. 36 – 50. Winfried Woesler warnt ebenfalls vor übermäßigem Kommentieren, das an den Sach- und Sprachproblemen vorbeigehe, mit denen eine Textstelle Leser konfrontiere. Woesler: Zu den Aufgaben des heutigen Kommentars. In: Editio 7, 1993, S. 18 – 35.

Funktionen des Kommentars201

Aus dem Stellenkommentar erfährt man, dass sie seit 1794 zweimal wöchentlich erschien, ferner wie hoch die Auflage war und welche Bedeutung sie in der polnischen Pressegeschichte hatte.4 Manfred Windfuhr, Winfried Woesler und die Mitarbeiter an der Düsseldorfer Heine-Ausgabe haben mit Kommentaren, welche Heines Texte als Antworten oder „Gegenentwürfe“ zu früheren politischen Stellungnahmen verständlich machen, Standards festgelegt, an denen wir uns bei der Einordnung von Bitzius’ Zeitungsartikeln orientiert haben.5 Selbstverständlich mussten Heines Zeitungslektüre wie auch seine „Lesespuren aus Literatur alter und neuer Zeit“ rekonstruiert werden, damit seine Einschätzung deutscher Politik verständlich wird. Dazu konnten die Heine-Editoren auf die in Düsseldorf befindliche Nachlassbibliothek zurückgreifen und historische Ausleihverzeichnisse aus öffentlichen Bibliotheken auswerten.6 Wer Albert Bitzius’ publizistische Stellungnahmen zur Berner Politik oder Sachtexte wie die Armennoth kommentiert, dem stellen sich dieselben Aufgaben wie den Heine-Kommentatoren. Um Bitzius’ Urteile über Mängel der Gemeindepolitik und Versäumnisse der Berner Behörden zu verstehen, muss man die zeitgenössischen Berner Zeitungen kennen und etwas über ihren Aufbau und ihre Verbreitung, den Stil der Einsendungen und die journalistischen Meinungsführer wissen. Um dem Leser eine Interpretation eines Zeitungsartikels zu erleichtern, muss dessen Tendenz im Vergleich mit anderen publizistischen Meinungsäußerungen gedeutet werden. Der Kommentar liefert also Ansätze zur Interpretation, aber erst dann regt er zu weiteren Deutungen an.

I. Neue Wege zu Gotthelfs literarischem Werk: der Kommentar zu seinen Zeitungsartikeln Nach acht Jahren liegt der Kommentar zu Albert Bitzius’ 131 Zeitungsartikeln und zu 24 weiteren Presseartikeln vor, die wir ihm mit großer Wahrscheinlichkeit zuschreiben. Auf den ersten Blick scheint es wenig vorteilhaft für das Bild des Erzählers Jeremias Gotthelf zu sein, seine in vielen Fällen sicher hastig und impulsiv entstandenen Aperçus zur Berner Tagespolitik historisch-kritisch so sorgfältig zu edieren, als wären diese „heilige“ Texte von hoher ästhetischer Qualität.7 Gleichwohl hat der Beginn der historisch-kritischen Edition von Gotthelfs Gesamtwerk mit seiner politischen Publizistik einen guten Grund: Wer weiß, auf welche Meinungsäußerungen Bitzius journalistisch reagiert hat und wie er (als Schulkommissär und zeitweise als Mitglied der Armenkommission in Lützelflüh) zum Schul- und Armenwesen in der 4

Heinrich Heine: Briefe aus Polen. In: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 6. Erläutert von Jost Hermand. Düsseldorf 1973, S. 74 und Kommentar S. 507f.; vgl. „Entstehung und Aufnahme“, S. 476 – 487. 5 Vgl. Manfred Windfuhrs Werkstattbericht: Die Düsseldorfer Heine-Ausgabe. Ein Erfahrungsbericht. Düsseldorf 2005, bes. S. 11– 28 und Rezensionen dieses Berichts unter http://www.grupello.de/dateien/C043.pdf und www.grupello.de/verlag/rezensionen_buch/welche/3-89978-043-4/session//ident//. 6 Windfuhr 2005 (Anm. 5), S. 18f. Den Editoren der Werke Jeremias Gotthelfs wird leider der Zugang zu Bitzius’ Privatbibliothek von dessen Nachfahren verwehrt. 7 Manfred Windfuhr hat als Kommentator der Werke Heinrich Heines zu einem ähnlichen Vorwurf Stellung genommen. Ebd., S. 17.

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Barbara Mahlmann-Bauer

Presse Stellung genommen hat, wird auch seine Romane und Erzählungen mit neuem Blick für die Realien lesen und sie als Fortsetzung der journalistisch-politischen Einmischung verstehen  – oder als das ganz andere: als poetische Entwürfe möglicher Welten, in denen es besser und gerechter oder aber auf apokalyptische Weise schlechter zugeht als in der realen. Indem sie rekonstruieren, auf welche politischen Standpunkte und Stellungnahmen Bitzius publizistisch reagiert hat, und erläutern, wie er als Zeitungsschreiber und mutmaßlicher politischer Akteur von seinen Gegnern wahrgenommen wurde, führen die Kommentare der Zeitungsartikel zu den Erzählungen und Romanen hin, die ebenfalls aktuelles Geschehen aufgreifen und es zur Grundierung individueller ‚Dorfgeschichten‘ verwenden. Bitzius’ Artikel nehmen Stellung zu strittigen Fragen der Berner Politik. Die Kommentare ordnen seine Interventionen in die aufgeregten Diskussionen der ersten 24 Jahre der Berner Republik seit der Regeneration des Kanton Berns 1831 ein und schlagen Brücken zu seinem literarischen Werk.8 Sie verorten Bitzius’ Stimme im Meinungsspektrum des Berner Blätterwalds.9 Die dialogische Struktur von Bitzius’ Einsendungen erschwert bisweilen das Verständnis: Bitzius reagierte meistens auf einen Artikel oder eine Artikelserie in einer Zeitung. Manchmal schaltete er sich in eine Debatte ein, an der mehrere Stimmen verschiedener politischer Richtungen beteiligt waren. Bisweilen lancierte er ein Thema als wichtig, das bisher in der Presse nicht aufgegriffen worden war, manchmal setzte er auch mit einer provozierenden Frage ein Gerücht in Umlauf. Im Kommentar müssen die wahrheitsfähigen Aussagesätze in Bitzius’ Text über Fakten und Daten der Berner Politik von Stellungnahmen zu den Diskursen in der Schweizer Presse, die eine Vermutung oder ein Gerücht darstellen, also nicht falsifizierbar sind, unterschieden werden, ferner von Werturteilen und Handlungsaufforderungen. Behauptungen mit einem Wahrheitswert sind im Kommentar anders zu behandeln als Meinungsäußerungen und Wertungen, die aus einem Spektrum von Vorurteilen, Spekulationen, Ängsten und Hoffnungen erwachsen sind. Bitzius bezweifelte den Nutzen der Hofwiler Schulanstalten und provozierte eine Debatte über die seiner Meinung nach fragwürdigen Ziele und Absichten Philipp Emanuel Fellenbergs, indem er in einer Zeitungsnotiz am 3. Juli 1833 die Frage lancierte:

8

Eine Zusammenfassung zur politischen Publizistik Gotthelfs im Kontext der Berner Regenerationszeit bietet Barbara Mahlmann-Bauer: Bitzius als streitlustiger Journalist. In: UniPress. Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern Sonderheft 154: Gotthelf neu entdecken, Oktober 2012, S. 13f. 9 Aus diesem Aufgabenkatalog ist folgende Gliederung zu den Einleitungen unserer Kommentare erwachsen: Werkkontext, Historischer Hintergrund, Spezieller Anlass, Zeitungsrevue. Vgl. Jeremias Gotthelf: Politische Publizistik 1828 –1854, Bd. 2: Kommentar 1828 –1841. Hrsg. von Barbara Mahlmann-Bauer u. Marianne Derron in Zusammenarbeit mit Ruedi Graf u. Norbert D. Wernicke. Hildesheim, Zürich, New York 2012 (Jeremias Gotthelf. Historisch-kritische Gesamtausgabe [im folgenden HKG]. Hrsg. von Barbara Mahlmann-Bauer u. Christian von Zimmermann, Abt. F: Politische und pädagogische Publizistik Bd. 1.2), S. 65.

Funktionen des Kommentars203

Ist es wahr, daß H Fellenberg jüngst für den gegenwärtigen Curs, den er den Schulmeistern in Hofwyl giebt, und der nach allen Äußerungen unentgeltlich sein sollte, dem Erziehungsdepartement 5000 £ gefordert habe?10

Die Frage gibt einem Gerücht Nahrung, das es vielleicht schon gab oder welches der Autor erst ins Leben ruft. Hier muss der Kommentar deutlich machen, was der Autor mit seiner Frage „Ist es wahr, daß ...“ beabsichtigt: Er will Philipp Emanuel Fellenberg, den berühmten Pädagogen von Hofwil und Mitglied des Berner Erziehungsdepartements, herabsetzen und seinen Ruf ankratzen. Albert Bitzius hat in Zeitungstexten mit Informationsfragen der Art „Ist es wahr, daß...“ Gerüchte in Umlauf gesetzt und bisweilen im Berner Blätterwald eine Medienrealität geschaffen. Dann war es Sache des von ihm Attackierten, sich mit Richtigstellungen zur Wehr zu setzen. Der Kommentar hat zu klären, wer recht hatte und was Bitzius zu seiner Verdachtsäußerung bewogen hat.11 In den Vierziger und Anfang der Fünfziger Jahre avancierte er zum Meinungsführer, dessen Stimme und Macht radikale Politiker wie Jakob Stämpfli überschätzten. Dieser verdächtigte ihn 1851 als Hauptmitarbeiter des konservativen Oberländer Anzeigers, was Bitzius dementieren ließ. Stämpfli druckte in seiner Berner-Zeitung am 27. Februar ohne Erlaubnis einen Privatbrief von Pfarrer Bitzius an einen befreundeten Pfarrkollegen ab („Ich Camel an dich Camel“) und bauschte das humorvoll formulierte Schreiben zum gefährlichen Kassiber einer politischen Verschwörung auf.12 Stämpfis Absicht war, den Volksschriftsteller moralisch zu diskreditieren.13 Pfarrer Bitzius sei ein ernst zu nehmender „Faktor“ in der Propagandaschlacht vor den Berner Grossratswahlen des Frühjahrs 1850, urteilte auch die radikale Schweizer Dorfzeitung im Oktober 1851. Bitzius schrieb tatsächlich einige Polemiken während des Wahlkampfes im Frühjahr 1850.14 Er machte wiederholt Stimmung gegen eine Erweiterung der Kompetenzen zentraler Behörden, weil sie zu aufgeblähter Bürokratie führen und die Entscheidungshoheit der Gemeinden einschränken würde, und lehnte deswegen den Sozialstaat ab, wie ihn der Finanzdirektor Jakob Stämpfli 1846 –1849 zur Lösung der Armenfrage empfahl.15 Der Kommentar zur politischen Publizistik von Albert Bitzius arbeitet daher das, was

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Jeremias Gotthelf HKG (Anm. 9), F.1: Politische Publizistik 1828 –1854, Bd. 1: Text. Hrsg. von Barbara Mahlmann-Bauer, Jürgen Donien, Ruedi Graf u. Norbert D. Wernicke. Hildesheim, Zürich, New York 2012 (im Folgenden HKG, F.1.1), Nr. 13, S. 31 und den Kommentar dazu in Bd. 2 (wie Anm. 9; im Folgenden HKG, F.1.2), S. 187– 201. 11 HKG, F.1.1, Nr. 13 Unentgeltlichkeit des Hofwiler Lehrerkurses? und Nr. 40 Die Ernennung des Pfarrers Dubois und die Kommentare in F.1.2, S. 187– 201 und 426 – 429. 12 HKG, F.1.1, Nr. 155 Der Ich-Kamel-Brief, S. 388 – 390. 13 Vgl. den Kommentar zu Nr. 155 in Jeremias Gotthelf: Politische Publizistik 1828 –1854, Band 3: Kommentar 1841–1854. Hrsg. von Barbara Mahlmann-Bauer u. Marianne Derron unter Mitarbeit von Ruedi Graf u. Norbert D. Wernicke. Hildesheim, Zürich, New York 2013 (HKG, Abt. F.1.3; im Folgenden HKG, F.1.3), S. 1361–1374. 14 HKG, F.1.1, Nr. 124 –127; die Zeitungsartikel stammen aus den Monaten März bis Mai 1850. Nur die Radikalen Umtriebe vor der Leuenmattversammlung (Nr. 124) wurden nicht im Druck publiziert. 15 Ebd., Nr. 105 Auch ein Wort über die Uebervölkerung der Strafanstalten (Februar 1844), S. 231– 243 und Nr. 129 Herbst-Gespräch bei Anlaß der Nationalrathswahlen (Anfang Oktober 1851), S. 287 – 306; HKG, F.1.3, Nachwort von Barbara Mahlmann-Bauer, S. 1540 und 1543 sowie Kommentare zu Nr. 105, S. 924 – 929 und 940 sowie zu Nr. 129, S. 1109 –1112.

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Barbara Mahlmann-Bauer

Bitzius in vertraulichen Briefen mitteilte, und das, was er in Zeitungen drucken ließ, heraus und grenzt es ab von ‚Feindbildern‘, die Stämpfli und andere radikale Journalisten verbreiteten.16 Gotthelf und Bitzius spielten manchmal unvereinbare Rollen, ähnlich wie Brechts Shen-Te und Shui-Ta im Guten Menschen von Sezuan. Shen-Te braucht, wie sie den Göttern erklärt, regelmäßig den Vetter mit seiner Härte, um Gutes tun zu können. Diese Spaltung hängt freilich mit dem heillosen Zustand der Welt zusammen und ist nicht etwa ein sittliches Manko oder psychisches Defizit von Shen-Tes Persönlichkeit.17 Ähnlich verhielt es sich mit den Überzeugungen des einstigen Kampfgenossen der Burgdorfer Brüder Schnell: Bitzius gab nach 1844 nicht seine Überzeugungen aus der Vikarszeit auf, sondern in der Publizistik der Radikalen wurde er zum Reaktionär an der Seite der Jesuiten und Berner Patrizier gestempelt und dies um so mehr, je weiter sich sein Ruhm als Volksschriftsteller verbreitete. Fällte Bitzius einmal im Namen der Armenkommission von Lützelflüh eine unpopuläre Entscheidung, wurde er gerne an den hehren Idealen gemessen, die Gotthelf in seinen Romanen exemplifizierte. Im Sommer 1854 setzte er es beispielsweise als Mitglied der Armenkommission durch, dass eine schwangere Frau, die sich mit ihren drei Kindern in Lützelflüh vom Bettel ernährte und von ihrem Ehemann, dem Schreiner Johann Rothenbühler, weggelaufen war, diesem wieder ausgeliefert wurde, weil er nach Abbüßung einer Haftstrafe glücklich in Langenthal als Schreiner Arbeit gefunden hatte. Als dies bekannt wurde, frotzelte die Schweizerische Dorfzeitung, dass das Schicksal dieser Frau ein vorzüglicher Stoff für den „berühmten Volksschriftsteller“ Jeremias Gotthelf wäre.18 Im Namen der Armenkommission schilderte Bitzius daraufhin unter dem Titel Berichtigung den wahren Sachverhalt. Er behauptete, die Gemeinde habe dem Gesetz gemäß gehandelt, indem sie die arbeitslose Frau und ihre Kinder ausgewiesen habe. Der Strafentlassene könne wieder für die Familie aufkommen, denn Frau und Kinder seien nicht mehr unterstützungsberechtigt. Die Gemeinde wollte Kosten sparen; sie „konnte und wollte sie nicht aufnehmen“ und war berechtigt zur Fortschaffung. Das älteste Kind der Rothenbühlers sei zur Verdingung verlost worden. Bitzius’ Richtigstellung wurde in verschiedene Zeitungen eingerückt, zuerst in das Intelligenzblatt der Stadt Bern (10. August 1854). Der Gemeinderat von Lützelflüh wandte sich am 7. Oktober 1854 an die kantonale Armenkommission mit der Bitte, die Spitalkosten für die alleinerziehende Mutter und ihre Kinder, welche die Langenthaler dem Lützelflüher Gemeinderat in Rechnung stellte, zu begleichen.19 Diese Information aus archivalischen Quellen zeigt, dass die Gemeinde bestrebt war, sparsam mit dem aus lokalen Armensteuern gespeisten Budget umzugehen. Die Argumentation der Berichtigung stützt sich auf geltendes Recht, was der Kommentar verdeutlicht. Dem Leser überlässt er dann das Urteil, Bitzius mit Rücksicht auf knappe Ressourcen für den Armenunterhalt vom Vorwurf der Schweizerischen Dorfzeitung zu entlasten. 16 17

Barbara Mahlmann-Bauer: Nachwort. In: HKG, F.1.3, S. 1483 –1511. Bertolt Brecht: Gesammelte Werke, Bd. 4: Stücke 4. Frankfurt 1975, S. 1487–1607, hier 1604; Jan Knopf: Brecht-Handbuch, Bd. 1: Theater. Stuttgart 1986, S. 204. 18 HKG, F.1.1, Nr. 131 Berichtigung (10. August 1854), S. 334f. und den Kommentar in F.1.3, S. 1191. 19 Ebd., S. 1194.

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II. Tatsachen und Vermutungen Wie kommentiert man Zeitungsartikel, in denen Bitzius in anderen Rollen als der des Volksschriftstellers erscheint? Zu unterscheiden sind vier verschiedene Arten von Propositionen, die in den Zeitungsdebatten zugleich Sprechakte sind. Am leichtesten sind auktoriale Tatsachenbehauptungen zu kommentieren. Ein einfaches Beispiel: „In Nr. 37 des berüchtigten Thunerblattes ist eine Korrespondenz über die Wahlen von Sumiswald zu lesen.“20 Die Zeitungsnummer musste identifiziert und die fragliche Einsendung herausgesucht werden. Sie wird im Kommentarabschnitt „Spezieller Anlass“ zitiert. Die Angaben der Zeitungsnummer stimmen zwar, aber Bitzius’ Behauptung, die Wahlbeteiligung sei in Sumiswald schlechter als anderswo gewesen, ließ sich nicht bewahrheiten. Gänzlich spekulativ und tendenziös ist Bitzius’ Urteil, das geringe Wahlinteresse habe mit der „bornirten Sumiswalder-Intoleranz“ der Dorfmagnaten zu tun.21 Eine wahrheitsfähige Behauptung von Bitzius unterscheidet sich von einer bloßen Vermutung oder einem Verdacht. Ein solcher ist in seiner Frage impliziert, ob es stimme, dass Fellenberg für seinen Fortbildungskurs von der Erziehungsbehörde eine Vergütung in der genannten Höhe gefordert habe.22 Die Aufgabe besteht darin, (1) zu prüfen, ob der Fortbildungskurs von Fellenberg in öffentlichen Blättern annonciert wurde und wann er stattfand, (2) ob Fellenberg im Berner Großen Rat oder vom Regierungsrat für den Kurs eine Entschädigung verlangte, (3) wie hoch die Summe war und (4) woher das Gerücht stammt, über dessen Wahrheitsgehalt Bitzius Gewissheit erlangen möchte. Die Prüfung des Wahrheitsgehalts verlangt mehrere Schritte und führt in Bibliotheken und Archive, weil es sich um eine anderswo nicht bestätigte Mutmaßung handelt, deren Herkunft und Verbreitung sich unserer Kenntnis entzieht. Das Ergebnis lautet: Am 13. März 1833 schrieb Fellenberg den Fortbildungskurs in seinem Hausorgan aus. Der Kurs fand gerade in Hofwil statt, als Bitzius die Anfrage publizierte. Ende September bat das Erziehungsdepartement Fellenberg, nach erfolgreich beendetem Kurs die Rechnungen einzureichen, weil ihm die Kosten vergütet würden. Fellenberg erklärte in seinem Mittheilungsblatt für die Freunde der Schul-Verbesserung im Kanton Bern am 10. Juli 1833 allerdings, er habe das Departement gebeten, „für keinerlei Beisteuer zu stimmen, bis daß der Kurs nach seinem Erfolge beurtheilt werden könne.“ Am 29. September gab Fellenberg seine Unkosten für den 15-wöchigen Hofwiler Kurs dem Regierungsrat bekannt. Die tatsächlich zurückerstatteten Kosten wollte Fellenberg großmütig für den Druck von 4000 Exemplaren eines Kommentars zum Unservater verwenden, der an die Schüler seiner Anstalten kostenlos verteilt würde.23 Im Lichte unserer Recherchen muss demnach Bitzius’ Frage verneint werden. Damit ist der Verdacht aber nicht einfach zurückgewiesen. Vielmehr hat Bitzius durch die Anfrage eine öffentliche Debatte über die Verwendung öffentlicher Mittel für einen von Fellenberg privat und ohne 20 21 22 23

HKG, F.1.1, Nr. 127: Die Grossratswahlen in Sumiswald, S. 282. Ebd., S. 284; HKG, F.1.3, Kommentar zu Nr. 127, S. 1091f. HKG, F.1.1, Nr. 13, S. 31 und oben, Anm. 10. Vgl. den Kommentar in HKG, F.1.2, Nr. 13, S. 197–199, das Fellenbergzitat S. 197.

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Barbara Mahlmann-Bauer

Regierungsratsauftrag abgehaltenen Fortbildungskurs angeregt und durch die Verdachtsäußerung den Ruf Fellenbergs beschädigt. Kommentierungsbedürftig ist die folgende Schätzung oder Vermutung über etwas, was dem Autor nicht genau bekannt war: „Durch die mißlungene Spekulation [...] kam die Wittwen-, Waisen- und Alterskasse der bernischen Schullehrer zu einem ansehnlichen Kapital, das sich auf 50000 Fr. belaufen wird.“24 Zu prüfen war hier erstens, ob es die genannte Lehrerpensionskasse gab, wie hoch ihre Einlage zum Zeitpunkt von Bitzius’ Einsendung war und was mit der „mißlungenen Spekulation“ gemeint war. Außerdem musste geklärt werden, woher Bitzius seine Vermutung über die ungefähre Summe des Kapitals hatte. Es war nötig, Quellen zur Geschichte der Berner Lehrerpensionskasse zu suchen, die Statuten des Vereins ausfindig zu machen, dem Berner Lehrer beitreten konnten, und die Einnahmen dieser Kasse zu prüfen. Bitzius konnte die Angabe über die Höhe des Vermögens einem Berner Kreisschreiben vom 18. Dezember 1838 entnommen haben. Die Kasse hatte von der Fehlspekulation des Kaufmanns und Weinhändlers Friedrich Emanuel Fuchs profitiert. Dieser hatte im August 1837 im Bernischen Anzeiger angekündigt, der Lehrerpensionskasse 30000 Franken zu spenden, wenn eine bestimmte Menge Wein der Jahrgänge 1833 und 1834 in Vevey zu einem Festpreis verkauft würden. Die geplante Weinversteigerung am 31. Oktober 1838 kam jedoch nicht zustande. Fuchs weigerte sich daher, sein Versprechen einzulösen. Das Berner Finanzdepartement nötigte ihn aber dazu, die versprochene Summe der Pensionskasse gleichwohl zu spenden, und er leistete schließlich dieser Aufforderung Folge.25 Der Impetus des Artikels liegt freilich woanders. Bitzius war nicht einverstanden damit, dass die jurassischen Lehrer, die erst seit wenigen Jahren in die Berner Pensionskasse einzahlten, als Pensionsempfänger den Berner Lehrern gleich gestellt würden. Hintergrund für seinen impliziten Protest ist die mehrmals angedrohte Separation der Jurassier vom Berner Kanton.26 Entsprechend ihren Separationswünschen sollten die Lehrer aus dem Jura besser eine eigene Pensionskasse gründen, anstatt von den früheren Einzahlungen ihrer Altberner Kollegen zu profitieren. Dies schlägt Bitzius freilich nicht explizit vor, dieser Wunsch liegt aber auf der Linie der Berner Großräte und Journalisten, welche die Separationstendenzen der Jurassier verurteilten. Zur Einzahlung in die Berner Pensionskasse wurden sie erst 1856 verpflichtet.27

III. Aussagen über Rechtsstandpunkte Eine zweite Klasse neben wahrheitsfähigen Aussagen, Vermutungen und Meinungsäußerungen bilden Bitzius’ Behauptungen über die Rechtmäßigkeit politischer und sozialer Maßnahmen. Unsere Kommentare erklären die Gesetzeslage und zitieren aus der Berner Rechtsprechung. Gesetze und Dekrete regelten die Kompetenzen

24 25 26 27

HKG, F.1.1, Nr. 70 Die Schulmeisterkasse und die jurassischen Lehrer (29. Dezember 1839), S. 145f. HKG, F.1.2, Kommentar zu Nr. 70, S. 642f. Ebd., S. 645. Ebd., S. 642.

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der Gemeinden und der zentralen Armenkommission. Demnach durfte die Gemeinde beispielsweise entscheiden, wer von den Bedürftigen heimatberechtigt war und Anspruch auf Armenunterstützung hatte. Die konkrete Rechtsprechung kann aus den Manualen des Berner Obergerichts herangezogen werden. Um Bitzius’ Urteil über das Armenwesen bei einem konkreten Anlass zu begreifen, ist es nötig, die Geschichte der Armengesetzgebung sowie der gemeindlichen Praxis der Armenpflege und das Zusammenspiel zwischen Gemeindebehörden und der zentralen Armenkommission zu kennen und sich ins Bewusstsein zu rufen, welche Rolle der Pfarrherr in den Gemeindebehörden spielte. Insbesondere hat der Kommentar über die Praxis der Gewährung von Kostgeld sowie übliche Kriterien für die Aufnahme ins Armenhaus Auskunft zu geben, weil diese Praxis mangels kantonaler Vorschriften von Gemeinde zu Gemeinde variierte.28 Erst vor diesem rechts- und justizgeschichtlichen Hintergrund lässt sich Bitzius’ Interpretation in seiner Entgegnung auf einen Artikel des Berner Verfassungsfreundes im Berner Volksfreund vom 18. und 25. Februar 1844, welche Kompetenzen die Gemeinden bei der Armenpflege hatten, nachvollziehen. Bitzius vertrat in seinem Artikel die Überzeugung, eine Gemeinde habe das Recht, pflichtvergessene Hausväter, die ihre Familien im Stich ließen, vor Gericht zu bringen und für sie Zuchthausstrafen zu fordern.29 Auch Frauen, die dreimal unehelich geboren hatten und ihre Kinder der Gemeinde zum Unterhalt aufbürdeten, sollten, so Bitzius’ Forderung, mit Zuchthaus bestraft werden.30 Nach der Berner Verordnung über die Versorgung der Armen aus dem Jahr 1807, von der Bitzius’ Argumentation ausgeht, hatten Gemeinden das Recht, pflichtvergessene Hausväter, die ihre Familien im Stich ließen, anzuzeigen. Der Amtsrichter konnte sie zu maximal zwei Jahren Zuchthaus verfällen. Ähnlich durfte die Gemeinde mit Müttern unehelicher Kinder verfahren, die bettelnd umherzogen.31 Das Delikt hieß ‚Gemeindsbelästigung‘. Darunter wurden öffentliche Unzucht, Vagantismus und Versuch des Sozialbetrugs, also der Zweckentfremdung öffentlicher Gelder, verstanden. Bitzius argumentierte in seinem Artikel vom Februar 1844 mit dem verbrieften Recht der Gemeinden, sich gegen unbegründete Ansprüche auf finanzielle Unterstützung im Falle sogenannter ‚unwürdiger‘ oder ‚böser‘ Armer zu wehren. Er versuchte darzulegen, wieso Gemeinden auch in Zukunft dieses Recht haben sollten, nämlich solange es kein Armengesetz gab, das die Kompetenzen des

28

In den Kommentaren wird jeweils die einschlägige Forschungsliteratur ausgewertet. Zur Armengesetzgebung vgl. Niklaus Ludi: Die Armengesetzgebung des Kantons Bern im 19. Jahrhundert. Vom Armengesetz 1847 zum Armen- und Niederlassungsgesetz von 1897. Diss. Masch. Bern 1975; Rafael Schläpfer: Kantonale Armenreform und kommunale Fürsorgepolitik. Eine Untersuchung über Armenfürsorge im Kanton Bern im 19. Jahrhundert mit dem Schwerpunkt der Einwohnergemeinde Worb. Nordhausen 2004 (Berner Forschungen zur Regionalgeschichte 1); zur Problematik der gemeindlichen Armenpflege in Verbindung mit Bürger- und Niederlassungsrecht vgl. Michael Lauener: Jeremias Gotthelf – Prediger gegen den Rechtsstaat. Zürich 2011 (Zürcher Studien zur Rechtsgeschichte 64), bes. S. 408 – 414. 29 HKG, F.1.1, Nr. 105, S. 235f. 30 Ebd., S. 232. 31 HKG, F.1.3, Kommentar zu Nr. 105 Auch ein Wort über die Uebervölkerung unserer Strafanstalten (18./25. Februar 1844), hier S. 939.

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Staats (d.h. des Kantons) und der Gemeinden bei der Versorgung der in einer Gemeinde heimatberechtigten Armen klar und präzise regelte.32 Der Kommentar zu diesem Zeitungsartikel musste daher die Versuche der 1830er und 1840er Jahre, das Armengesetz zu reformieren, skizzieren, damit der Leser beurteilen kann, inwieweit Bitzius’ Urteil zugunsten der Gemeinde-Autonomie bei der Anzeige und Verhaftung straffälliger Armer mit den Reformvorschlägen übereinstimmt.33 Die juristische und sozialpolitische Beurteilung von Bitzius’ Sicht, dass die Gemeinde sich vor Sozialbetrug schützen und ungebührliche Antragsteller abweisen müsse, wird dadurch kompliziert, dass sie anderen Bewertungen gegenübersteht, die ebenfalls gute Gründe für sich haben. Im Fall seiner Intervention im Berner Volksfreund vom Februar 1844 reagierte Bitzius mit seiner Einschätzung, wozu die Gemeinden gegenüber ihren Armen verpflichtet seien, auf eine konkrete Beschuldigung, die Ende Januar im Berner Verfassungsfreund geäußert worden war. Demnach machten es sich die Gemeinden zu einfach, indem sie angeblich massenhaft liederliche Hausväter dem Richter anzeigten und für ihre Inhaftierung sorgten, während für die Haftkosten der Staat aufkommen müsse. Es stehen nicht nur die gegensätzlichen Werturteile in den beiden Zeitungen (Volksfreund und Verfassungsfreund) über Arme und den Umgang der Gemeinden mit ihnen einander gegenüber, über deren Berechtigung zu entscheiden war, sondern auch divergierende Behauptungen über die Menge solcher Fälle mussten überprüft werden. Es ging Bitzius insbesondere um die Widerlegung der Behauptung im Berner Verfassungsfreund, dass Gemeinden massenhaft pflichtvergessene Hausväter, die erwerbslos waren, anzeigten und dem Richter zuführten, um sie nicht aus ihren Mitteln erhalten zu müssen. Konkrete Zahlen von Armen, welche die Zuchthäuser füllten, fehlen allerdings sowohl im Artikel des Berner Verfassungsfreunds wie auch in Bitzius’ Antwort im Berner Volksfreund, konnten aber aus den ausführlichen Armentabellen von 1844/45 sowie den jährlichen Zuchthausrapporten ermittelt werden.34 Die Quellen geben Bitzius recht. Anhand der Armentabellen aus den Berner Gemeinden lässt sich dies klären. Der Regierungsrat beauftragte 1844 die Gemeinden des Kantons, ihre Armen statistisch zu erfassen, Gründe für die Verarmung zu nennen und die Art der Unterstützung anzuführen.35 Nicht nur Kranke und Alte wurden auf Kosten der Gemeinde unterhalten, auch Arbeitslosigkeit oder unzureichender Verdienst, eine hohe Kinderzahl, „Liederlichkeit“, Trunksucht oder Treulosigkeit des Versorgers waren Gründe für Unterstützung. Die Armenkommission in Sumiswald war in der Handhabung der Kriterien, wer eine Unterstützung verdiente, großzügiger als in Lützelflüh. Die Armentabellen geben Einblick in die Praxis der Unterstützungszuteilung; sie dokumentieren Fälle, in denen Familien von ihren Versorgern verlassen und der Gemeinde aufgebürdet wurden, und führen auf, wie viele Familienväter

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HKG, F.1.1, Nr. 105, S. 236f. HKG, F.1.3, Kommentar zu Nr. 105, S. 909f. und 929. Vgl. Historischer Hintergrund, ebd., S. 914 – 920 und 923 – 925. Ebd., S. 914f.

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wegen Straftaten (meistens Diebstahl) im Zuchthaus saßen.36 Mit Hilfe der Tabellen, in denen für das Jahr 1844 bzw. 1845 die Familien und Individuen aufgelistet wurden, die in einer Gemeinde Unterstützung erhielten, lässt sich Gotthelfs Urteil, dass Familienväter, die ihre Familie unversorgt sich selbst überließen, sich mithin strafbar machten und in Einzelfällen zu Haftstrafen verurteilt wurden, konkretisieren. Demnach waren es in Lützelflüh und in Sumiswald, gemessen an der Zahl der Unterstützungsempfänger, nur wenige Väter, die Haftstrafen verbüßten und deren Familien Unterstützung erhielten. Erst nachdem wir belegen können, dass nur einige wenige Arme (von insgesamt über 300) im Zuchthaus saßen, wird der Leser glauben, dass Bitzius recht mit seiner Behauptung hatte, dass nur in seltenen Fällen pflichtvergessene Hausväter als Straftäter verurteilt und ins Zuchthaus abgeschoben wurden. Bitzius’ Protest gegen den Verdacht des Berner Verfassungsfreunds war also, wenn man die Armentabellen von Lützelflüh und Sumiswald betrachtet, berechtigt. Außerdem besitzen wir zwei weitere Quellen, die Auskunft über die juristische Behandlung des Polizeivergehens ‚Gemeindsbelästigung‘ geben. Gemeint sind erstens die Protokolle und Tabellen über die Tätigkeit des Berner Obergerichts. Aus ihnen geht hervor, dass die Mehrzahl der polizeigerichtlichen Fälle, mit denen Berner Obergerichte 1840 bis 1845 befasst waren, Anklagen und Urteile wegen Unzucht, Liederlichkeit und Gemeindsbelästigung betraf. Es handelt sich um 50 Urteile pro Jahr, die aufgrund der Verordnung von 1807 gefällt wurden. Nur Diebstähle waren häufiger. Zweitens haben wir die Jahresrapporte der Direktoren der Berner Haftanstalten. Fälle von Gemeindsbelästigungen zählten zu leichten Polizeivergehen, die von schwerer Kriminalität unterschieden wurden. Wir können uns aus den Jahresstatistiken über die Insassen des Zuchthauses und besonders der Enthaltungsanstalt in Thorberg, wo jugendliche Straftäter wegen Bagatelldelikten unter leichten Bedingungen eingesperrt waren, ein Bild über Anzahl, Alter, Geschlecht und soziale Umstände dieser wegen Unzucht und Gemeindsbelästigung Verurteilten machen. Derartige Fälle von Kleinkriminalität stellten in der Enthaltungsanstalt zu Thorberg weniger als 10% dar. Dazu heißt es im Jahresbericht des Gefängnisdirektors, dass die wegen Gemeindsbelästigung Inhaftierten nicht aufgrund eines richterlichen Urteils überwiesen wurden, sondern aufgrund der Anzeige einer Gemeinde und des Beschlusses des Regierungsrats in Thorberg einsaßen. Die Thorberger Anstalt wurde, solange es in Bern kein spezielles Jugendgefängnis gab, auch als Heim für schwer erziehbare Jugendliche benutzt. Mithilfe dieser Quellen können wir Jahr für Jahr belegen, wie viele Personen aus einer sozialen Randgruppe, nämlich Erwerbslose ohne festen Wohnsitz oder junge Frauen, die ohne Anstellung waren und uneheliche Kinder geboren hatten, wegen Gemeindsbelästigung eingesperrt waren.

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Ebd., S. 914 – 920.

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IV. Moralische Wertungen im politischen Kontext Während der Journalist im Berner Verfassungsfreund im Januar 1844 auf den unheilvollen Zusammenhang zwischen Armut und Delinquenz aufmerksam machte und forderte, dass eine Reform des Strafrechts mit der des Armengesetzes Hand in Hand gehen müsste, fällt Bitzius in seiner Entgegnung über die Zunahme von Straftätern ein moralisches Urteil und macht zu milde Strafen und zu nachsichtige Behörden dafür verantwortlich. Es gehört einer dritten Klasse von Äußerungen an, allgemein formulierten moralischen Werturteilen, die mit politischer Kritik verbunden sind. Einige Beispiele aus dem Zeitungsartikel vom 18. und 25. Februar 1844 mögen zur Illustration dienen. Urteile über die Milde der Obergerichte, die zu Lasten der Gemeinden gehe: Der ärgste Halunk findet selbst bei’m Obergericht oft mehr Sympathie als die gewissenhafteste Gemeinde.37

Die Urteile fallen sehr milde aus, „seitdem fast jedes Amtsgericht unter der Hand bitter darüber klagt, daß das Obergericht fast alle Strafbestimmungen heruntersetze.“38 Ein Urteil über die Versäumnisse der Gemeinden im Umgang mit verantwortungslosen Hausvätern: [...] es gibt viele Hunderte von Hausvätern, welche durch die Gemeinden abgeliefert werden könnten und sollten, und sie thun es nicht, denn zu einem solchen Abliefern bedarf es eines Aufflackerns von Energie, welches bei den Gemeinden selten vorkömmt.39

Ein Votum für die Autonomie der Gemeinden im Armenwesen: Wir sind nicht der Meinung, daß die Armenunterhaltung den Gemeinden abgenommen, die Grundlage der gegenwärtigen Armenunterstützung verändert werde; die Last der Gemeinden würde nur dem Namen nach erleichtert, dem Staate aber würden neue Finanzquellen eröffnet werden, direkte Abgaben ließen sich bequem einschmuggeln.40

Ein Urteil über die unwürdigen Armen: Die christlichen Armen beten und danken, die unchristlichen Armen fluchen über das Brod und über den, der es gibt. Diese Armen haben wir der 46ger Regierung zu verdanken.41

Werturteile beruhen auf moralischen Normen und fügen sich in Weltbilder ein. Diese können sich in Zeiten politischer und wirtschaftlicher Umbrüche wandeln. Daher sind die Werturteile interpretationsbedürftig, wenn man den Autorstandpunkt in ei-

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HKG, F.1.1, Nr. 77 Der Bauer und das Holz (26. und 30. April 1840), S. 177. Ebd., Nr. 105, S. 234. Ebd., S. 237f. Ebd., S. 241. Ebd., Nr. 129 Herbst-Gespräch bei Anlaß der Nationalrathswahlen, S. 290f.

Funktionen des Kommentars211

nem Zeitungsartikel verstehen will. Dadurch unterscheidet sich der Kommentar zu Zeitungsartikeln eines Romanciers von dem zu seinem literarischen Werk. In den zitierten Äußerungen wird der Wunsch nach größerer Strenge gegenüber armen Bittstellern, die nicht zur Gruppe der ‚würdigen‘ Armen gehörten, und Straftätern politisch begründet: Die steuerlichen Belastungen für alle würden ansonsten steigen; ja sie wären kaum einzudämmen, ohne dass das Problem – Vermehrung ‚unwürdiger‘ Armer und unfähiger Behörden – an der Wurzel angegangen würde. Die Forderung nach größerer Härte impliziert Kritik am Versagen der Politik und Justiz. Es ist zweckmäßig, den Wertungsstandpunkt eines Zeitungsartikels zu bestimmen und zu untersuchen, ob er auch in anderen Äußerungen von Bitzius zum Ausdruck kommt oder sich mit dem politischen Standpunkt einer bestimmten Interessengruppe deckt. Bitzius übte ja mehrmals Kritik an der Armenfürsorge und tadelte die Praxis der Mittelzuteilung. Die Herleitung eines moralischen Werturteils und seine Verknüpfung mit dem politischen Zeitgeschehen gehören eher in die Einleitung, die den historischen Hintergrund und den speziellen Anlass eines Artikels offenlegt, als in den Stellenkommentar. Bitzius fällte in seinem Leitartikel über die Gründe für die Überfüllung der Berner Strafanstalten moralische Werturteile der Art, dass verantwortungslose Hausväter, die sich um ihre Familien nicht kümmerten, frech oder unverschämt seien, spurlos verschwänden und ihren Unterhalt der Gemeinde aufbürdeten. Auch für das Schicksal von Müttern unehelicher Kinder ohne Versorger, die an ihrem Wohnort um Unterstützung baten, brachte er kein Verständnis auf. Er berief sich dabei jedoch auf das Recht der Gemeinden, derartige Personen, wenn sie wegen ‚Gemeindsbelästigung‘ straffällig wurden, dem Richter anzuzeigen. Die Berner Rechtsprechung stützte sich in den 1840er Jahren noch auf die Armenordnung von 1807 und berücksichtigte daher nicht strukturbedingte Arbeitslosigkeit oder die Lage von Working Poors, die einer Arbeit nachgingen, ohne dass ihr Lohn für den Unterhalt einer Familie ausreichte. Diese von Verarmung betroffene Personengruppe taucht nur vereinzelt in der Liste der Unterstützungsempfänger aus Lützelflüh von 1844/45 auf. Bitzius verteidigt in seiner Entgegnung auf die Vorwürfe des Berner Verfassungsfreunds diese Praxis. Väter, die für ihre Kinder das Sorgerecht hatten und einem Erwerb nachgehen konnten, waren gemäß der Armenverordnung zum Unterhalt ihrer Kinder verpflichtet, ebenso Mütter, die das Sorgerecht hatten und arbeitsfähig waren. Eine Ehefrau, die von der Gemeinde für ihre Kinder Unterstützung beanspruchte, obwohl ihr Ehemann, von dem sie sich getrennt hatte, in der Lage wäre, für seine Familie zu sorgen, durfte also aufgrund dieser Norm von der Gemeinde ausgeschafft und dem Ehemann ausgeliefert werden.42 Wer bettelte, verstieß gegen das Gesetz, und wer widerrechtlich von der Gemeinde Unterstützung verlangte, war nach Bitzius auch moralisch im Unrecht.

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Dies war der Fall, über den die Berichtigung im August 1854 aufklärte. Vgl. HKG, F.1.3, S. 1187– 1195.

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V. Vorurteile und Diffamierungen Eine vierte Klasse bilden politische Urteile, die auf Vorurteilen beruhen und darauf zielen, den politischen Gegner zu diffamieren und potentielle Wähler über die Gefährlichkeit seines Handelns aufzuklären. Bitzius engagierte sich zweimal publizistisch in Wahlkämpfen. Einmal machte er publizistisch Propaganda für eine Wende in der Politik, indem er anlässlich der Berner Großratswahlen im Frühjahr 1850 empfahl, die Radikalen durch konservative Politiker abzulösen. Ein anderes Mal mischte er sich auf Seiten der Konservativen in den Berner Wahlkampf zu den Nationalratswahlen im Herbst 1851 ein, mit dem Ziel, auch in der übergeordneten Ständevertretung eine konservative Mehrheit (wie im Berner Großen Rat) herbeizuführen. Im Herbst-Gespräch bei Anlaß der Nationalratswahlen verhandelte Bitzius Anfang Oktober 1851 die strittigen Themen der Berner Politik. In der Dramaturgie der Gesprächsführung siegt der ältere über den jüngeren Bauern. Es gelingt jenem, seinen Vetter vor Jakob Stämpflis vermeintlicher Demagogie zu warnen. Der jüngere schimpft auf die konservative Berner Regierung und glaubt den Versprechen Jakob Stämpflis, der bei Unzufriedenen und Unvermögenden um Stimmen für seine Wiederwahl als Nationalrat warb. Der ältere nimmt die Patrizier von 1831 in Schutz und verteufelt Stämpfli als Demagogen und Betrüger. Die politische Überzeugung des Götti entsprach derjenigen von Bitzius, wie man aus seinen anderen publizistischen Stellungnahmen zur Finanz- und Steuerpolitik der Radikalenregierung feststellen kann. Im Kommentar zum Herbst-Gespräch mussten nicht nur die konkurrierenden Wahlprogramme der Konservativen und der Radikalen miteinander verglichen werden, sondern es galt auch die rhetorische und dramaturgische Strategie des Autors in diesem Bauerngespräch aufzuzeigen. Dies wird erschwert durch unpräzise, pauschale Werturteile des Götti und seines Vetters, also durch das Fehlen exakter Daten, Fakten und Zahlenangaben. Über prominente Berner Politiker wie den langjährigen Chef des früheren Erziehungs-Departements und Alt-Schultheißen Charles Neuhaus und Jakob Stämpfli fällte Bitzius schon seit 1844 öffentlich Urteile, die im Lichte der Quellen als polemisch, unsachlich, ja sachlich nicht gerechtfertigt einzuschätzen sind. Ein Beispiel lautet in der Figurenrede des alten Bauern: Götti. So kannst Du es nicht mit Stämpfli halten, denn gerade ein solcher Knecht ist Stämpfli; er treibt das Aufstiften und Verlügen im Land, um wieder an’s Brett zu kommen; dem Andern, den Armen, dem Volke überhaupt, frägt er den Teufel nichts nach. Er hat es gerade wie die fremden Revoluzer oder Propagandisten, der Mazzini, der Becker und die badischen Helden.43

Im folgenden Beispiel ist ein politisches Werturteil in eine Tatsachenbehauptung gekleidet, die von der Seite des Beschuldigten vehement bestritten und widerlegt wurde: Götti. Wie sie [die Nationalräte] das Wohl vom Kanton verstehen, haben sie bei den letzten Zollgeschichten gezeigt, wo die Mehrzahl mit daran schuld ist, daß die Schweiz 800,000 Fr. 43

HKG, F.1.1 (Anm. 10), Nr. 129 Herbst-Gespräch, S. 299.

Funktionen des Kommentars213

mehr Zoll zahlen muß, bloß für Käs fast 300,000 Fr. mehr. Das wird den armen Käsbürlene wohl thun!44

Der Stellenkommentar verfolgt die Strategie, das in diesen Sätzen implizierte Werturteil über Jakob Stämpfli, den Präsidenten des Nationalrats, der im August 1851 erneut kandidierte, herauszuarbeiten.45 Es lautet folgendermaßen: Stämpfli habe den Berner Käsebauern durch sein politisches Verhalten im Nationalrat wirtschaftlichen Schaden zugefügt. Die Prognose des Radikalen-feindlichen Götti im Herbst-Gespräch, wie wohl dies den armen Käsebauern tun werde, ist pure Ironie. Wie aber stellte sich der Götti den mutmaßlichen Kausalzusammenhang vor zwischen Stämpflis politischem Agieren als Präsident des Nationalrats und der Aufhebung der Sonderbedingungen im bilateralen Käsehandel zwischen Württemberg und Bern, durch welche Berner Käsebauern Absatzprobleme beim Käseexport bekamen? Unsere Recherchen, vor allem die Auswertung der Presseberichte in Zeitungen verschiedener politischer Richtungen, führten zum Ergebnis, dass überhaupt kein Kausalzusammenhang zwischen Stämpflis Agieren im Nationalrat und den Einbußen der Käsebauern wegen der Einführung von Importzöllen seitens der Württembergischen Regierung bestand. Konservative Blätter machten jedoch Stämpfli persönlich dafür verantwortlich, dass Württemberg zum 1. August 1851 die bisher geltenden Zollvergünstigungen für den Import von Schweizer Käse aufgehoben habe und deswegen namentlich den Berner Käseherstellern große Verluste entstanden seien. Konservative Journalisten deuteten nämlich das Mehrheitsvotum im Nationalrat unter der Ägide Stämpflis, die Forderung der württembergischen Politiker nach Senkung des Importzolls für Eisen im Sommer 1851 abzulehnen, als Ursache für die Aufhebung der Sonderbedingungen, die für den Export von Berner Käse nach Württemberg galten. In radikalen Blättern wurde hingegen der Nachweis geführt, dass der Entschluss des württembergischen Königs, die den Bernern gewährten Zollvergünstigungen aufzuheben, schon am 21. Juli 1851 publik wurde. Der Nationalrat sei aber erst am 26. Juli zusammen gekommen, um eine Entscheidung über Eisenzölle zu fällen, die den Württembergern Nachteile beschert hätten. Die Berner-Zeitung und das Emmenthaler Wochenblatt stellten also klar, dass Stämpfli nicht verantwortlich für die Einführung von Importzöllen seitens der Württemberger gewesen sei, weil der Beschluss, welcher die Vergünstigungen im Eisenhandel aufhob, völlig unabhängig von der Württemberger Aufhebung der Exporterleichterungen für Berner Käsebauern gefallen sei. Außerdem sei die Einbuße der Käsebauern nicht so hoch wie befürchtet, weil der Käseexport nur 20 000 Zentner betrage, mithin der höhere Zoll sich nur auf 90 000 Franken statt auf 240 000 Franken belaufe. Von einer protektionistischen Handelspolitik hätten hingegen 4000 – 5000 Arbeiter in den jurassischen Eisenwerken profitiert. Die Beschuldigung des Götti, wie unverantwortlich die Nationalräte auf Kosten der Käse exportierenden Bauern agiert hätten, stützte sich also auf Berichte in konservativen Berner Blättern, vor allem im Vaterland. Die Annahme liegt nahe, dass Bitzius sie bereits als Medienrealität aus diesen Blättern übernommen hat, ohne 44 45

Ebd., S. 304. HKG, F.1.3 (Anm. 13), Kommentar zu Nr. 129, S. 1169.

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selbst anhand der Protokolle der Nationalratssitzungen die Chronologie der Beschlüsse im Nationalrat nachzuprüfen. Hinter der scheinbaren Tatsachenbehauptung über die jüngsten „Zollgeschichten“ und dem angefügten Werturteil über die Schuld der Nationalräte an Einbußen der Berner Käseproduzenten steckt eine Absicht, nämlich Stämpflis Ruf nicht nur als Kantonspolitiker, sondern auch als Nationalrat zu schädigen und vor seiner Wiederwahl in dieses höchste Gremium zu warnen. Der Götti argumentiert also im Interesse seiner Lobby, und diese politische Tendenz legt der Kommentar offen: Die Recherchen offenbaren, dass der Götti den Nationalrat fälschlich beschuldigt, für die Handelseinbußen der Käsebauern verantwortlich zu sein und stattdessen die Privatinteressen des mit Eisen handelnden Xavier Stockmar begünstigt zu haben. Diffamierungen Stämpflis als Volksverführer stammten 1850/51 aus zweiter Hand. Sie wurden in der konservativen Presse kolportiert. Ob Bitzius selbst daran glaubte, dass Stämpfli ein gefährlicher Politiker, ein Lügner und Volksverführer war, ist für das Verständnis des Herbst-Gesprächs sekundär. Primär ist die Frage nach der rhetorischen Wirkungsabsicht und dem performativen Erfolg der Argumentation in seiner Wahlkampfbroschüre. Das Herbst-Gespräch verfolgt die Strategie, die Hoffnungen, die der Vetter auf die von Stämpfli propagierten Reformen setzt, als trügerisch zu entlarven. Die Diffamierung Stämpflis als Demagoge anlässlich der zweiten Nationalratswahlen hatte einen politischen Zweck: potentielle Wähler Stämpflis sollten eines Besseren belehrt und dazu bewogen werden, ihre Stimme einem konservativen Kandidaten zu geben. Diese Rechnung ging allerdings nicht auf: Stämpfli wurde in den Nationalrat gewählt. Die Prinzipien der Kommentierung seien aufgrund der vorangegangenen Beobachtungen aufgrund der aufgezählten vier Klassen publizistischer Äußerungen verallgemeinert: Erstens ist offenzulegen, woher Bitzius seine Kenntnisse über politische Vorgänge in Bern, die ihm wahrheitsfähige Behauptungen über Ereignisse und Personen ermöglichten, haben konnte. Aus Zeitungen, den Großratsprotokollen und Staatsverwaltungsberichten schöpfte er seine Informationen. Ferner sind die politischen Amtsträger zu identifizieren, die bei Bitzius zu Gast waren oder mit ihm korrespondierten, also Pfarrkollegen, Schulkommissäre, Lokalpolitiker, die ähnlich wie er an den Zielen der liberalen Aufbruchsbewegung von 1830/31 festhielten, und Freunde, die einflussreiche Ämter bekleideten und Bitzius beim Schreiben mit ihrem Fachwissen berieten. Mit ihrer Hilfe lassen sich die wahrheitswertfähigen Aussagen der ersten Klasse, Tatsachenbehauptungen also, verifizieren oder falsifizieren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass solche Behauptungen wiederum zur Begründung von Vermutungen, Interpretationen von Gesetzestexten und moralischen Verurteilungen dienten und in expressive Äußerungen eingebettet sind. Zweitens ist die Gesetzeslage zu skizzieren, die den Handlungsspielraum der Funktionsträger definierte. Publizistische Kontroversen, an denen sich Bitzius regelmäßig beteiligte, entzündeten sich entweder an der mangelhaften Umsetzung gesetzlicher Vorschriften oder an der Inadäquatheit und Reformbedürftigkeit bestehender Gesetze, etwa im Armenwesen. Wenn sich Bitzius in Zeitungen über die Milde der

Funktionen des Kommentars215

Obergerichte beklagte und höhere, härtere Strafen forderte, muss man die Rechtsprechung berücksichtigen und prüfen, welche Großräte in der Debatte über den Entwurf eines zeitgemäßen Strafgesetzes ähnlich urteilten wie der Pfarrer von Lützelflüh. Drittens muss man den moralischen Wertungen über ‚unwürdige‘ oder ‚böse‘ Arme (die Gruppe der verantwortungslosen Hausväter und liederlichen Mütter unehelicher Kinder) auf den Grund kommen, indem sie im Kontext der Diskussionen über ein zeitgemäßes Armengesetz und vor dem Hintergrund aktueller politischer Missstände betrachtet werden. Die Kommentierung der vierten Klasse von allgemeinen Werturteilen ist am aufwendigsten. Es muss zuerst erklärt werden, wieso eine Aussage auf einem Vorurteil beruht oder Teil eines Stereotyps ist. Um den Stereotypen auf die Spur zu kommen und zu klären, zu welchem Zweck Bitzius mit einer Behauptung (in der Figurenrede seines Götti und des Vetters) ein verbreitetes Vorurteil bedient, muss man den politischen Meinungsstreit in Zeitungen und Broschüren verfolgen und das Spektrum der dort vertretenen Behauptungen mit den Politikeraussagen in den Protokollen des Großen Rats sowie mit den Rechenschaftsberichten der Staatsverwaltungsberichte vergleichen.

VI. Folgerungen für eine Relektüre der Romane und Erzählungen Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus den Überlegungen zum Status von Aussagen, die eines historischen Kommentars bedürfen, ziehen? Ist der Aufwand an Recherchen vertretbar, nur um den Vorwurf eines Emmentaler Bauern, dass Stämpfli ein Demagoge sei, als Vorurteil zu entlarven und zu klären, wie es zustande kommt? Der Aufwand lohnt sich, weil die Ansichten des Journalisten auch Licht auf die Werturteile in Jeremias Gotthelfs Romanen werfen. Erzählereinschübe, die das Denken und Handeln der Figuren im größeren Kontext bewerten, erweisen sich dort meist als extrem zeitbezogen. Die Kommentierung der Zeitungstexte lässt sie in neuem Licht erscheinen. Kommentatoren journalistischer Texte des 19. Jahrhunderts müssen ihr Ohr am Puls der Zeit haben. Sie müssen die Energie in den Adern des politischen Kommunikationssystems fließen hören. In Gotthelfs Zeitromanen sind die Verbindungen zu diesem Kommunikationssystem nur mit Hilfe des Kommentars rekonstruierbar. Das Drama zweier Bauernfamilien in Zeitgeist und Berner Geist enthält Anspielungen auf Berner und Genfer Radikalenpolitiker (Wilhelm Snell, Jakob Stämpfli, Niklas Niggeler und Abraham Tourte). Es amplifiziert und karikiert zugleich Unarten der Berner Politik mit ihren Gegensätzen zwischen Stadt und Land, Zentralisierern und Föderalisten, schwarzen Kutten und Freigeistern zu einem endzeitlichen Tableau, das stellenweise belustigt, aber auch Angst einjagt.46 Wegen offensichtlicher Anspielungen auf Zeitereignisse wie das Churer Schützenfest im Sommer 1842 riet

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Jeremias Gotthelf: Zeitgeist und Bernergeist [!]. Bearbeitet von Hans Bloesch. Zürich 1926 (Sämtliche Werke in 24 Bänden Bd. 13), S. 375, 380 und 418 und Nachwort zur Entstehungsgeschichte, S. 598 – 603.

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Carl Bitzius seinem Vetter davon ab, seinen Roman über die Geschäfte des Herrn Esau und seinen Sohn Jakob zu publizieren.47 Mit Hilfe der Kommentare zu den journalistischen Texten lassen sich in den Romanen Klagen, Satire und Spott über das Versagen von Behörden und Politiker auf konkrete Anlässe zurückführen. Was als moralisches Urteil erscheint, hat meistens auch politische Implikationen. Dies erkannten Gotthelfs Berner Leser: Ein Berner Rezensent bestätigte, dass es Typen wie Doktor Dorbach unter den deutschen Emigranten in Bern wirklich gebe. Der Oberländer Anzeiger empfahl im März 1849 Doktor Dorbach der Wühler den Bernern zur Lektüre, weil ähnliche Subjekte aus dem Ausland sich auch in Bern herumtrieben. Gotthelfs Erzählung habe eine aktuelle Botschaft: Auch die Berner sollten dafür sorgen, dass ähnlich umtriebige Flüchtlinge, welche Einfluss auf die Politik zu erlangen suchten, in ihren Kantonsgrenzen nicht geduldet würden.48 Die Quellen zur Armenunterstützungspraxis in Berner Gemeinden und zur Rechtslage machen auch die Kritik an lokalen und kantonalen Armenbehörden in Gotthelfs Armennoth besser verständlich.49 Bitzius’ Zeitromane nehmen stets Bezug auf Ereignisse der Zeitgeschichte. Wie deren Kommentar von der Erschließung der politischen und pädagogischen Publizistik profitieren kann, sei an wenigen Beispielen verdeutlicht. Am Schicksal der siebzigjährigen Taunerin im Schachen führt Gotthelf in Käthi die Großmutter vor, wie die allein erziehende Großmutter ihrer Gemeinde Arbeit abnimmt, indem sie für sich und ihren Enkel sorgt und ihre Bedürfnisse einschränkt. Ihr Lebensglück hängt nicht von Zuwendungen anderer ab.50 Während der Pfarrer als Mitglied der Armenkommission die restriktive Ausgabenpolitik der Gemeinde Lützelflüh mittragen musste, schilderte der Volksschriftsteller Karrieren Armer, die mit Fleiß und Sparsamkeit auch im modernen Staat zu bescheidenem Auskommen gelangen und gemäß der poetischen Theodizee wegen dieser Tugenden reichlichen Lohn empfangen.51 In die fiktive Autobiographie des Schulmeisters Peter Käser flossen bekanntlich Erfahrungen ein, die Bitzius seit 1835 als Schulkommissär in seinem Bezirkskreis Lützelflüh gemacht hat. Daher erleichtern die Kommentare zu Bitzius’ Pädagogischer Publizistik das Verständnis von Käsers Darstellung seiner Lebens- und Karrieregeschichte. Der Kommentar zum ersten Kapitel des Romans Leiden und Freuden eines 47

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Jeremias Gotthelf: Der Herr Esau. Roman in zwei Bänden. Hrsg. von Rudolf Hunziker u. Hans Bloesch. Zürich 1922 (Ergänzungsbände zu Sämtlichen Werken 1 u. 2). Carl Bitzius an Albert Bitzius, 8. Oktober 1844. In: Briefe. Bearbeitet von Kurt Guggisberg und Werner Juker. Zürich 1950 (Ergänzungsbände zu Sämtlichen Werken 6), Nr. 63, S. 108 –113. HKG, F.1.3 (Anm. 13), Nachwort, S. 1521. Ebd., Kommentar zu Nr. 105, S. 908f. und Jeremias Gotthelf: Die Armennot. In: Jeremias Gotthelf: Sämtliche Werke (Anm. 46), Bd. 15: Die Wassernot im Emmental; Die Armennot; Eines Schweizers Not. Bearbeitet von Rudolf Hunziker, S. 93 –136. Jeremias Gotthelf: Käthi die Grossmutter. Bearbeitet von Gottfried Bohnenblust. Zürich 1916 (Sämtliche Werke [Anm. 46] Bd. 10). Jeremias Gotthelf: Hans Joggeli der Erbvetter, und ders.: Der Besenbinder von Rychiwyl. In: Jeremias Gotthelf: „Geld ist und bleibt Geld...“. Fünf Geschichten rund um Geld und Geiz, Gier und Gewalt, aber auch um Glauben, Geduld und Gemeinsinn. Erläutert von Alfred Reber unter Mitwirkung von Theodor Mahlmann. Zürich 2011, S. 61–146 und 229 – 262 sowie die Kommentare Alfred Rebers.

Funktionen des Kommentars217

Schulmeisters muss beispielsweise das Berner Gesetz zur Taxation der Schullehrer vom 10. Februar 1836 zitieren, das eine leistungsbezogene Sonderzulage vorsah und die Schulkommissäre daher dazu verpflichtete, die Leistungsfähigkeit der Berner Primarlehrer zu überprüfen.52 Nur wenn man dieses Gesetz kennt und überdies weiß, dass es bei Bitzius und seinen Schulkommissärskollegen auf Ablehnung stieß, wird man verstehen, warum Käser auf die betrübliche Nachricht aus dem Schulkommissariat, er verdiene keine Gehaltszulage, mit Angst und Verzweiflung reagiert. Um im letzten Kapitel des Romans die Erleichterung von Peter Käser und seiner Frau zu verstehen, endlich der wirtschaftlichen Not enthoben zu sein, muss man wissen, dass Peter Käser schließlich wie alle Berner Schulmeister in den Genuss der Primarlehrerpauschale kam, die per Gesetz vom 28. Februar 1837 allen Lehrern des Kantons zugesprochen wurde.53 Der Entschluss Peter Käsers, seine Lebensgeschichte aufzuzeichnen und dem Direktor des Lehrerseminars in Münchenbuchsee, Karl Rickli, zu schicken, fällt in der Zeitspanne zwischen diesen beiden Gesetzen. Käser will mit seiner Lebensgeschichte Rickli demonstrieren, dass ohne eine garantierte Existenzsicherung durch einen Minimallohn ein qualifizierter Unterricht gar nicht möglich ist. Käsers Rückblick auf seine berufliche Karriere belehrt die Berner Gesetzgeber überdies, wie ungerecht das frühere Gesetz vom Februar 1836 war und wie wenig es dazu taugte, die Situation an den Primarschulen zu verbessern. Diese Meinung äußerte auch der Schulkommissär Albert Bitzius in seiner amtlichen Korrespondenz. Der Stellenkommentar zum ersten Kapitel des Schulmeisterromans wird folglich auf den Kommentar zu einer von Bitzius mitunterzeichneten Eingabe vom 31. August 1836 verweisen, die gegen das Gesetz zur Taxation der Primarlehrer protestierte. Diese Eingabe wird im Corpus der Pädagogischen Publizistik ediert und kommentiert.54 Die Komposition der fiktiven Lehrerautobiographie und die Dramaturgie der Interaktion der Figuren sind in der Einleitung des Kommentarbands zum Schulmeister-Roman zu erläutern. Dorthin gehört außerdem der Nachweis, von welchen literarischen Werken sich Bitzius hat anregen lassen. Prägende Bedeutung hatte Pestalozzis Roman Lienhard und Gertrud.55 Im Hinblick darauf ist zu klären, an welcher der 52

Jeremias Gotthelf: Leiden und Freuden eines Schulmeisters, 1. und 2. Teil (1838/39). In: Jeremias Gotthelf: Sämtliche Werke (Anm.46), Bd. 2. Hrsg. von Eduard Bähler. Zürich 1921, S. 11– 26 und Bd. 3. Zürich 1921, S. 443. – Gesetze, Dekrete, Verordnungen des Kantons Bern, Bd. 6. Bern 1836: „Beschluß des Regierungsraths über die Gehaltserhöhung der Primarlehrer“ vom 20. Februar 1836, S. 111–116. 53 Gotthelf: Leiden und Freuden (Anm. 52), 2. Teil (Sämtliche Werke Bd. 3), S. 424. Im Kommentar fehlt der Hinweis auf das Gesetz vom 28. Februar 1837 über die Gehaltszulagen für die Primarlehrer. – Vgl. Gesetze Dekrete Verordnungen des Kantons Bern, Bd. 7. Bern 1837, S. 33 – 37. 54 [Albert Bitzius u.a.:] Eingabe von neun Schulkommissären 31. August 1836 (Text Nr. 12). In: HKG, Abt. F.2: Pädagogische Publizistik, Teilband 1: Texte. Hrsg. von Norbert D. Wernicke. Hildesheim, Zürich, New York 2014 [im Druck]. Der Kommentar zu diesem Text (von Markus Hofer) wird in Abt. F.2.2 der HKG publiziert werden, mit dessen Erscheinen 2015 zu rechnen ist. 55 Johann Heinrich Pestalozzi: Lienhard und Gertrud. Ein Buch für das Volk. Erster und zweiter Teil nach der ersten Fassung (1781/83) und ders.: Lienhard und Gertrud. Ein Buch für das Volk. Dritter und vierter Teil nach der ersten Fassung (1785/87). In: Werke in acht Bänden. Hrsg. von Paul Baumgartner. Erlenbach-Zürich 1944, Bd. 1 u. 2; vgl. das Nachwort von Manfred Windfuhr in Johann Heinrich Pestalozzi: Werke, Bd. 1: Lienhard und Gertrud. Hrsg. und kommentiert von Gertrude Cepl-Kaufmann und Manfred Windfuhr. Zürich 1986.

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Barbara Mahlmann-Bauer

drei Fassungen sich Bitzius orientiert hat. Dem Stellenkommentar obliegt es dann, konkrete Nachweise zu geben, inwieweit Pestalozzis Lehrerfigur Glüphi, dessen pädagogische Ideen in den Gesprächen mit dem Pfarrer und dem Baumwollen-Meyer des dritten Bandes ausgebreitet werden und der in der dritten Fassung des Romans psychologisch vertieft wird, einerseits bei der Gestaltung des Jägers Wehrdi Pate gestanden hat, mit seinen gelegentlichen Selbstzweifeln an seiner pädagogischen Kompetenz aber gleichfalls ein Vorbild für die rückblickenden Lebensbetrachtungen Peter Käsers darstellt.56 Pestalozzi projizierte seine Vision von dem, was die Schule für die Volksbildung und besonders für die Erziehung der Armen leisten sollte, vor allem auf die Figur des Leutnants a. D. Glüphi. Gotthelf übernahm Eigenschaften dieser Figur, passte aber ihre Visionen und Zweifel den Erfordernissen seiner Gegenwart an. Der Rahmen für die Gespräche zwischen Käser, dem Pfarrer von Gytiwyl und Wehrdi wird von Zielen und Aufgaben der Schulreformdiskussion bestimmt, an denen sich Bitzius als Schulkommissär abgearbeitet hat.

Abstract Albert Bitzius amused himself by inventing rumors. Once they were published and multiplied, they gained force. It was the job of his political adversaries to disclaim them. His commentators ought to have their fingers on the pulse of public affairs. Studying the local press, therefore, is a prerequisite. Swiss newspapers were ready to amplify social antagonisms; they created and propagated fantastic views of justice and equality. Gotthelf played an important role in polarizing the Bernese society. Commentators on the writer ought to detect the flow of energies in the veins of the exciting and expanding communication system in the Bernese republic. The article demonstrates the enormous effects of source reading: Readers of Gotthelf’s late novels might take advantage of a detailed documentation of what was going on in the society and of how Gotthelf as a member of the local ‘Sittengericht’ and the ‘Armenkommission’ was involved.

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Hans Jakob Tobler: Die Gestalt des Lehrers bei Pestalozzi. Diss. Zürich 1969; Peter Stadler: Pestalozzi. Geschichtliche Biographie, Bd. 1: Von der alten Ordnung zur Revolution. Zürich 1988, S. 255 – 259.

Christian von Zimmermann

Vom Kommentieren

1. Theorie des Kommentars Als der Germanist Georg Witkowski (1863 –1939) 1924 in seinem bekannten Methodenbuch Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke den Stand der damaligen editionsphilologischen Errungenschaften protokollierte, fällte er ein deutliches Urteil: Während bei der Wiedergabe der Varianten in den textkritischen Apparaten nach dem (missverstandenen) Vorbild der Weimarer Goethe-Edition durchaus zu viel Sorgfalt und Aufwand getrieben werde,1 befinde sich die andere Aufgabe der Editionsphilologie, die Texte zu kommentieren, in einem weitgehend unreflektierten Zustand. Für das Kommentieren von Texten fehlten – wie man heute sagen würde – Qualitätsstandards und Anforderungsprofile.2 Das Vorbild der Weimarer Goethe-Ausgabe habe in dieser Hinsicht fatal gewirkt: „Die äußerlich so imponierende textkritische Leistung der Weimarer Goethe-Ausgabe gilt […] als unübertroffenes Muster […]. Da sie keine Erläuterungen enthält, gelten solche Beigaben jetzt als Zeichen von Unwissenschaftlichkeit […].“3 Die aus einem positivistischen Geist entstandene Editionspraxis, die aus ‚Liebe zum unscheinbaren Detail‘ unterschiedslos jede Textvarianz in autorisierten und nicht-autorisierten Textfassungen dokumentierte und so dazu tendierte, die Überlieferungsgeschichte zum Editionsgegenstand zu machen, verdrängte dabei auch die traditionelle Beigabe einer biographischen Autorenwürdigung, wie sie schon in den Textanthologien und Werkausgaben des 17. und 18. Jahrhunderts zu finden waren und nun aber ins Gebiet populärer Volksausgaben und Leseeditionen abgedrängt wurden. Karl Lachmann (1793 –1851) wies etwa als Lessingherausgeber bereits 1840 den Anspruch weit von sich, eine solche Biographie oder Charakteristik im Rahmen seiner Edition des besten Lessingtextes liefern zu müssen; sie gehöre „in keine Sammlung seiner Schriften“.4 Im festen Glauben an die Zeitlosigkeit seiner eigenen textphilolo-

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Georg Witkowski: Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke. Leipzig 1924, S. 15. Ebd., S. 17. Ebd., S. 15. Karl Lachmann: [Unterdrückte Anzeige der Lessing-Ausgabe] (1840). In: Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition 1), S. 7–12, hier S. 8. – Zur Konkurrenz philologischer und biographischer Methoden der Literaturbetrachtung vgl.: Christian von Zimmermann: Rettungen aus dem Staub der Philologie. Ein Essay über die Konkurrenz von Biographie und Philologie. In: Anekdote – Biographie – Kanon. Zur Geschichtsschreibung in den schönen Künsten. Hrsg. von Melanie Unseld u. Christian von Zimmermann. Köln et al. 2013, S. 19 – 38.

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Christian von Zimmermann

gischen Arbeit, die gleichwohl nach einem halben Jahrhundert durch Franz Muncker (1855 –1926) bereits zum zweiten Male und nun grundlegend überarbeitet werden musste,5 lehnte er eine solche Charakteristik auch ab, da selbst eine gute Darstellung „nach funfzig Jahren nicht mehr genügen würde“.6 Nicht nur den biographischen Beigaben, sondern generell den Sach- und Worterläuterungen haftete gegenüber der offenbar gesicherten Faktizität der textphilologischen Befunde nicht nur der Makel ungesicherter Vorläufigkeit, sondern auch derjenige des bloß Didaktischen und Vermittelnden an, während der gebildete Leser einer solchen Führung nicht bedürfe. Auch Witkowski sah hier bereits ein Grundproblem der Kommentare, die nur selten auf ihren tatsächlichen Benutzerkreis zugeschnitten seien. Der Ausweg, einen bestimmten Bildungsstand für die Bestimmung der Kommentierungstiefe zugrunde zu legen, wie ihn sich später etwa noch die Adalbert Stifter-Edition der Werke und Briefe zu eigen gemacht hat, bessere diesen Umstand nur teilweise.7 Immerhin aber stellt die Formulierung der Stifter-Editoren hier einen diskutablen Versuch dar:8 Das Niveau der Erläuterungen ist nach Erfahrungen mit Studierenden mehrerer Stifter-Seminare an dem Wissensstand von Germanisten im Hauptstudium orientiert; die in Lexika leicht zugänglichen Kenntnisse bleiben ausgespart. Berücksichtigt wurde aber, daß einer wachsenden Zahl fremdsprachiger Leserinnen und Leser die Auflösung mancher Komposita Probleme bereiten kann; auf sie sind auch Erläuterungen kulturgeschichtlicher Details ausgerichtet.

Solche Versuche, das ‚Eintrittsniveau‘ in den Kommentar zu bestimmen und dadurch Kommentierungsgrad und -tiefe pragmatisch zu bestimmen, sind gewiss hinsichtlich einer wünschbaren theoretischen Präzision diskutabel, können dennoch aber für konkrete Fallentscheidungen eine gewisse Hilfestellung darstellen. Witkowski lässt keinen Zweifel daran, dass erst mit einer adäquaten Kommentierung, die editionsphilologische Grundforderung erfüllt werde, „das Verständnis der Einzelheiten“ zu fördern, ohne welches „meist weder wirkliches Eindringen in ein Schriftwerk noch dessen voller Genuß möglich“ sei.9 Vor allem wehrt sich Wit­kowski gegen die Auffassungen, eine Kommentierung jüngerer Autoren sei ‚unwissenschaftlich‘ (im Sinn positivistischer Textkritik), für den „Fachmann“ überflüssig oder widerspreche dem ästhetischen Postulat der Dichtung. Es sei ein Irrtum zu glauben, dass Werke jüngerer Autoren nicht ebenso kommentiert werden müssten wie klassische Texte oder ältere Dichtwerke des Mittelalters und der Frühen Neuzeit:10

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Vgl. zur Geschichte der Lessing-Editionen: Wolfgang Albrecht: Lessing-Editionen. In: Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth u. Bodo Plachta. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition 2), S. 315 – 327. Lachmann 2005 (Anm. 4), S. 8. Witkowski 1924 (Anm. 1), S. 17. Adalbert Stifter: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Alfred Doppler u. Wolfgang Frühwald, Band 1, 9: Studien. Kommentar bearbeitet von Ulrich Dittmann. Stuttgart, Berlin, Köln 1997, S. 15. Witkowski 1924 (Anm. 1), S. 17. Ebd., S. 88f.

Vom Kommentieren221

Denn Kommentierung solcher jüngeren Autoren gilt als Unwissenschaft, gemäß der Voraussetzung, der Fachmann bedürfe ihrer nicht. Dies mag für das Wortverständnis zutreffen, obwohl z.B. der Bedeutungswandel seit der Klassikerzeit, die ästhetische Terminologie Schillers oder Friedrich Schlegels, die Idiotismen und kühnen asyntaktischen Bildungen mancher Neuesten wohl der Interpretation, auch für philologische Vorgebildete, bedürftig erscheinen. Vollends im Bereich der geistes- und kulturgeschichtlichen, der persönlichen und in andere Wissensgebiete weisenden Beziehungen könnten die Spezialkenntnisse des Herausgebers vielfach auch den Fachgenossen willkommene Hilfe gewähren.

Witkowski schwebt dabei als Vorbild für die Neugermanistik die Kommentierungspraxis der klassischen Philologie vor, so wie er sie versteht. Der Stellenkommentar müsse (unter dem Text oder im Anschluss an die Textedition angebracht) „mit Hinweisen auf die gesamte in Betracht kommende Literatur, Auseinandersetzungen mit ihr und Erörterungen strittiger Punkte der Textgeschichte, Worterklärung (Interpretation) und Sinndeutung (Hermeneutik), zuweilen mit Zusammenstellung der Meinungen früherer Kommentatoren (cum notis variorum […])“ versehen sein.11 Dieser Stellenkommentar sei zudem durch eine ‚monographische‘ Einleitung zu ergänzen, unter welcher Witkowski eine „genau auf das Thema eingestellte, nach allen Seiten abschließende Untersuchung“ des editionsphilologisch aufgearbeiteten Textes versteht, insofern diese Untersuchung nicht Bestandteil der „Sach- und Wort­ erklärung“ als Aufgabe des Stellenkommentars sei.12 Im Detail benennt Witkowski die Topoi eines Einleitungskommentars: „innere und äußere Vorgeschichte; Werden (mit den Bestandteilen des Rechenschaftsberichts), Stoff- und Motivgeschichte; Quellen, Formanalyse; literarhistorische, kulturgeschichtliche, ästhetische Bedeutung; Wirkung in Literatur und Leben“.13 Selbstverständlich ist zudem, dass Kommentar und Stellenkommentar durch Register und eventuell ein Glossar erschlossen werden sollten.14 Gewiss haben sich einige Akzente dieser Bestimmung der Aufgaben des Kommentars verschoben, prinzipiell dürfte diese Umschreibung der ‚wissenschaftlichen‘ Aufgaben des Kommentars auch heute noch als ein Orientierungsmaßstab für kommentierungswillige Editoren gelten, und insbesondere Studienausgaben wie die Editionsreihe des Deutschen Klassiker-Verlages folgen abgesehen vom in der Regel fehlenden Glossar diesem Muster. Das Stichwort ‚Studienausgabe‘ weist zugleich freilich auf eine Entwicklung hin, die der Forderung Witkowskis gerade nicht entspricht. Der Trennung von ‚wissenschaftlicher‘ (also positivistischer) Textedition und didaktisch erläuterter Lese- und Studienausgaben stellt er die Forderung nach kommentierten wissenschaftlichen Ausgaben einzelner Werke entgegen, die sowohl höheren Ansprüchen an die Textkritik als auch an die Kommentierungstiefe genügen sollen. Die Ablehnung des Kommentars in wissenschaftlichen Editionen des 19. Jahrhunderts, die Witkowski auf positivistische und ästhetizistische ‚Dogmen‘ zurückführt, ist im 20. Jahrhundert in 11 12 13 14

Ebd., S. 88. Ebd., S. 91. Ebd., S. 91. Ebd., S. 93.

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Christian von Zimmermann

vielerlei einschlägigen Beiträgen fortgeschrieben worden,15 und dies obwohl immer wieder angemahnt wurde, die Kommentierungspraxis der Studienausgabe auch für historisch-kritische Editionen zu übernehmen und sich nicht auf Anmerkungen und bloße Erläuterungen zurückzuziehen (Frühwald).16 Die niederländische Philologin Marita Mathijsen hat demgegenüber aus einer internationalen Perspektive moniert, die germanistische Ablehnung des Kommentars habe über die Nationalphilologie hinaus eine „negative Vorbildfunktion“ ausgeübt17 und zudem dazu geführt, dass kaum Diskussionen um dessen adäquate Gestaltung geführt worden seien. Eine Folge sei die mangelnde Qualität der Kommentare, die in Studienausgaben sehr häufig vom Leitgedanken der vermittelnden Textinterpretation getragen würden und auf die auch in historisch-kritischen Ausgaben häufig nicht die nötige Sorgfalt angewendet werde. Dies ist gewiss eine überzeichnende Polemik, da es sowohl hervorragend kommentierte Studienausgaben als auch seriös kommentierte historisch-kritische Ausgaben gibt, gleichwohl ist der Bedarf an einer theoretischen Grundlegung für die Aufgaben des Kommentars nach wie vor groß. Der von Witkowski geforderte Standard der Textkommentierung ist nicht in die Grundanforderungen historisch-kritischer Editionen eingegangen und auch nicht von besseren Standardsetzungen eingeholt worden. Auch Wolfgang Frühwalds Versuch, den Kommentar, den er in die Bestandteile „Textkritik“, „Quellenkritik“, „Text-Analyse“ und „Werk-Rezeption“ unterteilt, von der Dienstfunktion gegenüber der Textedition zur eigenständigen Forschungsarbeit aufzuwerten (und entsprechend mit deutlichem Akzent auf Einleitungskommentaren neu zu strukturieren),18 hat sich nicht als Standard durchgesetzt. Allerdings dürfte die Edition der Werke und Briefe Adalbert Stifters diesen Vorstellungen Frühwalds entsprechen.

2. Kritik der Kommentierungspraxis Jeder, der einen Kommentar verfasst, weiß um die vielen Entscheidungen, die die Anlage eines Stellenkommentars hinsichtlich Kommentierungstiefe, Kommentie15

Vgl. etwa zur Forderung, „den Leser“ in seiner Selbstständigkeit nicht durch den Kommentar zu beschränken: Gunter Martens: Kommentar – Hilfestellung oder Bevormundung des Lesers? In: editio 7, 1993, S. 36 – 50; ergänzend sieht der Vorschlag von Elisabeth Höpker-Herberg und Hans Zeller den Verzicht der Kommentierung fiktionaler Texte vor: Dies.: Der Kommentar, ein integraler Bestandteil der historisch-kritischen Ausgabe? In: Ebd., S. 51– 61. 16 Wolfgang Frühwald: Formen und Inhalte des Kommentars wissenschaftlicher Textausgaben. In: probleme der kommentierung. Kolloquien der Deutschen Forschungsgemeinschaft Frankfurt a. M. 12. – 13. Oktober 1970 und 16. – 18. März 1972. Referate und Diskussionsbeiträge. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Herbert Kraft u. Walter Müller-Seidel. Boppard, Bonn-Bad Godesberg 1975, S. 13 – 32, hier S. 15. – Frühwald betont im Zusammenhang mit einer „Typologie der Ausgaben“: „Die Praxis lehrt, daß im Kommentarbereich Studienausgaben vom Typ der Hamburger Goethe-Ausgabe die historisch-kritische Edition längst überholt haben, ja, daß die aus dieser Perspektive unnatürlich erscheinende Trennung in Studienausgabe und historisch-kritische Ausgabe durch die Vernachlässigung des Kommentarproblems in den alten und neuen historisch-kritischen Gesamtausgaben mit hervorgerufen wurde“ (Ebd., S. 19). 17 Marita Mathijsen: Die sieben Todsünden des Kommentars. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth et al. Berlin 2000, S. 245 – 261, hier S. 251. 18 Frühwald 1975 (Anm. 16), S. 23.

Vom Kommentieren223

rungsgegenständen, notwendiger Kürze respektive Länge, Auswahl der Quellen und Hilfsmittel mit sich bringt, wenn nicht schon das Zeit- und Kostenbudget eine irgendwie befriedigende Kommentierung unterbindet. Schon die Sichtung der wenigen editionsphilologischen Tagungsbände, die sich der Kommentierungspraxis widmen, zeigt zudem, dass die Kommentierung vor allem am je ‚individuellen‘ Gegenstand verhandelt wird und verhandelt werden muss, da generalisierbare Kommentierungsgrundsätze weitgehend fehlen. Als Prolegomenon solcher Grundsätze müsste wohl zunächst eine Kritik und Systematisierung der vorhandenen Kommentierungspraxis und -praktiken erfolgen. Im Rahmen der vorliegenden Studie können dazu nur einige vorläufige Beobachtungen zusammengetragen werden. Als Beispiel dient eine – in diesem Kontext nicht zum ersten Mal kritisch beleuchtete – Edition, die ihren eigenen Anspruch auch nicht in der Kommentierung sucht, sondern eher ein Beispiel für die traditionelle Opposition zwischen Textphilologie und Kommentar in der germanistischen Editionsphilologie darstellt. Trotz einer bedeutenden Varianz und unübersehbaren Dynamisierung im Wechsel der textphilologischen Standards hat sich die traditionelle Vorstellung der Dichotomie von der Zeitlosigkeit der textphilologischen Arbeit gegenüber der ‚Unfestigkeit‘ der Kommentare bis in die Gegenwart halten können. Kommentare gelten weiterhin als notwendig unzulänglich, in unzulässiger Weise interpretierend, rasch veraltend oder gar den Leser bevormundend. Wohl um dem Verdacht der interpretierenden Kommentierung vorzubeugen, formulierten Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina im editorischen Bericht zur textphilologisch vorbildlich gründlichen Trakl-Edition explizit, welche Erläuterungen des Wortes „Schwester“ sie in einem Trakl-Gedicht nicht in den Kommentar schreiben würden, um den Leser in seiner Freiheit zu belassen:19 Hingegen wird Schwester (im Vers Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain) von uns nicht erläutert: weder durch einen Verweis auf Trakls Schwester Margarethe Langen-Trakl, weil Schwester im Werk Trakls nicht einfach als Chiffre für Gretl aufgefaßt werden kann; noch durch einen Verweis auf die Sage um Ödipus’ Tochter Antigone - weil aus dem Kontext ein Bezug zum Kern dieser Sage (der normwidrigen, aber ethisch gerechtfertigten Beerdigung des Polyneikes durch seine Schwester Antigone) keineswegs zwingend ist und weil ein Beleg für eine Beschäftigung Trakls mit dieser Sage nicht erbracht werden kann. Ungeachtet dessen bleibt es dem Benützer der Innsbrucker Trakl-Ausgabe unbenommen, im Bild der Schwester Trakls Sehnsucht nach Gretl zu vermuten.

Der argumentative Status dieser Aussagen ist fragwürdig: Was spricht denn eigentlich dagegen, die Leserin oder den Leser mit mehreren möglichen Kontextualisierungen im Kommentar zu konfrontieren? Warum sollten sie und er von einer Ausgabe nicht gerade dies erwarten können, anstatt darauf verwiesen zu sein, eine solche Kontextu-

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Eberhard Sauermann u. Hermann Zwerschina: Editorischer Bericht. In: Georg Trakl: Sämtliche Werke und Briefwechsel. Innsbrucker Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe mit Faksimiles der handschriftlichen Texte Trakls, Band 1: Dichtungen und journalistische Texte 1906 bis Frühjahr 1912. Hrsg. von H. Zwerschina in Zusammenarbeit mit E. Sauermann. Frankfurt a. M., Basel 2007, S.  11– 36, hier S. 14f.

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alisierung, wenn man sie denn nun vornehmen (und bitte selbst recherchieren) wolle, sei nicht illegitim, aber nicht Aufgabe der kritischen Edition. Für die Erschließung der Texte wäre es wohl eher sinnvoll, wenn diese und andere der vielfältigen Kontexte tatsächlich im Kommentar stünden, denn gerade diese offenen paradigmatischen Kontexte sind es, welche Einblicke in die nicht mehr selbstverständliche historische Dialogizität der Sprache geben, den vermeintlich festen Text gegenüber Vorannahmen öffnen. Im Zentrum des Trakl-Kommentars stehen nicht die Kontextualisierungsmöglichkeiten, sondern traditionelle Wort- und Sacherläuterungen:20 In den ‘Einzelstellen-Erläuterungen’ werden – bei jedem Vorkommen – Eigennamen, mythologische Namen und Namen von Werken und Orten erläutert sowie Fremdwörter und sprachliche Formen, die veraltet sind oder seinerzeit in Trakls Heimat unüblich waren.

Das Bemühen um eine eher mechanische Erläuterungspraxis, die jeder Andeutung einer Interpretation auszuweichen bemüht ist und zudem die Erläuterungstugend größtmöglicher Kürze pflegen soll, treibt freilich mitunter kuriose Blüten, wenn etwa zum Lemma „Ibsen“ notiert wird: „Henrik Ibsen (1828 –1906), Schriftsteller“.21 Daneben stehen in weiteren Lemmata die bibliographischen Angaben zu den erwähnten dramatischen Texten von Gustav Streicher, dem Trakl eine Würdigung im Salzburger Volksblatt gewidmet hatte. Eine über die bibliographische Verzeichnung hinausgehende Erläuterung zu Streicher und seinem Werk findet sich – ebenfalls in knapper Form – immerhin im Kommentar zum Titellemma „Gustav Streicher“. In dieser ersten „Einzelstellen-Erläuterung“ verweisen die Kommentatoren zudem mit philologischer Selbstverständlichkeit bereits auf Ibsen und Maeterlinck, ohne dass diese Namen hier erläuterungsbedürftig erschienen. Dabei handelt es sich wohl um eines der häufigsten Probleme vorliegender Kommentare: Manche Kommentatorinnen und Kommentatoren füllen einerseits den Kommentar mit ‚Banalitäten‘ an, um dem angenommenen (nicht fachspezifischen) Hintergrund der Leserinnen und Leser gerecht zu werden, vermögen sich aber in ihrer eigenen Kommentierungssprache nicht von diskursiven Praktiken und fachlichen Voraussetzungen literaturwissenschaftlich-akademischer Rede zu lösen und adressieren so eher Fachkolleginnen und -kollegen als Diskursfremde. Das daraus resultierende Nebeneinander muss als Fehler in der Adressierung von Leserschaften erscheinen. Auf eine Erläuterung zu „Ibsen“, wie sie die Edition bietet, könnten Leserinnen und Leser der Trakl-Edition gewiss verzichten, zumindest, wenn hier nicht Angaben gemacht werden, die über die Minimalerläuterung hinaus Hinweise zu Ibsens Bedeutung für Streicher und Trakl geben. Sprechend für die Entscheidung der Kommentatoren ist zudem, dass Titel und Namen in dieser Weise minimalistisch erläutert werden, dass aber Begriffe des Trakl-Textes wie „Heimatkunst“, „Naturalismus“, „Neuromantiker“ und andere mehr dagegen als nicht erläuterungsbedürftig erscheinen. Das wirft die Frage auf, wie die Trakl-Edition ihren Nutzerkreis definiert, wenn dieser dadurch charakterisiert 20 21

Ebd., S. 15. Ebd., S. 109.

Vom Kommentieren225

ist, dass einerseits das Wissen, das Ibsen ein Schriftsteller war, nicht vorausgesetzt werden kann, andererseits aber die genannten Epochenbegriffe in ihrer Anwendung durch Trakl Allgemeingut sein sollen. Für die poetischen Texte Trakls nehmen die Herausgeber in Anspruch, deren ästhetische Faktur nicht durch festlegende interpretatorische Erläuterungen unterlaufen zu wollen; dass diese Erläuterungspraxis auch auf die journalistischen Texte übertragen worden ist, ist mehrfach unbefriedigend, zumal sich gerade für diese Medientextsorten eine kontextualisierende Kommentierung mehr und mehr durchsetzt, die es etwa auch verlangt hätte, den Publikationsrahmen des Textes zu beschreiben. So wäre bereits der Editionsort – das Feuilleton des Salzburger Volkblattes gewiss erläuterungsbedürftig gewesen. Anstelle einer mechanischen Erläuterungspraxis wäre, so legen diese Beispiele nahe, die Orientierung an einer pragmatischen Niveaubestimmung nach Vorbild der Stifter-Edition sicher zu bevorzugen gewesen. Problematisch erscheinen auch andere Bestandteile der Erläuterungen in dieser Edition. So fehlt im Kommentar zum Puppenspiel Blaubart eine eingehendere motivgeschichtliche Erläuterung zu Blaubart; die Erläuterung beschränkt sich auf die knappe Formel: „Gestalt der europäischen Dichtung; Titel eines französischen Märchens (‘Barbe-bleue’), das zum Märchenkreis des Mörderbräutigams zählt“.22 Die Namen der weiteren Figuren des Stückes – Maria, Herbert und Elisabeth – werden in einer in der gesamten Edition stereotyp wiederkehrenden Formel bezeichnet: „Weibliche und männliche Vornamen; ein biographischer oder literarischer Bezug ist nicht herzustellen“.23 Diese Aussage war den Kommentatoren dann wohl doch nicht geheuer; jedenfalls verweist der darauf folgende Eintrag zu Maria noch ausdrücklich auf die sich paradigmatisch eröffnenden Kontexte: „Im Neuen Testament Name für die Mutter Jesu“. Sehr zahlreich und für sich verdienstvoll sind die Nachweise von literarischen Parallelstellen insbesondere in den Werken von Maeterlinck, Rimbaud und Verlaine. Sorgsam haben die Kommentatoren diese Verweise mit einem „Vgl.“ eingeleitet, um die genauere Kontur des intertextuellen Bezuges offen zu lassen. Gleichwohl legt die Erläuterung einen tatsächlichen Bezug nahe, und die Nutzerinnen und Nutzer des Kommentars wären wohl an vielen Stellen durchaus interessiert zu erfahren, warum die Kommentatoren diesen Bezug nahelegen möchten. Dazu bedürfte es freilich an vielen Stellen eingehenderer Erläuterungen zu den Bezugstexten. Im Detail hat Lothar Blum die Probleme des Kommentars der Trakl-Edition bereits demonstriert und demgegenüber den möglichen Wert ergiebiger Kommentierung als Praxis der Kulturvermittlung hervorgehoben.24 Der nachdrückliche Hinweis,

22

Ebd., S. 296. – In ihrer Kürze erscheinen viele Stellenkommentare auch wenig hilfreich. Wer möchte etwa die folgende Kurzformel als strukturelle Basis des Melusine-Stoffes akzeptieren? „Gestalt der französischen und deutschen Dichtung; eine Meerfee, die sich mit einem Sterblichen vermählt, von ihm aber in ihrer Nixengestalt beobachtet wird und deshalb in ihr Reich zurückkehrt“ (S. 199). 23 Ebd., S. 296. 24 Lothar Bluhm: Anmerkungen zur Kommentierungspraxis moderner Editionen am Beispiel der Innsbrucker Trakl-Ausgabe. Eine kritische Bemerkung. In: Edition und Interpretation moderner Lyrik seit Hölderlin. Hrsg. von Dieter Burdorf. Berlin 2010 (Beihefte zu editio 33), S. 141–153.

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dass auch historisch-kritische Editionen im Hinblick auf die Kommentierung Benutzerinteressen berücksichtigen müssten, entspricht dem schon von Witkowski stark gemachten Argument, dass sich die Edition mindestens dem nicht auf den Gegenstand der Edition spezialisierten Fachkollegen öffnen müsste. Wie unsicher Editoren hier freilich in der Adressierung ihres Benutzerkreises sind, zeigt sich, wenn eine historisch-kritische Edition, die sich an wissenschaftliche Trakl-Leserinnen und -Leser wendet, erläutern zu müssen glaubt, dass Ibsen ein „Schriftsteller“ war.

3. ‚Sünden‘ des Kommentierens Anhand der kritischen Sichtung vorhandener Kommentare lassen sich generalisierbare Aussagen über häufige Fehler der Kommentierung extrapolieren und wenn schon nicht die Erkenntnis, dass die Länge eines Kommentars für dessen Qualität spricht, so doch diejenige, dass seine Kürze für fehlende Qualität und Komplexität bürgt. Eine Systematisierung möglicher Kommentierungsprobleme hat Marita Mathijsen in ihrer Polemik für die Kommentierung als editionsphilologischer Aufgabe unternommen, die sieben „Todsünden“ der Kommentierung auflistet,25 die sich aus der vorhandenen Literatur um einige weitere Problemquellen erweitern lassen. Freilich ist die Kategorisierung als ‚Todsünde‘ in vielen Fällen zu relativieren. 1.) Als erstes der sieben Risiken der Kommentierung nennt Mathijsen das positivistische Bemühen nach einer Anhäufung von Fakten und insbesondere Quellen, um etwa die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte eines Textes umfassend zu bestimmen. Mathijsen hat hierzu ein klares Urteil: „Die ausführlich gestalteten Kapitel zur Rezeption mit vielen Zitaten und sogar dem Abdruck von kompletten Rezensionen, sind m. E. für das Verständnis des edierten Textes oft am ehesten entbehrlich.“26 Mathijsens Wendung gegen die dokumentierende Editionspraxis bedarf gewiss einer erneuten Prüfung und darf mit Fug und Recht anders beurteilt werden, zumal sich die in jüngerer Zeit erfolgreich entwickelnde Richtung kritischer und dokumentierter Editionen, wie sie die nun abgeschlossene Gottfried Keller-Edition repräsentiert,27 inzwischen als Mittelweg zwischen der reinen kritischen Textedition und der kommentierten historisch-kritischen Ausgabe als Editionstyp hat etablieren können. Ein in seiner Anlage für Studienzwecke hervorragend geeignetes und künftigen Herausgebern dokumentierter Editionen als Vorbild angeratenes Editionsbeispiel bietet die neue von Winfried Woesler geleitete Edition der Werke Gotthold Ephraim Lessings, deren ersten Band, die Emilia Galotti enthaltend, von Elke Monika Bauer besorgt worden ist.28 Die hiermit vorgelegte dokumentierende Edition ist, wenn sie

25 26 27

Vgl. zum folgenden: Mathijsen 2000 (Anm. 17), S. 257– 259. Ebd., S. 257. Gottfried Keller: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Walter Morgenthaler, 32 Bände [davon 31 publiziert]. Basel, Zürich 1996 – 2013. 28 Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Elke Monika Bauer. Tübingen 2004 (Werke in Einzelausgaben. Hrsg. von Winfried Woesler).

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zudem für einen Hochkanontext erstellt wird wie Lessings Emilia Galotti eine akademische Studienedition, die der literaturwissenschaftlichen Forschung hinkünftig als eine Grundlage dienen kann, wie sie für kaum ein zweites Werk der deutschen Literaturgeschichte existiert. Das ambitionierte Projekt verdient in dieser Hinsicht allen Respekt. Gleichwohl dürfte nicht jedes Interesse damit aufgefangen sein und sich die Frage stellen, ob die Lessing-Edition in dieser Weise nicht den zusätzlichen dokumentarischen Dienstleitungen den Vorzug vor den Kernaufgaben der Kommentierung gegeben hat. Erinnert sei an Klaus Kanzogs Einwand: „[M]anche Editoren neigen sogar dazu, ihre Tätigkeit auf die wohlgeordnete Dokumentation der Textüberlieferung zu beschränken und das Kommentieren anderen Kollegen zu überlassen“.29 Die Bevorzugung der Aufführungs-, Rezeptions- und Wirkungsgeschichte gegenüber den textgenetischen sozialen und diskursiven Bedingungen des Textes ist jedenfalls eine für die Edition folgenreiche Vorentscheidung. 2.) Zu Recht weist Mathijsen zweitens darauf hin, dass sich Worterläuterungen in Kommentaren nicht darauf beschränken können, ohne weiteres zugängliches Wörterbuchwissen im Kommentar wiederzugeben. Eine eingehende Darlegung der Bedeutung und der Standards eines ‚lexikalischen Kommentars‘ hat Ulrich Knoop 2004 in einem editio-Beitrag unternommen.30 Gegenüber der Übernahme eines Wörterbucheintrages wäre mit Knoop festzuhalten, dass der Kommentar den syntagmatischen Kontext einer erläuterungsbedürftigen Textstelle zu berücksichtigen hat:31 Ein sprachlicher Text kann im strengen Sinn keine ‚Sache’ enthalten, es gibt also dann auch keine ‚sachliche‘ Erklärung. Denn die ‚Sache‘ ist auf alle Fälle sprachlich, nämlich als Wort oder Wortfolge präsentiert. Sie muß von daher auch wortsemantisch erklärt werden. […] [D]ie ‚Sacherläuterung‘ sollte […] immer erst in Hinsicht auf die textliche Umgebung und deren Vorgaben erfolgen. Sie ist also zuerst sprachlich und dann sachlich. Das gilt auch für zu erläuternde Namen (Personen-, Orts-, mythologische etc.) aller Art, weil sie bedeutungstragend eingesetzt werden können, was aber im Kontext zu prüfen ist.

Während Knoop, wie vor ihm schon Witkowski  – das zunehmende sprachliche Fremdwerden auch der Klassiker der deutschen Literatur als eine Herausforderung des lexikalischen Kommentars betont und zugleich Vorschläge zu dessen Realisierung unterbreitet, hat Sigurd Paul Scheichl in einem sehr bedenkenswerten Beitrag auf die Bedeutung des Übergangs von Mündlichkeit (Redewendung, modischer Sprachgebrauch, Witz etc.) zur Schriftlichkeit sowie auf die Probleme hingewiesen, diese ‚Reflexe der Mündlichkeit‘ zu erkennen und in historischer Perspektive nachzuweisen.32

29

Klaus Kanzog: Historizität und Aktualität. Semiotische Probleme des Erläuterns und Kommentierens. In: edito 7, 1993, S. 76 – 84, hier S. 78. 30 Ulrich Knoop: Der lexikalische Kommentar. Der differente Wortschatz und die Methodik seiner Erklärung. In: editio 18, 2004, S. 187– 212. 31 Ebd., S. 204f. 32 Sigurd Paul Scheichl: Kaiser Joseph und die anachronistischen Töchter. Zum Kommentieren von Reflexen des Mündlichen. In: Kommentierungsverfahren und Kommentarformen. Hrsg. von Gunter Martens. Tübingen 1993 (Beihefte zu editio 5), S. 124 –132.

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Die historisch-kritische Neuedition der Werke von Jeremias Gotthelf kann für diese Herausforderungen zahlreiche Aspekte liefern. Die Verwendung einer historischen Dialektstufe in einer nicht normierten Praxis der Niederschrift, die Verwendung eines häufig lokal eng begrenzten landwirtschaftlichen Fachvokabulars, der Rückgriff auf Gerüchte und mündlich kolportierte Erzählstoffe begegnen in jedem der Texte Gotthelfs. Scheinbar ‚selbstverständliche‘ Ausdrücke wie der Ausdruck, jemand lasse es sich „sauwohl“ ergehen, können sich freilich als Türöffner für die anthropologischen Diskurse erweisen, die im Hintergrund eines Textes wirksam sind. Nicht eine derbe ländliche Sprache, sondern die Sprache Luthers und lutherischer Prediger sind hier die relevanten Bezüge.33 Eine gute Illustration für das Ineinandergreifen von diskursiver Sprachverwendung und konkreten pragmatischen Kontexten bietet der Gebrauch des Wortes „Zeitgeist“ bei Gotthelf, der in zu Beginn der 1840er unvermittelt einsetzt und sich bis zum titelgebenden Wort im späten Roman Zeitgeist und Berner Geist steigert. Zeitgeist als Begriff für die Gegenüberstellung der zeitlosen Wahrheiten christlicher Lehre insbesondere von der Sündennatur des Menschen mit den aus Gotthelfs Sicht auf die Befriedigung der Bedürfnisse des Tages ausgerichteten modischen liberalen Überzeugungen bedarf einer diskursiven Erläuterung. Diese vermag freilich nur zum Teil die konkrete Verwendung des Begriffes zu erläutern. Gotthelf verwendet den Begriff zuerst in der Armennoth (1840) noch relativ allgemein, dann aber rekurriert er offenbar auf eine polemische Debatte im Berner Parlament, dem Grossen Rat, also auf einen mündlich-pragmatischen Kontext, in welchem er sich durch die allusive Aufnahme des Begriffes positioniert.34 Der diskursive wie der pragmatische Kontext bilden den Hintergrund für die Aufnahme und dauerhafte Integration des Begriffs in das eigene Vokabular und bilden so einen wesentlichen Teil auch der Textgenese. 3.) Als drittes Problem werden von Mathijsen kulturhistorische Erweiterungen genannt, die den Hintergrund eines Textes und seiner Entstehungszeit umfassend erarbeiten, aber zum unmittelbaren Textverständnis nicht unbedingt notwendig seien. Hier eine klare Grenze zu ziehen, dürfte nicht allein wegen der ‒ eine umfassende Kommentierung nicht legitimierenden ‒ heuristischen Freuden der Kommentatorin oder des Kommentators schwierig sein, obwohl ohne weiteres einzugestehen ist, dass es durchaus schwerfallen kann, sich von geliebten Funden zugunsten einer strengeren Auffassung von Textnähe (und eines in der Regel begrenzt verfügbaren Raums zur Entfaltung der Kommentare) zu verabschieden. Gerade bei publizistischen Texten wird freilich auch zu erwägen sein, ob es nicht sinnvoll sein kann, die Texte als Zugang zur Mentalitäts-, Diskurs- und im weitesten Sinne Kulturgeschichte ihrer Zeit und ihres Bezugsraumes zu nutzen. Eine Grenze zu ziehen zwischen Informationen, die unmittelbar für das Textverständnis relevant sind und solchen, die bereits 33

Jeremias Gotthelf: Neuer Berner-Kalender, Band 3: Kommentar. Hrsg. von Christian von Zimmermann in Zusammenarbeit mit Barbara Berger Guigon, Stefan Humbel u. Patricia Zihlmann-Märki, 2 Teilbände. Hildesheim, Zürich, New York 2012 (Historisch-kritische Gesamtausgabe. Abteilung D.3), Teilbd. 1, S. 285f. 34 Ebd., Bd. 2, S. 816f. u. S. 870f.

Vom Kommentieren229

über das Textverstehen hinausgehen, muss etwa bei den kritischen Jahresüberblicken, die Jeremias Gotthelf im Neuen Berner-Kalender publizierte und die auf zahlreiche Zeitungsmeldungen, mündlich kolportierte Nachrichten und zeittypische Diskurse rekurrieren, erhebliche Schwierigkeiten bieten, da den Kalendertexten der kritische Diskurs über Ereignisse, Zeitungsmeldungen und lokale Gerüchte eingeschrieben ist, der auch eine strikte Unterscheidung von Erläuterung (Sprach- und Sacherläuterung, Zitat, Realien) und diskursiver Kommentierung35 rasch als illusorisch erweist. Sieht man freilich die Texte als Zugang zu den politischen Auseinandersetzungen der Zeit, als Position in Debatten mit diversen Debattierenden und die einzelnen Aussagen im Kontext konkreter Diskurszusammenhänge, so werden die Zeitkontexte als diejenige Gegenwart erkennbar, in welcher die Texte ihre Bedeutung ursprünglich entfalteten.36 Ganz ähnlich ist die Situation bei den Lesereinsendungen, die Gotthelf an mehrere Zeitungsredaktionen jeweils aus Anlass aktueller Zeitungsdebatten und politischer, sozialer und gesetzgeberischer Ereignisse verfasste.37 Entsprechend hat Barbara Mahlmann-Bauer eine Kommentierungssystematik entwickelt, welche jede einzelne der über 150 Lesereinsendungen Gotthelfs in den Kontext der ihm zugehörigen Ereignischroniken und Zeitungsdiskurse einordnet. Eine solche, den Kontext bewahrende Kommentierung,38 mag immerhin bei allem editorischen Bemühen punktuell bleiben; sie gibt aber dann an erstaunlich vielen Punkten die Möglichkeit, Einblicke in das zu gewinnen, was den Text ausmacht: einerseits in seine diskursive Intertextualität, andererseits in seine spezifische Genese, da der Kommentar – im Sinn etwa von Pierre Bourdieu – die Strukturzwänge und Ermöglichungsbedingungen der literarischen Produktion im literarischen Feld erkennbar werden lässt.39 4.) Des Weiteren warnt Mathijsen vor einer unhistorischen Zugangsweise zu den Texten, was zunächst ein klarer hermeneutischer Grundsatz ist. Interessanter ist freilich die Frage, ob ein Kommentar eher auf die diskursiven und sozialen Entstehungskontexte abheben soll oder aber ob es Aufgabe des Kommentars sein kann, die geschichtliche Entwicklung nach der Textpublikation zur Grundlage einer Kommentierung und somit einer historischen Einordnung zu machen. – So reizvoll es ist, den offenen Zukunftshorizont historischer Aussagen zu rekonstruieren, fragt sich doch, ob etwa ein Kommentar legitimer Weise bei der Erläuterung antisemitischer Äußerungen in

35 36 37

Vgl. zu diesem Differenzierungsvorschlag: Höpker-Herberg u. Zeller 1993 (Anm. 15), S. 57f. Vgl. Gotthelf 2012 (Anm. 33). Vgl. den Kommentar: Jeremias Gotthelf: Politische Publizistik. Hrsg. von Barbara Mahlmann-Bauer u. Marianne Derron, 2 Teilbände. Hildesheim, Zürich, New York 2012/13 (Historisch-kritische Gesamtausgabe. Abteilung F.1.2&3). 38 Vgl. auch: Christian von Zimmermann: Jeremias Gotthelf und der „Neue Berner-Kalender“ – Überlegungen zu einem Kommentar in der historisch-kritischen Edition. In: Akten des XI. Internationalen Germanistikkongresses Paris 2005: Germanistik im Konflikt der Kulturen. Hrsg. von Jean-Marie Valentin, Bd. 5. Bern et al. 2008 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. Kongressberichte 81), S. 293 – 299. 39 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M. 1999, S. 315f. – Zu Bourdieus Kritik an der ‚critique génétique‘ vgl. auch: Geert Lernout: Genetic Criticism and Philology. In: Text. An interdiscilplinary Annual of Textual Studies 14, 2002, S. 53 –75.

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einem Text der 1920er Jahre die historische Entwicklung des Rassismus zum Holocaust ausblenden dürfte. 5.) Beherzigenswert ist gewiss der Hinweis auf die fünfte von Mathijsen genannte ‚Todsünde‘ des Kommentars („Hydra-Vorgehen“), die darin besteht, in die Erläuterung Begrifflichkeiten, Personennamen, Ortsnamen, Werke etc. aufzunehmen, die selbst wiederum erklärungsbedürftig sind und – stünden sie im kommentierten Text – ohne weiteres auch als zu kommentierendes Lemma ausgezeichnet worden wären. Wohl jeder Kommentar dürfte hierfür Beispiele bieten. Es handelt sich um ein ähnliches Problem, wie es bereits anhand der Trakl-Kommentierung angesprochen wurde: Sehr häufig bedienen sich Kommentatorinnen und Kommentatoren eines fachlichen Jargons und setzen ein Fachwissen voraus, dass Leserinnen und Lesern eine andere (in der Regel höhere) Hürde stellt, als dieselben Kommentatoren ihrer Lemmatisierungspraxis im Umgang mit dem zu kommentierenden Text zugrunde legen. 6.) Ebenso grundlegend ist der sechste Hinweis, der auf die Vermeidung allzu komplexer Verweisungssysteme abzielt. Die Verweisaufforderung an Leser und Leserinnen, zwischen Stellenkommentaren, Glossaren und Registern hin und herzublättern, kann bei komplexen Verweisungen gewiss die Übersichtlichkeit und Benutzbarkeit der Edition beeinträchtigen; gewiss sind auch zirkuläre oder ‚leere‘ Verweise schlicht Fehler des Kommentars. Die Verweisproblematik dürfte bei digitalen Projekten eher zunehmen. Die Hauptprobleme können  – neben dem offenen Zeithorizont eines vielleicht dauerhaften ‚work in progress‘ – in der möglichen Verweisungskomplexität, in der undurchsichtigen Unterscheidung zwischen leeren und gefüllten Verweisungszielen sowie in der Notwendigkeit der Sicherung des Informationsgehaltes externer Daten bestehen. Grundsätzlich sollte als Standard berücksichtigt werden, dass leere interne und externe Verweise graphisch abgehoben als ‚(noch) nicht ermittelt‘ deklariert werden müssen und dass der Verweis auf externe Datenbestände interne Informationen nicht ersetzen kann und nur eine Belegfunktion haben sollte. Der Leser und die Leserin dürfen hier erwarten, dass der digitale Inhalt, auf den verwiesen wird, zumindest als Zusammenfassung ‚intern‘ zugänglich und damit gegenüber Veränderungen, Tilgungen oder ‚Umzug‘ externer Daten gesichert ist. 7.) Dass ein ‚dürrer Stil‘ für die Bereitschaft der Leserinnen und Leser eher abträglich ist, den Kommentar auch zu lesen, versteht sich von selbst. Ein Übermaß an Abkürzung, elliptischen Formulierungen, Verweisungen und unpersönlichem Stil ermüdet gewiss und ein auch individuell geprägter Stil des Kommentars mag auflockernd wirken. So sehr es freilich auch beim Kommentar heißen darf variatio delectat, so bedenkenswert ist etwa der Vorschlag der Georg Büchner-Edition die Kommentierungssprache durch formelhafte Verwendung zu präzisieren und dadurch differenziertere Beschreibungsmöglichkeiten zu erreichen. Insbesondere ging es Burghard Dedner und den Büchner-Editorinnen und -Editoren um die Charakterisierung spezifischer intertextueller Verhältnisse, konkret um die sprachlich präzise und formelhafte Be-

Vom Kommentieren231

zeichnung des jeweiligen Grades der Textabhängigkeit oder der Vorlagenbearbeitung bei der Aneignung literarischer oder anderer Quellen:40 Die besser dokumentierbaren Übereinstimmungen mit historiographischen Quellen nennen wir ‘Übernahmen’; bei quellenbedingter Übereinstimmung mit literarischen Texten sprechen wir entweder von ’Entlehungen’ oder – und zwar meist – von ‘Anregungen’, wobei wir je nach dem Grad unserer Gewißheit unterscheiden, ob es sich vermutlich (‘vmtl.’) oder möglicherweise (‘mglw.’) um eine Anregung handelt [etc.]

Hier ist die Formalisierung der Beschreibungssprache gewiss nicht zu weit getrieben; allerdings macht diese sprachliche Präzision letztlich ein Glossar notwendig, dessen Anlage gewiss nur eine geringe Komplexität und Fülle erlaubt, wenn Leserfreundlichkeit eine Anforderung an den guten Kommentar darstellt. 8.) Grundlegender als die Frage des Stils des Kommentars ist die Frage nach den Grenzen der Kommentierung. Bekannt ist die von Manfred Fuhrmann eingeführte Unterscheidung primärer und sekundärer Dunkelheiten eines Textes.41 Aufgabe des Kommentators könne es nicht sein, dunkle Ausdrücke als Teil einer spezifischen dichterischen Sprache des Textes auszudeuten, vielmehr solle sich der Kommentar darauf beschränken, diejenigen Textstellen zu erläutern, deren bildlicher oder realer Bezug dem damaligen Leser bekannt gewesen ist, dem Zeitgenossen des Kommentators aber erschlossen werden muss. In diesem Sinn wäre der Ausdruck „schwarze Milch der Frühe“ aus Paul Celans berühmter Todesfuge nicht in einen Kommentar aufzunehmen, da der Ausdruck weder einer zu seiner Zeit bekannten Ikonographie oder emblematischen Tradition entnommen ist noch einen in der Kommentierungsgegenwart unbekannt gewordenen Sachverhalt referenziert, der dem heutigen Leser im Kommentar erschlossen werden müsste, sondern der spezifischen poetischen Sprache des Textes angehört, wie sie schon für die Zeitgenossen der Publikation des Textes ‚dunkel‘ sein musste. Umgekehrt wäre der Ausdruck „blaue Milch“ aus einem Text von Jeremias Gotthelf in jedem Fall kommentierungsbedürftig, zumal es sich hier zwar im Kontext um eine ebenfalls der poetischen Sprache des Textes eingefügte spezifische Bildlichkeit handeln könnte, zunächst aber einmal eine Sachreferenz zu klären ist, die dem heutigen Leser nicht mehr ohne weiteres vertraut ist; die historisch-kritische Gotthelf-Edition kommentiert daher: „Stark entrahmte oder mit Wasser versetzte Milch schimmert bläulich; ausserdem verfärbt sich die Milch je nach Verfälschungsgrad mehr oder weniger blau, wenn der Käser zur Milchprobe einige Tropfen Jodtinktur in die Milch tröpfelt“.42 Im vorliegenden Fall würde man die fehlende Aufnahme des Ausdrucks „schwarze Milch der Frühe“ in eine kommentierte Celan-Edition freilich dennoch als Kommentierungsfehler ansehen dürfen. 40

Georg Büchner: Danton’s Tod. Marburger Ausgabe, Band 3.4: Erläuterungen. Bearbeitet von Burghard Dedner unter Mitarbeit von Eva-Maria Vering u. Werner Weiland. Darmstadt 2000, Vorbemerkung, S. 3. 41 Manfred Fuhrmann: Kommentierte Klassiker? Über die Erklärungsbedürftigkeit der klassischen deutschen Literatur. In: Warum Klassiker? Ein Almanach zur Eröffnungsedition der Bibliothek deutscher Klassiker. Hrsg. von Gottfried Honnefelder. Frankfurt a. M. 1985, S. 37– 57. 42 Gotthelf 2012 (Anm. 33), Teilbd. 1, S. 356.

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Zumindest spricht einiges dafür, „schwarze Milch der Frühe“ in einen Kommentar aufzunehmen, auch wenn es sich gewiss verbietet, bei einer in dieser Weise interpretationsoffenen Bildlichkeit im Kommentar eine Deutung anzubieten. Gerade aber bei Hochkanontexten wie der Todesfuge, die vielfach interpretiert worden ist, könnte es eine Aufgabe des Kommentars sein, stellenbezogene Deutungsversuche im Kommentar zu dokumentieren. Wichtiger wäre freilich eine weitere Kommentarfunktion. Der Kommentar müsste an dieser Stelle wohl darauf verweisen, dass Celan nicht der erste Urheber dieser Bildlichkeit gewesen ist. Für die Leserin und den Leser erschlösse erst der Kommentar den Bezug zu Yvan Golls französisch und deutsch geschriebenem Gedicht Chants des Ivaincus auf, in welchem die Wendung „schwarze Milch des Elends“ ebenfalls von konstitutiver Bedeutung für das Gedicht ist. Da auch zur Anschlussproblematik, ob es sich bei Celans vermutlicher Übernahme der Wendung um ein urheberrechtlich relevantes Plagiat handelt, bereits Studien gibt, wäre wohl auch auf diese Frage in einem Kommentar einzugehen.43 Die im Hintergrund relevante Affäre um die Vorwürfe von Claire Goll, Paul Celan habe Yvan Goll plagiiert, wäre wohl ebenfalls erwähnenswert. In der vorliegenden kommentierten Celan-Ausgabe findet sich zwar das Lemma, die dortigen Eintragungen liefern jedoch keinen stellenbezogenen Hinweis auf die hier geschilderten Verhältnisse, sondern bieten eine poetologische Selbstdeutung aus Celans Büchner-Rede sowie Celans Anstreichung in einem Zeitungsartikel, in welchem er 1964 eine ähnliche Formulierung wiederfand.44 Gegenüber diesen späten Zeugnissen werden die für die im hier vertretenen Sinn ‚textgenetischen‘ Verhältnisse relevanteren Plagiatsvorwürfe zwar in der Einleitung zum Kommentar der Todesfuge pauschal benannt,45 aber eben nicht unter Nennung der Bezugstexte im Werke Golls oder der Stellen im zu kommentierenden Gedicht. Unabhängig vom konkreten Kommentar zeigt sich, dass die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Dunkelheiten des Textes als Richtlinie für die Aufnahme eines Lemmas in den Kommentar ungeeignet und unterkomplex ist, da sie nicht sämtliche möglichen Funktionen eines Kommentars berücksichtigt. 9.) Eine grundlegende Kritik an der Praxis des Kommentars hat auch Michel Foucault formuliert, der dabei freilich insbesondere auf den biographischen oder ‚intentionalen‘ Kommentar abzielte, der darlegen wolle, was eine Autorin oder ein Autor mit dieser oder jener Wendung intendiert habe. Foucaults Ausführungen lassen sich als Grundlage einer kontextuellen und diskursiven Kommentierungspraxis verstehen. 43

Vgl. Peter Garloff: „EBER“, „URHEBER“. Das „schicksalhaft Einmalige“ und die juridische Individualität in Celans Dichtung. In: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 8, 2004, S. 128 –167. 44 Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hrsg. und komm. von Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M. 2003, S. 608. – Ein Online-Kommentar der „Todesfuge“ von Eric Horn weist die Textstelle aus und nennt drei weitere mögliche Bezüge (Rose Ausländer, Alfred Margul-Sperber, alttestamentliche Klagelieder); der Streit um das mögliche Goll-Plagiat bleibt unerwähnt (http://www.celan-projekt.de/verweis-milch.html; zuletzt ges. 11.03.2013). Zu möglichen Prätexten vgl. zusammenfassend: Jean Bollack: Dichtung wider Dichtung. Paul Celan und die Literatur. Göttingen 2006, S. 50 – 54. – Zusätzlich könnte noch auf Prudentius’ „Psychomachia“ (Vers 469) verwiesen werden. 45 Ebd., S. 607.

Vom Kommentieren233

Für eine solche Praxis wäre „[d]er Sinn einer Aussage […] nicht definiert durch den Schatz der in ihr erhaltenen Intentionen, durch die sie zugleich enthüllt und zurückgehalten wird, sondern durch die Differenz, die sie an andere, wirkliche und mögliche, gleichzeitige oder in der Zeit entgegengesetzte Aussagen anfügt“,46 und der Kommentar fahndete so im Sinn Foucaults nach der „systematische[n] Gestalt der Diskurse“ als dem Ermöglichungsraum des konkreten Textes. Einer biographischen Lektüre, die sich zu klären bemühte, warum und zu welchem Zweck eine Autorin oder ein Autor diesen oder jenen Text geschrieben hat und wie er autorgemäß zu verstehen wäre, ist gewiss eine Kommentierung vorzuziehen, welche die Aussagen des Textes im Rahmen historischer und medialer Aussagemöglichkeiten unterscheidend als Position erkennbar werden lässt. 10.) Als ein Risiko des Kommentars, welches freilich zu einer eigenen Kunst der Wissensverarbeitung und -archivierung ausgeführt werden könne, benennt Hans Ulrich Gumbrecht die Tendenz des Kommentars, den zugrunde gelegten Text in Lemmata zu atomisieren. Der fortlaufende Textzusammenhang (oder die Illusion einer syntagmatischen Kohärenz) werde zugunsten einer ‚parasitären‘, ‚supplementären‘ Texterweiterung im Kommentar ersetzt, welche den Textzusammenhang aufzulösen drohe, aber – im besonderen Fall – als eigene Wissenstopik funktionieren könne, in welcher umfassende Wissensstände an einen Text und eine Texttradierung angelagert werden, ohne dass der ‚ästhetische Genuss‘ des Basistextes noch das Ziel der Kommentierung sein müsse.47 Gumbrechts Hinweis auf die mögliche Atomisierung der Texte durch den Kommentar ist im Hinblick auf die Möglichkeit zur Wissensanlagerung an Texte gewiss eine interessante strukturelle Beobachtung; gleichwohl wäre sie im Hinblick auf den Lektüreprozess deutlich zu relativieren, denn weniger als sich dies vielleicht mancher Kommentator und manche Kommentatorin wünschen mögen, neigt der Kommentar zu einer dekonstruktivistischen Auflösung des Syntagmas zugunsten einer gewiss reizvollen Reise durch die angelagerten Wissensstände. Den Leserinnen und Lesern freilich im Zuge der syntagmatischen Lektüre punktuell die Öffnung des Paradigmas zu ermöglichen, ohne sie auf diese Seitenwege zu verpflichten, gehört zu den wünschenswerten Dienstleistungen der Kommentierung.

4. Interpretation, Vermittlung, Sacherläuterung als Aufgaben des Kommentars Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich rasch, dass es nach der hier vertretenen Auffassung auch keine klare Ablehnung interpretierenden Kommentierens geben kann. Lothar Bluhms Fazit aus seiner Kritik der Trakl-Edition wäre daher zu bekräftigen:48 46 47

Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. München 1973, S. 15. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten. Übers. von Joachim Schulte. Frankfurt a. M. 2003, S. 69 – 87, bes. S. 82 – 84. 48 Bluhm 2010 (Anm. 24), S. 144.

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Die Schwierigkeiten etwa einer gültigen Grenzziehung zwischen Erläuterung und Interpretation oder der angemessenen Berücksichtigung von intertextuellen Bezügen scheinen mir zweitrangig gegenüber der Notwendigkeit, den Verlust an historischem und kulturellem Wissen auszugleichen.

Gleichwohl wäre auch die Frage nach dem Ort der Interpretation differenzierter zu betrachten. Zunächst möchte ich kurz auf das Kommentierungskonzept in der Edition von Goethes epischen Werken „Die Leiden des jungen Werthers – Die Wahlverwandtschaften – Kleine Prosa – Epen“ eingehen, die Waltraud Wiethölter in Zusammenarbeit mit Christoph Brecht im Rahmen der Goethe-Edition im Projekt des Deutschen Klassiker-Verlages publiziert hat.49 Der Kommentar umfasst lediglich etwa ein Viertel der Edition, was vor allem zu Lasten des Stellenkommentars geht, der im Fall der „Wahlverwandtschaften“ gegenüber einem 44seitigen Einleitungskommentar gerade einmal 36 Seiten einnimmt. Das Konzept des Einleitungskommentars umfasst „Entstehung“, unkommentierte „Äusserungen Goethes“, einen umfassenden essayistischen Text „Zur Deutung“ sowie eine Bemerkung zur „Textgrundlage“. Die von Frühwald genannten Kommentarpflichtteile „Textkritik“, „Quellenkritik“, „Text-Analyse“ und „Werk-Rezeption“ werden durchaus berücksichtigt, und quellenkritische und rezeptionsgeschichtliche Bemerkungen bilden ohne eine ausführliche Dokumentation einen integrativen Teil der Darstellungen „Zur Deutung“. Der sehr gut lesbare Einleitungskommentar trägt Hintergründe zum Textverständnis und Interpretationsansätze für interessierte Leserinnen und Leser zusammen, verzichtet aber auf einen für das akademische Fachpublikum unverzichtbaren genauen Nachweis der Forschungsliteratur, die nur in ihren Ergebnissen benannt wird. Ein Literaturverzeichnis im Anhang gibt Auskunft über ausgewählte Studien zu Goethes Roman. Mehr als eine Einführung in die Lektüre bietet der Einleitungskommentar nicht – dies allerdings in sehr ansprechender Weise. Der Stellenkommentar geht über Wort-, Sach- und Namenserläuterungen oder Zitatnachweise hinaus und liefert vielfach Hinweise zur Ausdeutung bildlicher und mythologischer Anspielungen, Hinweise zum Spiel des Romans mit Namen und Schauplätzen sowie nicht allzu selten auch Hinweise zu weitergehenden interpretatorischen Aspekten. Letzteres gilt insbesondere für die Ausdeutung vieler Textstellen im Hinblick auf einen Bezug zum Melancholiediskurs und Symptomatiken des Melancholikertypus. Wie schon beim Einleitungskommentar ist hier eine ‚wissenschaftliche‘ Stellenkommentierung nicht angestrebt; eher handelt es sich um den Versuch, eine der Editorin oder dem Editor wichtige Lesart kommentierend zu vermitteln und folgt damit der von Gunter Martens kritisierten falschen Tendenz des Kommentierens, spezifischen „Sinnzuweisungen aus einer Fülle von Möglichkeiten und Alternativen“ den Vorzug zu geben, ohne andere Deutungen zuzulassen.50 Das führt mitunter auch zu suggestiv-didaktischen Phrasen, die in einem wissenschaftlichen Kommentar sicher

49

Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Die Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa. Epen. Hrsg. von Waltraud Wiethölter in Zusammenarbeit mit Christoph Brecht. Frankfurt a. M. 2006 (DKV Taschenbücher 11). 50 Martens 1993 (Anm. 15), S. 38.

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deplatziert wären, z.B.: „Die Funktion der Novelle als einer antithetischen Spiegelung der Romanhandlung ist leicht erkennbar.“51 Die Kommentierung der Textstelle, an der Eduard den Koffer als Geschenk für Ottilie in Auftrag gibt, als intertextueller Bezug zum Mythos von der Büchse der Pandora bedürfte zumindest einer eingehenderen Argumentation (als Rechtfertigung des Kommentars).52 Während so kommentiert wird, was nicht nahe zu liegen scheint, lässt der Stellenkommentar viele Fragen, die sich einem nichtwissenschaftlichen Lesepublikum stellen dürften, offen (z. B. zur Mode der Rezitation und Deklamation). Die Kommentierungspraxis, wie sie sich in der Studienausgabe der „Wahlverwandtschaften“ darbietet, könnte als vermittelnd und teils als didaktisch verstanden werden, ist an ein Publikum gerichtet, das nicht an den literaturwissenschaftlichen Fachdiskussionen teilnimmt. Der Kommentar vermittelt dabei nicht allein den Text, sondern er vermittelt auch die Rezeptionsgeschichte sowie die Ergebnisse der Goethe-Forschung, wobei auch eigenwillige Interpretamente der Kommentatoren präsentiert werden, also einem interpretierenden Kommentar nicht ausgewichen wird. Die Edition steht damit in der Tradition der Hamburger Studienausgabe von Erich Trunz,53 weist aber eine besonders deutliche Neigung zur Deutung auf. Längst nicht alle Editionen, die im Rahmen des Programms des Deutschen Klassiker-Verlages erschienen sind, folgen dieser Praxis. Als Beispiel eines anderen Verfahrens sei die Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen-Edition von Dieter Breuer genannt. Breuer beschränkt sich im Stellenkommentar zum Simplicissimus Teutsch auf Sach- und Spracherläuterungen, Bezüge innerhalb des Autorwerkes sowie die literarischen und diskursiven Kontexte.54 Der Stellenkommentar ist dabei auch sprachlich möglichst knapp gefasst; die vergleichsweise hohe Dichte der Erläuterungen entspricht dem Informationsbedarf, den auch fachkundige Leserinnen und Leser haben, um den Text sprachlich und sachlich (nicht interpretatorisch) zu erschließen. ‚Deutungsaspekte‘ bleiben auf den Einleitungskommentar beschränkt. Dieser Kommentar kann (auch in Bezug auf Einleitungskommentar, Variantenverzeichnung, umfassende Bibliographie und Bildbeigaben) gewiss als mustergültig für die Edition fiktionaler frühneuzeitlicher Texte gelten, wobei freilich einzuräumen ist, dass die textphilologische Gestaltung der Edition umstritten ist.55 Für den Kommentar wäre die Praxis Breuers gewiss gegenüber derjenigen von Wiethölter und Brecht vorzuziehen. Auch wenn eine stärker interpretierende Kommentierung zwar durchaus akzeptabel ist, so müsste sich diese als Ergänzung zu den Erläuterungen verstehen, eher in einer Einleitung diskutiert werden als im Stellenkommentar das leitende Prinzip bilden. Als Grundregel ließe sich mit Jens Stübens 51 52

Goethe 2006 (Anm. 49), S. 1046. Ebd., S. 1035: Der Kommentareintrag beginnt: „Ottiliens Koffer verweist als bedeutsames Requisit auf den Mythos der Pandora […].“ 53 Vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth: Goethe-Editionen. In: Nutt-Kofoth u. Plachta 2005 (Anm. 5), S, 95 –116, hier S. 109. 54 Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Werke. Hrsg. von Dieter Breuer, 2 Bde, Bd. I. Frankfurt a. M. 1989/1992. 55 Ferdinand van Ingen: Grimmelshausen-Editionen („Simplicissimus“). In: Nutt-Kofoth u. Plachta 2005 (Anm. 5), S.117–140, hier S. 128.

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Christian von Zimmermann

Resümee der von ihm vorgenommenen Sichtung von Stellungnahmen zum Problem des Kommentars formulieren:56 Es kommt auch bei der Kommentierung – wie bei allen übrigen editorischen Tätigkeiten – nicht darauf an, die Interpretation um jeden Preis zu meiden, sondern im Gegenteil darauf, sich ihrer Unterstützung zu bedienen, sie jedoch als solche zu kennzeichnen, um Subjektives intersubjektiv mitteilbar und überprüfbar zu machen.

5. Aufgaben des Kommentars im Rahmen einer historisch-kritischen Gesamtausgabe Wer Texte kommentiert, geht davon aus, dass diese nicht lediglich aus dem Bestand von Zeichen oder von Phänomenen auf einer Handschrift bestehen, sondern ein Ganzes bilden, welches durch relationale Bezüge auf Kontexte hin bestimmt wird und also mehr ist als das ‚Schwarzaufweiß‘ der Lettern. Offenbar hat der Kommentar zwei zentrale Funktionen: zum einen die Vermittlung historischer Wissensstände für heutige Leserinnen und Leser, zum anderen die Ergänzung der textphilologischen Beobachtungen der Textgenese (und etwa des schöpferischen Prozesses auf dem Blatt der Handschrift) durch die intellektuellen Aspekte der Textgenese im Sinn einer diskursgeschichtlichen Bestimmung des Textes im Horizont der Aussagemöglichkeiten und der Ermöglichungsbedingungen des Textes. Der Kommentar sollte also die sprachliche und sachliche stellenbezogene Erläuterung des Textes liefern, diejenigen Referenzen und Kontexte des Textes auflösen, die den Zeitgenossen zugänglich sein konnten, im Leserprofil der Edition aber nicht mehr vorausgesetzt werden können. Die vorstehenden Betrachtungen sollen vor allem einmal mehr zu einer Diskussion über Theorie und Methoden des Kommentars anregen. Die Frage, welche Anforderungen an einen guten Kommentar zu stellen sind, muss als weitgehend ungeklärt betrachtet werden. Abgesehen davon, dass Kürze wohl als ein wichtiges Qualitätshindernis anzusehen ist, lassen sich derzeit eher mögliche Fehlerquellen benennen und vor allem die Aufgaben bestimmen. Die Aufgaben des Kommentars einer historisch-kritischen Gesamtausgabe liegen meines Erachtens in folgenden Bereichen: 1) Der Kommentar muss die Textgenese klären, das heißt, er soll Informationen zu den diskursiven Voraussetzungen enthalten, die Textproduktion im Kontext der sozialen Autorrolle (und etwa des Habitus als Selbstverständnis einer Berufs- oder Autorgruppe) sowie im Rahmen einer Inszenierung des Autors im literarischen Feld erläutern. Schließlich gehören die (heute häufig stark in den Vordergrund gerückten) unmittelbaren Bedingungen und Prozesse der Verschriftlichung in den Bereich der Textgenese. 2) Der Kommentar soll Rhetorik, Gattungsbezogenheit, Medialität und weitere Aspekte der ästhetischen Faktur des Textes erläutern. 3) Dem Kommentar fällt zudem die Aufgabe zu die intentionalen und historischen Kontexte zu erhellen. Auf welche unmittelbaren sozialen, politischen, literarischen, medialen Kontexte ist ein Text in seiner spezifischen Faktur und seinen spezifischen Gehalten intentional

56

Jens Stüben: Edition und Interpretation. In: Nutt-Kofoth 2000 (Anm. 17), S. 263 – 302, hier S. 302.

Vom Kommentieren237

bezogen? Welche konkreten Wirkungen hat er entfaltet und wie ist er rezipiert worden? 4) Zu den Aufgaben des Kommentars zählt weiterhin die Vermittlung des relevanten Kontextwissens. Dabei wird eine spezifisch bestimmbare oder allgemeine Leserschaft adressiert, und je nach Adressierung ist eine eher fachwissenschaftliche oder eher didaktische Darstellung wählbar.

Abstract In Germanistic philological editing, theoretical discussion on the commentary as­ sumes traditionally a secondary role compared to the manifold contributions on other subjects of textual philology. Already in 1924, Georg Witkowski admonished to enhance scholarly debates on the commentary, and the claim has since been repeated several times. This paper reflects current discussions in the context of contemporary annotation practice, wishing to trigger new considerations of how the intellectual genesis of text and the contexts of literary works can be adequately illustrated in the commentaries.

Editorische F allbeispie le

Freimut Löser

Wege des Textes Sieben Fragen zur Edition der Deutschen Predigten Meister Eckharts

Die deutschen Predigten Eckharts liegen, nach der ersten Ausgabe Franz Pfeiffers von 1857,1 heute in der Form vor, die ihnen Josef Quint von 1936 bis zu seinem Tod 1976 in Vorstudien und in drei Bänden der Stuttgarter Ausgabe gab, gefolgt vom bisher nicht abgeschlossenen 4. Band, verantwortet auch unter meiner zeitweisen Mitarbeit seit 1982 bis heute von Georg Steer.2 Eine (zufällig gewählte) Predigt soll herausgegriffen werden, um an diese Texte siebenmal aus verschiedener Perspektive dieselbe Frage zu stellen: Stammen sie von Meister Eckhart? Die Perspektiven betreffen erstens Echtheitskriterien, zweitens Textgestalt und Quellen, drittens Textgestalt und Autorvarianz, viertens Textgestalt und Redaktionscharakter, fünftens Textgestalt und Region, sechstens Textgestalt und Textzeugen, siebtens die Frage danach, ob die Texte als Einzelpredigten und/oder vernetztes System zu behandeln sind. Im Zentrum der Überlegungen steht der folgende Text: ‘Marîâ stuont ze dem grabe und weinete’. Ez was wunder, alsô sêre als si betrüebet was, daz si weinen mohte. »Minne machete sie stânde, leide weinende«. ‘Dô gienc si vürbaz und luogete in daz grap’. Si suochte einen tôten menschen ‘und vant zwêne lebendige engel’. O r ige ne s sprichet: si stuont. War umbe stuont si, und die aposteln wâren gevlohen? – Si enhâte niht ze verliesenne; allez, daz si hâte, daz hâte si an im verlorn. Dô er starp, dô starp si mit im. Dô man in begruop, dô begruop man ir sêle mit im. Dar umbe enhâte si niht ze verliesenne. ‘Dô gienc si vürbaz’; dô begegente er ir. ‘Dô wânde si, daz er ein gartenære wære, und sprach: ‚wâ hât ir in hine geleget?‘’ Si was alsô gar an in vervlizzen, daz si sîner worte niht dan ein behalten hâte: ‘‚wâ hât ir in hine geleget?‘’ Daz sprach si ze im.3

1 2

Franz Pfeiffer: Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, Bd. 2. Leipzig 1857. Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Herausgegeben im Auftrage der deutschen Forschungsgemeinschaft. Die deutschen Werke Bd.  I – III. Hrsg. von Josef Quint. Stuttgart 1958 –1976; Bd. IV. Hrsg. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek, Freimut Löser u. Heidemarie Vogl. Stuttgart 1997ff. (im Folgenden zitiert als DW I – IV, 2). 3 DW II, Nr. 56, S. 588 und Übersetzung Quints in DW II, S. 745: ʻMaria stand bei dem Grabe und weinteʼ. Es war ein Wunder, daß sie, so sehr sie betrübt war, weinen konnte. »Liebe verursachte, daß sie stand, Leid, daß sie weinte«. ʻDa ging sie weiter vor und lugte in das Grabʼ. Sie suchte einen toten Menschen ʻund fand zwei lebendige Engelʼ. Origenes sagt: Sie stand. Warum blieb sie stehen, während die Apostel geflohen waren? – Sie hatte nichts zu verlieren; alles, was sie besaß, das hatte sie in ihm verloren. Als er starb, da starb sie mit ihm. Als man ihn begrub, da begrub man ihre Seele mit ihm. Darum hatte sie nichts zu verlieren. ʻDa ging sie weiter vorʼ; da begegnete er ihr. ʻDa wähnte sie, daß er ein Gärtner wäre, und sprach: „Wo habt ihr ihn hingelegt?“ʼ Sie war so ganz um ihn beflissen, daß sie von Worten nur eines behalten hatte: ʻ„Wo habt ihr ihn hingelegt?“ʼ < Joh. 20,15> Das sagte sie zu ihm.

242

Freimut Löser

Die Aussage, dies sei der Beginn von Meister Eckharts deutscher Predigt Nr. 56, ist in mehrfacher Hinsicht fragwürdig:

1. Echtheitskriterien Die erste Frage zielt auf die Echtheitskriterien: Stammt die Predigt 56 von Meister Eckhart? Und wie lässt sich das feststellen? Eckhart wurde 1326 in Köln einem Prozess unterzogen; dazu wurden Sätze aus seinen Predigten extrapoliert und unter Häresieverdacht gestellt. Darauf wiederum hat Eckhart in einer – eher fälschlich so genannten – ‚Rechtfertigungsschrift‘ Bezug genommen und seine Lehre wie seine Einzelsätze verteidigt. Damit war aus der Forschungsperspektive auch eine Sonde für die Bezeugung der Autorschaft von Eckhart-Predigten gefunden; denn handschriftlich überlieferte deutsche Predigten, in denen sich Sätze aus dem Eckhart-Prozess fanden, mussten eben jene dort zitierten Predigten sein, folglich von Meister Eckhart stammen; solche Predigten waren ‚echt‘! Josef Quint, der sich im Rahmen der kritischen Edition zuallererst diese Echtheitsfrage stellte – und stellen musste –, hat einen einfachen und seinerzeit zwingenden Schritt gewählt: Er hat zunächst die Predigten gesucht, die seiner Auffassung nach mithilfe dieser Sonde als Eckhart-Texte zu identifizieren waren. Quint hat die Edition aber auch nach diesen Gesichtspunkten geordnet. Was die Predigten betrifft, so hat er die Stücke dem Grade der Echtheit nach aufeinander folgen lassen. Die relativ sicherste Bezeugung innerhalb des Umkreises der deutschen Werke des Meisters ist fraglos diejenige durch die sogenannte Rechtfertigungsschrift des Jahres 1326, und so ergab sich für [...] die deutschen Predigten, eine erste, gesicherteste Gruppe von Stücken, aus denen nachgewiesenermaßen Sätze oder Abschnitte in lateinischer Übersetzung in die Akten des Kölner Inquisitionsprozesses aufgenommen worden sind. Für einen Teil dieser Stücke bezeugen [auch ein] ‚Gutachten‘ aus dem in Avignon gegen Eckhart durchgeführten Untersuchungsverfahren und die Verurteilungsbulle ‚In agro dominico‘ Jonannes XXII. die Echtheit, indem sie [ebenfalls] Stücke aus den betreffenden Predigten als häretisch, häresieverdächtig oder anstößig aufführen.4

Dieses Kriterium der Erwähnung in den Prozessunterlagen kann natürlich nicht das einzige sein; Quint hat – verfolgt man seine einleitenden Äußerungen zu den Einzelbänden seiner Ausgabe sowie seine Vorbemerkungen zu den Einzelpredigten – die Echtheit der Predigten nach folgenden sieben, in dieser Reihenfolge aber abgestuften Kriterien beurteilt. Dabei entspricht die Hierarchie der Kriterien der Hierarchie der Anordnung in der Ausgabe: 1. Zeugnis der ‚Rechtfertigungsschrift‘ und der Prozess­ akten; 2. Übereinstimmung in Thema und Ausführung im Ganzen mit Stücken des für Eckhart gesicherten lateinischen Opus Sermonum; 3. Rückverweise der Predigten auf andere Texte Eckharts; 4. handschriftliche Bezeugung für Eckhart; 5. charakteristische inhaltliche Parallelen in sicher echten Predigten, den Traktaten und den lateinischen Werken; 6. eckhartische Stilmerkmale; 7. Aufbauskizze der Predigt. Ich

4

J. Quint in DW I, S. XIX; meine Hervorhebung.

Wege des Textes243

wäre bei den Kriterien 6 und 7 ausgesprochen zurückhaltend und würde dafür plädieren, dass die Kriterien 3 und 4 eine stärkere Beachtung verdienen als bisher (dazu später).5 Dem Lebenswerk Josef Quints gebührt höchster Respekt. Er konnte zu seiner Zeit nicht anders verfahren. Dieses Verfahren hat freilich erhebliche Auswirkungen, von denen auch die Fortsetzung der Quint’schen Edition seit 1982 betroffen war und ist, die durch Georg Steer unter meiner, Wolfgang Klimaneks und Heidemarie Vogls Beteiligung erfolgte. Ein hervorstechender Punkt ist dabei die Anordnung der Predigten (und damit ihr ‚Sitz im Leben‘): Josef Quint gliederte seine Predigt-Edition (DW I – III) hierarchisch nach der von ihm angenommenen Sicherheit der Echtheit der Predigten:6 Alle anderen Anordnungsprinzipien, die man hätte wählen können […], so etwa die in den großen Predigtsammelhandschriften des Mittelalters geläufige Anordnung der einzelnen Stücke nach dem Kirchenjahr oder die Zusammenfassung von einzelnen Predigten nach dem Inhalt, erwiesen sich bei genauer Prüfung als ungeeignet oder zum mindesten für die vorliegende Ausgabe als ungeeignet. So folgen denn in dieser Ausgabe auf die durch die lateinischen Prozessakten für Eckhart gesicherten Predigten zunächst diejenigen Stücke, die handschriftlich am häufigsten dem Meister zugewiesen sind. In der Folge schließen sich ihnen die äußerlich immer schwächer bezeugten Stücke an, bis zum Schluss diejenigen Predigten geboten werden, deren Echtheit nur auf Grund innerer oder indirekter Kriterien gesichert oder wahrscheinlich gemacht werden kann.7

Quint verfolgte konsequent seine Orientierung am Prozessmaterial und an dem, was ich als seine ‚Echtheitssonde‘ bezeichnen möchte. Beides wiederum hat erhebliche Konsequenzen, denn mit dem gegenwärtig entstehenden Band IV, 2 der Predigten ist die Edition, die von Quint begonnen wurde, am Punkt zweifelhafter Echtheit angekommen. Was künftig bleibt, sind häufig keine eigentlichen Predigttexte, sondern z. B. Texte des Liber positionum, Traktatexzerpte und Ähnliches, Texte allesamt, die mit den Quint’schen Kriterien nicht für Eckhart zu sichern sind. Das heißt: In der Konsequenz der Quint’schen Methodik selbst ergibt sich spätestens hier zwingend ein Paradigmenwechsel von der ‚Echtheit‘ des angenommenen Autortextes zurück zur Überlieferung.

5

Unter handschriftlicher Bezeugung (Kriterium 4) verstehe ich die Tatsache, dass ein Text von mittelalterlichen Schreibern Meister Eckhart namentlich zugeschrieben wird. Aber auch hier wird man vorsichtig und differenzierend abwägen: Ein Hinweis des Sammlers Daniel Sudermann wie „Eckhart, halt ich, oder Tauler“, verrät schon durch seine Formulierung den tastenden unglaubwürdigen Zuschnitt der Zuschreibung; an den genauen Bestimmungen in der Sammlung des Paradisus anime intelligentis hingegen ist kein Zweifel angebracht. Und mehr noch: Ist nicht die Tatsache, dass eine bisher unbeachtete Predigt, die weder von Pfeiffer noch von Quint oder anderen ediert wurde, inmitten von anderen Eckhart-Predigten in bekannten Eckhart-Sammlungen steht, als Hinweis – als erster Hinweis – auf Eckharts Autorschaft zu lesen? 6 Er tat dies in vier absteigenden Abteilungen: An erster Stelle stehen die durch die Zitierung in den Prozessakten gesicherten Predigten, die vierte und letzte Abteilung bilden DW III, Nr. 60 – 86: durch Rückverweise auf Textparallelen in DW II und aufgrund beachtlicher Übereinstimmungen mit DW I, DW  II, DW V (= Traktate) und den lateinischen Werken als echt erweisbare Predigten. Quint hat dabei von Anfang an auf einer solchen hierarchischen Anordnung bestanden und die Edition konsequent nach diesem Muster gestaltet. 7 J. Quint in: DW I, S. XX.

244

Freimut Löser

Quint hat sich selbst auch nicht an die von ihm vorgesehene Methode gehalten. Er hat sein viertes Kriterium, die Orientierung an den Handschriften („Stücke, die handschriftlich am häufigsten dem Meister zugewiesen sind“), verlassen und zu keinem Zeitpunkt eine letztlich konsequente Untersuchung der Handschriften vorgenommen. Das gleiche gilt leider für die Fortsetzung der Edition durch Georg Steer und seine Arbeitsgruppe (der auch ich angehörte), die im Wesentlichen auf Quints Handschriftenheuristik aufbaute, aber keine eigene vornahm. Das hat dazu geführt, dass ich in den letzten Jahren  – neben Neufunden ganzer Handschriften (z. B. in Gotha und London) und Fragmentfunden zu bekannten Texten durch eine Reihe von Forschern – mehr oder minder ‚zufällig‘ auch mehrere Predigten entdecken konnte, die für Meister Eckhart zu sichern waren (und dies merkwürdigerweise gerade in bekannten Eckhart-Handschriften).8 Dazu finden sich vermehrt Fragmente bekannter Texte; das letzte ist vor nicht ganz zwei Jahren in Göttingen entdeckt worden und stammt aus Eckharts Lebenszeit; diese Fragmente, vor allem aber die neuentdeckten Predigten, verändern das Bild, das wir von Eckhart haben. Im Blick zurück auf die unzureichende Heuristik ist somit eine neue und konsequente Überlieferungs- und Textsicherung vorzunehmen. Hier sind u. a. Germanisten, Handschriftenkundler und Überlieferungsgeschichtler gefordert. Nötig ist die Gesamtsichtung aller beteiligten Handschriften (auch gerade der bekannten). Dabei sind vornehmlich die bisher ausgeklammerten dort überlieferten Texte konsequent in den Blick zu nehmen. Denn Quint hat in den Handschriften letztlich nur das ihm bereits aus älteren Eckhart-Ausgaben (besonders derjenigen Pfeiffers) Bekannte gesucht, dabei nicht identifizierbare Texte ausgeklammert und damit den Blick gar nicht auf mögliche bisher unbekannte Texte Eckharts richten können. Die nötige neue Konzentration auf Überlieferung und Handschriften verschiebt auch die Wahrnehmung des Autor- und Echtheitsbegriffes. Ging es bisher alleine um die Rekonstruktion des ‚echten Eckharttextes‘, will man heute wissen, welche Texte im ausgehenden Mittelalter unter Eckharts Namen gelesen wurden – und wie sie gelesen wurden. So entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem, was man unter ‚Echtheit‘ versteht, und dem, was die Handschriften überliefern. Es geht – und dabei hätte es des Ansatzes einer ‚New Philology‘ gar nicht bedurft – um den Weg der Texte von Eckhart zu den Schreibern. Welche Schreiber sind wie an welchem Eckhart interessiert? Geht es ihnen überhaupt um Echtheit? Geht es ihnen überhaupt um Eckhart? Und: Ist ihr Eckhart das, was wir mit ‚Eckhart‘ meinen? Unser Eckhart ist der Eckhart der kritischen Edition, unser Eckhart ist Quints Eckhart; denn Quints Editionsmethode, die die Echtheitsfrage am Prozess gegen Eckhart orientierte, hatte und hat erhebliche Konsequenzen – gerade für unser Eckhart-Bild: Im Zentrum der Überlegungen stehen Predigten, die in den Prozess gerieten. Und das sind von einem heuristischen Gesichtspunkt aus gesehen sicher echte Predigten, historisch aber

8

Vgl. u. a. Freimut Löser: Als ich mê gesprochen hân. Bekannte und bisher unbekannte Predigten Meister Eckharts im Lichte eines Handschriftenfundes. In: ZfdA 97, 1986, S. 206 – 227, und Freimut Löser: Nachlese. Unbekannte Texte Meister Eckharts in bekannten Handschriften. In: Die deutsche Predigt im Mittelalter. Hrsg. von Volker Mertens u. Hans Jochen Schiewer. Tübingen 1992, S. 125 –149.

Wege des Textes245

sind es – nur – die als häretisch verdächtigten Predigten. Als gesichert echte Eckhart-Predigten gelten somit diejenigen, die häretische oder inkriminierte Aussagen enthalten, Aussagen von höchster Brisanz. Sie stehen am Anfang der Quint-Edition, gelten als unzweifelhaft echt und damit als besonders ‚eckharttypisch‘. Das heißt, der von Quint edierte Eckhart betritt mit einem Paukenschlag die Bühne. Die leiseren, konventionelleren Töne, etwa in einer Predigt, die schlicht ‚Zwölf Früchte des Geistes‘ aufzählt, können leicht und vorschnell für ‚untypisch‘, gar für ‚uneckhartisch‘ gehalten werden. Die bisherige Edition formt so seit 1936 ein spezifisches Eckhartbild: Eckhart, der Prediger mit der Löwenpranke, der von Rom Verfolgte, der deutsche Denker – oder Eckhart, der Häretiker, je nach Standort des Lesers. Der Zugang zu Predigtverfahren, Bibelexegese, zur volkssprachlichen Philosophie oder zur volkssprachlichen Theologie Eckharts, zum liturgischen Kontext bleibt verstellt. Auch der Eckhart, der seine deutschen Predigten als Bibel-Auslegung versteht, wird nicht wirklich erfasst. Ganz ins Hintertreffen gerieten zudem die in der Nummern-Reihenfolge später eingeordneten Predigten der Quint-Edition, erst recht die aus DW IV, eben die nach Quints Kriterien absteigenden – weniger echten? – höheren Predigtnummern.9 Auch die als Beispiel gewählte Predigt Nr. 56 ist nicht im Prozess verwendet worden und recht weit von den „sicher echten“ Predigten des Prozesses entfernt. Wie ist dann ihre ‚Echtheit‘ überhaupt zu sichern? Quint bemerkt, die Predigt enthalte zwar keinerlei Rückverweise auf andere, „echte“ Eckharttexte, ihre Echtheit scheine aber „nicht nur durch die ausdrückliche Zuweisung in OH2 [die beiden Handschriften der bekannten Sammlung Paradisus anime intelligentis], sondern zudem durch charakteristische Übereinstimmungen mit der voraufgehenden Predigt [Nr. 55] auf denselben Schrifttext gewährleistet zu sein.“ Die Echtheit werde „weiterhin bestätigt durch inhaltliche Übereinstimmungen mit Stellen der Pseudo-Origenes-Homilie, die sich [auch] in der voraufgehenden Pr. 55 [...] Eckharts finden.“10 Was für Quint die Echtheit sichern soll (Berührungen mit Predigt 55 und Übereinstimmungen mit einer Pseudo-Origenes-Homilie), macht sie doch aber erst einmal gerade fragwürdig. Denn warum gibt es zwei Predigten (55 und 56), die zudem beide in einem engen Verhältnis zueinander und zu einer lateinischen Predigt stehen, die freilich nicht Eckhart, sondern einen ‚Pseudo-Origenes‘ zum Verfasser hat? Ein zweites Mal muss für Predigt 56 also dieselbe Frage gestellt werden: Stammt sie von Eckhart? Der Fokus liegt dabei jetzt auf der Frage nach Textgestalt und Quellen.

2. Eckharts Text oder Text der Quelle? In den letzten Jahren wurde die Arbeit an den Quellen Eckharts vielfältig vorangetrieben. Insbesondere der Herausgeber der lateinischen Werke, Loris Sturlese, und seine

9

Man vergleiche etwa die immer noch anhaltende Diskussion um die Echtheit der bekannten Maria-Martha-Predigt, die dadurch beflügelt wurde und wird, dass sie in der Quint-Edition erst den 86. Platz einnimmt, den Quint’schen Kriterien zufolge somit als nur unzureichend für Eckhart gesichert gilt. 10 DW II, S. 586.

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Freimut Löser

‚Schule‘ in Lecce haben sich mit diesem Aspekt befasst.11 Klärungen gab es dabei besonders im Bereich der arabischen und neuplatonischen Philosophie, aber auch im Bereich der Theologie z. B. bei Eckharts Verhältnis zu Thomas oder zuletzt bei seinem Verhältnis zu Augustinus, dem eine Jahrestagung der Meister-Eckhart-Gesellschaft gewidmet war12 und das ich auch aus germanistisch-philologischer Sicht untersuchen konnte.13 Denn das Verhältnis zu den Quellen ist auch philologisch und editorisch von Relevanz. Hier eröffnet sich ein Feld interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Germanisten und Philosophiehistorikern, zwischen Spezialisten für deutsche und für lateinische Texte. Wie weit im Einzelfall selbst ein origineller Denker wie Eckhart seinen Quellen folgen kann, dafür sind die zufällig gewählten Predigten 55 und 56 und ihr Verhältnis zur sogenannten Pseudo-Origines-Homilie ein gutes Beispiel. Eckharts Vorlage, die weitverbreitete, lateinische Predigt des späten 12. oder frühen 13. Jahrhunderts aus französisch-zisterziensischen Kreisen galt den mittelalterlichen Benutzern durchweg als Werk des Origenes.14 Eckhart hat sie – wie wir jetzt wissen – ausgiebig benutzt.

Predigt 56

Pseudo-Origenes-Text

‘Marîâ stuont ze dem grabe und weinete’. Ez was wunder, alsô sêre als si betrüebet was, daz si weinen mohte. „Minne machete sie stânde, leide weinende“.

Maria autem stabat ad monumentum foris plorans

‘Dô gienc si vürbaz und luogete in daz grap’. Si suochte einen tôten menschen ‘und vant zwêne

Inclinavit se, et prospexit in monumentum. Quaerebat enim unum hominem mortuum et invenit duos pro uno, angelos pro homine, viventes pro mortuo. Origines respondet

lebendige engel’. Or i g e n e s sprichet: si stuont. War umbe stuont si, und die aposteln wâren gevlohen? – Si enhâte niht ze verliesenne; allez, daz si hâte, daz

11 12

Amor faciebat eam stare, et dolor cogebat eam plorare.

sed neque ibi erat ubi erat, quia tota ibi erat ubi magister erat, de quo tamen ubi esset nesciebat.

Studi sulle fonti di Meister Eckhart. Hrsg. von Loris Sturlese, Bd. I. Freiburg 2008. Jahrestagung der Meister-Eckhart-Gesellschaft 2007, „Meister Eckhart und Augustinus“, Freitag, 23. März, bis Sonntag, 25. März, Residenz, Südflügel (Toscanasaal) zu Würzburg, publiziert in: Meister Eckhart und Augustinus. Hrsg. von Rudolf Kilian Weigand u. Regina D. Schiewer. Stuttgart 2011 (Meister-Eckhart-Jahrbuch 3). 13 Freimut Löser: Augustinus sprichet. Wann, wie oft und wie genau wird Augustinus im deutschen Werk Eckharts zitiert? In: Weigand u. Schiewer 2011 (Anm. 12), S. 87–136. 14 Vgl. Freimut Löser: Spielarten geistlicher Trauer. Maria Magdalena am Grab. Teil II: Deutsche Predigten und Prosa-Übersetzungen des Ps.-Origenes-Textes. In: Futhark. Hrsg. von Eva Parra Membrives. Sevilla 2011 (Revista de Investigación 6), S. 123 –153; Freimut Löser: Spielarten geistlicher Trauer. Teil I. Maria Magdalena am Grab. Die Predigt des Ps.-Origenes und ihre deutschsprachigen poetischen Bearbeitungen. In: Futhark. Hrsg. von Eva Parra Membrives. Sevilla 2009 (Revista de Investigación 4), S. 109 –137.

Wege des Textes247 hâte si an im verlorn. Dô er starp, dô starp si mit im. Dô man in begruop, dô begruop man ir sêle mit im. Dar umbe enhâte si niht ze verliesenne. ‘Dô gienc si vürbaz’; dô begegente er ir. ‘Dô wânde si, daz er ein gartenære wære, und sprach: ‚wâ hât ir in hine geleget?‘’ Si was alsô gar an in vervlizzen, daz si sîner worte niht dan ein behalten hâte: ‘‚wâ hât ir in hine geleget?‘’ Daz sprach si ze im.

Stabo igitur et hic moriar, ut saltem iuxta sepulchrum domini mei sepeliar. O quam beatum corpus meum, si fuerit sepulchrum prope magistrum meum. Illa existimans quia hortulanus esset, dicit ei: dicito mihi ubi posuisti eum. Die Pseudo-Origines-Predigt verweist hier auf Joh. 11,34, als Jesus Maria Magdalena mit Bezug auf ihren Bruder Lazarus dieselbe Frage stellt: Ubi posuistis eum?

Gegenübergestellt ist hier nur der Beginn von Predigt 56 (Eckhart) und die entsprechenden inzwischen ‚textarchäologisch‘ freigelegten Sätze der lateinischen Predigt des Pseudo-Origenes. Im Vergleich der beiden kompletten Texte könnte man sehen, wie Eckhart seine Quelle an vielen Stellen fast wörtlich ausschreibt. Ich habe das wie folgt markiert: Kursiv ist Eckharts Bearbeitung des Johannesevangeliums, dessen Verwendung (bis in die Einzelstellen hinein) er mit seiner unmittelbaren Quelle teilt. Unterstrichen – und neu nachgewiesen – ist, was er dem Pseudo-Origenes verdankt. Eine zeitgemäße Eckhart-Edition hätte heute – neben dem Abschied von der einseitigen Orientierung an ‚Echtheit‘ und Prozess – die Quellenarbeit und den Kommentar der Herausgeber zu Eckharts Quellen generell der neuen Forschungslage anzupassen. Im Bereich der Quellenarbeit um Eckhart hat sich Vieles getan, Vieles wurde entdeckt, Vieles bleibt zu tun. Die Entdeckungen hier z. B. zeigen, wie viel Eckhart – ganz konventionell – seiner Quelle verdankt. Sie zeigen – auf den kompletten Text bezogen (was hier zu weit führen würde) – aber auch, dass Eckhart den Aspekt der lateinischen Predigt seines Vorgängers verschiebt; dabei wird die originelle Theologie Eckharts greifbar. Eckhart akzentuiert nicht mehr die Trauer der Liebenden, sondern die Einheit der geliebten Seele mit Gott. Er tut dies ähnlich und doch unterschiedlich in zwei Predigten (55 und 56).

3. Textgestalt und Autorvarianz Die Tatsache, dass zwei verschiedene Predigten zum selben Text unter Benutzung derselben Quelle existieren, verschärft die Frage: Stammen beide (Pr. 56 und Pr. 55) von Eckhart? Schon der Beginn ist jeweils sehr unterschiedlich gestaltet: Predigt 56 ‘Marîâ stuont ze dem grabe und weinete’. Ez was wunder, alsô sêre als si betrüebet was, daz si weinen mohte. „Minne machete sie stânde, leide weinende“. ‘Dô gienc si vürbaz und luogete in daz grap’. Si suochte einen tôten menschen ‘und vant zwêne lebendige engel’. O rige ne s sprichet: si stuont. War umbe

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Freimut Löser

stuont si, und die aposteln wâren gevlohen? – Si enhâte niht ze verliesenne; allez, daz si hâte, daz hâte si an im verlorn. Dô er starp, dô starp si mit im. Dô man in begruop, dô begruop man ir sêle mit im. Dar umbe enhâte si niht ze verliesenne. ‘Dô gienc si vürbaz’; dô begegente er ir. ‘Dô wânde si, daz er ein gartenære wære, und sprach: ‚wâ hât ir in hine geleget?‘’ Si was alsô gar an in vervlizzen, daz si sîner worte niht dan ein behalten hâte: ‘‚wâ hât ir in hine geleget?‘’

Predigt 55 Maria Magdalena venit ad monumentum etc. ‘Marîâ Magdalênâ gienc ze dem grabe’ und suochte unsern herren Jêsum Kristum und ‘dranc nâhe hin în und luogete hin în. Si sach zwêne engel’ bî dem grabe, und ‘sie sprâchen: ‚wîp, wen suochest dû?‘’ – ‘‚Jêsum von Nazaret‘. – ‚Er ist erstanden, er enist hie niht‘’. Und si sweic und enantwurte in niht ‘und sach wider und vür und über die ahsel und sach Jêsum, und er sprach: ‚wîp, wen suochest dû?‘ –

Hier kommt die textgeschichtliche Perspektive ins Spiel. Früher glaubte man bei den deutschen Predigten an unterschiedliche Hörer-Mitschriften. Das gilt als widerlegt. Man geht heute von verschieden bearbeiteten Texten und Redaktionen aus. Es müssen aber nicht immer nur Redaktoren gewesen sein, die die Entstehung von Fassungen bewirkt haben. Bekannt ist die Existenz verschiedener Fassungen ein und desselben Autors z. B. auch aus dem Minnesang. Wenn ein Minnesänger zu verschiedenen Gelegenheiten ein ursprüngliches Lied immer wieder neu vortrug und wenn dabei im Vortrag jeweils neue Autorversionen kreiert und schriftlich festgehalten wurden, was sollte einen Prediger daran gehindert haben, ähnlich zu verfahren? Trägt er nicht jedes Jahr immer wieder neu am immer wiederkehrenden Festtag eine immer wiederkehrende Predigt zum immer wieder gleichen Bibelwort vor? Muss aus einem solchen ämterbedingten, sich jährlich zum selben Datum wiederholenden ‚Auftritt‘ nicht geradezu zwangsläufig die Möglichkeit, nein: die Notwendigkeit (!) erwachsen, dass ein und dieselbe Predigt zum immer wiederkehrenden Anlass jeweils verändert und neu bearbeitet wurde, heute also in mehreren Versionen vorliegt. In Predigt 55 und 56 etwa haben wir es mit zwei Predigten zum Donnerstag der Osterwoche zu tun. Insgesamt gibt es von nicht wenigen Eckhart-Predigten Doppel- oder gar Mehrfachversionen, die, wie ich meine, einem solchen Verfahren ihre Entstehung und Vervielfältigung verdanken. Die neuen technischen Möglichkeiten bieten hier den Vorteil, dass solche unterschiedlichen Versionen nicht mehr hintereinander abgedruckt werden (müssen), was ihre Vergleichbarkeit erschwert (bis unmöglich macht); sie können im PC in verschiedenen Fenstern, im Druck in synoptischen Fassungen nebeneinander gestellt und so jederzeit miteinander verglichen werden; schon Band IV (als gedruckte Edition) macht von solchen Synoptisierungsverfahren Gebrauch. Von der Predigt 106 beispielsweise gibt es vier – inzwischen synoptisch edierte – Fassungen, wie die Abbildung zeigt:15

15

DW IV, 2, S. 682f.

Wege des Textes249

Diese relativ neue technische Möglichkeit der Synopse sollte künftig auch den seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts gedruckten Predigten Eckharts zugutekommen, die in unterschiedlichen Versionen vorliegen, denen Quint aber eine einzige Form aufzwang. Wenn man heute diese eine Form in ihre überlieferten Fassungen auflöst, sollte dies kein Freibrief für ein editorisches anything goes sein. Denn die neue Synoptisierungstechnik entbindet Philologen nicht von der Pflicht einer Stellungnahme: Hält der Herausgeber das Vorliegen von Mehrfachfassungen für eine Folge sekundärer redaktioneller Bearbeitungen, für eine Folge gar von Überlieferungsfehlern oder Schreibereingriffen, oder hält er hier Doppel- oder gar Mehrfachfassungen des Autors selbst für denkbar und begründbar. Hier (bei Predigt 106) ist es bei genauerem Hinsehen so, dass die kritische Edition in DW IV zwar von vier „echten“ Fassungen spricht, aber vollkommen unterschiedliche Redaktionszustände in der Synopse gleichwertig abbildet: Die Version D beispielsweise (am Predigtbeginn durch einen Textausfall auffällig) ist eine späte, lange nach Eckharts Tod in Augsburg entstandene sekundäre Redaktion. Für den lateinischen Bereich hat Loris Sturlese mit philologischem ‚Fingerspitzengefühl‘ demonstrieren können, dass und wie man Fassungen Eckharts und solche Redaktionen sekundärer Natur voneinander unterscheiden kann. Methodisch betritt man damit vielleicht das schwierigste Gelände überhaupt. Aber diese Schwierigkeit, den Wert unterschiedlicher Fassungen zu definieren und voneinander zu unterscheiden, ist kein Grund, der philologischen ‚Nagelprobe‘ auszuweichen. Von der Predigt 5 etwa hat Quint zwei Fassungen gedruckt. 5a hielt er für echt, 5b für fraglich, bestenfalls für eine schlechte Nachschrift oder Bearbeitung. 2010 ist aber in Göttin-

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gen ein Fragment dieser „schlechten Nachschrift“ aufgetaucht, identifiziert von Gisela Kornrumpf, von der Handschriftenkennerin Karin Schneider sicher ins erste Viertel des 14. Jahrhunderts datiert und damit einer der sehr wenigen Textzeugen aus Eckharts eigener Lebenszeit, älter und besser überliefert als jede Handschrift des Textes 5a. Damit ergibt sich, wie ich kurz nach der Entdeckung des Fragments in Göttingen zu demonstrieren versuchte, die Umkehr der These Quints: Der Text 5b könnte eine frühe Vorstufe Eckharts, 5a seine spätere, radikalere Version sein.16 Wie immer – die Texte 5a und 5b bieten einen Idealfall für synoptisches Edieren. Synopsen bieten eine hervorragende technische Möglichkeit (im Zeitalter der Technik verschiedener ‚Fenster‘ erst recht), solche Verhältnisse darzustellen und zu klären. Geklärt aber sollten sie werden. Denn ein Benutzer wird wenig Freude daran verspüren, wenn die vergleichende Lektüre, die doch einigermaßen mühsam ist, nicht durch die Entdeckung von Unterschieden ‚belohnt‘ wird. Man sollte diese Unterschiede folglich kennzeichnen:

Die Abbildung zeigt die beiden Fassungen der Predigt 105, jetzt aber mit einer Markierung wesentlicher Unterschiede, die die Edition nicht bietet.17 Solche Unterschiede sollten aber nicht nur markiert, sondern auch kommentiert werden. Ein solcher Kommentar muss dabei über das hinausgehen, was die Edition bisher bietet, denn er sollte die Gründe hinter den Differenzen suchen. Im vorliegenden Falle wäre der Unterschied zwischen sin erliuhten (A) und sin verrihten (B) zu erklären; etwa so: Das Verb verrihten ist bei Eckhart sonst nirgendwo nachgewiesen. Es handelt sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen späteren redaktionellen Eingriff. Damit (und mit anderen ähnlichen Lesarten) lässt sich Text B als spätere Redaktion eines Bearbeiters erweisen. Gerade im Fall der Predigt 105 ist dies aber von erheblicher Brisanz, wie ein weiterer Unterschied zeigt:18 16

Freimut Löser: Neues von Meister Eckhart. Das Göttinger Fragment im Kontext von Funden aus den letzten Jahren. Vortrag am 10. November 2010 am Zentrum für Mittelalter- und Frühneuzeitforschung der Georg-August-Universität Göttingen. 17 DW IV, Predigt 105, S. 633f. 18 DW IV, Predigt 105, S. 636f.

Wege des Textes251

Die berühmte, oft zitierte Stelle, in der sich Eckhart so selbstbewusst zu nennen scheint (ich, meister Eckhart), findet sich nur in der B-Version. Sie stammt so also von einem Redaktor; Eckhart selbst (Version A) nennt seinen Namen hier nicht, ein Redaktor hat ihn eingefügt. Es geht nicht um selbstbewusste Namensnennung eines Autors, sondern um die Identifizierung eines im Text genannten „Ich“ durch einen Redaktor. Komparatistisches Lesen heißt damit auch, Eckharts eigenen Text mit dem Blick auf einen Redaktortext schärfer sehen: Das Selbstbewusstsein eines Predigers muss nicht im Namensstolz bestehen. Zurück zu unserem Beispiel Predigt 56: Auch hier existieren zwei unterschiedliche Texte (s. o. S. 245f.). Aber im Fall von Predigt 56 und 55 weichen die Texte stark voneinander ab. Es handelt sich dabei nicht um zwei Versionen einer Predigt, sondern um zwei Predigten zum selben Anlass unter Verwendung derselben Quelle. Beide stellen uns aber vor ein weiteres Problem (eben das von Redaktionen), und deshalb muss die Frage ein viertes Mal gestellt werden. Stammen diese Texte in dieser Form von Meister Eckhart?

4. Textgestalt und Redaktionscharakter Predigt 56 ist in zwei Handschriften komplett, in einem Textzeugen nur teilweise erhalten. Die beiden vollständigen Textzeugen sind die beiden einzigen der Sammlung des Paradisus anime intelligentis, entstanden nicht lange nach Eckharts Tod als Werk eines Dominikaners. Die Sammlung, deren mittelhochdeutscher Titel mit Paradis der fornüftigin sele überliefert ist, vermittelt (so hat Kurt Ruh festgestellt) spezifisch dominikanische Doktrin; schon der Titel besagt programmatisch den Vorrang des intellectus vor caritas/voluntas. Die „Vernünftigkeit“ ist zentrales Thema der in der Sammlung aufgenommenen Texte verschiedener Prediger, eben auch der Paradisus-Predigten Eckharts, und der Redaktor hat vehement eingegriffen. Er hat die Predigten Eckharts ausgewählt, die in sein Konzept passen, und er folgt der dominikanischen Doktrin, dem Vorrang der Vernunft (intellectus) vor der Liebe, sehr viel schärfer als Eckhart selbst. Ich stelle als Beleg nur einen Abschnitt der von Quint kritisch edierten Predigt In omnibus requiem quaesivi (DW III Nr. 60) dem gleichen Text in der Fassung des Redaktors gegenüber:

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DW III Nr. 60, S. 22,3 –7

Paradisus19

Darumbe enwürket got sîniu götlîchiu werk niht in der bekantnisse, wan si in der sêle mit mâze begriffen ist; mêr: er würket sie als got götlich. Sô tritet diu oberste kraft hervür - daz ist diu minne und brichet in got und leitet die sêle mit der bekantnisse und mit allen irn kreften in got und vereinet sie mit gote.

Dar umme wirkit got sine gotlichin werc in deme bekentnisse ¢ Wan he in der sele mit mazin begriffin ist, so tridit di vberste craft her fore vnd brichit in got vnd wirfit sich mit al vrre craft in got vnd foreinit sich mit gode.

19

Im Gegensatz zum Programm des Paradisus anime intelligentis lehrt Eckhart hier – in dieser einen Predigt – nicht den Vorrang des intellectus. Vielmehr sagt er: diu oberste kraft [...] daz ist diu minne! Der Redaktor dagegen wahrt das Programm der von ihm angelegten Sammlung, manipuliert Eckharts Text und greift sinnverändernd ein, so dass wieder bekantnisse als oberste kraft erscheint. Nicht Eckhart vertritt in dieser Predigt die Doktrin vom Vorrang des intellectus, sondern der Redaktor der Sammlung. Andere Beispiele seiner Überarbeitung, die sich in vielen Predigten finden lassen, betreffen Tilgungen von Eckharts Rückverweisen auf andere Predigten, vor allem aber auch von Quellenangaben Eckharts. Das hat wiederum Konsequenzen für die Einzelpredigt, hier unsere Nr. 56 (in Quints Edition), der z. T. ebenfalls Eckharts Quellenangaben abhanden kamen:

2

4

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19

‘Marîâ stuont ze dem grabe und weinete’. Ez was wunder, alsô sêre als si betrüebet was, daz si weinen mohte. „Minne machete sie [stânde, leide weinende“. ‘Dô gienc si vürbaz und luogete in daz grap’. Si suochte einen tôten men[schen ‘und vant zwêne lebendige engel’. Origenes sprichet: si stuont. War umbe stuont si, und die apos[teln wâren gevlohen? – Si enhâte niht ze verliesenne; allez, daz si hâte, daz hâte si an im verlorn. [Dô er starp, dô starp si mit im. Dô man in begruop, dô begruop man ir sêle mit im. Dar umbe enhâte si [niht ze verliesenne. ‘Dô gienc si vürbaz’; dô begegente er ir. ‘Dô wânde si, daz er ein gartenære [wære, und

Vgl. Paradisus anime intelligentis (Paradis der fornuftigen sele). Aus der Oxforder Handschrift Cod. Laud. Misc. 479 nach E. Sieversʼ Abschrift hrsg. von Philipp Strauch. Berlin 1919 (Deutsche Texte des Mittelalters 30), S. 82, 34 – 83, 1, hier zitiert nach der Hs. O.

Wege des Textes253

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sprach: ‚wâ hât ir in hine geleget?‘’ Si was alsô gar an in vervlizzen, daz si sîner worte [niht dan ein behalten hâte: ‘‚wâ hât ir in hine geleget?‘’

Quint ist mit seinem ‚kritischen‘ Text dem des Paradisus-Redaktors gefolgt. Und so erweist sich Eckhart scheinbar – dank der vom Paradisus-Redaktor und demzufolge auch vom Herausgeber Quint vorgenommenen teilweisen Tilgung der Quellenangaben – als ‚Plagiator‘. Der Schreiber Nikolaus von Landau (NvL) hat, anders als der Redaktor der Paradisus-Fassung, die Quellenangaben dagegen bewahrt, wie ein Blick auf Quints Variantenapparat (DW II, S. 588) zeigt: 2 wunder,] wonder sprichet ein lerer 4 Origenes bis stuont.] Nů sprichet ein lerer Origenes Daz Maria magdalena stůnt bi deme grabe NvL 6 Dô] Alse ein Myster sprichet da NvL

Erst das ausführliche neue Quellenstudium der Pseudo-Origenes-Predigt (s. o.) hat gezeigt, dass alle diese Angaben tatsächlich zutreffend sind. Die Interpretation wurde aus der lateinischen Quelle Eckharts übernommen. Nicht Eckhart aber hat die Quellenangabe unterdrückt, sondern der Paradisus-Redaktor. Eckharts Text, so muss generell geschlussfolgert werden, ist nur zu finden, wenn man die Redaktoren kennt und wenn man ihr Verhalten über die Einzelpredigt hinaus verfolgt. Redaktorbezogenes Edieren heißt, zu wissen, dass z. B. mit Predigt 56 eine Predigt Eckharts vorliegt, die dieser selbst von Predigt 55 unterschied, dass diese Predigt 56 aber auch von einem Redaktor (dem der Paradisus-Sammlung) bearbeitet wurde, der ein eigenes Profil hat. Predigt 56 in der von Quint edierten Form ist die durch einen Redaktor bearbeitete Version einer Predigt, von der Eckhart selbst zwei Versionen (55 und 56) vorlegte. Es handelt sich um einen Fall von Mehrfachredaktion: durch den Verfasser selbst und durch einen Redaktor. Der Schreiber Nikolaus von Landau aber, dem man in diesem Fall die Weitergabe zutreffender Quellenangaben zu danken hat, ist seinerseits durch zahlreiche Änderungen auffällig und ist keineswegs immer eine verlässliche Quelle für einen unveränderten ‚Eckhart-Text‘. Nikolaus arbeitete als Zisterzienser im Kloster Otterberg, beim Paradisus-Redaktor hat die Forschung diskutiert, ob er in Erfurt, Köln oder, den jüngsten Forschungen zufolge, in Frankfurt gearbeitet hat. Damit wird ein weiterer Gesichtspunkt offenkundig: der regionale Aspekt der Texte.

5. Textgestalt und Region Das geografisch-regionale Problem hat die Eckhart-Philologie bisher vernachlässigt. Aber die Regionalität der Eckhart-Texte ist evident. Sie findet ihren Niederschlag in den Überlieferungsgegebenheiten, die schon Adolf Spamer um 1900 richtig sah, ohne dass dies freilich die nötigen Folgen hatte: Mit den Wirkungsstätten Meister Eckharts sind [nämlich] bekanntlich auch zwei geographische Überlieferungsschwerpunkte seiner Werke benannt: Spamer hatte das Handschriftenmaterial der Predigten in drei große, deutliche geschiedene Gruppen gegliedert: ‘Die erste und größte gruppe ist die süddeutsche und besonders südwestdeutsche mit ihrem centrum in

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Strassburg. […] Die zweite gruppe, die mitteldeutsche, hat ihren Schwerpunkt in Thüringen und speziell in Erfurt. […] Zwischen diesem mitteldeutschen und süddeutschen textkreis vermittelnd steht dann die dritte gruppe, die dabei aber wieder in mancher Beziehung völlig eigenartig und isoliert wirkt. Repräsentiert wird sie durch die Melker texte’.20

Was man dabei bisher gar nicht berücksichtigt hat: Die Wirkungskreise Eckharts – in Thüringen, im Elsass, in Köln – müssen auch Einfluss auf seine Sprache gehabt haben. Nun wird man leicht einwenden: Wie soll sich diese Sprache denn ermitteln lassen? Quint hat denn auch behauptet, dass sein eigenes Verfahren textkritischer Bearbeitung das für eine kritische Ausgabe einzig mögliche Verfahren ist und daß die Edition der einzelnen Predigten als mehr oder weniger getreuer Abdruck der als beste bekannten Handschrift unter Beibehaltung der hsl. Orthographie, wie sie von K a rl B re t h a u e r gefordert wurde, allenfalls philologischen Sonderwünschen zum Zwecke peripherischer rein germanistischer Spezialforschung, nicht aber dem dringenden Bedürfnis der Philosophen, Theologen und Kulturhistoriker nach einer Ausgabe entsprechen würden, die das Ideengut des großen Mystikers in möglic hs t urs prünglic he m [meine Sperrung] Wortlaut darbietet.21

Quint beharrt für diesen ‚ursprünglichen Wortlaut‘ auf dem normalisierten Mittelhochdeutsch: Die neue Ausgabe weicht auch in dieser Beziehung grundsätzlich nicht von Pfeiffer ab. Sie ist nur konsequenter als die Erstausgabe. Pfeiffers Texte schwanken nicht nur erheblich in der Orthographie, in der Behandlung der Apokope und Synkope des tonschwachen e, in der Verwendung von Parallel- und Doppelformen der Verbal- und Nominalflexion u. a.; sie zeigen auch einen leichten mehr oder weniger durchgehenden Einschlag alemannischer Spracheigentümlichkeiten, insbesondere die durchgehende Verbalendung -ent für die 2. Pluralis. Pfeiffer ließ sich zu dieser leichten alemannischen Färbung seiner Texte durch die Annahme veranlassen, daß Eckharts Heimats- und Geburtsort Straßburg gewesen sei (S. IX) und daß Eckhart daher von Hause aus Alemannisch gesprochen habe. Wir wissen heute, daß dem nicht so ist, daß Eckharts Wiege vielmehr im Thüringischen stand und daß kaum je auszumachen sein wird, welchen Dialekt er in seinen langen Wanderjahren an den verschiedensten Orten Süd- und Mitteldeutschlands gesprochen hat. Pfeiffer hat denn auch keineswegs nur alemannische Idiotismen seinem normalisierten Text untermischt: ziemlich regellos hat er vielmehr hier und da aus den von ihm gewählten handschriftlichen Führertexten die eine oder andere orthographisch oder dialektisch singuläre Eigentümlichkeit entnommen und in seinen Text eingefügt. Die in der neuen Ausgabe durchgeführte Normalisierung aller Texte ist für jeden geboten, der nicht in ein heilloses Dilemma geraten und nicht zu einer Ausgabe gelangen will, deren buntes Durcheinander heterogenster Dialektnuancen in der Abfolge der einzelnen Stücke zwar den Schein einer reizvollen Patina hat, wobei aber eben diese Patina bestenfalls die von den verschiedenen Schreibern herrührende Pseudopatina ist und nichts zu tun hat mit der Frage nach möglichster Echtheit und Ursprünglichkeit der sprachlichen Form Eckhartischer Predigttexte. Ich muss vielmehr behaupten, daß die

20

Adolf Spamer, zitiert bei Freimut Löser: Meister Eckhart in Melk. Studien zum Redaktor Lienhart Peuger, mit einer Edition des Traktats ‘Von der sel wirdichait vnd aigenschafft’. Tübingen 1999 (Texte und Textgeschichte 48), S. 4. 21 DW I, S. XXII.

Wege des Textes255

n o rma lis ie rte n Te x te in g e w is s e m Sinne re la tiv e c hte r und urs prünglic he r s i n d als die von den mittelalterlichen Schreibern mit ihren schwankenden Dialekten angefertigten Kopien von Nachschriften Eckhartischer Predigttexte.22

Auch ich votiere für eine normalisierte Edition und für die allgemeine Lesbarkeit der Eckhart-Ausgabe, aber in vielen Fällen bedarf es eben doch des dialektal gefärbten Textes (daneben oder mindestens im Kommentar), denn dieser ist der ursprüngliche Text, nicht, wie Quint meint, ein durch Schreiber entstellter, sondern der Text Eckharts. Manches ist überhaupt nur in der regional gefärbten Sprache verständlich. Ein Beispiel: Im Jahr 2010 wurde Falk Eisermann auf eine Inschrift auf einem Jagdschwert des ausgehenden 15./anfangenden 16. Jahrhunderts aufmerksam: hoe lieuer . lief // hoe leider . leet // waneert . daer . aen . een // schyden . gheet

Er identifizierte den Text mit einer Predigtstelle der Pfeifferʼschen Predigt III: wan so ie groezer lieb so ie swerer leit, so ez an ein scheiden get.23 Man fragte bei mir an, was ich von dieser Übereinstimmung hielt: Ich glaube kaum, dass auf dem Jagdschwert Eckhart zitiert wird. Der Spruch auf dem Schwert und Eckhart zitieren vielmehr beide einen dritten sprichwörtlichen Text. Auch Eckhart tut dies in der Predigt Pfeiffer III, die inzwischen als Predigt 104 in DW IV kritisch herausgegeben ist. Die entsprechende Stelle stellt sich in der kritischen Ausgabe so dar: 24 A

B

Wan sô der gelust ze ûzern dingen ie grœzer wære, sô daz vonkêren ie swærer wære, wan sô ie grœzer liep, ie grœzer leit, sô ez an ein scheiden gât.

Wan sô der gelust der ûzern dinge ie grœzer ist, sô des menschen sælicheit ieverrer wirt, wan sô ie grœzer liep, sô ie grœzer und swærer leit, sô ez an ein scheiden gât.24

Es gibt also auch hier zwei Fassungen. Dabei ist – jetzt – unschwer erkennbar, dass die Variante B, in der kritischen Edition generell als Redaktion zu kennzeichnen, auch hier den Ursprungscharakter verloren hat. Denn das Ganze ist ursprünglich doch ein metrisierter Text: je ´größer ´lieb, je ´größer ´leit, / ´so es ´an ein ´scheiden ´geit. Die Variante B hat dieses rhythmische Prinzip nicht erkannt und durch den Zusatz und swærer den durchrhythmisierten Charakter verloren; aber mehr als das: Sie reimt sich nicht (leit – gât). Das tut aber auch die Variante A nicht. Der Grund ist der: Bei der Erstellung der kritischen Edition hat man nicht bemerkt, dass Eckhart hier einen Reimtext zitiert; man konnte es ohne das neu aufgetauchte ‚Eckhartschwert‘ auch gar nicht merken. Die Edition hat zudem – dem Normalmittelhochdeutschen folgend –

22 23 24

DW I, S. XXIV; vgl. dort auch schon S. XXIII; meine Sperrung. Pfeiffer 1857 (Anm. 1), S. 22, 34f. DW IV, S. 603.

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die alemannische geprägte Version gât verwendet. Und so geht der Reim verloren. Eckhart hat aber zweifellos einen Reimtext zitiert. Und das konnte er etwa in seiner Zeit von 1324 bis 1327 im Kölnischen (leet – gheet), auch in Erfurt im Mitteldeutschen (leit – geit für kontrahiertes gehet), nicht aber im Alemannischen (leit – gât). Das heißt entweder stammt diese Predigt mit dem Reimspruch aus Eckharts Zeit in Köln oder in Mitteldeutschland, oder er hat sich später  – auch im Südwesten  – streckenweise seinen mitteldeutschen Dialekt oder die Erinnerung daran bewahrt. Jedenfalls sprach er nicht ‚Normalmittelhochdeutsch‘ (wie ihn Quints Edition noch ausnahmslos sprechen lässt). Hier wird ein sprachlicher Gesichtspunkt deutlich: Eckharts Werk muss in die mittelalterlichen Literaturlandschaften eingeordnet werden. Das betrifft auch die Handschriften: Ein Schlüssel für die Eckhartüberlieferung liegt in ihrer regionalen Distribution, die in den bisherigen Editionen vernachlässigt wurde. Eckharts Werk wird vor allem in mitteldeutschen, in südwestdeutschen, in rheinisch-ripuarischen und in bairisch-österreichischen Handschriften überliefert. Diese Überlieferung der unterschiedlichen Texte folgt mindestens zum Teil regionalen Gruppierungen. Die einen Predigten finden sich hier, die anderen dort. Diese Überlieferung und ihre regionale Distribution ist alles andere als Zufall. Eckhart war zeitweise in Erfurt, zeitweise im Südwesten tätig. Eckharts Straßburger Predigten oder seine thüringischen Predigten wird man aber nur dann finden, wenn man von hypostasierten Veränderungen und Entwicklungen seiner Lehre Abstand nimmt und stattdessen die elsässische Überlieferung oder die mitteldeutsch-thüringische Überlieferung und deren Ausstrahlung studiert. Im Fall der beiden Predigten 56 und 55 erkennt man beispielsweise schlagartig, dass Predigt 56 die mitteldeutsche, Predigt 55 die südwestdeutsche Variante ist. Die Eckhart-Edition insgesamt bedarf eines ‚dialektisch-dialektologischen‘ Vorgehens. Regionale Schreibsprachen bedürfen der Berücksichtigung. Dabei stellt sich die Frage abermals: Stammen die Texte so von Meister Eckhart?

6. Zur Bedeutung von Textzeugen Quints Entwicklung einer Echtheitssonde aus der Zitierung in den lateinischen Prozessmaterialien war ein nötiger Schritt. Sie hat zu überzeugenden Ergebnissen bei der Echtheitssicherung geführt. Aber diese Echtheitssicherung hat heuristischen Wert, sie muss vor der Edition erfolgen und kann nicht als Ordnungsmuster für diese dienen, denn sie stiftet künstliche, nicht existente Zusammenhänge und zerreißt die wirklichen. Das heißt beispielsweise auch, dass man mit der Edition, die auf dem in Köln zusammengestellten Prozessmaterial basiert, vorzugsweise Eckharts Kölner Predigten erfasst hat, Eckharts thüringische Frühzeit aber verpasste und dass man aus dem Kölner Material auch noch die auffälligen, weil prozessnotorischen und häresiebeschuldigten Texte bevorzugt behandelt hat. Die Prozessunterlagen bilden zudem nur eine Sonde, mit deren Hilfe man Eckharts echte Predigten suchen kann. Eine zweite solche Sonde stellen die mittelalterlichen Textzeugen dar, für Predigt 56 die genannten des Paradisus und des Nikolaus von Landau, für die südwestdeutsche Predigt 55 beispielsweise der sogenannte Basler Taulerdruck.

Wege des Textes257

Generell gilt: a) Manche Textzeugen weisen Texte explizit Meister Eckhart zu (ein predig meister Eckharts). b) Manche überliefern mehrere Eckhart-Predigten im Verbund und enthalten dadurch implizit einen Hinweis auf den Autor. Ein Beispiel dafür ist die von Nigel Palmer in London entdeckte Eckhart-Handschrift Lo4, in der ich bisher nicht bekannte Predigten Eckharts deshalb identifizieren konnte, weil sie gemeinsam mit zahlreichen anderen Predigten Eckharts dort überliefert sind.25 Ein Überlieferungsverbund von Eckhart-Predigten kann so als erstes Zeugnis Eckhartʼscher Autorschaft gewertet werden. c) Durch ihr Alter und ihre Lokalisierung26 geben die Handschriften im Einzelfall sogar Hinweise auf die frühe Textgeschichte von Predigten (wie das erwähnte neu entdeckte Göttinger Fragment der Predigt 5b aus Eckharts Lebenszeit oder die Neubewertung einer frühen Münchner Eckhart-Handschrift).27 Aber auch Handschriften können irren: d) Die Zuweisungen können korrekt sein, können täuschen oder nur Vermutungen äußern (etwa die bekannte Formulierung des Handschriftensammlers Daniel Sudermann: Eckhart, halt ich, oder Tauler). e) Auch die Verbund-Überlieferung kann andere Gründe haben als ein Ordnungsmuster, das sich dem Autor Eckhart verpflichtet weiß; etwa wenn eine dominikanische Sammlung vorliegt, in der Predigten des bisher zu wenig bekannten Meister Gerhard der ‘Kölner Klosterpredigten’ neben denen Eckharts stehen, was zu Verwechslungen führen kann;28 selbst von einer Kennerin wie Karin Schneider blieb unbemerkt (und musste wegen der unzureichenden Forschungslage unbemerkt bleiben), dass es sich bei der im Komplex um Eckhart-Predigten stehenden Predigt der Handschrift M1 Indica mihi quem diligit anima mea29 um eine dieser ‘Kölner Klosterpredigten’ handelt.30 f) Gerade die jüngste Forschungsgeschichte hat deutlich gemacht, dass Datierungen und Lokalisierungen der Eckhart-Handschriften konsequent zu überprüfen, wenn

25 26

27

28 29 30

Löser 1986 (Anm. 8), S. 206 – 207. Beispielhaft: Nigel F. Palmer: In kaffin in got. Zur Rezeption des ‘Paradisus anime intelligentis’ in der Oxforder Handschrift MS. Laud Misc. 479. In: ‘Paradisus anime intelligentis’. Studien zu einer dominikanischen Predigtsammlung aus dem Umkreis Meister Eckharts. Hrsg. von Burkhard Hasebrink, Nigel F. Palmer u. Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2009. S. 69 –133. Vgl. Karin Schneider: Die Eckhart-Handschrift M 1 (Cgm 133). In: Mittelhochdeutsch. Beiträge zur Überlieferung, Sprache und Literatur. Festschrift für Kurt Gärtner zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Ralf Plate u. Martin Schubert. Berlin, Boston 2011. S. 165 –176. Dazu: Freimut Löser: Predigten in dominikanischen Konventen. ‘Kölner Klosterpredigten’ und ‘Paradisus anime intelligentis’. In: Hasebrink, Palmer u. Schiewer 2009 (Anm. 26), S. 227– 263. Schneider 2011 (Anm. 27), S. 169. Dazu jetzt: Freimut Löser: Die Münchener Eckharthandschrift M1 und die ʻKölner Klosterpredigtenʼ des Meister Gerhard. In: Gedenkschrift für Christoph Gerhardt. Hrsg. von Ralf Plate u. Nils Bohnert zusammen mit Michael Embach, Martin Przybilski u. Michael Trauth. (im Druck).

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nicht gar erst vorzunehmen sind; sie können Hinweise auf die Textgenese in Thüringen, im Kölner oder im Straßburger Raum, mithin auf Eckharts Wirkungszentren geben. Die Handschriften bleiben insgesamt wichtige Indikatoren in der Autorfrage: a) Handschriftliche Zuweisungen zeigen, was im Mittelalter als Eckhart gelesen wurde. b) Handschriftliche Textverbünde geben Auskunft darüber, welche Textzusammenstellungen man für sinnvoll erachtete; dahinter kann ein Autorprinzip stehen (wie bei der frühen Sammlung der Wolfenbütteler Eckhart-Handschrift) oder ein themenorientiertes Prinzip (wie eine Textzusammenstellung zum Armutsbegriff) oder gar eine Exzerptsammlung aus einer mit Werken der rheinischen Mystik insgesamt reich bestückten Bibliothek (wie bei der Salzburger Handschrift S1). In allen Fällen sind sorgfältige Untersuchungen vonnöten; es kann in Handschriften immer auch zur Eingliederung von Dubia kommen, die als solche zu benennen, in den Textkatalog der zu edierenden Predigten aber auch konsequent aufzunehmen sind. In vielen Fällen kommt es zudem zu einer additiven, z. T. sogar integrativen Verbindung zwischen verschiedenen Textsorten: Predigt- und Traktatüberlieferung stehen unmittelbar nebeneinander, greifen teils ineinander; andere Texte einer anderen Handschrift desselben Schreibers oder weitere, für Kompilatoren zugängliche Quellen dringen in die Texte der Eckhart-Predigten ein, machen sie so aber nicht ‚textkritisch unbrauchbar‘, sondern zu hochinteressanten Rezeptionszeugnissen mit eigenem Recht. Damit stellt sich für die Predigten die Frage der Anordnung und der Ordnung.

7. Vernetzte Predigten In Quints Eckhart-Edition tragen die beiden hier behandelten Predigten die Nummern 55 und 56. Sie sind damit in Quints System eingeordnet, aber nicht in das System Eckharts. Quint hat, wie erwähnt, eine scheinbar absteigende ‚Echtheit‘ konstituiert und die Edition konsequent nach diesem Muster veranstaltet: Das ‚Echteste‘ zuerst. Schon Franz Pfeiffer hatte in seiner Eckhart-Ausgabe 1857 dagegen die Anordnungsfrage in einer bemerkenswerten und differenzierten Weise angesprochen: Schwierig war dagegen die frage, welche reihenfolge ich bei den predigten beobachten sollte. Eine anordnung in der weise, dass sich daraus die lehre Eckharts in logischer entwicklung hätte erkennen lassen, war unmöglich; ebenso die anordnung nach dem alter, nach der zeit der entstehung, da es hierfür an allen anhaltspunkten gänzlich gebricht [...]. Als die einfachste hätte sich die anordnung nach den evangelien des kirchenjahrs empfohlen; doch auch hier zeigten sich grosse schwierigkeiten, indem die predigten häufig freigewählten texten folgen und in der regel jede beziehung auf die sonn- und festtäglichen evangelien fehlt.31

31

Pfeiffer1857 (Anm. 1), S. Xf.

Wege des Textes259

Im letzten Punkt irrt Pfeiffer, im ersten hat er Recht. Mit Recht verworfen wurde von ihm und Quint eine thematisch-inhaltliche Gliederung; eine solche scheint erstens kaum möglich, zweitens der Sache nicht adäquat und drittens irreführend. Man würde durch eine solche Gliederung etwa Predigten der ‚Gottesgeburt in der Seele‘, des ‚Vorranges des intellectus‘ oder der ‚Freiheit‘ konstituieren, dadurch eine willkürliche Auswahl erzeugen und bestimmte vorgefasste Eckhart-Bilder fixieren. Weiterführende Überlegungen betreffen dagegen die Möglichkeit einer Ordnung nach Handschriften. Hier muss allerdings beachtet werden, dass es – anders als bei Johannes Tauler – ein handschriftlich einheitlich überliefertes Eckhart-Corpus nicht gibt. Die handschriftliche Ordnung für die Predigten Eckharts generell herzustellen, ist wegen der zahlreichen bei den Einzelpredigten immer wieder wechselnden Handschriften für die Gesamtheit der Predigten nicht möglich. Für manche Predigtkomplexe (manchmal bis zu sechs Predigten) lässt sich jedoch ein ursprünglicher Überlieferungszusammenhang und -verbund nachweisen, der es nahelegen würde, solche Zyklen geschlossen zu edieren. Dies gilt etwa für den Zyklus von der göttlichen Geburt (DW IV, Nr. 101–104), der in die Tauler-Überlieferung geraten ist und schon von seiner Entstehung her als Zyklus angelegt war (vielleicht allerdings gemeinsam mit weiteren Texten). Auch spiegeln bestimmte Predigtkonvolute, auch unter regionalen Aspekten, Entstehungszusammenhänge wider. So scheint sich von der Überlieferung her jetzt auch ein elsässischer/Straßburger Komplex herauszuschälen;32 bekannt ist die Diskussion um Eckharts (Erfurter?) Predigten in der Sammlung Paradisus anime intelligentis oder um den bekannten Kölner Zyklus, der freilich auf der Basis von Ortsnennungen (Kölner Klöster) in Predigttexten, nicht durch überlieferungskritische Studien gewonnen wurde und der auch durch solche Studien noch zu verifizieren und zu erweitern wäre.33 Gerade die handschriftlich oder im frühen Druck überlieferten Predigtkomplexe haben aber eindeutig, anders als Pfeiffer bei seiner zweiten Bemerkung dachte, ein Ordnungsmuster in der Liturgie. So auch der schon früh von Koch entdeckte, in Köln zu lokalisierende Zyklus der Predigten. Die Predigten Eckharts nach dem liturgischen Jahr zu ordnen, scheint daher sowohl eine pragmatische wie eine angemessene editorische Reaktion zu sein. Denn erstens scheint es inzwischen immerhin denkbar, dass Eckhart selbst über ein derart geordnetes Handexemplar seiner deutschen Predigten verfügte.34 Zweitens ist eine solche Ordnung die vorzügliche Wirkform seiner

32

Vgl. Freimut Löser: Was sind Meister Eckharts deutsche Straßburger Predigten? In: Meister Eckharts Straßburger Jahrzehnt. Hrsg. von Andrés Quero-Sánchez u. Georg Steer. Stuttgart 2008 (Meister-Eckhart-Jahrbuch 2), S. 37– 63. 33 Vgl. Freimut Löser: Predigt 19: ‘Sta in porta domus domini’. In: Lectura Eckhardi I. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet. Hrsg. von Georg Steer u. Loris Sturlese. Stuttgart 1998, S. 117–162. 34 Vgl. vor allem Loris Sturlese: Hat es ein Corpus der deutschen Predigten Meister Eckharts gegeben? Liturgische Beobachtungen zu aktuellen philosophiehistorischen Fragen. In: Meister Eckhart in Erfurt. Hrsg. von Andreas Speer u. Lydia Wegener. Berlin, New York 2005 (Miscellanea Mediaevalia 32), S. 393 – 408; vgl. auch die verschiedenen Vorarbeiten Sturleses und Lösers zu diesem Komplex, besonders zur Frage, wann und wo Eckharts deutsche Predigten von ihm selbst als geschriben zitiert werden.

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Predigten in der Überlieferung (wenigstens dort, wo sie nicht zersplittert ist). Aber Eckharts Werk muss nicht nur aus Gründen der Reihenfolge der Predigten, sondern auch wegen des Verständnisses der Einzelpredigten in den Kontext der Liturgie gestellt werden. Nur die liturgische Ordnung wird die Predigten nachvollziehbar machen, so nachvollziehbar und ‚erlebbar‘, wie sie es dem mittelalterlichen Publikum waren. Auch der Prediger selbst steht immer im Kontext der Liturgie. Das heißt, die Predigten Eckharts, die in den Editionen bisher ohne liturgische Begleittexte präsentiert wurden, sollten mit den liturgischen Kontexten (den Lesungstexten, aber auch Gebetstexten und allen weiteren nötigen Angaben) versehen werden. Wer bisher auf die dürftigen Angaben eines kurzen halbzeiligen Textwortes in der Quint-Edition angewiesen war, wird dann bemerken können, dass Eckhart in der Predigt häufig auf längere und ausführlichere Lesungstexte zurückgreift und deren Interpretationsangebot vielfältig nutzt.35 Was zudem sichtbar wird, ist, dass Eckharts Predigten untereinander vernetzt, quasi verlinkt sind. Unsere Maria-Magdalena-Predigten 55 und 56 stehen beispielsweise in einem Geflecht Eckhartʼscher Predigten aus der Osterzeit: Bisherige Predigtnummer

Eigentliche, liturgische Ordnung

Predigt 35

Ostervigil (Samstag vor Ostern): Si consurrexistis cum Christo

Predigt 55

Donnerstag der Osterwoche: Maria Magdalena venit ad Monumentum a (südwestdt. Version)

Predigt 56

Donnerstag der Osterwoche: Maria Magdalena venit ad Monumentum b (md. Version)

Neuentdeckte Predigt ‘Sente Peter sprichet’

Freitag der Osterwoche: Christus semel pro peccatis nostris mortuus est Darin: 12 Früchte des Geistes Ordnung: Definiton der Früchte (bisher nur eine thüringische Handschrift)

Predigt 36a

Osteroktav (weißer Sonntag) Stetit Iesus in medio discipulorum et dixit: Pax a (südwestdt. Version) Rückverweis DW II, S. 191,10: als ich sprach an dem ôster âbende mit Bezug auf Predigt 35 zur Ostervigil

35

So herausgearbeitet für Predigt 19 bei Löser 1998 (Anm. 33), S. 117–141.

Wege des Textes261

Predigt 36 b

Osteroktav (weißer Sonntag) Stetit Iesus … b (md. Version I) Darin: 12 Früchte des Geistes (4 x 3) Ordnung: Wirkung auf den Menschen

Predigt 92

Osteroktav (weißer Sonntag) Cum sero factum esset (md. Version II)

Fazit: Auf die sieben Fragen lassen sich kurze Antworten finden. Eine zeitgemäße Eckhart-Edition sollte die Echtheitskriterien berücksichtigen, vor allem das Verhältnis zu Eckharts Quellen konsequent klären, Autorvarianz ebenso berücksichtigen wie Redaktor- und Schreibervarianz, dem regionalen Sprachcharakter neben dem normierten Mittelhochdeutsch Raum geben, die Textzeugen in ihr eigenes Recht setzen und die Predigten aus ihrer Vereinzelung befreien und als vernetztes System zur ‚verlinkten‘ Lektüre anbieten

Abstract The German works of Master Eckhart can only be edited in an interdisciplinary way. For the understanding of the contents and order of his German sermons, cooperation with competent scholars of Latin, Biblical studies, liturgy, and the history of medieval and ancient, as well as Arabic and Jewish philosophy is required. His ‘real’ language has never come to the foreground, as former editions have been content to use ‘Normalmittelhochdeutsch’. What is needed here is a study of the language used in 14th century manuscripts that can be located near to Eckhart, be it from Erfurt, Strasbourg or Cologne. It is also absolutely impossible to come to a ‘correct’ edition of Eckhart’s without a fundamental study of all manuscripts and their ways of transmission. Furthermore, we need to put concepts of authorship on the test.

Gérard Raulet

„Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption“ Benjamin-Edition zwischen Rettung und Ruinen

Wahrscheinlich ohne zu ahnen noch ermessen zu können, welche Resonanz die Dissertation des Doktoranden im Fach Philosophie, die er betreut hatte, finden würde, schrieb Walter Benjamins Doktorvater Richard Herbertz an die kantonale Direktion des Unterrichtswesens: Einer meiner Schüler, Herr Dr. Benjamin, [hat] eine ganz vorzügliche Arbeit über den Begriff der Kritik in der Romantik verfasst. Ich hoffe keine Fehlbitte zu tun, wenn ich an Sie das höfliche Ersuchen richte, mir die Herausgabe dieser Arbeit […] durch eine Beisteuer pro 1919, möglichst von Fr. 150.– zu ermöglichen, damit wir wieder zeigen können, dass und wie in philosophischer Hinsicht an unserer Universität gearbeitet wird.1

Benjamin, der sein Studium in Freiburg und Berlin begonnen hatte, hatte sich nach einem Umweg über München am 23. Oktober 1917 in Bern immatrikulieren lassen. Wenn er aber je gedacht hätte, in Bern Karriere zu machen, dann hätte ihm das Lob der Kritik im Wege gestanden, da sie unter anderem seine Dissertation mit einem Buch von Fräulein Professor Tumarkin verglich, deren Unterricht (u. a. über Kant und seine Nachfolger und über die Philosophie des 19. Jahrhunderts) Benjamin als angehender Berner Doktorand besucht hatte: Nach der aufschlußreichen, den echten romantischen Geist in unsre Zeit vortragenden Schrift Thormanns wirkt Anna Tumarkins nach einem ersten Anlauf bald versagende und die romantischen Probleme durcheinanderwirrende und mißkennende Untersuchung fast dilettantenhaft und entspricht den im Titel ‚Die romantische Weltanschauung‘ angeregten Erwartungen in keiner Weise. Dagegen sei […] die soeben erschienene, stellenweise ungemein tief und fein unterscheidende Arbeit von Walter Benjamin […] eindringlichst empfohlen.2

Der Entschluss, über die Romantik zu promovieren, ergab sich aus einer besonderen Konjunktur. Ursprünglich wollte Benjamin „über Kant und die Geschichte“3 arbeiten und er hatte begonnen, sich diesbezüglich mit den Neukantianern auseinanderzuset-

1

Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. In: Walter Benjamin: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 3. Frankfurt a. M. 2008, S. 328. Christoph Flaskamp: Prophetische Romantik. In: Literarischer Handweiser. Kritische Monatszeitschrift 57, 1921, 5, S. 194 – 200. 3 An Gershom Scholem, Bern, 22.10.1917. In: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe, Bd. 1: Briefe 1910 –1918. Frankfurt a. M. 1995, S. 389. 2

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zen. Die zugleich ästhetische und politische Bedeutung der Romantik drängte sich daraufhin als eigenständiges Thema auf: Was sie sein sollte ist sie geworden: ein Hinweis auf die durchaus in der Literatur unbekannte wahre Natur der Romantik, ein mittelbarer, weil ich an das Zentrum der Romantik, den Messianismus – ich habe nur die Kunstanschauung behandelt – ebenso wenig wie an irgend etwas anderes, das mir höchst gegenwärtig ist herangehen durfte [...] Nur: daß man diesen Sachverhalt von innen heraus ihr entnehmen könne möchte ich in dieser Arbeit erreicht haben.4

Dieses Thema wurde auf fast unerwartete Weise die eigentliche Grundlage des ganzen späteren Werks. Die Bedeutung der Dissertation hat Benjamin in seinem Lebenslauf und in verschiedenen Briefen mehrmals unterstrichen: „Meine philosophische Gedankenentwicklung ist in einem Zentrum angelangt“.5 Dieses Zentrum ist der Messianismus. In einer für das Selbstverständnis der Ideengeschichte entscheidenden Äußerung weist Benjamin darauf hin, dass es auf keinen Fall darum gehen kann, „mit unzureichenden Mitteln [...] das historische Wesen der Romantik darzustellen“6 und dass ein derartiges Unternehmen bestenfalls nur „Materialien  – nicht aber den Gesichtspunkt“ für eine „Wesensbestimmung“ der Romantik bieten könne.7 Die Fußnote fügt hinzu: „Dieser Gesichtspunkt dürfte in dem romantischen Messianismus zu suchen sein“ – und daran schließt Benjamin das berühmte Athenäum-Zitat von Schlegel an: „Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, ist der elastische Punkt der progressiven Bildung und der Anfang der modernen Geschichte. Was in gar keiner Beziehung aufs Reich Gottes steht, ist in ihr nur Nebensache“.8 In dieser Auffassung kann man unschwer eine Antizipation der Thesen Über den Begriff der Geschichte vernehmen, die Benjamin freilich erst zwanzig Jahre später abfassen wird. Was nun den Werkbegriff angeht, so ist der Messianismus nicht nur eine religiöse oder ideologische Vorstellung, die nur die Deutung des Werks betreffen würde, sondern eine Tendenz und Daseinsberechtigung, die ihm innewohnt: „Jedes Kunstwerk

4

Brief an Ernst Schoen, 7.4.1919. In: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe, Bd. 2: Briefe 1919 –1924. Frankfurt a. M. 1996, S. 23. 5 Brief an Scholem, 30.3.1918. In: Benjamin 1995 (Anm. 3), S. 441. Vgl. auch Lebenslauf (I): „Ich studierte an den Universitäten Freiburg i. B., Berlin, München und Bern. Meine Hauptinteressen galten der Philosophie, der deutschen Literatur-, sowie der Kunstgeschichte. Dementsprechend hörte ich besonders die Professoren Cohn, Kluge, Rickert und Witkop in Freiburg, Cassirer, Erdmann, Goldschmidt, Hermann und Simmel in Berlin, Geiger, von der Leyen und Wölfflin in München sowie Häberlin, Herbertz und Maync in Bern. Im Juni 1919 habe ich in Bern mit einer Arbeit ‚Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik‘ summa cum laude promoviert. Hauptfach war Philosophie, Nebenfächer: neuere deutsche Literaturgeschichte und Psychologie. Da der Schwerpunkt meiner wissenschaftlichen Interessen in der Aesthetik liegt, gestaltete der Zusammenhang zwischen meinen literarhistorischen und philosophischen Arbeiten sich immer enger“ (in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. VI. Frankfurt a. M. 1978, S. 215). 6 Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. I-1. Frankfurt a. M. 1974, S. 12. 7 Benjamin 1974 (Anm. 6), S. 12. 8 Ebd.

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hat ein Ideal a priori, eine Notwendigkeit bei sich, da zu sein“.9 Daraus folgt auch, dass echte Kritik messianisch ist. Sie ist für seine Aktualisierung unerlässlich. Womit aber nicht gesagt ist, dass sie seine Rettung notwendig bewirkt, ganz im Gegenteil. Wenn Benjamin mit den Romantikern und gegen Goethe für „die Paradoxie einer höheren Einschätzung der Kritik als des Werkes“10 Stellung nimmt, so geht aus der Dissertation seine Zurückhaltung hervor gegenüber jener anderen Form von Theologie, die den unendlichen Prozess der Kritik und der Schöpfung als Manifestation „erfüllter Unendlichkeit“ in der Progressivität verstanden wissen will. Die Formel der Habilitation über das deutsche Trauerspiel: „Kritik ist die Mortifikation der Werke“11 richtet sich ausdrücklich gegen die romantische Auffassung.12 Die Geschichte der Entstehung, der Wirkung und der Edition von Benjamins Dissertation ist ein Thema für sich. Es ging mir hier in einer Art von Auftakt nur darum, den eigentlichen Anfang von Benjamins Werk zu würdigen und daran zu erinnern, dass dieser in Bern stattfand. Natürlich gibt es auch andere Dokumente, die von Bern handeln oder zumindest aus Bern stammen. Ich meine das Vorlesungsverzeichnis der fiktiven Universität Muri, das mit dem Portalspruch eröffnet wird: „Lirum larum Löffelstiel, kleine Kinder fragen viel“ (vgl. Abb. 1). Mit diesen Glossen zum Universitäts- und Wissenschaftsbetrieb, die Benjamin und Scholem von 1918 bis 1923 gemeinsam verfassten oder untereinander austauschten, verabschiedete Benjamin auf philosophisch-kathartische Weise seine Doktorandenlehrjahre. Scholem schrieb darüber: „Die ‚Universität Muri‘, eine Phantasiegründung von Benjamin und Scholem, in Erinnerung an die dort gemeinsam verbrachten drei Monate. Beide verfassten eifrig satirische ‚Akten der Universität‘, darunter ein Vorlesungsverzeichnis, Statuten der Akademie von W. B. und ein (1928 gedrucktes) ‚Lehrgedicht der Philosophischen Fakultät‘ von Scholem. W.  B. zeichnete als Rektor, Scholem als ‚Pedell des Religionsphilosophischen Seminars‘“ 13 (vgl. Abb. 1 bis 3). Ein Dokument, das wenigstens darauf hinweist, dass auch für Scholem der Humor eine gewisse Rolle in seinem Verhältnis zum Judentum hätte spielen können, was hingegen für Benjamin immer schon selbstverständlich gewesen war.

9 10 11 12

Benjamin 1974 (Anm. 6), S. 76. Benjamin 1974 (Anm. 6), S. 119. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Benjamin 1974 (Anm. 6), S. 357. Vgl. die zu dieser Thematik nach wie vor beste Untersuchung von Uwe Steiner: Die Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst. Würzburg 1989. 13 Anmerkung zum Brief an Scholem vom 18.9.1918, in: Benjamin 1996 (Anm. 4), S. 476.

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Gérard Raulet

Abb. 1: Acta Muriensa. Portalspruch und Vorlesungsverzeichnis. Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Walter Benjamin Archiv, Ts 2395.

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Arthur Ackermann Robinson und sein Einfluß auf Gustav Freitag Wie Robinson das Leben auf der einsamen Insel sich einrichtet, den Wilden Freitag zum Freunde gewinnt und in aufopfernder, liebevoller Erziehung den Dichter der »Ahnen« und der »Verlorenen« Handschrift aus dem Naturkind heranbildet, das alles faßt ein bekannter Literaturhistoriker noch einmal auf Grund neuerschlossener Urkunden populär und gemeinverständlich zusammen.

Die Kirchenmaus seit Luther von *** Gehässige Streitschrift, welche den großen Reformator für die Verarmung der Kirchenmaus verantwortlich zu machen sucht. Die Widerlegung von berufener Seite wird nicht ausbleiben.

*** Von Leibniz bis Bahlsen Die neue Werbepackung der geschätzten Keksfabrik mit Nachbildung der Philosophen in Bäckerei. Bei Schopenhauer wäre – angesichts des ausgesprochenen Pessimismus – Schokoladenguß am Platze gewesen. Abb. 2: Acta Muriensa. Rezensionen. Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Walter Benjamin Archiv, Ms 639r und 639v.

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Abb. 3: Acta Muriensa, Lehrgedicht der Universität Muri (erste Seite). Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Walter Benjamin Archiv, 498/1.

Aus diesem Vorspann ergibt sich wenigstens die ambivalente Feststellung, dass Benjamins Werkbegriff und damit auch seine philologische Grundüberzeugung zwar schwer theologisch belastet sind, aber dass zugleich deutliche, ja nachdrückliche Distanzierungsmerkmale nicht ignoriert werden dürfen. Wenn also allgemein ange-

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nommen wird, dass die spätere Phase von Benjamins Schaffen, nach 1929 und bis zu seinen allerletzten philosophischen Entwürfen ihren Ursprung in der Aufwertung des politischen Messianismus genommen hat und von der Dissertation über den Begriff der Kunstkritik vorbereitet wurde, so muss hinzugefügt werden, dass wir es hier mit dem Brennpunkt beziehungsweise der Keimzelle von Benjamins vermeintlichem Messianismus zu tun haben. Diese Formierungsphase ist von äußerster Wichtigkeit, denn sie schreibt dem Messianismus seinen genauen philologischen und politischen Platz zu: nämlich als Denkmoment und in keinem Fall als theologisch-politisches, geschweige denn mystisches Glaubensbekenntnis. Ich möchte mich also im Folgenden dieser Problematik zuwenden, anhand der von mir erstellten kritischen Ausgabe der ‚Thesen‘ Über den Begriff der Geschichte und der Folgerungen, die man – mit der gebührenden Vorsicht – aus dieser editorischen Arbeit ziehen kann, um Benjamins Verhältnis zum ‚Messianismus‘ angemessener zu erfassen.

1. Arche und Ende als Problem Hier sind zunächst einige allgemeine Bemerkungen zur Problematik des ‚Werkes‘ und des ‚Originals‘ anzubringen, deren Relevanz für das Edieren von Texten Walter Benjamins sofort einleuchten wird. Und zwar umso mehr, als wenige Werke so eindeutig zu verstehen geben, dass die Editionsarbeit kein bloß technisches Unterfangen ist: Bei Benjamin hängt die Natur (die philologische Beschaffenheit) der Texte mit der Reflexion über die Frage ihrer Rettung oder ihres Untergangs und zugleich mit dem theologisch-geschichtsphilosophischen Komplex von Rettung und Untergang zusammen, der seinem ganzen Werk zugrundeliegt. Unter dem Zeichen der Maxime aus Benjamins Einbahnstraße,14 die ich als Titel gewählt habe, möchte mich in der Folge einem Text zuwenden, der mittlerweile zu einem Mythos geworden ist. Es ist längst überfällig, mit diesem Mythos abzurechnen, umso mehr als es sich um den Benjamin’schen Text handelt, der sich am entschiedensten gegen den Rückfall der Vernunft in den Mythos aufgelehnt hat. Im Unterschied zu anderen Aufsätzen, in welchen ich mich mit Benjamins Verhältnis zur Theologie direkt auseinandersetze, geht es mir im Folgenden vielmehr um die Form der Überlieferung und um das, was sie über die Natur des Komplexes Über den Begriff der Geschichte sagt. Der Interpret, der sich an das waghalsige Unternehmen einer Edition der ‚Thesen‘ herangewagt hat, hätte sich gefreut, bei der Philologie Unterstützung zu finden. So wenn es zum Beispiel in den Thesen Über den Begriff der Geschichte (wie man sie zu nennen sich gewöhnt hat) deutlich zu unterscheidende Entstehungsschichten geben würde, etwa zwischen Perioden, in welchen Benjamins Denken unmissverständlich der jüdischen Theologie, ihrer Begrifflichkeit und vor allem ihrer Ethik zuneigte, und Perioden, in denen er sich merklich und deutlich von ihr distanzierte, um andere Paradigmata geltend zu machen. Die Ergebnisse der Arbeit 14

Walter Benjamin: Die Technik des Schriftstellers in dreizehn Thesen. In: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. IV-1. Frankfurt a. M. 1972, S. 107.

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an der neuen Ausgabe der sogenannten ‚Thesen‘ haben leider all diese Hoffnungen enttäuscht. Die ‚Ebenen‘, ‚Schichten‘ oder ‚Paradigmata‘ lassen sich nicht entwirren, geschweige denn säuberlich trennen – vielmehr tragen die ‚Thesen‘ noch ein Stück weiter zu ihrer Vermengung und Verschmelzung bei. Hier verhält es sich wie mit der Vergangenheit in Freuds Auffassung des Unbewussten: Wir greifen etwa die Entwicklung der Ewigen Stadt als Beispiel auf [...] und fragen uns, was ein Besucher, den wir uns mit den vollkommensten historischen und topographischen Kenntnissen ausgestattet denken, im heutigen Rom von diesen frühen Stadien noch vorfinden mag. [...] Das Äußerste, was ihm die beste Kenntnis des Roms der Republik leisten kann, wäre, daß er die Stellen anzugeben weiß, wo die Tempel und öffentlichen Gebäude dieser Zeit gestanden haben. Was jetzt diese Stellen einnimmt, sind Ruinen, aber nicht ihrer selbst, sondern ihrer Erneuerungen aus späteren Zeiten nach Bränden und Zerstörungen. Es bedarf kaum noch einer besonderen Erwähnung, daß alle diese Überreste des alten Roms als Einsprengungen in das Gewirr einer Großstadt aus den letzten Jahrhunderten seit der Renaissance erscheinen.15

Aus diesem Vergleich zieht Freud die Frage, um die es mir hier zu tun ist: Haben wir ein Recht zur Annahme des Überlebens des Ursprünglichen neben dem Späteren, das aus ihm geworden ist? [...] Wir rühren hiermit an das allgemeinere Problem der Erhaltung im Psychischen. [...] Wir neigen zu der Annahme, daß im Seelenleben nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen kann, daß alles irgendwie erhalten bleibt, und unter geeigneten Umständen, z. B. durch eine so weit reichende Regression wieder zum Vorschein gebracht werden kann.16

Nirgendwo anders hat Freud dem archäologischen Eifer als Suche nach einer Urquelle, das heißt nach einem letzten prädiskursiven Bezug so unerbittlich den Boden unter den Füssen gezogen: Keine von den vorhandenen Ruinen, die wir gern als Anfang und Ansatz annehmen würden, ist in irgendeinem Sinn ‚authentisch‘ und ‚ursprünglich‘. Dem hat Michel Foucault mit seiner methodischen Beobachtung einer „Vervielfältigung der Brüche“ Rechnung zu tragen versucht, von der am Anfang der Archäologie des Wissens17 die Rede ist und aus welcher das Prinzip der Diskontinuität in Die Ordnung der Dinge18 folgt. Diese beiden Prinzipien bestimmen die archäologische Verfahrensweise: Ihnen zufolge muss diese nämlich einerseits das synchronische Vorhandensein von ungleichzeitigen Diskursen berücksichtigen – es handelt sich dabei um jene Dimension der Intertextualität, die zwischen den Diskursen verschiedener Epochen grundsätzlich ein ähnliches Verhältnis herstellt wie zwischen Diskursen, die zu einem gleichzeitigen Archiv gehören; ohne dieses Verhältnis wäre die Rezeption, die Aktualisierung von Werken, schlicht undenkbar. Andererseits machen sie auf den opaken Bezug des Bewirkten zu seiner vermeintlichen ‚Ursache‘ aufmerksam. Aus beidem folgt, dass 15

Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. XIV. London 1940 – 52, S. 425 – 427. 16 Ebd. 17 Michel Foucault: L’archéologie du savoir. Paris 1969, S. 10. 18 Michel Foucault: L’ordre du discours. Paris 1971, S. 54.

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es unmöglich ist, die Geschichte der Werke als „eine bloß lineare Fortentwicklung von einem Ursprung“19 aufzufassen. Es ist ja bekannt, dass Freud die Psychoanalyse erst begründen konnte, als er die Wahnvorstellung einer Urszene beseitigte. Durch das ganze Jahr 1897 hindurch korrespondierte er mit seinem Freund Wilhelm Fließ über die Ätiologie der Neurosen. Freud war zu jener Zeit, wie aus diesem Briefwechsel hervorgeht, noch überzeugt, dass der Vater am Ursprung der Neurose steht,20 bevor er zur Einsicht kam, dass er mit der Annahme einer ursprünglichen Verführungsszene das Problem völlig verfälscht hatte und dass sein unbewusst unfreundliches Verhältnis zu Fließ ihn gegen seine Feindseligkeit gegenüber seinem Vater blind gemacht hatte. Allerdings wird es ihm erst mit dem Tod von Jakob Freud möglich, diese Verblendung zu durchschauen und das Ödipus-Dreieck zu konzipieren. In einem Brief vom 21. September wird die Verführungsthese verworfen, die Auffassung einer traumatischen Erinnerung aufgegeben und durch die These der „affektgesättigen Realität“21 ersetzt. Also von der Realität der Fiktion. Insofern gibt es keinen Widerspruch zwischen Freuds Ansatz und dem von Michel Foucault. Die Archäologie verweist ebenso wenig auf eine Arche, wie die Genealogie es sich zur Aufgabe macht, die Kontinuität eines Werdegangs nachzuzeichnen. Foucault unterscheidet nachdrücklich zwischen Ursprung und Entstehung – jener „ist immer vor dem Fall, vor dem Leib und der Zeit“, diese ist hingegen „niedrig, unwesentlich, ironisch und spottet aller Anmaßung“.22 An dieser Stelle knüpft er an Nietzsches Angriff gegen den „metaphysische[n] Nachtrieb“ an, „welcher bei der Betrachtung der Historie immer wieder ausschlägt und durchaus meinen macht, am Anfang aller Dinge stehe das Wertvollste und Wesentlichste“ (Der Wanderer und sein Schatten, § 3).23 Aus dieser Rehabilitierung der vulgären Geschichte gegen alle Transzendenzen zieht er allerdings keine Präferenz für die Genealogie, sondern viel eher, in Anlehnung an Nietzsche, die Forderung, die Herkunft als „Ent-stehung“24 zu verstehen. Ganz in demselben Sinn gibt Benjamin in Ursprung des deutschen Trauerspiels von der Archäologie folgende Definition: „Ursprung, wiewohl durchaus historische Kategorie, hat mit Entstehung dennoch nichts gemein. Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden und Vergehen Entspringendes gemeint“.25 Demzufolge bricht Benjamin, sowohl in seinem Essay Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker als auch in den Thesen Über den Begriff der Geschichte, wo er der Aktualisierung der Überlieferung eine messianische und

19

Vgl. hierzu meine Einleitung zu Weimar ou l’explosion de la modernité. Hrsg. von Gérard Raulet. Paris 1984. 20 Brief an Fließ vom 31.5.1897. In: Sigmund Freud: Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. Frankfurt a. M. 1986, S. 266. 21 Freud 1986 (Anm. 20), S. 283 – 284. 22 Michel Foucault: Nietzsche, la généalogie, l’histoire. In: Hommage à Jean Hyppolite. Hrsg. von Suzanne Bachelard. Paris 1971, S. 145 –172, hier S. 149 u. S. 154. 23 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. In: Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 2. Berlin 1988, S. 540. 24 Foucault 1971 (Anm. 22), S. 154. 25 Benjamin 1974 (Anm. 6), S. 226.

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Gérard Raulet

revolutionäre Wendung gibt, mit der „naiven Auffassung der Rezeption“, wie er sie nennt, d. h. mit jener Auffassung, nach welcher die endgültige und letzte Referenz der „ursprüngliche Sinn“ ist, den der Verfasser, oder zumindest dessen Epoche, einem Werk verliehen hat: Maßgebend für unsere Rezeption eines Werkes müsse die Rezeption sein, welche es bei seinen Zeitgenossen gefunden habe. Es ist die genaue Analogie zu Rankes ‚Wie es eigentlich gewesen ist‘, auf die es ‚doch einzig und allein‘ ankomme.26

Benjamins Ansatz hat in den Rezeptionstheorien deutliche Spuren hinterlassen. Auch für Jauss wird der „Sinngehalt“ eines Werks erst von seinen aufeinander folgenden Rezeptionen freigelegt  – „durch die sukzessive Entfaltung eines am Werk angelegten, in seinen historischen Rezeptionsstufen aktualisierten Sinnpotentials, das sich dem verstehenden Urteil erschließt, sofern es die ‚Verschmelzung der Horizonte‘ in der Begegnung mit der Überlieferung kontrolliert vollzieht“.27 In seinem Aufsatz über „Racines und Goethes Iphigenie“ geht er sogar noch weiter und spricht mit Wolfgang Iser vom Text als einer „virtuellen Struktur“, die erst durch ihre Konkretisierungen in Werken aktuell wird.28 Gerade so verhält es sich in Benjamins Thesen und in ihrer Rezeption. Sie sind eine virtuelle Struktur geblieben, deren Original nach wie vor unauffindbar ist. Man möchte sagen: umso besser! Nicht nur ist die Metapher der Ruinen ein genuin Benjamin’sches Bild, das in engem Zusammenhang steht mit Geschichtsphilosophie und Theologie, sondern der archäologische Vergleich trifft auf die ‚Thesen‘ umso besser zu, als die genetische Rekonstruktion, die ich in der neuen Ausgabe unternommen habe, vor allem dazu gedient hat, die bislang geltenden Chronologien in Frage zu stellen. Auch hinsichtlich der Überlieferungsgeschichte sieht sich der Herausgeber gezwungen, jede Hoffnung auf eine sichere Identifizierung des Originals aufzugeben. Es ist das Paradoxon dieses Textkomplexes, dass in ihm sehr viel von Ursprung und von Ende die Rede ist, aber dass gerade der Text, der davon handelt, diese Kategorien aus seinem Wesen und seiner inneren Struktur getilgt oder – absichtlich? – verwischt hat. Dies scheint mir für das Verständnis der ‚Thesen‘ absolut entscheidend.

2. Beschreibung des Monuments Die Überlieferung lässt sich trotz ihrer Komplexität in wenigen Sätzen zusammenfassen, die auch in dieser gedrängten Form einige verbreitete Überzeugungen erschüttern werden. Zunächst stellt sich die Frage, welche Version der ‚Thesen‘ Hannah Arendt den ‚Frankfurtern‘ übergeben hat, und dann, ob es sich um eine Fassung handelte, die man als Fassung letzter Hand betrachten kann. Die Antwort auf die erste Frage bereitet eine erste Überraschung. Als Arendt in ihrem Briefwechsel mit Adorno 26 27 28

Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. II-2. Frankfurt a. M. 1977, S. 469. Hans Robert Jauss: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. M. 1970, S. 186. Vgl. hierzu Gérard Raulet: Interdiskursivität als Methode der Literaturwissenschaft und der Ideengeschichte. In: Deutschlandstudien International, Bd. 2. Hrsg. von Kenichi Mishima u. Hikaru Tsuji. München 1992, S. 135 –155.

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im Jahre 1967 sich wunderte, in der vom Institut für Sozialforschung veröffentlichten Fassung eine Textstelle zu finden, „die in [ihrem] Manuskript nicht vorhanden ist“,29 verwies Adorno in seiner Antwort auf das Typoskript T3, eine vermutlich von Dora Benjamin im Frühjahr 1940 hergestellte Abschrift – die einzige Fassung, in der das Zitat aus Nietzsches zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung das Dreigroschenoper-Zitat als Motto der 7. These ersetzt und in der „Materialismus“ beziehungsweise „Materialist“ systematisch in „Dialektik“ und „Dialektiker“ abgeändert wurde. Offensichtlich lag ein Missverständnis vor. Am 19. Februar 1967 betonte Arendt noch einmal nachdrücklich: „Da sich der Hauptteil der Benjamin-Handschriften bei Ihnen befindet, würde ich Ihnen, falls Sie darauf Wert legen, gern eine Fotokopie des Manuskripts (kein Typoskript), das Benjamin mir gegeben hat, zur Verfügung stellen“.30 Ein Manuskript  – kein Typoskript: also keine Variante von T3. Adorno antwortete diplomatisch, dass das Frankfurter Archiv Hannah Arendt für eine solche Kopie sehr zu Dank verpflichtet wäre.31 Am 17. März 1967 schickt Hannah Arendt die Kopie nach Frankfurt. Die Einzelheiten, die sie in ihrem Brief erwähnt (verblasste Schrift und vor allem die „Rückseiten“:32 das sind die Streifbänder von Zeitungen, auf welchen Benjamin seine Thesen entwarf und die eine Datierung ermöglichen), lassen keinen Zweifel daran, dass es sich um das Manuskript MHA handelt.33 Merkwürdig ist freilich, dass MHA erst 1967 auf solche Weise wieder auftaucht.

29 30 31 32 33

Arendt und Benjamin. Texte, Briefe, Dokumente. Hrsg. von Detlev Schöttker u. Erdmut Wizisla. Frankfurt a. M. 2006, S. 175 (Hervorhebung nicht im Original). Schöttker u. Wizisla 2006 (Anm. 29), S. 178. Adorno an Arendt, 22. Februar 1967. In: Schöttker u. Wizisla 2006 (Anm. 29), S. 179. Schöttker u. Wizisla 2006 (Anm. 29), S. 180. Die neun Blätter des Hannah-Arendt-Manuskripts (Library of Congress, Washington) sind in der aktuellen Suhrkamp-Edition auf S. 7–15 abgebildet, s. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. Hrsg. von Gérard Raulet. Berlin 2010 (Walter Benjamin: Werke und Nachlaß, Bd. 19). Die Abb. 4 und 5 sind hingegen den Manuskript-Konvoluten entnommen – sie belegen den engen (auch chronologischen) Zusammenhang zwischen dem Arendt-Manuskript und dem Konvolut I. Zu den Abweichungen zwischen dem MHA und T4 (posthum = T2) s. Abb. 6. Abb. 7 zeigt die erste Seite des Typoskripts.

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Abb. 4: Manuskriptblatt aus dem Konvolut I. Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Walter Benjamin Archiv, Ms 447r.

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Abb. 5: Manuskriptblatt aus dem Konvolut I. Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Walter Benjamin Archiv, Ms 447v.

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Vergleich zwischen MHA und T2 (T4) „Zu den bemerkenswertesten Eigentümlichkeiten des menschlichen Gemüts“, sagt Lotze, „gehört neben so vieler Selbstsucht im Einzelnen die allgemeine Neidlosigkeit jeder Gegenwart gegen ihre Zukunft.“ Diese Reflexion führt darauf, daß das Bild von Glück, das wir hegen, durch und durch von der Zeit tingiert ist, in welche der Verlauf unseres eignen Lebens uns nun einmal verwiesen hat. Glück, das Neid in uns erwecken könnte, gibt es nur in der Luft, die wir geatmet haben, mit Menschen, die ⌈zu⌉ denen wir hätten reden, mit Frauen, die sich uns hätten schenken können. Es schwingt, mit andern Worten, in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit. Mit der Vorstellung von Vergangenheit, welche die Geschichte zu ihrer Sache macht, verhält es sich ebenso. Die Vergangenheit führt einen zeitlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. Es besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesnen Geschlechtern und unserem. Wir sind auf der Erde erwartet worden. Uns ist wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen. Der historische Materialist weiß davon darum.

„Zu den bemerkenswertesten Eigentümlichkeiten des menschlichen Gemüts“, sagt Lotze, „gehört neben so vieler Selbstsucht im Einzelnen die allgemeine Neidlosigkeit der Gegenwart gegen ihre Zukunft“. Diese Reflexion führt darauf, daß das Bild von Glück, das wir hegen, durch und durch von der Zeit tingiert ist, in welche der Verlauf unseres eigenen Daseins uns nun einmal verwiesen hat. Glück, das Neid in uns erwecken könnte, gibt es nur in der Luft, die wir geatmet haben, mit Menschen, zu denen wir hätten reden, mit Frauen, die sich uns hätten geben können. Es schwingt, mit andern Worten, in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit. Mit der Vorstellung von Vergangenheit, welche die Geschichte zu ihrer Sache macht, verhält es sich ebenso. Die Vergangenheit führt einen zeitlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. Es bethe besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Wir sind auf der Erde erwartet worden. Uns ist wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen. Der historische Materialist weiß darum.

Abb. 6: Vergleich zwischen MHA und T4 (ehemals T2). Quelle: Werke und Nachlaß, Bd. 19: Über den Begriff der Geschichte. Frankfurt a. M. 2010, S. 16 f. und 93 f.

Wie dem auch sei, augenfällig ist, dass MHA der ersten Veröffentlichung der ‚Thesen‘ durch Adorno und Horkheimer nicht zugrundegelegen haben kann: Obwohl beide Texte streckenweise übereinstimmen (wie dies z. B. bei der für einen Vergleich der verschiedenen Fassungen so wichtigen zweiten These der Fall ist),34 kommt in MHA die von Arendt erwähnte Divergenz (die These VII) gar nicht vor, da die siebte These von MHA in allen anderen Fassungen der neunten These entspricht. Die Herausgeber der Gesammelten Schriften haben für dieses philologische Rätsel folgende Erklärung gegeben, die um so plausibler klingt, als sie zunächst bei den Haaren herbeigezogen zu sein scheint: Benjamin habe Arendt sowohl ein Typoskript wie ein Manuskript übergeben – jenes zur Weiterleitung an Adorno, dieses wohl als Geschenk für sie selber. „Als Arendt 1967 Adorno Photographien von M zur Verfügung stellte, glaubte sie, nur dieses Manuskript von Benjamin erhalten und seinerzeit – 1941  – Adorno übergeben zu haben, der es ihr ‚nach Abschrift wieder ausgehändigt‘ hätte“.35 Bestätigt wird dieser Erklärungsversuch von Adorno selbst, der am 12.6.1941 aus New York an Horkheimer schrieb:

34

Diese Stellen sind tatsächlich verwirrend, und wir können sie nicht ignorieren (vgl. Abb. 6). Wir sind aber zum Schluss gekommen, dass dies ein Effekt des Überarbeitungsprozesses ist. 35 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. VII-2. Frankfurt a. M. 1991, S. 781.

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Hannah Arendt, die frühere Frau von Günther Stern, hat uns eine Kopie der geschichtsphilosophischen Thesen von Benjamin gegeben. Gretel hat sie abgeschrieben, und hier erhalten Sie sie. Benjamin hatte in Briefen die Arbeit – als einen Entwurf – mehrfach erwähnt. Sie ist aber, nach meiner Kenntnis, niemals ans Institut gelangt. Ich habe sie erst aus dem Arendtschen Exemplar kennen gelernt.36

Worauf haben nun Adorno und Horkheimer ihre Edition gegründet? War das Typoskript, das ihnen zugrunde gelegen hat, wenigstens eine Reinschrift letzter Hand? Niemand kann es behaupten, und vieles spricht vielmehr dagegen. Denn das Original der Abschrift, von der sie ausgingen, ist bis heute unauffindbar geblieben.37

Abb. 7: Erstes Blatt der von Gretel Adorno erstellten Abschrift einer verschollenen Vorlage (T4). Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Walter Benjamin Archiv, 756/1. 36

Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: Briefwechsel, Band II: 1938 –1944. Frankfurt a. M. 2004, S. 144. 37 Vgl. Abb. 7 (T2  – das Typoskript, auf welchem alle Editionen seit dem Sonderheft der Zeitschrift für Sozialforschung beruhen, und das jetzt zu T4 „degradiert“ wurde). Die Abb. 8 bis 10 zeigen das Sonderheft.

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Eine Suche nach dem Original der Durchschläge T2 im Löwenthal- und im Horkheimer-Archiv führte erst in den letzten Wochen meiner Arbeit an der Entstehungsund Überlieferungsgeschichte der ‚Thesen‘ zu einem unerwarteten Ergebnis. Im Horkheimer-Archiv entdeckte man ein weiteres Exemplar von T2 (Signatur: VI 5A 175 –190), das den von Adorno handschriftlich eingefügten Titel: „Geschichtsphilosophische Reflexionen. Von Walter Benjamin“ trägt und, was den Wortlaut und die Typographie der Thesen betrifft, identisch ist mit dem Exemplar, das sich im Berliner Benjamin-Archiv befindet und das auf der ersten Seite oben rechts den Stempel trägt: Benjamin Archiv / Cop. F. Pollock. Der Stempel ‚Benjamin-Archiv‘ ist derjenige des alten Frankfurter Benjamin-Archivs, das Bestandteil des Adorno-Archivs war. Am Rand der VII., XII. und XVII. Thesen finden sich in beiden Exemplaren dieselben Annotationen, vermutlich von Adornos Hand. Im Unterschied zur Berliner Kopie fehlt aber auf dem Exemplar im Horkheimer-Archiv nicht nur der Stempel, sondern dieses hat zusätzlich zwei Titelseiten (175 –176) auf anderem Papier, die eindeutig keine Durchschläge sind und den Titelblättern der Veröffentlichung im Sonderheft des Instituts entsprechen: Titelblatt: WALTER BENJAMIN / zum Gedächtnis / Institut für Sozialforschung 1942; Widmungsblatt: Dem Andenken Walter Benjamins widmen wir diese Beiträge. / Die geschichtsphilosophischen Thesen, die voranstehen, / sind Benjamins letzte Arbeit. / Max Horkheimer / Theodor Wiesengrund Adorno. Man konnte also annehmen, hiermit die nicht eigentlich verlorene, aber bislang übersehene Vorlage der allerersten ‚Veröffentlichung‘ wieder gefunden zu haben. Allerdings handelt es sich dennoch nur um eine Abschrift.

Abb. 8: Sonderheft der Zeitschrift für Sozialforschung. Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Walter Benjamin Archiv.

„Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption“279

Abb. 9, 10: Sonderheft der Zeitschrift für Sozialforschung. Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Walter Benjamin Archiv.

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3. Hat es je ein ‚Original‘ gegeben? Hat es je ein ‚Original‘ gegeben – und ist dies eine Frage, die uns weiter beschäftigen soll? In diesem Fall geht es nicht nur darum, dass das Original fehlt, sondern die Frage wird aufgeworfen, ob es überhaupt noch Sinn hat, nach einem Original zu suchen. Es sieht alles in allem so aus, als ob Benjamin alles getan hätte, um ‚die Spuren zu verwischen‘. Damit meine ich keine Dramatisierung erster Hand, als hätte Benjamin sein Leben und Werk inszenieren wollen, sondern sozusagen eine Dramatisierung zweiter Hand: also, dass Benjamins ganzes Werk in seiner Logik so entstanden zu sein scheint, dass es zwangsläufig innerlich die eigenen Spuren verwischt. Dieser Eindruck drängt sich erst dann auf, wenn man den ‚Text‘ der ‚Thesen‘ – von seinen mythologisierenden Instrumentalisierungen absehend – als Ganzes, als ein Sinnganzes zu erfassen versucht. Dasselbe Problem stellt sich in weit größerem Maßstab, aber in grundsätzlich ähnlichem Sinn für das Passagen-Werk – wie man sich ebenfalls gewöhnt hat, es zu nennen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass das, was die ungeheure Sammlung von Exzerpten für ein Buchprojekt, das vielleicht den Titel der Exposés – Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts – geführt hätte, in der Breite unternimmt, von den Thesen durch einen unerbittlichen Kondensierungsvorgang einer Engführung unterzogen wird. Vielleicht hätten die ‚Thesen‘, falls sie einmal endgültige Gestalt anzunehmen bestimmt waren, für die Passagen dieselbe Rolle gespielt wie die ‚Erkenntniskritische Vorrede‘ für das Trauerspielbuch. Dies ist in der Regel das Kriterium, an dem man ihre Bedeutung zu messen versucht. Dieses Kriterium ist aber nur zum Teil relevant. Denn die ‚Thesen‘ haben offensichtlich dermaßen die Arbeit an größeren Projekten begleitet, die nie abgeschlossen wurden, dass sie über ihre erste Bestimmung hinausgewachsen sind und sich von ihrer untergeordneten Position emanzipiert haben bis zu dem Punkt, wo sie sich als selbstständiger Text behauptet haben. So werden sie zumindest in der Rezeption angesehen. Und die Rezeption hat völlig recht. Denn alles in allem gibt es von dem großen Projekt nur drei Zeugnisse: die beiden Exposés Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts von 1935 und Paris, Capitale du 19e siècle von 1939 und – mittelbar – die ‚Thesen‘. In beiden Fällen hat die Entwicklung der politischen Situation offensichtlich zu entscheidenden Akzentverlagerungen geführt. Während aber die beiden Exposés sich nebeneinander stellen und vergleichen lassen und während man feststellen kann, dass Benjamin auf den Druck der Geschichte durch den Bezug auf Blanqui antwortet, verhält es sich mit den ‚Thesen‘ ganz anders. In ihnen lässt sich nichts mit früheren Positionen ‚vergleichen‘, weil sie offensichtlich dazu gedient haben, die Verschmelzung der Positionen zu experimentieren und womöglich auf den Begriff zu bringen. Immer mehr nehmen sie im Laufe der Jahre den Charakter eines Atomkraftwerks an, das in Fusion gerät – den Vergleich hätte der technikbegeisterte ‚destruktive Charakter‘ wahrscheinlich nicht verworfen, hat er doch selber dem Vergleich seines Denkens mit einem Kraftwerk zugestimmt. Und immer mehr habe ich bei der Arbeit an den ‚Thesen‘ den Eindruck gehabt, dass sie zwar in erster Linie dazu dienen sollen, philosophisch-politische Einsichten zu verzeichnen und festzuhalten – offensichtlich im Sinne der Arbeit an einem größerem

„Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption“281

Projekt –, aber dass sie zugleich immer wieder aus den Fugen geraten beziehungsweise über ihre begleitende theoretische Funktion hinausschießen. Dabei sind die ‚Thesen‘ umso weniger ein Text, in dem Benjamin die (wie auch immer produktive) Gegensätzlichkeit seiner theoretischen Inspirationsquellen klärt, als sie gerade das Dokument dieser unmöglichen Klärung bilden. Er war sich selber so sehr dessen bewusst, dass er in einem undatierten, auf April 1940 zurückgehenden Brief an Gretel Adorno betont hat, ihm liege „nichts ferner [...] als der Gedanke an eine Publikation dieser Aufzeichnungen“, weil sie ja „dem enthusiastischen Mißverständnis Tür und Tor öffnen“ würde.38 Das Datum ist natürlich wichtig: Der unklare Status der ‚Thesen‘ hängt weitgehend von der Unklarheit der politischen Situation ab. Und er hat sich bis 1940 derart verstärkt, dass die ‚Thesen‘ zu einem politischen Widerstandsdokument und in der Rezeption zu einem mythischen Text wurden. Darin besteht ihr Reiz, oder vielmehr das Reizende an ihnen. Ich werde hier deshalb für einen Umgang mit den ‚Thesen‘ plädieren, den ich einen ästhetischen nenne. Dieser Umgang würde nicht mehr darin bestehen, um jeden Preis identifizierbare ideologische Inhalte und Positionsnahmen auszuloten, sondern das Dokument als Monument zu behandeln – auch und gerade in seiner Materialität. Man gewinnt diesen Eindruck schon auf der sehr sinnlichen Ebene des Aussehens dieser Fragmente. Sie geben als solche eine Einsicht nicht, wie man billig sagt, in Benjamins ‚Werkstatt‘, sondern in seine Denktechnik, wenn ich diesen Begriff prägen darf (nach ihm selbst, der in Einbahnstraße dreizehn Thesen der „Technik des Kritikers“ gewidmet hat). Aufgrund meiner Arbeit an der Edition der ‚Thesen‘ bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass es mit diesem Text etwas Besonderes auf sich hat – und zwar nicht etwas Besonderes im Gegensatz zu den anderen Texten Benjamins, sondern viel eher, weil dieser Text, schon in seiner plastischen Gestaltung, sozusagen das Muster von Benjamins Denkweise ist. Aus der Arbeit an den ‚Thesen‘ ist also eine Überzeugung entstanden: Die Manuskripte (vgl. Abb. 11, 12, 13) müssen nach ihren plastischen und ästhetischen Eigenschaften behandelt werden. Zwar haftet ihnen der Charakter von Vorarbeiten und Entwürfen an – sie sind Parerga und Paralipomena, aber gerade bei Benjamin drängt sich hier die Einsicht wieder in den Vordergrund, dass die Hierarchie zwischen Werk und Nebenwerk, Ergon und Parergon, brüchig wird und dass man nicht mehr so richtig autoritär unterscheiden kann. Von daher eine kritische Ausgabe, die sich solcher Autorität enthält.

38

Benjamin 1974 (Anm. 6), S. 1227.

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Abb. 11: Manuskriptblatt aus dem Konvolut I (Ms 440). Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Walter Benjamin Archiv 753/1.

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Abb. 12: Manuskriptblatt aus dem Konvolut I, Ms 441. Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Walter Benjamin Archiv 753/2.

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Abb. 13: Manuskriptblatt aus dem Konvolut I, Ms 443. Quelle: Akademie der Künste, Berlin, Walter Benjamin Archiv 753/4.

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Man kann die ‚Thesen‘ schlicht als einen Text unter anderen betrachten. Dann besagt er nicht viel mehr als alle anderen: er ist ein Gegenstand für philologische Gelehrsamkeit. Geht man hingegen von der Hypothese aus, dass er als Textbild mehr über die Denkweise seines Autors aussagt, dann muss man von der Überzeugung abrücken, dass das ‚geschriebene Wort‘ die letzte Wahrheit ist. Gerade im Falle Benjamins ist diese Überzeugung an der Entdeckung des sogenannten Agamben-Manuskripts endgültig zerschellt. Das Agamben-Manuskript hat alle bislang geltenden Referenzen revolutioniert. Ich möchte nur kurz erinnern, worum es sich beim Agamben-Manuskript handelt. Als sie den ihnen zugesandten Nachlass von Benjamin öffneten (zwei Koffer, die Martin Domke, ein Rechtsanwalt, den Benjamin wahrscheinlich von Berlin her kannte und mit dem er in den Monaten des Pariser Exils und der Internierung in französischen Lagern verbunden geblieben war, nach New York versandt hatte), drückten Adorno und Horkheimer vor allem ihre Enttäuschung darüber aus, dass in den beiden Koffern von Domke die Aufzeichnungen und Materialien zum Passagen-Werk fehlten. Diese waren Bataille anvertraut worden, der sie 1945 dem Schriftsteller Pierre Missac übergab, mit dem Benjamin während seiner letzten Jahre befreundet gewesen war. Erst nach dem Krieg konnte Pierre Missac 1947 die Manuskripte an Adorno weiterleiten. Die Dreiteilung beziehungsweise Zerstreuung des Archivs, das um seiner Rettung willen in der Pariser Bibliothèque Nationale versteckt worden war, führte nun dazu, dass Bataille nach 1945 das in Paris Verbliebene nicht mehr ganz überschaute. Erst fast drei Jahrzehnte später erinnerte sich seine Witwe, als Giorgio Agamben sich nach den in der BN verlegten Papieren auf die Suche machte, an einen Umschlag, der in der Privatwohnung Batailles geblieben war und nichts anderes als die Fassung T4 enthielt, eine Fassung, deren Funktion offensichtlich darin bestanden hatte, sorgfältig alle im Laufe der Jahre vorgenommenen Änderungen an den ‚Thesen‘ aufzuzeichnen. Diese Entdeckung stellte die kritische Edition der ‚Thesen‘ vor neue Herausforderungen. Sie stellte zunächst die Möglichkeit dar, alle chronologischen Zuordnungen zu überdenken, weil Benjamin im ‚Handexemplar‘ sozusagen ein Tagebuch seiner Arbeit an den ‚Thesen‘ geführt hatte. Das Agamben-Manuskript war aus diesem Grund dazu bestimmt, stellvertretend die Funktion der fehlenden Fassung letzter Hand zu spielen. Haben wir aber mit dem Agamben-Manuskript den Punkt erreicht, an dem in Ermangelung eines absoluten Ursprungs wenigstens das erreicht wäre, was Humboldt (der von der Ursprungskategorie ebenso wenig hält) im Hinblick auf die Sprache einen „Congelationspunkt“ nennen würde? Ja und nein. Denn auch das Agamben-Manuskript ist dann nur als ‚geschriebenes Wort‘ das letzte Wort – d. h. das Ergebnis einer zwar offensichtlich systematisch durchgeführten und trotz aller Lebensunfälle durchgehaltenen Verzeichnung aller Umformulierungen. Ohne die entscheidende Bedeutung dieses philologischen Funds im Mindesten beeinträchtigen zu wollen, kann man nicht umhin, sich die Frage zu stellen, ob er (und zwar gerade, weil er so sorgfältig das Festzuhaltende festhielt) wirklich das ‚Zuletzt-Geschriebene‘ oder vielmehr nur den immer noch vorläufigen

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Zustand eines nicht abschließbaren Prozesses darstellt. Der ‚letzte Bezug‘ also: ein work in progress, nicht Benjamins ‚letztes Wort‘.39

Vergleich zwischen MHA und dem Agamben-Manuskript „Zu den bemerkenswertesten Eigentümlichkeiten des menschlichen Gemüts“, sagt Lotze, „gehört neben so vieler Selbstsucht im Einzelnen die allgemeine Neidlosigkeit jeder Gegenwart gegen ihre Zukunft.“ Diese Reflexion führt darauf, daß das Bild von Glück, das wir hegen, durch und durch von der Zeit tingiert ist, in welche der Verlauf unseres eignen Lebens uns nun einmal verwiesen hat. Glück, das Neid in uns erwecken könnte, gibt es nur in der Luft, die wir geatmet haben, mit Menschen, die ⌈zu⌉ denen wir hätten reden, mit Frauen, die sich uns hätten schenken können. Es schwingt, mit andern Worten, in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit. Mit der Vorstellung von Vergangenheit, welche die Geschichte zu ihrer Sache macht, verhält es sich ebenso. Die Vergangenheit führt einen zeitlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. Es besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesnen Geschlechtern und unserem. Wir sind auf der Erde erwartet worden. Uns ist wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen. Der historische Materialist weiß davon darum.

„„Zu den bemerkenswertesten Eigentümlichkeiten des menschlichen Gemüts““, sagt Lotze, „„gehört neben so vieler Selbstsucht im einzelnen die allgemeine Neidlosigkeit der Gegenwart gegen ihre Zukunft.““ Diese Reflexion führt darauf, dass das Bild von Glück, das wir hegen, durch und durch von der Zeit tingiert ist, in welche der Verlauf unseres eigenen Lebens ⌈Daseins⌉ uns nun einmal verwiesen hat. Glück, das Neid in uns erwecken könnte, gibt es nur in der Luft, die wir geatmet haben, mit Menschen, zu denen wir hätten reden, mit Frauen, die sich uns hätten schenkengeben können. Es schwingt, mit andern Worten, in der Vorstellung des Glücks unveräusserlich die der Erlösung mit. Mit der Vorstellung von Vergangenheit, welche die Geschichte zu ihrer Sache macht, verhält es sich ebenso. Die Vergangenheit führt einen zeitheimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. ⌈Streift denn nicht hin und wieder uns selberst ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewesen ist? ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, hin und wieder 〈?〉 ein Echo von nun verstummten? haben die Frauen, die wir umwerben, nicht Schwestern, die wir sie nicht mehr gekannt haben? Ist dem so,⌉ Esdann besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. WirDann sind ⌈wir⌉ auf der Erde erwartet worden. UnsDann ist ⌈uns⌉ wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen. Der historische Materialist weiss darum.

Abb. 14: Vergleich zwischen dem Hannah-Arendt-Manuskript und dem Agamben-Manuskript. Quelle: Werke und Nachlaß, Bd. 19: Über den Begriff der Geschichte. Frankfurt a. M. 2010, S. 16 f. und 30 f.

Parallel zum Verschriftlichungsprozess der Agamben-Fassung haben in der Rezeption – und dies lange schon vor der neuen kritischen Ausgabe – die bruchstückhaft überlieferten und ebenfalls bruchstückhaft sprichwörtlich gewordenen Fragmente immer schon eine Rolle gespielt. Zum Teil haben sie den eigentlichen philologischen Wortlaut der ‚Thesen‘ stark belastet, weil sie deren Inspiration bald in die Richtung des Historischen Materialismus, bald in diejenige des Messianismus verstärken.

39

Vgl. Abb. 14. Der Vergleich legt den Schluss nahe, dass das Arendt-Manuskript eine viel frühere Fassung war.

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Im Laufe der Jahrzehnte sind die ‚Thesen‘ deshalb als Manifest benutzt und mobilisiert worden. Mit vollem Recht, wie man es auch zugeben soll, haben Adorno und Horkheimer sich diesen Text angeeignet und ihn sozusagen zur Hintergrundfolie ihrer Dialektik der Aufklärung gemacht. Man sollte sich aber der grundsätzlich unterschiedlichen Sprechsituation bewusst sein. Bei aller Tragik ging es bei Adorno und Horkheimer nicht mehr um den letzten Akt des Aufbegehrens und des Widerstands, also um ein quasi apokalyptisches Zeugnis, sondern merkwürdigerweise schon in den Monaten der Entstehung der Dialektik der Aufklärung um eine Bilanz. Das wirkt sich notwendigerweise auf die Natur des Textes aus. Umso wichtiger war es, nicht nur die bislang herrschende Ungenauigkeit im Umgang mit den überlieferten Quellen zu korrigieren, sondern das ‚ganze Bild‘ der ‚Thesen‘ darzubieten. Das Gewicht der bald pointiert marxistischen oder umgekehrt messianischen Formulierungen mag sehr viel damit zu tun haben. Es ist in der Form, in der es nun endlich vorliegt, immer noch eine Baustelle. Trotz eingehender Beschäftigung mit den Fassungen und Manuskripten sowie mit allen diesbezüglichen Dokumenten sehe ich mich nicht in der Lage, mit der Autorität des Philologen irgendwelche Hypothesen dazu zu äußern. Aufgrund des Materials, das mir zur Verfügung stand, lässt sich das Ganze der ‚Thesen‘ nicht entwirren und auf einen Begriff bringen. Alles in allem spricht dies immerhin für einen säkularen Umgang mit den ‚Thesen‘. In dem schon zitierten Brief an Gretel Adorno vom April 1940 weist Benjamin darauf hin, dass für ihn selbst die ‚Thesen‘ – die er als „Aufzeichnungen“ bezeichnet – Werkstattcharakter haben und als Baustelle für mehrere Projekte dienen: In jedem Falle möchte ich Dich besonders auf die 17te Reflexion hinweisen; sie ist es, die den verborgenen aber schlüssigen Zusammenhang dieser Betrachtungen mit meinen bisherigen Arbeiten müßte erkennen lassen, indem sie sich bündig über die Methode der letzteren ausläßt. Im übrigen dienen die Reflexionen, so sehr ihnen der Charakter des Experiments eignet, nicht methodisch allein zur Vorbereitung einer Folge des ‚Baudelaire’. Sie lassen mich vermuten, daß das Problem der Erinnerung (und des Vergessens), das in ihnen auf anderer Ebene erscheint, mich noch für lange beschäftigen wird.40

Von dem engen Zusammenhang der Thesen mit dem geplanten Baudelaire-Buch zeugt der Umstand, dass eine ganze Reihe von Entwürfen (zu XV, B, XI, VII, XII) sich im Nachlass-Konvolut befindet, das die Vorarbeiten zu Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus beziehungsweise zu Über einige Motive bei Baudelaire enthält. Es ist häufig nicht zu entscheiden, ob die Aufzeichnungen und Exzerpte für das eine oder für das andere Projekt bestimmt waren. In den Manuskripten gibt es Siglen, welche die organische Zugehörigkeit der Thesen zum Passagenprojekt anzeigen. Was Benjamin an erkenntnistheoretischen Erwägungen aufzeichnete, hat er zum Teil dem zentralen – mit „Erkenntnistheoretisches, Theo­rie des Fortschritts“ überschriebenen – Konvolut N des Passagenmanuskripts anvertraut. Nicht nur weisen einige Fragmente dieses Konvoluts, in welchen von der Geschichts-

40

Walter Benjamin: Gesammelte Briefe, Bd. VI: Briefe 1938 –1940. Frankfurt a. M. 2000, S. 436.

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auffassung des historischen Materialismus, von dem Verhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit und vom dialektischen Bild die Rede ist, inhaltliche Verwandtschaften mit den Thesen auf,41 sondern Benjamin verweist ausdrücklich auf die Aufzeichnungen zur Passagenarbeit.42 Dies ist aber nur der besagte Werkstattcharakter. Nichts erlaubt, die Überlegungen des Konvoluts N stricto sensu als ‚Vorstufen‘ zu den ‚Thesen‘ anzusehen und deswegen genügt das alles nicht, um den ‚Thesen‘ Eigenständigkeit abzusprechen, zumal Benjamin sehr sorgfältig über Jahre hinweg alle einzelnen Änderungen aufgezeichnet und hat abschreiben lassen. Die Stellung der ‚Thesen‘ im Kontext von Benjamins Arbeiten ist also alles andere als eindeutig. Gleiches gilt für ihre Zuordnung zu einem literarisch-politisch-rhetorischen Genre. Bald scheint es sich um Notizen zu handeln, die parallel zu den anderen großen Projekten (dem geplanten Baudelaire-Buch und dem Passagen-Werk) entworfen wurden, bald wachsen sie über diesen Status von Paralipomena hinaus und erlangen denjenigen von erkenntnistheoretischen Reflexionen, die den anderen Projekten nicht nur zugrundegelegt, sondern in einer ausgearbeiteten Form diesen beigefügt, wenn nicht vorangestellt werden sollten. Bloße Aufzeichnungen also? Sind es Thesen? Und in welchem Sinn? Dieser Frage hat Pierre Missac eine in ihrem Ansatz zwar scharfsinnige, in ihrer Ausführung aber wenig schlüssige Studie gewidmet. Viele Hinweise eröffnen interessante Per­ spektiven, wie der Versuch eines Vergleichs mit anderen Texten, die Benjamin ausdrücklich und mit besonderen Intentionen als Thesen bezeichnet hat, zum Beispiel in Einbahnstraße, und dabei vor allem der Hinweis auf das formale Merkmal, dass die These, wie sie Benjamin in seinen Ausführungen über die Geschichte praktiziert, ihres kurzen aphoristischen Charakters verlustig wird. Auf die kaum angedeuteten Verwandtschaften mit dem Fragment wird nicht eingegangen, obwohl mir die Nähe zum offenen Charakter der Schlegel’schen Fragmente  – deren Umfang sehr unterschiedlich ist  – größer zu sein scheint als diejenige zu den Aphorismen der Fröhlichen Wissenschaft, die zwar nicht mehr kurz sind, aber nichtsdestoweniger gegen andere Positionen eine in sich geschlossene pointierte These behaupten. Benjamins ‚Thesen‘ sind ganz bestimmt kein bloßes Synonym für ‚Ausführungen‘, ‚Notizen‘ oder ‚Entwürfe‘. Der Brief vom 22. Februar 1940 an Horkheimer, in dem Benjamin den Begriff ‚Thesen‘ verwendet, weist diesen zugleich mehrere Funktionen zu: zum einen die einer Verzeichnung der erkenntnisphilosophischen Gewinne des Fuchs-Aufsatzes und zum andern diejenige einer „armature théorique au

41

So zum Beispiel WBA 753/5 (Ms 444) und N 12 a, 1 (Zitat aus Turgots Pensées et fragments; vgl. GS V⋅1, 598), WBA 753/10 (Ms 448) und N 3 a, 1 (wo das Wort von Gottfried Keller zitiert wird: „Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen“; vgl. GS V∙1, 579), WBA 754/14 (Ms 479) und N 4, 3 (Proust über das Erwachen) und N 4, 5 (Bezug auf Max Raphael; vgl. GS V∙1, 580f), Ms 484 und N 9, 7 (das dialektische Bild und Jochmann). 42 In WBA 754/5-9 (Ms 470 – 474). Auch die wenigen erhaltenen Vorarbeiten zum Fuchs-Aufsatz enthalten solche Verweise (vgl. Ms 388).

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deuxième essai sur Baudelaire“ (eines theoretischen Gerüsts für den zweiten Baudelaire-Aufsatz).43 Mit dem ‚mythischen‘ Text könnte es schließlich doch etwas auf sich haben. An einem soll nämlich festgehalten werden: Wenn im sogenannten Passagen-Werk der ‚Plan‘, das auf Zitaten und Exzerpten beruhende konstruktive Vorhaben, bestimmend ist – was die Edition dieser Konvolute zu einer folgenschweren Herausforderung macht –, so folgen die ‚Thesen‘ über die Geschichte einer völlig anderen Logik und gehorchen einem völlig anderen formalen Verfahren. Sie gehen immer über das bloße Exzerpt hinaus und formulieren vielmehr zugleich ‚thesenartig‘ und in Form eines Demonstrationsentwurfs stark pointierte eigene Positionsnahmen von Walter Benjamin selbst. Vieles spricht insofern dafür – wie aus dem Briefwechsel hervorgeht –, dass er sie als Schlüssel für seine verschiedenen Produktionen und Projekte aufgefasst hat: als Schlüssel auch, um den gar nicht so beliebten Fuchs-Auftrag in seine weit höher gesteckten Pläne zu integrieren, um seinen Baudelaire-Plänen historisch-politische Konsistenz zu verleihen und wahrscheinlich nicht zuletzt, um der Praxis des Zitierens und Exzerpierens des Passagenprojekts ebenfalls ein Rückgrat zu geben.

Abstract After recalling in a short preliminary the formation of Walter Benjamin’s dissertation at the University of Bern, the paper describes the genesis of the philosopher’s so-called ‚Thesen‘ Über den Begriff der Geschichte (Theses on the Philosophy of History). In particular, it problematizes the status of unfinished texts in scholarly editing, referring to the findings of the 19th volume (edited by the author) of the new Walter Benjamin Edition: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, im Auftrag des Theodor W. Adorno-Archivs und der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, Bd. XIX: Über den Begriff der Geschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2010.

43

Benjamin 2000 (Anm. 40), S. 400.

Wolfgang F. Kersten

Authentizität oder Kompromiss? Zur internationalen Editionsgeschichte von Paul Klees Schriften „durchhalten!“, Paul Klee, 1940 Vertiefte Rezensionen und wissenschaftsgeschichtliche Einschätzungen zählen in der Klee-Forschung zu den Mangelerscheinungen; sie haben deshalb aber keineswegs den Status von Marginalien.1 Unter dieser Vorgabe sei im Folgenden ein weitgehend selbstreflexiver Exkurs in das historiografische Gebiet gewagt, auch wenn die Grundlagenforschung, für die der hier Schreibende gewöhnlich einzustehen versucht, dabei für einmal nicht bereichert werden kann. Die Editionsgeschichte von Paul Klees Schriften reicht mit der erstmaligen Publikation von Klees Tagebüchern durch den Sohn Felix Klee bis in das Jahr 1957 zurück. Im Rahmen einer Bilanz stellt sich heraus, dass die Frage nach Authentizität bei der Edition der Schriften durchgängig unbefriedigend beantwortet worden ist, sofern sie überhaupt gestellt wurde. Kompromisse prägen bis heute die deutschsprachige wie die fremdsprachige Editionsgeschichte. Dies kann im Hinblick auf folgende Punkte beispielhaft ausgeführt und diskutiert werden: -- Kompromisse bestimmen ohne jede Ausnahme die Edition der Texte, die Klee selbst nicht druckreif ausgearbeitet hat. Besonders krass treten sie bekanntlich in den beiden von Jürg Spiller 1956 und 1970 herausgegebenen und mehrfach aufgelegten Bänden Bildnerisches Denken und Unendliche Naturgeschichte zutage. -- Die vorliegenden Editionen der so genannten Tagebücher von Klee – es handelt sich in Wirklichkeit um das Fragment einer zur Publikation vorgesehenen Autobiographie  – sind weitgehend von sowohl sachlich problematischen als auch forschungspolitisch allzu diplomatischen Kompromissen bestimmt. -- Die von Felix Klee im Jahr 1957 herausgegebenen Tagebücher geben den originalen Wortlaut von Klees Tagebuchnotizen keineswegs durchgängig wieder. Im Jahr 1979 konnte Christian Geelhaar erstmals nachweisen, wie es zur Reinschrift der im Original nicht mehr erhaltenen Tagebuchtexte gekommen ist.2 Geelhaars Projekt zielte auf eine historisch-kritische Neuausgabe, die beispielsweise der Frank­­furter Hölderlin-Ausgabe hätte entsprechen können. Sie wurde jedoch von

1

Von herausragend konstruktiver Bedeutung sind, streng beurteilt, allein die Rezensionen, die Otto Karl Werckmeister verfasst hat; ein vollständiges Verzeichnis für die Zeit bis 1997 findet sich im Schriftenverzeichnis Otto Karl Werckmeister. Bearb. von Wolfgang Kersten. In: Radical Art History. Internationale Anthologie. Subject: O. K. Werckmeister. Hrsg. von Wolfgang Kersten. Zürich 1997, S. 481– 487. 2 Christian Geelhaar: Journal intime oder Autobiographie? Über Paul Klees Tagebücher. In: Ausstellungskatalog Paul Klee. Das Frühwerk 1883 –1922. München 1979, S. 255 – 258.

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Wolfgang F. Kersten

der Paul Klee-Stiftung im Kunstmuseum Bern unter der Leitung von Jürgen Glaesemer abgelehnt. Im Gegenzug entschied man sich für eine „textkritische Neu­ edition“3, die ausschließlich auf die Immanenz von Klees Redaktionsarbeit ausgerichtet war, ohne historische Kontexte zu berücksichtigen. – Das jüngste Kapitel in der internationalen Editionsgeschichte der Tagebücher Klees hat zu zwei weiteren bemerkenswerten Kompromissen geführt. Mit der Faksimile-Ausgabe von Klees Skizzenbuch Bürgi und einem begleitenden Kommentarband liegt eine editorische Arbeit vor, in der die Frage nach Original und Authentizität beantwortet wird. Kompromisslos werden sowohl für Texte als auch für Bilder die Felder kunsthistorischer Analysen ausgelegt. In Klees Nachlass haben sich grundlegende Quellen erhalten, die bis jetzt nicht veröffentlicht worden sind. Auf der Grundlage einer umfassenden Bilanz zur bisherigen Editionsgeschichte wäre darüber nachzudenken, welche Synergien für zukünftige Editionsprojekte frei gesetzt werden könnten.

1. Quantität und Qualität – Probleme und deren Folgen in der Editionsarbeit Paul Klee (1879 –1940) gehört gleich in zweifacher Hinsicht zu den produktivsten Künstlern in der modernen europäischen Tradition. Außerordentlich umfangreich ist sowohl sein bildnerisches Œuvre als auch sein schriftliches Werk. Dementsprechend stellen sich aus der historischen Perspektive sowohl auf der Bild- als auch der Text­ ebene doppelte Ansprüche im Bereich der kunsthistorischen Dokumentation bzw. der literaturgeschichtlichen Edition: Zum einen ist die Quantität zu bewältigen und zum anderen ist die wissenschaftliche Qualität zu gewährleisten. Zu welchen Problemen und Folgen diese doppelte Aufgabenstellung geführt hat, soll kurz angedeutet werden, um eine erste Antwort auf die Frage ‚Authentizität oder Kompromiss?‘ vorzustellen. Klees bildnerisches Œuvre zählt annährend 10’000 Arbeiten. Es sind bekanntlich Werke, die einen integralen Zusammenhang von Bild und Text vor Augen führen, da sie in der Regel sichtbar und lesbar mit handgeschriebenen Titeln versehen sind. Die Bildtitel sind mehrheitlich sprachlich und inhaltlich anspruchsvoll formuliert, sie könnten zur literarischen Gattung der Lyrik gezählt werden. Ein weiterer integraler textlicher Bestandteil von Klees Bildproduktion ist in buchhalterischer Hinsicht vorgegeben. Der Künstler hat selbst über seine Bildproduktion annährend vollständig und sehr detailliert handschriftlich Buch geführt, zunächst in Form von Werklisten sowie Eintragungen in Skizzen- und Tagebüchern, ab 1911 bis kurz vor sein Lebensende in Form eines handschriftlichen Œuvrekatalogs. Dieses private Werkverzeichnis ist nach jahrzehntelangen Vorarbeiten in der Berner Paul Klee-Stiftung zwischen 1998 und 2004 in Gestalt eines 9-bändigen Catalogue Raisonné gewissermassen wissenschaftlich objektiviert und ratifiziert worden; die kunsthistorische Dokumentation folgt weitgehend, d. h. insbesondere in der chronologischen Ordnung den kreativen 3

Die Bezeichnung findet sich als Untertitel wieder: Paul Klee: Tagebücher, 1898 –1918. Textkritische Edition. Hrsg. von der Paul-Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern. Bearb. von Wolfgang Kersten. Stuttgart 1988.

Authentizität oder Kompromiss?293

und buchhalterischen Vorgaben des Künstlers. Insofern erfüllt der Catalogue Raisonné einerseits ein hohes Maß an Authentizität, allerdings ohne die drucktechnisch bedingte Aussagekraft von Faksimile-Reproduktion zu nutzen, was als Ergebnis eines Kompromisses zwischen wissenschaftlicher Anforderung und finanzieller Machbarkeit gewertet werden kann. Andererseits sind notwendige quellenkritische sowie historisch-kritische Verfahrensweisen unzureichend berücksichtigt worden. Dies hat insbesondere Osamu Okuda mit seinen quellenkritischen Untersuchungen zu mitunter lang andauernden Werkprozessen in Klees bildnerischer Arbeit beispielhaft zeigen können. Teppich der Erinnerung ist ein besonders prägnantes Beispiel. Das Werk wird entsprechend Klees Vorgaben in das Jahr 1914 datiert, tatsächlich hat der Künstler jedoch noch sieben Jahre später an dem Bild gearbeitet.4 Die internationale Verständlichkeit des Catalogue Raisonné ist gegeben, da eine komplette englische Ausgabe des Grundlagenwerks vorliegt, wobei die Übersetzung der Bildtitel besonders sorgfältig gehandhabt wurde, hierzu heißt es: „Als Verständnishilfe und Orientierungsmöglichkeit wurde jeweils der Haupttitel, nicht aber die abweichenden Titel übersetzt. Dabei wurde versucht, den Sprachduktus von Klee soweit wie möglich beizubehalten, also inhaltliche Doppelungen oder Wortwiederholungen auch in der Übersetzung zu berücksichtigen. Die Übersetzungen sind als Näherungen zu verstehen und haben keineswegs einen den Haupt- oder abweichenden Titeln vergleichbaren Status.“5 Die Editionsgeschichte von Klees Schriften setzte früher ein als die kunsthistorische Aufarbeitung des bildnerischen Gesamtwerks. Berner Geschäftsleute und Kunstsammler aus dem Freundes- und Bekanntenkreis Paul Klees initiierten in Absprache mit der Künstlerwitwe die Editionsarbeit im Jahr 1941, also mitten im Zweiten Weltkrieg für einen deutschen Künstler, dessen modernistische Kunst im Nationalsozialistischen Regime als entartet galt und dessen Antrag auf Schweizer Staatsbürgerschaft zwei Jahre zuvor erfolglos geblieben war. Der Architekt Werner Allenbach und der Verleger Hans Meyer-Benteli entwarfen 1941 unter Vermittlung des Freundes und Beraters von Lily Klee, Rolf Bürgi, eine Vereinbarung über das erste Publikationsprojekt nach Paul Klees Tod. Geplant war eine Buchpublikation „über die Tagebücher, Briefe und sonstigen nachgelassenen Schriften Paul Klees, in welchen Gedanken über künstlerische und philosophische Probleme oder allgemein für die Bedeutung von Klees Persönlichkeit wichtige Aeusserungen enthalten sind.“6 Dieses ambitiöse Vorhaben scheiterte weitgehend. Es wurde lediglich ein Vortrag pu-

4

Osamu Okuda: Paul Klee. Buchhaltung, Werkbezeichnung und Werkprozess. In: Kersten 1997 (Anm. 1), S. 374 – 397. 5 Catalogue Raisonné Paul Klee, Band 1. 1883 –1912. Hrsg. von der Paul-Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern. Bern 1998, S. 22. 6 Zit. nach Wolfgang Kersten: „Von wo aus Ihnen der Künstler gar nicht mehr als abseitige Angelegenheit zu erscheinen braucht“ . Kunsthistorische Quellenkunde zu Paul Klees Jenaer Vortrag. In: Paul Klee in Jena 1924 – Der Vortrag. Hrsg. von Thomas Kain, Mona Meister u. Franz-Joachim Verspohl. Jena 1999 (Minerva. Jenaer Schriften zur Kunstgeschichte 10), S.  71– 76, hier S.  72. Der Berner Architekt und Sammler Werner Allenbach und der Berner Verleger und Sammler Hans Meyer-Benteli entwarfen 1941 unter Vermittlung des Freundes und Beraters von Lily Klee, Rolf Bürgi, mit der Künstlerwitwe Lily Klee eine Vereinbarung über dieses Publikationsprojekt; vgl. ebd. S. 72ff.

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Wolfgang F. Kersten

bliziert: Unter dem Titel Über die moderne Kunst druckte Hans Meyer-Benteli 1945 in seinem Verlag die 1924 von Klee in Jena gehaltene Rede; anstelle eines Herausgebers und einer editorischen Erläuterung findet sich auf der Titelseite der Publikation die folgende kryptisch gehaltene Notiz: „Dieser Essay aus dem schriftlichen Nachlaß von Paul Klee ist nach vierjähriger Tätigkeit am Bauhaus in Weimar entstanden. Er bildet die Unterlage zu einer Rede, welche der Künstler, anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung moderner Kunst 1924 im Museum Jena und in Gegenwart seiner eigenen Werke, gehalten hat.“7 Es sollten 54 Jahre in der Editionsgeschichte vergehen, bis anlässlich der Ausstellung Paul Klee in Jena 1924 Franz-Joachim Verspohl vom Kunsthistorischen Seminar der Friedrich Schiller-Universität in Jena Klees Vortrag zum ersten Mal in einer textkritischen, vom hier Schreibenden transkribierten, bearbeiteten und kommentierten Ausgabe vorlegte. Solche langen Zeitspannen im Übergang von einer Methode der Textedition zu einer anderen sind sowohl in der Editionsgeschichte von Klees Schriften als auch generell in der Klee-Forschung durchaus symptomatisch. Sie nehmen praktisch ein komplettes Arbeitsleben in Anspruch. Es handelt sich um signifikante Verzögerungen, die sich als Ausdruck quantitativer Probleme begreifen lassen. Darüber hinaus sind es die qualitativen Anforderungen, deren Erfüllung Zeit beansprucht und fachliche Kompetenz voraussetzt. Dies zeigt sich auch in der Geschichte einer jüngeren Publikationsreihe, der Schriftreihe der Klee-Studien, die an das Projekt anzuknüpfen versucht, das 1941 in Bern initiiert worden ist. Sie lässt sich mit Klees Worten unter das Motto setzen: „Die Schöpfung lebt als Genesis unter der sichtbaren Oberfläche des Werks. Nach rückwärts sehen das alle Geistigen, nach vorwärts (in die Zukunft) nur die Schöpferischen.“8 – Im Jahr 2002 gaben Alexander Klee, der Enkel von Paul Klee, Stefan Frey, freiberuflicher Kunsthistoriker, und der Verfasser des vorliegenden Artikels den ersten Band der Reihe heraus. Zu deren Zielsetzungen steht im Editorial zu lesen: Die Schriftenreihe der ‚Klee-Studien‘ versteht sich als kritisches Forum für die internationale Forschung zum künstlerischen Schaffen und zur Biografie Paul Klees. – Zu den Hauptanliegen der Herausgeber zählen im Einzelnen: --------7

Edition historischer Quellen Publikation von Klees Schriften in kritischen Ausgaben Neuauflage vergriffener Sekundärliteratur Veröffentlichung fremdsprachiger  – namentlich japanischer  – Forschungsergebnisse in deutscher oder englischer Übersetzung Herausgabe unpublizierter und schwer zugänglicher Beiträge zur Klee-Forschung Förderung der Grundlagenforschung Begründung und Einhaltung wissenschaftlicher Standards Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Vgl. Wolfgang Kersten: Paul Klee – Das „Skizzenbuch Bürgi“, 1924/25. Faksimile und Kommentar. Zürich 2001 (Klee-Studien. Beiträge zur internationalen Paul-Klee-Forschung und Edition historischer Quellen 1), S. 9. 8 Klee 1988 (Anm. 3), Nr. 932, S. 362.

Authentizität oder Kompromiss?295

Das Spektrum der Schriften in den ‚Klee-Studien‘ wird von der wissenschaftlichen Fachliteratur über die Faksimileausgabe bildlicher beziehungsweise textlicher Quellen und die illustrierte Bildmonografie bis hin zu Ausstellungskatalogen und populären Sachbüchern reichen. Die Themen sollen entweder in einer deutschsprachigen oder einer mehrsprachigen Publikation behandelt und gegebenenfalls über eine Ausstellung vermittelt werden. In dem langfristig angelegten Publikationsprogramm ist durchschnittlich ein Band pro Jahr vorgesehen.9 Diesem selbstauferlegten Anspruch konnte nicht entsprochen werden. Bis heute liegen lediglich drei Bände in deutscher Sprache vor. Zwei davon sind Editionsarbeiten, die eine zum Skizzenbuch Bürgi, die andere zu einem unabgeschlossenen Illustra­ tionsprojekt Klees. Als dritter Band erschien die Dissertation von Anja Walter Ris über die Geschichte der Galerie Nierendorf. Den zweiten Band verfassten Osamu Okuda und Reto Sorg unter dem Titel Die satirische Muse. Paul Klee, Hans Bloesch und das Editionsprojekt „Der Musterbürger“. Klees Jugendfreund Hans Bloesch schrieb 1906 unter dem Pseudonym Johann Jakob Murrner die bissige Beamtensatire ‚Der Musterbürger‘. […] Klee steuerte sieben Illustrationen zu dem satirischen Versepos bei – seine erste Illustrationsfolge zu einer literarischen Vorlage. Da ‚Der Musterbürger‘ nicht publiziert wurde, […] ist das literatur- wie kunstgeschichtlich bedeutsame Projekt von Bloesch und Klee weitgehend unbekannt geblieben. Okuda und Sorg haben [den] Text und die Illustrationen in einer historisch-kritischen Dokumentation erstmals integral zugänglich gemacht und einer gründlichen wissenschaftlichen Analyse [unterzogen].10

Vergleichbar angelegte Editionsprojekte, so etwa zum Briefwechsel zwischen den Ehepaaren Klee und Marc, konnten, und das dürfte doch überraschen, trotz jahrelanger Vorarbeiten bis jetzt nicht realisiert werden.

2. Authentizität: Das Skizzenbuch Bürgi – Bedeutung und Grenzen einer Faksimile-Edition Die erste komplette Faksimile-Ausgabe einer Schrift von Paul Klee realisierte Jürgen Glaesemer, langjähriger Leiter der Paul Klee-Stiftung im Kunstmuseum Bern, 1979 mit dem von ihm herausgegebenen und transkribierten Originalmanuskript von Klees erstem Vortragszyklus am Weimarer Bauhaus in den Jahren 1921/22. Die Publikation lässt sich wissenschaftsgeschichtlich in die seinerzeit neue, d. h. nicht mehr hagiografische, sondern kritische Phase der Klee-Forschung einordnen, auch wenn Glaesemer hier wie in allen seiner späteren Veröffentlichungen auf eine historisch-kritische Herangehensweise bewusst verzichtet hat.11 Seine vor nunmehr 33 Jahren im Einlei-

9 10

Kersten 2001 (Anm. 7), S. 7– 8. Reto Sorg u. Osamu Okuda: Die satirische Muse. Paul Klee, Hans Bloesch und das Editionsprojekt ‚Der Musterbürger‘. Zürich 2005 (Klee-Studien. Beiträge zur internationalen Paul-Klee-Forschung und Edition historischer Quellen 2), S. 7. 11 Vgl. Otto Karl Werckmeister: Die neue Phase der Klee-Literatur. In: Neue Rundschau 89, 1978, S. 405 – 420; vgl. ders.: Versuche über Paul Klee. Frankfurt a. M. 1981, S. 179 –197.

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Wolfgang F. Kersten

tungstext zum Ausdruck gebrachte Hoffnung, dass auch die mehr als 3000 Blätter des pädagogischen Materials von Klee „zu gegebener Zeit in angemessener Form publiziert werden können“,12 harrte bis zum Sommer 2012 ihrer Erfüllung. Seitdem kann das gesamte Material dank der mehrjährigen Transkriptions- und Dokumentationsarbeit von Fabienne Eggelhöfer und Marianne Keller Tschirren über eine Datenbank eingesehen werden (www.kleegestaltungslehre.zpk.org).13 Die zweite, seit 2002 vorliegende Faksimile-Publikation zu einem Werk von Paul Klee, hat das so genannte Skizzenbuch Bürgi zum Gegenstand. Der Name geht darauf zurück, dass es lange Zeit zur Sammlung von Rolf Bürgi gehörte, die im Jahr 2000 erstmals einer breiten Öffentlichkeit über eine Wanderausstellung vorgestellt wurde. Das Skizzenbuch nimmt in Klees Œuvre eine einzigartige Stellung ein. Es gibt kein unmittelbar vergleichbares Objekt in Klees modernistischer Kunstproduktion, und es stellt das einzige überlieferte bildkünstlerische Arbeitsheft des erwachsenen Künstlers dar. Neben dem ›Skizzenbuch Bürgi‹ haben sich allein aus dem Jugendwerk und der Studienzeit von Klee ein Skizzenheft (1889/90), neun Skizzenbücher (1892 –1898) sowie eine Mappe mit ‚Studien und Scizzen bei Knirr‘ (1899) erhalten.14 Sie zeigen vornehmlich Landschaftszeichnungen und Stadtansichten beziehungsweise Akt- und Porträtstudien, und sie sind insgesamt noch traditionell reproduktiv beziehungsweise akademisch angelegt. Diese frühen Arbeiten sind erste Resultate einer eingeschränkten und herkömmlichen Berufsausbildung zum Künstler.15 Klee hat keines der Skizzenbücher aus der Jugend- und Studienzeit in seinen 1911 neu angelegten, handschriftlich geführten Œuvre-Katalog aufgenommen; sie zählten für ihn in der retrospektiven künstlerischen Selbstvergewisserung nicht zum buchhalterisch anerkannten, avantgardistischen Ansprüchen genügenden Œuvre. Dies lässt sich für die einzelnen Darstellungen, die das ‚Skizzenbuch Bürgi‘ enthält, keineswegs feststellen, auch wenn Klee darauf verzichtet hat, sie in seinen Œuvre-Katalog aufzunehmen.16

Die künstlerische Bedeutung des Skizzenbuchs wird im Kommentarband ausführlich dargelegt und begründet. Aufgrund quellenkritischer Befunde erfolgt die Analyse der einzelnen Skizzen historischer Authentizität zuliebe übrigens nicht, wie es die allgemeine Übereinkunft nahelegt, der Abfolge der Seiten im Skizzenbuch, sondern kompromisslos Klees Arbeitsprozessen, soweit sich diese rekonstruieren lassen. Der

12

Paul Klee: Beiträge zur bildnerischen Formlehre. Faksimilierte Ausgabe des Originalmanuskripts von Paul Klees erstem Vortragszyklus am staatlichen Bauhaus Weimar 1921/22. Hrsg. von Jürgen Glaesemer, Paul-Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern. Basel, Stuttgart 1979, S. 6.  13 Vgl. Meister Klee! Lehrer am Bauhaus. Hrsg. von Zentrum Paul Klee, Bern. Texte von Fabienne Eggelhöfer, Marianne Keller Tschirren u. Wolfgang Thöner. Ostfildern 2012. 14 Reproduziert in: Catalogue Raisonné Paul Klee (Anm. 5), S. 52 – 54, S. 59 –131 u. S. 158 –168; die neun Skizzenbücher und die Studienmappe wurden erstmals vollständig abgebildet und kunsthistorisch kommentiert in: Jürgen Glaesemer: Paul Klee. Handzeichnungen I. Kindheit bis 1920. Bern 1973 (Sammlungskataloge des Berner Kunstmuseums: Paul Klee 2), S. 20 –102. 15 Vgl. Otto Karl Werckmeister: Sozialgeschichte von Klees Karriere. In: Paul Klee. Kunst und Karriere. Beiträge des Internationalen Symposiums in Bern. Hrsg. von Oskar Bätschmann u. Josef Helfenstein, unter Mitarbeit von Isabella Jungo u. Christian Rümelin. Bern 2000 (Schriften und Forschungen zu Paul Klee 1), S. 40 – 42. 16 Kersten 2001 (Anm. 7), S. 32 – 35.

Authentizität oder Kompromiss?297

Künstler hat sich bei seinen sporadischen Arbeiten in dem Skizzenbuch keineswegs an die gängige Vorstellung gehalten, die Seiten nach und nach von vorne nach hinten zu füllen. Aus bestimmten, nicht immer mit letzter Gewissheit erklärbaren Gründen benutzte er das ‚Skizzenbuch Bürgi‘ in einer höchst komplexen und bemerkenswerten Art und Weise; über längere Zeiten hinweg liess er es auch einfach ungenutzt liegen. So verwendete er im Jahr 1922 oder 1923 als erstes die letzte Seite (fol. 35 verso) für ein Notat zu einem bestimmten Bild, und erst im Januar 1924 zeichnete er mit Pinsel und Tusche auf die erste Seite (fol. 1 recto) eine Skizze.17

Dass schließlich die meisten Seiten des Skizzenbuchs leer blieben, führte für die Faksimile-Ausgabe allerdings zu dem technischen Kompromiss, dass sie nicht alle einzeln faksimiliert wurden, aber doch so gedruckt , dass der Gesamteindruck des Originals gewahrt bleibt. Im Weiteren wird im Editionsbericht zur Faksimileausgabe bezüglich der Frage nach Authentizität und Kompromiss folgendes ausgeführt: Das Faksimile des ‚Skizzenbuch Bürgi‘ stimmt in Grösse und visueller Erscheinung weitgehend mit dem Original überein. Alle Lithografien wurden direkt nach der Vorlage, ohne Zwischenmedium, hergestellt. Der Druck erfolgte durchgängig im vier Farben-Offsetverfahren und die komplette buchbinderische Verarbeitung von Hand. Druck und Buchbindung unterlagen mehrfach der Kontrolle im Vergleich mit dem Original. Insgesamt dürfte die Faksimileausgabe ästhetischen, konservatorischen und historischen Ansprüchen gleichermassen gerecht werden. Obwohl das ‚Skizzenbuch Bürgi‘ heute technisch fast originalgetreu reproduziert werden könnte, wurde die Faksimilierung nicht in sämtlichen Teilen realisiert. Aus ökonomischen Gründen lag es nah, die materielle Beschaffenheit des Skizzenbuchs nicht bis ins letzte Detail nachzubilden. Es stellte sich in einer Testphase heraus, dass ein heute erhältliches, dem Zeichenpapier im Skizzenbuch entsprechendes Fabriano-Papier (Fabriano Bütten classico feingekörnt, hadernhaltig 160 gr/m2) aufgrund seiner feinkörnigen Oberflächenbeschaffenheit für den präzisen Druck der Abbildungen ungeeignet ist. So sind das farbige Papier des vorderen und hinteren Vorsatzes und die Oberflächenstruktur des Zeichenpapiers auf einem hochwertigen Kunstdruckpapier fotomechanisch wiedergegeben. Die Klebeetiketten auf dem vorderen Spiegel sind ebenfalls fotomechanisch reproduziert. Das Kunstdruckpapier weist eine etwas grössere Stärke als das Fabriano-Zeichenpapier des Skizzenbuchs auf. Für den Vorder- und Hinterdeckel wurde ein dickerer Karton als beim Original gewählt, um Verwerfung und Verzüge zu verhindern. Der Buchblock besteht wie beim originalen Skizzenbuch aus acht fadengehefteten Lagen mit je zwei gefalzten vierseitigen Bögen. Die aus dem Original herausgerissene und nicht erhaltene Seite, fol. 10, ist im Faksimile als leeres Blatt enthalten. Die Faksimileausgabe hat demzufolge einen Umfang von 36 und nicht wie das Original von nur 35 Blättern. Bei der Materialwahl für den Überzug des Vorder- und Hinterdeckels wurde ein Kompromiss eingegangen. Anstelle des Rohzwilchs fand ein Naturleinen Verwendung, das in seiner Farbe und Webenge dem Rohzwilch sehr gut entspricht; Schmutz-, Gebrauchs- und Alterungsspuren auf dem Umschlag wurden nicht simuliert. Der Vorder- und Hinterdeckel wurde von Hand kaschiert, der Buchblock ebenfalls von Hand mit Baumwollfaden auf eine Gaze gebunden und hinter das vordere und hintere Vorsatz geklebt. Die wiederum von Hand mit Naturleinen kaschierte Bleistiftschlaufe wurde unter das hintere Vorsatz geklebt.18

17 18

Ebd., S. 14 –15. Ebd., S 21– 22.

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Wolfgang F. Kersten

Die möglichst originalgetreue Dokumentation von Klees Werk beschränkte sich bisher – abgesehen von einigen wenigen Faksimiles von Gemälden und mehrfarbigen Blättern19  – auf kunsttheoretische und autobiografische Texte.20 Insofern stellt die Faksimileausgabe des Skizzenbuch Bürgi in der Klee-Forschung eine Pionierarbeit dar. Sie leistet einen Beitrag zur Förderung der Grundlagenforschung, insbesondere im Bereich der Gegenstandssicherung und der historischen Quellenkunde. – „Je mehr die Kunstgeschichtsschreibung auch im Fall von Paul Klee auf einer fortschreitenden dokumentarischen Objektivierung besteht, um so deutlicher kann trotz ästhetischer Gegenwärtigkeit die historische Distanz zu modernistischer Kunst bestimmt werden.“21

3. Diplomatische Kompromisse: Klees Tagebücher – Von der undurchsichtigen Kompilation über die textkritische Edition in eine ungewisse Zukunft Felix Klee, der 1907 geborene Sohn von Paul und Lily Klee, gab 1957 die Tagebücher seines Vaters heraus. Die seitdem in ungezählten Neuauflagen gedruckte Edition verdankt sich einer zum Teil undurchsichtigen Kompilation von Texten, die nicht allein aus den vier überlieferten Tagebuchheften, sondern auch aus Tagebuchexzerpten stammen, welche Klee an zeitgenössische Kunstschriftsteller schickte, die das Material für die ersten Monografien über den Künstler benutzten. Weitere editorische Eingriffe führten dazu, dass der originale Wortlaut von Klees durchnummerierten und tagebuchartig formulierten Notaten bis zum Erscheinen der textkritischen Edition im Jahr 1988 für die Öffentlichkeit unbekannt geblieben ist. Und weil der von Klee vorgegebene Begriff ‚Tagebücher‘ von Felix Klee ohne quellenkritische Untersuchung übernommen wurde, hat sich ein historisch unangemessenes Verständnis eingebürgert, das auch heute noch in weiten Fachkreisen vorherrscht. Dabei hat Christian Geelhaar bereits 1979 in einem wegweisenden Aufsatz völlig überzeugend dargelegt, dass es sich bei den vier erhaltenen Tagebüchern in Wirklichkeit um das Fragment einer zur Publikation vorgesehenen Autobiografie handelt. Klee hat bis mindestens 1921 an diesem Projekt, modernistische Kunst aus der Authentizität des subjektiven Erlebens zu begründen, gearbeitet und bis mindestens 1926 war eine Publikation vorgesehen. Mit den ersten Vorarbeiten dürfte Klee spätestens 1911 begonnen haben, indem er bis heute nicht nachgewiesene originale Tagebuchnotizen 19

Vgl. vor allem Paul Klee. Blätter aus Privatbesitz. Faksimile der Moderne 6. Vorwort und beschreibendes Verzeichnis von Felix Klee. Graz 1988 (eine Faksimile-Wiedergabe von 6 Werken im Originalformat). 20 Vier Publikationen sind zu nennen: (1) Paul Klee: Graphik. Mit einem Vorwort von Felix Klee. Bern 1956 [Weihnachtsdruck 1956, Klipstein & Kornfeld, vorm. Gutekunst & Klipstein, Bern]; (2) Paul Klee: Beiträge zur bildnerischen Formlehre. Faksimilierte Ausgabe des Originalmanuskripts von Paul Klees erstem Vortragszyklus am staatlichen Bauhaus Weimar 1921/22. Hrsg. von Jürgen Glaesemer, Paul-Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern. Basel, Stuttgart 1979 [verkleinerter Wiederabdruck in Schwarzweiß in: Paul Klee: Kunst-Lehre. Aufsätze, Vorträge, Rezensionen und Beiträge zur bildnerischen Formlehre. Leipzig 1987, S. 91– 313]; (3) Klee 1988 (Amn. 3); (4) Paul Klee: Vortrag in Jena, 26. Januar 1924. In: Kain, Meister u. Verspohl (Anm. 6), S. 11– 46, Transkription und Erläuterungen von Wolfgang Kersten, S. 47– 69. 21 Kersten 2001 (Anm. 7), S. 23.

Authentizität oder Kompromiss?299

aus der Zeit zwischen 1897 und 1901 in einem ersten Heft ins Reine schrieb. Die zweite Reinschrift, das Italienische Tagebuch  – es umfasst die Zeit vom Oktober 1901 bis zum Mai 1902 – hat Klee nicht vor 1914/15 abgeschlossen und die des dritten Bandes, er enthält Notate für die Zeit von 1902 bis 1916, nicht vor Herbst 1921. Allein der vierte fragmentierte Band – er deckt die Jahre von 1916 bis 1918 ab – ist in der ursprünglichen Fassung erhalten. Im vorderen Teil fehlen ungefähr 60 Seiten, sie sind herausgerissen worden. Hieraus lässt sich schließen, dass Klee seine Arbeit an der Reinschrift, d. h. sein Projekt einer Autobiografie Ende 1921/Anfang 1922 abgebrochen hat. Einer der möglichen Gründe hierfür wird darin bestanden haben, dass er aufgrund seiner kunstpädagogischen Verpflichtungen am Bauhaus seit Januar 1921 den Übergang zu einer systematischen Kunstlehre vollzogen hat und eine neue Form der Einführung und Begründung modernistischer Kunst anbot. Für die historische Bedeutung des autobiografischen Versuchs bleibt festzuhalten: Klees Reinschrift der nicht erhaltenen originalen Tagebuchnotate kann quellenkritisch gelesen nicht mehr in allen Teilen vorbehaltlos als authentisches Zeugnis aus der Zeit betrachtet werden, von der sie zu handeln vorgibt. Es ist in jedem Fall zu bedenken, inwieweit sie retrospektiv geschriebene Reflexionen darstellen, für die veränderte Gesichtspunkte bestimmend waren. Dies zeigt sich beispielhaft in der berühmt gewordenen hochstilisierten Selbsteinschätzung, die Klee im Zusammenhang mit seiner Tunisreise vom Frühjahr 1914 keineswegs zeitgleich, sondern frühestens sieben Jahre später in der Reinschrift des dritten Tagebuchs unter Nummer 926 o gesetzt hat: „ich und die Farbe sind eins“; noch 1919 hatte er Wilhelm Hausenstein gegenüber eher nüchtern von einem „koloristischen Antrieb“ bzw. einer „Befestigung der Farbe“ gesprochen. Die mögliche historische Bedeutung der voneinander abweichenden Formulierungen ist in der Klee-Forschung zwar längst offen gelegt worden, sie hat sich aber bis heute nicht durchsetzen können, weil der künstlerischen Selbststilisierung gegenüber historisch-argumentativen Erläuterungen allzu häufig der Vorzug gegeben wird.22 In diesem Kontext ist nolens volens auch die vergangene sowie zukünftige Editionsgeschichte von Klees Reinschrift der Tagebücher zu diskutieren. Christina Geelhaar hat in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre alle nötigen Vorarbeiten betrieben, um eine historisch-kritische Edition zu besorgen. Dies wurde ihm durch Jürgen Glaesemer verwehrt. Nach diversen vergeblichen Versuchen mit anderen Personen wurde der Autor des hier stehenden Textes im Januar 1986, zwei Wochen nach seiner Promotion, damit beauftragt, die Herausgabe zu übernehmen. Aufgrund seiner damaligen beruflichen Unerfahrenheit und anderer Faktoren sah er sich außerstande, an das Projekt von Christian Geelhaar anzuknüpfen, was wissenschaftlich beurteilt die richtige Entscheidung gewesen wäre. Stattdessen kam es unter den Vorgaben von Glaesemer zu dem diplomatischen Kompromiss, eine textkritische Edition zu verfolgen, die dann 1988 publiziert werden konnte. – Inzwischen ist diese Ausgabe vergriffen, eine

22

Vgl. u. a. Wolfgang Kersten: Paul Klee: „…ich und die Farbe sind eins“. Eine historische Kritik. In: Kunst-Bulletin (12. Dez. 1987), S. 10 –14; Wolfgang Kersten u. Osamu Okuda: Paul Klee. Im Zeichen der Teilung. Die Geschichte zerschnittener Kunst Paul Klees 1883 –1940. Mit vollständiger Dokumentation. Stuttgart 1995, S. 45 – 54.

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Wolfgang F. Kersten

Neuauflage ist aus unerklärlichen Gründen nicht vorgesehen, während die wissenschaftlich überholte Ausgabe von Felix Klee im Buchhandel weiterhin greifbar ist. Für 2007 war eine neue von Alexander Klee herausgegebene Ausgabe angekündigt: Dazu heißt es in einem der Werbetexte des Dumont-Verlags: 50 Jahre nach der Erstausgabe erscheint eine vollständig überarbeitete und von Paul Klees Enkel Alexander Klee durchgesehene Neuausgabe der Tagebücher. Dieser Band ist um eine Auswahl wichtiger kunsttheoretischer Texte und Kritiken erweitert, die seit Jahren nicht mehr verlegt waren. In der neuen Ausstattung – mit einem Faksimile aus dem Originaltagebuch im Vorspann – ist das Buch ein einzigartiges Dokument zum Leben dieses wegweisenden Künstlers.

Verlagsangaben zufolge sollte diese Edition im März 2012 erscheinen, was jedoch keineswegs zutraf. Wie dem auch sei, mit solch einer Ausgabe befände sich die wissenschaftliche Community in der Tat wiederum auf der Basis einer bloß dokumentierenden Kunst- und Literaturgeschichte. Dies ließ sich zum einen selbstverständlich mit dem Gang in Fachbibliotheken vermeiden. Zum anderen zeigt die Editionsarbeit in Japan, dass zumindest auch der Fortbestand der textkritische Edition international gesichert werden kann. Seit 2009 liegt eine komplette japanische Übersetzung vor. Die Übersetzungen in englischer, französischer, italienischer und spanischer Sprache beruhen hingegen noch auf der Ausgabe von 1957. Angesichts dieser heterogenen, von Fortschritten, Rückschritten und Kompromissen bestimmten Editionsgeschichte der Schriften Paul Klees bietet sich eine offensive Alternative an: Die Erarbeitung einer historisch-kritischen Edition der Reinschrift von Klees Tagebüchern in deutscher und englischer Sprache – unter der Devise „durchhalten!“

Abb. 1: Paul Klee: Durchhalten (1940)

Authentizität oder Kompromiss?301

Abstract The history of editions of Paul Klee’s literary works can be traced back to 1957. A review of the editions shows that the question of authenticity had generally been answered in an unsatisfactory way, provided it had ever been mentioned. Compromises characterize to date the German and foreign editions. With the facsimile edition of Klee’s sketchbook Bürgi and an accompanying commentary the question of original and authenticity has been answered. The fields of art-historical analyses are uncompromisingly expounded for both texts as well as images.

Angela Reinthal

InterNationalität und InterDisziplinarität der Hans Kelsen Werke (HKW)

1. Kurzbiographie von Hans Kelsen Der bedeutende Rechtswissenschaftler Hans Kelsen wurde am 11. Oktober 1881 in Prag geboren, studierte in den Jahren 1901 bis 1906 in Wien, wo die jüdische Familie seit 1884 lebte, und habilitierte sich dort für Staatsrecht und Rechtsphilosophie im Jahr 1911, nachdem er 1908 und 1910 Studienaufenthalte in Heidelberg und Berlin absolviert hatte.1 1905 trat er zum römisch-katholischen, 1912 gemeinsam mit seiner Braut Margarete Bondi (1890 –1973) zum evangelischen Glauben über. 1915 wurde Kelsen außerordentlicher Professor in Wien, 1919 Ordinarius und Mitglied des deutsch­österreichischen Verfassungsgerichtshofes ebendort. 1918 wurde er von Staatskanzler Karl Renner (1870 –1950) zur Mitarbeit an der Ausarbeitung der definitiven Verfassung der Republik Österreich aufgefordert – eine Tätigkeit, aufgrund derer Kelsen bis heute als Architekt der österreichischen Verfassung von 1920 bekannt geblieben ist. 1930 verlor Kelsen nach einer politisch motivierten Umgestaltung des Verfassungsgerichtshofes sein Amt als Verfassungsrichter und nahm einen Ruf an die Universität zu Köln für Öffentliches Recht, insbesondere Allgemeine Staatslehre und Rechtsphilosophie, an. 1933 wurde Kelsen eines der ersten Opfer des nationalsozialistischen ‚Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‘ vom 7. April 1933: Am 13. April 1933 wurde er mit sofortiger Wirkung von seinem Amt als Hochschullehrer beurlaubt, am 11. September entzog man ihm die Lehrerlaubnis, am 1. Januar 1934 wurde er in den Ruhestand versetzt. 1934 erschien eines seiner wichtigsten Werke in deutscher Erstauflage: Die Reine Rechtslehre.2 1933 bis 1940 war Kelsen am Institut universitaire de hautes études internationales (HEI) in Genf und an der Deutschen Universität in Prag tätig, bis er mit seiner Familie im Sommer 1940 über Lissabon nach Amerika emigrierte. Zunächst war Kelsen zwei Jahre lang Lecturer an der Harvard Law School, anschließend Lecturer und schließlich Full Professor of Political Science in Berkeley (Kalifornien), wo er 1951 emeritiert wurde. Er starb drei Monate nach seiner Frau Margarete am 19. April 1973 in Orinda östlich von Berkeley.

1

Vgl. Chronik Hans Kelsen. In: Hans Kelsen: Werke, Bd. 1: Veröffentlichte Schriften 1905 –1910 und Selbstzeugnisse. Hrsg. von Matthias Jestaedt in Korporation mit dem Hans Kelsen-Institut. Tübingen 2007, S. 94 –104. 2 Hans Kelsen: Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik. Leipzig u. Wien 1934.

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Angela Reinthal

1971 wurde anlässlich von Kelsens 90. Geburtstag in Wien zum Zwecke der Sammlung und Pflege seines Werkes die Bundesstiftung des Hans Kelsen-Instituts (HKI) installiert. In den Räumen des HKI wird der wissenschaftliche Nachlass aufbewahrt, wobei Autographen und andere frühere Textstufen von Kelsens Werken wie Typoskripte, korrigierte Fahnenläufe oder Exzerpte nur in geringer Zahl aus der Zeit vor der Emigration stammen, d. h. die Überlieferung deckt bei weitem nicht das gesamte Werk Kelsens ab. Seitdem Kelsen in Amerika lebte, hob er regelmäßig mehrere korrigierte Fahnenläufe seiner Schriften auf. Die Bibliographie sämtlicher wissenschaftlicher Texte von Kelsen enthält gut 400 Titel unterschiedlichen Umfangs: vom einspaltigen Zeitungsartikel bis zum 903 Druckseiten umfassenden Werk The Law of the United Nations, erschienen 1950. Seit 2006 erscheint unter der Leitung von Matthias Jestaedt die von der DFG als Langzeitprojekt geförderte historisch-kritische Werkausgabe der Schriften von Hans Kelsen, die Hans Kelsen Werke (HKW).

2. InterNationalität Die Frage nach der InterNationalität der HKW lässt sich in zwei Ausrichtungen ausdifferenzieren: vom Autor her und von den Rezipienten her. Kelsen war  – schon biographisch bedingt – ein mehrsprachiger Autor, der zeitlebens international, nämlich sowohl in Europa als auch auf dem amerikanischen Kontinent wirkte. Kelsens Gesamtwerk gliedert sich in etwa 65% deutschsprachige, 30% englischsprachige und 5% französischsprachige Erstpublikationen. Sein Werk wiederum wurde oft und wird nach wie vor durch Übersetzungen verbreitet. Die Rezeption seines Werkes insgesamt, aber auch einzelner Schriften hängt stark von Art und Güte der Übersetzungen ab. Beispiele: Kelsens 1911 erschienene Habilitationsschrift Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze ist bis heute nicht ins Englische übersetzt worden. Im Grundsatz entwickelt Kelsen hier aber schon Positionen, die er in der 1934 erschienenen Reinen Rechtslehre zusammenfasste. Dies wurde bisher in der ‚Anglosphere‘ so gut wie nicht wahrgenommen, da infolge der nicht sehr ausgeprägten Fremdsprachenkompetenz kaum ein amerikanischer oder englischer Wissenschaftler, der sich mit Kelsen beschäftigt, der deutschen Sprache mächtig ist und dementsprechend die Hauptprobleme verstehen kann. Die englische Übersetzung der 2. Auflage von Kelsens Reine Rechtslehre verzichtet auf einen Großteil der Fußnoten und beeinflusst damit das Verständnis.3 Die Rezeption der HKW beispielsweise geht wieder andere Wege: 40% der Auflage wird nach Asien, vorrangig nach Japan, verkauft. Insgesamt ist bisher die Hälfte der Auflage von 500 Exemplaren verkauft, womit auch der Verlag Mohr Siebeck in Tübingen zufrieden ist. Es lässt sich fragen, ob sich die Edition angesichts der unterschiedlichen Sprachen, in denen Kelsen publiziert hat, den jeweiligen Editionsstandards anpasst, d. h. bei

3

Pure Theory of Law by Hans Kelsen. Translation from the Second (Revised and Enlarged) German Edition by Max Knight. Berkeley, Los Angeles 1967. Auf S. V heißt es: “Many polemical footnotes, however, were omitted in this translation”.

InterNationalität und InterDisziplinarität der Hans Kelsen Werke305

den englischsprachigen den englischen und bei den französischen den französischen Standards. Beispielsweise werden in englischen Texten die Namen nicht kursiviert, was bei deutschen juristischen Texten Standard ist und in den HKW entsprechend vereinheitlicht wird. Umgekehrt werden lateinische Ausdrücke, die in juristischen Texte häufig sind, in englischsprachigen Publikationen regelmäßig kursiviert, indes diese Observanz im Deutschen unbekannt ist. Freilich ist das Gros der Werke Kelsens in deutscher Sprache erschienen, und es würde wenig Sinn ergeben, innerhalb einer Ausgabe je nach Originalsprache des edierten Textes die Editionsstandards zu wechseln. Edieren heißt immer auch: Entscheidungen treffen, und in diesem Fall ist die grundsätzliche Entscheidung für einen durchgängig deutschsprachigen Anmerkungsapparat, eine deutschsprachige Herausgeberrede und einen Editionsstandard, der sich an den Kriterien und Ansprüchen einer deutschen historisch-kritischen Ausgabe orientiert, gefallen. Inwieweit diese Entscheidung sich auf die weltweite Kelsen-Rezeption auswirken wird  – liest ein Franzose oder ein Amerikaner deutsche Fußnoten? –, bleibt abzuwarten. Auch kann eingewendet werden, dass Kelsens Integration in der neuen Umgebung, die die Sprache einschließt, dokumentiert werden könnte, indem eine englischsprachige Erstpublikation mit einem der Sprache wie der Publikations- und Editionskultur nach englischen Editionsapparat versehen wird.4 Diese Entscheidung wird erst dann definitiv fallen, wenn die ersten nichtdeutschsprachigen Publikationen in einer der Weltsprachen zur Edition anstehen. Eine Reduzierung der Ansprüche der HKW steht nicht zur Diskussion; dies bezieht sich vor allem auf die nicht vorhandene Tradition historisch-kritischer Ausgaben in Frankreich.5 Ein Sonderfall lag in HKW 3 vor, nämlich ein von Kelsen auf Deutsch verfasster Text, der in einer tschechischsprachigen Zeitschrift in einer Übersetzung durch den Nationalökonomen Karel Engliš (1880 –1961) erschien.6 Das deutschsprachige Original war nicht mehr auffindbar. So wurden der tschechische Text und eine neue, vom Herausgeber der HKW in Auftrag gegebene deutsche Übersetzung hintereinander gedruckt. Beide Texte haben einen identischen deutschsprachigen Fußnotenapparat. Solche Übersetzungen kommen auch in den künftigen Bänden vor, aber ihre Zahl wird überschaubar bleiben. Übersetzungen von englischen oder französischen Texten wird es nicht geben. Zum zweiten verfügen die HKW über einen internationalen Beraterstamm, die ‚Advisors‘, die in 14 unterschiedlichen Ländern aus drei Kontinenten tätig sind und den Bearbeitern nicht nur mit Rat und Tat zur Seite stehen, sondern auch die Rezeption in den jeweiligen Ländern beobachten beziehungsweise selbst durch Publikationen zur Kelsen-Rezeption beitragen. Bei den Tagungen zu Hans Kelsen, zuletzt im

4 5

Diskussionsbeitrag von Gabriele Wix (Bonn), für den ich herzlich danke. Vgl. Almuth Grésillon: Bemerkungen zur französischen „édition génétique“. In: Textgenetische Edition. Hrsg. von Hans Zeller u. Gunter Martens. Tübingen 1998 (Beihefte zu editio 10), S. 52 – 64. 6 Hans Kelsen: Sociologická a právnická idea státni. In: Sborník věd právních a státních 14, 1913/1914, S. 69 –101. Wieder in: Hans Kelsen: Werke, Bd. 3: Veröffentlichte Schriften 1911–1917. Hrsg. von Matthias Jestaedt. Tübingen 2010, S. 171–199; die deutsche Übersetzung unter dem Titel Die soziologische und die juristische Staatsidee von Jana Osterkamp ebd., S. 201– 234.

306

Angela Reinthal

April 2009 in Wien7 und im Oktober 2011 in München,8 waren viele der Advisors anwesend und haben hier und anderswo durch Beiträge die weitere Rezeption stimuliert.9

3. InterDisziplinarität 3.1 Die Hans Kelsen Werke (HKW) Die Interdisziplinarität der Kelsen-Ausgabe ist bereits darin begründet, dass eine philologische Disziplin, die Editionswissenschaft, in den Bereich der Jurisprudenz integriert wird.10 Im Februar 2006 wurde an der Universität Erlangen-Nürnberg die Hans-Kelsen-Forschungsstelle (HKF) ins Leben gerufen. Geleitet wird sie von Matthias Jestaedt, Finanzierung erhält sie von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem österreichischen Bundeskanzleramt. Seit April 2011 befindet sie sich an der Universität Freiburg im Breisgau. Aufgabe der Forschungsstelle ist die Edition aller wissenschaftlichen Publikationen von Hans Kelsen, in einem späteren Stadium auch die Ausgabe seiner Nachlassschriften, voraussichtlich in der Größenordnung von 30 plus 10 Bänden. Derzeit sind die Bände 1, 2 (in zwei Halbbänden), 3 und 5 erschienen, Band 4 liegt in der 2., seitenstabilen Fahne vor. In jedem Band befindet sich jeweils vor den Editionsrichtlinien die abgebildete Seite ‚Benutzungshinweise‘. Hier kann man schon viel von dem ablesen, was das Editionsteam leistet. Die editionstechnischen Einzelheiten der Ausgabe kann der Leser den etwa zwanzig Seiten umfassenden Editionsrichtlinien entnehmen, die fortlaufend mit Entscheidungen über den Umgang mit neu auftretenden Problemen ergänzt werden. Beispielsweise wurden in Band 2, als uns erstmals ein Autograph vorlag, die Editionsrichtlinien um die Regeln zur textgenetischen Bearbeitung erweitert.11 Kolumnentitel sowie die HKW-Paginierung und die Dokumentation der Originalpaginierung in der Marginalienspalte dienen dem Leser als Orientierungshilfe. Die Nummerierung der Kelsen-Originalfußnoten und jene der Anmerkungen des Herausgebers unterscheiden sich in der Schriftart, außerdem befinden sich die Texte der Kelsen-Fußnoten oberhalb und jene der Herausgeber-Anmerkungen unterhalb des den Kelsen-Text von der Herausgeberrede trennenden Strichs. Den Großteil der He7

8 9

10 11

Dokumentiert in: Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit. Ergebnisse einer internationalen Tagung, veranstaltet von der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs und dem Hans Kelsen-Institut (19. – 21. April 2009). Hrsg. von Robert Walter, Werner Ogris und Thomas Olechowski. Wien 2009 (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Institutes 32). Hans Kelsen und die deutsche Staatslehre. Stationen eines wechselvollen Verhältnisses. Hrsg. von Matthias Jestaedt. Tübingen 2013 (Recht-Wissenschaft-Theorie 8). Vgl. Hans Kelsen anderswo. Hans Kelsen abroad. Der Einfluss der Reinen Rechtslehre auf die Rechtstheorie in verschiedenen Ländern, Teil III. Hrsg. von Robert Walter, Clemens Jabloner u. Klaus Zeleny. Wien 2010 (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 33). Hier skizzieren die Advisors Nicoletta Bersier Ladavac die Rezeption Kelsens in Italien (S. 1– 29) und Ryuichi Nagao Kelsens Rezeption in Japan (S. 203 – 225). Vgl. Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. 2., ergänzte und aktualisierte Auflage. Stuttgart 2006, S. 8. Aktuelle Version der Richtlinien: Hans Kelsen: Werke, Bd. 5: Veröffentlichte Schriften 1919 –1920. Hrsg. von Matthias Jestaedt. Tübingen 2011, S. 5 – 21.

InterNationalität und InterDisziplinarität der Hans Kelsen Werke307

Benutzungshinweise

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HKW 2, 21–878

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schen doch ein Sollen anderen Inhalts entgegenzusetzen 112, so sehe ich nicht ein, weshalb wir uns durch die nicht größere Bestimmtheit der übrigen Natur brauchten verhindern zu lassen, auch für sie ein Sollen zu konstruieren. Nur daß es unnütz ist, weil ganz allein an psychologischen Wesen das ausgesprochene Sollen seine Nützlichkeit ausüben kann, dürfte den Hinderungsgrund bilden. Und gerade Kant, indem er die ungerechte Verteilung von Tugend und Glückseligkeit in der Welt als etwas ganz unerträgliches hervorhebt, empfindet das angemessene Verhältnis, nach dem der Gute seinen Lohn und der Böse seine Strafe erhält, als ein Sollen, das der Natur gegenüber gilt und dem sie denn auch in einer jenseitigen Welt nachkommt. 113 Der Imperativ ist nur ein einzelner Fall des Sollens oder vielmehr ein Mittel, durch welches das Sollen in das Sein übergeführt wird“ 1). 114 Doch wird im folgenden immer nur von dem Gesolltsein menschlicher Handlungen die Rede sein. Innerhalb 116 der menschlichen Handlungen allerdings muß nicht jede einzelne zu einer Norm in ein Verhältnis gebracht, als unter der Herrschaft einer bestimmten Norm stehend erkannt werden, vielmehr gibt es zahlreiche vom normativen Standpunkte aus völlig indifferente Handlungen, ein Verhalten, das in keiner Weise als geboten oder verboten erscheint, ohne daß wir darum die normative Gesetzgebung als lückenhaft empfinden und als einer Ergänzung bedürftig erachten würden, während wir vom explikativen Standpunkte aus das Nichtzurückführenkönnen irgend eines tatsächlichen Geschehens auf ein Naturgesetz als eine vorläufige Unzulänglichkeit unserer momentanen Erkenntnis betrachten, die zu beheben als Aufgabe der Wissenschaft gilt. Treffend führt schon Schleiermacher 2) 118 als Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz aus, „daß alles

13

1)

a.a.O. S. 9, 11. 115 Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz, gelesen am 6. Januar 1825. Sämtliche Werke. III. Abteilung, 2. Bd. S. 405. 117 2)

112 «entgegenzusetzen»] Simmel, Moralwissenschaft (Anm. 44), S. 10: «gegenüber zu stellen». 113 Simmel fasst hier wahrscheinlich mehrere Aussagen Kants zusammen. Zur Rolle der Tugend und Glückseligkeit als höchstes Gut vgl. z. B. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Riga 1788, S. AA V 110–119, 124–132. 114 «Allein es kann … S. 9, 11.» (919 –9211, 9225)] in A2 eingefügt. 115 Simmel, Moralwissenschaft (Anm. 44), S. 9 f. 116 «wird. … Innerhalb»] A1 «wird. Innerhalb»; A2 «wird. Doch wird im folgenden immer nur von dem Gesolltsein menschlicher Handlungen die Rede sein Innerhalb». 117 Friedrich Schleiermacher, Ueber den Unterschied zwischen Naturgesez und Sittengesez. Gelesen am 6. Januar 1825, in: Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke, Dritte Abteilung. Zur Philosophie, Bd. 2, Berlin 1838, S. 397–417 (405) – im Originalzitat „Gesez“ anstelle von „Gesetz“, so auch in A. 118 Friedrich (Daniel Ernst) Schleiermacher (1768–1834), ev. Theologe, Philosoph, Philologe; 1804 a.o. Professor der Theologie und Philosophie in Halle, 1806 Ordinarius, 1810 o. Professor der Theologie in Berlin, 1814 Sekretär der philosophischen Abteilung der Akademie der Wissenschaften. Wichtige Werke: Plato, Werke, aus dem Griechischen übersetzt, 5. Bde., Berlin 1804–1810 (2. Aufl., 6 Bde., Berlin 1817–1828); postum: Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament, Berlin 1838; Dialektik, Berlin 1839.

Abb. 1: Benutzungshinweise der HKW.

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rausgeber-Anmerkungen bilden die erneuten Nachweise von Kelsen-Zitaten nach erfolgter Autopsie des jeweils von Kelsen verwendeten Buches in heutiger Zitierweise. Sollte sich bei der Überprüfung herausstellen, dass das Zitat bei Kelsen inhaltsverändernd vom Originalzitat abweicht, wird eine textkritische Fußnote eingefügt. Auch Personen- und Sacherläuterungen finden sich in den Herausgeber-Anmerkungen, dies entspricht sozusagen dem Kommentar der Ausgabe. Es gibt keinen auf Einzelstellen der edierten Texte bezogenen Kommentaranhang und nur selten umfangreichere Erläuterungen. Neben Personen- und Sacherläuterungen gibt es gelegentlich einmal einen Zitatnachweis, z. B. bei einer Goethe-Stelle oder einer Anspielung auf einen Bibelvers. Allerdings enthält die Ausgabe sowohl einen Editorischen Bericht als auch ein Schrifttums- und ein Gesetzesverzeichnis. Der Editorische Bericht enthält Informationen, die sich nicht nur auf einzelne Textstellen, sondern den Beitrag als Ganzes beziehen und daher sinnvoller Weise nicht in regulären Herausgeber-Anmerkungen untergebracht werden könnten. Insbesondere prästiert der Editorische Bericht Hinweise zu Entstehung, Quellenlage und Duktus des jeweiligen Kelsen-Textes und zur darauf bezogenen Editionsarbeit im engeren Sinne. Das Schrifttumsverzeichnis enthält alle nach den Einzelbeiträgen geordneten Werke mit vollständigem bibliographischen Nachweis. Es enthält sowohl die in den Werken Kelsens als auch die im editorischen Bericht genannten Titel. Das Gesetzesverzeichnis zielt speziell auf die juristische Leserschaft ab, indem es alle im Band vorkommenden Rechtsnormen aufführt, und zwar einmal sortiert im Hinblick auf die Länder (bzw. Rechtsordnungen) und einmal in alphabethischer Reihenfolge nach den Abkürzungen. Ein großes Problem der Edition besteht darin, dass eine Ausgabe eines wissenschaftlichen Werkes vorgelegt wird, d. h. neben dem Haupttext liegt auch ein Original-Fußnotenapparat vor. Das gängigste Textverarbeitungsprogramm, Word von Microsoft, kann aber nicht zwei Fußnotenapparate – Kelsen-Fußnoten und Anmerkungen des Editionsteams – verwalten. Daraus haben sich zwei Fragen ergeben, nämlich erstens: Wie soll der doppelte Fußnotenapparat im Druck dargestellt werden? Darauf aufbauend zweitens: Wie lässt sich das technisch bewerkstelligen? Schaut man sich bei anderen juristischen Werkausgaben um, stellt man fest: Die sechsbändige Ausgabe Gesammelte Schriften von Adolf Julius Merkl (erschienen 1993 bis 2009)12 verzichtet auf editorische Anmerkungen. Die Gesamtausgabe von Gustav Radbruch (erschienen 1987 bis 2003)13 verwendet einen recht komplizierten, nicht selbsterklärenden Verweisapparat. Die Fußnoten Radbruchs stehen ganz normal unter dem Text, wie im Erstdruck. Die Herausgeber-Erläuterungen, sortiert nach Textgruppen, findet man jeweils am Ende eines Bandes. Dass ein Stichwort kommentiert ist, sieht man an einem nach links gewendeten Pfeil im Haupttext hinter dem jeweiligen Stichwort. Die Nachteile liegen auf der Hand: Die Pfeile erzeugen optisch unschöne Eingriffe in den Haupttext und verlangen vom Leser ein ständiges Hin- und Herblättern.

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Adolf Julius Merkel: Gesammelte Schriften, Bd. I/1– 3/2. Hrsg. von Dorothea Mayer Maly, Herbert Schambeck u. Wolf-Dietrich Grussmann. Berlin 1993 – 2009. 13 Gustav Radbruch: Gesamtausgabe, Bd. 1– 20. Hrsg. von Arthur Kaufmann. Heidelberg 1987– 2003.

InterNationalität und InterDisziplinarität der Hans Kelsen Werke309

Beides ist weder leserfreundlich noch ästhetisch ansprechend. Die fünfbändige Hugo-Preuss-Ausgabe14 verfährt ähnlich, verzichtet aber auf kleine Pfeile im Haupttext. Da die Texte von Hugo Preuss fast keine Fußnoten aufweisen, entfällt der bei Kelsen notwendige Aufwand, einen doppelten Fußnotenapparat zu verwalten. Die aus Gründen der Handhabungsfreundlichkeit getroffene Entscheidung, sowohl Autoren- als auch Herausgeberfußnoten auf einer Seite, nämlich am unteren Seiten­ ende zu präsentieren, zog bei den Hans Kelsen-Werken Umsetzungsprobleme auf der Arbeitsebene in der HKF – also vor einer drucktechnischen Aufbereitung durch den Verlag – nach sich. In Band 1 wurde nur mit der Word-Fußnotenverwaltung und mit Unterstreichungen gearbeitet. So stand beispielsweise hinter einer Original-Kelsenfußnote, die nicht unterstrichen war, direkt der Nachweis des Herausgebers mit Unterstreichung. Auch Experimente mit verschiedenen Farben wurden gemacht. Auf Anregung unserer Satzfirma begannen wir dann bei Band 2, mit einer Kombination aus Microsoft Office Word 2003 und XML-Elementen zu arbeiten. Ab Band 2 sind die Kelsen-Fußnoten von den Herausgeber-Anmerkungen getrennt. Das System hat sich, mit kleinen Anpassungen, bisher bewährt. Die Mischung aus Word und XML begründete sich aus der Zusammenarbeit mit den Hilfskräften, die ebenfalls mit den Dateien arbeiten und meist mit Word vertraut sind, aber weniger mit XML. XML hilft auch bei der Erstellung eines computergenerierten Personenregisters. Der Tag < editnam >, mit dem alle bibliographischen Nachweise gekennzeichnet sind, wird bei der Erstellung einer Bibliographie aller von Kelsen benutzten Werke relevant werden. Der Versuch, auch das Sachregister mit XML-Tags zu erzeugen, wurde jedoch aufgegeben, weil der Text dadurch vollkommen unlesbar wurde, im Sachregister nicht nur Kelsen-Begriffe, sondern auch heutige Termini verwendet werden und die Registererstellung gegenüber einer händischen Erstellung keinerlei messbare Vorteile brachte. Durch den Umzug nach Freiburg und die damit verbundene Umstellung auf Word 2010 sahen wir uns vor die Wahl gestellt, entweder die ‚kelsen.dot‘ auf Word 2010 umzuschreiben oder komplett auf einen XML-Editor umzusteigen. Nach meinen Erfahrungen mit einem solchen Programm ist die normale Bearbeitung mit XML einer Hilfskraft genauso einfach zu erklären wie die Arbeit mit der bisher verwendeten Mischung. Die Umstellung auf das neue Programm ist gerade in Arbeit, allerdings muss dabei die Kostenentwicklung für den Verlag im Auge behalten werden. 3.2 Disziplinäre Grenzgänge Auf der abgebildeten ‚Benutzungshinweise‘-Seite‘ finden sich auch ‚textkritische‘ beziehungsweise ‚textgenetische Anmerkungen‘. Die Basis unserer Edition bildet immer der Erstdruck. Frühere Textstufen wie handschriftliche Vorlagen, Fahne oder Typoskript, werden im Apparat mit textgenetischen Fußnoten nachgewiesen, wenn es sich um eine inhaltstragende Veränderung handelt, und zwar in einer synthetischen Darstellung. Ein Treppenapparat widerspräche sämtlichen juristischen Lesegewohn14

Hugo Preuß: Gesammelte Schriften, Bd. 1– 5. Hrsg. von Detlef Lehnert u. Christoph Müller. Tübingen 2007ff.

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heiten. Dem Germanisten vertraute Konzepte wie ‚Ausgabe letzter Hand‘ oder die Frage nach dem poetischen Entstehungsprozess eines Textes laufen im rechtswissenschaftlichen Bereich ins Leere – ich komme darauf zurück. Kelsen sah sich selbst nicht als literarischen Autor, er hob keine Dokumente – wie Tagebuchnotizen – auf, im Nachlass finden sich wenig Exzerpte und frühere Textstudien. Über seinen wissenschaftlichen Nachlass hat er keinerlei Verfügung getroffen. Auch sind mir keine Äußerungen Kelsens über die Entstehung seiner Werke bekannt. Der in der Germanistik geläufige ‚Werkbegriff‘ trägt hier nicht. Die einzige bisher bekannte Ausnahme ist der Aufsatz Politische Weltanschauung und Erziehung, der 1913 erschien.15 Die Konzeptblätter zu diesem Text – zwölf Notizseiten –, das Autograph und die Entwurfsblätter sind erhalten geblieben, wobei eine Seite einen Briefentwurf an den Verlag enthält. Es handelt sich offenbar um eine Stichwortsammlung, und Kelsen strich die einzelnen Punkte durch, sobald er sie in die endgültige Version eingearbeitet hatte. Obwohl ca. 80% entziffert wurden, sind die Seiten mit einer Beschreibung, aber mit Rücksicht auf die zahlreichen nicht entzifferbaren Stellen ohne Transkription im editorischen Bericht abgedruckt.16 Jedoch scheint festzustehen, dass Kelsen zwischen dem Papier- und dem Kopfarbeiter einzuordnen war. Den Autographen sind verschiedene Stadien der Bearbeitung, Sofortkorrekturen, auch Schnitte und Umstellungen anzusehen, aber ein unübersichtliches Handschriftenchaos liegt nicht vor. Charakteristisch scheint zu sein, dass er – nach allfälligen Vorarbeiten – zunächst den Haupttext (mit Tinte) niederschrieb und in einem zweiten Durchgang die Fußnoten (oft mit Bleistift) ergänzte. Mit dieser Arbeitsweise konform ist der Aufbau der Handschrift: Bereits bei der Niederschrift seiner Habilitationsschrift Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatz (Tübingen 1911) erarbeitete er sich ein System aus lose ineinander gelegten, in der Mitte geteilten ‚Quartbogen‘. Diese waren weder geheftet noch gebunden, sondern wurden mit einem Umschlagblatt oder – je nach Umfang des Manuskriptstapels –, mehreren Umschlägen zusammengehalten. Nachträglicher Austausch oder Ergänzung von Blättern sind bei diesem System ohne Probleme möglich. Außerdem beschrieb Kelsen zunächst immer nur die recto-Seite, so dass die verso-Seite des Blattes für Überarbeitungen zur Verfügung stand.17 Die textgenetische Bearbeitung dokumentiert die inhaltstragenden Veränderungen, jedoch wird mangels belastbarer Anhaltspunkte nicht differenziert oder rekonstruiert, wann genau Kelsen die Änderungen notiert hat. Fest steht aber auch, dass eine Handschrift von Kelsen, abgesehen von Verschiebungen ganzer Absätze innerhalb des Textes oder der nachträglichen Einfügung überlanger Fußnoten, bei weitem nicht die Komplexität dichterischer Handschriften aufweist, die ja bis hin zur editorischen Unbeherrschbarkeit reichen kann.

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Hans Kelsen: Politische Weltanschauung und Erziehung. In: Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung 2, 1913, S. 1– 26. Wieder in: HKW 3 2010 (Anm. 6), S. 112 –145. 16 Matthias Jestaedt: Editorischer Bericht ‚Politische Weltanschauung und Erziehung‘. In: HKW 3 2010 (Anm. 6), S. 668 – 683, insbesondere S. 670 – 677. 17 Ausführlich dazu: Matthias Jestaedt: Editorischer Bericht ‚Hauptprobleme der Staatsrechtslehre‘ (1911). In: Hans Kelsen: Werke, Bd. 2: Veröffentlichte Schriften 2011, 2. Halbband. Hrsg. von Matthias Jestaedt. Tübingen 2008, S. 881– 913, speziell S. 891– 897.

InterNationalität und InterDisziplinarität der Hans Kelsen Werke311

Im Editorischen Bericht von HKW 4 werden die juristischen Leser mit einem Paralleldruck konfrontiert, der aufzeigt, wie eng ein Vortrag von Kelsen, über den in Zeitschriften berichtet wird, mit dem ein Jahr später erschienenen Aufsatz zusammenhängt: Der Hauptunterschied besteht darin, dass der gedruckte Aufsatz über Fußnoten verfügt.18 Der nicht genannte Autor des Zeitschriftenbeitrags in der Gerichtshalle verfügte offensichtlich über das Vortragsmanuskript, denn die Wiedergabe der Rede ist über lange Phasen hinweg textidentisch mit dem späteren Aufsatz, wohingegen der Bericht in den Juristischen Blättern kürzer und referierender ist. Obwohl Hans Kelsen bei zweien der drei Texte also nicht als Autor genannt wurde, wurde dennoch beschlossen, alle drei als Kelsen-Text anzusehen und in die HKW aufzunehmen. Die HKW verstehen sich als Hybridedition: Einerseits ist die Ausgabe den Anforderungen einer historisch-kritischen Edition verpflichtet, andererseits will sie eine modernen präsentationstechnischen Standards genügende, auf eine gute Lesbarkeit der Schriften von Kelsen Wert legende Edition sein. Die Vermischung (Hybridität) besteht also darin, die Gratwanderung zwischen germanistischen Ansprüchen an die Genauigkeit der Textgenese und der Textkritik und der Rezeptionshaltung einer juristisch interessierten Leserschaft zu vollziehen, die vorrangig am Inhalt und weniger an der Ästhetik der Darbietung oder der Diskussion um ein linksgedrehtes Komma im Varianten-Friedhof interessiert ist. An dieser Schaltstelle begegnen sich das philologische und das juristische Fachwissen, und jede Entscheidung über eine ‚inhaltstragende Veränderung‘ erwächst jeweils aus abwägenden Überlegungen und internen Diskussionen. Das Editionsteam besteht derzeit – interdisziplinär – neben dem Herausgeber, Prof. für Öffentliches Recht und Rechtstheorie, aus zwei Juristen und einer Germanistin sowie drei studentischen Hilfskräften (Jurastudenten) und einer Rechtsreferendarin. Die Frage nach der Schwerpunktsetzung zwischen „schreiber­ orientierter oder benutzerorientierter Textgenetik“19 wurde hinsichtlich der Tatsache, dass es sich zum einen hauptsächlich um juristische Texte handelt, die vorrangig von Juristen gelesen werden, und zum anderen ein Sinn der Edition in der wissenschaftlichen Zugänglichmachung der verstreuten Kelsen-Texte besteht, zugunsten der benutzerorientierten Variante entschieden. Eine DVD-Ausgabe der Hans Kelsen Werke ist derzeit nicht geplant. Es wurde diskutiert, nach dem Vorbild beispielsweise der Ausgabe der Tagebücher von Harry Graf Kessler eine ergänzende DVD herauszugeben, welche die philologischen Interessen befriedigen könnte. Doch es ergab sich, dass ein vollständiger textgenetischer Anmerkungsapparat vor allem viel Arbeit macht, wofür Zeit und Personal fehlen, dem 18

Hans Kelsen: Wesen und Wert der Demokratie. Vortrag vor der Wiener Juristischen Gesellschaft am 5. November 1919. In: Juristische Blätter 48, 1919, S. 378 – 380, bzw. Hans Kelsen: Vom Wesen und Werte der Demokratie. Vortrag vor der Wiener Juristischen Gesellschaft am 5. November 1919. In: Gerichtshalle 63, 1919, S. 292 – 294 und 304 – 308. Der zweite Beitrag ist weitgehend identisch mit Hans Kelsen: Vom Wesen und Wert der Demokratie. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 47, 1920/1921, S. 50 – 85, deswegen werden in Bd. 4 der HKW die beiden Texte im editorischen Bericht parallel abgedruckt. 19 Harry Fröhlich: Zwischen Skylla und Charybdis – Textgenetische Editionen zwischen Schreiber- und Benutzerorientierung. Probleme und Lösungsversuche der Eichendorff-Edition. In: Zeller u. Martens 1998 (Anm. 5), S. 294 – 311, hier S. 295.

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juristischen Publikum aber kaum einen Zugewinn verschafft, da der juristische Leser rein auf Inhalte eingestellt und für die Darbietung von nicht-inhaltsverändernden textgenetischen Fußnoten wenig empfänglich ist. Die vollständige Wiedergabe sämtlicher Autographen verbietet sich aus demselben Grund. Darüber hinaus ist Kelsen, bei aller Hochschätzung als rechtswissenschaftlicher Autor, nicht mit literarischen Autoren wie Hölderlin oder Kafka gleichzusetzen; dementsprechend würde die bis ins kleinste Detail gehende Auseinandersetzung mit Autographen bei Kelsen weithin philologischem Selbstzweck gleichen. Langfristig ist der vollständige Scan aller Nachlassschriften von Kelsen in Österreich geplant. Dann werden dem Interessierten alle Schriften elektronisch zugänglich sein.20 Um dem Leser aber einen Eindruck der Handschrift geben zu können, bilden wir, falls ein Autograph vorliegt, ausgewählte Seiten an den entsprechenden Stellen in der HKW ab. Politische Weltanschauung und Erziehung (1913)

125

Abb. 2: Autographenseite. 20

Vgl. zur Faksimile-Ausgabe Plachta 2006 (Anm. 10), S. 22 – 24.

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3.3 Selbstverständnis Die Hans Kelsen-Werke verstehen sich als Pioniervorhaben, und zwar aus mehreren Gründen. Im Bereich der Jurisprudenz liegt – abgesehen von der oben genannten Gustav Radbruch-Gesamtausgabe – bisher keine einzige Gesamtausgabe eines wissenschaftlichen Werkes vor, und neben den HKW wurde, soweit ich sehe, noch kein adäquates Projekt begonnen. Vergleichbar ist höchstens die Gesamtausgabe des Soziologen, Juristen und Nationalökonomen Max Weber (1864 –1920). Dies gilt vor allem für die Selbstreflexion der jeweiligen Herausgeber. Haben wir bei der Merkl-Ausgabe in Bd. 1 eineinhalb Seiten redaktionelle Anmerkungen, umfasst der Editionsbericht in der Radbruch-Ausgabe in Bd. 1 immerhin 79 Druckseiten. Der ‚Editorische Bericht‘ in HKW 5 nimmt 39 Seiten in Anspruch, in HKW 3 128. In Bd. I/1 der Max Weber-Gesamtausgabe (MWG) sind es 56 Seiten. Im Seitenaufbau sind die HKW und die MWG recht ähnlich, allerdings werden hier textgenetische Anmerkungen mit großen und kleinen Buchstaben ausgeflaggt und in einem geschichteten Fußnotenteil wiedergegeben, indes sie in HKW einfach hintereinander durchnummeriert und nicht weiter differenziert werden, was übersichtlicher wirkt, aber gleichwohl keine Genauigkeitseinbußen zur Folge hat, da die unterschiedlichen editorischen Anmerkungskategorien anhand ihres Inhalts und Aufbaus leicht zu unterscheiden sind. Die Editionsberichte sind in der MWG jeweils dem Text zugeordnet, in der HKW sind sie in einer III. Sektion in der Abfolge der Texte untergebracht. Falls ein Autograph vorliegt, wird er im Editorischen Bericht beschrieben. Ausgewählte Autographenseiten werden im Kelsen-Text abgebildet, damit der Leser eine Vorstellung von der Handschrift bekommt. In vielen Punkten war die seit 1984 erscheinende MWG anregendes Vorbild für die HKW. Die der MWG beigefügte Studienausgabe, die sich auf den gesicherten Text ohne den editorischen Apparat beschränkt und sich in der Preisgestaltung am studentischen Geldbeutel orientiert, hat mit Blick auf das Werk Kelsens ebenfalls eine Parallele gefunden, nämlich in der Studienausgabe von Kelsens Reine Rechtslehre (1. Auflage 1934), die – mit gesichertem Text und einer umfangreichen Einleitung, aber ohne editorischen Apparat – 2008 erschien.21 Innerhalb der HKW wird dieser Text erst in Bd. 13 oder 14 publiziert. Derzeit entsteht eine weitere Studienausgabe, die der 1960 erschienenen 2., die Erstauflage um mehr als das Vierfache an Umfang übersteigende Auflage der Reinen Rechtslehre gewidmet sein wird. Die in Wien erschienene Ausgabe bildet auch hier die Basis, allerdings haben sich Briefe Kelsens an den Übersetzer des Buches ins Italienische aus den Jahren 1965 bis 1966 erhalten. Diesen Briefen beigefügt ist eine mehrseitige maschinengeschriebene Liste mit Korrekturen, die Kelsen in der italienischen Ausgabe berücksichtigt wissen wollte und die in der Studienausgabe als Fußnoten berücksichtigt werden. In diesem Fall näherte sich Kelsen einem eigenen Werk redigierend. Das ist bereits für sich genommen spektakulär. Durch die Kor-

21

Hans Kelsen: Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik. Studienausgabe der 1. Auflage von 1934. Hrsg. und eingeleitet von Matthias Jestaedt. Tübingen 2008. Zum Typus der Studienausgabe vgl. Plachta 2006 (Anm. 10), S. 17–18.

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respondenz lässt sich zumindest teilweise der Entstehungsprozess der italienischen Übersetzung rekonstruieren.

4. Fazit Zu erwarten ist, dass sich durch die chronologisch angelegte Gesamtausgabe, die neben den bahnbrechenden theoretischen Werken auch entlegene und vergessene Zeitungs- und Zeitschriftenartikel wieder ans Licht bringt, die Bekanntheit und die wissenschaftliche Einschätzung des Werkes von Hans Kelsen erweitern wird. Das Angebot zur Interpretation von Kelsens Werk wird durch die Ausgabe und vor allem durch die Hinweise in den editorischen Berichten wesentlich gesteigert. Interdiszi­ plinär ist die Gratwanderung zwischen philologischer Darbietung und juristischer Aufnahme vor allem in den textgenetischen Fußnoten immer gegeben und muss jeweils wieder neu in jedem Einzelfall entschieden und aktualisiert werden. Das macht die Editionsarbeit spannend. Zu erhoffen ist darüber hinaus eine gesteigerte ästhetische Sensibilität in der Rechtswissenschaft für die Qualität einer anspruchsvollen Ausgabe. Ganz abgesehen von der „kulturpflegerischen Funktion“,22 Kelsen-Texte für mindestens die nächsten 500 Jahre zu sichern.23

Abstract Since 2006, the Hans Kelsen Research Group (from 2011 in Freiburg) has been editing Hans Kelsen’s scholarly ‘oeuvre’ – the Hans Kelsen Werke (HKW). Kelsen (1881–1973), one of the founding fathers of Austria’s constitution and an extraordinary legal theorist, was one of the most important jurists of the 20th century. Four volumes have already been published; HKW 4 will be published in late 2011. The contribution presents the international and interdisciplinary work elements of the edition.

22 23

Plachta 2006 (Anm. 10), S. 19. Für die Bewilligung zur Abbildung aus den HKW danke ich herzlich dem Hans Kelsen-Institut in Wien, dem Mohr Siebeck Verlag in Tübingen und Herrn Prof. Dr. Matthias Jestaedt, Freiburg i. Br.

Roland S. Kamzelak

Satirische Quellen kommentieren. Ein Werkstattbericht der Edition Silvesterpost 1920

Im Nachlass von Walther Unus im Deutschen Literaturarchiv Marbach ist eine einzigartige Archivalie enthalten, die eine interdisziplinäre Edition notwendig macht: Silversterpost 1920.1 Die Archivalie Sipo, welche Bezeichnung das Emblem der Titelseite nahelegt, wurde von einem wissenschaftlichen Benutzer2 des Instituts gefunden. Es ist ein gefaltetes Blatt mit vier Seiten in der Aufmachung einer Zeitung. Als Unikat kann die Sipo bezeichnet werden, da bisher nur ein einziges Exemplar bekannt ist. Ob es sich bei dem im Deutschen Literarturarchiv erhaltenen Objekt um einen Einzeldruck handelt oder keine anderen Exemplare erhalten sind, ist noch nicht ermittelt. Walther Unus (1872 –1939) war Übersetzer. Er übersetzte seine Zeitgenossen, z. B. Algernon Charles Swinburne (1837–1909), Carl Miles (1875 –1955), Oscar Wilde (1854 –1900), aber auch Gustave Flaubert (1821–1880). Das alleine hätte ihm sicherlich keinen Platz im Archiv gesichert. Er pflegte aber eine langjährige Freundschaft mit Klabund 3, die auch in einem intensiven Briefwechsel dokumentiert ist. Unus war zudem Sammler von Klabunds Schriften, darin auch das Exemplar der Silvesterpost. Der Zusammenhang mit der Sammlung ist mit Bleistift in Unus Hand notiert: „Klabund“. Er signiert damit den Artikel An alle! auf der Titelseite, der einem gedruckten Text von Klabund wörtlich entspricht.4 Sonst gibt es keinen eindeutigen Hinweis

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Deutsches Literaturarchiv Marbach, H: Klabund (Sammlung Walther Unus). Guido Kohlbecher sei an dieser Stelle für die Trouvaille und die Überlassung für die Edition Dank gesagt. 3 D. i. Alfred Henschke, 1890 –1928. 4 Klabund: Die Modelle des Phidias. In: Klabund: Sämtliche Werke, Bd. 3: Dramen und Szenen, 2. Teil. Hrsg. von Niemeyer-Lemke Henning. Amsterdam 1998, S. 649 – 650: Der Tag rückt immer näher, da das griechische Volk zu entscheiden haben wird, welches Schicksal es in seine Hand gelegt hat. Mit donnerndem Fanfarenton bricht die Morgenröte einer neuen Zeit an. Da ziemt es sich wohl, Rückblick und Ausschau zu halten. Fern sei es von uns, dem Faß der Danaiden den Boden der Tatsachen, auf den wir uns gestellt haben, auszuschlagen. Wohlauf: vorwärts und rückwärts, das sei die Parole! Dem Volke muß die Religion erhalten bleiben. Dies kann nur durch allgemeinen Preisabbau und durch rationelle Dividenden-Politik erreicht werden. Die notleidende Großindustrie, welche jetzt schon nicht mehr in der Lage ist, ihre Riesengewinnste entsprechend anzulegen, muß in die Arbeitslosenfürsorge einbezogen werden. Mit dem Kapitalismus hat das Proletariat manch Hühnchen zu rupfen. Heben wir die Hand – sie soll uns verdorren, wenn wir die Wahrheit nicht sagen – zum Schwur, daß dieses Huhn bald im Topfe jedes Arbeiters schmoren soll. Wir sind für die proletarische Diktatur in ihrer gemäßigten Form: der konstitutionellen Monarchie.

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auf die Urheberschaft der Zeitung, auch in den Briefen zwischen Unus und Klabund findet sich kein Vermerk darüber. Der Begriff ‚Silvesterpost‘ bzw. ‚Silvesterzeitung‘ lässt sich über die gängigen Nachschlagewerke wie bspw. den Brockhaus oder den Duden nicht nachweisen. Es lassen sich jedoch vergleichbare Zeitungen ähnlichen Zwecks und Inhalts finden, so im betreffenden Zeitraum etwa: -- Illustrierte Hamburger Sylvester-Zeitung: humoristischer Rückblick in die Vergangenheit nebst einem prophetischen Ausblick in die Zukunft von dem Verfasser der Köpenicker Woche (Hamburg 1906). -- ‚Kladderadatsch‘ Berlin. Sylvester- und Neujahr-Zeitung (Berlin: A. Hofmann, 1848 –1858). -- Sylvester-Zeitung (Berlin: Wilke, 1892/93). -- Sylvester-Zeitung (Meißen: Schmidt, 1.1925  – 5.1929). Diese, meist zu den Sonderbeilagen oder Sonderausgaben gehörenden Printmedien, sind an ein allgemeines Publikum gerichtet und erscheinen einmal jährlich zum Silvesterabend bzw. Jahreswechsel. Sie enthalten einen Jahresrückblick aus satirischer und humoristischer Perspektive. Dabei werden bedeutende Ereignisse aus Politik, Wirtschaft und Kultur des vergangenen Jahres thematisiert. Im vorliegenden Fall wird der Titel Silvesterpost zu Sipo abgekürzt, was gleichzeitig die Abkürzung für Sicherheitspolizei ist. Es ist eine Anspielung auf die 1920 neu eingeführte Zivileinheit in Berlin. Die Namensgebung verweist damit auf den Charakter und den Inhalt der Sonderbeilage. Der Aufbau der Sipo folgt im Wesentlichen dem Aufbau einer Tageszeitung um 1920, wie z. B. der Vossischen Zeitung oder dem Berliner Tageblatt. Sie entspricht mit einer Breite von 32 cm und eine Länge von 48 cm beinahe dem sogenannten Berliner Format mit 31,5 cm x 47 cm. Sie besteht aus vier Seiten. Die Seiten 1 bis 3 sowie die obere Hälfte der Seite 4 bilden den redaktionellen Teil, auf der unteren Hälfte der Seite 4 befinden sich die Anzeigen. Der redaktionelle Teil gliedert sich in die Bereiche a) Politik (Innen- und Außenpolitik) und Wirtschaft, mit den Themen Reparationszahlungen im Sinne des Versailler Vertrages, innenpolitischer Zustand Deutschlands zur Zeit der Weimarer Republik, in der eine Vielzahl politischer Parteien, Fraktionen und Interessengruppen miteinander konkurrieren. b) Kultur mit den Themen Filmindustrie, Transformation gesellschaftlicher Normen und Werte (Sexualmoral, Sittlichkeit). c) Lokales mit den Themen Unfälle, Einbruch, Brand und Wahlen in Berlin. Nicht enthalten sind die bei einer Zeitung üblichen Rubriken: Sport, Wetter, Leserbriefe und – bis auf ein kleines Vexierbild – das Rätsel. Die Titelseite gliedert sich in den Zeitungskopf, der das Logo enthält, die Ausgabennummer, das Erscheinungsdatum und den Preis. Dominant sind der Leitartikel Einerseits – andererseits und der mittig platzierte Aufruf An Alle! von Klabund. Auf den nächsten Seiten findet man ein politisches Interview mit „dem künftigen Reichspräsidenten“ sowie Lokales. Es folgen der Feuilletonbereich und auf der letz-

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ten Seite ein Teil eines Fortsetzungsromans von „Rabindranath Courts-Mahler“ in einer Übersetzung von „Walter Mehring“, Kleinanzeigen, das Theaterprogramm der Stadt Berlin und das Impressum. Namen wie Ignaz Wrobel (Leitartikel), Klabund (Aufruf), Mehring (Fortsetzungsroman), C. K. Roellinghof (politisches Interview), H. H. von Twardowski (Alpines) finden sich als unterzeichnende Autoren einzelner Artikel. Darüber ist das Initial „P. E.“ im Logo der Zeitung enthalten. Das Logo der SiPo zeigt eine Pfeife rauchende und eine Trompete spielende Putte und entschlüsselt sich leicht als „Schall und Rauch“. Es verweist eindeutig auf die gleichnamige satirische Zeitschrift,5 für die Paul Erkens – P. E. – die Illustrationen gemacht hat. Im Impressum werden genannt: Klabund, Ignaz Wrobel, Bastian Benn, H. Brennert, P. Erkens, H. Krüger, Anton Kuh, Walter Mehring, Alfred Richard Meyer, C. K. Roellinghof, H. H. Twardowski, A. Winkler, H. von Wolzogen. Sie beweisen keine Urheberschaft, sind aber zusammen mit anderen Indizien sehr wahrscheinlich wörtlich zu nehmen. Die bereits genannten Befunde lassen eindeutig auf Klabund als einen der Autoren schließen: Der Fund der Zeitung im Nachlass von Walter Unus, der Klabund kannte und seine Schriften sammelte. Und der Nachweis des Aufrufs An Alle! auf der Titelseite als Fragment von Klabunds Die Modelle des Phidias. Kurt Tucholskys Mitwirkung ist unverkennbar. Nicht nur ist der Leitartikel mit Ignaz Wrobel gezeichnet, einem der Hauptpseudonyme Tucholskys – auch für Schall und Rauch –, sondern die aufgegriffenen Themen stammen nachweislich aus seinen Artikeln in der Weltbühne oder in der Zeitschrift Schall und Rauch. Das Emblem im Kopf der Silvesterpost zeigt deutlich „Schall und Rauch“, ähnelt, ja gleicht fast den Titelblättern der gleichnamigen Zeitschrift, die alle von Paul Erkens gezeichnet wurden. So ist der Schluss nicht verwegen, die Silversterpost als Sonderausgabe von Schall und Rauch auszumachen, auch wenn explizite Hinweise bislang fehlen. Die im Impressum genannten Autoren decken sich weitgehend mit den Autoren von Schall und Rauch. Die Silversterpost ist ein Unikat und steht der Forschung nur sehr begrenzt zur Verfügung. Aus konservatorischen Gründen kann das Blatt nicht mehr in die Benutzung gegeben werden. Eine Edition soll den Fund besonders durch die geplante online-Publikation ans Licht heben.6 Sie bietet dann einen hoch amüsanten Einblick in eine schwierige und brisante Situation der deutschen Geschichte nach den Novemberunruhen 1919, vor allem in Berlin. Auch die wirtschaftlichen Probleme im Zuge des Versailler Vertrags, die letztlich zum Zweiten Weltkrieg geführt haben, werden aus intellektueller Perspektive zum Thema. Eine schwierige wirtschaftliche Situation und eine Transformation von sozialen und kulturellen Werten gehen Hand in Hand. Diese Brisanz einerseits, das Humorvolle daran andererseits erschließt sich dem heutigen Leser nicht mehr ganz selbstverständlich. Daher ist ein behutsamer historischer Kommentar notwendig.

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Schall und Rauch (Berlin: Kunstanstalt Quadriga); Erscheinungsverlauf 1919/20, 1–7; 1.1920/21, 1– 6; damit Erscheinen eingestellt. 6 Die Ausgabe besorgen Christiane Dünkel und der Verfasser dieses Beitrags.

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Die Edition ist als Quellenedition sowohl dem Gebot des Open Access verpflichtet als auch der Langzeitarchivierbarkeit und Langzeitverfügbarkeit. Da die Projektpartner an verschiedenen Standorten arbeiten, ist die Arbeit im TextGrid ideal. Mit dem TextGridLab lässt sich die Edition unter Verwendung von XML mit TEI P5 arbeitsteilig erstellen. Im Ergebnis soll das Facsimile des Unikats präsentiert werden. Die Transkription mit den wichtigen Kommentaren sollen per Klick oder als Mouse­ over-Effekte sichtbar werden. Von daher ist die Verknüpfung zwischen Bild und Text immanent wichtig. Der Text-Image-Link-Editor des TextGridLab, der in der Version 2 nun sehr stabil läuft, wird in der Publikationsphase ein willkommenes Instrument sein. Namen, Orte und Schlagworte werden mit Normdaten, vornehmlich der neuen GND verknüpft, um den Kommentar zu entlasten und die Edition verknüpfungsfähig zu machen für weitere Editionen im Umfeld der SiPo, etwa der Webausgabe der Weltbühne oder vielleicht einer kommenden Online-Publikation der Zeitschrift Schall und Rauch. Der Kommentar ist bei der Satire besonders wichtig, weil er einerseits die Kritik sichtbar machen muss bei Sachverhalten, die beim heutigen Leser durch die historische Distanz verdunkelt sind, andererseits sollte er die Komik nicht abtöten durch zu schulmeisterliche Erläuterung. Es ist ein Spagat, der schwer zu meistern ist, auch weil das historische Wissen bei der literarischen Satire zwei Disziplinen verwendet, die nicht unbedingt bei allen literarisch interessierten Lesern vorausgesetzt werden können. Es folgen Probekommentare des Leitartikels von Tucholsky und des Artikels Der gefährliche Schiller. Der Leitartikel.7 Einerseits – andererseits. Schon Talleyrand sagt in seinen Briefen an die Domprobstin Clotilde: (Setzer blokkieren! Zitat wird durch Boten in die Setzerei nachgebracht!) – und dieser Anschauung müssen wir uns auf das entschiedenste anschließen.

Charles Maurice de Talleyrand-Périgord (1754 –1838); Diplomat, Politiker, Geistlicher und Schriftsteller; mehrfach Außenminister Frankreichs in wechselnden Regimes, später Botschafter in London. Lange Anhänger Napoleons und Kritiker der egalitären Demokratie. Die Dompropstin ist eine Anspielung auf die Exkommunizierung Talleyrands durch Papst Eleuthreus im Jahr 1791. Berlin liegt im Schnee. Von den Dächern tröpfelt der geschmolzene Dreck in langen Fäden, und nichts

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Silvesterpost 1920, S. 1.

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verdeutlicht so die politische Situation wie dieses Bild. Unsre Sonne, die Entente, scheint etwas ausgiebig, und uns tropft die Butter vom Kopf. Und so fragen wir denn: Brauchen wir eine Vermehrung unsrer Steuerlasten oder brauchen wir sie nicht –?

An Sylvester 1920 war es ganztags bewölkt und es regnete insgesamt 7,3 Stunden lang. Schnee ist bei 2,2 – 9,5°C unwahrscheinlich. Hier ist die kleine Entente zwischen der Tschechei und Jugoslawien gemeint (ab 1921 mit Rumänien). Diese Staaten waren Nutznießer der Pariser Vorortgespräche von 1919 und erlangten ihre territoriale Form als eigenständige Staaten, die weitgehend bis heute gültig ist. Intern verpflichteten sie sich gegenseitig auf politische und wirtschaftliche Unterstützung. Außenpolitisch lehnten sie sich an Frankreich an, hatten dabei die Rolle, ein neues, starkes Habsburg zu verhindern. 1938 endete die kleine Entente, als die Tschechoslowakei durch das Münchner Abkommen ihre sudetendeutschen Gebiete an das Deutsche Reich abtreten musste. Um die Reparationszahlungen bedienen zu können, reformiert Reichsfinanzminister Mat­thias Erzberger (1875 –1921 ermord.) 1920 die Steuern. Dabei werden die unterschiedlichen Ländersteuergesetze durch eine einheitliche Reichssteuer ersetzt. Das neue Steuergesetz sieht 60 % direkte und 40 % indirekte Steuern vor. Direkte Steuern: Einkommenssteuer nach dem Leistungsprinzip zwischen 10 % und 60 %; Körperschaftssteuer im Verhältnis zum Grundkapital; Erbschaftssteuer je nach Verwandtschaftsgrad zwischen 4 % und 50 %; Grunderwerbssteuer mit 4 %. Indirekte Steuern: Die Umsatzsteuer wurde vereinheitlicht auf 1,5 %; Luxussteuer mit 15 %; Beförderungssteuer, Kohlesteuer, verschiedene Verbrauchssteuern auf knappe Güter wie etwa Salz und Zucker. Einerseits brauchen wir sie. Die Vermehrung der Reichswehr, der Reichsmarine und der Kriegs- und Friedensgesellschaften scheint eine harte Notwendigkeit, für die einzusetzen uns schon im Interesse der dabei Beschäftigten Pflicht dünkt. Was soll der Reichswehrminister machen, wenn er arbeitslos wird? Den Mann wird sobald kein Mensch in seinen Betrieb hineinnehmen –! Und was sollen wir mit den des Arbeitens entwöhnten Direktoren der vielen Reichsstellen beginnen? Es ist schon besser, wir behalten alle.

Friedensgesellschaften: Neben der ‚Deutschen Friedensgesellschaft‘ von 1892 gab es z. B.: ‚Bund der Kriegsdienstgegner‘ (1919), ‚Friedensbund der Kriegsteilnehmer‘ (1919 –1927), ‚Friedensbund Deutscher Katholiken‘ (1919 –1933, 1945 –1951), ‚Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit‘ (seit 1919). Unter Kriegsgesellschaft war der ‚Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten‘ (1918) bekannt. Erst später kamen ‚Organisation Consul‘ (1920), ‚Wehrwolf, Bund deutscher Männer umd Frontkrieger‘ (1923) und der ‚Bund Wiking‘ (1923) hinzu.

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Gustav Noske (1868 –1946, SPD) war im Kabinett Philipp Scheidemann (1865 –1939, SPD) vom 13.2.1919 bis zum 22.3.1920 Reichswehrminister. Es folgte Otto Geßler (1875 –1955, DDP) am 27.3.1920 (und blieb es bis 1928). Andererseits brauchen wir die neuen Steuern nicht. Wer wie wir stets für die völlige Steuerfreiheit des deutschen Volkes eingetreten ist, wer wie wir das höchste Charakteristikum darin gesucht hat, seinen Charakter zu haben: der darf wohl sagen, daß die deutsche Hausfrau, der deutsche Kriegsgewinner und das deutsche Baby genügend belastet sind! Und wer wäre heute nicht belastet! – Was soll denn belastet werden? Vielleicht der öffentliche Verkehr?

Johannes Bell (1868 –1949, Zentrum) war Reichsverkehrsminister von 13.2.1919 – 1.5.1920. Sein Nachfolger Gustav Bauer (1870 –1944, SPD) war auch nur kurz von 2.5. – 21.6.1920 im Amt, gefolgt von Wilhelm Groener (1867–1939, parteilos) von 25.6.1920 bis 12.8.1923. Die kurzen Amtszeiten 1920 deuten darauf hin, wie schwierig die Verkehrssituation nach dem Krieg noch war.  – Ebenso Anspielung auf die neue Beförderungssteuer von Erzberger. Weil wir gerade von den Frauen reden: es scheint höchste Zeit, daß sich die deutsche Mode vom Zwang der Verwelschung befreit! So sehr wir einerseits eine kräftige Kontinentalpolitik brauchen, so sehr müssen wir andererseits darauf bedacht sein, unsre Eigenart zu erhalten. Und unsre Eigenart –: das ist die gesunde deutsche Frau mit acht Kindern und einem starken Leibesumfang, aus dem die blauen Augen nur so hervorblitzen –!

Sprachnationalismus nach 1870: Initiativen gegen „Verwelschung und Ausländerei“ siehe Allgemeiner Deutscher Sprachverein (seit 1885), der sich hauptsächlich gegen den französischen Einfluss wendet. – Das Thema Mode wird auf Seite 2 der Silvesterpost fortgesetzt (siehe „Film und Mode“). Die Kontinentalpolitik Deutschlands endete nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Versailler Vertrag, der am 28.6.1919 von Außenminister Hermann Müller unterzeichnet wurde. Deutschland war isoliert und wirtschaftlich am Ende. Die politische Situation ist ernster denn je. Die Börse steigt und fällt – ein Symptom, das der Kenner zu würdigen weiß. Und wenn der Präsident des deutschen Reichstages für eine Verkürzung der Redezeit eingetreten ist, so können wir ihm darin nicht folgen. Es wird in Deutschland viel zu wenig gesprochen. Wir sind Männer der Tat – also müssen

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wir reden! Schon Talleyrand sagte: „Je n’en vois pas la nécessité!“ –

Paul Löbe (1875 –1967, SPD), Präsident des Deutschen Reichstags der Weimarer Republik 1919 –1924. Das ist vermutlich eine Anspielung darauf, dass Paul Löbe Schriftsetzer, später Schriftleiter und Redakteur, also Vertreter der Schrift, nicht des gesprochenen Wortes war. Übers.: „Diese Notwendigkeit sehe ich nicht.“ Dies antwortet Kardinal Richelieu (1585 –1642) auf die Aussage eines Aufständischen, dass er doch leben müsse, bevor er ihn töten lässt. – Bei Talleyrand mag damit gemeint sein, dass seine Exkommunizierung nicht die logische Konsequenz seines Rücktritts als Bischof sei. Allgemein wird hier darauf angespielt, dass 1920 alle diplomatischen Regeln aufgehoben zu sein scheinen. Die neuen Ereignisse in Bayern erfüllen uns mit einiger Sorge. Generale werden dort befördert und Radikale vermöbelt – Ereignisse, zu denen man nur sagen kann: „Ce sont les risques du métier –!“ Denn so sehr wir für straffe Centralisation eintreten, so sehr sind wir für eine weise und gerechte Verteilung der Machtmittel.

Die von Ernst Toller (1893 –1939) und Erich Mühsam (1878 –1934) ausgerufene Räte­republik und Opposition zur Regierung Philipp Scheidemann  – Gustav Noske wurde 1919 zerschlagen. Wahlen zum bayerischen Landtag finden am 12. Januar 1920 statt. So schreiten wir ins neue Jahr hinüber. Berlin liegt im Schnee. Die Glocken schlagen dumpf. Silvester. Wir lassen uns nicht unterkriegen. Treu und fest und unbeirrt stehen wir in allen Fragen zum Leser und wählen in der Politik, in der Wirtschaft, in der Literatur und bei den Frauen das Klügste: den goldnen Mittelweg. Ignaz Wrobel

Ignaz Wrobel ist eines der Pseudonyme von Kurt Tucholsky (1890 –1935). Der gefährliche Schiller.8 Der Dichter zu 1000 Mark Geldstrafe verurteilt. Unter großem Andrang des Publikums kam gestern der mit Spannung erwartete Prozeß gegen den nicht ganz unbekannten, aber bereits verstorbenen Dichter Friedrich von Schiller wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften zur Verhandlung.

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Silvesterpost 1920, S. 3.

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Nach StGB § 184 war die verfassungsmäßige Zensurfreiheit in der Weimarer Republik eingeschränkt worden. Am 25. November 1920 berichtet Kurt Tucholsky, alias Ignaz Wrobel, im Artikel „Der Zensor geht um!“ in der Weltbühne 48 (25.11.1920), S. 616, dass der „Venuswagen“ von Friedrich Schiller zensiert worden war. Genau genommen handelt es sich um eine Ausgabe mit Lithographien von Lovis Corinth beim Fritz Gurlitt Verlag, Berlin. Da der Beklagte im letzten Termin wegen Abscheidens nicht erschienen war, hatte das Gericht ein dutzend der bedeutendsten Medien geladen, daneben auch als wissenschaftlichen Sachverständigen den Professor Einsteinach, der den Standpunkt vertrat, daß Verstorbene durch okkulte Kräfte rematerialisiert, relativ sehr leibhaftig vor Gericht erscheinen könnten, ein Verfahren, das man allerdings als schwarze Magie bezeichnen müsse.

Dieser unscheinbare Absatz erweist sich als ziemlich komplex: Die Mehrdeutigkeit von Medien erschließt sich noch leicht, bekommt aber über das Stichwort „rematerialisiert“ eine tiefere Bedeutung. Zwischen 1870 und 1920 gibt es nämlich zahlreiche Forschungen auf dem Gebiet der Rematerialisierung. Sie bestanden aus der engen Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und meist weiblichen Medien, die angeblich allein durch ihre Gedanken Formen und Personen erschufen. Ein besonders eindrückliches Zeugnis ist die Studie des praktischen Arztes A. Freiherr von Schrenck-Notzing, Physikalische Phaenomene des Mediumismus. Studien zur Erforschung der telekinetischen Vorgänge, München: Verlag von Ernst Reinhardt, 1920. Auf 15 Tafeln mit Fotografien und 33 Strichzeichnungen werden die herbeigeholten Wesen und Phänomene gezeigt, somit bewiesen und dokumentiert. Freilich die reine Scharlatanerie. Albert Einstein jedoch, seit 1914 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts in Berlin, beginnt am 4. Februar 1920 an der Volkshochschule mit einer Vortragsreihe über Bewegung und Gleichgewicht der Körper. Trotz des weltweiten Ruhms durch seine Relativitätstheorie sieht sich Einstein aber heftigen, meist auf Antisemitismus beruhenden Angriffen ausgesetzt. Rechtsgerichtete Kreise an der Berliner Universität, wo Revanchismus und Freicorpsgeist grassieren, organisieren Anti-Einstein-Kampagnen, um gegen seine „Bolschewismusphysik“ zu hetzen. Für Vorträge gegen Einstein werden bis zu 15.000 Mark geboten. Der Vorsitzende erklärte auf diesen Einwand, daß es ihm ganz einerlei sei, ob die Magie schwarz oder weiß oder auch schwarz-weiß-rot sei und ob diese Auffassung ihn auch in magischer Erleuchtung erscheinen lasse; ihm käme es lediglich auf die Erfassung des Täters an; und in fortgeschrittener Zeit habe man sich eben fortgeschrittener Mittel zu bedienen.

Die Farben schwarz-weiß-rot sind vermutlich eine Anspielung auf die Reichsfarben des Deutschen Reiches (1871–1919), die von republikfeindlichen Gruppierungen auch nach 1919 weiter verwendet wurden. Laut dem Vorsitzenden Richter ist also Republikfeindlichkeit nicht so gravierend wie fortschrittliche Kunst.

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Den vereinten Kräften der Medien gelang es denn auch in verhältnismäßig kurzer Zeit, die Wesenheit Schillers sozusagen leibhaftig herbeizuschaffen. Der gerichtliche Sachverständige, Professor Brunner, ergriff sogleich das Wort gegen das unter Anklage gestellte Gedicht „Der Venuswagen“, gegen dessen neunzehnjährigen Verfasser, gegen den derzeitigen Venuswagenfabrikanten, den Verleger Fritz Burlitt, und den Venuswagenlenker, den Herausgeber Alfred Richard Meyer.

Sehr wahrscheinlich ist Karl Brunner (geb. 1872) gemeint, Historiker, Archivar, Germanist und Gymnasialprofessor in Karlsruhe, der gegen Schundliteratur und das Kino publizierte. Gleichzeit greift Tucholsky in einem seiner Weltbühneartikel einen Gerichtsachverständigen Brunner an. – Mit Burlitt ist Fritz Gurlitt (1854 –1893) gemeint, der Kunsthändler und Inhaber des Fritz Gurlitt Verlags, Berlin, bei dem die neue Edition des „Venuswagen“ erschienen ist, aber auch ein Buch von Meyer. Gurlitt ist also der Fabrikant von „Schundliteratur“. Alfred Richard Meyer (1882 –1956), genannt „Munkepanke“, war Schriftsteller, Lyriker und Verleger, Entdecker, Herausgeber und Förderer vieler frühexpressionistischer Lyriker wie Paul Zech, Gottfried Benn und Iwan Goll. Er veröffentlichte eine Novelle mit dem Titel „Der Venuswagen“ in „Der Almanach auf das Jahr 1920“ im Fritz Gurlitt Verlag Berlin. Das Thema der Novelle ist der Zusammenhang zwischen Kunst und Erotik.  – Im engeren Sinne ist hier die Anspielung auf sein Prosastück „Das Aldegevermädchen“ mit Lithographien von Georg Walter Rößner, das ebenfalls wie der „Venuswagen“ von Schiller 1920 zensiert worden war. – Das Problem, auf das Tucholsky hier anspielt, ist das Verbot renommierter Schriftsteller, obwohl es bei der Kritik der Behörden nicht um die Literatur, sondern um die sie begleitende bildende Kunst geht. Die konservative Kunstauffasung der Weimarer Republik wirkt sich somit auch auf andere Künste aus. – Weiter untem im Artikel heißt es: Wie wir weiter vernehmen, wird sich die Schiller-Stiftung in ihrer für Ende des Monats einberufenen Generalversammlung darüber schlüssig werden, ihren Namen zu ändern und sich hinfort Courths-Mahler-Stiftung zu nennen.

Die Schiller-Stiftung wurde anlässlich des 50. Todestags Schillers 1855 angeregt durch den Lyriker und Feuilletonisten Julius Hammer. Die Stiftung sollte verdiente Dichter und deren Familien in Not, Krankheit und Alter unterstützen. Bis zur offiziellen Konstituierung 1859 in Dresden entstanden bereits 16 Zweigvereine u. a. in Berlin, Weimar und Stuttgart. Die Stiftung besteht bis heute mit Sitz in Weimar. Eine Hedwig Courths-Mahler (1867–1950)-Stiftung ist jedoch nicht bekannt. Tucholsky protestiert damit gegen ihre eher seichten, züchtigen Liebesgeschichten, die anscheinend besser in die Zeit passen, als der Klassiker Schiller und die moderne bildende Kunst, die auch Erotisches zeigen kann, ohne gleich vulgär zu sein. Er wehrt sich gegen eine Zeit, „wo dem stramm emporgereckten Philister erlaubt ist, einer Nation Kandare anzulegen.“ (Weltbühne 48). Die Probeedition macht deutlich, wie wichtig der erläuternde historische Kommentar für die literarische Lektüre ist. Somit ist die Edition der Sipo durch die Verbindung

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verschiedenster Disziplinen von der Bestandserhaltung und konservatorischen Digitalisierung9 bis hin zur historischen Kommentierung mit einem der modernsten Editionswerkzeuge10 ein Beispiel dafür, wie Literatur sichtbar und lesbar wird.

Abstract In the UNUS estate of the German Literature Archive there is a single copy of the satirical Silversterpost (1920, four pages). Although it was circulating anonymously, it is quite obvious that Kurt Tucholsky and Klabund were its authors. An online edition is planned to provide the readers with lost background information about Germany of the eventful year 1920. Commentary must be placed carefully, not to cover up the satire and make it dull.

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Konservatorische Digitalisierung meint, dass das Original durch die Benutzung des Digitalisats anstelle des Originals geschont wird. 10 TextGrid ist ein vom BMBF gefördertes Projekt von Geisteswissenschaftlern. Ziel ist nicht die Entwicklung neuer Computertechniken per se, sondern die Bereitstellung von Softwareinstrumenten, die philologische Probleme im digitalen Medium lösen hilft. Siehe http://www.textgrid.de (28.10.2012).