Interessenausgleich im Vertragsarztrecht: Kollektive und individuelle Interessenwahrungsmöglichkeiten der Vertragsärzte [1 ed.] 9783428581689, 9783428181681

Die Realisierung eines Interessenausgleichs zwischen Ärzten und Krankenkassen ist maßgeblich für die Sicherstellung eine

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German Pages 224 [225] Year 2021

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Interessenausgleich im Vertragsarztrecht: Kollektive und individuelle Interessenwahrungsmöglichkeiten der Vertragsärzte [1 ed.]
 9783428581689, 9783428181681

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Schriften zum Gesundheitsrecht Band 63

Interessenausgleich im Vertragsarztrecht Kollektive und individuelle Interessenwahrungsmöglichkeiten der Vertragsärzte Von Luise Brunk

Duncker & Humblot · Berlin

LUISE BRUNK

Interessenausgleich im Vertragsarztrecht

Schriften zum Gesundheitsrecht Band 63 Herausgegeben von Professor Dr. Helge Sodan, Freie Universität Berlin, Direktor des Deutschen Instituts für Gesundheitsrecht (DIGR) Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin a.D.

Interessenausgleich im Vertragsarztrecht Kollektive und individuelle Interessenwahrungsmöglichkeiten der Vertragsärzte

Von

Luise Brunk

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg hat diese Arbeit im Jahr 2020 als Dissertation angenommen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: Textforma(r)t Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buch.bücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 1614-1385 ISBN 978-3-428-18168-1 (Print) ISBN 978-3-428-58168-9 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meiner Familie

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2020 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg zur Dissertationsschrift angenommen. Soweit nicht ausdrücklich anders angegeben, befindet sich die Arbeit auf dem Stand von September 2020. Herzlich danken möchte ich meiner Doktormutter, Frau Prof. Dr. Katharina von Koppenfels-Spies, die mir mit fachlichem und persönlichem Rat in allen Phasen der Promotion zur Seite stand und mit wertvollen Anmerkungen zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen hat. Bedanken möchte ich mich auch für die spannende und lehrreiche Zeit als akademische Mitarbeiterin an ihrem Institut für Sozialrecht, an die ich gerne und mit Freude zurück denke. Herrn Richter am Bundessozialgericht Prof. Dr. Bernd Schütze danke ich herzlich für die zügige Anfertigung des Zweitgutachtens. Besonders bedanken möchte ich mich bei der Deutschen Gesellschaft für Kassenarztrecht e. V. für die finanzielle Unterstützung meines Promotionsvorhabens sowie die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses. Herrn Prof. Dr. Helge Sodan danke ich für die freundliche Aufnahme der Arbeit in diese Schriftenreihe. Darüber hinaus möchte ich mich bei allen bedanken, die mich während dieser Zeit begleitet haben und durch umfassende Korrekturhilfen, fachliche Gespräche, wertvolle Ablenkungen und ihren Rückhalt ganz wesentlich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben. Besonderer Dank gilt Helke Nieschlag, Martina und Dr. Erdmann Brunk und Franziska Wolf. Nicht zuletzt möchte ich meiner Freundin Dr. Johanna Jung von ganzem Herzen danken, die während der gesamten Zeit meine treuste Wegbegleiterin war, auf deren Unterstützung ich immer zählen konnte und ohne die meine Promotionszeit in Freiburg nicht dieselbe gewesen wäre. Bastian Brunk danke ich, dass er mir in allem zur Seite steht. Ohne seine bedingungslose Unterstützung und sein Vertrauen in mich hätte ich diese Arbeit nicht verwirklichen können. Von ganzem Herzen möchte ich schließlich meinen Eltern, Maria und Karsten Steinkröger, und meiner Schwester, Marlene Steinkröger, danken. Ihnen widme ich diese Arbeit. Ihre bedingungslose Liebe und ihr fortwährender Glauben an mich haben mich stets gestärkt und bis hierhin gebracht. Berlin, im September 2020

Luise Brunk

Inhaltsverzeichnis Einführung 19 A. Gegenstand der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

1. Kapitel

Die Entwicklung des Kollektivvertragssystems 23

A. Der Beginn der kassenärztlichen Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 B. Das Berliner Abkommen vom 23. 12. 1913 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 C. Die Verordnung über Ärzte und Krankenkassen vom 30. 10. 1923 . . . . . . . . . . . . . . . 28 D. Die Notverordnungen von 1931 und 1932 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 E. Das Gesetz über das Kassenarztrecht vom 17. 8. 1955 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 F. Die letzte Entwicklungsphase: Das Ende einer langen Streikära? . . . . . . . . . . . . . . . 34 G. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

2. Kapitel

Grundfragen der vertragsärztlichen Tätigkeit 37

A. Die Rechtsstellung des Vertragsarztes im Gesundheitssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 I.

Die Grundstrukturen des Vertragsarztsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

II. Die Definition des Vertragsarztes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 III. Die Einordnung des Vertragsarztes als freier Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 B. Der Vertragsarzt als Hauptleistungserbringer im System der GKV . . . . . . . . . . . . . . 43 I.

Der Vertragsarzt als Mitglied der Kassenärztlichen Vereinigung . . . . . . . . . . . . 44 1. Aufgaben und Funktion der Kassenärztlichen Vereinigung . . . . . . . . . . . . . 44 a) Die hoheitliche Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 aa) Der allgemeine und besondere Sicherstellungsauftrag . . . . . . . . . . 45 bb) Der Gewährleistungsauftrag und die Disziplinarbefugnis . . . . . . . 46 b) Die gewerkschaftsähnliche Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

10

Inhaltsverzeichnis 2. Die Rechtsbeziehung des Vertragsarztes zu seiner KV . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 a) Die Zulassung des Vertragsarztes gem. § 95 SGB V . . . . . . . . . . . . . . . . 49 b) Rechte und Pflichten der Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung 50 c) Unterwerfung unter die Disziplinargewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 II. Die Ausgestaltung der vertragsärztlichen Versorgung durch Kollektivverträge . 53 III. Die Ausgestaltung der vertragsärztlichen Versorgung durch Selektivverträge . . 54 1. Motive für die Etablierung der Selektivverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2. Selektivverträge in der vertragsärztlichen Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3. Bedeutung der Selektivverträge für das Vertragsarztsystem . . . . . . . . . . . . . 57

C. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

3. Kapitel Die Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung nach der Konzeption des Vertragsarztrechts 61



A. Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 I.

Die Kollektivverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 1. Motive für die Entstehung des Kollektivvertragssystems . . . . . . . . . . . . . . . 66 2. Die Kollektivverträge als Steuerungsebene des Zusammenwirkens . . . . . . . 68 3. Der Einigungsprozess beim Abschluss der Kollektivverträge . . . . . . . . . . . . 71 a) Der Gestaltungsspielraum der gemeinsamen Selbstverwaltung . . . . . . . 71 b) Der Bundesmantelvertrag-Ärzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 aa) Die rechtlichen Ausgestaltungsbefugnisse beim Abschluss des Bundesmantelvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 bb) Die Berücksichtigung der ärztlichen Interessen im Bundesmantel­ vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 c) Die Gesamtverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 aa) Die rechtlichen Ausgestaltungsbefugnisse beim Abschluss der Gesamtverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 bb) Die Berücksichtigung der ärztlichen Interessen am Beispiel der Anpassung der Gesamtvergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 d) Individuelle Interessenwahrung durch gerichtliche Kontrolle . . . . . . . . . 84 aa) Rechtsschutzmöglichkeiten des Vertragsarztes auf bundesmantelvertraglicher Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 bb) Rechtsschutzmöglichkeiten des Vertragsarztes auf gesamtvertrag­ licher Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 4. Zwischenergebnis: Ärztliche Interessenwahrung beim Abschluss der Kollektivverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

Inhaltsverzeichnis

11

II. Die paritätisch besetzten Ausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 1. Motive für die Etablierung eines paritätischen Ausschusssystems . . . . . . . . 87 2. Die gemeinsamen Ausschüsse als Steuerungsebene des Zusammenwirkens 88 3. Der Bewertungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 a) Aufgaben, Organisation und Verfahren des Bewertungsausschusses . . . 90 b) Die Berücksichtigung der ärztlichen Interessen im Bewertungsausschuss 92 aa) Die Festlegung des Orientierungswertes gem. § 87 Abs. 2e, 2g SGB V 92 bb) Die Leistungsbewertung, Erstellung und Anpassung des EBM . . . 94 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 c) Die Berücksichtigung der ärztlichen Interessen im erweiterten Bewertungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 d) Individuelle Interessenwahrung durch gerichtliche Kontrolle . . . . . . . . . 101 aa) Klagemöglichkeiten gegen die Beschlüsse des Bewertungsausschusses 101 bb) Klagemöglichkeiten gegen die Beschlüsse des erweiterten Bewertungsausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 cc) Bewertung der nachträglichen Rechtsschutzmöglichkeiten . . . . . . 102 e) Zwischenergebnis: Ärztliche Interessenwahrung im einfachen und erweiterten Bewertungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4. Die Zulassungs- und Berufungsausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 a) Aufgaben, Organisation und Verfahren des Zulassungsausschusses . . . 105 b) Die Berücksichtigung der ärztlichen Interessen im Zulassungsausschuss 107 c) Individuelle Interessenwahrung durch gerichtliche Kontrolle . . . . . . . . . 110 aa) Die Berücksichtigung der ärztlichen Interessen im Berufungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 bb) Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Beschlüsse des Berufungsausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 d) Zwischenergebnis: Ärztliche Interessenwahrung in den Zulassungs- und Berufungsausschüssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 5. Die Prüfungsstellen und Beschwerdeausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 a) Aufgaben, Organisation und Verfahren der Prüfungsstellen und Beschwerdeausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 b) Die Berücksichtigung der ärztlichen Interessen in den gemeinsamen Prüfgremien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 6. Die Landesausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 a) Aufgaben, Organisation und Verfahren der Landesausschüsse . . . . . . . . 121 b) Die Berücksichtigung der ärztlichen Interessen in den Landesausschüssen 124 7. Der Gemeinsame Bundesausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 a) Aufgaben, Organisation und Verfahren des Gemeinsamen Bundesausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 b) Die Berücksichtigung der ärztlichen Interessen im GBA . . . . . . . . . . . . 130

12

Inhaltsverzeichnis 8. Zwischenergebnis: Ärztliche Interessenwahrung in den paritätisch besetzten Ausschüssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 III. Die Schiedsämter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 1. Motive für die Entstehung des Schiedswesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2. Aufgaben, Organisation und Verfahren der Schiedsämter . . . . . . . . . . . . . . . 135 3. Der Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum der Schiedsämter . . . . . . . . . . 138 4. Die Berücksichtigung der ärztlichen Interessen im Schiedsamt . . . . . . . . . . 140 5. Individuelle Interessenwahrung durch gerichtliche Kontrolle . . . . . . . . . . . 142 6. Zwischenergebnis: Ärztliche Interessenwahrung in den Schiedsämtern . . . . 144

C. Die Schlüsselfunktion von KBV und KV für die ärztliche Interessenwahrung . . . . . 144 I.

Rückbindung an die Basis der Ärzteschaft durch Wahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 1. Autonome Legitimation des Vorstandes zur Führung der Kollektivvertragsverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 2. Autonome Legitimation der Vertreter zur Zusammenarbeit in den gemein­ samen Gremien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 a) Die Auswahl der Ausschussvertreter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 aa) Einfacher und erweiterter Bewertungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . 147 bb) Zulassungs- und Berufungsausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 cc) Prüfungsstellen und Beschwerdeausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 dd) Landesausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 ee) GBA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 ff) Schiedsämter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 b) Autonome Legitimation der Gremienvertreter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 c) Autonome Legitimation der unparteiischen Mitglieder . . . . . . . . . . . . . 152

II. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 D. Fazit: Die Ausgleichsinstrumente des Kollektivvertragssystems als Mittel zur ärzt­ lichen Interessenwahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

4. Kapitel Die Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung abseits der Kooperationsinstrumente des Vertragsarztrechts 158



A. Der Austritt des Vertragsarztes aus dem System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 B. Öffentliche Meinungskundgabe und Demonstration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 I.

Interessenwahrung unter Berufung auf die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

II. Interessenwahrung unter Berufung auf die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG 161 III. Exkurs: Ärztliche Interessenwahrung durch die Öffentlichkeitsarbeit der KVen . . 163

Inhaltsverzeichnis

13

C. Streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ zur ärztlichen Interessenwahrung . . . . . . . . . . . 164 I.

Begriffliche Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 1. Die Definition des „Ärztestreiks“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 2. Anpassung der Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 3. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

II. Fachgesetzliche Verankerung streikähnlicher „Kampfmaßnahmen“? . . . . . . . . . 170 1. §§ 24 Abs. 2, 32 Abs. 1 S. 2 Ärzte-ZV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 2. § 95b SGB V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 3. Systemimmanentes „Streikverbot“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 III. Verfassungsrechtliche Grenzen des systemimmanenten Ausschlusses von streikähnlichen „Kampfmaßnahmen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 1. Die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 a) Persönlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 b) Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 c) Ergebnismodifikation auf Grundlage von Art. 11 EMRK . . . . . . . . . . . . 181 2. Die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 a) Das Grundrecht der Vertragsärzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 b) Hinreichende Berücksichtigung der ärztlichen Interessen durch die Konzeption des Vertragsarztrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 aa) Die kollidierenden Verfassungsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 bb) Geeignetheit des Ausschlusses streikähnlicher „Kampfmaßnahmen“ 188 cc) Erforderlichkeit des Ausschlusses streikähnlicher „Kampfmaß­ nahmen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 dd) Zumutbarkeit des Ausschlusses streikähnlicher „Kampfmaßnahmen“ 190 (1) Die Möglichkeiten der Interesseneinbringung und -durchsetzung 190 (2) Strukturelle Parität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 (3) „Störung“ des ausgewogenen Machtverhältnisses . . . . . . . . . . 192 (4) Faktische Unterlegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 (5) Auflösung der Kollisionslage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 (6) Anzeichen für eine Verschiebung des Systemrahmens . . . . . . . 197 IV. Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

5. Kapitel

Zusammenfassung der Ergebnisse 203

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222

Abkürzungsverzeichnis a. A. andere Ansicht a. F. alte Fassung Approbationsordnung für Ärzte ÄAppO Abs. Absatz AMV Verordnung über die Amtsdauer, Amtsführung und Entschädigung der Mitglieder des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Landesausschüsse der Ärzte (Zahnärzte) und Krankenkassen (Ausschussmitglieder-Verordnung) AR-Arbeitsrecht Kommentar zum gesamten Arbeitsrecht Art. Artikel Ärzte-ZV Zulassungsverordnung für Vertragsärzte Aufl. Auflage AuR Arbeit und Recht ausf. ausführlich BAG Bundesarbeitsgericht BÄO Bundesärzteordnung BeckOK Beck’scher Onlinekommentar begr. begründet Beschl. Beschluss BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGBl. Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof BGHSt Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen BMG Bundesministerium für Gesundheit BMV-Ä Bundesmantelvertrag-Ärzte BMV-Z Bundesmantelvertrag-Zahnärzte BR-Drs. Bundesratsdrucksache BSG Bundessozialgericht BSGE Entscheidungen des Bundessozialgerichts bspw. beispielsweise BT-Drs. Bundestagsdrucksache BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerwG Bundesverwaltungsgericht d. h. das heißt Deutsches Ärzteblatt DÄ ders. derselbe DKG Deutsche Krankenhausgesellschaft Die Ortskrankenkasse DOK DVBl. Deutsches Verwaltungsblatt Einheitlicher Bewertungsmaßstab EBM

Abkürzungsverzeichnis

15

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EGMR Europäische Menschenrechtskonvention EMRK Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht ErfK Erg.-Lfg. Ergänzungslieferung Die Ersatzkasse ErsK EuZA Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht f. folgende ff. fortfolgende Fn. Fußnote fortgef. fortgeführt FS Festschrift Gemeinsamer Bundesausschuss GBA GesR Gesundheitsrecht Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland GG ggf. gegebenenfalls Gesetz über das Kassenarztrecht v. 17. 8. 1955 GKAR Gesetzliche Krankenversicherung GKV GKV-Versorgungsstärkungsgesetz v. 16. 7. 2015 GKV-VSG GKV-Versorgungsstrukturgesetz v. 22. 12. 2011 GKV-VStG GKV-Modernisierungsgesetz v. 14. 11. 2003 GMG Gesundheitsstrukturgesetz v. 21. 12. 1992 GSG Gesundheit und Pflege GuP herrschende Meinung h. M. HB Handbuch Handbuch der Grundrechte HGR Heidelberger Kommentar, Arztrecht, Krankenhausrecht, Medizinrecht HK-AKM Handkommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention HK-EMRK Hrsg. Herausgeber Hs. Halbsatz HS-KV Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band 1: Krankenversicherungsrecht Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland HStR HVM Honorarverteilungsmaßstab in der Fassung i. d. F. in der Regel i. d. R. in Höhe von i.H.v. im Sinne des, im Sinne der i. S. d. im Sinne eines, im Sinne einer i. S. e. in Verbindung mit i. V. m. Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen IQTIG Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen IQWiG Jahrbuch des Sozialrechts der Gegenwart JbSozRGegenwart juris PraxisKommentar jurisPK Kap. Kapitel Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht KassKomm Kassenärztliche Bundesvereinigung KBV Kranken- und Pflegeversicherung KrV Kassenärztliche Vereinigung(en) KV(en)

16

Abkürzungsverzeichnis

Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15. 6. 1883 KVG Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz v. 27. 6. 1977 KVKG Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung KZBV Lehr- und Praxiskommentar LPK LSG Landessozialgericht m. w. N. mit weiteren Nachweisen Münchener Anwaltshandbuch MAH MedR Medizinrecht Neue Juristische Online-Zeitschrift NJOZ Neue Juristische Wochenschrift NJW Arbeitsrecht: Individualarbeitsrecht mit kollektivrechtlichen Bezügen NK-ArbR Gesamtes Arbeitsrecht NK-GA Gesundheitsrecht (Großkommentar) NK-GesundhR Gesamtes Medizinrecht NK-MedR Nr. Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NVwZ Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht NZA Neue Zeitschrift für Sozialrecht NZS Recht der Arbeit RdA RGBl. Reichsgesetzblatt Rn. Randnummer Recht und Politik im Gesundheitswesen RPG RVO Reichsversicherungsordnung Rz. Randziffer s. siehe S. Seite S. Satz siehe auch s. a. siehe oben s. o. SchiedsamtsVO Schiedsamtsverordnung Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes SDSRV SG Sozialgericht SGb Sozialgerichtsbarkeit SGB Sozialgesetzbuch SGG Sozialgerichtsgesetz sog. sogenannter SozR Sozialrecht SRH Sozialrechtshandbuch ständige Rechtsprechung st. Rspr. Terminservice- und Versorgungsgesetz v. 6. 5. 2019 TSVG unter anderem u. a. Urt. Urteil v. von vgl. vergleiche VO Verordnung Vierteljahresschrift für Sozialrecht VSSR VwGO Verwaltungsgerichtsordnung WiPrüfVO Wirtschaftlichkeitsprüfungs-Verordnung

Abkürzungsverzeichnis Wege zur Sozialversicherung WzS Zentralblatt für Sozialversicherung, Sozialhilfe und Versorgung ZfS Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch ZFSH / SGB zit. zitiert Zeitschrift für das gesamte Medizin- und Gesundheitsrecht ZMGR ZSR Zeitschrift für Sozialreform

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Einführung A. Gegenstand der Arbeit Vertragsärzte nehmen im heutigen System der ambulanten ärztlichen Versorgung eine Schlüsselrolle ein.1 Sie erbringen ihre Leistungen im Rahmen der fest vorgegebenen Systemstrukturen des Vertragsarztrechts, d. h. der gesetzlichen, kollektivvertraglichen und weiteren untergesetzlichen Vorgaben. Dies ist eine durchaus vorteilhaftere Situation als zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Damals hatte „die Abstinenz des Gesetzgebers […] ein unerträgliches Vakuum an Ordnung“2 hinterlassen, das den Krankenkassen ermöglichte, ihr Machtmonopol zu Lasten der Ärzteschaft auszunutzen. Ihre anfangs so mächtig anmutende Position wurde den Krankenkassen jedoch schnell streitig gemacht, als sich die Ärzteschaft im Jahre 1900 im Leipziger Verband, einer Kampfesorganisation zum Zwecke der Selbsthilfe und Solidarität der Verbandsmitglieder, zusammenschloss.3 Ab diesem Zeitpunkt verteidigte die Ärzteschaft ihre Rechte gegenüber den Krankenkassen mittels Streik, Boykott und zahlreichen anderen kämpferischen Maßnahmen. Erst nach vielen Jahrzehnten wurde eine für beide Seiten annehmbare Lösung gefunden, die auch heute noch die Grundlage des Vertragsarztsystems bildet: ein auf der kooperativen Zusammenarbeit von Ärzten und Krankenkassen fußendes Kollektivvertragssystem.4 Der Gesetzgeber war davon überzeugt, dass die vertragsärztliche Versorgung langfristig nur durch eine enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den beiden Parteien gewährleistet werden kann.5 Seither sind Ärzte und Krankenkassen dazu verpflichtet, ihre gegenseitigen Interessen über den Abschluss von Kollektivverträgen sowie die Zusammenarbeit in paritätisch besetzten Gremien auszutarieren.6 Die Kollektivverträge und gemeinsamen Gremien fungieren damit als Instru­ mente, die eine kooperative Zusammenarbeit sowie einen Interessenausgleich zwischen Vertragsärzten und Krankenkassen fördern. Sie können daher auch als

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BSG Urt. v. 17. 9. 1997 – 6 RKa 36/97, BSGE 81, 86, juris Rz. 32. Die Arbeit verwendet durchgängig das generische Maskulinum. Dieses schließt in der Bedeutung die anderen Geschlechter einheitlich mit ein. 2 Zacher, ZSR 1966, 129, 131. 3 Klette, Die Kassenarztverträge der sozialen Krankenversicherung, S. 50 ff.; Axer, FS 50 Jahre BSG, S. 339, 343 f. 4 Heinemann / Koch, Kassenarztrecht, S. 12; Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 92. 5 BT-Drs. 1/3904, S. 16. 6 Vgl. § 72 Abs. 2 SGB V.

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Einführung

Kooperationsinstrumente oder Instrumente des Interessenausgleichs des Vertragsarztrechts bezeichnet werden.7 Aus Sicht der Vertragsärzte stellt sich anlässlich der Grundsatzentscheidung des BSG vom 30. 11. 20168 die Frage, inwiefern diese Kooperationsinstrumente des Vertragsarztrechts geeignete Mittel zur Interessenwahrung darstellen, d. h. ob Vertragsärzte hierüber ihre Interessen in ausreichendem Umfang wahren können. Denn mit dieser Entscheidung werden Vertragsärzte zur Wahrung ihrer Interessen auf die abschließend geregelten Möglichkeiten des Vertragsarztsystems verwiesen. Die Richter des BSG hatten über die Rechtmäßigkeit eines Disziplinarverweises zu urteilen, den die zuständige Kassenärztliche Vereinigung (KV) einem ihrer Mitglieder erteilt hatte. Der Vertragsarzt war an zwei Tagen im Herbst 2012 mit fünf weiteren seiner Kollegen in den „Warnstreik“ getreten und hatte zu diesem Zwecke seine Praxis geschlossen. Er wollte seiner Forderung nach einem ärztlichen Honorarsystem mit festen Preisen ohne irgendeine Form von Mengenbegrenzung Nachdruck verleihen.9 Das BSG bestätigte den Verweis, da der Kläger mit seinem zweitägigen „Warnstreik“ schuldhaft gegen seine Präsenzpflicht aus § 24 Abs. 2 Ärzte-ZV10 i. V. m. § 98 Abs. 1 S. 1 SGB V verstoßen hat. Darüber hinaus stellten die Richter fest, dass sich die Unzulässigkeit von gegen die Krankenkassen (und ggf. auch gegen die Kassenärztlichen Vereinigungen) gerichteten „Kampfmaßnahmen“ der Vertragsärzte aus der gesetzlichen Konzeption des Vertragsarztrechts ergibt.11 Durch die Ausgestaltung dieses in sich geschlossenen Systems habe der Gesetzgeber die gegenseitigen Interessen von Ärzten und Krankenkassen zum Ausgleich gebracht.12 Das BSG ist folglich der Ansicht, dass Vertragsärzte zur Wahrung ihrer Interessen keine streikähnlichen Mittel benötigen, da die gesetzlich vorgesehenen Kooperationsstrukturen des Vertragsarztrechts wie bspw. die Schlichtungsverfahren eine Berücksichtigung der ärztlichen Interessen in ausreichendem Umfang sicherstellen.13 Angesichts bestehender und zunehmender Restriktionen, denen sich Vertragsärzte bei der Ausübung ihrer Tätigkeit innerhalb des Systems ausgesetzt sehen, ist diese Feststellung jedoch keinesfalls selbsterklärend. Ziel dieser Arbeit ist es, zu untersuchen, inwiefern die Konzeption des Vertragsarztrechts effektive kollektive sowie individuelle Möglichkeiten zur ärzt­lichen Interessenwahrung bereithält. Darüber hinaus muss überprüft werden, ob den Vertragsärzten abseits der kooperativen Instrumente, die im Vertragsarztsystem 7 Das BSG bezeichnet nur die Kollektivverträge als „Instrument des Interessenausgleichs“, Urt. v. 9. 12. 2004 – B 6 KA 44/03 R, BSGE 94, 50, 76. 8 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112. 9 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 113. 10 Zulassungsverordnung für Vertragsärzte, BGBl. I, S. 572. 11 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 115 ff., 120 ff. 12 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 120. 13 Vgl. BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 120, 147.

B. Gang der Untersuchung

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vorgesehen sind, auch alternative Einflussmöglichkeiten zustehen, mit denen sie unabhängig von den Krankenkassen für ihre Rechte im System eintreten können.

B. Gang der Untersuchung Um ein umfassendes Verständnis für die Interessenwahrungsmöglichkeiten der Vertragsärzte nach der heutigen Konzeption des Vertragsarztrechts erarbeiten zu können, ist zunächst zu den historischen Wurzeln des Systems zurückzugehen. Die Entstehungsgeschichte des Kollektivvertragssystems ist nur vor dem Hintergrund der gewerkschaftsähnlichen Tradition der damaligen Ärzteschaft zu verstehen. Daraus wird deutlich, dass die Etablierung eines auf der Kooperation zwischen Ärzten und Krankenkassen fußenden Systems zwar vorerst das Ende der konfliktreichen Zeit markierte, die Ärzteschaft aber nicht gänzlich davon abhielt, „Kampfmaßnahmen“ zur Durchsetzung ihrer Interessen zu ergreifen (Kapitel 1). Die Vertragsärzte stehen im Mittelpunkt der Untersuchung, weshalb zunächst eine systematische Einordnung derselben zu erfolgen hat. Das zweite Kapitel widmet sich daher den Grundstrukturen des aktuellen Kollektivvertragssystems sowie den systembedingten Rechtsbeziehungen des Vertragsarztes zu den anderen Akteuren, insbesondere den KVen und den Krankenkassen. Das dritte Kapitel untersucht die kollektiven Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung nach der Konzeption des Vertragsarztrechts. Zu überprüfen ist, inwiefern sich die vorgesehenen Kooperationsformen, d. h. die Kollektivverträge, die gemeinsamen Ausschüsse sowie die Schiedsämter, aus der Perspektive der Ärzteschaft zur Interessenwahrung eignen. Die Untersuchung differenziert hierbei zwischen den Möglichkeiten der Einbringung sowie der anschließenden Durchsetzung von Interessenstandpunkten. Da mit der kollektiven Interessenvertretung nicht zwangsläufig eine angemessene Repräsentation individueller ärztlicher Interessen verbunden sein muss, werden jeweils im Anschluss die individuellen Rechtsschutzmöglichkeiten des Vertragsarztes vor den Sozialgerichten untersucht und bewertet. Schließlich ist auf die Schlüsselfunktion der KVen für die ärzt­liche Interessenwahrung einzugehen. Diese tragen die Verantwortung für die tatsächliche Einbringung und Durchsetzung der ärztlichen Interessen innerhalb der koope­ rativen Strukturen. Angesichts der gewonnenen Erkenntnisse widmet sich sodann das vierte Kapitel der Frage, wie Vertragsärzte ihren Interessen auch abseits der kollektivvertraglichen Kooperationsinstrumente zur Geltung verhelfen können. Zu dieser Frage drängt nicht zuletzt die höchstrichterliche Entscheidung des BSG über das systemimmanente Streikverbot. Neben dem Austritt aus dem System sowie öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen wie bspw. Kundgebungen ist daher insbesondere zu diskutieren, ob Vertragsärzte zur Durchsetzung ihrer Interessen auch auf streikähnliche Maßnahmen zurückgreifen dürfen. Die Aussagen, die hierzu auf einfach-

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Einführung

gesetzlicher Ebene gewonnen werden können – auch unter Berücksichtigung der Aussagen des BSG – müssen anschließend einer verfassungsrechtlichen Überprüfung unterzogen werden. Hierbei soll die Frage beantwortet werden, ob die Konzeption des Vertragsarztrechts eine hinreichende Berücksichtigung der ärztlichen Interessen gewährleistet. Abschließend werden Lösungsvorschläge diskutiert, mit denen Vertragsärzten eine freiheitswahrende Perspektive innerhalb des Vertragsarztsystems erhalten bleibt. Die Arbeit schließt mit einem fünften Kapitel, in dem die Untersuchungsergebnisse zusammengefasst werden.

1. Kapitel

Die Entwicklung des Kollektivvertragssystems Die Entwicklung des heutigen Kollektivvertragssystems des Vertragsarztrechts lässt sich nur vor dem Hintergrund der langen Tradition des gewerkschaftsähn­ lichen Kampfes der damaligen Ärzteschaft verstehen.14 Ärzte und Krankenkassen tarierten ihre gegenseitigen Interessenstandpunkte nicht auf kooperativem, sondern auf konfrontativem Wege aus.

A. Der Beginn der kassenärztlichen Versorgung Erstmals war mit dem Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter (KVG) vom 15. 6. 188315 eine Absicherung für das Risiko des Krankheitsfalls vorgesehen. Alle Pflichtversicherten, zu denen damals nach §§ 1–3 KVG nur bestimmte gewerbliche Arbeiter zählten, erhielten gem. § 6 KVG einen direkten Anspruch auf Gewährung von Krankenhilfe in Gestalt eines Sachleistungsanspruches. Hiermit war die Leistungsverschaffungspflicht der Krankenkassen begründet, zu deren Erfüllung frei ausgehandelte Dienstverträge mit einzelnen Ärzten abgeschlossen werden mussten.16 Das KVG ersetzte das für das damalige Arztsystem prägende „Regulativ der freien Abrede zwischen Arzt und Patient“17 durch eine Dreiecksbeziehung zwischen Arzt, Krankenkasse und Patient. Die Ärzte richteten ihren Honoraranspruch fortan nicht mehr gegen die Patienten, sondern gegen ihre neuen Vertragspartner, die Krankenkassen. Hinsichtlich der Honorarhöhe oder der Auswahl der Leistungserbringer enthielt das KVG allerdings keine Vorgaben,18 sodass die vertraglichen Rechtsbeziehungen gänzlich dem „freien Spiel der Privatautonomie überlassen [wurden]“.19 Obwohl sich die Behandlung von Kassenpatienten in Anbetracht der geringen Anzahl der gesetzlich Versicherten20 und der niedrigen Honorare als wenig lukrativ erwies, waren hier 14

Zacher, ZSR 1966, 129, 130. RGBl. 1883 Nr. 9, S. 73. 16 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 25; Rompf, VSSR 2007, 1, 4; § 6 KVG als „Grundproblem des Kassenarztrechts“ bezeichnend Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 19. 17 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 22. 18 § 46 Abs. 1 Nr. 2 KVG konnte nur entnommen werden, dass die Rechtsbeziehung durch „schriftliche“ Verträge auszugestalten war, so Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 24. 19 Rompf, VSSR 2007, 1, 5; Jörg, Das neue Kassenarztrecht, Rn. 7. 20 4 Mio. Einwohner bei einer Gesamtbevölkerung von 60 Mio. Einwohnern, Sauerborn, DOK 1953, 293, 294. 15

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1. Kap.: Die Entwicklung des Kollektivvertragssystems

mit keine wesentlichen Nachteile für die Ärzte verbunden. Sie konnten durch die Behandlung von Privatpatienten weiterhin ihre Haupteinnahmen generieren.21 Dies änderte sich jedoch Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Anstieg der gesetzlich Krankenversicherten auf nahezu ein Drittel der Gesamtbevölkerung, wodurch sich eine entsprechende Nachfrage für ärztliche Leistungen etablierte.22 Für die Krankenkassen kam die für sie günstige Einführung der §§ 6a und 26a KVG hinzu. Hiernach konnten sie kraft Statut die zur Behandlung ihrer Versicherten vorgesehenen Leistungserbringer bestimmen und die Bezahlung anderer, nicht vom Statut umfasster Leistungserbringer ablehnen.23 Der so gewonnene Machtzuwachs durch das Modell der „beschränkt freien Arztwahl“24 ermöglichte es den Krankenkassen, die Vertragsbedingungen einseitig zu bestimmen, hierbei das Honorar auf ein Minimum zu reduzieren und somit alle Ansätze einer gleichberechtigen Partnerschaft zu beseitigen. Die Ärzte gerieten infolgedessen in die berufliche und wirtschaftliche Abhängigkeit, da sie angesichts der immer größer werdenden Zahl der Pflichtversicherten und der daraus resultierenden Bedeutungszunahme der Behandlung von Kassenpatienten auf eine Zusammenarbeit mit den Kassen angewiesen waren.25 Hinzu kam, dass dem Großteil der Ärzte die Berufsausübung aufgrund der einseitigen Festlegung in den Statuten verwehrt wurde.26 Die Ärzteschaft wollte sich daher zur besseren Bündelung ihrer Interessen und zur Gründung eines Gegengewichts zusammenschließen, was schließlich mit der Gründung des „Verbandes der Ärzte Deutschlands zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen“, auch Leipziger Verband genannt, am 13. 9. 1900 geschah. Dieser wurde 1903 nach seinem Gründer Hermann Hartmann in Hartmannbund umbenannt. So vereint verfolgten die Ärzte drei zentrale Ziele: die Verwirklichung der freien Arztwahl, die Ersetzung der Einzelverträge zwischen Ärzten und Krankenkassen durch Kollektivverträge sowie eine Erhöhung der Honorare mittels Einzelleistungsvergütung.27 Der Hartmannbund hatte schnell eine flächendeckende Dimension erreicht, was ihm – im Vergleich zu den zuvor nur vereinzelt gegründeten Ärzteorganisationen – ein deutlich forscheres Auftreten sowie eine größere Einflussnahme auf die Krankenkassen ermöglichte.28 Zur Durchsetzung seiner Forderungen orientierte sich der Verband am Vorbild der Gewerkschaften und 21

Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 24 f.; Albrecht, ZfS 1975, 139. Vgl. zur Ausdehnung des Mitgliederbestandes Huerkamp, Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert, S. 196 ff. 23 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 26 f.; Albrecht, ZfS 1975, 139, 140. 24 Schnapp / Wigge / Schnapp, HB des Vertragsarztrechts, § 1 Rn. 4. 25 Rompf, VSSR 2007, 1, 7; Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 28 f.; Huerkamp, Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert, S. 196 ff.; ausf. Käsbauer, Die Neuordnung der Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen durch das Berliner Abkommen vom 23. 12. 1913, S. 54 ff. 26 Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 20. 27 Albrecht, ZfS 1975, 139, 140 f.; Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 20 f. 28 Vgl. hierzu Puppe, Die Bestrebungen der deutschen Aerzte zu gemeinsamer Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen, S. 65 ff.; Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 30. 22

A. Der Beginn der kassenärztlichen Versorgung

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griff auf Druckmittel wie Boykott etwaiger Außenseiter und Streik zurück. Ein verhandlungsbasiertes Vorgehen war in Anbetracht seiner fehlenden Abschlusskompetenz gegenüber den Krankenkassen sowie der nach wie vor bestehenden Übermacht der Krankenkassen wenig erfolgversprechend.29 Die Streikmaßnahmen folgten meistens einem festen Ablaufmuster: Die Ärzte kündigten ihre Verträge mit den Krankenkassen und verweigerten die weitere Behandlung der Kassenpatienten. Zusätzlich wurden sie über die Cavete-Tafeln30 vor Vertragsabschlüssen mit für nachteilige Konditionen bekannte Krankenkassen öffentlich gewarnt.31 Als Gegenmaßnahme und um dem Druck stand zu halten, organsierten sich die Krankenkassen ebenfalls in Verbänden wie bspw. im „Verband zur Wahrung der Interessen der Deutschen Betriebskrankenkassen“.32 Für die Erfolgsquote der Kampfstatistik des Leipziger Verbandes war es entscheidend, die arbeitswilligen Ärzte, die für die Krankenkassen als „Nothelfer“ und umgekehrt für den Verband als „Streikbrecher“ einzuordnen waren, von für sie lukrativen Vertragsabschlüssen mit den Krankenkassen abzubringen und stattdessen für den Beitritt zu einem „Schutz- und Trutzbündnis“ für mehr Geschlossenheit innerhalb der Ärzteschaft zu gewinnen.33 Gleich zum Auftakt konnte der Hartmannbund 1904 zwei erfolgreiche, großflächig organisierte Kämpfe in Leipzig34 und kurze Zeit später in Köln35 vorweisen, die ihm großen Auftrieb und Selbstbewusstsein für die folgenden Jahre der Auseinandersetzung verliehen.36 Auch wenn der Hartmannbund in den Folgejahren zahlreiche erfolgreiche Kämpfe verzeichnen konnte,37 sehnte die Ärzteschaft eine Beilegung des Konflikts durch den Gesetzgeber herbei. Dies geschah erst mit dem Inkrafttreten der Reichs 29 Albrecht, ZfS 1975, 139, 140; Rompf, VSSR 2007, 1, 8; Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 21. 30 Lat. von cavere (sich hüten; sich vorsehen). 31 Die Cavete-Liste erschienen im Ae. V. Bl. und nahezu allen anderen medizinischen Zeitschriften, Huerkamp, Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert, S. 285, Fn. 249, S. 294 f.; Puppe, Die Bestrebungen der deutschen Aerzte zu gemeinsamer Wahrung ihrer wirtschaft­ lichen Interessen, S. 100 f.; Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 21; Albrecht, ZfS 1975, 139, 140. 32 Schieckel, Kuhns I, S. 491; Krause, SGb 1981, 404, 405. 33 Der Beitritt zum Bündnis war an die Unterzeichnung einer Verpflichtungserklärung geknüpft, wodurch sich der Arzt dazu verpflichtete, alle Verträge, die er mit Krankenkassen eingehen wollte, vorher einer Vertragskommission zur Genehmigung vorzulegen und sich nicht auf Stellen in vom Leipziger Verband gesperrten Gebieten zu bewerben, Herold-Schmidt, Geschichte der deutschen Ärzteschaft, S. 43, 92 f.; Puppe, Die Bestrebungen der deutschen Aerzte zu gemeinsamer Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen, S. 96 und zu den Kampfstatistiken s. S. 104 ff.; Maschke, Boykott, Sperre und Aussperrung, S. 174 f. 34 Ausf. Huerkamp, Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert, S. 289 ff. 35 Ausf. Neuhaus, Arbeitskämpfe, Ärztestreiks, Sozialreformer, S. 279 ff. 36 Albrecht, ZfS 1975, 139, 141. 37 In der Statistik bis 1908/1909 sind 726 Kämpfe als gewonnen verzeichnet, Puppe, Die Bestrebungen der deutschen Aerzte zu gemeinsamer Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen, S. 104 f.

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1. Kap.: Die Entwicklung des Kollektivvertragssystems

versicherungsordnung zum 1. 1. 1914. Doch der erste Entwurf trug in keiner Weise zu einer Verbesserung der Situation für die Ärzte bei, da an der bisherigen Gesetzeslage festgehalten wurde und die Rechtsbeziehung zwischen Ärzten und Krankenkassen „weiter dem freien Spiel der Kräfte“ überlassen wurde.38 Insbesondere sorgte der neu eingefügte § 370 RVO für Unzufriedenheit bei den Kassenärzten, da er ihnen eine ihrer wirkungsvollsten Waffen entzog – die Kündigung der Verträge mit den Krankenkassen sowie die anschließende Verweigerung von Neuabschlüssen. Die Krankenkassen konnten hiernach ihren Mitgliedern anstelle des sonst üblichen Sachleistungsanspruchs eine bare Leistung von bis zu zwei Dritteln des Krankengeldes gewähren, um im Falle der gescheiterten Vertragsabschlüsse etwaigen Versorgungslücken entgegenzuwirken.39 Dies erwies sich als ein bedeutender Einschnitt für das sonst von Erfolg gekrönte Vorgehen der Ärzteschaft. Das Inkrafttreten der RVO musste daher mit größter Vehemenz verhindert werden, sodass für den 1. 1. 1914 der Generalstreik angekündigt wurde. Aus Sorge vor einem bundesweiten Versorgungsnotstand konnte die Reichsregierung erfolgreich auf einen Kompromiss zwischen den beiden Konfliktparteien hinwirken, der als sogenanntes Berliner Abkommen am 23. 12. 1913 verschriftlicht wurde.40

B. Das Berliner Abkommen vom 23. 12. 1913 Zum ersten Mal in der Geschichte der kassenärztlichen Versorgung existierte mit dem Berliner Abkommen ein privatrechtlicher Vertrag, der primär durch Verfahrens- und Organisationsbestimmungen das angespannte Verhältnis zwischen Krankenkassen und Ärzten zu entschärfen versuchte.41 Hierfür sah das Abkommen die Etablierung von insgesamt vier paritätisch besetzten Gremien vor, wodurch beide Konfliktparteien gleichermaßen zur Lösung von „Schlüsselfragen der Kassenpraxis“ in die Verantwortung genommen wurden.42 Ein Zentralausschuss wurde zur Überwachung der Durchführung des Abkommens eingerichtet und hatte im Streitfall als schiedsgerichtliche Instanz über Auslegungsfragen zu entscheiden.43 Mit der Zulassung der Ärzte zur Kassenarzt 38

Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 35 f.; Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 22. 39 Rompf, VSSR 2007, 1, 9. 40 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 37; Zacher, ZSR 1966, 129, 131. 41 Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 24; Käsbauer, Die Neuordnung der Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen durch das Berliner Abkommen vom 23. 12. 1913, S. 151. 42 Käsbauer, Die Neuordnung der Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen durch das Berliner Abkommen vom 23. 12. 1913, S. 150. 43 Vgl. Nr. 12 des Berliner Abkommens abgedruckt b. Kuhns II, S. 176 ff.; Albrecht, ZfS 1975, 139, 142.

B. Das Berliner Abkommen vom 23. 12. 1913

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praxis wurde künftig ein Registerausschuss betraut, wodurch den Krankenkassen ihre personale Auswahlfreiheit genommen wurde.44 Die fortbestehende Praxis der Einzelverträge zwischen Krankenkassen und Ärzten erfuhr durch den Vertragsausschuss eine deutliche Verbesserung. Fortan führte nicht mehr der einzelne Arzt, sondern der Ausschuss die Vertragsverhandlungen mit den Krankenkassen und stellte hiermit sicher, dass allen Verträgen die gleichen allgemeinen Vertragsbedingungen zugrunde lagen.45 Konnte eine Einigung im Vertragsausschuss nicht erzielt werden, wurde der Vertrag durch ein Schiedsamt festgesetzt, das in jedem Bezirk eines Oberversicherungsamtes zu errichten war.46 In materiell-rechtlicher Hinsicht traf das Abkommen eine für die Ärzteschaft vorteilhafte Vorgabe: Das Abkommen sah eine feste Anzahl an Versicherten vor (1350 bzw. 1000 unter Berücksichtigung der Familienversicherten), für die die Krankenkassen mit einem Arzt einen Vertrag abzuschließen hatten.47 Den Krankenkassen wurde hierdurch ihre bisherige Autonomie zur einseitigen Festlegung der anzustellenden Ärzte endgültig genommen. Ungelöst blieb weiterhin die Honorarfrage, zu der das Berliner Abkommen keine Regelung vorsah.48 Insgesamt führte das Berliner Abkommen zu einer deutlichen Stärkung der Rechtsposition der Ärzteschaft im System. Mit der Etablierung der vier paritätisch besetzten Gremien wurde der Ärzteschaft erstmals ermöglicht, als gleichberechtigter Akteur neben den Krankenkassen die kassenärztliche Versorgung mitzugestalten und sich eine größere Akzeptanz gegenüber den Krankenkassen zu verschaffen.49 Gleichzeitig legte das Berliner Abkommen den Grundstein für die Entwicklung eines Kollektivvertragssystems sowie die heutige gemeinsame Selbstverwaltung.50

44 Vgl. Nr. 1 des Berliner Abkommens abgedruckt b. Kuhns II, S. 176 ff.; Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 41. 45 Vgl. Nr. 4 des Berliner Abkommens abgedruckt b. Kuhns II, S. 176 ff.; Axer, FS 50 Jahre BSG, S. 339, 345; Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 39; a. A. Albrecht, ZfS 1975, 139, 142, der bereits von der Durchsetzung des Kollektivvertrages sprach. 46 Vgl. Nr. 5 des Berliner Abkommens abgedruckt b. Kuhns II, S. 176 ff.; Albrecht, ZfS 1975, 139, 142. 47 Vgl. Nr. 2 des Berliner Abkommens abgedruckt b. Kuhns II, S. 176 ff.; Rompf, VSSR 2007, 1, 9. 48 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 38; Schieckel, Kuhns I, S. 548. 49 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 42; Käsbauer, Die Neuordnung der Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen durch das Berliner Abkommen vom 23. 12. 1913, S. 15; Albrecht, ZfS 1975, 139, 142. 50 Jörg, Das neue Kassenarztrecht, Rn. 8; Schnapp / Wigge / Schnapp, HB des Vertragsarztrechts, § 1 Rn. 11; den Vorbildcharakter betonend Axer, FS 50 Jahre BSG, S. 339, 345 f.; das Berliner Abkommen als bescheidenen Versuch einer „Gemeinsamen Selbstverwaltung“ bezeichnend Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 25.

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1. Kap.: Die Entwicklung des Kollektivvertragssystems

C. Die Verordnung über Ärzte und Krankenkassen vom 30. 10. 1923 Von der zunächst stabilisierenden und friedenstiftenden Wirkung des Berliner Abkommens war aufgrund der Nachkriegsinflation bereits vor dem Auslaufen des Abkommens zum 23. 12. 1923 wenig übriggeblieben, sodass beide Vertragsparteien einer Verlängerung entgegenstanden.51 Die Geldentwertung rief bei den Ärzten die berechtigte Forderung nach einer Preissteigerung hervor. Dies stellte die finanziell schwachen Krankenkassen vor eine schwierige Situation, da sie sich von ihren größtenteils arbeitslosen Mitgliedern keine Einnahmen erhoffen konnten. Zur weiteren Verhärtung der Fronten trug der rapide Anstieg der Ärztezahlen, bedingt durch aus dem Krieg zurückkehrende Militärärzte und die hohe Anzahl an Kriegsverletzten, bei.52 Um einen vertragslosen Zustand zu vermeiden und den Bestand des Berliner Abkommens abzusichern, erließ der Gesetzgeber am 30. 10. 1923 die Verordnung über Ärzte und Krankenkassen,53 die im Wesentlichen die Regelungen des Berliner Abkommens übernahm und den Zentralausschuss durch einen mit legislativen Befugnissen ausgestatteten Reichsausschuss ersetzte.54 Die Bestimmungen der Verordnung fanden sodann mit der Neufassung der RVO zum 15. 12. 1924 Eingang in das Gesetz, womit erstmals eine gesetzliche Grundlage für die Rechtsbeziehungen zwischen den Akteuren existierte.55 Mit der Gründung des Reichsausschusses wurde der erste Grundstein für die Überführung der privatrechtlich geprägten Rechtbeziehung zwischen Ärzten und Krankenkassen in das öffentliche Recht sowie die Institutionalisierung einer gemeinsamen Selbstverwaltung gelegt.56 Die zur selben Zeit erlassene Verordnung über die Krankenhilfe bei den Krankenkassen,57 die die Krankenkassen zum Erlass von Wirtschaftlichkeitsrichtlinien befugte und für die Ärzteschaft eine erhebliche Beschneidung ihrer Rechte bedeu-

51

Axer, FS 50 Jahre BSG, S. 339, 346; Rompf, VSSR 2007, 1, 10 f.; ausf. Käsbauer, Die Neuordnung der Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen durch das Berliner Abkommen vom 23. 12. 1913, S. 188 ff., 195 ff. 52 Albrecht, ZfS 1975, 139, 143 f.; Schnapp / Wigge / Schnapp, HB des Vertragsarztrechts, § 1 Rn. 13 ff. 53 RGBl. I 1923, S. 1051. 54 Heinemann / Koch, Kassenarztrecht, S. 14. 55 Axer, FS 50 Jahre BSG, S. 339, 346. 56 Vgl. Rompf, VSSR 2007, 1, 12 ff., der von einer „ersten Stufe öffentlich-rechtlichen Überbaus“ spricht, sich allerdings aufgrund der unparteiischen Mitglieder im Reichsausschuss gegen eine uneingeschränkte Annahme einer gemeinsamen Selbstverwaltung ausspricht; anders Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 45, 47; Jörg, Das neue Kassenarztrecht, Rn. 9; Axer, FS 50 Jahre BSG, S. 339, 347; Albrecht, ZfS 1975, 180; Niggemann, Strukturwandlung in den rechtlichen Beziehungen zwischen Aerzten und Krankenkassen? S. 43; a. A. Sauerborn, DOK 1953, 293, 296. 57 RGBl. I 1923, S. 1054.

C. Die Verordnung über Ärzte und Krankenkassen vom 30. 10. 1923 

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tete, löste eine letzte Streikwelle der Ärzte aus, die erst mit der Aufhebung dieser Befugnisse ein Ende fand.58 In den darauffolgenden Jahren bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der 30er Jahre wurde der Reichsausschuss gestaltend aktiv. Er erließ u. a. Richtlinien für wichtige Bereiche des Kassenarztsystems wie das Zulassungswesen und den Inhalt der Arztverträge.59 Als besondere Errungenschaft der Vertragsrichtlinie gilt die Anerkennung des zwischen den privatrechtlichen Ärzteverbänden und dem Hauptverband der Krankenkassen geschlossenen Gesamtvertrages als Kollektivvertrag. Zwar war der Inhalt des Gesamtvertrages nicht unmittelbar bindend für die Individualverträge der Ärzte, jedoch musste er explizit übernommen werden. Trotzdem war die Intention der Richtlinie unmissverständlich: Die Gesamtverträge regelten die „Bedingungen für den Abschluß der Dienstverträge“.60 Einen erneuten Einschnitt in diese friedliche Entwicklung des Kassenarztrechts bedingte sodann die Weltwirtschaftskrise, die sowohl für die Arbeitslosen- als auch für die Krankenversicherung einen desolaten Zustand hervorrief. Aufgrund der Massenarbeitslosigkeit sah sich die damalige Reichsregierung gezwungen, die Ausgaben und Beiträge im Krankenversicherungswesen zur Finanzierung der Arbeitslosenversicherung erheblich zu kürzen. Dieses Ziel sollte die Notverordnung zur Behebung finanzieller, wirtschaftlicher und sozialer Notstände vom 26. 7. 193061 verwirklichen, die die Ärzteschaft dazu verpflichtete, ihre Behandlungen auf ein notwendiges Maß zu reduzieren und alles darüber Hinausgehende abzulehnen.62 Zusätzlich wurden die Krankenkassen von ihrer Sachleistungsverpflichtung nahezu vollständig entbunden, sodass sie ihren Mitgliedern stattdessen bare Leistungen in einer Höhe von bis zu 80 % der Mindestsätze gewähren konnten.63

58 Die Aufhebung erfolgte durch die Notverordnung v. 29. 11. 1923, Krause, SGb 1981, 404, 406; s. a. Wolff, Geschichte der deutschen Ärzteschaft, S. 97, 112 f.; Albrecht, ZfS 1975, 180. 59 Zulassungs- und Vertragsrichtlinie v. 14. 11. 1928, RABl. IV, S. 401 und 409; hinsichtlich der Honorarfrage traf die Vertragsrichtlinie keine Entscheidung, Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 58; vgl. auch Sauerborn, DOK 1953, 293, 297. 60 Ausdrücklich mit Verweis auf § 4 Abs. 1 der Vertragsrichtlinie Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 57, Fn. 148; Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 28; Schieckel, Kuhns I, S. 548; Krause, SGb 1981, 404, 406; a. A. Rompf, VSSR 2007, 1, 12, der dem Gesamtvertrag nur die Funktion eines „Vertragsmusters“ zuschreibt. 61 RGBl. I 1930, S. 311. 62 Heinemann / Koch, Kassenarztrecht, S. 15; Rompf, VSSR 2007, 1, 14; Albrecht, ZfS 1975, 180, 181. 63 Dies stellte eine Ausweitung der 1911 eingeführten Erstattungsregelung in § 370 RVO dar, die 1923 in der Verordnung über die Krankenhilfe bei den Krankenkassen v. 30. 10. 1930 übernommen wurde, Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 61; s. o. 1. Kap. A.

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1. Kap.: Die Entwicklung des Kollektivvertragssystems

D. Die Notverordnungen von 1931 und 1932 Das zunächst erfolgversprechende Abkommen des Kölner Ärztetags 193164 scheiterte am Widerstand der Betriebs-, Landes- und Innungskrankenkassen,65 sodass sich das Reichsarbeitsministerium dazu veranlasst sah, erneut regulierend einzugreifen. Die daraufhin ergangene Notverordnung zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen zum Schutze des inneren Friedens vom 8. 12. 193166 sowie die Notverordnung über die kassenärztliche Versorgung vom 14. 1. 193267 sollten von wegweisender Bedeutung für die künftige Entwicklung des Kassenarztrechts sein. Sie trugen erstmals der Forderung der Ärzteschaft nach einem Kollektivvertragssystem Rechnung und stellten die Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen „auf ein neues Fundament“.68 Ausgangspunkt dieser Neuordnung war die Errichtung der KVen. Sie wurden als rechtsfähige, genossenschaftlich organisierte Zwangskorporationen der Kassenärzte – § 368a RVO sah für alle zur Kassenarztpraxis zugelassenen Ärzte die Zwangsmitgliedschaft vor – mit einem Verhandlungsmandat ausgestattet, um Kollektivverträge mit den Verbänden der Krankenkassen zu vereinbaren.69 Spätestens mit der Verordnung über die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands vom 2. 8. 193370 erhielten sie den Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft.71 Mit der Institutionalisierung der KVen war somit nicht nur die endgültige Anerkennung der ärztlichen Selbstverwaltung, sondern auch das Ende des über viele Jahre vorherrschenden privatrechtlichen Einzelvertrages zwischen Krankenkassen und Ärzten verbunden,72 welcher zugunsten

64 Abkommen v. 17. 10. 1931 „Regelung der Beziehung zwischen Krankenkassen und Aerzten“, abgedruckt in DK 1931, 1231 ff. 65 Das auf dem Kölner Ärztetag geschlossene Abkommen war durch ein gegenseitiges Nachgeben gekennzeichnet: Die Ärzteschaft gab sich statt der sonst gewünschten Bezahlung nach Einzelleistungen mit einer Bezahlung nach Kopfpauschalen zufrieden und die Krankenkassen senkten im Gegenzug die Verhältniszahl herab, sodass mehr Jungärzte zugelassen werden konnten, Rompf, VSSR 2007, 1, 15; Heinemann / Koch, Kassenarztrecht, S. 17. 66 RGBl. I, S. 699. 67 RGBl. I, S. 19. 68 Ausdrücklich Käsbauer, Die Neuordnung der Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen durch das Berliner Abkommen vom 23. 12. 1913, S. 298; s. a. Sauerborn, DOK 1953, 293, 300; Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 63 f. 69 Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 20 Rn. 6; Axer, FS 50 Jahre BSG, S. 339, 348. 70 RGBl. I, S. 567. 71 Zum Meinungsstand hinsichtlich der Rechtsnatur der KVen Rompf, VSSR 2007, 1,16 ff.; Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 77 m. w. N. in Fn. 195; ausf. Käsbauer, Die Neu­ ordnung der Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen durch das Berliner Abkommen vom 23. 12. 1913, S. 282 ff. 72 Der Einzelvertrag wurde nicht gänzlich abgeschafft, indes wurde sein Zustandekommen an die kassenärztliche Zulassung geknüpft und der Inhalt durch den Kollektivvertrag vorgegeben, Rompf, VSSR 2007, 1, 17 ff.; Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 33 f.; Heinemann, Kassenarztrecht, S. 14.

D. Die Notverordnungen von 1931 und 1932

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des neuen öffentlich-rechtlichen Kollektivvertragssystems weichen musste.73 Hiermit wurde ein neues „zentrales Steuerungsinstrument“74 für die kassenärztliche Versorgung etabliert, welches den Vertragsparteien durch seine abgestufte Systematik ermöglichte, auf den unterschiedlichen Ebenen allgemeine, organisatorische sowie spezifische Vorgaben zu treffen.75 Die Gewähr für eine ordnungsgemäße Gesundheitsversorgung übernahmen gem. § 368d Abs. 3 RVO die KVen, die, mit Disziplinarbefugnissen ausgestattet, auf die Erfüllung der ihren Mitgliedern obliegenden Pflichten hinwirken konnten. Die konkrete Verpflichtung der Kassenärzte zur Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung ergab sich aus der Zulassungsordnung vom 17. 5. 1934, die die Zulassung als „Berechtigung und Verpflichtung eines Arztes gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands zur Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung“ definierte.76 Auch ihren Vergütungsanspruch richteten die Kassenärzte künftig gegen die KV und nicht mehr wie zuvor gegen die vertragsschließende Krankenkasse. Letztere entrichtete die vereinbarte Gesamtvergütung fortan an die KVen zur anschließenden Weiterverteilung auf die Mitglieder.77 Neben der Erweiterung des bisherigen Dreiecks- zu einem Vierecksverhältnis durch das Hinzutreten der KV als neue Akteurin der ärztlichen Selbstverwaltung78 wurde die Idee der gemeinsamen Selbstverwaltung mittels paritätisch besetzter Gremien weiter ausgebaut und gestärkt: Der Reichsausschuss erhielt weitere Befugnisse, bspw. den Erlass der Ausführungsbestimmungen zu den neuen §§ 368 ff. RVO,79 und die Schiedsämter sowie das Reichsschiedsamt waren weiterhin als Schlichtungsorgane bei Vertragsstreitigkeiten zuständig.80 Zusätzlich führte das Schiedsamt das neue verwaltungsrechtliche Zulassungsverfahren als öffentliche 73

Von einem Übergang in die Sphäre des öffentlichen Rechts spricht Schnapp / Wigge /  Schnapp, HB des Vertragsarztrechts, § 1 Rn. 23; Schieckel, Kuhns I, S. 549; Rompf, VSSR 2007, 1, 19. 74 Käsbauer, Die Neuordnung der Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen durch das Berliner Abkommen vom 23. 12. 1913, S. 291. 75 Auf oberster Stufe standen die Mantelvertragsmuster, die die Spitzenverbände der Krankenkassen und Ärzte vereinbarten und die normative Wirkung für die nachgeordneten Mantelverträge entfalteten. Letztere stellten wiederum allgemeingültige Vorgaben für die nachgeordneten Gesamtverträge auf. Neben der organisatorischen Ausführung der Mantelverträge sollte mit den Gesamtverträgen die Versorgung der Versicherten innerhalb des jeweiligen Geltungsbereiches sichergestellt werden, Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 83 ff.; Jantz / Prange, Das gesamte Kassenarztrecht, Teil B Einleitung I., S. 11 f. 76 Vgl. RGBl. I, S. 399; Krause, SGb 1981, 404, 407; Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 33. 77 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 78, 87 ff. 78 Krause, SGb 1981, 401, 406; Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 79. 79 Die Notverordnung vom 14. 1. 1932 setzte die Neufassung der §§ 368 ff. RVO um, Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 64 und Fn. 168; zum Ausbau der Regelungsbefugnisse Käsbauer, Die Neuordnung der Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen durch das Berliner Abkommen vom 23. 12. 1913, S. 291 ff. 80 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 71 f.

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1. Kap.: Die Entwicklung des Kollektivvertragssystems

Behörde durch.81 Hierneben konnten zur Entlastung der Schiedsinstanzen Vertrags- und Einigungsausschüsse sowie Schiedsgerichte gebildet werden.82 Insgesamt führten die Notverordnungen von 1931/32 die mit dem Berliner Abkommen eingeleitete Entwicklung der paritätischen Zusammenarbeit weiter, stellten aber gleichzeitig einen entscheidenden Wendepunkt für die kassenärztliche Versorgung dar:83 Durch die Etablierung eines Kollektivvertragssystems war erstmals eine gleichberechtigte Zusammenarbeit der vormaligen Konfliktparteien möglich und der jahrelange Konflikt konnte vorerst zur Ruhe kommen. Die neue Konzeption erwies sich für beide Parteien als annehmbare Lösung und diente allen künftigen Entwicklungsschritten des Kassenarztsystems als Grundmodell.84 Nicht umsonst wird der Erlass der Notverordnungen auch „als Geburtstag des heutigen Kassenarztrechtes“85 bezeichnet.

E. Das Gesetz über das Kassenarztrecht vom 17. 8. 1955 Auch wenn für die Umsetzung und Verfestigung der neu geschaffenen Strukturen nur ein knappes Jahr zur Verfügung stand, da sich durch die Zentralisierungstendenzen der Nationalsozialisten eine Veränderung der Verhältnisse ankündigte, überdauerten die rechtlichen Grundlagen aus dem Jahre 1931 das „Führerprinzip“86 und bildeten die Ausgangslage für den Entwurf des Gesetzes über das Kassenarztrecht (GKAR) vom 17. 8. 1955.87 Unter Begleitung einer lebhaften Diskussion konnte der Entwurf erst nach Einberufung des Vermittlungsausschusses finalisiert werden und schlussendlich am 20. 8. 1955 in Kraft treten.88 Zuvor hatte die desaströse Ausgangslage infolge des Zusammenbruchs des Dritten Reiches einen faktisch rechtslosen Zustand hervorgerufen, der erneute Anstrengungen der Parteien zum Wiederaufbau der bisherigen Strukturen erforderlich machte.89 Hierzu waren beide Parteien gewillt,90 obwohl die Aussicht auf eine fried 81

Käsbauer, Die Neuordnung der Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen durch das Berliner Abkommen vom 23. 12. 1913, S. 281 f. 82 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 73 ff. 83 So ausdrücklich Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 34. 84 Rompf, VSSR 2007, 1, 15; Tiemann, 100 Jahre Krankenversicherung, S. 20; zur Auflösung des Ungleichgewichts zwischen Ärzten und Krankenkassen, Käsbauer, Die Neuordnung der Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen durch das Berliner Abkommen vom 23. 12. 1913, S. 280 f.; Albrecht, ZfS 1975, 180, 183. 85 Schieckel, Kuhns I, S. 549. 86 Zu den Veränderungen durch das NS-Regime Schnapp / Wigge / Schnapp, HB des Vertragsarztrechts, § 1 Rn. 29; Rompf, VSSR 2007, 1, 20 ff. 87 BGBl. I, S. 513; Albrecht, ZfS 1975, 180, 183; Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 123. 88 Krause, SGb 1981, 404, 407. 89 Schieckel, Kuhns I, S. 550; s. a. Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 116 f. 90 Wie bspw. die Gründung des „vorläufigen Ausschusses für Ärzte und Krankenkassen“ am 21. 4. 1948 belegte, so Rompf, VSSR 2007, 1, 23.

E. Das Gesetz über das Kassenarztrecht vom 17. 8. 1955

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liche Zusammenarbeit zunächst von Problemen wie den steigenden Arztzahlen oder der unzureichenden Honorierung der Kassenärzte überschattet wurde.91 Ausdruck dieser Anfeindungen war die Gründung einer neuen Ärzteorganisation im Jahre 1949 in Hamburg unter dem alten Namen „Hartmannbund“ zur gebündelten Verteidigung ärztlicher Interessen. Besonderen Nachdruck verlieh die Ärzteschaft ihren Forderungen diesmal durch gezielte medienwirksame Öffentlichkeitsarbeit, sodass die breite Gesellschaft in die Problematik mit einbezogen wurde.92 Mit dem GKAR folgte der Gesetzgeber bewusst der 1930/31 geschaffenen Linie, da die historische Entwicklung des Kassenarztwesens eindeutig bewiesen hatte, dass sich die gesundheitliche Versorgung der Versicherten am besten durch das „verständnisvolle Zusammenwirken der Ärzteschaft und Krankenkassen in einer umfassenden Gemeinschaftsarbeit“ organisieren und verwirklichen lässt.93 Vor diesem Hintergrund war das GKAR nur als Rahmengesetz ausgestaltet, welches der gemeinsamen Selbstverwaltung möglichst viel Gestaltungsspielraum zur inhaltlichen Komplementierung überließ.94 Als tragenden Grundgedanken übertrug § 368 Abs. 1 S. 1 RVO die Sicherstellung der ärztlichen Versorgung beiden Parteien als gemeinsame Aufgabe.95 Zur Erfüllung dieser Aufgabe sah das Gesetz sowohl die Ausgestaltung durch Kollektivverträge als auch die gemeinsame Zusammenarbeit in Vertragsschlichtungs-, Zulassungs-, Bundes- und Landesausschüssen vor.96 Insbesondere die Reaktivierung des Schiedswesens war dem Gesetzgeber ein besonderes Anliegen, da jede Entstehung eines vertragslosen Zustands und die damit verbundene Gefahr eines erneuten Ausbruchs der Kampfmaßnahmen vermieden werden sollte.97 Der Hartmannbund widersetze sich zunächst der Einführung einer Zwangsschlichtung, da man unter veränderten politischen Rahmenbedingungen staatlichen Dirigismus befürchtete.98 Letztlich konnte das GKAR die wesentlichen Grundstrukturen der Gesetzeslage von 1930/31 verfestigen und überführte das Kassenarztwesen in eine neue Entwicklungsphase, in der trotz vieler Reformierungsprozesse an dem gefunde 91

Krause, SGb 1981, 404, 407 f.; Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 42 ff. Schnapp / Wigge / Schnapp, HB des Vertragsarztrechts, § 1 Rn. 37; Klette, Die Kassenarztverträge der sozialen Krankenversicherung, S. 210; ausf. zur Öffentlichkeitsarbeit der KVen 4.  Kap. B. III. 93 BT-Drs. 1/3904, S. 14, 16. 94 Schnapp / Wigge / Schnapp, HB des Vertragsarztrechts, § 1 Rn. 38; s. a. BT-Drs. 1/3904, S. 17. 95 BT-Drs. 1/3904, S. 19. 96 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 123. 97 Dies untermauert die Diskussion im Gesetzgebungsverfahren über die Implementierung der Misstrauensparagraphen (§§ 370 ff. RVO a. F.) als Alternative zur Zwangsschlichtung, die als eigenes Mittel der Krankenkassen zur Abwehr ärztlicher Kampfmaßnahmen ausgestaltet werden sollten, vgl. Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik v. 1. 4. 1955, BT-Drs. 2/1313, S. 4, 6; s. a. Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 229 f.; Albrecht, ZfS 1975, 180, 183. 98 Jütte / Gerst, Geschichte der deutschen Ärzteschaft, S. 195, 222. 92

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1. Kap.: Die Entwicklung des Kollektivvertragssystems

nen Grundmodell eines mehrstufigen Kollektivvertragssystems mit starker Eigenverantwortung und -beteiligung der gemeinsamen Selbstverwaltung festgehalten wurde.99 Mit dem Gesundheitsreformgesetz vom 20. 12. 1988100 wurden diese Regelungen der gesetzlichen Krankenversicherung in das fünfte Sozialgesetzbuch überführt.

F. Die letzte Entwicklungsphase: Das Ende einer langen Streikära? Seit der Gründung der gesetzlichen Krankenversicherung 1883 trat mit der normativen Ausgestaltung durch das GKAR erstmals Ruhe in die Beziehung zwischen Krankenkassen und Ärzten ein. Mit der Etablierung der Schiedsinstanzen, die im Falle der Nichteinigung der Parteien eine Zwangsschlichtung vornahmen, sowie der Anordnung der vorübergehenden Fortgeltung bestehender Verträge wurde der Ärzteschaft ihr Druckmittel – der vertragslose Zustand – genommen. Auch wenn sich hiermit ihre „traditionelle Möglichkeit zum Streik“101 erübrigte, hielt dies die Ärzteschaft nicht davon ab, zur Durchsetzung ihrer Interessen „Kampfmaßnahmen“ einzusetzen. So kam es bspw. 1963 zu einer neuen Protestaktion der Saarbrücker Ärzte, die den Kassenarztvertrag aufgrund enttäuschender Honorarzugeständnisse kündigten.102 In den darauffolgenden Jahren ließen sich nur noch vereinzelt streikähnliche Maßnahmen verzeichnen,103 sodass sich ein Ende der dann über 70 Jahre andauernden Auseinandersetzungen zwischen Ärzten und Krankenkassen abzeichnete. Doch gänzlich untätig blieb die Ärzteschaft auch in jüngerer Zeit nicht. Zwar wurde ihren Wünschen nach einem Kollektivvertragssystem und freier Arztwahl entsprochen,104 das vertragsärztliche Vergütungssystem gab hingegen immer wieder Anlass zur Unzufriedenheit und blieb als potentieller Streitpunkt bestehen.105 So belegen sowohl die Regelungen zum Zulassungsverzicht durch das Krankenver 99

Vgl. zu den Änderungen des GKAR Schnapp / Wigge / Schnapp, HB des Vertragsarztrechts, § 1 Rn. 41 ff. und Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 128 ff. 100 BGBl. I 1988, Nr. 62, S. 2477. 101 Hänsle, Streik und Daseinsvorsorge, S. 151. 102 Zacher, ZSR 1966, 129, 133. 103 Als einzige „Streikmaßnahme“ der Kassenärzte wurde eine Protestversammlung im Jahre 1966 verzeichnet, alle weiteren Aktionen gingen vom Marburger Bund aus, s. Uhlenbruck, RdA 1972, 327, 328 f.; Burkardt, Ärztliche Standespflichten und Streikrecht der Kassenärzte und der in Krankenhäusern privatrechtlich angestellten Ärzte, S. 15 f. 104 Dem Wunsch nach einem Kollektivvertragssystem wurde durch den Erlass der Notverordnungen v. 1931/32 entsprochen, s. o. 1. Kap. D. Die freie Arztwahl konnte erst mit dem Kassenarzturteil v. 23. 3. 1960 (1 BvR 216/51) verwirklicht werden, vgl. Rompf, VSSR 2007, 1, 27. 105 Wie die Protestaktionen der Saarbrücker Ärzte belegen, Burkardt, Ärztliche Standespflichten und Streikrecht der Kassenärzte und der in Krankenhäusern privatrechtlich angestellten Ärzte, S. 9 f.

F. Die letzte Entwicklungsphase: Das Ende einer langen Streikära? 

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sicherungs-Kostendämpfungsgesetz (KVKG) vom 27. 6. 1977106 als auch diejeni­gen zum kollektiven Zulassungsverzicht in § 95b SGB V durch das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) vom 21. 12. 1992,107 dass Teile der Ärzteschaft mit der Ausgestaltung der Vergütungs- und Erwerbsbedingungen durch das Vertragsarztrecht unzufrieden waren.108 Mit der im KVKG vorgesehenen dreimonatigen Frist zum Wirksamwerden eines Zulassungsverzichts sollte insbesondere verhindert werden, dass sich Vertragsärzte mit sofortiger Wirkung von ihren Verpflichtungen innerhalb des Vertragsarztsystems lösen können.109 Mit dem Erlass des § 95b SGB V reagierte der Gesetzgeber auf den kollektiven Zulassungsverzicht einiger Zahnärzte im Herbst 1992.110 Zum Schutze des Systems sah er in § 95b Abs. 2 SGB V eine sechsjährige Wiederzulassungssperre und in § 95b Abs. 3 SGB V strikte Vergütungsvorgaben für die ausgeschiedenen Ärzte vor.111 Das präventive Tätigwerden des Gesetzgebers zeigt, dass es der Ärzteschaft gelungen war, mit dem kollektiven Zulassungsverzicht eine Protestmaßnahme ins Leben zu rufen, die an das Druckpotential früherer Protestaktionen erinnert. Dass das Vergütungssystem des Vertragsarztrechts auch in jüngerer Zeit für Unzufriedenheit innerhalb der niedergelassenen Ärzteschaft sorgt, belegt schließlich der zweitägige „Warnstreik“ eines Stuttgarter Arztes im Herbst 2012, der seiner Forderung nach einem ärztlichen Honorarsystem mit „feste[n] Preise[n] ohne irgendeine Form von Mengenbegrenzungen“ Nachdruck verleihen wollte. Mit fünf weiteren Mitstreitern hatte er das allen Berufsgruppen verfassungsrechtlich zustehende Streikrecht ausüben wollen und zu diesem Zwecke seine Praxis geschlossen. Eine Notfallversorgung wurde organisiert. Die zuständige KV erteilte dem Kläger wegen Verletzung seiner vertragsärztlichen Pflichten, insbesondere seiner Präsenzpflicht aus § 24 Abs. 2 Ärzte-ZV, einen disziplinarischen Verweis.112 Die Rechtmäßigkeit des ergangenen Verweises bestätigte das BSG in seinem Grundsatzurteil vom 30. 11. 2016 und nahm seine Entscheidung zum Anlass, aus der gesetz­lichen Konzeption des Vertragsarztrechts ein systemimmanentes Verbot ärztlicher „Kampfmaßnahmen“ herzuleiten.113 Der Gesetzgeber habe das Vertragsarztrecht bewusst so konzipiert, dass ungeachtet der Interessengegensätze zwischen Ärzten und Krankenkassen eine verlässliche Versorgung der Versicherten gewährleistet bleibe. Hierzu tragen nach Ansicht des BSG vier prägende Strukturelemente des Vertragsarztrechts bei: die Trennung der Rechtskreise, die Übertragung des Sicherstellungsauftrages auf die KVen, das Kollektivvertragssys 106

BGBl. I 1977, Nr. 39, S. 1069. BGBl. I 1992, Nr. 59, S. 2266. 108 2003 verzichteten 72 von 180 zugelassenen Kieferorthopäden in Niedersachsen auf ihre vertragszahnärztliche Zulassung, Altendorfer, DÄ 2009, A-1755, A-1756. 109 Ausschussbericht zum KVKG, BT-Drs. 8/338, S. 63; s. a. Ludes, Die Honorierung kassenärztlicher Leistungen als Instrument zur Angebotssteuerung im ambulanten Sektor, S. 57 f. 110 Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Motz, SGB V § 95b Rn. 1. 111 BT-Drs. 12/3608, S. 95; s. a. KassKomm / Carstensen, SGB V § 95b Rn. 2. 112 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 113. 113 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 113, 115 ff., 135. 107

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1. Kap.: Die Entwicklung des Kollektivvertragssystems

tem sowie die jahrzehntelange, durch wiederkehrende Auseinandersetzungen und Interessengegensätze geprägte Entwicklung des Systems. Diese vier wesentlichen Elemente verhinderten aber nicht nur Störungen der Patientenversorgung, sondern förderten auch die Herbeiführung eines Interessenausgleichs zwischen Ärzten und Krankenkassen.114 Nach Ansicht des BSG bedürfen Vertragsärzte daher zur Durchsetzung ihrer legitimen Interessen keiner streikähnlichen Maßnahmen.115

G. Zusammenfassung Aus dem langen und intensiven Entwicklungsprozess der Rechtsbeziehung zwischen Ärzten und Krankenkassen sind die heutigen Grundstrukturen des Vertragsarztrechts hervorgegangen. Auch wenn dieser Prozess nicht friedlich verlief, führte er doch zu einer adäquaten Lösung für alle Beteiligten. Denn in dieser konfliktreichen Zeit konnten die Parteien ihre unterschiedlichen Interessen zur Genüge ausloten und sich letztlich auf Kompromisse einlassen. Hierauf aufbauend hat sich die kooperative Zusammenarbeit von Ärzten und Krankenkassen durch Kollektivverträge und in gemeinsamen Ausschüssen als geeignetes Modell zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung durchgesetzt. Das eigenverantwortliche Zusammenwirken von Ärzten und Krankenkassen in gemeinsamer Selbstverwaltung wird daher auch als „Leitgedanke“ des heutigen Vertragsarztrechts bezeichnet.116 Hierauf stützt das BSG die Herleitung des systemimmanenten Streikverbots für Vertragsärzte. Seiner Begründung zufolge wird ein Interessenausgleich zwischen Ärzten und Krankenkassen ausschließlich über die Kooperationsinstrumente des Systems herbeigeführt und nicht über streikähnliche Mittel erzwungen. Inwiefern sich diese Kooperationsinstrumente als Mittel zur ärztlichen Interessenwahrung eignen, untersucht das dritte Kapitel dieser Arbeit. Zunächst bedarf es im zweiten Kapitel einer Auseinandersetzung mit den Grundlagen und der Systematik des Vertragsarztrechts, um die Ausgangslage der Ärzteschaft aufzuzeigen.

114

BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 113, 120 f. BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 113, 147. 116 BSG Urt. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 125. 115

2. Kapitel

Grundfragen der vertragsärztlichen Tätigkeit Ausgehend vom vertragsarztrechtlichen Vierecksverhältnis soll die rechtliche Stellung des Vertragsarztes im System analysiert werden. Zunächst erfolgt eine Einzelbetrachtung des Vertragsarztes im System (A.). Anschließend kann das von ihm ausgehende Beziehungsgeflecht (B.) näher untersucht werden.

A. Die Rechtsstellung des Vertragsarztes im Gesundheitssystem I. Die Grundstrukturen des Vertragsarztsystems Die rechtlichen Zusammenhänge im Vertragsarztrecht werden maßgeblich durch die Interaktion der vier Hauptakteure bestimmt, wobei der Vertragsarzt als Zentralfigur dieses Systems eine Schlüsselfunktion einnimmt.117 Das zwischen Krankenkassen, den KVen, Vertragsärzten und Versicherten entstandene Beziehungsgeflecht ist auf das Sachleistungsprinzip als „Leistungsmaxime der gesetzlichen Krankenversicherung“118 zurückzuführen.119 Hiernach erhalten alle Versicherten nach der Vorgabe des § 2 Abs. 2 SGB V notwendige Leistungen der Gesundheitsversorgung in natura, ohne sich diese selbst beschaffen und in Vorleistung treten zu müssen.120 Schuldner dieser Leistungsansprüche sind die Krankenkassen, zu denen die Versicherten in einem öffentlich-rechtlichen Versicherungsverhältnis und i. d. R. auch in einem Mitgliedschaftsverhältnis stehen.121 Da die Krankenkassen selbst allerdings nicht über ausreichende sachliche Mittel und medizinisches Personal für die Gewährleistung einer umfassenden Versorgung der Versicherten verfügen, sind sie auf die Mitwirkung externer Leistungserbringer zur Erfüllung ihrer Verschaffungspflicht angewiesen. Ergänzend zum Sachleistungsprinzip findet diese systembedingte Interaktion zwischen Krankenkas-

117 BSG Urt. v. 16. 12. 1993 – 4 RK 5/92, BSGE 73, 271, 282 f.; Schnapp / Wigge / Wigge, HB des Vertragsarztrechts, § 2 Rn. 38. 118 BT-Drs. 11/2237, S. 157. 119 Das Naturalleistungsprinzip als „tragende Säule“ bezeichnend Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 1171; Sodan / Sodan, Krankenversicherungsrecht, § 13 Rn. 1, 4. 120 JurisPK-SGB V / Plagemann, § 2 Rn. 61. 121 NK-GesundhR / Berchtold, SGB V § 2 Rn. 10; Sodan / Zimmermann, Krankenversicherungsrecht, § 7 Rn. 1.

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2. Kap.: Grundfragen der vertragsärztlichen Tätigkeit

sen und Leistungserbringern ihren Ausdruck im Prinzip der Leistungserbringung durch Dritte in § 2 Abs. 2 S. 3 SGB V.122 Krankenkassen schließen zum Zwecke der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung Verträge mit den Leistungserbringern ab. Historisch bedingt treten die Leistungserbringer den Krankenkassen hierbei nicht mehr als Einzelakteure, sondern als Kollektiv organisiert – in der Verbandsstruktur der KVen – gegenüber.123 Dementsprechend werden keine Individual-, sondern Kollektivverträge zwischen den KVen oder der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und den Bundes-/Landesverbänden der Krankenkassen geschlossen. Über die Bundesmantel- und Gesamtverträge treffen die Kollektivvertragspartner inhaltliche Vorgaben für die vertragsärztliche Versorgung gem. §§ 82 Abs. 1, 83 Abs. 1 SGB V.124 Neben der gemeinsamen Verantwortung nach § 72 Abs. 1 S. 1 SGB V zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung weist § 75 Abs. 1 S. 1 SGB V den KVen und der KBV zusätzlich die alleinige Sicherstellungsverantwortung zu. Mit dieser Übertragung des Sicherstellungsauftrages auf die KVen wird letztlich ein rechtlicher Ausgleich für das Abhängigkeitsverhältnis der Krankenkassen zu den KVen geschaffen. Denn zur Erfüllung ihrer Naturalleistungsverpflichtung sind die Krankenkassen auf die KVen – als ihre einzig in Betracht kommenden Vertragspartner – angewiesen. Die Krankenkassen erhalten hiermit eine Garantie dafür, dass die den Versicherten geschuldeten Sachleistungen erbracht werden.125 Daher wird der Sicherstellungsauftrag der KVen auch als „zwangsläufige Folge“126 oder „als unabdingbares Spiegelbild“127 des Sachleistungsprinzips charakterisiert.128 Darüber hinaus haben die KVen nach § 75 Abs. 1 S. 1 SGB V auch die Gewährleistung dafür zu übernehmen, dass die Versorgung den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entspricht. Diese weitere Verpflichtung ist ebenfalls darauf zurückzuführen, dass zwischen Krankenkassen und Ärzten grundsätzlich keine unmittelbaren Rechtsbeziehungen bestehen und nur die KVen gem. § 75 Abs. 2 S. 2 SGB V rechtlich dazu befugt sind, ihre Mitglieder zur Erfüllung des Sicherstellungsauftrages anzuhalten.129 Jeder Vertragsarzt wird mit Wirksamwerden der Zulassungsentscheidung Zwangsmitglied in der nach dem Vertragsarztsitz regional zuständigen KV. Infolgedessen ist er gem. § 95 Abs. 3 SGB V nicht nur zur ver 122

Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 19 Rn. 6. S. hierzu 1. Kap. D.; s. nur Käsbauer, Die Neuordnung der Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen durch das Berliner Abkommen vom 23. 12. 1913, S. 41 ff., S. 131 ff. 124 Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 21 Rn. 2. 125 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 315, 319, 326; NK-GesundhR / Schuler-Harms  / ​ Isbarn, SGB V § 75 Rn. 22; vgl. zu den Möglichkeiten des Selektivvertragsabschlussen unter 2.  Kap. B. III. 126 BSG Urt. v. 7. 8. 1991 – 1 RR 7/88, BSGE 69, 170, 175. 127 Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 19 Rn. 5. 128 Vgl. Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Bäune, SGB V § 75 Rn. 4. 129 BSG Urt. v. 10. 5. 1995 – 6 RKa 18/94, NZS 1996, 133. 123

A. Die Rechtsstellung des Vertragsarztes im Gesundheitssystem 

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tragsärztlichen Versorgung berechtigt, sondern auch verpflichtet – d. h. er hat an der Erfüllung des Sicherstellungsauftrages mitzuwirken.130 Im Gegenzug steht dem Vertragsarzt ein Anspruch auf gerechte Teilhabe an der von den Krankenkassen ausbezahlten Gesamtvergütung zu, die die KVen gem. § 87b Abs. 1 S. 1 SGB V auf ihre Mitglieder verteilen.131

II. Die Definition des Vertragsarztes Die ursprüngliche Bezeichnung der Leistungserbringer als „Kassenärzte“ geht auf eine Zeit zurück, in der die Versorgung der Versicherten noch durch Einzelverträge zwischen den Krankenkassen und Ärzten organsiert wurde.132 Der Begriff des „Kassenarztes“ wurde mit dem Gesundheitsstrukturgesetz zum 1. 1. 1993 durch den Begriff des „Vertragsarztes“, der zuvor nur für die Versorgung der Versicherten der Ersatzkassen verwendet wurde, abgelöst.133 Wer Vertragsarzt ist, lässt sich nur vor dem Hintergrund des Vertragsarztrechts definieren. Als Teilbereich des Leistungserbringerrechts regelt das Vertrags­ arztrecht in den §§ 72 ff. SGB V die Rechtbeziehungen der Krankenkassen zu den Ärzten und Zahnärzten als Haupt-Leistungserbringer der ambulanten Versorgung.134 In inhaltlicher Hinsicht werden Voraussetzungen für die eigenständige Ausgestaltung und Organisation der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung durch die Kollektivvertragspartner geschaffen. Zum Vertragsarztrecht zählen daher neben den gesetzlichen Vorgaben des SGB V insbesondere die auf dieser Grundlage geschlossenen Kollektivverträge sowie die weiteren untergesetzlichen Vorgaben der gemeinsamen Selbstverwaltung wie bspw. die Honorarverteilungsmaßstäbe der KVen oder die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA).135 Der Arzt, der innerhalb dieses Normengerüsts seine ärztlichen Leistungen anbietet und entsprechend vergüten lassen möchte, bedarf zunächst der Zulassung als statusbegründenden Akt. Mit Erhalt eines positiven Zulassungsbescheides ist er gem. § 95 Abs. 3 SGB V zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung 130

Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 19 Rn. 17 f., 39; NK-MedR / Steinmeyer, SGB V § 95 Rn. 13. 131 Schnapp / Wigge / Wigge, HB des Vertragsarztrechts, § 2 Rn. 40; jurisPK-SGB V / Freudenberg, § 87b Rn. 31. 132 Schieckel, Kuhns I, S. 546, 547. 133 Zuvor wurde die Versorgung der Versicherten durch die Primärkassen als „Kassenarztrecht“ und diejenigen der Ersatzkassen als „Vertragsarztrecht“ bezeichnet. Das GSG beseitigte die Sonderstellung der Ersatzkassen und legte einheitlich die Bezeichnung „Vertragsarztrecht“ fest, Schnapp / Wigge / Wigge, HB des Vertragsarztrechts, § 2 Rn. 6. 134 HS-KV / Funk, § 32 Rn. 3, 6; Schnapp / Wigge / Propp, HB des Vertragsarztrechts, § 12 Rn. 2. 135 Quaas / Zuck / Clemens / Clemens, Medizinrecht, § 18 Rn. 30.

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2. Kap.: Grundfragen der vertragsärztlichen Tätigkeit

berechtigt und zugleich verpflichtet, gesetzlich Krankenversicherte nach Maßgabe der Bedingungen der GKV zu Lasten der Krankenversicherung zu behandeln.136 Ohne eine Zulassung zum System kann der Arzt zwar ebenfalls seinen Patienten, egal ob gesetzlich oder privat krankenversichert, Leistungen anbieten, geht hierbei aber das Risiko ein, bei fehlender Zahlungsbereitschaft oder Liquidität der Versicherten kein entsprechendes Honorar zu erhalten.137 Wesentliches Kennzeichen der vertragsärztlichen Tätigkeit ist somit die strikte Unterwerfung unter das Vergütungs- und Abrechnungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung. Vertragsärzte sind folglich alle zum öffentlichen Gesundheitssystem zugelassenen Ärzte, die ihre Leistungen über dieses System anbieten, erbringen und abrechnen dürfen bzw. müssen.138 Diese Einbeziehung in das öffentlich-rechtliche Normengerüst des Vertragsarztrechts, die den zugelassenen Vertragsarzt von den nicht zugelassenen, frei praktizierenden Ärzten unterscheidet, führte schon früh zu der Überlegung, den Kassenarzt als eigenständigen Beruf i. S. d. Art. 12 Abs. 1 GG zu qualifizieren. Das BVerfG sah dies in seiner Entscheidung vom 23. 3. 1960 anders und stellte fest, dass die Tätigkeit des Kassenarztes „im Ganzen die gleiche wie die des nicht zu den Kassen zugelassenen Arztes“139 sei und sich hinsichtlich ihrer rechtlichen Ausgestaltung sowie der Aufgabenstellung keine gravierenden Unterschiede feststellen ließen. Insbesondere sei der Patientenkreis des zugelassenen und des nicht zugelassenen Arztes, zwar nicht faktisch, aber rechtlich gesehen derselbe.140 Daraus folgt, dass die vertragsärztliche Tätigkeit kein eigenständiger Beruf, sondern lediglich „die Erfüllung eines […] durch die Zulassung erteilten beruflichen Auftrages im Rahmen [der] freiberuflichen ärztlichen Tätigkeit“.141

III. Die Einordnung des Vertragsarztes als freier Beruf Die Tätigkeit aller Ärzte wird gem. § 1 Abs. 2 Bundesärzteordnung (BÄO)142 als freier Beruf eingeordnet. Hier heißt es: „Der ärztliche Beruf ist kein Gewerbe; er ist seiner Natur nach ein freier Beruf.“ Die ärztliche Tätigkeit gilt als „substantielle Mitte“ der freien Berufe, da sie eine Vielzahl der hierfür typischen Merkmale er-

136

Schnapp / Wigge / Wigge, HB des Vertragsarztrechts, § 2 Rn. 2. BVerfG Urt. v. 23. 3. 1960 – 1 BvR 216/51, BVerfGE 11, 30, 41; ausf. Schnapp / Wigge / ​ Wigge, HB des Vertragsarztrechts, § 2 Rn. 4. 138 Vgl. § 1a Zif. 4 BMV-Ä; Schnapp / Wigge / Rompf, HB des Vertragsarztrechts, § 3 Rn. 1. 139 BVerfG Urt. v. 23. 3. 1960 – 1 BvR 216/51, BVerfGE 11, 30, 41. 140 St. Rspr. seit BVerfG Urt. v. 23. 3. 1960 – 1 BvR 216/51, BVerfGE 11, 30, 41; bestätigt durch BVerfG Beschl. 20. 3. 2001 – 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172, 192 und BGH Beschl. v. 29. 3. 2012 – GSSt 2/11, BGHSt 57, 202 ff. 141 So ausdrücklich Schieckel, Kuhns I, S. 546, 547; vgl. ferner BVerfG Urt. v. 23. 3. 1960 – 1  BvR 216/51, BVerfGE 11, 30, 41. 142 Bundesärzteordnung i. d. F. v. 16. 4. 1987, BGBl. I, S. 1218. 137

A. Die Rechtsstellung des Vertragsarztes im Gesundheitssystem 

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füllt.143 Der Begriff des freien Berufs wird als Typus-Begriff verstanden, weshalb für die Begriffsbestimmung das Vorliegen einer variablen Anzahl der für den Typus prägenden Merkmale ausreicht144 – entscheidend ist das gesamte Erscheinungsbild der Tätigkeit.145 Als Merkmale der freiberuflichen Tätigkeit haben sich u. a. die persönliche Leistungserbringung, die Erbringung einer ideellen Leistung, eigenverantwortliches Handeln, das Tragen des wirtschaftlichen Risikos, eine qualifizierte Ausbildung sowie eine altruistische Berufsauffassung herauskristallisiert.146 Besonders ausgeprägt sind bei der vertragsärztlichen Tätigkeit das Merkmal der persönlichen Leistungserbringung, welches ausdrücklich in § 32 Abs. 1 S. 1 ÄrzteZV („persönlich in freier Praxis“) erwähnt wird und sich bspw. durch die Personengebundenheit der Zulassung (§ 95 Abs. 7 SGB V) zeigt.147 Die wirtschaftliche Selbstständigkeit, wie u. a. in § 32 Abs. 1 S. 1 Ärzte-ZV normiert („persönlich in freier Praxis“), ist ebenfalls typisch für den Vertragsarzt.148 Auch wenn hiergegen zwar eingewendet wird, dass dem Vertragsarzt bei ordnungsgemäßer Abrechnung immer ein Anteil an der Gesamtvergütung sicher sei und er keine Beitreibungsprobleme zu befürchten habe,149 ändert dies nichts an der Risikotragung. Denn die Sorge um die wirtschaftliche Existenz seiner Praxis und den Aufbau eines profitablen Patientenstamms hat der Vertragsarzt allein zu tragen.150 Neben diesen Kriterien erfüllt die vertragsärztliche Tätigkeit weitere typische Merkmale wie bspw. das Erfordernis einer qualifizierten Ausbildung, das Vorliegen eines besonderen Vertrauensverhältnisses wie jenes zu den Patienten oder eine altruistische Berufsauffassung, die vor allem durch das regulierte Vergütungssystem zum Ausdruck kommt.151 Das gesamte Erscheinungsbild des Vertragsarztes wird also überwiegend durch typische Merkmale des freien Berufs geprägt, weshalb sowohl 143 Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 66; Boecken, FS Maurer, S. 1091, 1094, 1106. 144 Ausf. zum Typusbegriff Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 63 ff.; s. a. Boecken, FS Maurer, S. 1091, 1094. 145 Strache, Das Denken in Standards, S. 33, 53. 146 Vgl. weitere Kriterien bei Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 67 ff. 161 f. 147 Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 67 ff., 161 f. 148 Boecken, FS Maurer, S. 1091, 1095; als „mittelständischen Unternehmer“ bezeichnend Pitschas, FS 40 Jahre Sozialgerichtsbarkeit in Rheinland-Pfalz, S. 217, 222; Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 83 ff., 163 f.; Quaas, MedR 2001, 34, 36; s. a. BVerfG Beschl. v. 23. 7. 1963 – 1 BvL 1/61, BVerfGE 16, 286, 298. 149 Hummes, Die rechtliche Sonderstellung der freien Berufe im Vergleich zum Gewerbe, S. 12 f.; v. Maydell / Pietzcker, Begrenzung der Kassenarztzulassung, S. 20, 38. 150 So BVerfG Urt. v. 23. 3. 1960 – 1 BvR 216/51, BVerfGE 11, 30, 39 f.; s. a. Boecken, FS Maurer, S. 1091, 1103 f. 151 Sodan / Sodan, Krankenversicherungsrecht, § 13 Rn. 27 f.; Schnapp / Wigge / Wigge, HB des Vertragsarztrechts, § 2 Rn. 9; zum ärztlichen Honorarsystem s. 3. Kap. B. I. 3. c).

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2. Kap.: Grundfragen der vertragsärztlichen Tätigkeit

die höchstrichterliche Rechtsprechung152 als auch die Literatur153 die Tätigkeit als freiberuflich charakterisieren. Den Ansätzen, den Vertragsarzt aufgrund seiner strikten Einbindung in das „starre Korsett des SGB V“154 als „Kassenbeamten“155 oder Beliehenen156 einzuordnen, ist daher eine Absage zu erteilen. Der Vertragsarzt steht weder zu seiner KV noch zu den Krankenkassen in einem öffentlichen Dienstverhältnis, welches für die Begründung eines Beamtenverhältnisses konstitutiv ist. Die rechtliche Beziehung des Vertragsarztes zu seiner KV wird durch das Mitgliedschaftsverhältnis bestimmt, welches dem Vertragsarzt den Status eines freiberuflichen Mitglieds im Bezirk seiner KV und nicht den eines Dienstnehmers verleiht, vgl. §§ 77 Abs. 3 S. 1, 95 Abs. 3 S. 1 SGB V.157 Das fehlende Dienstverhältnis zu den Krankenkassen lässt sich insbesondere durch die Abwesenheit eines Zahlungsflusses begründen. Die Krankenkassen entrichten hingegen die Gesamtvergütung gem. § 85 Abs. 1 SGB V für die gesamte vertragsärztliche Versorgung mit befreiender Wirkung ausschließlich an die KVen.158 Für eine Beleihung fehlt es bereits an einer Übertragung hoheitlicher Befugnisse.159 Es kann hierbei nur das ausschließlich dem Staat Vorbehaltene übertragen werden. Der Gesetzgeber hat die Versorgung der Versichertengemeinschaft aber nicht den Institutionen der mittelbaren Staatsverwaltung vorbehalten, da diese gem. §§ 105 Abs. 1 S. 2, 140 Abs. 2, 76 Abs. 1 S. 1 SGB V nur in Ausnahmefällen zur Erbringung von Eigenleistungen befugt sind. Die Erbringung ärztlicher Leis-

152

Erstmals hierzu BVerfG Urt. v. 23. 3. 1960 – 1 BvR 216/51, BVerfGE 11, 30, 41; bestätigend BVerfG Beschl. v. 9. 3. 2000 – 1 BvR 1662/97, NJW 2000, 3057; BVerfG Beschl. 20. 3. 2001 – 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172, 192; ebenso BSG Urt. v. 23. 6. 2000 – B 6 KA 7/09 R, BSGE 106, 222, 228 ff.; BGH Beschl. v. 29. 3. 2012 – GSSt 2/11, BGHSt 57, 202, 211 f. 153 Boecken, FS Maurer, S.  1091, 1106; Quaas / Zuck / Clemens / Clemens, Medizinrecht, § 18 Rn. 43 mit Hinweis auf die a. A. in der Vorauflage; Isensee, VSSR 1995, 321, 334; Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 819; Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 164, 195; Schnapp / Wigge / Wigge, HB des Vertragsarztrechts, § 2 Rn.  9; Quaas / Zuck / Clemens / Quaas, Medizinrecht, § 13 Rn. 11; a.A Pitschas, JbSozRGegenwart 1995, 267, 270. 154 Köhler, FS Wille, S. 959, 962. 155 So explizit Pitschas, FS 40 Jahre Sozialgerichtsbarkeit in Rheinland-Pfalz, 217, 225; Quaas, MedR 2001, 34, 37; als „Dreiviertelbeamten“ bezeichnend Bogs, FS Thieme, S. 715, 717 ff. 156 So Ebsen, ZfS 1992, 328, 332; v. Maydell / Pietzcker, Begrenzung der Kassenarzt­ zulassung, S. 30 f. 157 BVerfG Urt. v. 23. 3. 1960 – 1 BvR 216/51, BVerfGE 11, 30, 39 f.; Hess, VSSR 1994, 395, 397; Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 100. 158 BVerfG Urt. v. 23. 3. 1960 – 1 BvR 216/51, BVerfGE 11, 30, 39, 39 f.; Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 99. 159 Sodan / Sodan, Krankenversicherungsrecht, § 13 Rn. 15 ff.; zum Begriff der Beleihung vgl. Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 106 ff., 109 ff.; s. a. Steiner, Öffentliche Verwaltung durch Private 1975, S. 17 ff., S. 67.

B. Der Vertragsarzt als Hauptleistungserbringer im System der GKV 

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tungen erfolgt primär durch die Vertragsärzte. Dieses Ergebnis wird auch durch die Aussage des § 72 Abs. 1 SGB V unterstrichen, wonach die Sicherstellung der Versorgung durch das gemeinsame Zusammenwirken der Akteure des Vertragsarztrechts und nicht durch einzelne staatliche Akteure zu realisieren ist.160 Aus der Einordnung des Vertragsarztes als freier Beruf resultiert allerdings kein erhöhter Anspruch auf Freiheit vor gesetzgeberischen Eingriffen.161 Die Bezeichnung als „freier Beruf“ ist in erster Linie ein soziologischer Begriff, „aus dem sich keine normativen Wirkungen in Richtung eines gesteigerten Grundrechtsschutzes ableiten lassen“.162 Alle vorgesehenen gesetzgeberischen Ausgestaltungen der vertragsärztlichen Tätigkeit müssen daher am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG beurteilt werden.163

B. Der Vertragsarzt als Hauptleistungserbringer im System der GKV Zur Erfüllung ihrer durch das Sachleistungsprinzip begründeten Verschaffungspflicht sind die Krankenkassen gem. § 2 Abs. 2 S. 3 SGB V dazu verpflichtet, mit den Leistungserbringern über die Erbringung der Sach- und Dienstleistungen Verträge zu schließen. Die Vertragsärzte bilden die größte Gruppe der Leistungserbringer im System.164 Ihre Mitwirkung im System wird maßgeblich durch drei Rechtsbeziehungen innerhalb des Leistungserbringervierecks bestimmt. Ausgangspunkt ist das Mitgliedschaftsverhältnis zu der KV (I.). Mittelbar wird seine Rechtsstellung durch die kollektivvertraglichen Rechtsbeziehungen zwischen den Krankenkassen und den KVen sowie deren Zusammenarbeit in den Ausschüssen der gemeinsamen Selbstverwaltung bestimmt (II.). Schließlich können die Vertragsärzte über Selektivverträge eigenständige Rechtsbeziehungen zu den Krankenkassen eingehen (III.).

160 Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 135 f., ausf. S. 102 ff.; Isensee, VSSR 1995, 321, 333 f. 161 Neumann, Markt und Regulierung, S. 163, 164. 162 BSG Urt. v. 23. 6. 2010  – B 6 KA 7/09 R, BSGE 106, 222, 228; BVerfG Beschl. v. 25. 2. 1960 – 1 BvR 239/52, BVerfGE 10, 354, 364. 163 Hess, VSSR 1994, 395, 401; Isensee, VSSR 1995, 321, 333 f.; a. A. Bogs, FS Thieme, S. 715, 719, der den Schutz der Freiheitsgewährleistung aus Art. 12 GG in Anbetracht der Organisationszusammenhänge im Kassenarztrecht als stark herabgesetzt sieht. 164 Bevorzugt und am häufigsten vertreten ist immer noch eine Tätigkeit in einer eigenen Niederlassung, wobei sich in den letzten Jahren immer mehr flexiblere Niederlassungs- und Arbeitsmodelle durchgesetzt haben, Gesundheitsdaten KBV unter: http://gesundheitsdaten. kbv.de/cms/html/17020.php (zuletzt abgerufen am 17. 12. 2019); Schnapp / Wigge / Wigge, HB des Vertragsarztrechts, § 2 Rn. 1.

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2. Kap.: Grundfragen der vertragsärztlichen Tätigkeit

I. Der Vertragsarzt als Mitglied der Kassenärztlichen Vereinigung Fast allen ärztlichen Ausübungsformen im Versorgungssystem ist eine Mitgliedschaft in der jeweils zuständigen KV gemein.165 Neben den zugelassenen Ärzten sind mittlerweile auch angestellte Ärzte ab einer wöchentlichen Arbeitszeit von mindestens zehn Stunden pro Woche Mitglied in der KV, vgl. § 77 Abs. 3 S. 2 SGB V. Die frühere Voraussetzung einer halbtägigen Beschäftigung, die mit einer 20-stündigen Arbeitszeit pro Woche gleichzusetzen sein sollte, wurde deutlich herabgesenkt, um der wachsenden Anzahl an angestellten Ärzten in der vertragsärztlichen Versorgung Rechnung zu tragen.166 Zum Kreis der Mitglieder zählen nach § 77 Abs. 3 SGB V auch ermächtigte Krankenhausärzte. Die Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung kann ausschließlich über eine Mitgliedschaft in der KV realisiert werden, weshalb es sich um eine Pflichtmitgliedschaft handelt.167 Die KV fungiert als „Zugangstür“ zum System und nimmt in der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung eine zentrale Rolle ein. Daher soll zunächst ein Überblick über die Aufgaben und Funktion der KV erfol­ gen, um das hierauf aufbauende Mitgliedschaftsverhältnis der Vertragsärzte untersuchen zu können. 1. Aufgaben und Funktion der Kassenärztlichen Vereinigung Die KVen nehmen die Rechte ihre Mitglieder wahr und erfüllen damit, vergleichbar mit ihrem Vorläufer dem Leipziger Verband, eine gewerkschaftsähnliche Funktion.168 Der damals am 13. 9. 1900 gegründete Verband realisierte erstmals eine flächendeckende Organisation der Ärzteschaft und ermöglichte ein geschlossenes Einstehen für die ärztlichen Interessen gegenüber den Krankenkassen.169 Die Interessenvertretung zählt auch heute zu einer der zentralen Aufgaben der KVen, die in § 75 Abs. 2 SGB V als Rechtswahrnehmungsauftrag kodifiziert ist.170 Zuvorderst ist in § 75 Abs. 1 SGB V jedoch der Sicherstellungsauftrag festgeschrieben. Gemeinsam mit der Gewährleistungspflicht aus § 75 Abs. 1 S. 1 SGB V und der Disziplinarbefugnis aus § 75 Abs. 2 S. 2 SGB V bilden sie die hoheitliche Funktion der KVen.171 Der Rechtswahrnehmungsauftrag und die Interessenvertretungsfunk-

165

Vgl. jurisPK-SGB  V / Steinmann-Munzinger, § 77 Rn. 22. BT-Drs. 18/10605, S.  24 f.; Schnapp / Wigge / Schiller, HB des Vertragsarztrechts, § 5 A. Rn. 63 ff. 167 Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Rompf, SGB V § 77 Rn. 8. 168 Schnapp / Wigge / Schiller, HB des Vertragsarztrechts, § 5 A. Rn. 179, 191. 169 S. o. 1. Kap. A. 170 Quaas / Zuck / Clemens / Clemens, Medizinrecht, § 19 Rn. 18. 171 Preis, MedR 2010, 139, 142. 166

B. Der Vertragsarzt als Hauptleistungserbringer im System der GKV 

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tion stehen hierzu im deutlichen Kontrast. Aufgrund dieser Doppelfunktion werden die KVen auch häufig als „janusköpfig“ charakterisiert.172 a) Die hoheitliche Funktion aa) Der allgemeine und besondere Sicherstellungsauftrag Der Sicherstellungsauftrag findet in doppelter Ausführung im Vertragsarztrecht Erwähnung. § 72 Abs. 1 SGB V weist Ärzten und Krankenkassen die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung als gemeinsame Aufgabe zu. Der allgemeine Sicherstellungsauftrag wird damit als kooperative Aufgabe von Ärzten und Krankenkassen verstanden.173 Zusätzlich wird den KVen und der KBV in § 75 Abs. 1 SGB V die alleinige Verantwortung übertragen, die vertragsärztliche Versorgung in dem in § 73 Abs. 2 SGB V bezeichneten Umfang sicherzustellen. Allgemeiner und besonderer Sicherstellungsauftrag sind Teil eines komplexen Zusammenspiels und ergänzen sich gegenseitig. Zum einen werden die KVen aus eigenem Recht, aber doch als Verbände der Vertragsärzte zur Sicherstellung der Versorgung verpflichtet.174 Zum anderen nimmt § 72 Abs. 1 SGB V explizit die „Ärzte“ in die Pflicht, wobei § 72 Abs. 2 SGB V vorsieht, dass die vertragsärztliche Versorgung primär zwischen den KVen und den Krankenkassen durch schriftliche Verträge zu organisieren ist. Hiermit entfaltet der allgemeine Sicherstellungsauftrag folglich auch für die Vertragsärzte eine verbindliche Wirkung. Ungeachtet dessen sind die Vertragsärzte ohnehin aufgrund ihrer Zwangsmitgliedschaft in der KV gem. § 95 Abs. 3 S. 1 Hs. 1 SGB V zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung verpflichtet und damit in den Sicherstellungsauftrag der KVen eingebunden.175 Vor diesem Hintergrund erklärt sich die exklusive Verantwortungszuweisung an die KVen. Da die ambulante vertragsärztliche Versorgung der Versicherten nach der Konzeption des Vertragsarztrechts nur unter Zuhilfenahme der zwangsorganisierten Vertragsärzte gewährleistet werden kann, bedarf es der expliziten Verpflichtung der KVen und der KBV zur Erfüllung des Sicherstellungsauftrages.176 Der besondere Sicherstellungsauftrag wird daher als Ergänzung zu der in § 72 Abs. 1 SGB V normierten gemeinsamen Sicherstellungsaufgabe der Kranken­ 172

So bspw. SG München Beschl. v. 3. 8. 1998 – S 42 KA 5175/98 ER, juris Rz. 51; Preis, MedR 2010, 139, 142 jurisPK-SGB V / Hesral, § 75 Rn. 185 und Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, S. 232, gehen von einer vermeintlichen Janusköpfigkeit aus. 173 So Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, S. 223. 174 Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, S. 220. 175 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 295; Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, S. 225 f. 176 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 125; Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 19 Rn. 9.

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2. Kap.: Grundfragen der vertragsärztlichen Tätigkeit

kassen und Ärzte eingestuft.177 Dieses sich ergänzende Konzept hat eine abgestufte Verantwortungsteilung zwischen den Krankenkassen und den Leistungserbringern zur Folge. So besteht auf einer ersten Ebene die Sicherstellungsverpflichtung der gemeinsamen Selbstverwaltung und auf einer zweiten Ebene die alleinige Sicherstellungsverpflichtung der KVen und der KBV, die auch als „Sicherstellungsmonopol“178 bezeichnet wird.179 bb) Der Gewährleistungsauftrag und die Disziplinarbefugnis Abgerundet wird die gesetzlich vorgesehene Verflechtung zwischen KVen und Krankenkassen durch den Gewährleistungsauftrag der KVen, der als (sekundäres) Gegenstück zur (primären) Sicherstellungsverpflichtung ausgestaltet ist.180 Nach § 75 Abs. 1 S. 1 SGB V übernehmen die KVen gegenüber den Krankenkassen eine Einstands- und Garantiepflicht dafür, dass eine den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entsprechende vertragsärztliche Versorgung durch ihre Mitglieder sichergestellt wird.181 Der Gewährleistungsauftrag sichert folglich die Funktionsfähigkeit des besonderen Sicherstellungsauftrages ab.182 Gleichzeitig wird durch die verpflichtende Gewährleistungsübernahme der KVen die fehlende Möglichkeit der Krankenkassen, von den Leistungserbringer die Einhaltung der gesetzlichen und vertraglichen Vorgaben einzufordern, ausgeglichen.183 Im Rahmen ihres Gewährleistungsauftrages haben die KVen gem. § 75 Abs. 2 S. 2 SGB V die ordnungsgemäße Erfüllung der den Vertragsärzten obliegenden Pflichten zu überwachen und ggf. durchzusetzen.184 Die hiermit eingeräumte Disziplinarbefugnis wird gem. § 81 Abs. 5 SGB V in den jeweiligen Satzungen der KVen näher konkretisiert.185

177

Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 19 Rn. 9; s. a. BSG Urt. v. 31. 7. 1991 – 6 RKa 20/90, BSGE 69, 154, 157. 178 Wigge / Harney, MedR 2008, 129, 142; Quaas / Zuck / Clemens / Clemens, Medizinrecht, § 19 Rn. 56. 179 Vgl. Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, S. 224 f. 180 So Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, S. 228. 181 JurisPK-SGB  V / Hesral, § 75 Rn. 38; Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 20 Rn. 47. 182 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 327. 183 Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 19 Rn. 47; Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 326 f.; NK-GesundhR / Schuler-Harms / Isbarn, SGB V § 75 SGB V Rn. 39. 184 Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Bäune, SGB V § 75 Rn. 31. 185 Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 19 Rn. 51; zur Disziplinargewalt s. 2. Kap. ​ B. I. 1. a) bb).

B. Der Vertragsarzt als Hauptleistungserbringer im System der GKV 

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b) Die gewerkschaftsähnliche Funktion Motivation für den Zusammenschluss der Ärzte in den KVen, ursprünglich als privatrechtliche Verbände organisiert,186 war der Wunsch nach einer Bündelung der ärztlichen Interessen für ein geschlossenes Auftreten gegenüber den Krankenkassen.187 Daher nehmen die KVen als historisch gewachsene zweite Aufgabe gem. § 75 Abs. 2 SGB V die Rechte ihrer Mitglieder gegenüber den Krankenkassen wahr. Der im Gesetz genannte Rechtswahrnehmungsauftrag schließt die Wahr­nehmung der wirtschaftlichen Interessen der Ärzteschaft mit ein, weshalb sowohl von der Rechts- als auch der Interessenwahrnehmung durch die KVen die Rede ist.188 § 75 Abs. 2 SGB V nennt als Partei eines möglichen Interessenkonflikts nur die Krankenkasse. Allerdings steht der KV die Befugnis zur Interessenvertretung „gegenüber [allen] rechtlich verselbständigten Gremien der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen zu, denen, wie den Zulassungs- oder den Prüfungseinrichtungen, Entscheidungsbefugnisse im Zusammenhang mit der Aufnahme und der Ausübung der vertragsärztlichen Tätigkeit übertragen sind.“189 Eine Interessenvertretung findet auch gegenüber den Aufsichtsbehörden, im Gesetzgebungsverfahren oder gegenüber der Öffentlichkeit statt.190 Der Rechtswahrnehmungsauftrag ist auf das Kollektiv beschränkt, sodass Interessen einzelner Vertragsärzte oder abgrenzbarer Fachgruppen unberücksichtigt bleiben.191 Abgesehen von einem allgemeinpolitischen Mandat, das öffentlichrechtlichen Körperschaften grundsätzlich nicht zusteht,192 verfügt die KV über einen inhaltlich sehr weiten Auftrag zur Interessenwahrnehmung, der sich auf mehreren Ebenen vollzieht.193 Sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene nehmen die KVen die Rechte ihrer Mitglieder in den Vertragsverhandlungen mit den Krankenkassen sowie durch die Mitarbeit in den paritätisch besetzten Gremien der gemeinsamen Selbstverwaltung wahr.194 Hierbei müssen sie stets auf einen größtmöglichen Nutzen für ihre Mitglieder bedacht sein.195 So tragen sie bspw. bei den 186

Vgl. hierzu 1. Kap. D; s. nur Schirmer, MedR 1996, 404, 407 f. JurisPK-SGB  V / Hesral, § 75 Rn. 186. 188 Krauskopf / Sproll SGB  V § 75 Rn.  5; Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Bäune, SGB V § 75 Rn. 33. 189 BSG Beschl. 2. 10. 1996 – 6 BKa 54/95, SozR 3–2500 § 75 Nr 8 S. 34. 190 Schnapp / Wigge / Schiller, HB des Vertragsarztrechts, § 5 A. Rn. 181 f.; vgl. die Aufzählung bei Steinhilper / Schiller, MedR 2003, 661, 662; zur Öffentlichkeitsarbeit der KVen s. ausf. 4.  Kap. B. III. 191 Laufs / Kern / Rehborn / Steinhilper, HB des Arztrechts, § 32 Rn. 47. 192 Zum politischen Mandat öffentlich-rechtlicher Zwangsvereinigungen BGH Beschl. v. 13. 5. 1985 – AnwZ (B) 49/84, NJW 1986, 992. 193 LSG BW Urt. v. 21. 8. 1995 – L 5 KA 21/97/95, MedR 1995, 505; Schnapp / Wigge / Schiller, HB des Vertragsarztrechts, § 5 A. Rn. 181. 194 Ausf. hierzu 3. Kap. B. I., II., III. 195 So explizit jurisPK-SGB V / Hesral, § 75 Rn. 186. 187

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2. Kap.: Grundfragen der vertragsärztlichen Tätigkeit

jährlich stattfindenden Vergütungsverhandlungen nach §§ 87 ff. SGB V, bei denen insbesondere wirtschaftliche Belange der Vertragsärzte eine Rolle spielen, die Verantwortung für eine angemessene Berücksichtigung der ärztlichen Interessen.196 c) Zwischenergebnis Die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung in dem in § 73 Abs. 2 SGB V bezeichneten Umfang und die hiermit korrespondierenden Aufträge zur Gewährleistung, Überwachung sowie zur Interessen- und Rechtswahrnehmung bilden den Kernbereich des Aufgabenspektrums der KVen. Die KVen nehmen hiermit eine Doppelfunktion wahr: Einerseits tragen sie die Sicherstellungsverantwortung für die vertragsärztliche Versorgung und andererseits nehmen sie als genossenschaftlicher Zusammenschluss der Vertragsärzte deren Rechte und Interessen wahr. Zwischen beiden Aufträgen besteht ein gewisses Spannungsverhältnis, welches in einen möglichst angemessenen Ausgleich gebracht werden sollte.197 Dies gelingt nicht immer, weshalb sich viele Ärzte teilweise nicht „richtig“ von ihrer KV vertreten fühlen und ihre Rechte durch die zunehmenden Zugeständnisse an die Krankenkassen vernachlässigt sehen.198 Gleichwohl ist der Rechtswahrnehmungsauftrag der KVen notwendig, um die damals erfolgte Kappung einer eigenständigen Interessenwahrnehmung und Verhandlungsbefugnis der Vertragsärzte gegenüber der Krankenkasse zu substituieren.199 2. Die Rechtsbeziehung des Vertragsarztes zu seiner KV Vertragsärzte wirken gem. § 72 Abs. 1 SGB V an der Erfüllung des Sicherstel­ lungsauftrages mit. Voraussetzung hierfür ist die Zulassung des Arztes i. S. e. öffentlich-rechtlichen Berechtigung zur Teilnahme am Versorgungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung.200

196 Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 19 Rn. 56; Eichenhofer / v. KoppenfelsSpies /​ Wenner / Bäune, SGB V § 75 Rn. 33. 197 KassKomm / Rademacker, SGB V § 75 Rn. 56; Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 20 Rn. 19; s. a. LSG S.-H. Beschl. v. 26. 6. 2000 – L 6 B 61/00 KA ER, juris Rz. 52. 198 Teilweise werden die KVen als „verlängerter Arm“ der Krankenkassen bezeichnet, vgl. Köhler, Schriftenreihe PVS Band 6, S. 10, 15; Schirmer, DÄ 1997, A-1863, A-1865; Schnapp / Wigge / Schiller, HB des Vertragsarztrechts, § 5 A. Rn. 191, fordern hingegen mehr Einsicht seitens der Ärzteschaft. 199 JurisPK-SGB  V / Hesral, § 75 Rn.  186; Hauck / Noftz / Klückmann SGB V § 75 Rn. 6; Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 19 Rn. 53. 200 Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 17 Rn. 2 f.

B. Der Vertragsarzt als Hauptleistungserbringer im System der GKV 

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a) Die Zulassung des Vertragsarztes gem. § 95 SGB V Anders als die damaligen privatrechtlichen Vertragsabschlüsse zwischen Arzt und Krankenkasse, die eine Leistungserbringung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung erst ermöglichten, stellt die heutige Vertragsarztzulassung seit der Errichtung der KVen und der Überführung des Versorgungssystems in das öffentliche Recht einen begünstigenden Verwaltungsakt dar.201 Um die Zulassung kann sich gem. § 95 Abs. 2 SGB  V jeder frei praktizierende202 Arzt bewerben. Hierfür bedarf es zunächst eines Antrags auf Eintragung in das Arztregister des jeweiligen Zulassungsbezirks, die an die Erfüllung der persönlichen Voraussetzungen geknüpft ist. Diese ergeben sich aus den § 95 Abs. 2 S. 1–3 SGB V sowie aus den Zulassungsverordnungen (vgl. § 95 Abs. 2 S. 4 SGB V).203 Zu den persönlichen Voraussetzungen zählen gem. § 95a SGB V bspw. der Nachweis über bestimmte Qualifikationsvoraussetzungen wie die Weiterbildung zum Allgemein- oder Facharzt und das Vorweisen einer wirksamen und bestandssicheren Approbation als Arzt. Neben der Erfüllung der formalen Anforderungen, die sich u. a. aus § 95 Abs. 2 SGB V i. V. m. § 18 Abs. 1 Ärzte-ZV ergeben, muss der Arzt für die Tätigkeit als Vertragsarzt geeignet sein, d. h. es dürfen keine Zulassungshinderungsgründe gem. §§ 20, 21 Ärzte-ZV vorliegen.204 Die persönliche Eignung des Vertragsarztes kann bspw. vereitelt werden, wenn gem. § 21 Abs. 1 S. 2 Ärzte-ZV schwerwiegende Gründe in seiner Person vorliegen wie Rauschgiftsucht oder Alkoholabhängigkeit.205 Zuletzt können sich Beschränkungen aus dem Bedarfsplanungsrecht gem. §§ 99 ff. SGB V i. V. m. §§ 12 ff. Ärzte-ZV ergeben, das mit der Begrenzung der zugelassenen Vertragsarztsitze eine regional ausgeglichene Verteilung der Vertragsärzte sowie eine positive Beeinflussung der Finanzsituation der gesetzlichen Krankenversicherung anstrebt.206 Ist der Nachweis über die Eintragung im Arztregister erbracht und liegen keine der genannten Zulassungshinderungsgründe vor, wird die Zulassung durch den Zulassungsausschuss erteilt.207 Sie gilt als statusbegründender Akt, da der zugelassene Arzt den höchstpersönlichen Status als Vertragsarzt erhält.208

201

BSG Urt. v. 5. 2. 2003 – B 6 KA 22/02 R, SozR 4–2500 § 95 Nr 2 Rn. 23, 27; Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 792. 202 Dies lässt sich § 32 Ärzte-ZV entnehmen, wonach der Arzt seine Tätigkeit „persönlich in freier Praxis auszuüben“ hat, d. h. eine Zulassung kommt nur für den niedergelassenen, frei praktizierenden Arzt und nicht für den Arzt in einem Angestelltenverhältnis in Betracht, jurisPK-SGB  V / Pawlita, § 95 Rn. 480 f. 203 Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 17 Rn. 15; der notwendige Inhalt für die Zulassungsverordnungen ergibt sich aus § 98 SGB V, NK-MedR / Steinmeyer, SGB V § 95 Rn. 7. 204 Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 17 Rn. 25. 205 JurisPK-SGB  V / Pawlita, § 95 Rn. 688. 206 Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 17 Rn. 31; BT-Drs. 12/3608, S. 97. 207 Zum Verfahren vor den Zulassungsausschüssen ausf. 3. Kap. B. II. 4. 208 Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 17 Rn. 7.

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2. Kap.: Grundfragen der vertragsärztlichen Tätigkeit

b) Rechte und Pflichten der Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung Der statusbegründende Akt der Zulassung bewirkt gem. § 95 Abs. 3 SGB V die Begründung des körperschaftlichen Mitgliedschaftsverhältnisses des Vertragsarztes zu seiner KV.209 Es handelt sich hierbei um eine Pflichtmitgliedschaft, die darauf zurückzuführen ist, dass die Erfüllung des im öffentlichen Interesses liegenden Sicherstellungsauftrages der KVen nicht ohne die Vertragsärzte zu rea­lisieren ist.210 Mit der Zulassung wird der Vertragsarzt umfassend in die Organisationsstrukturen und das Normengefüge des Systems eingebunden, wodurch er eine öffentlich-rechtliche Rechtsposition mit „mannigfaltige[n] vertragsarzteigene[n] Rechte[n] und Pflichten“ erlangt.211 Zunächst eröffnet § 95 Abs. 3 SGB V eine Berechtigung zur Teilnahme, womit die schlichte Teilnahme an der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung ohne einen weiteren rechtlichen Zwischenschritt gemeint ist. Jeder zugelassene Vertragsarzt kann seine ärztlichen Leistungen dem großen Kreis der GKV-Versicherten direkt zur Verfügung stellen – allerdings nur zu den im System geltenden Bedingungen.212 Erst hierdurch wird dem Vertragsarzt die Ausübung der ärztlichen Tätigkeit in freier Praxis ermöglicht.213 Im Gegenzug steht ihm ein Recht auf leistungsproportionale Teilhabe an der Honorarverteilung durch die KVen gem. § 87b SGB V zu.214 Die Zuschreibung eines Teilhabeanspruchs impliziert hierbei, dass dem Arzt kein Anspruch auf einen festen Preis für seine erbrachten Leistungen zusteht. Ursache hierfür ist die quantitative Begrenzung der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung nach § 87a SGB V, mit der alle erbrachten vertragsärztlichen Leistungen durch die Krankenkasse abgegolten werden.215 Die mit der Berechtigung korrespondierende Pflicht zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung wird durch vielschichtige Regelungen auf gesetzlicher, untergesetzlicher sowie vertraglicher Ebene ausgestaltet.216 Diese Verpflichtung beruht auf der notwendigen Einbindung der Vertragsärzte in den besonderen Sicherstellungsauftrag der KVen nach § 75 Abs. 1 SGB V.217 Über ihr gem. § 81 Abs. 1 SGB V selbst geschaffenes Satzungsrecht erklären die KVen die gesetzlich und vertraglich übernommenen Pflichten für ihre Mitglieder als verbindlich.218 209

NK-MedR / Steinmeyer, SGB V § 95 Rn. 13. Schnapp / Wigge / Rompf, HB des Vertragsarztrechts, § 3 Rn. 9. 211 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 817. 212 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 845. 213 Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 17 Rn. 116. 214 BSG Urt. v. 9. 12. 2004 – B 6 KA 44/03 R, BSGE 94, 50, 93 f.; Schnapp / Wigge / Steinhilper, HB des Vertragsarztrechts, § 16 Rn. 8. 215 Schnapp / Wigge / Rompf, HB des Vertragsarztrechts, § 3 Rn. 16; ausf. 3. Kap. B. 3. c) bb). 216 JurisPK-SGB  V / Pawlita, § 95 Rn. 872. 217 Zu den Grundstrukturen des Vertragsarztrechts vgl. 2. Kap A. I. 218 Ehlers / Hesral, Disziplinarrecht, Kap. 1 Rn. 3. 210

B. Der Vertragsarzt als Hauptleistungserbringer im System der GKV 

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Zur Erfüllung der Sicherstellungsverpflichtung der KVen sind die Vertragsärzte dazu verpflichtet, die Ansprüche der Versicherten auf Krankenbehandlung aus den §§ 27 ff. SGB V nach den Vorgaben des Vertragsarztrechts in tatsächlicher Hinsicht zu erfüllen.219 Weitere Vorgaben ergeben sich aus den für die Vertragsärzte gem. § 81 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 2 SGB V verbindlichen Kollektivverträgen, den Bundesmantel- und Gesamtverträgen sowie den Richtlinien und Beschlüssen des GBA.220 Doch nicht nur das „Ob“ der vertragsärztlichen Tätigkeit ist durch die Vorgaben des Vertragsarztrechts vorgezeichnet, sondern auch das „Wie“: Erster Anknüpfungspunkt ist der durch die Zulassung genehmigte Versorgungauftrag. Dieser bestimmt in qualitativer Hinsicht die Fachrichtung, die der Vertragsarzt auszuüben berechtigt und einzuhalten verpflichtet ist.221 Weiterhin ergibt sich hieraus der quantitative Umfang seiner Tätigkeit. So bedeutet bspw. ein hälftiger Versorgungsauftrag, dass der Vertragsarzt eine Mindestsprechstundenzeit von 25 Stunden zu erfüllen hat, vgl. § 17 Abs. 1a Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä).222 Der Vertragsarzt kommt hiermit seiner Präsenzpflicht aus § 24 Abs. 2 Ärzte-ZV nach, von der er nach § 32 Abs. 1 Ärzte-ZV nur in gesonderten Ausnahmefällen wie bspw. Krankheit, Urlaub oder Fortbildung abweichen darf.223 Der Sicherstellung des Versorgungsauftrags diente auch die in § 24 Abs. 2 S. 2 Ärzte-ZV a. F. normierte Residenzpflicht, welche mittlerweile dahingehend ausgeweitet wurde, dass statt einer 30-minütigen Fahrzeit zwischen Wohnort und Praxis eine angemessene Fahrzeit genügt.224 Darüber hinaus umfasst der Pflichtenkatalog u. a. die Pflicht zur peinlich genauen Abrechnung,225 die Pflicht zur persönlichen Ausübung der Tätigkeit gem. § 98 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 13 SGB V i. V. m. § 32 Abs. 1 S. 1 ÄrzteZV, § 15 BMV-Ä, die Fortbildungspflicht gem. § 95d Abs. 1 SGB V und die strikte Bindung an den Vertragsarztsitz nach § 95 Abs. 1 S. 5 SGB V.226 Von den Rechten und Pflichten, die aus der Teilnahme resultieren, sind die korporativen Mitgliedschaftsrechte und -pflichten zu unterscheiden, die ausschließlich 219 Zu den Vorgaben vgl. § 73 Abs. 2 SGB V (inhaltlicher Umfang der ärztlichen Leistungserbringung), §§ 2 Abs. 1, 12 SGB V (Wirtschaftlichkeitsgebot), § 2 Abs. 2 SGB V (Sachleistungsprinzip), § 70 Abs. 1 SGB V (Einhaltung von Qualitäts- und Sorgfaltspflichten); Schnapp / Wigge / Rompf, HB des Vertragsarztrechts, § 3 Rn. 13; KassKomm / Rademacker SGB V § 95 Rn. 179. 220 Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Motz, SGB V § 95 Rn. 74. 221 BSG Urt. v. 14. 3. 2001 – B 6 KA 54/00 R, BSGE 88, 20, 24 f.; bestätigt durch BSG Urt. v. 17. 2. 2016 – B 6 KA 3/15 R, SozR 4–2500 § 106 Nr 54 Rn. 27; vgl. zur Einhaltung der Fachgebietsgrenzen ausf. jurisPK-SGB V / Pawlita, § 95 Rn. 891 ff. 222 Schnapp / Wigge / Rompf, HB des Vertragsarztrechts, § 3 Rn. 14. 223 Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 17 Rn. 95. 224 S. zur Residenzpflicht BSG Urt. v. 5. 11. 2003  – B 6 KA 2/03 R, SozR 4–5520 § 24 Nr 1; Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 17 Rn. 95; Hauck / Noftz / Hannes SGB V § 95 Rn. 145. 225 Vgl. hierzu BSG Urt. v. 24. 11. 1993  – 6 RKa 70/91, BSGE 73, 234; ausf. jurisPKSGB  V / Pawlita, § 95 Rn. 915 ff. 226 Ausf. jurisPK-SGB  V / Pawlita, § 95 Rn. 918 ff., § 95d Rn. 20 ff.

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2. Kap.: Grundfragen der vertragsärztlichen Tätigkeit

das Mitgliedschaftsverhältnis zur KV betreffen.227 Hierzu zählt insbesondere die Berechtigung zur Teilnahme an der ärztlichen Selbstverwaltung. Als Mitglied der KV erhält der Vertragsarzt gem. §§ 79 Abs. 1, 80 Abs. 1 SGB V das aktive und passive Wahlrecht für die Zusammensetzung der Vertreterversammlung als dem alleinigen Selbstverwaltungsorgan der KV.228 Eine originäre, aus dem Mitgliedschaftsverhältnis erwachsende Pflicht ist diejenige zur Beitragszahlung an die KVen. Diese erheben zur Durchführung der gesetzlichen und satzungsmäßigen Aufgaben einen Verwaltungskostenbeitrag in Höhe eines Vomhundertsatzes der abgerechneten Vergütung, der in der Regel direkt verrechnet wird.229 Der hier nur exemplarisch dargestellte Pflichtenkatalog verdeutlicht, dass nahe­zu jeder Bereich der vertragsärztlichen Tätigkeit reguliert ist und dem einzelnen Arzt dementsprechend bei der Ausübung seiner Tätigkeit wenig Freiräume verbleiben.230 c) Unterwerfung unter die Disziplinargewalt Zur Einhaltung und Durchsetzung des umfassenden Pflichtenkatalogs sind die KVen gem. §§ 75 Abs. 2 S. 2, 81 Abs. 5 SGB V verpflichtet, die Erfüllung der den Vertragsärzten obliegenden Pflichten zu überwachen und durchzusetzen. Andernfalls könnte die Erfüllung ihres Sicherstellungs- und Gewährleistungsauftrags gefährdet sein.231 Der Vorschrift des § 75 Abs. 2 S. 2 i. V. m. § 81 Abs. 5 SGB V kommt daher eine „Realisierungsfunktion“ zu.232 Verstößt der Vertragsarzt schuldhaft gegen seine vertragsärztlichen Pflichten, kann die KV den Arzt zunächst mittels eines formlosen Eingriffs wie bspw. mit einem Aufklärungsbrief oder einem Rundschreiben dazu anhalten, seine Pflichten zu erfüllen.233 Als zweite, deutlich schärfere Stufe kann die KV eines der in § 81 Abs. 5 SGB V abschließend aufgelisteten Disziplinarmittel ergreifen. Hierzu zählen die Verwarnung, der Verweis, eine Geldbuße bis zu 50.000 Euro oder ein bis zu zweijähriges Ruhen der Zulassung.234 Typische Pflichtverstöße sind bspw. der Verstoß gegen die Präsenzpflicht (§ 24 Abs. 1 Ärzte-ZV) wegen fehlenden

227

Vgl. zur Differenzierung Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 17 Rn. 161. Schnapp / Wigge / Rompf, HB des Vertragsarztrechts, § 3 Rn. 17. 229 Vgl. bspw. § 20 Abs. 1, Abs. 2 der Satzung der KV Baden-Württemberg v. 9. 7. 2020, abrufbar unter: https://www.kvbawue.de/praxis/vertraege-recht/rechtsquellen/kvbw-satzungrechtsquellen/ (zuletzt abgerufen am 30. 9. 2020). 230 Vgl. auch die beispielhafte Aufzählung des Pflichtenkatalogs bei Steinhilper, GesR 2009, 337, 338 f.; Laufs / Kern / Rehborn / Steinhilper, HB des Arztrechts, § 29 Rn. 2. 231 Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Rompf, SGB V § 81 Rn. 11; jurisPK-SGB V / ​ Steinmann-Munzinger, § 81 Rn. 58. 232 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 825. 233 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 828. 234 Schnapp / Wigge / Schroeder-Printzen, HB des Vertragsarztrechts, § 17 Rn. 13. 228

B. Der Vertragsarzt als Hauptleistungserbringer im System der GKV 

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Sprechstundenangebots,235 gegen das Sachleistungsprinzip wegen Verlangens einer Zuzahlung vom Versicherten236 oder gegen die Pflicht der peinlich genauen Leistungsabrechnung wegen Einreichung manipulierter Abrechnungen.237 Bei Vorliegen einer gröblichen Pflichtverletzung, d. h. einer derart schweren Pflichtverletzung, die „die Ungeeignetheit des Arztes für eine weitere Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung indiziert“,238 wie bspw. eine wiederholt fehlerhafte Abrechnung,239 kommt als letzte Stufe die Entziehung der Zulassung gem. § 95 Abs. 6 SGB V in Betracht. Das Zulassungsentziehungsverfahren ist vom Disziplinarverfahren zu unterscheiden. Bereits die Zuständigkeit für das Entziehungsverfahren liegt nicht bei der KV und ihren optional einzurichtenden Disziplinarausschüssen,240 sondern bei den Zulassungs- und Berufungsausschüssen.241 Beide Verfahren sind lediglich über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz miteinander verknüpft, denn eine Entziehung der Zulassung kann erst dann in Betracht gezogen werden, wenn eine Disziplinarmaßnahme als milderes, gleich geeignetes Mittel zur Erzielung eines pflichtgemäßen Verhaltens des Betroffenen nicht ausreicht.242

II. Die Ausgestaltung der vertragsärztlichen Versorgung durch Kollektivverträge Die zweite Rechtsbeziehung innerhalb des Leistungserbringervierecks, durch die die Rechtsstellung des Vertragsarztes mittelbar beeinflusst wird, ist diejenige zwischen den Krankenkassen und den KVen. Diese sind gem. § 72 Abs. 2 SGB V zur kooperativen Zusammenarbeit verpflichtet.243 Hiermit bezweckt der Gesetzgeber die Herbeiführung eines Interessenausgleichs zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung.244 Als taugliche Kooperationsformen sind neben den in § 72 Abs. 2 SGB V genannten schriftlichen Verträgen die Zusammenarbeit und

235

S. bspw. BSG Urt. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 115 f.; BayLSG Urt. v. 15. 1. 2014 – L 12 KA 91/13, NZS 2014, 518, 519. 236 BSG Urt. v. 30. 3. 1977 – 6 RKa 4/76, BSGE 43, 250, 252 f.; BSG Urt. v. 25. 10. 1989 – 6 RKa 28/88, BSGE 66, 6, 10; BSG Urt. v. 14. 3. 2001 – B 6 KA 36/00 R, SozR 3–2500 § 81 Nr 7.  237 BSG Urt. v. 24. 11. 1993 – 6 RKa 70/91, BSGE 73, 234, 237. 238 Ehlers / Hesral, Disziplinarrecht, Kap. 3 Rn. 578. 239 BSG Urt. v. 20.10–2004 – B 6 KA 67/03 R, BSGE 93, 269, 272; BSG Urt. v. 24. 11. 1993 – 6 RKa 70/91, BSGE 73, 234, 236 f. 240 JurisPK-SGB  V / Steinmann-Munzinger, § 81 Rn. 84, 87. 241 Ehlers / Hesral, Disziplinarrecht, Kap. 3 Rn. 568, 584 ff.; vgl. Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 840 f. 242 Ehlers / Hesral, Disziplinarrecht, Kap. 3 Rn. 569, zu den Unterschieden s. Kap. 3 Rn. 566 ff. 243 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 210; von einer „Pflicht zur Kooperation“ spricht Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, S. 289. 244 JurisPK-SGB  V / Hesral, § 72 Rn. 43; Axer, FS 50 Jahre BSG, S. 339, 341, 342; Wahl, Kooperations­strukturen im Vertragsarztrecht, S. 289.

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2. Kap.: Grundfragen der vertragsärztlichen Tätigkeit

Mitwirkung in paritätisch besetzten Gremien der gemeinsamen Selbstverwaltung vorgesehen.245 Die Kollektivverträge entfalten normative Wirkung gegenüber den Leistungs­ erbringern und binden diese sowie die verbandszugehörigen Krankenkassen rechtsetzend.246 Durch die Zusammenarbeit in den gemeinsamen Ausschüssen werden den Vertragsparteien Mitwirkungsbefugnisse in spezifischen Bereichen der vertragsärztlichen Versorgung eingeräumt, die wiederum den einzelnen Vertragsarzt betreffen: im Zulassungswesen, bei der Wirtschaftlichkeitsüberprüfung vertragsärztlicher Leistungen, der Bedarfsplanung, der vertragsärztlichen Vergütung und bei der Ausgestaltung des Versorgungsangebotes.247 Mit der Institutionalisierung dieser Kooperationsformen hat der Gesetzgeber die Aufgabe der Sicherstellung der ärztlichen Versorgung der unmittelbaren Staatstätigkeit entzogen und stattdessen der „sachkundigen gemeinsamen Selbstverwaltung“248 verpflichtend übertragen. Durch Kooperation soll ein konstruktives Zusammenwirken der interessenbezogenen Gegenpole zum Zwecke der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung ermöglicht werden.249

III. Die Ausgestaltung der vertragsärztlichen Versorgung durch Selektivverträge Schließlich können Vertragsärzte ihre Rechtsstellung im System eigenständig ausgestalten. Durch den Abschluss von Selektivverträgen mit den Krankenkassen können sie Einfluss auf den Leistungsumfang, die Qualität und den Preis nehmen. Diese bilateralen Vereinbarungen eröffnen den Vertragsparteien Flexibilisierungsmöglichkeiten und erweitern ihren Gestaltungsspielraum, sodass neue Versorgungsansätze realisiert werden können.250 Um die Auswirkungen dieser zusätzlichen Vertragsoption für das Vertragsarztsystem und die beteiligten Akteure beurteilen zu können, werden im Folgenden die Motive sowie die rechtlichen Rahmenbedingungen der Selektivverträge geschildert.

245

Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 19 Rn. 16. JurisPK-SGB  V / Hesral, § 72 Rn. 11; s. hierzu 3. Kap. B. 2. 247 Ausf. hierzu 3. Kap B. II. 3., 4., 5., 6., 7. 248 Axer, FS 50 Jahre BSG, S. 339, 352. 249 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 212; Spickhoff / Nebendahl, SGB V § 72 Rn. 2. 250 Schnapp / Wigge / Knieps / Müller, HB des Vertragsarztrechts, § 11 Rn. 4; Plate / Domscheit, KrV 2016, 129. 246

B. Der Vertragsarzt als Hauptleistungserbringer im System der GKV 

55

1. Motive für die Etablierung der Selektivverträge Ende der 90er Jahre verfolgte der Gesetzgeber zunehmend das Ziel, wettbewerb­ liche Ansätze in das Gesundheitssystem zu implementieren. Den Anfang machte das zum 1. 1. 1996 durch das Gesundheitsstrukturgesetz eingeführte Recht auf freie Kassenwahl für Versicherte, wodurch die Krankenkassen erstmals um ihre Mitglieder konkurrierten.251 Hieran anknüpfend sah der Gesetzgeber mit dem 2.  GKV-Neuordnungsgesetz vom 23. 6. 1997252 und dem GKV-Gesundheitsreformgesetz vom 22. 12. 1999253 neue Versorgungskonzepte wie die Modellvorhaben nach §§ 63 ff. SGB V oder die integrierte Versorgung nach §§ 140a ff. SGB V vor und schuf die Grundstrukturen für ein neues eigenständiges Einzelvertragssystem neben dem Kollektivvertragssystem.254 Diese neuen Vertragsoptionen wurden in den letzten Jahren immer wieder reformiert, da die Umsetzung und Annahme durch die Akteure zögerlich bis gar nicht voranschritt.255 Die selektivvertraglichen Optionen sollen in erster Linie einen Wettbewerb um Versorgungsverträge eröffnen, der das Patienten- und Leistungserbringerverhalten darauf ausrichtet, nach höherer Qualität und Wirtschaftlichkeit zu streben, d. h. mehr Effizienz im System zu schaffen.256 Solange das Kollektivvertragssystem allerdings das dominierende Modell für die Ausgestaltung der Leistungsbeziehungen zwischen Krankenkassen und KVen ist und das Verhältnis zwischen kollektivvertraglichen und selektivvertraglichen Regelungen ungeregelt bleibt, kann ein „Wettbewerb um kassen- und versorgerindividuelle Leistungsverträge nicht [stattfinden]“.257

251

Cassel / Jacobs, RPG 2015, 55; Ballast, VSSR 2012, 239. BGBl. I, S. 1520. 253 BGBl. I, S. 2626. 254 Wigge / Harney, MedR 2008, 139, 140. 255 Insbesondere durch das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) v. 14. 11. 2003, BGBl. I, S. 2190 wurden einige der neuen Versorgungsformen weiterentwickelt. Es wurde eine Anschubfinanzierung für die bisher von den Akteuren nicht angenommenen integrierten Versorgungsverträge nach §§ 140a ff. SGB V vorgesehen; s. a. Schnapp / Wigge / Knieps / Müller, HB des Vertragsarztrechts, § 11 Rn. 61. 256 Ballast, VSSR 2012, 239, 240; Cassel / Ebsen / Greß / Jacobs / Schulze / Wasem, Gutachten im Auftrag des AOK-Bundesverbandes 2006, S. 24 f.; s. a. Rebscher, FS Wille, S. 343, 344. 257 Cassel / Ebsen / Greß / Jacobs / Schulze / Wasem, Gutachten im Auftrag des AOK-Bundesverbandes 2006, S. 25 ff. (Zitat auf S. 26); s. a. Jacobs, FS Wille, S. 325, 335, der die selektivvertraglichen Regelungen als „Flickenteppich inkonsistenter Einzelregelungen“ beschreibt; Schönbach, G+G Beilage 2015 Wissenschaft, Nr. 3, 24, 25; zum Verhältnis von Kollektivund Selektivverträgen Schütz, MedR 2015, 162 f.; für die Dominanz und eine Ergänzung des Kollek­tivvertragssystems um selektive Modelle Köhler, VSSR 2012, 227, 230 und Ballast, VSSR 2012, 239, 242 f. 252

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2. Kap.: Grundfragen der vertragsärztlichen Tätigkeit

2. Selektivverträge in der vertragsärztlichen Versorgung Trotz des Ausbleibens der gewünschten Ziele und des ungeklärten Verhältnisses hat der Gesetzgeber in der vergangenen Zeit die selektiven Vertragsoptionen immer weiter ausgebaut, zuletzt durch das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) vom 16. 7. 2015.258 Hiermit wurden die Regelungen zur integrierten Versorgung neu strukturiert und die Einweisungsvorschrift des § 140a SGB V zu einer allgemeinen Rechtsgrundlage für Selektivverträge umgestaltet. Die hausarztzentrierten Verträge in § 73b SGB V, die Modellvorhaben in §§ 63 ff. SGB V und die strukturierten Behandlungsprogramme in §§ 137f SGB V stellen weitere spezielle Rechtsgrundlagen selektiven Kontrahierens dar.259 Die Mühen des Gesetzgebers, die Anerkennungs- und Umsetzungsprobleme der selektivvertraglichen Optionen in der Praxis zu beseitigen, lassen sich exemplarisch an der besonderen Versorgung gem. § 140a SGB V aufzeigen. Um den Abschluss von integrierten Versorgungsverträgen zu fördern und der integrierten Versorgung zum Durchbruch zu verhelfen, sah der Gesetzgeber in § 140d SGB V a. F. für die Jahre 2004 bis 2008 eine pauschale Anschubfinanzierung als finanziellen Anreiz vor.260 Integrationsverträge wurden infolgedessen um ein Vielfaches mehr als Verträge anderer Versorgungsformen abgeschlossen.261 Die integrierte Versorgung galt daher als erstes Versorgungssystem, welches durchaus einen Systemwechsel in der ambulanten Versorgung der gesetzlichen Krankenversicherung herbeiführen könnte.262 Mit der durch das GKV-VSG erfolgten Neu- und Umstrukturierung der integrierten Versorgung sollten die bestehenden Regelungen zu Einzelvertragsoptionen der Krankenkassen und Leistungserbringer sodann systematisiert, Gestaltungsmöglichkeiten der Krankenkassen erweitert und Bürokratiehemmnisse abgebaut werden.263 Eine Legaldefinition der besonderen Versorgung sieht § 140a Abs. 1 SGB V nicht vor. Stattdessen wird als Voraussetzung vorgegeben, dass der Vertragsinhalt eine verschiedene Leistungssektoren übergreifende oder eine inter­ disziplinär-fachübergreifende Versorgung für die Versicherten beinhalten muss.264 Für Letzteres ist eine Kooperation zwischen Haus- und Fachärzten oder Fachärzten 258

BGBl. I, S. 1211. Becker / K ingreen / Huster, SGB V § 140a Rn. 1, 5; s. a. Huster / Schütz, NZS 2016, 645 ff. 260 Wenner, Vertragsarztrecht, § 10 Rn. 12; Schnapp / Wigge / Knieps / Müller, HB des Vertragsarztrechts, § 11 Rn. 61. 261 Schnapp / Wigge / Knieps / Müller, HB des Vertragsarztrechts, § 11 Rn. 17. 262 So Wigge, NZS 2001, 17, 18.  263 In § 140a SGB V werden nunmehr als Besondere Versorgung die Strukturverträge gem. § 73a SGB V a. F., die besondere ambulante ärztliche Versorgung gem. § 73c SGB V a. F. und die integrierte Versorgung gem. §§ 140a-d SGB V a. F. konzentriert, s. BT-Drs. 18/4095, S. 126 f. 264 Schnapp / Wigge / Knieps / Müller, HB des Vertragsarztrechts, § 11 Rn. 48; zur Auslegung der „Leistungssektoren“ s. BSG Urt. v. 6. 2. 2008 – B 6 KA 27/07 R, BSGE 100, 52, 55; Ratzel / Luxenburger / Bäune 8. Kapitel Rn. 6; jurisPK-SGB V / Baumann / Matthäus § 140a Rn. 45 f. 259

B. Der Vertragsarzt als Hauptleistungserbringer im System der GKV 

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unterschiedlicher Fachrichtungen Voraussetzung. Sektorenübergreifend ist eine Versorgung dann, wenn Leistungsprozesse, die vorher im traditionellen Kollektivvertragssystem institutionell und inhaltlich getrennt waren, miteinander verknüpft werden. Hierunter fällt bspw. die Verzahnung zwischen ambulanten Operationen und der sich anschließenden Versorgung in Rehabilitationseinrichtungen.265 Bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Verträge sind den Vertragsparteien grundsätzlich keine Grenzen gesetzt. Sie genießen einen großen Gestaltungsspielraum, müssen allerdings die grundlegenden Anforderungen an eine qualitätsgesicherte, wirksame, ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung beachten. Gleichzeitig gelten gem. § 140a Abs. 2 S. 5 SGB V die Vorgaben der Kollektivverträge und des GBA als Mindestvoraussetzungen.266 Auch bei der Vereinbarung der Vergütung genießen die Vertragsparteien einen großen Spielraum, sodass sie festlegen können, welche Leistungen aus dem „Topf“ für die integrierten Versorgungsformen vergütet werden sollen. Dies kann für ausschließlich am Kollektivvertragssystem partizipierende Leistungserbringer eine Benachteiligung bedeuten, denn Struktur und Höhe der Vergütung können bewusst anreizvoller als die kollektivvertraglichen Vergütungsregelungen ausgestaltet werden.267 Die vertragsschließenden Leistungserbringer sind abschließend in § 140a Abs. 3 SGB V geregelt. Hierzu zählen mittlerweile wieder die als „Blockierer“ und „Verhinderer“ wahrgenommenen KVen, die für die sie beauftragenden Ärzte tätig werden können.268 3. Bedeutung der Selektivverträge für das Vertragsarztsystem Trotz der zahlreichen Reformbestrebungen des Gesetzgebers, mit denen die Attraktivität selektivvertraglicher Elemente im Gesundheitssystem erhöht und ihre Umsetzung beschleunigt werden sollte, lassen sich nur wenige erfolgreich etablierte Verträge verzeichnen.269

265

NK-MedR / Altmiks, SGB V § 140a Rn. 4 ff. NK-GesundhR / Greiff, SGB V § 140a Rn. 20. 267 Rehborn, Vertragsarztrecht zu Beginn des 21. Jahrhunderts, S. 811, 813; Schnapp / ​ Wigge / Knieps / Müller, HB des Vertragsarztrechts, § 11 Rn. 58. 268 Ausdrücklich Schnapp / Wigge / Knieps / Müller, HB des Vertragsarztrechts, § 11 Rn. 55; s. a. Krauskopf / Engels SGB V § 140a Rn. 64. 269 Schätzungen des Sachverständigenrats zufolge existierten im Jahr 2011 rund 6400 IV-Verträge mit einem Ausgabevolumen von ca. 1,4 Mrd. Euro (entspricht weniger als 1 % an den gesamten GKV-Leistungssausaugaben); Amelung / Wolf / Ozegowski / Eble / Hilde­ brandt / Knieps / L ägel / Schlenker / Sjuts, Bundesgesundhbl 2015, 352, 353; eine Studie v. 10. 10. 2014 ergab eine Anzahl von 46 abgeschlossenen hausartzentrierten Verträgen durch die Hausärztliche Vertragsgemeinschaft (HÄVG) und 33 durch die KVen. In den Verträgen der HÄVG waren zum Stichtag von 70 Mio. gesetzlich Krankenversicherten mehr als 3,6 Mio. eingeschrieben, Lübeck / Beyer / Gerlach, Bundesgesundhbl 2015, 360, 363; s. a. BT-Drs. 17/10323, S. 317 f. 266

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2. Kap.: Grundfragen der vertragsärztlichen Tätigkeit

Verbreitet wird dies auf die nach wie vor bestehende Dominanz des Kollektivvertrages zurückgeführt.270 Als weiteres Hemmnis gelten auch die Bereinigungsvorgaben in §§ 73b Abs. 7, 140a Abs. 6 und 64 Abs. 3 S. 5 SGB V, die nur mit einem unverhältnismäßig hohem Aufwand zu handhaben sind.271 Zweck des Bereinigungsverfahrens ist es, eine Doppelbelastung der Krankenkassen zu vermeiden. Da die Vergütung für die selektivvertraglich zu erbringenden Leistungen von den Vertragsparteien grundsätzlich frei und somit außerhalb der kollektivvertraglichen Vergütungsstrukturen vereinbart wird, entstehen zwei parallele Vergütungssysteme. Dies birgt die Gefahr, dass eine den kollektivvertraglichen entsprechende, selektivvertraglich vereinbarte Leistung sowohl über die Gesamtvergütung als auch über die eigens dafür vereinbarte Vergütung abgegolten wird.272 Die Gesamtvergütung, die die Krankenkassen an die KVen für alle vertragsärztlich zu erbringenden Leistungen entrichten, muss folglich um die für die selektivvertraglichen Leistungen aufzubringende Summe vermindert werden.273 Dieser Berechnungsvorgang gestaltet sich in der Praxis als administrativ aufwendig, u. a. weil den Gesamtvertragspartnern aufgrund der freiwilligen Teilnahme der Beteiligten an den selektiven Programmen eine exakte Berechnung des Behandlungsbedarfes nicht möglich ist. Der Gesetzgeber hat mit dem GKV-VSG zur Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens in §§ 73b Abs. 7 S. 3, 140a Abs. 6 S. 3, 64 Abs. 3 S. 7 SGB V die Möglichkeit der Pauschalierung sowie in §§ 140a Abs. 6 S. 2, 64 Abs. 3 S. 6 SGB V die Möglichkeit des Verzichts auf die Bereinigung vorgesehen.274 Gleichwohl haben die KVen, die gem. §§ 73b Abs. 7 S. 9, 140a Abs. 6 SGB V für das Bereinigungsverfahren verantwortlich sind, mitunter kein Interesse an einer zügigen und reibungslosen Umsetzung. Zum einen scheuen sie den mit der Komplexität des Verfahrens verbundenen Kostenaufwand, zum anderen repräsentieren sie als einer der Hauptakteure das „gegnerische“ Kollektivvertragssystem.275 Schließlich wirken sich die Selektivverträge auch auf den Sicherstellungsauftrag der KVen gem. § 75 Abs. 1 SGB V aus. Dieser wird gem. §§ 140a Abs. 1 S. 4 und 73b Abs. 4 S. 6 SGB V insoweit eingeschränkt, als die Versorgung der Versicherten auch tatsächlich auf Grundlage eines entsprechenden selektiven Vertrages

270 Schönbach, G+G Beilage 2015 Wissenschaft, Nr. 3, 24, 27; Schütz, MedR 2015, 162; Becker / K ingreen / Huster SGB V § 140a Rn. 3. 271 Jacobs, FS Wille, S. 325, 337 f.; Schönbach, G+G Beilage 2015 Wissenschaft, Nr. 3, 24, 29; KassKomm / Rademacker, SGB V § 73b Rn. 58; Wenner, Vertragsarztrecht, § 11 Rn. 13. 272 KassKomm / Rademacker, SGB V § 73b Rn. 59; s. BT-Drs. 16/3100, S. 113 für die hausarztzentrierte Versorgung; s. BT-Drs. 18/4095, S. 128 f. für die integrierte Versorgung. 273 So ähnlich NK-MedR / Steinmeyer, SGB V § 73b Rn. 36. 274 HK-AKM / Schiller / Rückeshäuser, Selektivverträge Nr. 4835 Rn. 114; Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Bäune, SGB V § 73b Rn. 34; s. a. BT-Drs. 18/5123, S. 122 (für die Modellvorhaben) und S. 137 (für die besondere Versorgung). 275 Schütz, MedR 2015, 162, 165; Schönbach, G+G Beilage 2015 Wissenschaft, Nr. 3, 24, 29; HK-AKM / Schiller / Rückeshäuser, Selektivverträge Nr. 4835 Rn. 132.

C. Zwischenergebnis

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über die ärztliche Versorgung durchgeführt wird.276 In diesen Fällen wird davon ausgegangen, dass insofern die Krankenkassen den Sicherstellungsauftrag zu tragen haben.277 Teilweise wird vertreten, dass mit der Einschränkung des Sicherstellungsauftrages der KVen eine Aufweichung ihrer im herkömmlichen System bestehenden Monopolstellung verbunden sei.278 Angesichts der schleppenden Umsetzung der Selektivverträge kann hiervon allerdings bisher nicht die Rede sein.279 Außerdem hat der Gesetzgeber von seinen anfänglichen Bestrebungen, mit der Einführung der Selektivverträge ein Alternativmodell zum Kollektivvertragssystem ohne Einbindung der KVen zu konstruieren,280 mit den letzten Änderungen durch das GKV-VSG wieder Abstand genommen. So wurden die KVen wieder als uneingeschränkte Vertragspartner der integrierten Versorgungsverträge gem. § 140a Abs. 3 Nr. 7 SGB V zugelassen.281 Ungeachtet der Umsetzungshemmnisse eröffnen die Selektivverträge, so sie zustande kommen, den Leistungserbringern und Krankenkassen eine Möglichkeit, ihre jeweilige Rechtsposition im System durch günstige Vertragsbedingungen zu beeinflussen. Insbesondere für die Leistungserbringer können sich im Vergleich zum herkömmlichen Kollektivvertragssystem absolute Honorarzuwächse oder vorteilhafte Vergütungsmodalitäten, wie die Pünktlichkeit der Zahlungen, ergeben.282

C. Zwischenergebnis Der Vertragsarzt übt eine freiberufliche Tätigkeit aus, was das vertragsärztliche System mit seinen vielschichtigen Regelungen nicht zwangsläufig widerspiegelt. Diese Ausgangssituation verdeutlicht die mit der Zulassung erworbene Rechtsposition nach § 95 Abs. 3 SGB V: Neben dem umfangreichen Pflichtenprogramm, das dem Vertragsarzt mit der Zulassung aufgebürdet wird, erscheinen die hiermit einhergehenden Rechte vergleichsweise gering. Unabhängig davon, ob es sich um 276

HK-AKM / Schiller / Rückeshäuser, Selektivverträge Nr. 4835 Rn. 93 f.; vgl. für die hausarztzentrierte Versorgung Wenner, Vertragsarztrecht, § 11 Rn. 2; für die besondere Versorgung Krauskopf / Engels SGB V § 140a Rn. 28. 277 BT-Drs. 16/3100, S. 112 für die hausarztzentrierte Versorgung, BT-Drs. 18/4095, S. 129 für die integrierte Versorgung; s. a. jurisPK-SGB V / Matthäus § 73b Rn. 55; s. a. HK-AKM / Schiller / Rückeshäuser, Selektivverträge Nr. 4835 Rn. 143 ff.; anders Sodan / Weidenbach, Krankenversicherungsrecht, § 31 Rn. 15, der von einer gemeinsamen Tragung durch die „Vertragspartner“ ausgeht; ähnlich KassKomm / Hess, SGB V § 140a Rn. 8. 278 So Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Bäune, SGB V § 75 Rn. 4 und Fn. 11; ähnliche Befürchtungen äußern Wigge / Harney, MedR 2008, 139, 144, 149 und Kingreen / Temizel, ZMGR 2009, 134, 141 f. 279 So auch Möschel, MedR 2003, 133, 134; s. a. Kluth, MedR 2003, 123, 125 ff. 280 Vgl. die Gesetzesbegründung zur Einführung der integrierten Versorgung durch das GMG, BT-Drs. 15/1525 S. 130; für die hausarztzentrierte Versorgung BT-Drs. 15/1525, S. 97. 281 Kritisch hierzu Schütz, MedR 2015, 162, 163, 166; s. a. Fn. 268. 282 Rehborn, Vertragsarztrecht zu Beginn des 21. Jahrhunderts, S. 811, 813, 827; Jacobs, FS Wille, S. 325, 337 f.

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2. Kap.: Grundfragen der vertragsärztlichen Tätigkeit

die Ausgestaltung der Sprechstundenzeiten, die Ausstattung der Praxis, das Verordnungs- und Behandlungsverhalten oder das ärztliche Honorar handelt, hat nahezu jeder Bereich der vertragsärztlichen Tätigkeit im Laufe der Entwicklung des Vertragsarztrechts eine gesetzliche, kollektivvertragliche oder andere untergesetzliche Regulierung erfahren.283 Hiermit sind zwangsläufig Beschränkungen der in Art. 12 Abs. 1 GG verbürgten Freiheit des Vertragsarztes verbunden, die jedoch zum Schutze der höherrangigen Gemeinwohlbelange der finanziellen Stabilität und Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung gerechtfertigt sind.284 Gleichwohl erweist es sich für die Ärzteschaft als Vorteil, dass die Rechtsbeziehungen innerhalb des Kollektivvertragssystems über die jeweiligen Verbände ausgestaltet werden. Hierdurch erhalten sie, anders als in der Vergangenheit, eine gleichberechtigte Einflussnahme und Mitwirkungsbefugnis.285 Gleichzeitig ermöglicht der zwangsweise Zusammenschluss in der Selbstverwaltungskorporation KV eine Kollektivierung der ärztlichen Interessen sowie eine allumfassende Organisation ärztlicher Angelegenheiten, der die heutige Ärzteschaft allerdings ambivalent gegenübersteht.286 Die Möglichkeiten des Selektivvertragsabschlusses stehen unter dem Zeichen eines Ausbruchs aus dem bisher bewährten Kollektivvertragssystem, die sich jedoch angesichts rechtlicher Umsetzungsschwierigkeiten noch als erfolgversprechende Alternative unter Beweis stellen müssen.287 Die Eingliederung des Vertragsarztes in das öffentlich-rechtliche Gesundheitssystem lässt sich folglich nicht anhand einer quantitativen Gegenüberstellung seiner Rechte und Pflichten bewerten. Gleichwohl ist insgesamt eine Tendenz der zunehmenden Regulierung der vertragsärztlichen Tätigkeit festzustellen,288 die nicht nur für Kritik in der Ärzteschaft sorgt, sondern auch Anlass für Protestmaßnahmen bieten kann. Auf lange Sicht muss sich der Gesetzgeber damit auseinandersetzen, ob eine derartige Entwicklung förderlich für die Gewährleistung der Gesundheitsversorgung ist, zumal der freiberufliche Vertragsarzt im aktuellen System ein unerlässlicher Hauptakteur ist.

283

Vgl. 2.  Kap. B. I. 2. b). S. bspw. die zeitlich begrenzten Preissenkungen, Hess, VSSR 1994, 395, 401; die Aufteilung der Gesamtvergütung in leistungsbezogene Teilbudgets, BSG Urt. v. 29. 9. 1993 – 6 RKa 65/91, BSGE 73, 131 ff. und BSG Urt. v. 7. 2. 1996 – 6 RKa 61/94, BSGE 77, 279 ff.; Altersgrenzen für Kassenärzte, BVerfG Beschl. v. 20. 3. 2001 – 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172; Zulassungsbeschränkungen bei Überversorgung, BVerfG Nichtannahmebeschl. v. 27. 4. 2001 – 1 BvR 1282/99, MedR 2001, 639; die Präsenzpflicht, BSG Urt. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112; die Therapiefreiheit, BSG Urt. v. 5. 5. 1988 – 6 RKa 27/87, BSGE 63, 163; für weitere Einschränkungen der ärztlichen Tätigkeit s. Boecken, FS Mauer, 1091, 1098 ff. 285 Vgl. 1. Kap. A., B., D. 286 S. o. 2.  Kap. B. I. 1. c). 287 S. o. 2.  Kap. B. III. 288 Vgl. hierzu 2. Kap. B. 2. b). 284

3. Kapitel

Die Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung nach der Konzeption des Vertragsarztrechts A. Ausgangslage Das Vertragsarztrecht wurde in den vergangenen Jahren durch zahlreiche gesetzliche und untergesetzliche Vorgaben zu einem umfassenden Regelungssystem ausgestaltet. Vertragsärzte werden hierdurch zunehmend in ihrer Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG beschränkt.289 Diese Tendenz wird ganz wesentlich durch die höchstrichterliche Rechtsprechung verstärkt: In den vergangenen Jahren wurden Einschränkungen der ärztlichen Berufsfreiheit in nahezu „stereotyper“ Weise mit der Sicherung der finanziellen Stabilität und der Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung gerechtfertigt.290 Diese Grundsätze stellen hochgewichtige Gemeinwohlbelange dar. Besonders der Sicherung der finanziellen Stabilität darf sich der Gesetzgeber nicht entziehen.291 Schließlich bildet die gesetzliche Krankenversicherung in organisatorischer und institutioneller Hinsicht die Grundlage für die heutige Gesundheitsversorgung der Gesamtbevölkerung. Metaphorisch wird auch von einem „Versorgungsschiff mit Tankerausmaß gesprochen, dessen Kurs niemand gefährden möchte“.292 Den schleichenden Entwertungsprozess der Berufsfreiheit bestätigt Hufens Analyse, der zufolge eine Anwendung der Rechtsprechung des BVerfG zu anderen Bereichen der Berufsfreiheit auf die gesetzliche Krankenversicherung dazu führe, dass „viele der ergriffenen Maßnahmen verfassungswidrig [seien]“.293 289

Vgl. 2. Kap. A. II., III., B. I. 2. b); Hufen, Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, S. 27 ff. Ebenfalls durch die Regelungen des Vertragsarztrechts betroffen sind die Eigentumsfreiheit aus Art. 14 GG, der Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG und die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG. Die vorliegende Arbeit fokussiert sich auf die Berufsfreiheit, da sie als Maßstab für sämtliche Aspekte der Regulierung der vertragsärztlichen Leistungserbringung dient, Becker / Meeßen / Neueder / Schlegelmilch / Schön / Vilaclara, VSSR 2011, 323, 343; vgl. auch die beispielhafte Aufzählung bei Schnapp / Wigge / Schnapp / Nolden, HB des Vertragsarztrechts, § 4 Rn. 50 ff. 290 So ausdrücklich Joussen, GuP 2016, 1, 6; s. a. Sodan / Sodan, Krankenversicherungsrecht, § 2 Rn. 84; HStR / A xer, § 95 Rn. 31; Hufen, NJW 1994, 2913, 2918; BVerfG Beschl. v. 20. 3. 2001 – 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172, 184. 291 BVerfG Urt. v. 31. 10. 1984 – 1 BvR 35, 356, 794/82, BVerfGE 68, 193, 218. 292 Steiner, FS Deutsch, S. 635, 639. 293 Hufen, NJW 2004, 14, 18; ders., NJW 1994, 2913, 2917 f.; s. a. Rixen, MedR 2018, 667, 668.

62

3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

Der Berufsfreiheit der Ärzte wird im Vertragsarztsystem wenig bis nahezu kein Gehör geschenkt, sodass sie sich mittlerweile als „stumpfes Schwert“294 oder „zahnloses Versprechen“295 für die Vertragsärzte erweist.296 Der Gesetzgeber fördert diesen Prozess unaufhaltsam, wie die zahlreichen Gesetzesreformen der vergangenen Jahre belegen. Mit neuen Vorkehrungen soll zum Zwecke der finanziellen Stabilität der GKV und der Sicherung einer flächendeckenden Versorgung den sich ändernden Lebensumständen der Bevölkerung, dem medizinischen und technischen Fortschritt sowie dem hieraus resultierenden Kostendruck im System Rechnung getragen werden.297 Die jüngsten Beispiele sind das GKV-VSG, das mit den vorgesehenen Terminservicestellen oder der Neuregelung des Praxiskaufs den „selbstständigen Arzt in freier Praxis zunehmend an den Rand [drängt]“,298 sowie das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) vom 6. 5. 2019, das Vertragsärzte gegen entsprechende extrabudgetäre Vergütungsanreize dazu verpflichtet, ihr Sprechstundenangebot zur Verbesserung des Versorgungsangebotes zu erhöhen.299 Bei der Ausgestaltung des Vertragsarztrechts obliegt es dem Gesetzgeber, einen möglichst gerechten Ausgleich zwischen den kollidierenden Rechtsgütern herzustellen. Zur Erfüllung der zugunsten der Versicherten bestehenden Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG ist er verpflichtet, eine ausreichende und angemessene Gesundheitsversorgung zu garantieren  – gerade auch im Hinblick auf das Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG.300 Hierbei müssen aber auch die Rechte der Leistungserbringer, insbesondere die Berufsfreiheit aus Art. 12 GG, ausreichend Berücksichtigung finden.301 Die Rechtsprechung gewährt dem Gesetzgeber einen sehr großen Vertrauensvorschuss in Form eines weiten Gestaltungsspielraumes für den sozial- und gesellschaftspolitischen Bereich.302 Rechtsprechung und Gesetzgeber fördern folglich unter dem Vorwand des Systemerhalts einen schleichenden Bedeutungsverlust der ärztlichen Berufsfreiheit und entwerten damit die Abwehrmöglichkeiten der Vertragsärzte gegen Einschränkungen innerhalb des Systems. Vertragsärzte stehen Eingriffen in ihre Berufsfreiheit daher teilweise schutzlos

294

Schnapp / Wigge / Schnapp / Nolden, HB des Vertragsarztrechts, § 4 Rn. 78; HStR / A xer, § 95 Rn. 31. 295 Rixen, MedR 2018, 667. 296 Joussen, GuP 2016, 1, 6; Rixen, MedR 2018, 667, 668 f. 297 Schnapp / Wigge / Schnapp, HB des Vertragsarztrechts, § 1 Rn. 66; ausf. zu allen wesentlichen Gesetzesreformen § 1 Rn.  45 ff.; Quaas / Zuck / Clemens / Quaas, Medizinrecht, § 4 Rn. 87. 298 Gassen, GuP 2016, 22, 23. 299 Terminservice- und Versorgungsgesetz v. 6. 5. 2019, BGBl. I, S. 646; BT-Drs. 19/63377, S. 2. 300 Vgl. BVerfG Urt. v. 8. 4. 1981  – 1 BvR 608/79, BVerfGE 57, 70, 98 f.; BVerfG Urt. v. 10. 6. 2009 – 1 BvR 706/08, BVerfGE 123, 186, 242. 301 Sodan / Sodan, Krankenversicherungsrecht, § 2 Rn. 82; vgl. HS-KV / Merten, § 5 Rn. 59 ff. 302 BVerfG Beschl. v. 14. 10. 1970 – 1 BvR 307/68, BVerfGE 29, 221, 235; BVerfG Beschl. v. 11. 3. 1980 – 1 BvL 20/76, BVerfGE 53, 313, 326; BVerfG Beschl. v. 6. 10. 1987 – 1 BvR 1086/82, BVerfGE 77, 84, 106; BSG Urt. v. 30. 11. 2017 – B 3 P 5/16 R, SGb 2019, 38, 42; s. a. Rixen, MedR 2018, 667, 668; Joussen, GuP 2016, 1, 6; Wenner, Vertragsarztrechts, § 1 Rn. 5, § 2 Rn. 25.

A. Ausgangslage

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gegenüber.303 Diese eher „schwache“ Ausgestaltung der Stellung der Vertragsärzte innerhalb des Vertragsarztsystems verwundert, zumal sie für das Funktionieren des heutigen ambulanten Gesundheitssystems unerlässlich sind, wenn nicht sogar der „wichtigste Garant für die Volksgesundheit“.304 Ihrer zentralen Funktion entsprechend sollten sie innerhalb des Vertragsarztrechts eine mit angemessenen Befugnissen ausgestattete Rechtsstellung genießen und nicht zu fremdgesteuerten Akteuren degradiert werden. Dies erfordert bereits die in Art. 12 Abs. 1 GG verbürgte Berufsfreiheit.305 Es drängt sich daher die Frage auf, wie Vertragsärzte ihre Interessen und damit ihre Stellung innerhalb des Systems wahren können. Eröffnet ihnen die Konzeption des Vertragsarztrechts ausreichende Möglichkeiten zur Einbringung und Durchsetzung ihrer Interessen? Der heutigen Ärzteschaft gelang es zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sich „so stark und so vollzählig nach gewerkschaftlichen Grundsätzen [zu organisieren]“, wie kaum einem zweiten Berufsstand in Deutschland.306 Ihr vehementes und geschlossenes Vorgehen zur Interessendurchsetzung erwies sich als äußerst erfolgversprechend, was nicht zuletzt die dieser Zeit entsprungenen und bis heute bewährten Grundstrukturen unseres Gesundheitssystems belegen, insbesondere das Kollektivvertragssystem, die KVen und das einheitliche Vergütungssystem. Neben öffentlichen Protesten und medialen Aufrufen griff die Ärzteschaft zu zahlreichen „Kampfmaßnahmen“.307 Doch auch in jüngerer Vergangenheit verlieh die Ärzteschaft ihren Interessen mittels „Kampfmaßnahmen“ wie dem kollektiven Zulassungsverzicht,308 dem Chipkartenboykott309 oder Praxisschließungen310 besonderen Nachdruck. Diesem Verhalten der Ärzteschaft ist die höchstrichterliche Rechtsprechung zuletzt deutlich entgegengetreten: Das BSG entschied am 30. 11. 2016, dass sich die „Unzulässigkeit von gegen die Krankenkassen (und ggf. auch gegen die KÄVen) gerichteten ‚Kampfmaßnahmen‘ der Vertragsärzte […] aus der gesetzlichen Kon-

303

Laut Rixen ist die Berufsfreiheit bedeutungslos für die Vertragsärzte, MedR 2018, 667, 675. Ausdrücklich Taupitz, MedR 2003, 7; s. a. BVerfG Urt. v. 20. 3. 2001 – 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172, 186. 305 Von einer Garantenstellung des Staates spricht Hufen, MedR 1996, 394, 397. 306 Heinemann, Kassenarztrecht, S. 4. 307 Ausf. zu den Errungenschaften der Ärzte und deren „Kampfmaßnahmen“ 1. Kap. A. 308 S. Fn. 108. 309 Beim Chipkartenboykott behandeln Ärzte ihre Patienten nur noch auf Rechnung und unter Verweis auf die Möglichkeit der Kostenerstattung, ausf. Auktor, MedR 2003, 503; vgl. zum Chipkartenboykott der niedersächsischen Ärzte im Jahre 1994 Pitschas, FS Boujong, S. 613, 624. 310 2003 schlossen zahlreiche Ärzte aus Protest gegen die rot-grüne Gesundheitspolitik ihre Praxen, s. FAZ online Meldungen v. 22. 1. 2003, Tausend Ärzte streiken; zuletzt schlossen 6 Ärzte in Baden-Württemberg ihre Praxen, s. BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 113. 304

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

zeption des Vertragsarztrechts“ ergibt. Denn mit der Ausgestaltung eines in sich geschlossenen Systems habe der Gesetzgeber die partiell gegenläufigen Interessen der Krankenkassen auf der einen und der Leistungserbringer auf der anderen Seite zum Ausgleich gebracht, um die vertragsärztliche Versorgung der Versicherten zu angemessenen Bedingungen sicherzustellen.311 Auf den ersten Blick ist die Aussage des BSG etwas missverständlich, da die Verwendung des Perfekts (gebracht hat) den Eindruck erweckt, das BSG gehe von einem bereits erfolgten Interessenausgleich innerhalb des Systems aus. Unter dieser Voraussetzung wäre es denkbar, dass sich der Einsatz von „Kampfmaßnahmen“ erübrigt, da für keine der beiden Parteien ein richtiger Anlass hierzu gegeben ist. Doch hätte diese Interpretationsweise nur vor dem Hintergrund der Unveränderbarkeit aller inneren und äußeren Gegebenheiten, die das System beeinflussen, Bestand. Ein System wie das Gesundheitssystem unterliegt aufgrund zahlreicher gesetzlicher, technisch-innovativer und versorgungsrelevanter Aspekte einem ständigen Anpassungsdruck.312 In diesem Sinne sind auch die Ausführungen des BSG zu verstehen. Mit der Verwendung der Begriffe „Konzeption“ und „konzipieren“ bringt das BSG zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber mit dem Vertragsarztrecht ein System entwickelt hat, welches die Grundvoraussetzungen für einen beiderseitigen Interessenausgleich der Parteien schafft und „vorrangig auf einen [solchen] ausgerichtet“ ist.313 Dass hiermit jedoch keine Garantie für einen erfolgreichen Ausgleich und eine umfassende Berücksichtigung der widerstreitenden Interessen verbunden ist, verdeutlicht das BSG bereits selbst, indem es in seine Argumentation das Bestehen „unüberbrückbarer Gegensätze“ mit einbezieht.314 Gleichwohl geht das BSG davon aus, dass die ärztlichen Interessen innerhalb der auf einen Ausgleich ausgerichteten Konzeption des Vertragsarztrechts ausreichend berücksichtigt werden. Denn auch für den Fall „unüberbrückbarer Gegensätze“ seien Mechanismen vorgesehen, die zwar in erster Linie die Versorgung der Versicherten gewährleisten würden, gleichzeitig aber in ausreichendem Umfang eine Berücksichtig der ärztlichen Interessen sicherstellten. Vertragsärzte seien „keineswegs schutzlos gestellt“, sodass diese zur Durchsetzung ihrer Interessen keiner „Kampfmaßnahmen“ bedürften.315 Das BSG stellt die Konzeption des Vertragsarztrechts an den Ausgangspunkt seiner Argumentation und betont, dass Interessengegensätze zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen ausschließlich mit Hilfe der vorgesehenen Mittel des Systems aufzulösen sind. Die Ärzteschaft wird folglich zur Wahrung ihrer Interessen auf die abschließend im System genannten Möglichkeiten verwiesen. 311

BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 120. Schnapp / Wigge / Schnapp, HB des Vertragsarztrechts, § 1 Rn. 66. 313 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 120 f. 314 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 120. 315 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 147; vgl. auch die Anmerkung von Ruppel / Peters, GuP 2017, 104, 107 und Diering, ersatzkasse magazin 2017, 12. 312

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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Das folgende Kapitel untersucht, ob Vertragsärzten nach der Konzeption des Vertragsarztrechts effektive Möglichkeiten zur Einbringung und Durchsetzung ihrer Interessen zustehen.

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht Hauptakteure des Vertragsarztsystems sind einerseits die Vertragsärzte als Leistungserbringer und andererseits die Krankenkassen, die ihren Mitgliedern gegenüber zur Leistungsverschaffung verpflichtet sind. Die Krankenkassen stehen als Nachfrager für Behandlungsleistungen den KVen als Organisation der Leistungserbringer mit antagonistischen Interessen gegenüber.316 Denn während die Ärzte an der Erbringung ihrer Leistungen für eine entsprechend angemessene Vergütung interessiert sind, streben die Krankenkassen nach einer umfassenden, zweckmäßig und vor allem wirtschaftlichen Versorgung für ihre Versicherten.317 Um bei dieser Ausgangslage eine umfangreiche vertragsärztliche Versorgung für die Bevölkerung gewährleisten zu können, kommt es entscheidend auf das Zusammenspiel dieser beiden Akteure an, für dessen reibungsloses Funktionieren ein gleichberechtigtes Miteinander – ein Zusammenwirken auf Augenhöhe – Voraussetzung ist.318 Dies erkannte bereits der damalige Gesetzgeber des GKAR und etablierte als tragenden Grundgedanken des Kassenarztrechts in § 368 Abs. 1 S. 1 RVO das Zusammenwirkungsgebot.319 Hiermit wird die Kooperationspflicht der Beteiligten zum Ausdruck gebracht, die vor allem die Pflicht beinhaltet, alles zu unterlassen, was dem gemeinsamen Bestreben zuwiderlaufen könnte.320 Die beiderseitige Beziehung sollte „aufbauend auf der Selbstverwaltung der Krankenkassen […] und der KVen […] auf dem Boden der Gleichberechtigung und der gleichen Verantwortung“ geregelt werden.321 Ärzte und Krankenkassen stehen sich also nach der gesetzlichen Konzeption nicht als Kontrahenten, sondern als Partner einer gemeinsam zu erfüllenden Aufgabe gegenüber.322 Auch heute findet sich das Zusammenwirkungsgebot an prominenter Stelle im Vertragsarztrecht in § 72 Abs. 1 SGB V, ergänzt um den Regelungsauftrag in 316

Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, S. 381. Holzner, Konsens im Allgemeinen Verwaltungsrecht und in der Demokratietheorie, S. 243, 443; Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, S. 49; Taupitz, MedR 2003, 7, 10. 318 Vgl. Jörg, Das neue Kassenarztrecht, Rn. 3. 319 Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 97; Jantz / Prange, Das gesamte Kassenarztrecht, Vorwort. 320 Vgl. Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 207. 321 BT-Drs. 1/3904, S. 16; s. a. Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 97 ff. 322 Albrecht, ZfS 1957, 146, 147; Albrecht, ZfS 1975, 180, 183; Axer, FS 50 Jahre BSG, S. 339, 341 f.; die Grundlagen wurden bereits mit den Notverordnungen 1930/31 gelegt, s. o. 1. Kap. D. 317

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

Abs. 2, „die vertragsärztliche Versorgung im Rahmen höherrangigen Rechts planend und gestaltend durch öffentlich-rechtliche Verträge bei Wahrung eigener Gruppeninteressen, jedoch im Geiste der gemeinsamen Sicherstellungsverpflichtung zu vereinbaren“.323 Diese Aussage unterstreicht die potentielle Gefahr von Interessenkollisionen bei der Umsetzung dieses beide Parteien einenden Auftrags. Das Vertragsarztrecht sieht neben den hier genannten schriftlichen Verträgen weitere Kooperationsformen bzw. -instrumente324 zum Ausgleich der divergierenden Parteiinteressen vor, die Zusammenarbeit in paritätisch besetzten Ausschüssen und in den zur Absicherung des Kooperationsprozesses institutionalisierten Schiedsämtern gem. § 89 Abs. 1 und Abs. 2 SGB V.325 Im Folgenden sollen diese drei Kooperationsformen, die als Instrumente des Interessenausgleichs fungieren,326 dahingehen überprüft werden, inwiefern sie sich aus der Perspektive der Ärzteschaft zur Interessenwahrung eignen. Dabei soll zwischen den Möglichkeiten zur Einbringung und zur Durchsetzung von Interessen differenziert werden. Die einzelnen Instrumente werden in einem ersten Schritt dahingehend untersucht, inwiefern Vertragsärzte ihre Interessen bereits im Vorfeld einer finalen Entscheidung, während des Einigungs- und Aushandlungsprozesses, einbringen können. In einem zweiten Schritt wird geprüft, ob sich die zuvor eingebrachten Interessenstandpunkte auch in einem Vertrag, Beschluss oder einer Einzelentscheidung niederschlagen – sie also effektiv durchgesetzt werden können.

I. Die Kollektivverträge 1. Motive für die Entstehung des Kollektivvertragssystems Die Ersetzung der Einzelverträge durch Kollektivverträge stellte im 20. Jahrhundert eine der Hauptforderungen der Ärzteschaft im Streit mit den Krankenkassen um die Ausgestaltung ihrer Beziehung und mittelbar des Gesundheitssystems dar. Durch die Etablierung eines für alle Ärzte verbindlichen Kollektivvertrages, in dem die ärztlichen Organisationen mit den Krankenkassen einheitliche Vertragsbedingungen festlegten, erhoffte sich die Ärzteschaft eine Befreiung aus der wirtschaftlichen und beruflichen Abhängigkeit von den machtvollen Krankenkassen und eine Stärkung ihrer Position.327 Die Umsetzung dieser Forderung sollte erst nach einigen durch Streik und Auseinandersetzung geprägten Jahren erfolgen: Der 323

JurisPK-SGB  V / Hesral, § 72 Rn. 8. Ausf. zum Begriff der Kooperation, Schuler-Harms, Steuerungsinstrumente im Recht des Gesundheitswesens, Band 2: Kooperation, S. 23 ff. 325 Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 19 Rn. 16; Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, S.  288 ff.; Schnapp / Wigge / Berner, HB des Vertragsarztrechts, § 8 Rn. 5. 326 Zum Begriff des Instruments des Interessenausgleichs s. o. Fn. 7. 327 S. o. 1.  Kap. A. I.; s. nur Klette, Die Kassenarztverträge der sozialen Krankenversicherung, S. 52 f. 324

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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Individualvertrag zwischen Arzt und Krankenkasse überdauerte sowohl das Berliner Abkommen von 1913 als auch die Verordnung vom 30. 10. 1923. Erst mit den Notverordnungen von 1930/31 und der Institutionalisierung der KVen als „Träger der Beziehungen der Kassenärzte zu den Krankenkassen“328 wurde der Kollektivvertrag endgültig als Grundlage zur Regelung der Rechtsbeziehungen anerkannt. Seither sind die rechtlichen Beziehungen der Beteiligten in der für das Vertragsarztrecht prägenden Viereckstruktur organsiert, wonach die jeweiligen Verbände auf übergeordneter Stufe kollektive Verträge mit normativer Wirkung für ihre Mitglieder vereinbaren.329 Diese Umstrukturierung des Systems führte die von der Ärzteschaft lang ersehnte Veränderung der Machtverhältnisse herbei. Mit der gesetzlichen Anerkennung der KVen als ärztliche Interessenvertretungen und als Vertragspartner der Krankenkassen standen die Ärzte den übermächtigen Krankenkassen nicht mehr als einzelne, sondern als gleichberechtigte Vertragspartner mit Rechtsetzungsmacht gegenüber. Ihre Interessen konnten sie fortan gezielt bündeln und ihre Verhandlungsmacht deutlich stärken. Die individualvertragliche Lösung, die die Krankenkassen zur Durchsetzung eigener Interessen über viele Jahre hinweg systematisch ausgenutzt hatten, wurde folglich durch eine als Gegenmachtmodell ausgestaltete Mitbestimmungslösung ersetzt.330 Die Idee, zur Herstellung eines ausgeglichenen Machtverhältnisses zwischen den Parteien auf ein bipolares Modell zurückzugreifen, war jedoch nicht neu: Der Gesetzgeber entwickelte die Strukturen des Kollektivvertragssystems bewusst in Anlehnung an das arbeitsrechtliche Tarifvertragsmodell.331 Das Modell der tariflichen Normensetzung durch die Spitzenverbände der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer hatte sich bereits früh als taugliches Konzept zur Herstellung eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen den Parteien erwiesen. Es gründete auf der Erkenntnis, dass die unmittelbar Betroffenen ihre widerstreitenden Interessen besser in eigener Verantwortung zum Ausgleich bringen können als der Gesetzgeber.332 Gleichzeitig zielte die kollektivvertragliche Regelsetzung darauf ab, die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers beim Abschluss von Arbeitsverträgen auszugleichen.333 Eine gewisse Vergleichbarkeit der Ausgangskonstellationen war nicht zu verneinen, insbesondere was das signifikante Kräfteungleichgewicht zwischen dem ein 328 Vgl. § 1 der Verordnung über die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands vom 2. 8. 1933, RGBl. I. S. 567. 329 S. 1. Kap. A. IV; ferner Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 100, 110. 330 So Schirmer, MedR 1996, 404, 409; s. a. Krauskopf / Sproll SGB V § 75 Rn. 7. 331 S. den Entwurf eines Gesetzes über die Regelung der Beziehungen zwischen Ärzten, Zahnärzten und Krankenkassen, BT-Drs. 2/87, S. 17; Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 228 f.; Burkardt, Ärztliche Standespflichten und Streikrecht der Kassenärzte und der in Krankenhäusern privatrechtlich angestellten Ärzte, S. 24 ff.; Küchenhoff, RdA 1955, 413, 417 f.; Zacher, ZSR 1966, 129, 157; s. a. BSG Urt. v. 30. 5. 1969 – 6 RKa 13/67, BSGE 29, 254, 255 f. 332 BVerfG Beschl. v. 27. 2. 1973 – 2 BvL 27/69, BVerfGE 34, 307, 317. 333 BVerfG Beschl. v. 26. 6. 1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212, 229.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

zelnen Arzt und den marktmächtigen Krankenkassen anbelangt. Der Gesetzgeber erhoffte sich daher, mit der Entwicklung eines kollektivvertraglichen Kassenarztsystems ähnliche ausgleichende Effekte für die Beziehung zwischen Ärzten und Krankenkassen zu erzielen. Einer der Leitgedanken des Gesetzgebers war es, die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Krankenkassen und Ärzten zu fördern und damit die Versorgung der Versicherten gewährleisten zu können.334 Die Anlehnung an das arbeitsrechtliche Modell belegen auch die teilweise verwendeten Bezeichnungen der KVen als „Genossenschaften“ der Ärzteschaft oder des Kollektivvertrages als „Genossenschaftsvertrag“.335 Insgesamt ist die Etablierung der kollektivvertraglichen Strukturen des heutigen Vertragsarztrechts auf folgende Gründe zurückzuführen: Zum einen zählte die Einführung eines Kollektivvertragssystems zu den Hauptforderungen der Ärzteschaft, für die sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit kämpferischem Nachdruck eintraten.336 Zum anderen erwies sich die kollektivvertragliche Konzeption basierend auf einer gemeinsamen Selbstverwaltung der Akteure als friedenstiftendes und beständiges Modell zur Organisation der Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen und hat sich daher bewährt.337 2. Die Kollektivverträge als Steuerungsebene des Zusammenwirkens Kennzeichen des heutigen Vertragsarztrechts ist dessen kollektivvertragliche Ausgestaltung.338 Das System gliedert sich in eine zweistufige Struktur, wobei auf oberster Stufe die Bundesmantelverträge und auf untergeordneter Stufe die Gesamtverträge stehen.339 Vertragsparteien der Verträge sind die jeweiligen Verbände der Krankenkassen und Vertragsärzte auf Bundes- und auf Landesebene. Daher vereinbaren die Kassenärztliche (Bundes-)Vereinigung und der GKV-Spitzenverband bzw. der Landesverband der Krankenkassen im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben und Richtlinien die Inhalte der vertragsärztlichen Versorgung in ihrer Gesamtheit.340 Hierbei gibt das mehrstufige System den Parteien eine klare 334 BT-Drs. 2/87, S. 16 f.; Kingreen / Temizel, ZMGR 2009, 134, 140; Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, S. 386 f. 335 So bspw. Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 34; Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 20 Rn. 9; Schirmer, MedR 1996, 404, 411 f.; Krause, SGb 1981, 404, 405 bezeichnete die Bildung von Ärzteorganisationen als „gewerkschaftsähnliche Solidarisierung“. 336 Vgl. jeweils die einzelnen Entwicklungsetappen des Kassenarztrechts im 1. Kap. 337 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 92. 338 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 125; Becker / K ingreen / Huster, SGB V § 72 Rn. 4. 339 Die zweistufige Systematik wurde erst durch das KVKG eingeführt und löste das dreistu­ fige System von Kollektivverträgen ab, Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, S. 28 f. 340 KassKomm / Hess, SGB V § 82 Rn. 3; Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 684.

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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Struktur vor: In den Bundesmantelverträgen können die Parteien gem. § 82 Abs. 1 SGB V allgemeine Bestimmungen mit bundeseinheitlicher Geltung treffen. Im Rahmen dieser allgemeinen Inhalte können sie sodann auf Landesebene in den Gesamtverträgen gem. § 83 Abs. 1 SGB V konkretere, auf die regionalen Besonderheiten bezugnehmende Vorgaben vereinbaren.341 Die Kollektivverträge besitzen als Normensetzungsverträge342 nicht nur für die vertragsschließenden Parteien, sondern auch für deren jeweilige Mitglieder Verbindlichkeit. Denn neben einem obligatorischen Vertragsbestandteil, der allein die Vertragspartner bindet, beinhalten die Kollektivverträge einen normativen Teil, dessen abstrakt-generelle Regelungen Rechte und Pflichten der nicht am Vertrag Beteiligten begründen. Diese Verbindlichkeitsanordnung lässt sich u. a. aus den gesetzlichen Vorgaben der §§ 82 Abs. 1, 83 Abs. 1 und 95 Abs. 3, Abs. 4 SGB V ableiten, wird aber zusätzlich gem. §§ 81 Abs. 3 Nr. 1, 210 Abs. 2 SGB V durch Satzungsanordnungen sichergestellt.343 Die Parteien verfügen mit den §§ 82 ff. SGB V folglich über ein Gestaltungsinstrument, das sie zum Zwecke der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung einsetzen.344 Voraussetzung hierfür ist das Zustandekommen der Kollektivverträge. Dies kann auf zwei Wegen erfolgen: durch vertragliche Einigung der Parteien oder im Falle der Nichteinigung durch rechtsetzenden Akt der Schiedsämter gem. § 89 SGB V.345 Wie für den Abschluss eines privatrechtlichen Vertrages setzt der erfolgreiche Abschluss eines Kollektivvertrages eine Einigung zwischen Ärzten und Krankenkassen hinsichtlich der wesentlichen Vertragsinhalte durch zwei übereinstimmende Willenserklärungen voraus. Allerdings unterscheidet sich dieser Prozess des Zustandekommens in zwei Aspekten von privatautonomen Vertragsverhandlungen. Zum einen kann die bloße Existenz der Schiedsämter und die potentielle Festsetzung des Vertrages durch einen Schiedsspruch den autonomen Einigungsprozess der Parteien „im Wege der Vorwirkung“ beeinflussen. Jede Partei muss bereits zu Beginn der Vertragsverhandlungen damit rechnen, im Falle der Nichteinigung einen unerwünschten Inhalt „aufgezwungen zu bekommen“.346 Sie unterliegen folglich einem größeren Zwang, die Interessen des Gegenübers ausreichend zu berücksichtigen; ihnen 341

Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 21 Rn. 3. Andere mögliche Bezeichnungen sind Norm(en)- oder Normativverträge, LPK-SGB V / ​ Engelhart-Au, § 82 Rn. 5; a. A. Schnapp / Wigge / A xer, HB des Vertragsarztrechts, § 10 Rn. 31. 343 Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 21 Rn. 4 ff.; Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 728; Wenner, Vertragsarztrecht, § 12 Rn. 5, 7. 344 Schneider, Kassenarztrecht, S. 205. 345 So war bereits 1932 die Rechtslage, s. Richter, Kassenärzterecht, S. 75. 346 Ebsen, VSSR 1990, 57, 65; ähnlich Krause, VSSR 1990, 107, 110, 115, der von einer „voraus­eilenden Orientierung“ spricht; Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, S. 52, schreibt den Schiedsämtern einen „gewissen Konsensdruck“ zu; die Schiedsentscheidung als „schwebendes Damoklesschwert“ bezeichnend Jantz / Prange, Das gesamte Kassenarztrecht, Teil C II. § 368 h, S. 8. 342

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

wird insofern eine gesteigerte Konsensbereitschaft abverlangt.347 Es kann daher davon ausgegangen werden, dass die Parteien – in dem Wissen um eine potentielle schiedliche Zwangsfestsetzung – ihre Interessen und Forderungen strategisch und nicht im Sinne eines unvoreingenommenen, autonomen Einigungsprozesses in die jeweiligen Verhandlungen einbringen.348 Zum anderen genießen die Kollektivvertragspartner keine Vertragsabschlussfreiheit, da § 72 Abs. 1, Abs. 2 SGB V sie zum Zusammenwirken und damit zum Vertragsabschluss verpflichtet.349 Sie sind daher gezwungen, so lange mit der ande­ ren Partei zu verhandeln, bis für beide Parteien ein konsensfähiger Inhalt, also ein sachgerechter Ausgleich ihrer unterschiedlichen Interessen, gefunden ist.350 Die Möglichkeit, bei einem für sie ungünstigen Verhandlungsausgang vom Abschluss des Vertrages Abstand zu nehmen, haben sie nicht. Die zweite Möglichkeit des Zustandekommens der Verträge ergibt sich aus § 89 Abs. 3 SGB V. Hiernach setzt das Schiedsamt für den Fall des Scheiterns der Verhandlungen den Vertragsinhalt fest. Der ursprünglich zwischen den Vertrags­ partnern stattfindende Einigungsprozess wird auf das paritätisch besetzte Schiedsgremium verlagert und von weisungsfrei agierenden Mitgliedern geführt und entschieden.351 Mit der Kooperationsform des Vertrages schafft der Gesetzgeber optimale Grundvoraussetzungen für die Herbeiführung eines Interessenausgleichs.352 Das sich aus den §§ 82 ff. SGB V ergebende Verhandlungsprinzip zwingt die Parteien zum Ausgleich ihrer widerstreitenden Interessen, um den Abschluss eines Vertrages zu erzielen.353 Die „Vorwirkung“ eines potentiellen Schiedsverfahrens auf den Einigungsprozess ändert nichts an der abstrakten Geeignetheit der Kollektivverträge als Instrument des Interessenausgleichs zwischen Ärzten und Krankenkassen.

347

Schneider, Kassenarztrecht, S. 230. Laut Krause, VSSR 1990, 107, 115 wird dies dadurch belegt, dass die unterschiedlichen Krankenkassenverbände im Zuständigkeitsbereich eines Schiedsamtes die gleichen Verträge abschließen. 349 JurisPK-SGB  V / Hesral, § 72 Rn. 45; von „Vertragszwang“ sprechen Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 229. 350 Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, S. 289; jurisPK-SGB V / Hesral, § 72 Rn. 43; BSG Urt. 16. 9. 1997  – 1 RK 32/95, BSGE 81, 73, 82; bestätigend BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 126. 351 Ausf. zu den Schiedsämtern 3. Kap. B. III. 352 Den Vertrag als „Instrument des Interessenausgleichs“ bezeichnend BSG Urt. v. 9. 12. 2004 – B 6 KA 44/03 R, BSGE 94, 50, 76; s. a. BSG Urt. v. 30. 10. 2013 – B 6 KA 48/12 R, BSGE 114, 274, 288. 353 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 686. 348

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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3. Der Einigungsprozess beim Abschluss der Kollektivverträge Ein geschlossener Kollektivvertrag ist das Ergebnis eines Interessenausgleichs zwischen Krankenkasse und KV, der durch einen vorangegangen Einigungs- und Verhandlungsprozess erzielt wurde. In welchem Umfang die Parteien hierbei ihre jeweiligen Interessenstandpunkte einbringen können, lässt sich einem geschlossenen und in Kraft getretenen Vertrag nur schwerlich entnehmen. Um die ärzt­lichen Möglichkeiten der Interesseneinbringung und -durchsetzung im Rahmen des Kollektivvertragsabschlusses angemessen beurteilen zu können, bedarf es einer Analyse der inhaltlichen Ausgestaltungsbefugnisse der Parteien. a) Der Gestaltungsspielraum der gemeinsamen Selbstverwaltung Für den Abschluss der Bundesmantel- und Gesamtverträge steht den Vertragsparteien grundsätzlich ein weiter Gestaltungsspielraum zur Verfügung.354 Dies ist auf die Entscheidung des Gesetzgebers zurückzuführen, die ambulante ärztliche Versorgung der Versicherten der unmittelbaren Staatstätigkeit zu entziehen und bewusst in die Hände der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen zu legen. Dahinter steht die Erwägung, dass dem Staat sowohl die notwendige Sachkunde als auch die Kapazitäten zum zeit- und sachgerechten Handeln fehlen.355 Den unmittelbar Beteiligten ist es hingegen aufgrund ihrer größeren Sachkunde möglich, eine wirkungsvollere, den Anforderungen am ehesten gerecht werdende, vertragsärztliche Versorgung zu erzielen.356 Ganz zurückhalten kann und darf sich der Gesetzgeber indes nicht, da er die wesentlichen Inhalte der vertragsärztlichen Versorgung vorzugeben hat. Hierzu ist er aufgrund des Vorbehaltes des Gesetzes sowie der Wesentlichkeitstheorie zum Schutze der betroffenen Grundrechte der Ärzte, der Versicherten und der anderen Akteure verpflichtet.357 Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber der gemeinsamen Selbstverwaltung in § 72 Abs. 2 SGB V mit den gesetzlichen Vorschriften sowie den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses einen ausfüllungsbedürftigen Rahmen an die Hand gegeben, den sie eigenständig und selbstverantwortlich gestalten, fortentwickeln und konkretisieren soll.358 § 72 Abs. 2 SGB V stellt zwei Regelungsziele für die Normsetzungstätigkeit der Vertragspartner auf: Die

354

NK-GesundhR / Weinrich, SGB V § 82 Rn. 6, 7; jurisPK-SGB V / Freudenberg, § 82 Rn. 29; Hauck / Noftz / Klückmann, SGB V § 82 Rn. 14; Peters / Hencke, HB der Krankenversicherung, § 82 Rn. 2; Der Entwurf GKAR spricht von einem „notwendigen Spielraum“ BT-Drs. 1/3904, S. 17. 355 Axer, FS 50 Jahre BSG, S. 339, 352; NK-GesundhR / Weinrich, SGB V § 82 Rn. 1. 356 BT-Drs. 1/3904, S. 16; vgl. Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 687. 357 Axer, FS 50 Jahre BSG, S. 339, 352 f.; Reuter / Weinrich, MedR 2013, 584, 585. 358 Das GKAR sollte bewusst auf die „notwendigen Rahmenbestimmungen“ beschränkt werden, s. BT-Drs. 1/3904, S. 17; Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 212, 686 f., 693.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

Verträge sollen einerseits so ausgestaltet werden, dass eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung unter Berücksichtigung des allgemeinen Standes der medizinischen Erkenntnisse sowie andererseits eine angemessene Vergütung der für die Versorgung unerlässlichen Leistungserbringer gewährleistet werden kann.359 Neben diesen allgemeinen Vorgaben hat der grundsätzlich weite Gestaltungsspielraum der gemeinsamen Selbstverwaltung in den letzten Jahren weitreichende Einschränkungen erfahren, da der Gesetzgeber ein „immer dichter werdendes, engmaschiges Netz an Vorgaben und Anforderungen“ strickt.360 Der Umfang des Gestaltungspielraumes, der den Partnern der Selbstverwaltung zur autonomen Ausgestaltung belassen wird, spiegelt sich in der inhaltlichen Struktur der Kollektivverträge wider. Die Regelungsinhalte der Bundesmantel- und Gesamtverträge lassen sich danach differenzieren, ob sie auf eine gesetzliche Anordnung oder eine autonome Entscheidung der Vertragsparteien zurückzuführen sind. Dement­ sprechend werden die Regelungsinhalte auch als vorgeschriebener oder als nicht vorgeschriebener Vertragsbestandteil bezeichnet.361 Bei letzterem verbleibt den Vertragspartnern sowohl hinsichtlich des „Ob“ als auch des „Wie“ ein gestalterischer Spielraum, wohingegen bei der Umsetzung der gesetzlichen Regelungsaufträge allein das „Wie“ des Vertragsinhalts der autonomen Ausgestaltung unterliegt. Je nach Regelungsinhalt variiert folglich der Gestaltungsspielraum der Vertragspartner. Dies wirkt sich auf den Einigungsprozess und den in diesem Zuge stattfindenden Interessenausgleich zwischen den Parteien aus. Ein weiter Gestaltungsspielraum ermöglicht den Parteien, im Rahmen eines offenen Aushandlungsprozesses ihre individuellen Belange einzubringen und mit der Gegenseite auszutarieren. Auch wenn bei einem eingeschränkteren Gestaltungsspielraum den Vertragsparteien zwar gewisse Aushandlungsspielräume verbleiben, fokussiert sich der vertragliche Einigungsprozess in diesem Fall primär auf die Abarbeitung des gesetzlich vorgeschriebenen Programms.362

359 JurisPK-SGB  V / Hesral, § 72 Rn. 40; Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 19 Rn. 14. 360 So ausdrücklich Axer, NZS 2017, 601, 602; ferner Merten, Die Selbstverwaltung im Krankenversicherungsrecht, S. 11, 20; vgl. bspw. die Vorgaben durch das TSVG 3. Kap. B. I. 3. b) bb). 361 JurisPK-SGB  V / Hesral, § 72 Rn. 45; s. a. Borchert, SGb 1997, 201, 202. 362 S. Borchert, SGb 1997, 201, 202, 203; Tiemann / Tiemann, Kassenarztrecht im Wandel, S. 36.

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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b) Der Bundesmantelvertrag-Ärzte aa) Die rechtlichen Ausgestaltungsbefugnisse beim Abschluss des Bundesmantelvertrags Als zentrales Vertragsinstrument legt der Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä)363 gem. § 82 Abs. 1 SGB V den allgemeinen Inhalt der Gesamtverträge fest. Diese weitgefasste Regelungsbefugnis wird allerdings in zweifacher Weise beschränkt: Zum einen kann ausdrücklich die Zuständigkeit der Gesamtvertragspartner normiert sein.364 Zum anderen muss diesen zur Regelung ihrer regionalen Bedürfnisse ein substantieller Regelungsspielraum verbleiben. Notwendiger und zulässiger Inhalt der Bundesmantelverträge sind daher all diejenigen Inhalte, die zur Gewährleistung einer gleichmäßigen Versorgung einer bundeseinheitlichen Regelung bedürfen.365 Hierneben weist das Gesetz den Bundesmantelvertragspartnern weitere spezielle Regelungsaufträge zu. Die Partner müssen bspw. gem. § 87 Abs. 1 S. 2–5, S. 6 i. V. m. § 73 Abs. 5 SGB V Regelungen, die zur Organisation der vertragsärztlichen Versorgung notwendig sind, insbesondere Vordrucke und Nachweise, Voraus­setzungen für Ausführung und Abrechnung besonderer Leistungen gem. § 135 Abs. 2 S. 1 SGB V oder Vorgaben zur Einbehaltung der Vergütung bei Nichterfüllung des Sicherstellungsauftrages gem. § 75 Abs. 1 S. 4 SGB V treffen.366 Der Einheitliche Bewertungsmaßstab (EBM), der als Kernstück der vertragsärztlichen Vergütung gem. § 87 Abs. 2 Hs. 1 SGB V den Inhalt und den Umfang der abrechnungsfähigen Leistungen und ihr wertmäßiges, in Punkten ausgedrücktes Verhältnis zueinander bestimmt, ist gem. § 87 Abs. 1 S. 1 SGB V ebenfalls gesetzlich vorgesehener Vertragsbestandteil des BMV-Ä. Der EBM nimmt allerdings eine Sonderstellung ein, da er nicht der Regelungshoheit der Bundesmantelvertragspartner unterfällt, sondern durch den einfachen und / oder den erweiterten Bewertungsausschuss festgesetzt wird.367 Abseits dieses notwendigen Inhalts des Bundesmantelvertrages steht es den Parteien frei, sich unter Berücksichtigung des gesetzlichen Rahmens und der Richtlinien über einen Gegenstand der vertragsärztlichen Versorgung zu einigen, d. h.

363 Für die vertragszahnärztliche Versorgung gilt der Bundesmantelvertrag-Zahnärzte (BMV-Z). 364 S. bspw. in § 84 Abs. 1 SGB V, jurisPK-SGB V / Freudenberg, § 82 Rn. 32. 365 JurisPK-SGB  V / Freudenberg, § 82 Rn. 32; Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 698; vgl. auch zur Abgrenzung Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, S. 65 f. 366 Vgl. §§ 34–37a, 11, 54 Abs. 3 BMV-Ä, weitere Regelungsaufträge ergeben sich aus §§ 76 Abs. 3a, 87 Abs. 1b, 75 Abs. 1a S. 10, 11, 73 Abs. 8 S. 8, 119b Abs. 2 SGB V; weitere Beispiele bei jurisPK-SGB  V / Freudenberg, § 82 Rn.  20 ff.; Becker / K ingreen / Scholz, SGB V § 82 Rn. 7; Hauck / Noftz / Klückmann, SGB V § 83 Rn. 15; Krauskopf / Sproll, SGB V § 82 Rn. 14. 367 Zum einfachen und erweiterten Bewertungsausschuss s. 3. Kap. B. II. 3.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

einen nicht vorgeschriebenen Vertragsbestandteil zu vereinbaren.368 Diese gestalterische Option findet aktuell ihren Ausdruck in den Anlagen des BMV-Ä, in denen die Parteien bspw. konkrete Versorgungsaufträge für chronisch niereninsuffiziente Patienten (Anlage 9.1) oder sozialpsychiatrische Behandlungen von Kindern und Jugendlichen (Anlage 11) vereinbart haben.369 Diesem Bereich sind auch die Qualitätssicherungsvereinbarungen zuzuordnen,370 mit denen die Vertragsparteien für bestimmte ärztliche Leistungen, die besondere fachliche Kenntnisse und Erfahrungen erfordern, spezielle Voraussetzungen hinsichtlich ihrer Ausführung und Abrechnung festlegen können. So wurde bspw. ein Vergütungszuschlag für die Beachtung eines gesteigerten Qualitätsniveaus in der Schmerztherapievereinbarung festgelegt.371 Weitere Vorgaben, die keinem gesetzlichen Regelungsauftrag entspringen, finden sich in § 15 Abs. 2 BMV-Ä über die Sorgfaltspflicht bei Verordnungsausstellung durch den Vertragsarzt, in § 24 BMV-Ä zu den Überweisun­ gen oder in §§ 42–44 BMV-Ä zu den Abrechnungen.372 Für eine konkrete Bewertung des Einigungsprozesses zwischen den Bundesmantelvertragspartnern bedarf es zunächst einer Feststellung des Verhältnisses zwischen den vorgeschriebenen und den nicht vorgeschriebenen Vertragsinhalten. Dies gestaltet sich zum Teil schwierig, da sich nicht für jede Regelung des BMV-Ä einwandfrei feststellen lässt, ob sie auf einen durch den Gesetzgeber oder die Rechtsprechung weitestgehend determinierten oder nicht determinierten Bereich zurückzuführen ist.373 Gleichwohl ist erkennbar, dass der aktuelle BMV-Ä verhältnismäßig wenige nicht vorgeschriebene Regelungsinhalte aufweist, die ausschließlich auf eine autonome Ausgestaltung der Kollektivvertragspartner zurück-

368 Holzner, Konsens im Allgemeinen Verwaltungsrecht und in der Demokratietheorie, S. 392. 369 Schnapp / Wigge / Berner, HB des Vertragsarztrechts, § 8 Rn. 17; Schnapp / Wigge / A xer, HB des Vertragsarztrechts, § 10 Rn. 2; Becker / K ingreen / Scholz, SGB V § 82 Rn. 7. 370 Zwar existiert mit § 135 Abs. 2 SGB V eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage, allerdings eröffnet diese den Parteien nur eine fakultative Möglichkeit („können“); daher konsequenterweise zu den nicht vorgeschriebenen Vertragsinhalten zuordnend jurisPKSGB  V / Hesral, § 72 Rn. 47; NK-MedR / Altmiks, SGB V § 82 Rn. 5; a. A. Peters / Hencke, HB der Krankenversicherung, § 82 Rn. 9; Krauskopf / Sproll, SGB V § 82 Rn. 14; Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, S. 411. 371 Anlage 12 des BMV-Ä / EK a. F. v. 1994; jurisPK-SGB V / Hesral, § 72 Rn. 47; s. a. die Übersicht aller Qualitätsvereinbarungen unter: http://www.kbv.de/html/qs-vereinbarungen. php (zuletzt abgerufen am 30. 9. 2020). 372 Vgl. die Tabelle bei Borchert, SGb 1997, 201, 204; Schiller / Steinhilper, BMV-Ä § 15 Rn. 16, § 24 Rn. 1; Schiller / Trieb, BMV-Ä §§ 42–44. 373 So Borchert, SGb 1997, 201 ff., dessen Untersuchungen beziehen sich allerdings auf den BMV-Ä v. 1. 1. 1995. Die Grundstruktur des aktuellen BMV-Ä (Vertragsdatum 21. 8. 2013) stimmt aber mit diesem überein. Durch Reformen der vergangenen Jahre ist der §§-Bestand allerdings gewachsen. § 44 BMV-Ä belegt exemplarisch die Zuordnungsschwierigkeiten zum determinierten oder nicht determinierten Bereich: Für die Abs. 1–3 existieren keine gesetzlichen Vorgaben, für Abs. 4 und Abs. 7 hat der Gesetzgeber in § 295 Abs. 1 S. 2 SGB V und § 295 Abs. 4 SGB V Regelungen getroffen, vgl. Schiller / Trieb § 42 BMV-Ä Rn. 6 ff., 20 ff.

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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zuführen sind. Der Großteil der Regelungsinhalte wurde durch den Gesetzgeber vorgegeben.374 Dieses Ergebnis belegen auch die jüngeren Gesetzesreformen im Gesundheitswesen, mit denen der Gesetzgeber den vorgeschriebenen Inhalt der Bundesmantelverträge ausgeweitet und dementsprechend die gestalterische Freiheit der Vertragspartner zunehmend beschränkt hat.375 Infolgedessen erschöpft sich der Einigungsprozess zwischen den Partnern der Bundesmantelverträge bei vielen Regelungsinhalten des BMV-Ä in der bloßen Umsetzung und Ausfüllung des gesetzlichen Programms.376 Die Vertragspartner verkommen „zur Vollzugsstelle von staatlicherseits bereits getroffenen Vorentscheidungen ohne eigene essentielle Entscheidungsbefugnis.“377 Nur wenige Inhalte sind Ausdruck eines offenen und autonomen Einigungsprozesses.378 Für die Vertragsparteien resultiert hieraus eine Einschränkung ihrer Möglichkeiten zur Interessenwahrung: Je determinierter der Einigungsprozess ist, desto weniger Freiraum verbleibt ihnen zur Einbringung und Durchsetzung ihrer individuellen Interessen. bb) Die Berücksichtigung der ärztlichen Interessen im Bundesmantelvertrag Die Beschränkung der Vertragsfreiheit bei der Vereinbarung der vorgeschriebenen Vertragsinhalte kann sich für die Vertragsärzte nachteilig auswirken, zumal mit jeder Regelung des BMV-Ä379 das vertragsärztliche Pflichtenprogramm, die Erwerbsbedingungen sowie die genauen Voraussetzungen der vertragsärztlichen

374

Borchert, SGb 1997, 201, 202, 204 f.; Krauskopf / Sproll, SGB V § 82 Rn. 14 weist auf die zunehmenden Regelungsaufträge hin; zur Einengung der Gestaltungsmöglichkeiten der Selbstverwaltung Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, S. 52 und HS-KV / Schulin, § 6 Rn. 98; vgl. auch die Auflistung bei Schiller / Schiller, BMV-Ä § 1 Rn. 4, 5; Rompf, FS Dahm, S. 401, 412; zu den ausdrücklich vorgeschriebenen Bestandteilen s. Fn. 366. 375 Bspw. geht der in § 87 Abs. 1 S. 6 SGB V normierte Regelungsauftrag auf das E-HealthGesetz v. 21. 12. 2015, der in § 87 Abs. 1b SGB V auf das Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung v. 1. 12. 2015, der in § 75 Abs. 1 S. 2, 3 SGB V auf das GMG v. 14. 11. 2003 und der in § 73 Abs. 8 S. 8 SGB V auf das Gesetz zur Ablösung des Arzneiund Heilmittelbudgets (Arzneimittelbudget-Ablösegesetz) v. 19. 12. 2001 zurück; s. a. Krauskopf / Sproll, SGB V § 82 Rn. 14. 376 Vgl. bspw. § 87 Abs. 1a SGB V mit sehr detaillierten Vorgaben, Hauck / Noftz / Engelhard SGB V § 87 Rn. 532, 539 ff.; Borchert, SGb 1997, 201, 202, 203; bestätigend Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, S. 291; s. a. Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, S. 412. 377 HS-KV / Schnapp § 52 Rn. 12. 378 Borchert, SGb 1997, 201, 203 stellt ein Defizit an „echte[n] Gestaltungsmöglichkeiten“ fest. 379 Der 8. bis 15. Abschnitt des BMV-Ä beinhaltet hauptsächlich Regelungen, die die vertragsärztliche Tätigkeit konkretisieren. Den zweitgrößten Bereich nehmen allgemeine Regelungen bzgl. der vertragsärztlichen Versorgung wie die §§ 2, 3, 10, 13 BMV-Ä und der 7. Abschnitt des BMV-Ä ein.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

Leistungserbringung näher konkretisiert werden.380 Ein Eingriff in die Berufsfreiheit der Vertragsärzte aus Art. 12 Abs. 1 GG ist in den meisten Fällen gegeben, da viele Vorgaben jedenfalls faktisch beeinträchtigende Wirkung entfalten.381 Ihre Interessen können sie bei der Umsetzung der gesetzlichen Regelungsaufträge nur in begrenztem Umfang einbringen. Besonders nachteilig wirkt sich die Verkürzung der Vertragsfreiheit bei Vereinbarungen im Vergütungsbereich aus. In Umsetzung ihres Regelungsauftrages aus § 295 Abs. 3 i. V. m. §§ 87 Abs. 1, 82 Abs. 1 SGB V haben die Bundesmantelvertragspartner bspw. zahlreiche bürokratische Anforderungen für die ordnungsgemäße Leistungserbringung und Abrechnung aufgestellt, wie die Vordruckvereinbarung (Anlage 2 des BMV-Ä) oder den Vertrag über den Datenaustausch (Anlage 6 des BMV-Ä), die die Bürokratielast der Ärzte im Praxisalltag erhöhen.382 Aus der Nichteinhaltung der Form- und Inhaltsvorgaben gem. § 44 Abs. 2 BMV-Ä, wonach nicht vollständig ausgefüllte Überweisungsscheine von der Abrechnung ausgeschlossen werden, können nachteilige Konsequenzen für den Erhalt der Vergütung erwachsen.383 Auch bloße organisatorische Vorgaben wie diejenigen zur Kassenabfrage gem. § 36 Abs. 1 BMV-Ä können sich als faktische Belastung erweisen. Auf Anfrage hat der Vertragsarzt den Krankenkassen zur Durchführung ihrer Aufgaben, erforderliche Informationen zu übermitteln. Bis zu 80 Anfragen kann ein Hausarzt pro Quartal zu beantworten haben.384 Schließlich existiert mit § 54 Abs. 3 BMV-Ä, der das Zurückbehaltungsrecht aus § 75 Abs. 1 S. 2 SGB V konkretisiert, eine bundesmantelvertragliche Regelung mit drastischen Folgen für die Ärzteschaft. Den Krankenkassen wird hiernach das Recht gewährt, einen Teil der Gesamtvergütung zurückzubehalten, soweit die KVen ihrem Sicherstellungsauftrag aus Gründen, die sie zu vertreten haben, nicht nachkommen. Die Anforderungen an das festzustellende Sicherstellungsdefizit und die Verletzung des Sicherstellungsauftrages sind in Anbetracht der einschneidenden Rechtsfolgen für die Vertragsärzte allerdings sehr hoch. Ein potentieller Einbehalt kann die gesamte Ärzteschaft betreffen.385 380

NK-MedR / Altmiks SGB V § 82 Rn. 2; Ratzel / Lutzenburger / Hartmannsgruber, 7. Kapitel Rn.  150 f.; Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 21 Rn. 12, 19. 381 So die Dokumentations- (§ 75 BMV-Ä ) und Auskunftspflichten (§ 36 Abs. 2 BMV-Ä), die die Bürokratielast der Ärzteschaft erhöhen, Köhler, FS Wille, S. 959, 962; zur Grundrechts­ relevanz des EBM und der Richtlinien als gesetzlicher Bestandteile der Verträge, Rompf, VSSR 2004, 281, 289 f.; vgl. auch die Aufzählung bei Steinhilper, GesR 2009, 337, 338; zum Eingriffsbegriff des Art. 12 GG Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrechts, S. 258 ff.; zur Vereinbarkeit einer Regelung des BMV-Ä mit Art. 12 GG s. bspw. BSG Urt. v. 28. 5. 1968 – 6 RKa 12/66, BSGE 28, 73. 382 Krauskopf / U. Schneider, SGB V § 295 Rn. 32; BeckOK-SozR / Scholz, BMV-Ä Anlagen, Anlage 6 Rn. 1. 383 Rompf / Schröder / Willaschek / Rompf, BMV-Ä § 44 Rn. 5. 384 Rompf / Schröder / Willaschek / Schröder, BMV-Ä § 36 Rn. 1, § 17 Rn. 1. 385 HK-AKM / Schröder, BMV-Ärzte Nr. 1210 Rn. 18; Rompf, KrV 2014, 45, 47; als „Kollektivhaftung“ bezeichnend Spickhoff / Nebendahl, SGB V § 75 Rn. 9.

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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Durch die jüngsten Aktivitäten des Gesetzgebers werden den Parteien der Bundesmantelverträge neue Regelungsaufträge aufgegeben. Das TSVG ordnet eine Erhöhung des Mindestsprechstundenangebots der Vertragsärzte von 20 auf 25 Stunden an. Darüber hinaus ist vorgesehen, dass Ärzte, die der grundversorgenden oder wohnortnahen Patientenversorgung angehören, mindestens fünf Stunden ihrer wöchentlichen Sprechstundenzeit als offene Sprechstunde, d. h. ohne vorherige Terminvereinbarung, anbieten.386 Die Änderungen sollen gesetzlich in der Ärzte-ZV verankert werden und die Bundesmantelvertragspartner wurden dazu aufgefordert, die Einzelheiten der Anrechnung der Besuchszeiten auf die Sprechstundenzeiten sowie Regelungen zur Verteilung der Zeiten zu treffen.387 Zwar soll das erweiterte Sprechstundenangebot mit extrabudgetären Vergütungen für Vertragsärzte möglichst attraktiv ausgestaltet werden,388 gleichwohl ist aus der Ärzteschaft Kritik zu vernehmen. Viele Ärzte würden bereits an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit arbeiten389 und ohnehin deutlich längere Sprechstundenzeiten anbieten.390 Insbesondere wird aber die Einmischung des Gesetzgebers in die Organisation des Praxisalltages sowie die Arbeitszeitgestaltung eines freien Berufes moniert.391 Diese exemplarische Analyse belegt, dass mit den Regelungen des BMV-Ä größtenteils die Erwerbsbedingungen der vertragsärztlichen Tätigkeit konkretisiert werden. Die Ärzteschaft hat dementsprechend ein gesteigertes Interesse, ihre Belange bestmöglich in den Einigungsprozess einzubringen, was ihr in Anbetracht der Dichte an gesetzgeberischen Vorgaben jedoch erschwert wird. Ob die konkreten Vertragsnormen des BMV-Ä im Ergebnis die Interessenstandpunkte der Vertragsärzte ausreichend berücksichtigen, hängt daher nur zum Teil vom Verhandlungsgeschick der Vertreter der KBV und dem Ausgang der jeweiligen Verhandlungen ab.392

386

BT-Drs. 19/6337, S. 51, 55, 158. In § 19a Ärzte-ZV, BT-Drs. 19/6337, S. 51 f.; s. a. Referentenentwurf des TSVG v. 24. 7. 2018, S. 46. 388 BT-Drs. 19/6337, S. 2. 389 Von den durchschnittlich 47,7 Wochenstunden eines Vertragsarztes entfallen 33,0 (80 %) auf den Patientenkontakt und etwa 7 (18 %) auf Aufgaben des Praxismanagements, s. https:// www.zi-pp.de/pdf/ZiPP_Jahresbericht_2018.pdf, S. 32 f. (zuletzt abgerufen am 30. 9. 2020). 390 Laut einer Untersuchung des Zentralinstitutes für vertragsärztliche Versorgung (Zi) bieten 92 % der untersuchten Praxen Betriebszeiten von 25 Stunden oder mehr die Woche an, s. https://www.zi.de/fileadmin/images/content/Publikationen/Zi_Paper_13_2018.pdf, S. 4, 5 (zuletzt abgerufen am 30. 9. 2020); s. a. DÄ online v. 22. 6. 2018, Sprechstundenzeiten: Längst mehr als 25 Stunden, https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/95987/SprechstundenzeitenLaengst-mehr-als-25-Stunden (zuletzt abgerufen am 30. 9. 2020). 391 Vgl. DÄ online v. 20. 7. 2018, Offene Sprechstunde: Ärzte befürchten Chaos in den Praxen, https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/96609/Offene-Sprechstunde-Aerzte-befuerchtenChaos-in-den-Praxen (zuletzt abgerufen am 30. 9. 2020). 392 Zur Schlüsselfunktion der KBV für die ärztliche Interessenwahrung s. 3. Kap. C. 387

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

c) Die Gesamtverträge aa) Die rechtlichen Ausgestaltungsbefugnisse beim Abschluss der Gesamtverträge Wie die Bundesmantelvertragspartner sind auch die Gesamtvertragspartner bei der Ausgestaltung der Verträge an die gesetzlichen Vorgaben, die Richtlinien des GBA sowie die in § 72 Abs. 2 SGB V konkretisierten Zielvorgaben gebunden.393 Da der Inhalt des Bundesmantelvertrages gem. § 82 Abs. 1 S. 2 SGB V gesetzlich vorgeschriebener Inhalt des Gesamtvertrages ist, dürfen die Regelungen des Gesamtvertrages diesem nicht widersprechen.394 Als wichtigsten Regelungsgegenstand der Gesamtverträge vereinbaren die Landesvertragspartner, die jeweilige KV eines Bundeslandes395 und der Landesverband der Krankenkassen, gem. §§ 85 Abs. 2 S. 1, 87a SGB V die Höhe der Gesamtvergütung. Die Ausgestaltungsbefugnisse der Parteien lassen sich in drei Bereiche zusammenfassen: Die Ausfüllung der allgemeinen Rahmenvorschriften des BMV-Ä, die Umsetzung der gesetzlich vorgeschriebenen Regelungsaufträge, wozu insbesondere die Festlegung der Gesamtvergütung zählt, und die Befugnis gem. § 83 Abs. 1 Hs. 1 SGB V, alle Inhalte der vertragsärztlichen Versorgung und die gegenseitigen Beziehungen zu regeln.396 Letzteres umfasst bspw. die Verordnung von Sprechstundenbedarf, die Beachtung von Fristen für die Einreichung der Abrechnungen durch den Vertragsarzt oder die Kostenbeteiligungen der Krankenkassen an bestimmten Sicherstellungsmaßnahmen der KV.397 Zu den gesetzlich vorgeschriebenen Regelungsaufträgen zählen bspw. die Festlegung nach § 73 Abs. 3 SGB V, inwieweit Maßnahmen zur Vorsorge und Rehabilitation zum Inhalt der vertragsärztlichen Versorgung gemacht werden, die Arznei- und Heilmittelvereinbarungen nach § 84 SGB V oder die Durchführung der Wirtschaftlichkeitsprüfung gem. §§ 106 Abs. 1 S. 2, 106b Abs. 1, 106d Abs. 5 SGB V.398 Durch die Einführung und Ausweitung der Selektivverträge kam in den §§ 73b Abs. 7, 140a Abs. 6 SGB V mit der Bereinigung der Gesamtvergütung ein weiterer Regelungsauftrag für die Gesamtvertragspartner hinzu, der allerdings rechtlich gesehen nicht Bestandteil der Gesamtverträge ist.399 393

Krauskopf / Sproll, SGB V § 82 Rn. 18. BSG Urt. v. 5. 5. 1988 – 6 RKa 27/87, BSGE 63, 163, 164; s. a. Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 21 Rn. 26. 395 Es gibt 17 KVen, Nordrhein-Westfalen hat abweichend zwei KVen, jurisPK-SGB V / Steinmann-Munzinger, § 77 Rn. 15. 396 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 734; Krauskopf / Sproll, SGB V § 83 Rn. 7 f. 397 KassKomm / Hess, SGB V § 83 Rn. 3; jurisPK-SGB V / Freudenberg, SGB V § 83 Rn. 45; s. a. das Beispiel eines bayrischen Gesamtvertrages bei Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, S. 64, Fn. 6 und 7. 398 Spezielle Aufgabenzuweisungen können sich auch aus den Entscheidungen des Bewertungsausschusses sowie den Richtlinien des GBA ergeben, Spickhoff / Nebendahl, SGB V § 83 Rn. 3. 399 Becker / K ingreen / Scholz, SGB V § 83 Rn. 7; Krauskopf / Sproll, SGB V § 82 Rn. 18. 394

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Da sich die Inhalte der Gesamtverträge ebenfalls in vorgeschriebene und nicht vorgeschriebene Vertragsbestandteile unterteilen lassen,400 variiert der grundsätzlich weite Gestaltungsspielraum der Gesamtvertragspartner ebenfalls.401 Zur Bewertung des Einigungsprozesses zwischen den Gesamtvertragspartnern muss auch hier das Verhältnis dieser beiden Vertragsinhalte zunächst festgestellt werden. Da jeder Landesverband jeweils untergliedert nach Kassenarten i. S. d. § 4 Abs. 2 SGB V einen an die regionalen Verhältnisse angepassten Gesamtvertrag mit der jeweiligen KV abschließt, fällt dies um einiges schwerer als beim BMV-Ä.402 Gleichwohl lässt sich auch hier die Tendenz feststellen, dass der überwiegende Teil der gesamtvertraglichen Inhalte durch den Gesetzgeber determiniert wurde. Neben der in §§ 82 Abs. 1, 85 Abs. 1 SGB V vorgeschriebenen Vereinbarung der Gesamtvergütung, die den wesentlichen Regelungsschwerpunkt der Verträge bildet, wird der allgemeine Inhalt der Gesamtverträge durch den BMV-Ä vorgegeben. Die Vertragspartner können nur noch die nicht festgelegten Punkte i. S. e. „besonderen Teils“ ausfüllen und konkretisieren.403 Darüber hinaus bildet der gesamte BMV-Ä mit seinen Inhalten, wie dem EBM und den Richtlinien des GBA, gem. § 82 Abs. 1 S. 2 SGB V einen weiteren Vertragsbestandteil. Eine Analyse des Gesamtvertrages der KV Bayern belegt, dass die Gesamtverträge zum größten Teil das Gesetz wiederholen bzw. Regelungen beinhalten, die auf gesetzliche Ermächtigungen zurückzuführen sind.404 Zurecht wird der Gesamtvertrag auch als „Umschalt- oder Transformationsinstrument“ charakterisiert, mit dem die auf übergeordneter Ebene entschiedenen Fragen verbindlich für die Partner auf Landesebene inkorporiert werden können.405 Vereinzelt sind indes autonome Vereinbarungen wie bspw. die Durchführung einer ambulanten Hautkrebs-Vorsorgeuntersuchung406 oder Bestimmungen über eine Kostenbeteiligung der Krankenkassen am vertragsärztlichen Notfalldienst der KVen erkennbar.407 Abgesehen von den gesetzgeberischen Vorgaben wird die allgemeine Vertragsautonomie der Gesamtvertragspartner durch einen weiteren Umstand beschränkt: 400 JurisPK-SGB  V / Hesral, § 72 Rn. 45 f.; s. die Aufzählung der gesetzlichen Regelungsaufträge bei Krauskopf / Sproll, SGB V § 82 Rn. 18. 401 Bzgl. der Vergütungsvereinbarungen NK-GesundhR / Reuter, SGB V § 87a Rn. 14; jurisPK-SGB  V / Freudenberg, § 82 Rn. 76, § 83 Rn. 43, § 87a Rn. 54, 70; s. a. 3. Kap. B. I. 3. a). 402 KassKomm / Hess, SGB V § 83 Rn. 5; die KV Hamburg hat bspw. fünf unterschiedliche Gesamtverträge,  s.  https://www.kvhh.net/de/praxis/recht-vertraege/vertraege-der-kvh/ gesamtvertraege.html (zuletzt abgerufen am 30. 9. 2020). 403 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 734; Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, S. 82; Spickhoff / Nebendahl, SGB V § 83 Rn. 3. 404 Vgl. Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, S. 64, 82. 405 So Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, S. 350. 406 S. Anlage 1 des Gesamtvertrages der KV HH mit der Knappschaft v. 25. 11. 2011, abrufbar unter: https://www.kvhh.net/de/praxis/recht-vertraege/vertraege-der-kvh/gesamtvertraege. html (zuletzt abgerufen am 30. 9. 2020). 407 Anlage D des Gesamtvertrages der KV Bayern mit dem Landesverband der AOK v. 1. 7. 2016, abrufbar unter: https://www.kvb.de/abrechnung/verguetungsvertraege/gesamt​ vertraege/ (zuletzt abgerufen am 30. 9. 2020).

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

Die Wirksamkeit der Gesamtverträge hängt vom Verhalten der Aufsichtsbehörden ab, denen die kollektiven Vergütungsvereinbarungen gem. § 71 Abs. 4 i. V. m. §§ 83, 85 SGB V vorzulegen sind, damit diese ggf. von ihrem Beanstandungsrecht fristgerecht Gebrauch machen können.408 Die Vereinbarungen über die Gesamtvergütung im vertragsärztlichen Bereich sind gem. § 85 Abs. 1 i. V. m. § 87a Abs. 1 SGB V ebenfalls vorlagepflichtig.409 Die Aufsichtsbehörde überprüft die Vergütungsvereinbarung unter Beachtung des Gestaltungsspielraumes der Parteien gem. § 87 Abs. 1 S. 2 SGB IV zwar nur auf Rechtsverstöße, die insbesondere im Falle einer Verletzung des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität anzunehmen sind.410 Gleichwohl erhalten die staatlichen Aufsichtsbehörden mit dem Beanstandungsrecht eine unmittelbare Einwirkungsmöglichkeit auf die Vergütungsvereinbarungen. Es ist daher nicht auszuschließen, dass die Vertragsparteien bereits im Vorfeld sowie während der Verhandlungen in ihrer Entscheidungs- und Vertragsfreiheit beeinflusst werden. Diese Regelungssystematik wird daher auch als „Gesetzesbefehl an die Partner der gemeinsamen Selbstverwaltung“ oder „Lenkung“ bezeichnet.411 Insgesamt sehen sich die Parteien auch auf gesamtvertraglicher Ebene bei vielen Regelungsinhalten mit Beschränkungen ihres grundsätzlich weiten Gestaltungsspielraumes konfrontiert. Der Einigungsprozess gestaltet sich daher primär als Umsetzung des vorgegebenen Programms, sodass ihnen weniger Freiraum zur Einbringung und Durchsetzung ihrer Interessenstandpunkte verbleibt.412 Die Beschränkung der Verhandlungsspielräume wirkt sich für die Vertragsärzte insbesondere bei der Vereinbarung der Gesamtvergütung nachteilig aus. Sie können nur bedingt Einfluss auf die Höhe der Gesamtvergütung und damit mittelbar auf ihr Honorar nehmen. bb) Die Berücksichtigung der ärztlichen Interessen am Beispiel der Anpassung der Gesamtvergütung Bei der Vereinbarung der Gesamtvergütung treffen zwei nur schwer miteinander zu vereinbarende Interessenpositionen aufeinander: Die Krankenkassen stehen als Zahlungspflichtige im Gesundheitssystem unter ständigem Einsparungs- und 408

Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 742 f. So Becker / K ingreen / Scholz, SGB V § 71 Rn. 5; a. A. Spickhoff / Nebendahl, SGB V § 71 Rn. 10 und NK-MedR / Krasney, § 71 Rn. 10; nur als gesetzliches Redaktionsversehen einordnend NK-MedR / Altmiks, SGB V § 87a Rn. 12. 410 JurisPK-SGB  V / Engelmann, § 71 Rn.  55; Becker / K ingreen / Scholz, SGB V § 71 Rn. 5; a. A. zur suspendierenden Wirkung der Beanstandung m. w. N. KassKomm / Krasney, SGB V § 71 Rn. 15. 411 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 743; zu den einschränkenden Auswirkungen s. a. BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA38/15 R, BSGE 122, 112, 141. 412 So auch Borchert, SGb 1997, 201, 203, der davon ausgeht, dass es auf Ebene der Gesamtverträge nicht anders um den Umfang des Gestaltungsspielraumes der Partner bestellt sein kann als auf Ebene der Bundesmantelverträge. 409

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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Kostendruck, wohingegen die KVen als Honorarverteilungsinstanzen der Ärzte nach einer möglichst hohen Gesamtvergütung streben.413 Die Landespartner legen mit der Gesamtvergütung das Ausgabenvolumen für die Gesamtheit der durch die Krankenkassen zu vergütenden vertragsärztlichen Leistungen pro Kalenderjahr fest, vgl. § 85 Abs. 2 SGB V. Dieses entrichten die Krankenkassen gem. § 85 Abs. 1 S. 1 SGB V mit befreiender Wirkung an die jeweiligen KVen. Der eigentliche Lohn des Vertragsarztes steht erst nach erfolgter Honorarverteilung durch die KVen fest. Gleichwohl ist die Höhe der zu vereinbarenden Gesamtvergütung bereits von maßgeblicher Bedeutung für das Honorar des Vertragsarztes, da es das anschließend auf die Ärzteschaft zu verteilende Gesamtvolumen darstellt und im Vorfeld determiniert, inwieweit es zu „Verteilungsstreitigkeiten“414 unter den Ärzten kommen wird.415 Die Gesamtvergütung richtet sich gem. § 87a Abs. 3 S. 2 Hs. 1 SGB V nach dem als Punktzahlvolumen ausgedrückten Behandlungsbedarf, der mit dem regionalen Punktwert multipliziert wird. Der Behandlungsbedarf bemisst sich wiederum nach der Zahl und der Morbiditätsstruktur der Versicherten und wird auf Grundlage des EBM-Punktesystems als Punktzahlvolumen ausgedrückt.416 Im EBM werden die einzelnen ärztlichen Leistungen nach Gebührenordnungspositionen gegliedert und bekommen jeweils eine Punktzahl zugeordnet, die u. a. den Zeitaufwand und den technischen Aufwand widerspiegeln.417 Den regionale Punktwert vereinbaren die Landesvertragspartner gem. § 87a Abs. 2 SGB V bis zum 31. Oktober eines jeden Jahres auf Grundlage des Orientierungswertes, der gem. § 87 Abs. 2e SGB V durch den Einheitlichen Bewertungsausschuss festgelegt wird.418 Erst durch die Multiplikation der festgelegten Punktzahl für eine ärztliche Leistung mit dem regionalen Punktwert in Euro kommt der „Preis“ für die ärztliche Behandlung zustande.419 In allen KV-Bezirken bestehen aus den Vorjahren bereits Gesamtvergütungen, weshalb weniger die Berechnung und Aufstellung als vielmehr die jährliche Veränderung der Gesamtvergütung zentraler Bestandteil der Vergütungsverhandlungen der Gesamtvertragspartner ist.420 Hierfür sind in § 87a Abs. 4 Nr. 1–5 SGB V fünf Anpassungskriterien aufgestellt, u. a. die Zahl der Versicherten, ihre Morbiditätsstruktur sowie Art und Umfang der ärztlichen Leistungen. Hierneben können auch andere Parameter, die eine Veränderung des Behandlungsbedarfes bedingen, in 413 Holzner, Konsens im Allgemeinen Verwaltungsrecht und in der Demokratietheorie, S. 443. 414 Spickhoff / Nebendahl, SGB V § 85 Rn. 7. 415 BSG Urt. v. 16. 4. 1986  – 6 RKa 34/84, SozR 2200 § 368d Nr 5, S. 8; BSG Urt. v. 13. 3. 1991 – 6 RKa 35/89, SozR 3–2500 § 85 Nr 2, S. 9; s. a. Funk, MedR 1994, 314, 315. 416 S. hierzu Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87a Rn. 54a. 417 Spickhoff / Nebendahl, SGB V § 87 Rn. 10 ff.; Becker / K ingreen / Scholz, SGB V § 87 Rn. 7 f. 418 Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87a Rn. 14 f.; s. hierzu 3. Kap. II. 3. b) aa). 419 Spickhoff / Nebendahl, SGB V § 87 Rn. 6. 420 Wenner, Vertragsarztrecht, § 21 Rn. 9; Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, S. 349.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

die Analyse einfließen.421 Die Vertragspartner überprüfen anhand dieser Kriterien, ob sich Veränderungen im Hinblick auf den vereinbarten und bereinigten Behandlungsbedarf aus dem Vorjahr ergeben haben.422 Ergänzend haben sie die Empfehlungen des Bewertungsausschusses zu berücksichtigen, die dieser gem. § 87a Abs. 4 S. 1, Abs. 5 SGB V in Kooperation mit dem Institut des Bewertungsausschusses beschließt.423 Stellen die Vertragspartner eine Veränderung des Behandlungsbedarfes fest, die sowohl bedarfserhöhend als auch bedarfssenkend sein kann, wird die angepasste Leistungsmenge mit dem nach § 87a Abs. 2 S. 1 SGB V festgelegten regionalen Punktwert für das entsprechende Jahr bewertet und bildet die neue morbiditätsbedingte Gesamtvergütung.424 Die Vertragsparteien haben über die Anpassungsvereinbarungen nach § 87a Abs. 3, Abs. 4 SGB V sowie die jährlichen Anpassungen des regionalen Punktwertes gem. § 87a Abs. 2 SGB V zwar direkten Einfluss auf die Höhe der Gesamtvergütung. Ihrem Gestaltungsspielraum sind hierbei durch das strikte Leistungsverzeichnis des EBM, den Orientierungswert, die in § 87a Abs. 4 S. 1 SGB V vorgegebenen Anpassungskriterien sowie die Empfehlungen des Bewertungsausschusses nach § 87a Abs. 4 S. 1, Abs. 5 SGB V Grenzen gesetzt.425 Hiermit korrelieren limitierte Möglichkeiten der ärztlichen Interesseneinbringung und -durchsetzung. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass mit der aktuellen Ausgestaltung der Vergütungsvorschriften der Verantwortungs- und Kompetenzbereich der regionalen Vertragspartner bereits erweitert wurde. Zuvor hatte allein der Bewertungsausschuss über die Anpassung des Behandlungsbedarfes zu entscheiden.426 Die durch das GKV-Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VStG) veranlassten Reformen zielten auf eine stärkere Regionalisierung und Flexibilisierung der Vergütungsstrukturen mit größeren Gestaltungsmöglichkeiten für die regionalen Vergütungsvereinbarungen ab.427 So wurde der vormals strikt zu beachtende Grundsatz der Beitragssatzstabilität gem. § 71 Abs. 1 S. 1 SGB V a. F. i. V. m. § 85a Abs. 3 SGB V a. F. mit der Regelung des § 87a Abs. 3 S. 2 Hs. 2 SGB V bzw. des § 85 Abs. 3 S. 2 SGB V gelockert,428 sodass die Parteien im Falle einer Morbiditätsveränderung eine Erhöhung der Gesamtvergütung über die Veränderungsrate hinaus vereinbaren kön 421

NK-MedR / Altmiks, SGB  V § 87a Rn.  14 ff.; Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / ​ Motz, SGB V § 87a Rn. 24. 422 S. zum Grundsatz der Vorjahresanknüpfung Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V 87a Rn. 86a. 423 Kritisch unter Verweis auf die Intransparenz der Empfehlungen und Vorgaben des Bewertungsausschusses Rixen, GesR 2012, 337, 340. 424 So bereits zur damaligen Vorgängerregelung des § 85 SGB V, BT-Drs. 16/3100, S. 121 f.; jurisPK-SGB  V / Freudenberg, SGB V § 87a Rn. 140. 425 Das BSG spricht sogar von einer starken Einschränkung der Verhandlungsspielräume, Urt. v. 30. 11. 2016  – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 141; s. a. Rompf / Schröder / Willaschek / Rompf, BMV-Ä § 1 Rn. 5. 426 BT-Drs. 16/3100, S. 122 zu § 87a Abs. 5 SGB V a. F. 427 GKV-Versorgungsstrukturgesetz v. 22. 12. 2011, BGBl. I, S. 2983; BT-Drs. 17/6906, S. 2. 428 Für den vertragsärztlichen Bereich trat die Neuerung bereits durch das GKV-WSG mit Wirkung zum 1. 1. 2009 ein, im vertragszahnärztlichen Bereich erst durch das GKV-VStG zum 1. 1. 2013, s. Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 22 Rn. 56 f.

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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nen.429 Einem erhöhten Behandlungsbedarf, der auf eine steigende Morbidität der Versicherten zurückzuführen ist (vgl. § 87a Abs. 4 S. 1 Nr. 2 SGB V), kann anders als zuvor mit einer erhöhten Gesamtvergütung entsprochen werden. Die Krankenkassen sind in diesem Fall dazu verpflichtet, mehr Honorar zur Verfügung zu stellen.430 Diese Aufhebung des Vorrangs des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität führt dazu, dass alle Anpassungskriterien gleichgewichtig nebeneinanderstehen und die Vertragsparteien über einen größeren Gestaltungsspielraum verfügen.431 Darüber hinaus eröffnet § 87a Abs. 4 S. 1, 4 SGB V den Vertragsparteien die Möglichkeit, weitere, eine Veränderung des Behandlungsbedarfes auslösende Faktoren heranzuziehen.432 Zusätzlich wurden die Kompetenzen des Bewertungsausschusses gem. § 87a Abs. 5 SGB V zugunsten regionaler Abweichungsspielräume der Landesvertragsparteien auf Empfehlungen reduziert.433 Durch die gesetzlichen Neuerungen konnten folglich neue Freiräume „kollektiven Aushandelns“434 realisiert werden, die den Vertragsparteien in einem gewissen Rahmen ermöglichen, ihre Interessen einzubringen. Gleichwohl hat die geschaffene Erweiterung der Gestaltungsmöglichkeiten wenig an der Tatsache geändert, dass die Verhandlungsspielräume der Gesamtvertragspartner bei der Anpassung der Gesamtvergütung insgesamt „stark eingeschränkt“435 sind. Für die ärztliche Interessenwahrung auf gesamtvertraglicher Ebene gilt daher letztlich das Gleiche wie bei der Vereinbarung des BMV-Ä: Inwiefern die Anpassungsvereinbarungen den Interessenstandpunkten der Vertragsärzte tatsächlich Rechnung tragen, hängt in Anbetracht bestehender Beschränkungen des Gestaltungspielraumes nur zum Teil vom Verhandlungsgeschick der Vertreter der KVen und dem Ausgang der jeweiligen Verhandlungen ab.436

429

BT-Drs. 16/3100, S.  120; Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87a Rn. 57 f.; auf die eingetretene Erweiterung des Spielraumes hinweisend LPK-SGB V / Engelhart-Au, § 85 Rn. 28; zuvor war eine Durchsetzung ärztlicher Interessen praktisch unmöglich, s. Schneider, SGb 2004, 143, 150. 430 Allerdings können nur die medizinisch erforderlichen Mehrleistungen finanziert werden, Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Motz, SGB V § 87a Rn. 5. 431 BT-Drs. 17/6906, S. 44, 59 zu § 85 Abs. 3 SGB V; Axer, GesR 2013, 135, 137; LPKSGB  V / Engelhart-Au, § 85 Rn. 28, § 87a Rn. 10; KassKomm / Hess, SGB V § 85 Rn. 49 f.; zur alten Rechtslage Schnapp, GesR 2014, 193, 200. 432 Der Kriterienkatalog ist nicht abschließend, Spickhoff / Nebendahl, SGB V § 87a Rn. 28; NK-GesundhR / Reuter, SGB V § 87a Rn. 50. 433 BT-Drs. 17/6906, S. 63; s. a. Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87a Rn. 104; Rixen, GesR 2012, 337, 340, 343 betont die nach wie vor bestehende „starke präjudizierende Wirkung“. 434 Diesen Begriff verwendet Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, S. 394. 435 So ausdrücklich BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 141. 436 Zur Schlüsselfunktion der KVen für die ärztliche Interessenwahrung s. 3. Kap. C.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

d) Individuelle Interessenwahrung durch gerichtliche Kontrolle Auf kollektivvertraglicher Ebene repräsentieren die jeweiligen KBV- und KVVertreter bei den Vertragsverhandlungen die ärztlichen Interessen. Der einzelne Vertragsarzt ist folglich auf die KV bzw. die KBV als sein Sprachrohr angewiesen und muss darauf vertrauen, dass diese seine Interessen angemessen vertritt. Sollte dies nicht der Fall sein, stehen ihm nachträgliche Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verfügung. aa) Rechtsschutzmöglichkeiten des Vertragsarztes auf bundesmantelvertraglicher Ebene Der von einer Regelung des BMV-Ä betroffene Vertragsarzt kann die Unwirksamkeit nicht unmittelbar durch eine Klage gegen die Norm geltend machen, da das SGG keine abstrakte Normenkontrolle vorsieht.437 Die gerichtliche Überprüfung erfolgt stattdessen inzident im Rahmen der Kontrolle eines Verwaltungsaktes, bei dessen Erlass die betreffenden Normen des BMV-Ä angewandt worden sind. Die Klageart richtet sich nach dem Begehren der Hauptsache, in der Regel handelt es sich um ein Anfechtungsbegehren.438 Aufgrund des weiten Gestaltungsspielraumes der Vertragspartner ist die Kontrolle der Gerichte allerdings auf die Prüfung beschränkt, ob gegen höherrangiges Recht, insbesondere die Vorschriften des SGB und der Verfassung, verstoßen oder die Normsetzungsbefugnis missbräuchlich ausgenutzt wurde.439 bb) Rechtsschutzmöglichkeiten des Vertragsarztes auf gesamtvertraglicher Ebene Die Gesamtvergütungsvereinbarung kann der Vertragsarzt weder unmittelbar anfechten noch inzident im Rahmen einer anderen Klageart gerichtlich überprüfen lassen.440 Sie gehört zum obligatorischen Vertragsbestandteil der Gesamtverträge, der ausschließlich Rechte und Pflichten der Vertragsparteien begründet. Gegenüber den Vertragsärzten erzeugt die Gesamtvergütungsvereinbarung daher nur mittelbarfaktische Wirkung und kann nicht im Rahmen einer inzidenten Überprüfung, bspw. im Rechtsstreit gegen den erlassenen Honorarbescheid, überprüft werden. Diese Möglichkeit besteht nur für die normativen Regelungen des Gesamtvertrages.441 437

Mit Ausnahme von § 55a SGG; BSG Urt. v. 20. 3. 1996 – 6 RKa 21/95, BSGE 78, 91. JurisPK-SGB  V / Freudenberg, § 82 Rn. 49 f.; KassKomm / Hess, SGB V § 82 Rn. 8. 439 NK-GesundhR / Weinrich, SGB V § 82 Rn. 9. 440 BSG Urt. v. 27. 4. 2005 – B 6 KA 23/04 R, juris. 441 BSG Urt. v. 14. 7. 1965 – 6 RKa 27/61, SGb 1967, 21; BSG Urt. v. 31. 8. 2005 – B 6 KA 6/04 R, BSGE 95, 86, 88 f.; s. a. NK-GesundhR / Reuter, SGB V § 87a Rn. 17; Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87a Rn. 43a. 438

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Außerdem kann aufgrund der Anordnung der befreienden Wirkung der Zahlung nach § 85 Abs. 1 SGB V auf eine gerichtliche Nachprüfung ohnehin nicht mit einer entsprechenden Nachforderung reagiert werden.442 Die Überprüfung der Gesamtvergütung erfolgt daher lediglich in einem objektivierten Verfahren durch die zuständige Aufsichtsbehörde.443 Gleiches gilt für die Festsetzung des Vertrages durch das Schiedsamt gem. § 89 Abs. 3 SGB V, die nach § 89 Abs. 10 S. 6 SGB V ebenfalls der Aufsicht unterliegt. Die Entscheidungen der Aufsichtsbehörde können jedoch nur von den Gesamtvertragspartnern mit der Anfechtungsklage angegriffen werden.444 Gleichwohl kann der Vertragsarzt die Euro-Gebührenordnung einschließlich der Vereinbarung über den regionalen Punktwert inzident im Rahmen einer Anfechtungsklage gegen seinen Honorarbescheid überprüfen lassen, da es sich hierbei um eine Rechtsnorm handelt, die unmittelbar die Höhe seines ärztlichen Honorars mitbestimmt.445 Mittlerweile hat das BSG seine Rechtsprechung präzisiert und ein gerichtliches Vorgehen des Vertragsarztes gegen seinen Honorarbescheid oder die Zuweisung des Regelleistungsvolumens für zulässig erachtet, soweit es um die Ermittlung der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung oder des Orientierungswertes geht. Denn hierbei handelt es sich um rechtlich determinierte Bereiche und nicht um solche, die Gegenstand des Aushandlungsprozesses der Vertragsparteien sind.446 Alle gesetzlichen Vorgaben des vertragsärztlichen Vergütungssystems können demnach inzident im Rahmen einer Anfechtungsklage gegen den Honorarbescheid gerichtlich überprüft werden.447 Insgesamt sind die nachträglichen Rechtsschutzmöglichkeiten der Vertragsärzte beschränkt: Gegen die normativen Regelungen der Kollektivvereinbarungen auf Bundes- und Landesebene können sie ausschließlich im Wege einer inzidenten Kontrolle und gegen die obligatorischen Vertragsbestandteile gar nicht vorgehen.448 Der Rechtsschutz des Vertragsarztes ist durch die inzidente Kontrollmöglichkeit zwar gewährleistet,449 kann in der Praxis jedoch mit hohen Kosten verbunden sein.450 Die Gesamtvergütungsvereinbarungen werden ausschließlich durch die 442

BSG Beschl. 31. 8. 2005 – B 6 KA 22/05 B, juris Rz. 7; Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 85 Rn.  43a; Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Motz, SGB V § 85 Rn. 11. 443 Zuständige Behörde für die Landesverträge ist die oberste Verwaltungsbehörde der Länder gem. § 78 Abs. 1 SGB V, § 208 Abs. 1 SGB V. 444 BSG Urt. v. 31. 8. 2005 – B 6 KA 6/04 R, BSGE 95, 86, 89 f. 445 Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87a Rn. 143; jurisPK-SGB V / Freudenberg, § 87a Rn. 65. 446 BSG Urt. v. 11. 12. 2013 – B 6 KA 3/13 R, MedR 2015, 45, 46; bestätigend BSG Beschl. v. 28. 10. 2015 – B 6 KA 35/15 B, juris Rz. 14 f.; Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87a Rn. 141 ff. 447 NK-GesundhR / Reuter, SGB V § 87a Rn. 20. 448 Dies hat erhebliche Auswirkungen auf den Rechtsschutz, so Eichenhofer / v. KoppenfelsSpies / Wenner / Wenner, SGB V § 82 Rn. 3. 449 Schnapp / Wigge / Berner, HB des Vertragsarztrechts, § 8 Rn. 24. 450 Insbesondere die Honorarstreitigkeiten bergen ein hohes Kostenrisiko, Wenner, Vertragsarztrecht, § 21 Rn. 72; ausf. zu den Verfahrenskosten Schnapp / Wigge / Frehse, HB des Vertragsarztrechts, § 21 Rn. 151 ff.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

Aufsichtsbehörden kontrolliert, deren Beanstandungen die Gesamtvertragspartner im Rahmen einer Anfechtungsklage gerichtlich überprüfen lassen können.451 Hinsichtlich der Vergütungsvereinbarungen muss sich die Ärzteschaft folglich darauf verlassen, dass die KVen ihre Interessen bei den Vertragsverhandlungen ausreichend einbringen und durchsetzen.452 4. Zwischenergebnis: Ärztliche Interessenwahrung beim Abschluss der Kollektivverträge Die gemeinsame Verpflichtung von Ärzten und Krankenkassen, die vertragsärztliche Versorgung durch Verträge zu regeln, zwingt die Parteien dazu, ihre gegenläufigen Interessen hinsichtlich der Ausgestaltung der Gesundheitsversorgung in einen sachgerechten Ausgleich zu bringen. Hierfür erweist sich das Instrument des Vertrages als besonders geeignet, da für dessen Zustandekommen die Kooperationsbereitschaft beider Vertragsparteien Voraussetzung ist und der Wille zur Zusammenarbeit aktualisiert wird.453 Hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung der Verträge sind die Kollektivvertragspartner an das gesetzlich vorgegebene Rahmenprogramm gebunden, welches neben abstrakten Zielvorgaben auch spezifische Regelungsaufträge mit konkreten Vorgaben bereithält. Bei der Umsetzung dieser vorgeschriebenen Vertragsbestandteile ist der grundsätzlich weite Gestaltungsspielraum der Vertragsparteien deutlich beschränkter, sodass sich der Einigungsprozess primär in der Abarbeitung und Umsetzung des gesetzlichen Programms erschöpft. In den vergangenen Jahren lässt sich sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene eine Tendenz zunehmender Regulierung verzeichnen. Die inhaltliche Ausgestaltung der Kollektivvereinbarungen beruht daher immer weniger auf autonomen Einigungs­prozessen zwischen den Vertragsparteien, sondern vielmehr auf der Umsetzung der Gesetzesvorgaben.454 Infolgedessen sind die Möglichkeiten der Vertragsärzte zur Einbringung und anschließenden Durchsetzung ihrer Interessenstandpunkte limitiert. Schließlich sind die nachträglichen Rechtsschutzmöglichkeiten und damit die individuelle Interessenwahrung vor den Sozialgerichten beschränkt, was insofern konsequent ist, als die Rechtsschutzebene grundsätzlich nicht weiter reichen kann als die Primärrechtsebene. Die zunehmende Dichte an gesetzlichen Vorgaben hat allerdings nicht zu einer Entwertung der Kollektivverträge als Mittel zur ärztlichen Interessenwahrung geführt, denn beiden Vertragsparteien verbleiben noch Ausgestaltungsfreiräume, 451

BSG Urt. v. 31. 8. 2005 – B 6 KA 6/04 R, BSGE 95, 86. So Sodan / Schaks, VSSR 2014, 89, 112 für die Entscheidungen des Bewertungsaus­ schusses. 453 Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, S. 291. 454 Vgl. Axer, NZS 2017, 601, 602. 452

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die sie zur Einbringung ihrer widerstreitenden Interessen ausschöpfen können.455 Darüber hinaus kann über die Kollektivverträge die Durchsetzung von Interessen insofern gewährleistet werden, als sich das Ergebnis des zuvor stattgefundenen Aushandlungsprozesses in einem finalen Kompromiss niederschlägt. Erst wenn nahezu alle Vertragsinhalte auf einer bloßen Umsetzung des politischen Programms beruhen, könnten Zweifel an der Tauglichkeit der Verträge als Mittel zur ärztlichen Interessenwahrung berechtigt sein. Dann würde die für einen Vertragsabschluss konstitutive, freie Willensübereinstimmung zweier Parteien über die Herbeiführung eines Erfolgs fehlen,456 die den Vertragsparteien gerade die Einbringung und Durchsetzung ihrer Interessenstandpunkten ermöglicht. Für die tatsächliche Einbringung und Durchsetzung der ärztlichen Interessen bei den Kollektivvertragsverhandlungen tragen letztlich die Vertreter der KVen bzw. der KBV die Verantwortung. Inwiefern die ärztlichen Interessen hierbei ausreichend Berücksichtigung finden, hängt in Anbetracht bestehender Beschränkungen allerdings nur zum Teil von ihrem Verhandlungsgeschick und dem Ausgang der jeweiligen Vertragsverhandlungen ab.457

II. Die paritätisch besetzten Ausschüsse 1. Motive für die Etablierung eines paritätischen Ausschusssystems Die Idee, zur Wahrnehmung der gemeinsamen Aufgaben auf ein paritätisches Ausschusswesen zurückzugreifen, reicht weit zurück und ist wie die Kollektivverträge einer konfliktreichen Zeit zwischen Ärzten und Krankenkassen entsprungen. Bereits vor dem Abschluss des Berliner Abkommens vom 23. 12. 1913 bildeten sich auf lokaler Ebene zwischen Ärztevereinen und Kassenverbänden gemeinsame Schlichtungs- und Einigungskommissionen, die basierend auf dem Gedanken einer gleichberechtigten Zusammenarbeit paritätisch organisiert waren und ein friedliches Zusammenwirken ermöglichten.458 Die damaligen Akteure erkannten das friedensstiftende Potenzial der gemeinsamen Gremien und erhofften sich, hierauf aufbauend ein praktikables Konzept zur Organisation der Kassenarztpraxis etablieren zu können.459 Das Berliner Abkommen vom 23. 12. 1913 institutionalisierte schließlich als eine seiner Haupterrungenschaften paritätisch besetzte Aus 455

Vgl. bspw. bei der Ausgestaltung des BMV-Ä 3. Kap. B. I. 3. b) aa). Larenz, Schuldrecht AT, 1. Band, S. 40 f.; Tiemann / Tiemann, Kassenarztrecht im Wandel, S, 35. 457 Zur Schlüsselfunktion der KVen für die ärztliche Interessenwahrung s. 3. Kap. C. 458 Käsbauer, Die Neuordnung der Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen durch das Berliner Abkommen vom 23. 12. 1913, S. 82 ff.; Neuhaus, Arbeitskämpfe, Ärztestreiks, Sozialreformer, S. 317 f.; KassKomm / Ostertag, SGB V § 72 Rn. 6. 459 Käsbauer, Die Neuordnung der Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen durch das Berliner Abkommen vom 23. 12. 1913, S. 124, 125, 144 f.; Kulemann, Soziale Praxis 1908/1909, 593, 596. 456

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

schüsse: den Registerausschuss zur Verwaltung des Arztregisters, den Vertragsausschuss zur Durchführung der Arztverträge, den Zentralausschuss (später der sog. Reichsausschuss)460 zur Überwachung der Einhaltung des Abkommens und das Schiedsamt, welches mit inhaltlichen Fragestellungen über die Arztverträge sowie Beschwerden gegen Beschlüsse des Registerausschusses betraut war.461 Insgesamt ermöglichten die vier Ausschüsse der Ärzteschaft ein gleichberechtigtes Mitspracherecht bei allen wesentlichen Versorgungsfragen.462 Gleichzeitig ent­ wickelte sich durch das Ausschusswesen ein neuer Mechanismus zur Konflikt­ lösung zwischen Ärzten und Krankenkassen.463 Aufbauend auf den Institutionen des Berliner Abkommens entwickelte sich im Zuge der zahlreichen Reformen des Kassen- bzw. Vertragsarztrechts das heutige Ausschusswesen, dass sich aus den Bundes-464 und Landesausschüssen, den Zulassungs- und Berufungsausschüssen, den Prüfungsstellen und Beschwerdeausschüssen sowie dem einfachen und erweiterten Bewertungsausschuss zusammensetzt.465 2. Die gemeinsamen Ausschüsse als Steuerungsebene des Zusammenwirkens Als historisch gewachsener Bestandteil des Kollektivvertragssystems stellen die paritätisch besetzten Ausschüsse die zweite Steuerungsebene des Zusammenwirkens der Selbstverwaltungspartner dar.466 Ihrem Ursprung zufolge sind sie wie die Kollektivverträge auf die Förderung und Erzielung eines Interessenausgleichs angelegt.467 Sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene haben sich zur Erfüllung spezifischer Aufgaben gemeinsame Ausschüsse herausgebildet, die in ihrer organisatorischen und strukturellen Ausgestaltung vergleichbar sind.468 460 Ausf. zum Reichsausschuss Klette, Die Kassenarztverträge der sozialen Krankenversicherung, S. 112 ff. 461 Jantz / Prange, Das gesamte Kassenarztrecht, Teil B, S. 4 ff.; Richter, FS Ehrenberg, S. 75, 90 ff.; Schnapp / Wigge / Schnapp, HB des Vertragsarztrechts, § 1 Rn. 9. 462 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 40 ff.; Klette, Die Kassenarztverträge der sozialen Krankenversicherung, S. 60, 64. 463 Vgl. Klette, Die Kassenarztverträge der sozialen Krankenversicherung, S. 73; von der Etablierung eines Kooperations- und Schiedsgedankens im Kassenarztrecht spricht Käsbauer, Die Neuordnung der Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen durch das Berliner Abkommen vom 23. 12. 1913, S. 328. 464 Die Bundesausschüsse wurden mit dem GMG v. 14. 11. 2003 durch den GBA abgelöst, Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Musil, SGB V § 91 Rn. 10. 465 Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 19 Rn. 16; Axer, FS 50 Jahre BSG, S. 339, 345. 466 JurisPK-SGB  V / Hesral, § 72 Rn. 11. 467 Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, S. 289. 468 So werden bspw. alle Gremien bis auf den Bewertungs- und den Zulassungsausschuss durch einen unparteiischen Vorsitzenden geleitet, vgl. §§ 97 Abs. S. 1 SGB V, 106c Abs. 1 S. 2 SGB V, 91 Abs. 2 S. 1 SGB V, 90 Abs. 2 S. 1 SGB V und §§ 87 Abs. 3 S. 2 SGB V, 96 Abs. 2 S. 5 SGB V; s. hierzu Wenner, Vertragsarztrecht, § 8 Rn. 27.

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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Auf Landesebene befassen sich die Zulassungs- und Berufungsausschüsse mit Zulassungsangelegenheiten, die Prüfungsstellen und Beschwerdeausschüsse sind mit der Wirtschaftlichkeitsüberprüfung der vertragsärztlichen Leistungen betraut und den Landesauschüssen obliegt die Umsetzung der Bedarfsplanung sowie die Vermeidung von lokalen oder sektoralen Versorgungsfehlentwicklungen.469 Neben dem GBA, der mit der Befugnis zum Richtlinienerlass gem. § 91 Abs. 1 SGB V als „kleiner Gesetzgeber“ entscheidenden Einfluss auf das Gesundheitswesen hat,470 erfüllen auf Bundesebene der einfache sowie der erweiterte Bewertungsausschuss mit der Erstellung des EBM eine zentrale Funktion für das vertragsärztliche Vergütungswesen. Zu den Gremien der gemeinsamen Selbstverwaltung zählen auch die Schiedsämter auf Bundes- und Landesebene gem. § 89 Abs. 1, Abs. 2 SGB V, die hier eine gesonderte Betrachtung finden. Alle Ausschüsse eint ihre paritätische Besetzung. Demzufolge sind bei allen Aufgaben, die im Verantwortungsbereich der gemeinsamen Ausschüsse liegen, Ärzte und Krankenkassen in gleicher Weise eingebunden und mit den gleichen Entscheidungsbefugnissen ausgestattet. Die konkrete Entscheidungs- und Beschlussfassung variiert allerdings bei den einzelnen Ausschüssen in Abhängigkeit der ihnen zugewiesenen Aufgaben, weshalb der Vollzug des Interessenausgleichs und die Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung bei den jeweiligen Ausschüssen separat herausgearbeitet und bewertet werden sollen. Die folgende Analyse der paritätischen Ausschüsse fokussiert sich auf Bundesebene auf den Bewertungsausschuss und auf Landesebene auf die Zulassungs- und Berufungsausschüsse. Darüber hinaus werden die Prüfgremien, die Landesausschüsse und der GBA überblicksartig untersucht. 3. Der Bewertungsausschuss Als jüngstes Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung471 ist der Bewertungsausschuss mit einer für das vertragsärztliche Vergütungssystem zentralen Aufgabe betraut – der Aufstellung des EBM. Dieser bildet den Ausgangspunkt für die Bemessung der vertragsärztlichen Vergütung und die leistungsgerechte Verteilung der Gesamtvergütung, da er einen bundeseinheitlich geltenden Leistungskatalog über alle erbringbaren und abrechenbaren vertragsärztlichen Leistungen aufstellt.472 Obwohl der Bewertungsausschuss paritätisch besetzt ist, unterscheidet er sich von den anderen Ausschüssen der gemeinsamen Selbstverwaltung, da er mit der 469

JurisPK-SGB  V / Wiegand, § 90 Rn. 4. Wenner, Vertragsarztrecht, § 8 Rn. 37; auch als „Machtzentrum der GKV“ bezeichnend Schnapp / Wigge / Ziermann, HB des Vertragsarztrechts, § 7 Rn. 48 mit Verweis auf die 2. Auflage. 471 Er existiert seit dem KVKG v. 27. 6. 1977, BGBl. I, S. 1969. 472 BSG Urt. v. 13. 11. 1996 – 6 RKa 31/95, BSGE 79, 239, 242; BSG Urt. v. 11. 2. 2015 – B 6 KA 15/14 R, SozR 4–2500 § 106a Nr 13; s. a. Hauck / Noftz / Hamdorf, SGB V § 87 Rn. 4 f. 470

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

Vereinbarung des EBM als Vertragsbestandteil des Bundesmantelvertrages keine eigenständige Aufgabe wahrnimmt. Er gilt daher als „verlängerter Arm der Vertragsparteien“.473 Mit dieser gesonderten Aufgabenzuweisung an einen paritätisch besetzten Ausschuss sowie dem vertraglichen Charakter des EBM wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass die Parteien bei der Vereinbarung der Bewertungsmaßstäbe einen Ausgleich ihrer unterschiedlichen Interessen erzielen.474 a) Aufgaben, Organisation und Verfahren des Bewertungsausschusses Mit dem Ziel, eine einheitliche Vergütungsgrundlage für alle Kassenarten zu schaffen, wurde die Aufgabe der Erstellung eines Leistungsverzeichnisses bewusst der Vertragsautonomie der Bundesmantelvertragspartner entzogen und dem pari­ tätisch besetzten Bewertungsausschuss übertragen.475 § 87 Abs. 3 SGB V sieht eine Besetzung des Ausschusses mit sechs Mitgliedern vor, jeweils drei von der KBV und drei vom GKV-Spitzenverband. Der Vorsitz wird wechselnd von einem der sechs Ausschussmitglieder übernommen. Die entsandten Vertreter werden nicht durch Wahlen der Selbstverwaltungsgremien, sondern durch die jeweiligen Vorstände bestimmt, da diese auch die Abschlusskompetenz für die Kollektivverträge innehaben.476 Die gewählten Vertreter müssen keine besonderen fachlichen Qualifikationen erfüllen, sodass auch Nichtärzte wie bspw. Verbandsfunktionäre entsandt werden können.477 Sie unterliegen den Weisungen der sie entsendenden Körperschaften. Dieser Schluss liegt angesichts der fehlenden Festlegung einer Amtsdauer und mangels einer ausdrücklichen Regelung zur Weisungsfreiheit, wie sie bspw. mit § 96 Abs. 2 S. 4 SGB V für die Mitglieder des Zulassungsausschusses existiert, nahe. Die entsendenden Körperschaften können ihre Vertreter jederzeit und ohne Angabe eines Grundes abberufen.478 Neben der erstmaligen Aufstellung des EBM überprüft der Bewertungsausschuss, ob die Leistungsbeschreibungen und Bewertungen des EBM dem Stand der medizinisch-wissenschaftlichen Entwicklung sowie dem Erfordernis der Rationalisierung im Rahmen wirtschaftlicher Leistungserbringung entsprechen, vgl. § 87 Abs. 2 S. 2 SGB V.479 Als weitere Aufgaben sind ihm die Festlegung des Orientierungswertes gem. § 87 Abs. 2e SGB V sowie dessen Anpassung gem. § 87 Abs. 2g SGB V, die Abgabe von Empfehlungen zu bestimmten Vergütungsparametern gem.

473

Ausdrücklich KassKomm / Hess, SGB V § 87 Rn. 48. BT-Drs. 8/166, S. 9, 21; Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87 Rn. 506. 475 Bis 1983 existierten unterschiedliche Gebührenordnungen der Primär- und Ersatzkassen, NK-GesundhR / Weinrich, SGB V § 87 Rn. 13; KassKomm / Hess, SGB V § 87 Rn. 7. 476 NK-GesundhR / Weinrich, SGB V § 87 Rn. 54. 477 Hauck / Noftz / Hamdorf, SGB V § 87 Rn. 335. 478 BSG Urt. v. 29. 9. 1993 – 6 RKa 65/91, BSGE 73, 131, 132; jurisPK-SGB V / Freudenberg, § 87 Rn. 301. 479 Hauck / Noftz / Engelhard SGB V § 87 Rn. 285. 474

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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§ 87a Abs. 5 SGB V und die Analyse der Auswirkungen seiner eigenen Beschlüsse gem. § 87 Abs. 3a SGB V übertragen worden. Obwohl der EBM in einem gesonderten Ausschuss gem. § 87 Abs. 4 SGB  V „durch Beschluss“ vereinbart wird, handelt es sich rechtstechnisch gesehen um eine vertragliche Vereinbarung zwischen den Bundesmantelvertragspartnern.480 Dies ergibt sich bereits aus der gesetzlichen Anordnung in § 87 Abs. 1 S. 1 SGB V, wonach die Vertragsparteien durch Bewertungsausschüsse den EBM zu vereinbaren haben.481 Das Handeln der Ausschussvertreter wird den Bundesmantelvertragspartnern als eigenes zugerechnet.482 Auch das in § 87 Abs. 4 SGB V vorgeschriebene Einstimmigkeitserfordernis unterstreicht den vertraglichen Charakter des EBM.483 Diese enge Verknüpfung zu den Vertragsparteien erklärt die besondere Stellung des Ausschusses als „Vertragsorgan“.484 Als Bestandteil der Bundesmantelverträge kommt dem EBM ebenfalls Rechtsnormcharakter zu, sodass er nicht nur für die Bundesmantelvertragspartner, sondern auch für die Vertragsärzte und die Krankenkassen Rechtsverbindlichkeit entfaltet.485 Alle Beratungen des Ausschusses einschließlich der Beratungsunterlagen und der Niederschrift sind gem. § 87 Abs. 3 S. 3 SGB V vertraulich. Satz 4 dehnt die Vertraulichkeit zusätzlich auf die zur Vorbereitung und Durchführung der Beratung erforderlichen Unterlagen der Trägerorganisationen und des Instituts des Bewertungsausschusses aus.486 Die Vertraulichkeitsregelung wurde bewusst weit ausgestaltet, um eine Kompromissfindung und eine sachbezogene Diskussion, die als Wesensmerkmale der Selbstverwaltung gelten, innerhalb des Ausschusses zu fördern.487 Die Vereinbarungen über den EBM können nur durch einstimmigen Beschluss des Bewertungsausschusses zustande kommen, vgl. § 87 Abs. 4 S. 1 SGB V. Die zentrale Bedeutung des EBM für das vertragsärztliche Vergütungssystem macht eine gleichberechtigte Einbindung der zentralen Akteure in den Ent­ wicklungs- und Überarbeitungsprozess innerhalb des Bewertungsausschusses erforderlich. Über Kooperation soll ein angemessener Ausgleich der widerstreitenden Interessen erzielt werden. Wie sich diese Kooperation im Einzelnen vollzieht und in welchem Umfang die ärztlichen Interessen hierbei Berücksichtigung finden, soll anhand einer Analyse des Zustandekommens der Beschlüsse aufgezeigt werden.

480

Spickhoff / Nebendahl, SGB  V § 87 Rn.  8; Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / ​Motz, SGB V § 87 Rn. 58. 481 Krauskopf / Sproll, SGB V § 87 Rn. 77. 482 BSG Urt. v. 9. 12. 2004 – B 6 KA 44/03 R, BSGE 94, 50, 73. 483 Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, S. 300; Spickhoff / Nebendahl, SGB V § 87 Rn. 8. 484 BSG Beschl. v. 10. 12. 2008 – B 6 KA 37/08 B, juris Rz. 11. 485 St. Rspr. BSG Urt. v. 17. 9. 1997 – 6 RKa 36/97, BSGE 81, 86, 89 m. w. N.; Eichenhofer / ​ v. Koppenfels-Spies / Wenner / Motz, SGB V § 87 Rn. 9. 486 Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87 Rn. 347b. 487 BT-Drs. 17/6906, S. 61; kritisch hierzu Bäune / Dahm / Flasbarth, MedR 2012, 77, 95.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

b) Die Berücksichtigung der ärztlichen Interessen im Bewertungsausschuss Im Ausgangspunkt verfügt der Bewertungsausschuss als Gremium der gemein­ samen Selbstverwaltung wie alle untergesetzlichen Normengeber über einen weiten Gestaltungsspielraum zur Vereinbarung des EBM.488 Dies ist die Folge der korpo­ratistischen Ausgestaltung des Gesundheitssystems, in dem die Bedingungen der vertragsärztlichen Versorgung durch die Betroffenen selbst ausgehandelt und ausgestaltet werden sollen. Die Eröffnung eines Gestaltungsspielraumes ist hierfür konstitutiv.489 Die Verhandlungen im einfachen Bewertungsausschuss schließen mit einem einstimmigen Beschluss der Vertreter, vorausgesetzt ein Ausgleich der widerstreitenden Interessen konnte erzielt werden. Inwiefern die Parteien tatsächlich ihre Interessen im Rahmen des Aushandlungsprozesses einbringen und ggf. durchsetzen können, soll anhand der Vereinbarung und Anpassung des Orientierungswertes gem. § 87 Abs. 2e, 2g SGB V sowie der inhaltlichen Ausgestaltung, Anpassung und Weiterentwicklung des EBM aufgezeigt werden. aa) Die Festlegung des Orientierungswertes gem. § 87 Abs. 2e, 2g SGB V Bis zum 31. August eines jeden Jahres haben die sechs Mitglieder des Ausschusses den für die Euro-Gebührenordnungen und den EBM maßgeblichen Punktwert für das folgende Kalenderjahr festzulegen bzw. anzupassen.490 Im Grundsatz steht dem Bewertungsausschuss hierfür ein weiter Gestaltungsspielraum zu, dessen konkretes Maß sich allerdings aus der zugrundeliegenden Ermächtigungsvorschrift sowie ihrer Zielsetzung ergibt.491 Mit § 87 Abs. 2e, Abs. 2g SGB V erhält der Bewertungsausschuss die Entscheidungsbefugnis über die zentrale Preiskomponente des vertragsärztlichen Vergütungssystems. Beiden Parteien ist daher an einem möglichst offenen Verhandlungsprozess gelegen, der die Berücksichtigung der jeweils eigenen Interessenstandpunkte zulässt.492 Zur Festlegung bzw. Anpassung des Wertes hat der Gesetzgeber in § 87 Abs. 2g Nr. 1–3 SGB V einige Kriterien aufgestellt, wie die Entwicklung der für Arztpraxen relevanten Investitions- und

488

NK-GesundhR / Weinrich, SGB V §  87 Rn. 52; jurisPK-SGB V  /  Freudenberg, § 87 Rn.  154; Schnapp / Düring / Altmiks, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 467; Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87 Rn. 450 m. w. N. 489 Reuter / Weinrich, MedR 2013, 584, 585. 490 Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87 Rn. 300, 302. 491 BSG Urt. v. 17. 3. 2010 – B 6 KA 43/08 R, BSGE 106, 56, 60; BSG Urt. v. 10. 12. 2014 – B 6 KA 12/14 R, BSG Urt. v. 14. 12. 2011 – B 6 KA 6/11 R, MedR 2012, 613, 615; s. a. Reuter  / ​ Weinrich, MedR 2013, 584, 588. 492 Reuter / Weinrich, MedR 2013, 584, 586.

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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Betriebskosten, die Möglichkeit von Wirtschaftlichkeitsreserven oder die Kostendegression bei Fallzahlsteigerungen, die der Ausschuss bei seinen Vereinbarungen zu berücksichtigen hat.493 Darüber hinaus steht es dem Ausschuss frei, seine Verhandlungen unter Berücksichtigung und Abwägung anderer Kriterien zu führen.494 So ist davon auszugehen, dass in die Bewertung der betriebswirtschaftlichen Kosten auch die Weiterentwicklung des Arztlohns mit einfließt. Anders als die Investitions- und Betriebskosten, die statistisch ermittelbar sind, stellt sich dieser Aspekt als wertungsoffener dar und muss im Wege eines Abwägungsprozesses bei den Verhandlungen berücksichtigt werden.495 Alle Kriterien, die zur Beurteilung der Weiterentwicklung des Orientierungswertes herangezogen werden, dürfen sich jedoch nicht auf einzelne Ärzte oder Arztgruppen beziehen, da der Orientierungswert unabhängig von spezifischen Arztgruppen übergreifend für alle Ärzte Geltung beansprucht.496 Bei der Anpassung des Orientierungswertes ist der Bewertungsausschuss ebenfalls an das für die Gesamtvertragsvereinbarungen geltende Prinzip der Vorjahresanknüpfung gebunden, weshalb die Vertreter ausschließlich die Veränderungen in Bezug auf das Vorjahr zu überprüfen haben.497 Der Gestaltungsspielraum des Bewertungsausschusses ist entsprechend der zentralen Bedeutung der Preisgestaltung für beide Parteien sehr weit ausgestaltet, sodass sich die Vertreter, abgesehen von den im Gesetz bereits genannten Kriterien, im Wege eines offenen Verhandlungsprozesses über die Anpassung des Orientierungswertes einigen können. Hierbei verfügen sie über Freiraum zur Einbringung eigener Wertungen und Interessen.498 Die Praxis belegt, dass die Parteien diesen Freiraum zur Genüge für sich beanspruchen, denn in den vergangenen Jahren war stets eine Beschlussfassung des erweiterten Bewertungsausschusses erforderlich, der als inkorporiertes Schlichtungsgremium bei fehlender Einigung der Parteien die Vereinbarung festsetzt.499

493 Auf den Empfehlungscharakter der seit dem GKV-VStG „entschlackten“ Vorschrift hinweisend Rixen, GesR 2012, 337, 339. 494 Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87 Rn. 306 ff.; s. zur Berücksichtigung des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität NK-MedR / Altmiks, SGB V § 87 Rn. 30. 495 So Reuter / Weinrich, MedR 2013, 584, 586. 496 KassKomm / Hess, SGB V § 87 Rn. 44. 497 BSG Urt. v. 13. 8. 2014 – B 6 KA 6/14 R, BSGE 116, 280, 289 f.; Schnapp / Düring / Altmiks, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 401. 498 Reuter / Weinrich, MedR 2013, 584, 586. 499 Schnapp / Düring / Altmiks, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 402, Fn. 69 mit Verweis auf die Beschlüsse und Rn. 385 mit Verweis auf die Frequenz der Sitzungen; zum erweiterten Bewertungsausschuss s. 3. Kap. B. II. 3. c).

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

bb) Die Leistungsbewertung, Erstellung und Anpassung des EBM Eine weitere bedeutsame Aufgabe des Bewertungsausschusses neben der jähr­ lichen Anpassung des Orientierungswertes stellt der Beschluss über den EBM sowie dessen kontinuierliche Anpassung nach § 87 Abs. 1, Abs. 2 S. 2 SGB V dar. Hiermit steht ihm die Entscheidungsbefugnis über den für das gesamte Vertragsarzt­ system verbindlichen Leistungskatalog zu.500 Der EBM hat Ausschließlichkeitscharakter, denn er bildet abschließend alle zu Lasten der Krankenkasse abrechenbaren Leistungen mit Punkten ab.501 Jede durch den Bewertungsausschuss beschlossene Punktzahl drückt den mit der Leistungserbringung verbundenen Zeitaufwand (ärztlicher Leistungsanteil) sowie die entstandenen Kosten (technischer Leistungsanteil) aus.502 Die Punktwerte haben eine erhebliche gebührenrechtliche Relevanz für die Vertragsärzte, da der EBM, von einigen Ausnahmen abgesehen, die Grundlage für die Verteilung der Gesamtvergütung ist, also auch für die Honorar­ verteilungsmaßstäbe der KVen.503 Zusätzlich erfüllt der EBM eine Steuerungsfunktion innerhalb des Vergütungssystems, da nicht nur eine betriebswirtschaftliche und kalkulatorische Leistungsbewertung vorgenommen wird, sondern über die Definition und Bewertung ärztlicher Verrichtungen auch die Steuerung des Leistungsverhaltens der Vertragsärzte erreicht werden kann. Über Fallpauschalen oder die Bildung von Obergrenzen kann beispielsweise eine Mengensteuerung erzielt werden.504 Für die gesamte Ausgestaltung des EBM sowie zur Erfüllung seiner Steuerungs­ funktion steht dem Bewertungsausschuss grundsätzlich ein weiter Gestaltungsspielraum zur Verfügung.505 Andernfalls wäre für ihn die Erstellung eines umfassenden Leistungs- und Abrechnungsverzeichnisses, das den teilweise gegenläufigen Zielvorgaben aus §§ 70, 71, 72 Abs. 2 SGB V gerecht werden soll, nicht realisierbar.506 Daher können im EBM ergänzende Bewertungsformen wie Komplexgebühren, Gebührenpauschalen, Abstaffelungen oder andere mengen- und fallzahlbegrenzende Maßnahmen zur Förderung der Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung und zur Erzeugung von Verteilungseffekten vorgesehen werden.507 Ebenso darf im In 500

S. Fn. 472. Zum Ausschließlichkeitscharakter des EBM Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87 Rn. 47. 502 Mit Verweis auf das Standardbewertungssystem (STABS) NK-MedR / Altmiks, SGB V § 87 Rn. 11. 503 Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 21 Rn. 14. 504 BSG Urt. v. 28. 10. 2015 – B 6 KA 42/14 R, MedR 2017, 498; Schnapp / Wigge / Hess, HB des Vertragsarztrechts § 15 Rn. 49. 505 BSG Urt. v. 13. 11. 1996 – 6 RKa 31/95, BSGE 79, 239, 242; BSG Urt. v. 16. 5. 2001 – B 6 KA 20/00 R, BSGE 88, 126, 137; BSG Urt. v. 12. 12. 2012 – B 6 KA 3/12 R, SozR 4–2500 § 75 Nr 13 Rn. 29; Spickhoff / Nebendahl, SGB V § 87 Rn. 14; NK-GesundhR / Weinrich, SGB V § 87 Rn. 52. 506 Vgl. zu den Zielvorgaben BSG Urt. v. 9. 12. 2004 – B 6 KA 44/03 R, BSGE 94, 50, 71 f.; NK-GesundhR / Weinrich, SGB V § 87 Rn. 13. 507 BSG Urt. v. 16. 5. 2001 – B 6 KA 20/00 R, BSGE 88, 126, 128 f; BSG Urt. v. 23. 2. 2005 – B 6 KA 55/03 R, SozR 4–2500 § 87 Nr 9 Rn. 12; ausf. Reuter, GesR 2016, 409. 501

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teresse der Überschaubarkeit und Praktikabilität einer Regelung auf Verallgemeinerungen, Typisierungen oder Pauschalierungen zurückgegriffen werden.508 Nur so können die Vertreter im Rahmen des Aushandlungsprozesses eine Abwägung vornehmen und sachgerechte, flexible Lösungen erarbeiten.509 Gleichwohl hat der Gesetzgeber seit dem Gesundheitsstrukturgesetz die inhaltlichen Vorgaben für die Ausgestaltung des EBM in § 87 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 2a–d SGB V deutlich ausgeweitet und den Gestaltungsspielraum des Bewertungsausschusses damit zunehmend begrenzt.510 Die wichtigsten Kriterien zur Leistungsbewertung und -anpassung ergeben sich aus § 87 Abs. 2 S. 1–3 SGB V, wonach der erforderliche Zeitaufwand für die Leistungserbringung sowie die wirtschaftliche Nutzung medizinisch-technischer Geräte unter Berücksichtigung der Besonderheiten der jeweiligen Arztgruppe zu bewerten sind.511 Auch die Betriebs- und Sachkosten fließen gem. §§ 87 Abs. 1 S. 1, 87 Abs. 2 S. 2, 4 SGB V in die Punktbewertung mit ein.512 Da dem EBM als gesetzlichem Bestandteil des BMV-Ä ebenfalls Rechtsnormcharakter zukommt, muss auch der für alle Verträge geltende Grundsatz der angemessenen Vergütung aus § 72 Abs. 2 SGB V berücksichtigt werden.513 Die § 87 Abs. 2a–d SGB V enthalten weitere konkrete Vorgaben zur inhaltlichen Strukturierung und Ausgestaltung des EBM, wie bspw. die Gliederung des EBM in die haus- und fachärztliche Versorgung oder die Abbildung der hausärztlichen und fachärztlichen Leistungen als Versicherten- bzw. Grund- und Zusatzpauschalen. Darüber hinaus ist der Bewertungsausschuss gem. § 87 Abs. 2 S. 2 SGB V in bestimmten Zeitabständen dazu verpflichtet, die Bewertungen und Leistungsbeschreibungen auf ihre Aktualität hin zu überprüfen und wenn nötig anzupassen. Diese Anpassungspflicht beschränkt sich nicht auf die in § 87 Abs. 2 S. 2 SGB V genannten Kriterien, sondern ist allumfassend, da der medizinische Fortschritt nicht durch die Festschreibung von Gebührenpositionen gehemmt werden soll.514 In diesem Zuge wird der Bewertungsausschuss dazu verpflichtet, bei der Überprüfung der Positionen des EBM spezielle Vergütungsregelungen neu zu etablieren, wie bspw. in § 87 Abs. 2a S. 7, 8 SGB V geschehen.515 508

BSG Urt. v. 29. 1. 1997  – 6 RKa 18/96, SozR 3–2500 § 87 Nr 16, S. 65; BSG Urt. v. 9. 4. 2008 – B 6 KA 40/07 R, BSGE 100, 154, 159 f.; m. w. N. Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87 Rn. 451. 509 Vgl. m. w. N. BSG Urt. v. 12. 12. 2012 – B 6 KA 3/12 R, SozR 4–2500 § 75 Nr 13 Rn. 29; Reuter / Weinrich, MedR 2013, 584, 586; NK-GesundhR / Weinrich, SGB V § 87 Rn. 19. 510 Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87 Rn. 14, 64, 125; Rompf, GesR 2008, 57, 58; Schneider, MedR 1997, 1, 4. 511 JurisPK-SGB  V / Freudenberg, § 87 Rn. 115 ff.; NK-MedR / Altmiks, SGB V § 87 Rn. 10 f. 512 JurisPK-SGB  V / Freudenberg, § 87 Rn. 119 ff. 513 Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87 Rn. 77. 514 JurisPK-SGB  V / Freudenberg, § 87 Rn. 128; s. weitere spezielle Überprüfungspflichten in §§ 87 Abs. 2 S. 2 Hs. 1, 87 Abs. 1b S. 5, 87 Abs. 2a S. 7, 87 Abs. 2a S. 8; es wird auch von einer allgemeinen Beobachtungs- und Reaktionspflicht des Bewertungsausschusses gesprochen, NK-GesundhR / Weinrich, SGB V § 87 Rn. 23. 515 Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87 Rn. 285.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

Neben den gesetzlichen Vorgaben ist eine Beeinflussung des Einigungsprozesses zwischen den Parteien durch die Aufsichtsbefugnisse des BMG gem. § 87 Abs. 6 SGB V nicht auszuschließen. Dessen Befugnisse wurden in jüngerer Zeit erheblich ausgeweitet, insbesondere für den Fall, dass der Bewertungsausschuss seine Aufgaben nicht bzw. nicht rechtzeitig erfüllt oder seine Entscheidungen nicht dem gewünschten Inhalt entsprechen.516 Der Gesetzgeber wollte hiermit insgesamt den Anreiz für die Selbstverwaltung erhöhen, Regelungen fristgerecht umzusetzen. So sind in § 87 Abs. 6 SGB V mehrere Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Beschlussfassung des Bewertungsausschusses vorgesehen, wie das Teilnahme­ recht an Sitzungen, die Vorlagepflicht der Beschlüsse einschließlich der Beratungsunterlagen, das Beanstandungsrecht, das Recht im Falle einer Nichtbeanstandung den Beschluss mit Auflagen zu versehen und das Ersatzvornahmerecht, das als letzter zu ergreifender Konfliktlösungsmechanismus vorgesehen ist.517 Wie bei der Vorlagepflicht für Vergütungsvereinbarungen gem. § 71 Abs. 4 SGB V518 ist auch hier davon auszugehen, dass die Aufsichtsbefugnisse des BMG die autonomen Entscheidungsbefugnisse der Vertreter beeinflussen.519 Allerdings ist das Beanstandungsrecht des BMG auf eine Rechtskontrolle beschränkt, sodass die untergesetzlichen Normen nicht auf ihre Zweckmäßigkeit überprüft werden. Andernfalls würde der Gestaltungsspielraum des Bewertungsausschusses zu stark eingeengt.520 Auch das Teilnahmerecht gem. § 87 Abs. 6 S. 1 Hs. 1 SGB V beinhaltet lediglich die bloße Anwesenheit an den Sitzungen ohne jegliches Rede- oder Mitentscheidungsrecht,521 sodass der Verhandlungsprozess der Vertreter hierdurch nicht beeinflusst wird. Das Recht gem. § 87 Abs. 6 S. 3 SGB V, den nichtbeanstandeten Beschluss mit Auflagen zu versehen, gilt im Vergleich zur Beanstandung zwar als milderes Mittel, ist aber als Aufforderung an die Mitglieder zur Modifizierung der Beschlüsse zu verstehen.522 Die Vertragsautonomie des Ausschusses wird hierdurch also tangiert. Die Ausübung des Beanstandungsrechts nach § 87 Abs. 6 S. 2 SGB V kann zu einer faktischen Eingrenzung der Vertragsautonomie der Vertreter führen, da diese den Beanstandungen nachzukommen haben.523 Ein beanstandeter Beschluss kann andernfalls seine Wirkung nicht entfalten, vgl. § 87 Abs. 6 S. 4 SGB V. Einen „gravierenden Eingriff in das Selbstverwaltungs 516

Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87 Rn. 413; s. a. BT-Drs. 15/1525, S. 105; BT-Drs. 16/3100, S. 132; von erheblichen Aufsichtsmöglichkeiten spricht Eichenhofer / v. KoppenfelsSpies / Wenner / Motz, SGB V § 87 Rn. 64 517 S. BT-Drs. 16/3100, S. 132. 518 S. hierzu 3.  Kap. B. I. 3. c) aa). 519 Durch die Aufsichts- und Selbsteintrittsrechte könne das BMG faktisch zum Normgeber werden, so Wenner, Vertragsarztrecht, § 19 Rn. 5. 520 LPK-SGB  V / Engelhart-Au, § 87 Rn. 47; Spickhoff / Nebendahl, SGB V § 87 Rn. 73; s. BSG Urt. v. 6. 5. 2009 – B 6 A 1/08 R, BSGE 103, 106, 118, Entscheidung zum GBA, die auf den Bewertungsausschuss übertragbar ist. 521 Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87 Rn. 416. 522 NK-GesundhR / Weinrich, SGB V § 87 Rn. 72; s. a. BT-Drs. 16/3100, S. 132. 523 Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87 Rn. 422.

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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recht der den Bewertungsausschuss bildenden Organisationen“ stellt hingegen das Recht zur Ersatzvornahme gem. § 87 Abs. 6 S. 4 SGB V dar.524 Obwohl die Aufsichtsbefugnisse die Grenze der Rechtsaufsicht nicht überschreiten und der Gestaltungsspielraum des Bewertungsausschusses folglich berücksichtigt wird, kann eine faktische Beeinflussung des Einigungsprozesses nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Sie dienen dazu, die der Selbstverwaltung überlassenen Konkretisierungsbefugnisse im Rahmen der gesetzgeberischen Vorstellung zu halten. Denn über die Aufsichtsbefugnisse des BMG bleiben jedenfalls mittelbar Eingriffsmöglichkeiten auf die Selbstverwaltung gewährleistet.525 Schließlich kann der autonome Einigungsprozess der Vertreter im Bewertungsausschuss durch die schiedsähnlichen Befugnisse des erweiterten Bewertungsausschusses bereits im Wege der „Vorwirkung“ beeinflusst und faktisch eingeschränkt werden.526 Insgesamt wird der Gestaltungsspielraum der Vertreter im Bewertungsausschuss durch die aufgezeigten gesetzlichen Vorgaben beschränkt und die Beschlussfassungen können durch die Ausübung der Aufsichtsbefugnisse des BMG jedenfalls faktisch determiniert werden. cc) Zwischenergebnis Als „Ort der Verhandlung“527 oder „Platz des organisierten Konflikts“528, wie der Bewertungsausschuss auch bezeichnet wird, sind dessen Beschlüsse Ergebnis und Ausdruck des zwischen den Parteien stattfindenden Interessenausgleichs.529 Den Vertretern beider Parteien verbleibt im Rahmen der komplexen Bewertungsprozesse noch Freiraum zur Einbringung von Interessenstandpunkten. In den letzten Jahren werden sie jedoch vermehrt mit den detaillierten Regelungsvorgaben des Gesetzgebers konfrontiert – § 87 Abs. 2a SGB V hat mittlerweile einen textlichen Umfang von 26 Sätzen und ist zum „Sammelbecken von gesetzgeberischen Einzelaufträgen“ geworden.530 Die steuerungspolitische Einflussnahme des Gesetzgebers auf das Vertrags- und Vergütungsgefüge des Vertragsarztrechts, die eine Verkürzung der Autonomie der Selbstverwaltungsakteure zur Folge hat,531 tritt hiermit erkennbar zum Vorschein. 524

Ausrücklich Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87 Rn. 433; s. a. BT-Drs. 16/3100, S. 132. So NK-GesundhR / Weinrich, SGB V § 87 Rn. 69; als Etatismus in Reinkultur bezeichnend Wenner, Vertragsarztrecht, § 12 Rn. 10; Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87 Rn. 134 spricht von einer Zurückdrängung der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen. 526 Krause, VSSR 1990, 107, 110; s. bereits bei den Kollektivverträgen 3. Kap. B. I. 2. 527 NK-GesundhR / Weinrich, SGB V § 87 Rn. 52. 528 Reuter / Weinrich, MedR 2013, 584, 588. 529 NK-GesundhR / Weinrich, SGB V § 87 Rn. 52. 530 Ausdrücklich Schnapp / Wigge / Hess, HB des Vertragsarztrechts, § 15 Rn. 51; NK-GesundhR / Weinrich, SGB V § 87 Rn. 28, 32. 531 Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87 Rn. 125. 525

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

c) Die Berücksichtigung der ärztlichen Interessen im erweiterten Bewertungsausschuss Mit dem EBM und der Festlegung des Orientierungswertes hat der einfache Bewertungsausschuss über Fragen des vertragsärztlichen Vergütungssystems zu entscheiden, die ein hohes Konfliktpotential in sich bergen.532 Das Zustandekommen einer einstimmigen Entscheidung ist hierdurch erschwert. Dies wird nicht zuletzt dadurch belegt, dass für die Festlegung und Anpassung des bundeseinheitlichen Orientierungswertes in den vergangenen Jahren stets eine Beschlussfassung des erweiterten Bewertungsausschusses erforderlich war.533 Gelingt es den Vertretern im einfachen Bewertungsausschuss nicht, durch übereinstimmenden Beschluss eine Vereinbarung zu treffen, wird der erweiterte Bewertungsausschuss gem. § 87 Abs. 4 SGB V auf Verlangen von mindestens zwei Mitgliedern einberufen. Dieser setzt seine Beschlüsse gem. § 87 Abs. 5 S. 1 SGB V mit der Mehrheit seiner Mitglieder fest. Zu den sechs Vertretern des Bewertungsausschusses kommen gem. § 87 Abs. 4 SGB V zwei unparteiische Mitglieder, die jeweils vom GKVSpitzenverband und der KBV zu benennen sind, sowie ein durch beide Parteien zu benennender unparteiischer Vorsitzender hinzu.534 Der Ausschuss umfasst damit neun Mitglieder, sodass es für eine Mehrheitsentscheidung fünf Stimmen bedarf. Nur bei Anwesenheit der neun Mitglieder bzw. deren stimmberechtigten Stellvertretern ist die Beschlussfähigkeit gegeben.535 Die unparteiischen Mitglieder unterscheiden sich in ihrer rechtlichen Stellung von den sechs Vertretern des einfachen Bewertungsausschusses, da sie aufgrund ihrer wahrzunehmenden Schlichtungsfunktion keinen Weisungen hinsichtlich ihres Stimmverhaltens unterliegen. Für sie ist weder im Gesetz noch in den Geschäftsordnungen eine feste Amtsdauer vorgesehen.536 Allerdings können sie jederzeit einseitig, der Vorsitzende nur durch einen gemeinsamen Beschluss, von den benennenden Organisationen abberufen werden. An der Weisungsfreiheit der beiden unparteiischen Mitglieder lässt sich in Anbetracht dessen zweifeln.537 Der erweiterte Bewertungsausschuss kann zu allen im Gesetz genannten Themen, nicht nur zum EBM, einberufen werden.538 In verfahrensrechtlicher Hinsicht bestimmt § 87 Abs. 5 S. 4, 5 SGB V, wie für den einfachen Bewertungsausschuss, 532

S. o. 3.  Kap. B. II. 3. b), aa), bb). So Schnapp / Düring / Altmiks, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 402. 534 Im Falle der fehlenden Einigung über den unparteiischen Vorsitzenden greift das Verfahren nach § 89 Abs. 6 SGB V, wonach im Zweifel die Aufsichtsbehörde eine Entscheidung trifft; Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87 Rn. 350; zu den Schwierigkeiten bei der Auswahl des unparteiischen Vorsitzenden Rn. 351. 535 Dies ergibt sich aus § Abs. 1, Abs. 2 i. V. m. § 11 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Bewertungsausschusses. 536 Schnapp / Düring / Altmiks, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 425 f.; Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87 Rn. 352 f. 537 Vgl. bereits bei den Mitgliedern des einfachen Bewertungsausschusses Fn. 478. 538 Vgl. BT-Drs. 18/4095, S. 95. 533

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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die Zuarbeit durch das Institut des Bewertungsausschusses sowie die Geltung der strengen Vertraulichkeitsregelungen.539 Einfacher und erweiterter Bewertungsausschuss werden als einheitlicher Ausschuss verstanden, der sich je nach Beschlussgegenstand lediglich in seiner Entscheidungsfindung und Zusammensetzung unterscheidet.540 Daher findet teilweise ein fließender Übergang zwischen den Diskussionen im Bewertungsausschuss und denjenigen im erweiterten Bewertungsausschuss statt. Die unparteiischen Mitglieder können bei konfliktträchtigen Themenbereichen bereits an den Sitzungen des Bewertungsausschusses teilnehmen, um sich für den Fall der Nichteinigung einen erneuten Einarbeitungsprozess in die Streitfrage zu ersparen.541 Möglich ist auch, dass die Vertragsparteien die unstreitigen Fragen vorab regeln und nur für die streitigen Punkte den erweiterten Bewertungsausschuss einberufen.542 Mit dieser Konstruktion eines einheitlichen Ausschusses, der anhand seiner Zusammensetzung und Entscheidungsbefugnisse unterschiedliche Funktionen erfüllen kann, wurde ein „in den Normsetzungs­ vorgang inkorporiertes Schiedsverfahren“ geschaffen.543 Die „Festsetzung“ der Vereinbarungen im erweiterten Bewertungsausschuss ändert nichts am vertraglichen Charakter der Beschlüsse. Dieser ergibt sich nicht nur aus der Eingliederung des EBM in den Bundesmantelvertrag, sondern auch aus der gesetzlichen Anordnung in § 87 Abs. 5 S. 2 SGB V. Einer vertraglichen Einigung ist grundsätzlich ein Interessenausgleich immanent, wenn ihr Zustandekommen von der Übereinstimmung aller Mitglieder des Ausschusses abhängig ist. Aus diesem Grund ist sowohl beim Abschluss der Kollektivverträge als auch bei den Beschlüssen im einfachen Bewertungsausschuss, die ausschließlich durch einen Konsens der Mitglieder zustandekommen, davon auszugehen, dass die Parteien einen Ausgleich ihrer widerstreitenden Interessen erzielen konnten.544 Im Gegensatz hierzu werden die Vereinbarungen im erweiterten Bewertungsausschuss durch einen Mehrheitsbeschluss festgesetzt, was für die Parteien das Risiko birgt, je nach Entscheidungsausgang überstimmt zu werden.545 Denn soweit es zu einer entsprechenden Blockbildung der Ärzte- und der Krankenkassenseite kommt, gibt die Stimme des unparteiischen Vorsitzenden den Ausschlag.546 Auch wenn die Festsetzung in ihrer Rechtswirkung einem Vertrag gleichsteht, fehlt hiermit das 539

Spickhoff / Nebendahl, SGB V § 87 Rn. 69; s. a. 3. Kap. II. 3. a). BSG Urt. v. 8. 5. 1996 – 6 RKa 49/95, BSGE 78, 191, 192; BSG Urt. v. 11. 9. 2002 – B 6 KA 34/01 R, BSGE 90, 61, 63. 541 Altmiks, WzS 2016, 9, 11; Schnapp / Düring / Altmiks, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 448, 453. 542 BSG Urt. v. 8. 5. 1996 – 6 RKa 49/95, BSGE 78, 191, 193; Wenner, Vertragsarztrecht, § 8 Rn.  44; Schnapp / Düring / Altmiks, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 443. 543 Dies ergibt sich auch aus dem Verweis in § 87 Abs. 4 S. 2 SGB V auf § 89 Abs. 3 SGB V a. F. (entspricht jetzt § 89 Abs. 6), BSG Urt. 11. 9. 2002 – B 6 KA 34/01 R, BSGE 90, 61, 62 f. 544 Vgl. für die Kollektivverträge 3. Kap. B. I. 4., für den Bewertungsausschuss 3. Kap. ​ B. II. 3. b). 545 So Sodan / Schaks, VSSR 2014, 89, 112; Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 721. 546 KassKomm / Hess, SGB V § 87 Rn. 59. 540

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

für Verträge charakteristische Merkmal eines Konsensualbeschlusses zwischen den Parteien.547 Diese Ausgangssituation führt dazu, dass die Mitglieder des erweiterten Bewertungsausschusses im Vorfeld einer Beschlussfassung ihre Interessen zwar einbringen können – der Gestaltungsspielraum des erweiterten Bewertungsausschusses entspricht demjenigen des einfachen548 – eine Durchsetzung ihrer Interessen ist aber gerade nicht gewährleistet. Dies ist der Funktionsweise des Schlichtungsverfahrens geschuldet, das zum Zwecke der Funktionsfähigkeit des Systems sicherstellt, dass eine Vereinbarung zustande kommt und damit irgendein Interesse durchgesetzt wird.549 Im Falle eines Patts kann daher je nach Entscheidung des unparteiischen Vorsitzenden ausschließlich die Position der Ärztevertreter oder diejenige der Krankenkassen in einen finalen Beschluss einfließen. Möglich ist aber auch, dass die sechs Vertreter und die drei Unparteiischen einen mehrheitsfähigen Kompromiss erzielen, der dann den Interessenstandpunkten beider Seiten größtenteils Rechnung trägt. Das Risiko, die eigenen Interessen nicht ausreichend im finalen Beschluss durchsetzen zu können, trifft also Ärzte und Krankenkassen in gleicher Weise. Diese Auswirkungen für die Durchsetzbarkeit von Interessenstandpunkten sind angesichts der schiedsähnlichen Funktion des erweiterten Bewertungsausschusses nur konsequent. Andernfalls könnte dieser seine Funktion, anstelle der Vertragsparteien zum Zwecke der Funktionsfähigkeit des Systems sowie der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung die Vertragsinhalte festzusetzen, nicht erfüllen.550 Die Mitglieder des erweiterten Bewertungsausschusses wären dann ebenfalls mit der Schwierigkeit konfrontiert, einen Konsens zu erzielen. Dies würde sich angesichts der Komplexität der Vergütungsfragen und des Interessenkonflikts zwischen Ärzten und Krankenkassen als schwieriges Unterfangen erweisen.551 Der schiedsähnliche Entscheidungsmechanismus des erweiterten Bewertungsausschusses ist also für die „Funktionsfähigkeit des vom Gesetzgeber gewählten Konzepts funktionaler Selbstverwaltung“ unabdingbar.552

547

Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 721, 723. BSG Urt. v. 27. 6. 2012 – B 6 KA 28/11 R, BSGE 111, 114, 122; s. a. 3. Kap. B. II. 3. b). 549 Vgl. BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 136. 550 Vgl. für das Schiedsamt Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 22 Rn. 4; Krauskopf / Sproll SGB V § 89 Rn. 6. 551 Die hohe Komplexität der Entscheidungsfindung im Bewertungsausschusses belegt das zur Unterstützung des Bewertungsausschusses etablierte Institut. Mit den §§ 87 Abs. 3a ff. SGB V sollte eine Professionalisierung des Entscheidungsverfahrens im Bewertungsausschuss erreicht werden, BT-Drs. 16/3100, S. 130. 552 Rixen, GesR 2005, 433, 436. 548

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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d) Individuelle Interessenwahrung durch gerichtliche Kontrolle Im Rahmen der Beschlussfassung des Bewertungsausschusses tragen die drei Vertreter der KBV die Verantwortung für eine angemessene Berücksichtigung der kollektiven Interessen der Ärzteschaft. Hiermit muss allerdings nicht zwangsläufig eine angemessene Repräsentation individueller ärztlicher Interessen verbunden sein, sodass eine nachträgliche Überprüfungsmöglichkeit der Beschlüsse des einfachen und des erweiterten Bewertungsausschusses für den einzelnen Vertragsarzt von Interesse sein kann. aa) Klagemöglichkeiten gegen die Beschlüsse des Bewertungsausschusses Eine direkte Anfechtung der Beschlüsse des Bewertungsausschusses steht Vertragsärzten nicht zu, da es sich hierbei um Teilakte der Normsetzung und nicht um Verwaltungsakte handelt. Zudem sieht das sozialgerichtliche Verfahren, abgesehen von § 55a SGG, keine Möglichkeit der abstrakten Normenkontrolle vor. Aufgrund des Rechtsnormcharakters können weder der EBM noch einzelne Bestimmungen desselben im Wege einer abstrakten Normenkontrolle angegriffen werden.553 Daher können Vertragsärzte die Wirksamkeit des EBM nur inzident über eine Anfechtung ihres Honorarbescheides oder im Rahmen einer sachlichrechnerischen Richtigstellung überprüfen lassen.554 Nur im Ausnahmefall, wenn auf andere zumutbare Weise kein wirksamer Rechtsschutz erlangt werden kann, ist eine Feststellungsklage des Vertragsarztes, bspw. auf Erbringung und Abrechnung bestimmter Leistungen nach dem EBM, zulässig.555 bb) Klagemöglichkeiten gegen die Beschlüsse des erweiterten Bewertungsausschusses Die Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Beschlüsse des erweiterten Bewertungsausschusses werden durch deren Doppelcharakter bestimmt: Für die Trägerorganisationen des erweiterten Bewertungsausschusses, die KBV und den GKVSpitzenverband, stellen die gefassten Beschlüsse Verwaltungsakte dar, sodass

553

BSG Urt. v. 1. 7. 1992 – 14a/6 RKa 1/90, BSGE 71, 42, 45, 51; s. a. Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87 Rn. 471. 554 JurisPK-SGB  V / Freudenberg, § 87 Rn. 99; NK-MedR / Altmiks, SGB V § 87 Rn. 42; s. a. BSG Urt. v. 1. 7. 1992 – 14a/6 RKa 1/90, BSGE 71, 42, 52. 555 So BSG Urt. v. 20. 3. 1996 – 6 RKa 21/95, BSGE 78, 91 f.; für den Fall, dass ein Vertragsarzt gegen den Wortlaut des Bewertungsmaßstabes Leistungen erbringen musste, um anschließend im Honorarberichtigungsverfahren seine Berechtigung zur Leistungserbringung geltend machen zu können; s. Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87 Rn. 474.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

hiergegen im Wege der Anfechtungsklage vorgegangen werden kann.556 Für die an der Normensetzung nicht beteiligten Vertragsärzte stellen die Beschlüsse hingegen Rechtsnormen dar, weshalb sie der Anfechtung im Klageweg entzogen sind. Vertragsärzte können daher wie bei Entscheidungen des einfachen Bewertungsausschusses die Rechtswidrigkeit von Beschlüssen des erweiterten Bewertungsausschusses nur inzident über die Anfechtung ihres Honorarbescheides überprüfen lassen.557 cc) Bewertung der nachträglichen Rechtsschutzmöglichkeiten Mit der inzidenten Überprüfung von als rechtswidrig angesehen Bestimmungen des (erweiterten) Bewertungsausschusses im Wege einer Anfechtungsklage verfügt der Vertragsarzt grundsätzlich über Rechtsschutzmöglichkeiten. Allerdings ist der gerichtliche Schutz nur sehr schwach ausgestaltet. Die Gerichte üben erhebliche Zurückhaltung bei der Überprüfung der Beschlüsse des Bewertungsausschusses bzw. der einzelnen Vergütungstatbestände des EBM. Ursache hierfür ist der weite Gestaltungsspielraum des Bewertungsausschusses, der ihm zur Erfüllung seiner komplexen Aufgaben zusteht.558 Der besondere Charakter des EBM als autonomes Leistungsverzeichnis der vertragsärztlichen Vergütung mache es gerade erforderlich, dass Eingriffe von außen grundsätzlich unterbleiben.559 Aus diesem Grund ist es den Gerichten nur ausnahmsweise und in sehr engen Grenzen gestattet, in das umfassende Bewertungsgefüge der vertragsärztlichen Gebührenordnung einzugreifen. Sie prüfen daher primär, ob der Bewertungsausschuss die Grenzen des ihm zustehenden Entscheidungsspielraumes überschritten oder seine Bewertungskompetenzen missbräuchlich ausgenutzt hat.560 Dies ist bspw. dann der Fall, wenn einzelne Gruppierungen von Ärzten bei der Honorierung bewusst benachteiligt werden, der Bewertungsausschuss erkennbar sachfremde Erwägungen zu Grunde

556

BSG Urt. v. 11. 9. 2002 – B 6 KA 34/01 R, BSGE 90, 61, 63 mit Verweis auf die fehlende Anfechtungsmöglichkeit der Trägerorganisationen von Beschlüssen des einfachen Bewertungsausschusses, da sie an die geschlossenen Verträge gebunden sind (pacta sunt servanda); bestätigend BSG Urt. v. 27. 6. 2012 – B 6 KA 28/11 R, BSGE 111, 114, 116. 557 Schnapp / Düring / Altmiks, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 504. 558 NK-GesundhR / Weinrich, SGB V § 87 Rn. 75 f.; LPK-SGB V / Engelhart-Au, § 87 Rn. 51; Sodan / Schaks, VSSR 2014, 89, 97; s. a. die ausf. Begründung mit Verweis auf das Kooperationskonzept zwischen Ärzten und Krankenkassen in BSG Urt. v. 16. 5. 2001 – B 6 KA 20/00 R, BSGE 88, 126, 133. 559 BSG Urt. v. 20. 3. 1996 – B 6 RKa 51/95, BSGE 78, 98, 107; BSG Urt. v. 16. 5. 2001 – B 6 KA 20/00 R, BSGE 88, 126, 133; BSG Urt. v. 17. 2. 2016 – B 6 KA 47/14 R, SozR 4–2500 § 87 Nr 32 Rn. 23. 560 BSG Urt. v. 26. 4. 1978 – 6 RKa 11/77, BSGE 46, 140, 143; BSG Urt. v. 13. 11. 1996 – 6 RKa 31/95, BSGE 79, 239, 245 f.; BSG Urt. v. 16. 5. 2001 – B 6 KA 47/00 R, SozR 3–2500 § 87 Nr 30, S. 166 f.; BSG Urt. v. 15. 5. 2002 – B 6 KA 33/01 R, BSGE 89, 259, 264.

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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gelegt oder er seine Bewertungskompetenz mit Blick auf den Zweck der Ermächtigung unvertretbar oder unverhältnismäßig gebraucht hat.561 Eine strengere Kontrolle der Gerichte wird vom BSG allerdings dann für geboten erachtet, wenn das Normenprogramm des EBM auf tatsächliche Verhältnisse Bezug nimmt und / oder eine Regelung trifft, die als Tatbestandsmerkmal Zahlen oder Formeln enthält (sog. „zahlenförmige Norm“).562 Im Ergebnis bedeutet dies jedoch keine Verschärfung der Kontrolle, da das BSG auch für diese Fälle lediglich eine Willkürkontrolle vorschreibt.563 Darüber hinaus wird dem Bewertungsausschuss bei Anfangs- und Erprobungsregelungen für die Neuregelung komplexer Materien ein besonders weiter Gestaltungsspielraum in Form von Ermittlungs-, Erprobungs- und Umsetzungsspiel­ räumen zugebilligt, die bewirken, dass rechtlich problematische Regelungen für einen Übergangszeitraum hingenommen werden müssen.564 Bei Beschlüssen des erweiterten Bewertungsausschusses ist die Kontrolldichte der Gerichte aufgrund der Schiedsamtsähnlichkeit ebenfalls beschränkt, sodass im Rahmen einer inzidenten Überprüfung nur die Vereinbarkeit der normativ wirkenden Teile des Vertrages mit höherrangigem Recht geprüft wird.565 Demzufolge sind die durch einen Vertragsarzt angestrebten Überprüfungen des EBM nur in seltenen Fällen erfolgversprechend. Lediglich die KV kann die kollektiven Interessen ihrer Mitglieder durch eine Klage gegen die Entscheidungen des erweiterten Bewertungsausschusses wahrnehmen.566 Eine „Korrektur“ der Bewertungstatbestände des EBM im Wege der Auslegung hilft den Vertragsärzten ebenso wenig weiter, da sich die Gerichte strikt an den Wortlaut der einzelnen Bestimmungen zu halten haben.567 Diese eingeschränkten Überprüfungsmöglichkeiten hat das BSG sogar in jüngster Zeit gefördert, indem es die Befugnisse des Bewertungsausschusses zur ordnungspolitischen Steuerung 561

Vgl. bspw. bei Zusatzpauschalen für Notdienste, BSG Urt. v. 12. 12. 2012 – B 6 KA 3/12 R, SozR 4–2500 § 75 Nr 13 Rn. 29 ff.; BSG Urt. v. 20. 1. 1999 – B 6 KA 9/98 R, BSGE 83, 218 zur Vergütung von Rheumatologen; BSG Urt. v. 19. 8. 1992  – 6 RKa 18/91, SozR 3–2500 § 87 Nr 5, S. 23 zur Vergütung von Anästhesieleistungen nur für Anästhesisten; BSG Urt. v. 8. 3. 2000 – B 6 KA 8/99, juris Rz. 24 zur Vergütung von HNO-Ärzten; s. a. Becker / K ingreen / Scholz, SGB V § 87 Rn. 37. 562 So BSG Urt. v. 9. 12. 2004 – B 6 KA 44/03 R, BSGE 94, 50, 82 f.; BSG Urt. v. 28. 5. 2008 – B 6 KA 9/07 R, BSGE 100, 254, 268. 563 So die Kritik von Reuter / Weinrich, MedR 2013, 584, 587 Fn. 43 unter Bezugnahme auf BSG Urt. v. 9. 12. 2004 – B 6 KA 44/03 R, BSGE 94, 50, 82 f. 564 BSG Urt. v. 16. 5. 2001 – B 6 KA 20/00 R, BSGE 88, 126, 137; s.a NK-MedR / Altmiks, SGB  V § 87 Rn.  44; Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87 Rn. 465. 565 BSG Urt. v. 13. 8. 2014 – B 6 KA 46/13 R, MedR 2015, 449, 451; jurisPK-SGB V / Freudenberg § 87 Rn. 100. 566 Vgl. Steinhilper / Schiller, MedR 2003, 661, 662. 567 BSG Urt. v. 1. 8. 1991 – 6 RKa 15/90, BSGE 69, 166, 167; Sodan / Schaks, VSSR 2014, 89, 97 f.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

erweitert hat.568 Letztlich sind Vertragsärzte darauf angewiesen, dass ihre Interes­ sen bei den Entscheidungen des Bewertungsausschusses ausreichend Berücksichtigung finden.569 e) Zwischenergebnis: Ärztliche Interessenwahrung im einfachen und erweiterten Bewertungsausschuss Im Aushandlungsprozess des einfachen Bewertungsausschusses steht den Ärztevertretern ein weiter Gestaltungsspielraum zur Einbringung ihrer Interessen zur Verfügung. Dieser wurde in den letzten Jahren allerdings zunehmend durch neue gesetzliche Vorgaben beschränkt. Das Erfordernis eines einstimmigen Beschlusses führt grundsätzlich dazu, dass sich die zuvor eingebrachten Interessenstandpunkte auch im finalen Beschluss niederschlagen, also durchgesetzt werden können. Diese durch das Einstimmigkeitsprinzip gewährte Interessenwahrungsmöglichkeit läuft jedoch in Anbetracht der zahlreichen Fälle, in denen ein Zusammentreten des erweiterten Bewertungsausschusses erforderlich wird, meistens leer. Denn der Konfliktlösungsmechanismus des erweiterten Bewertungsausschusses gewährleistet gerade nicht die Durchsetzung von zuvor eingebrachten Interessenstandpunkten. Er stellt vielmehr zum Zwecke der Funktionsfähigkeit der vertragsärztlichen Versorgung sicher, dass eine Vereinbarung zustande kommt. Die gleichmäßige Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen tritt hinter diesem Zweck zurück. Eine Pattsituation zwischen Ärzten und Krankenkassen im erweiterten Bewertungsausschuss birgt daher für beide Parteien das potentielle Risiko, überstimmt zu werden und die eigenen Standpunkte nicht in einem finalen Beschluss durchsetzen zu können. Die individuellen Chancen eines Vertragsarztes, im Klageverfahren die eigenen Interessen nachträglich geltend zu machen, sind wenig erfolgversprechend. Für die tatsächliche Wahrung der ärztlichen Interessenstandpunkte tragen in beiden Ausschüssen die entsandten KBV-Vertreter letztlich die Verantwortung.570

568

S. bspw. BSG Urt. v. 28. 10. 2015 – B 6 KA 42/14 R, MedR 2017, 498, 501: Hier wurde über einen augenärztlichen Strukturzuschlag geurteilt, der in rein konservativen Fällen abgesetzt werden kann, soweit der Augenarzt in einem anderen Fall im Quartal auch operativ tätig war. Hiermit sollen konservativ tätige Augenärzte gefördert werden. Das BSG erachtet es für zulässig, dass der Bewertungsausschuss versorgungspolitische Ziele mit einer Vergütung fördert, die nicht mit der konkret vergüteten Leistung in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen, s. a. Reuter, GesR 2016, 409, 412, 414; die Erweiterung des Gestaltungsspielraumes als „Subventionierung von Arztgruppen oder Arztuntergruppen“ bezeichnend Willaschek, MedR 2017, 504. 569 So Sodan / Schaks, VSSR 2014, 89, 112. 570 Zur Schlüsselfunktion der KBV und der KVen für die ärztliche Interessenwahrung s. 3. Kap. C.

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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4. Die Zulassungs- und Berufungsausschüsse Die Zulassungsfrage zählte zu den umstrittensten Fragen der früheren Auseinan­ dersetzungen zwischen Ärzten und Krankenkassen.571 Dies ist zwangsläufig darauf zurückzuführen, dass der damaligen Ärzteschaft nur ein Weg zum System offenstand: Sie mussten die von den Krankenkassen diktierten, als unwürdig empfundenen Vertragsbedingungen akzeptieren. Andernfalls wäre ihnen der Weg zur Ausübung der Tätigkeit als Kassenarzt versperrt geblieben. Dieser Zwangslage der Ärzteschaft ist es geschuldet, dass paritätische Ausschüsse als möglicher Lösungsansatz bereits früh Gegenstand der Verhandlungen zwischen Ärzten und Krankenkassen waren.572 Mit der damaligen Übertragung der Zulassungsfrage auf den paritätisch besetzten Registerausschuss verloren die Krankenkassen ihr Recht, einseitig über die Auswahl der Ärzte zu entscheiden. Fortan wählte der Ausschuss die in das Arztregister eingetragenen Ärzte nach bestimmten Kriterien aus.573 a) Aufgaben, Organisation und Verfahren des Zulassungsausschusses In seinen Grundstrukturen ähnelt das heutige Zulassungsverfahren demjenigen des Registerausschusses, wobei seine hauptsächliche Prägung auf das GKAR von 1955 zurückzuführen ist:574 Der aktuelle § 96 SGB V ist die Nachfolgevorschrift des § 368b Abs. 1 bis Abs. 4 RVO, der die Zulassungsinstanzen regelte.575 Gem. § 96 SGB V haben die KVen in ihrem jeweiligen Bezirk gemeinsam mit den Landesverbänden der Krankenkassen für Beschlussfassung und Entscheidung in Zulassungssachen einen Zulassungsausschuss zu errichten. Als Leitmotiv hat der Gesetzgeber eine paritätische Besetzung für den Ausschuss vorgesehen.576 Die genaue Anzahl beläuft sich gem. § 34 Ärzte-ZV i. V. m. § 96 Abs. 2 S. 1, 3 SGB V auf insgesamt sechs ehrenamtliche Mitglieder sowie Stellvertreter in nötiger Zahl. Die Vertreter der Ärzteschaft werden gem. § 96 Abs. 2 S. 2 SGB V von den KVen bestellt, müssen aber nicht zwingend Ärzte sein.577 Bei der Bestellung der Ver­treter der Krankenkassen durch die Landesverbände kommt es aufgrund einer hohen Zahl potentieller Vertreter häufiger zu Einigungsschwierigkeiten, sodass

571

Richter, FS Ehrenberg, S. 75, 163. S. Käsbauer, Die Neuordnung der Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen durch das Berliner Abkommen vom 23. 12. 1913, S. 123 ff.; 168 ff.; vgl. oben 1. Kap. B. 573 Aye, Das Gesetz über Kassenarztrecht, S. 19; Lehmann, Ärzte und Krankenkassen, S. 10; Jantz / Prange, Das gesamte Kassenarztrecht, Teil B, S. 4 f. 574 Wenner, Vertragsarztrecht, § 8 Rn. 33, § 18 Rn. 1. 575 NK-GesundhR / Ossege, SGB V § 96 Rn. 1. 576 BMR / Meschke, Ärzte-ZV § 34 Rn. 6. 577 BSG Urt. v. 25. 11. 1998 – B 6 KA 81/97 R, SozR 3–2500 § 97 Nr 2, S. 5 f.; zustimmend Wenner, Vertragsarztrecht, § 18 Rn. 1; Schnapp / Wigge / Schiller, HB des Vertragsarztrechts, § 5 D. Rn. 101. 572

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

gem. § 34 Abs. 2 S. 2 Ärzte-ZV im Ergebnis das Los entscheidet.578 Die Amtsdauer der Mitglieder beträgt gem. § 34 Abs. 3 S. 1 Ärzte-ZV vier Jahre, wobei gem. § 34 Abs. 5 S. 1 Ärzte-ZV eine frühzeitige Abberufung aus wichtigem Grund möglich ist. Die Vertreter unterliegen gem. § 96 Abs. 2 S. 4 SGB V keinen Weisungen, gleichwohl spricht die jederzeitige Beendigung der Bestellung für eine enge Anbindung der Zulassungsausschüsse an ihre bestellenden Körperschaften.579 Den Vorsitz im Ausschuss übernimmt gem. § 96 Abs. 2 S. 5 SGB V abwechselnd ein Vertreter der Ärzte und der Krankenkassen. Alle Zulassungsangelegenheiten unterliegen der gemeinsamen Verantwortung und Entscheidungskompetenz von Vertragsärzten und Krankenkassen, die zur Wahrnehmung dieser Aufgabe verpflichtet sind.580 Das Aufgabenspektrum des Ausschusses ist sehr weit gefasst und lässt sich entsprechend seiner zwei unterschiedlichen Funktionen in Entscheidungen und Erklärungen unterteilen.581 Zu den „klassischen“ Entscheidungen des Zulassungsausschusses zählen solche über die grundsätzliche Teilnahme der Vertragsärzte an der vertragsärztlichen Versorgung gem. § 19 Abs. 1 S. 1 Ärzte-ZV,582 über die konkrete Ausübung dieser Teilnahme583 und über das Ende der Teilnahme am Versorgungssystem gem. § 95 Abs. 6, Abs. 7 SGB V.584 Als Erklärungsempfänger fungiert der Zulassungsausschuss insbesondere im Falle eines Verzichts auf die Zulassung gem. § 95 Abs. 7 SGB V.585 Neben den gesetzlichen Aufgabenzuweisungen können sich weitere aus den gem. § 98 SGB V zu erlassenden Zulassungsordnungen ergeben.586 In verfahrensrechtlicher Hinsicht werden alle Beschlüsse des Zulassungsausschusses mit einfacher Stimmenmehrheit entschieden, unter der Voraussetzung, dass alle Mitglieder anwesend sind und sich keiner enthält, vgl. § 96 Abs. 2 S. 6 SGB V i. V. m. § 41 Abs. 2 Ärzte-ZV. Im Falle der Stimmengleichheit gilt der jewei­ lige Antrag gem. § 96 Abs. 2 S. 6 SGB V als abgelehnt. Im Vergleich zu den ande 578

Kremer / Wittmann, Vertragsärztliche Zulassungsverfahren, Rn. 24; andernfalls kann auch die Aufsichtsbehörde tätig werden, vgl. § 97 Abs. 5 S. 2 SGB V. 579 Wichtige Gründe sind schwerwiegende persönliche Mängel, die Verletzungen von Verschwiegenheitspflichten oder die Nichtausübung des Amtes, NK-GesundhR / Ossege, SGB V § 96 Rn. 19. 580 JurisPK-SGB  V / Pawlita, § 96 Rn. 11. 581 NK-MedR / Steinmeyer, SGB V § 96 Rn. 5. 582 Dies umfasst auch Entscheidungen zur Durchführung eines Nachbesetzungsverfahrens und die Nachbesetzung zur Praxisnachfolge gem. § 103 Abs. 3a S. 1, Abs. 4 S. 9, 1. Hs. SGB V, vgl. für weitere Beispiele NK-GesundhR / Ossege, SGB V § 96 Rn. 6. 583 Hierunter fallen Entscheidungen über einen Fachgebietswechsel gem. § 24 Abs. 6 ÄrzteZV, die Genehmigung einer Berufsausübungsgemeinschaft gem. § 33 Abs. 3 S. 1, 2 Ärzte-ZV oder das Ruhen der Zulassung gem. § 95 Abs. 5 SGB V i. V. m. § 26 Abs. 1 Ärzte-ZV, vgl. für weitere Beispiele NK-GesundhR / Ossege, SGB V § 96 Rn. 7. 584 Bei der Entscheidung gem. § 95 Abs. 7 SGB V i. V. m. § 28 Ärzte-ZV über das Ende der Zulassung handelt es sich nur um eine deklaratorische Entscheidung, BVerfG Urt. v. 26. 9. 2016 – 1 BvR 1326/15, GesR 2016, 767, 769. 585 NK-MedR / Steinmeyer, SGB V § 96 Rn. 7. 586 Kremer / Wittmann, Vertragsärztliche Zulassungsverfahren, Rn. 18.

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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ren paritätisch besetzten Ausschüssen weist der Zulassungsausschuss hiermit einen ungewöhnlichen Konfliktlösungsmechanismus auf:587 Die gesetzliche Fiktion des § 96 Abs. 2 S. 6 SGB V stellt sicher, dass im Falle einer Pattsituation keine Entscheidung zustande kommt, die zu Lasten der einen oder anderen Partei geht.588 Es existiert kein zusätzliches unparteiisches Mitglied, welches den Ausschlag geben könnte, und auch der Stimme des Vorsitzenden kommt kein höheres Gewicht zu.589 Gleichwohl bedeutet eine Ablehnung des Antrags indirekt eine Entscheidung zu Lasten des Antragsstellers und damit zu Lasten der Vertragsärzte, die in der Regel Antragssteller im Zulassungsausschuss sind.590 b) Die Berücksichtigung der ärztlichen Interessen im Zulassungsausschuss Ein gefundener Mehrheitsbeschluss zeugt davon, dass die Parteien einen Ausgleich ihrer Interessen erzielen konnten. Hieraus geht aber nicht hervor, inwiefern im Vorfeld des Beschlusses ein gestalterischer Freiraum zur Einbringung der jeweiligen Interessen besteht. Dies ist jedoch Voraussetzung dafür, dass der Beschluss auf einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen zurückgeführt werden kann. Sonst wäre er Ausdruck einer bloßen Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben. Anders als bei den Kollektivverträgen und den vertragsähnlichen Beschlüssen des Bewertungsausschusses handelt es sich bei den Entscheidungen des Zulassungsausschusses um Einzelfallentscheidungen, die rechtlich als Verwaltungsakte gem. § 31 SGB X zu qualifizieren sind.591 Demnach ist nicht ein etwaiger Gestaltungsspielraum der Parteien – wie bei den vertraglichen Instrumenten592 – Ausgangspunkt für die weitere Untersuchung, sondern der den Parteien eröffnete Beurteilungs- und Ermessensspielraum. Ein Ermessensspielraum kann den Parteien bei ihren Entscheidungen im Zulassungsausschuss Abwägungsmöglichkeiten und Freiräume zur Einbringung ihrer Interessen eröffnen. Bei den meisten Entscheidungen des Zulassungsausschusses 587

Wenner, Vertragsarztrecht, § 18 Rn. 2. Hiervon abweichend ordnet § 103 Abs. 3a S. 9 SGB V an, dass im Falle einer Pattsituation dem Antrag zu entsprechen ist. Hiermit kann die Durchführung eines Nachbesetzungsverfahrens niemals durch eine Seite allein aufgehalten werden. In der Regel geht die Entscheidung also zu Lasten der Krankenkassenseite, s. Hauck / Noftz / Geiger, SGB V § 103 Rn. 77. Die Regelung dient der Interessenwahrung der KVen, die im Falle der Ablehnung des Antrages gem. § 103 Abs. 3a S. 13 SGB V zur Entschädigung verpflichtet sind. 589 Vgl. Beerheide, DÄ 2017, A-1994; BMR / Rothfuß, Ärzte-ZV § 41 Rn. 8; Kremer / Wittmann, Vertragsärztliche Zulassungsverfahren, Rn. 192. 590 Die meisten Anträge betreffen die Zulassung des Vertragsarztes, der einen Antrag nach §§ 19 Abs. 1 S. 1 Ärzte-ZV, 95 SGB V zu stellen hat, s. o. 3. Kap. B. II. 4. a). 591 Krauskopf / Gerlach, SGB V § 96 Rn. 18. 592 S. für die Kollektivverträge 3. Kap. B. I. 3. a), für den Bewertungsausschuss 3. Kap. ​ B. II. 3. b). 588

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

handelt es sich jedoch um gebundene Entscheidungen, sodass den entsandten Vertretern kein Ermessensspielraum zusteht. Hierzu zählen insbesondere Entscheidungen im Bereich der Zulassung von Leistungserbringern, Genehmigungen593 und Ermächtigungen594.595 Hierneben existieren Entscheidungen, die im pflichtgemäßen Ermessen des Zulassungsausschusses liegen, bspw. die Ermächtigungen nach § 31 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 und Abs. 3 Ärzte-ZV oder die Auswahl eines Bewerbers im Rahmen eines Nachbesetzungsverfahrens gem. § 103 Abs. 3a, Abs. 4 S. 4 SGB V.596 Anders verhält es sich mit dem Vorliegen eines etwaigen Beurteilungsspielraumes. Viele Entscheidungen im Zulassungsausschuss setzen eine vorherige Überprüfung des Versorgungsbedarfes voraus, wofür den Vertretern ein weiter Beurteilungsspielraum zur Verfügung steht.597 Dies ist bspw. bei der Überprüfung des besonderen Versorgungsbedarfes für eine Zulassung gem. § 36 BedarfsplRL598 oder bei bedarfsabhängigen Ermächtigungen gem. § 116 S. 2 SGB V der Fall.599 Den Vertretern obliegt es, im Wege einer Bewertung, Gewichtung und Abwägung der ermittelten Tatsachen sowie bei der schlussfolgernden Bewertung darüber zu urteilen, ob im entsprechenden Versorgungsbereich der Bedarf durch die bereits zugelassenen Ärzte gedeckt ist oder nicht.600 Diese „Beurteilung ist durch das Zusammenspiel einer Vielzahl von Faktoren geprägt“, auf deren Grundlage die Vertreter gemeinsam einen Beschluss fällen müssen. Hinsichtlich des Umfangs der anzustellenden Ermittlungen haben sie keinen Beurteilungsspielraum – hier gibt § 21 SGB X den Rahmen vor.601 Welche Bedeutung die Gewährung von Beurteilungsspielräumen für die Be­ rücksichtigung der jeweiligen Interessen hat, kann exemplarisch anhand der Entscheidung über die Ermächtigung von Krankenhausärzten gem. § 116 SGB V i. V. m. § 31a Abs. 1 S. 2 Ärzte-ZV veranschaulicht werden. Hier kommt den Ver 593

Bspw. die Genehmigung einer BAG gem. § 33 Abs. 2, 3 Ärzte-ZV; s. a. BMR / Rothfuß, Ärzte-ZV § 33 Rn. 106, Fn. 266. 594 Bspw. Ermächtigungen nach § 116 S. 2 SGB V i. V. m. 31a Abs. 1 S. 2 Ärzte-ZV oder nach §§ 117 S. 1, 118 S. 1, 119 S. 2 und 119a SGB V. 595 Schnapp / Wigge / Schiller, HB des Vertragsarztrechts, § 5 D. Rn. 153. 596 Schnapp / Wigge / Schiller, HB des Vertragsarztrechts, § 5 D. Rn. 88; BMR / Meschke ÄrzteZV § 16b Rn. 116 ff.; Kremer / Wittmann, Vertragsärztliche Zulassungsverfahren, Rn. 518 ff. 597 Vgl. bspw. § 101 Abs. 1 Nr. 3 SGB V i. V. m. § 36 und § 37 BedarfsplRL; § 116 SGB V i. V. m. § 31a Ärzte-ZV; § 24 Abs. 7 S. 1 Ärzte-ZV; § 24 Abs. 3 S. 1 Ärzte-ZV oder § 103 Abs. 3a SGB V; s. Kremer / Wittmann, Vertragsärztliche Zulassungsverfahren, Rn. 156 f. 598 Bedarfsplanungsrichtlinie v. 20. 12. 2012, zuletzt geändert am 5. 12. 2019: https://www.​ g-ba.de/downloads/62-492-2022/BPL-RL_2019-12-05_iK-2019-12-21.pdf (zuletzt abgerufen am 30. 9. 2020). 599 Vgl. für Ermächtigungen bspw. BSG Urt. v. 27. 2. 1992 – 6 RKa 15/91, BSGE 70, 167, 175; BSG Urt. v. 17. 10. 2007 – B 6 KA 42/06 R, BSGE 99, 145, 151; BMR / Rothfuß Ärzte-ZV § 31a Rn. 7; für Zulassungen bspw. BSG Urt. v. 2. 9. 2009 – B 6 KA 34/08 R, BSGE 104, 116, 119. 600 JurisPK-SGB  V / Pawlita, § 96 Rn. 34, § 101 Rn. 136; vgl. statt vieler BSG Urt. v. 5. 11. 2008 – B 6 KA 56/07 R, BSGE 102, 21, 23 und BSG Urt. v. 2. 9. 2009 – B 6 KA 34/08 R, BSGE 104, 116, 119. 601 BSG Urt. v. 2. 9. 2009 – B 6 KA 34/08 R, BSGE 104, 116, 120, Zitat auf S. 119.

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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tretern hinsichtlich der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der ausreichenden Sicherstellung der ärztlichen Versorgung (§ 116 S. 2 SGB V) ein weiter Beurteilungsspielraum zu. Sie müssen im Rahmen der vorzunehmenden Bedarfsanalyse überprüfen, ob quantitativ-allgemeine602 oder qualitativ-spezielle Versorgungslücken gegeben sind.603 Der Ausschuss ist zur vollen Überprüfung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht verpflichtet und muss hierfür unterschiedliche Faktoren im jeweiligen Planungsbereich heranziehen und berücksichtigen.604 Zu diesen Faktoren zählen bspw. die Anzahl und das Leistungsangebot der zugelassenen und ermächtigten Leistungserbringer, Art und Umfang der Inanspruchnahme der Leistungserbringer, die Dauer der Wartezeiten,605 die Krankenhausversorgung, die räumliche Zuordnung aufgrund der Verkehrsverbindungen oder die Bevölkerungsdichte und -struktur sowie ihre Morbidität.606 Alle Faktoren sind nicht nur in sich, sondern auch in ihren Wechselwirkungen weitgehend unbestimmt, sodass die Vertreter hier im Rahmen des ihnen zustehenden weiten Beurteilungsspielraumes Konkretisierungsarbeit leisten müssen.607 Wie bei der Bedarfsanalyse unterliegt die zeitliche, räumliche und gegenständliche Ausgestaltung der Ermächtigung ebenfalls dem Beurteilungsspielraum der Vertreter.608 Mit der Zuerkennung von Beurteilungsspielräumen erhalten die Vertreter der gemeinsamen Selbstverwaltung die Befugnis, einen komplexen Untersuchungsund Interpretationsvorgang eigenmächtig zu entscheiden.609 In diesem Rahmen besteht für sie die Möglichkeit, ihre eigenen Wertungen und Positionen einzubringen und auf dieser Grundlage gemeinsam einen von der Mehrheit getragenen Beschluss zu fällen. Eine Einbringung und Durchsetzung der ärztlichen Interessen ist in diesem Zuge, repräsentiert durch die Vertreter der KV, möglich. Gleiches gilt für Entscheidungen, die im pflichtgemäßen Ermessen des Ausschusses stehen.610 Auch bei diesen müssen die Vertreter der Ärzte und Krankenkassen gemeinsam 602 Auch wenn dieses Kriterium nicht eindeutig dem Wortlaut des § 31a Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 116 S. 2 SGB V zu entnehmen ist, wird eine quantitative Bedarfsprüfung in Literatur und Rspr. für erforderlich erachtet, vgl. st. Rspr, zuletzt BSG Urt. v. 19. 7. 2006 – B 6 KA 14/05 R, SozR 4–2500 § 116 Nr 3, juris Rz. 16; aus der Literatur Becker / K ingreen / Becker, SGB V § 116 Rn. 17 und BMR / Rothfuß, Ärzte-ZV § 31a Rn. 8. 603 JurisPK-SGB  V / Pawlita, § 96 Rn. 34; jurisPK-SGB V / Köhler-Hohmann, § 116 Rn. 32 ff., 49; NK-MedR / Joussen, SGB V § 116 Rn. 9 f.; ausf. zur Vorgehensweise der Bedarfsanalyse BMR / Rothfuß, Ärzte-ZV § 31a Rn. 9 ff.; s. a. BSG Urt. v. 9. 4. 2008 – B 6 KA 40/07 R, BSGE 100, 154, 155. 604 JurisPK-SGB  V / Köhler-Hohmann, § 116 Rn. 44. 605 Vgl. hierzu BSG Urt. v. 2. 9. 2009 – B 6 KA 21/08 R, GesR 2010, 218, 219. 606 JurisPK-SGB  V / Köhler-Hohmann, § 116 Rn. 44; KassKomm / Gamperl, SGB V § 116 Rn. 18; Kremer / Wittmann, Vertragsärztliche Zulassungsverfahren, Rn. 975 ff. 607 KassKomm / Gamperl, SGB V § 116 Rn. 18. 608 Die Dauer der Befristung basiert auf einer „vorausschauenden Beurteilung der zukünftigen Versorgungssituation“, so BSG Urt. v. 2. 12. 1992 – 6 RKa 54/91, BSGE 71, 280, 281 f.; BSG Urt. v. 27. 2. 1992 – 6 RKa 15/91, BSGE 70, 167; s. a. BMR / Rothfuß, Ärzte-ZV § 31a Rn. 41. 609 Kremer / Wittmann, Vertragsärztliche Zulassungsverfahren, Rn. 166; Bonvie / Gerdts, ZMGR 2013, 67, 69. 610 Bspw. die Auswahl eines Bewerbers im Nachbesetzungsverfahren gem. § 103 Abs. 4 SGB V.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

eine Entscheidung fällen und hierbei ihre gegensätzlichen Standpunkte zum Ausgleich bringen. Die gesetzliche Fiktion des § 96 Abs. 2 S. 6 SGB V kann sich allerdings rechtstatsächlich durchaus zum Nachteil der Ärzteschaft auswirken, da ihre Anträge im Falle eines Patts zunächst als abgelehnt gelten.611 In einem anschließenden Verfahren vor dem Berufungsausschuss können Vertragsärzte gegen eine ablehnende Entscheidung allerdings vorgehen und ihre Interessen ggf. wahren. Insgesamt sorgen das Mehrheitserfordernis sowie die gewährten Spielräume dafür, dass den ärztlichen Vertretern im Zulassungsausschuss ausreichende Möglichkeiten zur Einbringung und anschließenden Durchsetzung ihrer jeweiligen Interessen eröffnet werden. Für die tatsächliche Wahrung der ärztlichen Interessenstandpunkte im Rahmen des Zulassungsausschusses sind indes die entsandten KV-Vertreter verantwortlich.612 c) Individuelle Interessenwahrung durch gerichtliche Kontrolle Der einzelne Vertragsarzt, der mit einer Entscheidung des Zulassungsausschusses unzufrieden ist, kann bei den Berufungsausschüssen gegen eine ihn belastende Entscheidung Widerspruch einlegen oder bei Konkurrentenstreitigkeiten sich gegen die einen anderen begünstigende Entscheidung wehren. Mit den Berufungsausschüssen existiert für alle Zulassungsangelegenheiten ein „besonderes, der organisatorischen Eigenständigkeit des Zulassungs- und des Berufungsausschusses entsprechendes Verfahren.“613 Darüber hinaus steht dem Vertragsarzt auch der Rechtsweg zu den Sozialgerichten offen. aa) Die Berücksichtigung der ärztlichen Interessen im Berufungsausschuss Mit der Etablierung paritätisch besetzter Berufungsausschüsse als einer zweiten Verwaltungsinstanz in Zulassungsangelegenheiten wurde den Vertretern der Krankenkassen und Ärzteschaft in gleicher Weise die Verantwortung für die Rechtskontrolle in Zulassungsangelegenheiten überlassen.614 Wie für den Zulassungsausschuss ist gem. § 97 Abs. 2 SGB V, § 35 Abs. 1 Ärzte-ZV eine paritätische Besetzung bestehend aus jeweils drei weisungsfreien, ehrenamtlichen Vertretern der Ärzteschaft und der Krankenkassen vorgesehen, die durch die KVen und Landesverbände bestellt werden.615 Zusätzlich zu den sechs Vertretern ist gem. § 97 Abs. 2 S. 1 SGB V i. V. m. § 35 Abs. 1 Ärzte-ZV als siebtes Mitglied ein unabhängi 611

Vgl. Fn. 588. Zur Schlüsselfunktion der KVen für die ärztliche Interessenwahrung s. 3. Kap. C. 613 BSG Urt. v. 27. 1. 1993 – 6 RKa 40/91, SozR 3–2500 § 96 Nr 1, S. 5. 614 JurisPK-SGB  V / Pawlita, § 97 Rn. 8. 615 § 35 Abs. 1, 2 i. V. m. § 34 Ärzte-ZV; Krauskopf / Gerlach, SGB V § 97 Rn. 9. 612

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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ger Vorsitzender vorgesehen, der die Befähigung zum Richteramt aufweisen muss. Auf die Person des Vorsitzenden sollen sich die sechs Vertreter gem. § 97 Abs. 2 S. 2 SGB V einigen, wobei im Falle unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten die Aufsichtsbehörde eine Entscheidung im Benehmen mit den jeweiligen Entsendeorganisationen fällt.616 Der Berufungsausschuss stellt das zentrale Gremium des Zulassungsverfahrens dar.617 § 96 Abs. 4 SGB V sieht vor, dass gegen Entscheidungen der Zulassungsgremien die Berufungsausschüsse angerufen werden können. Dies erfolgt durch Einlegung eines Widerspruchs gegen die Entscheidung des Zulassungsausschusses.618 Das Verfahren vor den Berufungsausschüssen gilt gem. § 97 Abs. 3 S. 2 SGB V als Vorverfahren i. S. d. § 78 SGG und ist zwingende Voraussetzung für ein späteres Klageverfahren.619 Der ausdrückliche Wortlaut sowie der Verweis in § 97 Abs. 3 S. 1 SGB V auf die §§ 84, 85 SGG verdeutlichen, dass das Verfahren vor dem Berufungsausschuss kein Widerspruchsverfahren i. S. d. §§ 78, 83 ff. SGG ist, sondern gerade an dessen Stelle tritt.620 Mit der Anrufung des Ausschusses wird die ausschließliche Zuständigkeit des Berufungsausschusses begründet, sodass sein Beschluss den alleinigen Gegenstand eines späteren Verfahrens bildet und die Entscheidung des Zulassungsausschusses rechtlich nicht mehr existent ist.621 Der Berufungsausschuss prüft die jeweilige Zulassungssache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht inhaltlich und umfassend bis zur rechtsverbindlichen Erledigung.622 Hierbei stehen ihm ebenfalls Beurteilungs- und Ermessensspielräume zur Verfügung, soweit das Gesetz diese eröffnet. Unabhängig von der Entscheidung des Zulassungsausschusses prüft der Berufungsausschuss bspw. das Vorliegen eines Versorgungsbedarfes unter Ausfüllung seines ihm zustehenden Beurteilungsspielraumes.623 Gleiches gilt für ein eröffnetes Ermessen, welches der Ausschuss auszuüben befugt und verpflichtet ist.624 Die Vertreter des Berufungsausschusses treffen folglich eine eigene Sachentscheidung in der entsprechenden Zulassungsangelegenheit und können hierbei die ihnen eröffneten Spielräume zum Ausgleich ihrer Interessen nutzen. 616

JurisPK-SGB  V / Pawlita, § 97 Rn. 10. Wenner, Vertragsarztrecht, § 18 Rn. 3. 618 Becker / K ingreen / Joussen, SGB V § 97 Rn. 4; zur Frist vgl. § 97 Abs. 3 SGB V i. V. m. § 84 Abs. 1 SGG. 619 Kremer / Wittmann, Vertragsärztliche Zulassungsverfahren, Rn. 198; Becker / K ingreen / ​ Joussen, SGB V § 97 Rn. 4. 620 BSG Urt. v. 27. 1. 1993 – 6 RKa 40/91, SozR 3–2500 § 96 Nr 1, S. 5; Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 17 Rn.  69; Schnapp / Wigge / Schiller, HB des Vertragsarztrechts, § 5 D. Rn. 165. 621 BSG Urt. v. 17. 10. 2012 – B 6 KA 49/11 R, BSGE 112, 90, 92; BSG Urt. v. 22. 10. 2014 – B 6 KA 36/13 R, MedR 2015, 617, 617 f. 622 Kremer / Wittmann, Vertragsärztliche Zulassungsverfahren, Rn. 197; jurisPK-SGB  V / ​ Pawlita, § 97 Rn. 15; s. a. BSG Urt. v. 27. 1. 1993 – 6 RKa 40/91, SozR 3–2500 § 96 Nr 1. S. 4. 623 JurisPK-SGB  V / Pawlita, § 97 Rn. 15. 624 BSG Urt. v. 27. 1. 1993 – 6 RKa 40/91, SozR 3–2500 § 96 Nr 1, S. 4. 617

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

Voraussetzung für die Anrufung des Berufungsausschusses ist das Vorliegen einer rechtlichen Beschwer gem. § 54 Abs. 1 S. 2 SGG. Diese ist unproblematisch gegeben, wenn der Widerspruchsführer Adressat der Entscheidung des Zulassungsausschusses ist.625 Möglich sind auch Konkurrentenstreitigkeiten, bei denen der Widerspruchsführer entweder selbst und an Stelle eines anderen Begünstigten zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen werden möchte oder einen anderen Bewerber abwehren möchte.626 Der defensive Konkurrentenwiderspruch wurde erst mit einer Entscheidung des BVerfG im Jahre 2004,627 in der das Gericht niedergelassenen Vertragsärzten eine Klagebefugnis gegen die Ermächtigung von Krankenhausärzten gem. § 116 SGB V zugesprochen hatte, sowie der Anpassung der zuvor restriktiven Rechtsprechung des BSG628 für zulässig erklärt.629 Beklagter bzw. Antragsgegner im Widerspruchsverfahren ist stets der Berufungsausschuss selbst, der sich durch seinen Vorsitzenden vertreten lassen muss, vgl. § 71 Abs. 4 i. V. m. § 70 Nr. 4 SGG.630 Bei allen Zulassungsangelegenheiten kann der Berufungsausschuss nach § 97 Abs. 4 SGB V die sofortige Vollziehung seiner Beschlüsse anordnen. Hiermit kann die grundsätzlich gem. § 96 Abs. 4 S. 2 SGB V eingetretene aufschiebende Wirkung des Widerspruchs beseitigt und der Beschluss des Zulassungsausschusses aus Gründen des öffentlichen oder des überwiegenden Interesses eines Beteiligten für vollziehbar erklärt werden.631 Dieses Vorgehen erlangt insbesondere bei Zulassungsentziehungen und Konkurrentenstreitigkeiten praktische Relevanz.632 Die sofortige Vollziehung einer Zulassungsentziehung kann nachteilige Konsequenzen für den betroffenen Vertragsarzt haben, da eine positive Entscheidung zur sofortigen Einstellung seiner Tätigkeit führt.633 Anders kann dies bspw. im Rahmen eines Nachbesetzungsverfahrens einer Gemeinschaftspraxis sein. Hier kann sich eine sofortige Vollziehung für die in der Praxis verblei 625

BMR / Bäune, Ärzte-ZV § 44 Rn. 6; die Landesverbände der Krankenkassen und die KVen sind ohne den Nachweis eines konkreten rechtlichen Interesses zur Einlegung des Widerspruchs befugt, da sie im Hinblick auf ihre besondere Verantwortung für die Versorgung der Versicherten durch alle Entscheidungen der Zulassungsgremien und Gerichte unmittelbar in eigenen Rechten betroffen sind, jurisPK-SGB V / Pawlita, § 97 Rn. 44; Wenner, Vertragsarztrecht, § 18 Rn. 22. 626 S. ausf. Kremer / Wittmann, Vertragsärztliche Zulassungsverfahren, Rn. 212 ff. 627 BVerfG Urt. v. 17. 8. 2004 – 1 BvR 378/00, NZS 2005, 199. 628 BSG Urt. v. 7. 2. 2007 – B 6 KA 8/06 R, BSGE 98, 98, 102. 629 Ausf. Kremer / Wittmann, Vertragsärztliche Zulassungsverfahren, Rn. 216 ff.; Wenner, Vertragsarztrecht, § 18 Rn. 29 ff.; Düring, FS Schnapp, S. 389 ff. 630 JurisPK-SGB  V / Pawlita, § 97 Rn. 111. 631 Kremer / Wittmann, Vertragsärztliche Zulassungsverfahren, Rn. 307, 308; gegen eine Vollziehbarkeitserklärung der Beschlüsse des Zulassungsausschusses durch den Berufungsausschuss s. BMR / Bäune, Ärzte-ZV § 44 Rn. 21; die Kompetenz des Zulassungsausschusses, die eigenen Beschlüsse für sofort vollziehbar zu erklären, ist zwar umstritten, aber mittlerweile vom BSG anerkannt worden, Beschl. v. 5. 6. 2013 – B 6 KA 4/13 B, juris Rz. 20. 632 Mit Hinweisen auf Anwendungsfälle Wenner, Vertragsarztrecht, § 18 Rn. 19. 633 Mit Verweis auf die hohen Anforderungen an die Abwägungsentscheidung KassKomm / Hess, SGB V § 97 Rn. 5 ff.; Schnapp / Wigge / Schiller, HB des Vertragsarztrechts, § 5 D. Rn. 181 f.

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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benden Vertragsärzte vorteilhaft auswirken, da hierdurch nicht nur die Aufnahme der Tätigkeit des nachfolgenden Vertragsarztes, sondern auch die Fortführung der Praxis ermöglicht wird.634 Seine Entscheidungen fällt der Berufungsausschuss mit einfacher Stimmenmehrheit unter Anwesenheit aller seiner Ausschussmitglieder ohne eine Befugnis zur Stimmenthaltung, vgl. §§ 41 Abs. 2 S. 1, 45 Abs. 3 Ärzte-ZV. Der Vorsitzende nimmt eine zentrale Rolle innerhalb des Gremiums ein, was vor dem Hintergrund des umfangreichen, einer hauptamtlichen Tätigkeit entsprechenden Geschäftsanfalls sowie der Funktion der Berufungsausschüsse als erste Rechtsbehelfsinstanz gerechtfertigt erscheint.635 Seine besondere Stellung zeigt sich insbesondere bei der Beschlussfassung: Im Falle der Stimmengleichheit zwischen Ärzten und Krankenkassen gibt die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag.636 Für beide Parteien besteht in diesen Abstimmungsfällen ein 50 %iges Risiko, überstimmt zu werden und infolgedessen die eigenen Interessen nicht durchsetzen zu können. Der Konfliktlösungsmechanismus führt folglich wie im erweiterten Bewertungsausschuss dazu, dass die Durchsetzung parteieigener Interessen nicht in jedem Falle gewährleistet ist. Soweit allerdings ein von der Mehrheit getragener Kompromiss zustande kommt, ist eine Durchsetzung der beiderseitigen Interessenstandpunkte möglich. Insgesamt wird den Parteien mit der Existenz der Berufungsausschüsse eine weitere Möglichkeit zum Ausgleich ihrer widerstreitenden Interessen gegeben. Die Ärzteschaft kann über die KV-Vertreter ihre Interessen einbringen und soweit möglich auch durchsetzen.637 bb) Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Beschlüsse des Berufungsausschusses Gegen Beschlüsse des Berufungsausschusses steht den Vertragsärzten sowie den KVen als weitere Rechtsschutzmöglichkeit der Weg zu den Sozialgerichten offen. Die Beschlüsse der Berufungsausschüsse sind rechtlich als Verwaltungsakte zu qualifizieren, weshalb der Vertragsarzt sowie die KV je nach Entscheidungsinhalt und Klageziel hiergegen mit der Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage gem. § 54 Abs. 1 S. 1 SGG vorgehen können. Anders als bei den Beschlüssen des einfachen oder erweiterten Bewertungsausschusses sind die Vertragsärzte indes nicht auf eine inzidente Vorgehensweise beschränkt. Nur im Rahmen der Streitverfahren

634

S. BSG Urt. v. 5. 11. 2003 – B 6 KA 11/03 R, BSGE 91, 253, 262; Kremer / Wittmann, Vertragsärztliche Zulassungsverfahren, Rn. 319; zu den unterschiedlichen Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung in § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG und § 97 Abs. 4 SGB V und deren Verhältnis zueinander NK-GesundhR / Ossege SGB V § 97 Rn. 32. 635 BeckOK-SozR / Bogan, Ärzte-ZV § 35 Rn. 3; s. a. Wenner, FS Eichenhofer, S. 697, 700. 636 Wenner, Vertragsarztrecht, § 18 Rn. 2. 637 Zur Schlüsselfunktion der KVen für die ärztliche Interessenwahrung s. ausf. 3. Kap. C.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

wegen einer Zulassungsentziehung638 oder der Nachbesetzung eines Vertragsarztsitzes639 gelten gewisse Besonderheiten. Zusätzlich können auch die KVen die Rechtswidrigkeit von Entscheidungen der Zulassungsgremien im Prozess geltend machen mit der Besonderheit, dass sie eine konkrete rechtliche Beschwer im Einzelfall nicht nachweisen müssen.640 Sie nehmen hiermit die kollektiven Interessen ihrer Mitglieder wahr. Darüber hinaus gibt es zwei weitere Besonderheiten im Klageverfahren gegen Zulassungsentscheidungen, die sich zum Nachteil der Vertragsärzte auswirken können: Zum einen besteht ein erhöhtes Kostenrisiko aufgrund der notwendigen Beiladung von KVen und Krankenkassen gem. § 75 Abs. 2 Alt. 1 SGG.641 Die Kosten eines Beigeladenen gem. § 197a Abs. 1 S. 1 SGG i. V. m. § 162 Abs. 3 VwGO können aus Billigkeitsgründen der unterlegenen Partei auferlegt werden, sodass der Vertragsarzt im Falle seines Unterliegens neben den Gerichtskosten sowohl die Anwaltskosten des Berufungsausschusses – sofern sich dieser anstelle des Vorsitzenden von einem Rechtsanwalt vertreten lässt – als auch diejenigen der beigeladenen Körperschaften tragen muss.642 Dieses immense Kostenrisiko könnte den Vertragsarzt dazu bewegen, von der Einlegung eines Rechtsbehelfs Abstand zu nehmen. In diesem Fall wären seine Rechtsschutzmöglichkeiten dann erschöpft. Zum anderen haben die den Ausschüssen gewährten Beurteilungsspielräume zur Folge, dass die Gerichte lediglich überprüfen, ob der Entscheidung ein richtig und vollständig ermittelter Sachverhalt zu Grunde liegt, ob die durch Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffs ermittelten Grenzen eingehalten und ob die Subsumtionserwägungen so hinreichend in der Entscheidungsbegründung verdeutlicht wurden, dass im Rahmen des Möglichen die zutreffende Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe erkennbar und nachvollziehbar ist.643 Die Anerkennung dieser Beurteilungsspielräume wird mit der Besonderheit der Zulassungsgremien als sektorspezifische, gruppenplural gebildete Gremien begründet.644 Diese zurück 638 Hier ist insbesondere der Umfang der dem Gericht obliegenden Amtsermittlung umstritten, s. ausf. Wenner, Vertragsarztrecht, § 31 Rn. 14 ff. 639 Keine Durchführung eines Vorverfahrens und keine aufschiebende Wirkung bei Klagen gegen Beschlüsse des Zulassungsausschusses, vgl. §§ 103 Abs. 3a S. 10–12, 103 Abs. 4 S. 9 Hs. 2 SGB V; Entschädigungspflicht der KVen gem. § 103 Abs. 3a S. 13, 14, Abs. 4 S. 9 Hs. 2 SGB V; zum Ganzen ausf. Kremer / Wittmann, Vertragsärztliche Zulassungsverfahren, Rn. 524 ff. 640 Vgl. BSG Urt. v. 9. 6. 1999 – B 6 KA 76/97 R, MedR 2000, 198; m. w. N. KassKomm / Rademacker, SGB V § 75 Rn. 59. 641 BSG Urt. v. 16. 12. 2015 – B 6 KA 37/14 R, MedR 2016, 833. 642 Die Kosten können sich auf bis zu 20.000 Euro belaufen, Wenner, Vertragsarztrecht, § 18 Rn. 22 f. unter Verweis auf BSG Beschl. v. 1. 9. 2005 – B 6 KA 41/04 R, BeckRS 2005, 43112; s. a. Kamps, DÄ 2011, A-286, A-287. 643 So bspw. im Rahmen der Sitzverlegung gem. § 27 Abs. 4 Ärzte-ZV, BSG Urt. v. 3. 8. 2016 – B 6 KA 31/15 R, BSGE 122, 35, 39; hierzu Dorra / Stellpflug, MedR 2015, 239, 240 ff.; bei Entscheidungen über Ermächtigungen nach § 116 S. 2 SGB V, BSG Urt. v. 28. 10. 1986 – 6 RKa 14/86, BSGE 60, 297, 300; BSG Urt. v. 9. 4. 2008 – B 6 KA 40/07 R, BSGE 100, 154, 155. 644 BSG Urt. v. 23. 6. 2010 – B 6 KA 22/09 R, SozR 4–2500 § 101 Nr 8, Rn. 18.

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genommene Kontrolle bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass der Rechtsschutz in diesen Fällen für Vertragsärzte unzureichend ist, da die Gerichte den Berufungsausschüssen häufig mit der zur Neubescheidung führenden Feststellung von Beurteilungsfehlern „penibel genaue Maßgaben“ aufstellen.645 d) Zwischenergebnis: Ärztliche Interessenwahrung in den Zulassungs- und Berufungsausschüssen Im Verfahren vor den paritätischen Zulassungs- und Berufungsausschüssen wird durch die Eröffnung von Beurteilungs- und Ermessensspielräumen ein Ausgleich der widerstreitenden Interessen zwischen Ärzten und Krankenkassen ermöglicht. In diesem Rahmen kann die Ärzteschaft über ihre Vertreter ihre Interessen in den Verhandlungsprozess einbringen. Der besondere Konfliktlösungsmechanismus im Zulassungsausschuss verhindert willkürliche Entscheidungen, indem er bei Stimmengleichheit und unabhängig von der Art des Antrags die Ablehnung desselben anordnet.646 Das Ergebnis ist insoweit neutral und für die Parteien vorhersehbar. Über das in beiden Ausschüssen geltende Mehrheitserfordernis wird im Ergebnis sichergestellt, dass ein von beiden Parteien getragener Beschluss zustande kommt, der die Interessen beider Parteien widerspiegelt. In welchem Umfang die jeweiligen Parteiinteressen im Beschluss Berücksichtigung finden, hängt indes von den Mehrheitsverhältnissen ab. Denn theoretisch ist es möglich, dass eine Partei trotz Mehrheitsentscheidung ihre Interessen nur in vergleichsweise geringerem Umfang durchsetzen kann – bedenkt man, dass für das Zustandekommen eines Kompromisses bereits ein Vertreter der Ärzte oder Krankenkassen sich der jeweils anderen Seite anschließen muss. Im Falle eines Patts führt der Konfliktlösungsmechanismus des Berufungsausschusses dazu, dass nur eine Partei ihre Interessen durchsetzen kann. Dieses Risiko trifft Ärzte und Krankenkassen allerdings in gleicher Weise. Darüber hinaus stehen der Ärzteschaft in Zulassungsangelegenheiten gerichtliche Rechtsschutzmöglichkeiten vor den Sozialgerichten zur Verfügung. Sie können, soweit sie beschwert sind, gegen alle Entscheidungen des Berufungsausschusses Rechtsmittel einlegen. Nachteilig auf die Ausübung der Rechtsschutzmöglichkeiten kann sich jedoch das erhöhte Kostenrisiko infolge einer notwendigen Beiladung der KVen und Krankenkassen auswirken.

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So Hauck / Noftz / Geiger, SGB V § 101 Rn. 55; s. a. Kremer / Wittmann, Vertragsärztliche Zulassungsverfahren, Rn. 168, Fn. 269 unter Verweis auf die Entscheidung des BVerwG, Beschl. v. 31. 5. 2011 – 1 BvR 857/07, BVerfGE 129, 1. 646 Zur Ausnahme im Nachbesetzungsverfahren gem. § 103 Abs.3a S. 9 SGB V s. Fn. 588.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

5. Die Prüfungsstellen und Beschwerdeausschüsse Die Krankenkassen und Vertragsärzte überwachen gem. § 106 Abs. 1 S. 2 SGB V die Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung durch Beratungen und Prüfungen. Hierzu vereinbaren sie gem. § 106 Abs. 1 S. 2 SGB V gemeinsam und einheitlich den Inhalt und die Durchführung der Beratungen und Prüfungen nach Abs. 2 sowie die Voraussetzungen der Einzelfallprüfungen in sog. Prüfvereinbarungen.647 Die verfahrensrechtliche Umsetzung übernehmen die gemeinsam errichteten Prüfungsstellen in erster sowie die paritätisch besetzten Beschwerdeausschüsse in zweiter Instanz. a) Aufgaben, Organisation und Verfahren der Prüfungsstellen und Beschwerdeausschüsse Wie alle paritätisch besetzten Ausschüsse sind die Prüfungsstellen und Beschwerdeausschüsse ebenfalls aus der konfliktreichen Zeit zwischen Ärzten und Krankenkassen im frühen 20. Jahrhundert entstanden. Damals waren die Prüfungsausschüsse,648 die sich hauptsächlich aus Vertretern der Ärzteschaft zusammensetzten,649 mit der Überwachung der kassenärztlichen Tätigkeit betraut. Hierzu zählte neben der Einhaltung der vertraglich übernommenen Verpflichtung zum größten Teil die verwaltungsmäßige Durchführung sowie das Rechnungswesen.650 Aufgaben, Organisation und Verfahren der heutigen Prüfungsstellen und Beschwerdeausschüsse sind, beeinflusst durch zahlreiche Gesetzesreformen, umfassend im Normengerüst der §§ 106 bis 106c SGB V geregelt.651 Die Zusammensetzung und das Verfahren vor den Prüfgremien regelt § 106c SGB V. Die Prüfungsstellen und die Beschwerdeausschüsse werden hiernach von den Landesverbänden der Krankenkassen und den KVen als gemeinsamer Ausschuss bzw. Stelle gebildet. Allerdings findet sich nur bei den Beschwerdeausschüssen die für alle paritätischen Ausschüsse des Vertragsarztrechts typische Besetzungsstruktur wieder:652 Beide Parteien entsenden gem. § 106c Abs. 1 S. 2 SGB V jeweils die gleiche Anzahl von Vertretern – höchstens jeweils vier und mindestens jeweils 647

Schnapp / Wigge / Steinhäuser, HB des Vertragsarztrechts, § 18 Rn. 2. Bereits die Vertragsordnung (RGBl. I, S. 19) sah in § 41 die Errichtung eines Prüfungsausschusses vor, deren Verfahren dann später in § 368n Abs. 4, Abs. 5 RVO normiert wurde, s. Jantz / Prange, Das gesamte Kassenarztrecht, Teil C II. § 368n, S. 9. 649 Die Krankenkassen waren dazu berechtigt, einen Arzt als weiteres Mitglied zu entsenden, Richter, FS Ehrenberg, S. 75, 166. 650 Ausf. hierzu Richter, FS Ehrenberg, S. 75, 166 f.; Jantz / Prange, Das gesamte Kassenarztrecht, Teil C II. § 368n, S. 9 f. 651 JurisPK-SGB  V / Ulrich, § 106 Rn. 1; zur Neustrukturierung BT-Drs. 18/4095, S. 137; zu den reformbedingten Änderungen Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 106 Rn. 3 ff. 652 Daher als klassischen Ausschuss bezeichnend Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Seifert, SGB V § 106c Rn. 4. 648

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zwei, vgl. § 1 Abs. 1 S. 2 WiPrüfVO.653 Ein unparteiischer Vorsitzende wird gem. § 106c Abs. 1 S. 5 SGB V im Einvernehmen der Vertragspartner bestimmt. Im Hinblick auf die Rechtsstellung der Vertreter ordnet § 1 Abs. 1 S. 5 WiPrüfVO Weisungsfreiheit an.654 Dies relativiert sich wiederum, soweit den Entsendeorganisationen ein Recht zur jederzeitigen Abberufung eingeräumt wird.655 Die Zusammensetzung des Ausschusses hat sich jedoch im Vergleich zu den anderen paritätischen Gremien erst im Laufe der Jahre etabliert: Der ausschließlich durch Kassenärzte besetzte Ausschuss erhielt erst durch das Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz vom 27. 6. 1977 eine paritätische Besetzung und erst mit dem GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) vom 14. 11. 2003 einen unparteiischen Vorsitzenden.656 Die personelle Struktur der Prüfungsstellen sowie deren finanzielle und sachliche Ausstattung legen die Parteien gem. § 106c Abs. 2 S. 3 SGB V in den Landesprüfvereinbarungen sowie gesonderten Errichtungsvereinbarungen fest.657 Auch wenn beide Ausschüsse als Gremien der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen einzustufen sind, spiegelt dies nur die personelle Zusammensetzung des Beschwerdeausschusses wider.658 Nach § 106 Abs. 2 Nr. 1, 2 i. V. m. §§ 106a, 106b SGB V unterteilt sich die von den Prüfungsstellen vorzunehmende Wirtschaftlichkeitsprüfung in die arztbezogene Prüfung der ärztlichen sowie der ärztlich verordneten Leistungen.659 Gegenstand der Wirtschaftlichkeitsprüfung bilden insbesondere die Überprüfung der Honoraranforderung des Arztes sowie die Verordnungstätigkeiten im Hinblick auf Sprechstundenbedarf, Arzneimittel, physikalisch-medizinische Leistungen, die Feststellungen von Arbeitsunfähigkeit sowie das Überweisungsverhalten.660 Zusätzlich unterliegt die ärztliche Tätigkeit der sachlich-rechnerischen Richtigstellung und der Plausibilitätsprüfung nach § 106d SGB V.661 Schließlich können auf Antrag der Krankenkasse auch Schadensersatzansprüche bspw. nach § 48 BMV-Ä geltend gemacht werden.662

653

Wirtschaftlichkeitsprüfungs-Verordnung (WiPrüfVO). S. bspw. § 4 Nr. 4 der gemeinsamen Prüfvereinbarung der KZV Brandenburg mit den entsprechenden Krankenkassen. 655 Vgl. bei den Mitgliedern des einfachen Bewertungsausschusses 3. Kap. B. II. 3. a) und des Zulassungsausschusses 3.  Kap. B. II. 4. a). 656 Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 106 Rn. 484. 657 Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 106 Rn. 474; s. bspw. § 1 ff. der Errichtungsvereinbarung zwischen der baden-württembergischen KZV BW und zahlreichen Landesverbänden: http://www.kzvbw.de/site/binaries/content/assets/offener-bereich/ueber-uns/satzungen-undordnungen/errichtungsvereinbarung.pdf (zuletzt abgerufen am 30. 9. 2020). 658 Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 106 Rn. 463. 659 NK-MedR / Altmiks, SGB V § 106 Rn. 8. 660 Schnapp / Wigge / Steinhäuser, HB des Vertragsarztrechts, § 18 Rn. 4. 661 Diese wird hauptsächlich durch die KVen vorgenommen, s. Eichenhofer / v. KoppenfelsSpies / Wenner / Seifert, SGB V § 106 Rn. 9; KassKomm / Hess, SGB V § 106 Rn. 5 f. 662 JurisPK-SGB  V / Ulrich, § 106 Rn. 56. 654

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

Den Prüfungsstellen stehen bei der Durchführung der Wirtschaftlichkeitsprüfung der ärztlichen und der ärztlich verordneten Leistungen an zahlreichen Stellen Beurteilungs- und Ermessensspielräume zu.663 Insbesondere bei Fragestellungen, die eine Bewertung seitens der fachkundigen Mitglieder der Prüfungsstelle erfordern, ist dies der Fall.664 Für die Auswahl der geeigneten Prüfmethode oder Vergleichsgruppe verfügen die Prüfgremien bspw. über einen Beurteilungsspielraum und bei der Bemessung von Honorarkürzungen über einen Ermessensspielraum.665 Das Prüfverfahren schließt mit der Erstellung eines Bescheides.666 Gegen einen Bescheid der Prüfungsstelle kann Widerspruch beim Beschwerdeausschuss eingelegt werden. Dieser führt ein eigenständiges und umfassendes Verwaltungsverfahren in zweiter Instanz durch, in dem er eigene Prüfmethoden anwenden und im Rahmen der ihm ebenfalls zustehenden Beurteilungs- und Ermessensspielräume eine von den Prüfungsstellen unabhängige Entscheidung fällen kann.667 Für den Beschwerdeausschuss hat der Gesetzgeber in § 106c Abs. 1 S. 4 SGB V die einfache Stimmenmehrheit angeordnet, wobei Stimmenthaltungen unzulässig sind.668 Die Beschlussfähigkeit ist hingegen gem. § 1 Abs. 4 WiPrüfVO, anders als beim Berufungsausschuss, bereits dann gegeben, wenn jeweils zwei Vertreter von jeder Seite sowie der Vorsitzende anwesend sind. Im Falle der Stimmengleichheit gibt die Stimme des unparteiischen Vorsitzenden den Ausschlag. Hiermit weist der Beschwerdeausschuss den gleichen Konfliktlösungsmechanismus wie der Berufungsausschuss in Zulassungsangelegenheiten auf. Mit der Erweiterung des Ausschusses um einen unparteiischen Vorsitzenden verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, eine effektivere Arbeitsweise im Ausschuss zu erreichen und interessengeleitete Entscheidungen zu vermeiden. Letzteres war aufgrund des jährlich wechselnden Vorsitzes zwischen einem Vertreter der Krankenkassen oder der Ärzte häufig der Fall.669

663 Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 106 Rn. 552; Sodan / v. Langsdorff, Krankenversicherungsrecht, § 24 Rn. 41a; NK-MedR / Altmiks, SGB V § 106c Rn. 9; jurisPK-SGB V / Ulrich, § 106a Rn. 106; Jörg, Das neue Kassenarztrecht, Rn. 425; a. A. Ratzel / Luxenburger / Schroeder-Printzen, 7. Kapitel Rn. 1142, der aufgrund der Umgestaltung der Prüfungsausschüsse zu Verwaltungsstellen kritisch hinterfragt, ob diesen noch Spielräume zustehen. 664 S. zur Feststellung und Bewertung von Praxisbesonderheiten im Rahmen einer Richtgrößenprüfung BSG Urt. v. 28. 10. 1992 – 6 RKa 3/92, BSGE 71, 194, 197; BSG Urt. v. 2. 11. 2005 – B 6 KA 63/04 R, BSGE 95, 199 208; Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 106 Rn. 554 f. 665 S. nur Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 106 Rn. 553a, 560 m. w. N. 666 NK-MedR / Altmiks, SGB V § 106 Rn. 20. 667 BSG Urt. v. 9. 3. 1994 – 6 RKa 5/92, BSGE 74, 59, 60; Becker / K ingreen / Scholz, SGB V § 106c Rn. 6. 668 Die Abstimmungsmodalitäten werden in den jeweiligen Vereinbarungen konkretisiert, s. bspw. § 7 Abs. 2 der Prüfvereinbarung der KZV Bayern mit den entsprechenden Krankenkassen v. 1. 1. 2017. 669 BT-Drs. 15/1525, S.  115; Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 106 Rn. 484; Wenner, Vertragsarztrecht, § 25 Rn. 3.

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Gegen den Widerspruchsbescheid des Beschwerdeausschusses kann der betroffene Arzt Klage vor den Sozialgerichten erheben.670 Auch die KVen sind zur Einlegung von Rechtsmitteln befugt.671 Wie im Verfahren gegen Zulassungsangelegenheiten stehen der Ärzteschaft grundsätzlich umfassende Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verfügung.672 Allerdings wird der Vertragsarzt auch hier mit einem erhöhten Kostenrisiko aufgrund einer notwendigen Beiladung der Landesverbände sowie der KVen gem. § 75 Abs. 2 SGG konfrontiert.673 Für den Umfang der gerichtlichen Kontrolle gilt nichts anderes als im Verfahren gegen die Bescheide des Berufungsausschusses: Die gerichtliche Kontrolle ist aufgrund der Beurteilungsund Ermessensspielräume der Prüfgremien beschränkt. Es findet nur eine Vertretbarkeitskontrolle der Bescheide statt.674 b) Die Berücksichtigung der ärztlichen Interessen in den gemeinsamen Prüfgremien Mit der rechtlichen Ausgestaltung der Wirtschaftlichkeitsprüfung in gemeinsamen Prüfgremien wird ein Ausgleich der widerstreitenden Interessen gefördert: Die jeweiligen entsandten Vertreter verfügen bei der Durchführung der unterschiedlichen Prüfverfahren über Freiräume zur Vornahme eigener Bewertungen und zur Berücksichtigung regionaler Besonderheiten. Dies ermöglicht der Ärzteschaft, vertreten durch die KV-Vertreter, ihre Interessen einzubringen und durchzusetzen. Aufgrund des Konfliktlösungsmechanismus im Beschwerdeausschuss ist allerdings die Durchsetzung parteieigener Interessenstandpunkte nicht in jedem Falle gewährleistet. Denn soweit es zum Patt kommt, kann je nach Entscheidung des unparteiischen Vorsitzenden ausschließlich die Position der Ärztevertreter oder diejenige der Krankenkassen berücksichtigt werden. Diese potentielle Gefahr, überstimmt zu werden, trifft jedoch beide Parteien in gleicher Weise. Für den Fall, dass der einzelne Vertragsarzt sich unangemessen behandelt fühlt, steht ihm der Rechtsweg zu den Sozialgerichten offen. Auch wenn eine gerichtliche Überprüfung der Prüfbescheide aufgrund der weitgehenden Spielräume der Prüfgremien nur eingeschränkt möglich ist, existiert mit der Begründungspflicht gem. § 35 Abs. 1 SGB X ein Korrektiv. Die Einhaltung der Begründungspflicht wird von den Gerichten vollumfänglich überprüft. Die Prüfgremien sind dazu

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Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 106 Rn. 637 f. BSG Urt. v. 28. 8. 1996 – 6 RKa 88/95, BSGE 79, 97, 99 f. 672 Sodan / v. Langsdorff, Krankenversicherungsrecht, § 24 Rn. 71 ff.; NK-GesundhR / Ossege, SGB V § 106c Rn. 24 f. 673 Wenner, Vertragsarztrecht, § 29 Rn. 5. 674 Hauck / Noftz / E ngelhard, SGB V § 106 Rn. 556, 564; jurisPK-SGB V / Ulrich, § 106 Rn.  135; NK-MedR / Altmiks, SGB V § 106c Rn. 9; Jörg, Das neue Kassenarztrecht, Rn. 425; zur Vertretbarkeitskontrolle s. BSG Urt. 9. 5. 1985 – 6 RKa 8/84, SozR 2200 § 368n Nr 38. 671

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

verpflichtet, die Begründung so zu gestalten, dass der betroffene Vertragsarzt die Entscheidungsgründe und die Berechnung des Kürzungsbetrages nachvollziehen kann – andernfalls ist der Bescheid anfechtbar.675 Über die Begründungspflichten wird folglich eine Überprüfbarkeit der Prüfbescheide gewährleistet.676 Für das erstinstanzliche Verfahren vor den Prüfungsstellen lassen sich keine vergleichbaren Aussagen treffen, da diese seit der gesetzlichen Umgestaltung der Prüfgremien behördenähnlichen Charakter aufweisen und nicht mehr mit den anderen „klassischen“ Gremien der gemeinsamen Selbstverwaltung verglichen werden können.677 Sie nehmen eine neutrale Position ein, was bereits durch das Fehlen der typischen paritätischen Besetzungsstruktur belegt wird. Die Stellen setzen sich vielmehr aus Mitarbeitern unterschiedlicher Fachrichtungen zusammen. Lediglich im Hinblick auf die Errichtung und Ausstattung der Prüfungsstellen haben Krankenkassen und Ärzte gem. § 106c Abs. 2 S. 3 SGB V die gemeinsame Entscheidungshoheit inne. Auch die Finanzierung erfolgt gem. § 106c Abs. 2 S. 6 SGB V paritätisch.678 6. Die Landesausschüsse Den Landesausschüssen, die nach § 90 SGB V von Ärzten und Krankenkassen zu bilden sind, stehen im Vergleich zu den anderen paritätisch besetzten Ausschüssen der gemeinsamen Selbstverwaltung die geringsten Einwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung. Sie nehmen zwar eine eigene „Schiedsrichterrolle“ für den Fall eines Konflikts zwischen den Partnern auf Landesebene wahr, erfüllen aber keine primäre Gestaltungsaufgabe – die bedarfsplanungsrechtliche Gestaltung liegt in der Hauptverantwortlichkeit der KVen.679 Der Aufgabenbereich der Landesausschüsse ist daher koordinationsrechtlicher Art.680 Gleichwohl sind die Ausschüsse mit der vertragsärztlichen Bedarfsplanung in einen für die gemeinsame Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen bedeutenden Aufgabenbereich eingebunden.681 Die Bedarfsplanung stellt ein Instrument zur Steuerung des Ärztebedarfs und zur Sicherstellung einer angemessenen Versorgung der

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BSG Urt. v. 31. 7. 1991 – 6 RKa 12/89, BSGE 69, 138, 142; BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 29/15 R, MedR 2018, 103, 106; BSG Beschl. 25. 1. 2017 – B 6 KA 22/16 B, juris Rz. 18; Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Seifert, SGB V § 106 Rn. 36 ff.; Sodan / v. Langsdorff, Krankenversicherungsrecht, § 24 Rn. 57. 676 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 29/15 R, MedR 2018, 103, 106. 677 Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Seifert, SGB V § 106c Rn. 4. 678 Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 106 Rn. 474. 679 Wahrendorf, VSSR 2015, 241, 244 f., 258; Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Berner, SGB V § 99 Rn. 6 f. 680 Hauck / Noftz / Vahldiek, SGB V § 90 Rn. 7; im Vordergrund steht die Ermittlung und Auswertung statistischer Daten, so jurisPK-SGB V / Wiegand, § 90 Rn. 41. 681 Krauskopf / Sproll, SGB V § 99 Rn. 2.

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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Versicherten dar  – sie stellt „ein bedarfsgerechtes Verhältnis von Angebot und Nachfrage“ sicher.682 a) Aufgaben, Organisation und Verfahren der Landesausschüsse Die Landesausschüsse nehmen seit den Anfängen des Kassenarztrechts eine deutlich untergeordnete Rolle im Vergleich zu den anderen Ausschüssen wahr. Nach der Verordnung über Ärzte und Krankenkassen vom 30. 10. 1923 war die Bildung der Landesausschüsse nur fakultativ.683 Später ordnete § 368o Abs. 1 RVO ihre Bildung verpflichtend an, was ihre Bedeutung jedoch nur gering erhöhte.684 Heute nehmen die 17 Landesausschüsse685 mit der Erstellung der Bedarfspläne für den Fall eines fehlenden Einvernehmens zwischen den Partnern auf Landesebene gem. §§ 90 Abs. 4, 99 Abs. 2, Abs. 3 SGB V immerhin eine verantwortungsvolle Aufgabe wahr – sie sichern das Zustandekommen der kassenärztlichen Bedarfspläne ab.686 Darüber hinaus bleibt der Aufgabenkreis der Landesausschüsse aber auf die Bedarfsplanung beschränkt: Nach § 100 Abs. 1, Abs. 2 SGB V beurteilen sie die Versorgungssituation, können eine Unterversorgung feststellen und ggf. für die Zulassungsgremien bindende Zulassungsbeschränkungen in anderen Gebieten erlassen. Genauso können sie einen zusätzlichen lokalen Versorgungsbedarf gem. § 100 Abs. 3 SGB V feststellen. Ähnliche Befugnisse stehen den Ausschüssen gem. § 103 SGB V im Zusammenhang mit einer Überversorgung zu.687 Zuletzt können die Landesausschüsse die KVen gem. § 105 Abs. 4 SGB V dazu verpflichten, einen Sicherstellungszuschlag als Anreiz für Ärzte in unterversorgten Gebieten zu zahlen.688 Schließlich nimmt der Landesausschuss, ergänzt um Vertreter der Krankenhäuser, als sog. erweiterter Landesausschuss eine gesonderte Aufgabe im Bereich der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung wahr, vgl.  § 116b Abs. 3 SGB V.689 Die Zusammensetzung der Landesausschüsse ergibt sich aus § 90 Abs. 2 S. 1 SGB V und folgt dem typischen Muster paritätisch besetzter Ausschüsse: Die Gesamtmitgliederzahl beläuft sich auf 21, wovon drei unparteiische Mitglieder sind und die restlichen achtzehn jeweils zur Hälfte von den Krankenkassen und der KV 682

Ausdrücklich Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 364; s. a. Becker / K ingreen / Kaltenborn, SGB V § 99 Rn. 5. 683 Von der Möglichkeit wurde nur in Bayern und Baden Gebrauch gemacht, Albrecht, ZfS 1975, 180. 684 Hauck / Noftz / Vahldiek, SGB V § 90 Rn. 5. 685 § 90 Abs. 1 SGB V schreibt die Errichtung eines Ausschusses pro Bundesland vor; kritisch zur abweichenden Handhabung in NRW Hauck / Noftz / Vahldiek, SGB V § 90 Rn. 14. 686 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 657; Hauck / Noftz / Vahldiek, SGB V § 90 Rn. 5. 687 NK-GesundhR / Harney, SGB V § 90 Rn. 10; jurisPK-SGB V / Wiegand, SGB V § 90 Rn. 21. 688 KassKomm / Hess, SGB V § 105 Rn. 5. 689 Eine weitergehende Auseinandersetzung mit dem erw. Landesausschuss erfolgt an dieser Stelle nicht, da die typisch paritätischen Ausschüsse im Fokus der Untersuchung stehen.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

gestellt werden.690 Die Rechtsstellung der Mitglieder sowie die Bestellung des unparteiischen Vorsitzenden sind vergleichbar mit denjenigen der anderen Ausschüsse:691 Die Mitglieder üben ihr Amt gem. § 90 Abs. 3 S. 1, 2 SGB V als Ehrenamt und frei von Weisungen aus.692 Sie können gem. § 3 Abs. 2 AusschussmitgliederVerordnung (AMV)693 grundlos, allerdings nur zum Schluss eines Kalenderjahres, abberufen werden. Soweit die Einigung über den unparteiischen Vorsitzenden nicht zustande kommt, schreitet die Aufsichtsbehörde unterstützend ein.694 Über den Abstimmungsmodus in den Landesausschüssen schweigt das Gesetz, sodass wie bei den anderen paritätisch besetzten Ausschüssen mit unparteiischem Vorsitz davon auszugehen ist, dass mit einfacher Stimmenmehrheit entschieden wird.695 Werden die Landesausschüsse von einem der Beteiligten gem. § 99 Abs. 2 SGB V i. V. m. § 14 Abs. 1 Ärzte-ZV angerufen, sind sie zunächst gehalten, einen Vermittlungsversuch zu unternehmen. Scheitert dieser, treffen sie eine das Einvernehmen der Beteiligten ersetzende Schiedsentscheidung.696 Das normative Grundgerüst für die Aufgabenwahrnehmung im Bereich der Bedarfsplanung ergibt sich aus §§ 99 ff. SGB V, §§ 12–14 Ärzte-ZV sowie den Vorgaben der bundeseinheitlich geltenden Bedarfsplanungsrichtlinie des GBA.697 Innerhalb dieses Rahmens haben vorrangig die Partner auf Landesebene und nur im Konfliktfall die Landesausschüsse die Bedarfspläne aufzustellen, vgl. § 99 Abs. 1, Abs. 2 SGB V. Sie sind Grundlage für Maßnahmen zur Beseitigung einer etwaigen Unterversorgung, für die Anordnung von Zulassungsbeschränkungen oder für die Erteilung einer Ermächtigung nach § 31 Abs. 1 Ärzte-ZV. Der Gestaltungsspielraum der Beteiligten wird hierbei zum Zwecke einer bundeseinheitlichen Bedarfsplanung insbesondere durch die Bedarfsplanungsrichtlinie beschränkt.698 Hier finden sich im Vergleich zu den allgemein gefassteren Zielvorgaben in § 99 Abs. 1 S. 2 SGB V und § 12 Abs. 3 Ärzte-ZV konkretere Anhaltspunkte für die Feststellung des regionalen Versorgungsgrades.699 Allerdings hat die mit dem GKV-VStG eingeführte Abweichungsbefugnis gem. § 99 Abs. 1 S. 3 SGB V zur Berücksichtigung 690

Hauck / Noftz / Vahldiek, SGB V § 90 Rn. 16. Vgl. bspw. bei den Zulassungs- und Berufungsausschüssen §§ 96 Abs. 2 S. 4, 97 Abs. 2 S. 3 SGB V und beim Beschwerdeausschuss § 106c Abs. 1 S. 6 SGB V. 692 Eine gewisse innere Verbundenheit zu ihrer Entsendeorganisation lässt sich jedoch nicht verneinen, jurisPK-SGB V / Wiegand § 90 Rn. 11. 693 Verordnung über die Amtsdauer, Amtsführung und Entschädigung der Mitglieder des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Landesausschüsse der Ärzte (Zahnärzte) und Krankenkassen (Ausschussmitglieder-Verordnung). 694 JurisPK-SGB  V / Wiegand, § 90 Rn. 3, 17. 695 Felix, Konfliktlösungsinstrumente im System der GKV, S. 125. 696 Hauck / Noftz / Geiger, SGB V § 99 Rn. 91; BeckOK-SozR / Männle, Ärzte-ZV § 14 Rn. 3; s. a. Wahrendorf, VSSR 2015, 241, 249. 697 Krauskopf / Sproll, SGB V § 99 Rn. 4, 25; s. a. Fn. 598. 698 Becker / K ingreen / Kaltenborn, SGB V § 99 Rn. 5 f.; KassKomm  /  Hess, SGB V § 99 Rn. 2 ff.; Wahrendorf, VSSR 2015, 241, 252. 699 § 8 BedarfsPlRl legt bspw. die Berechnung des allgemeinen bedarfsgerechten Versorgungsgrades fest; BeckOK-SozR / Männle, SGB V § 99 Rn. 20. 691

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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regionaler Besonderheiten zu einer Erweiterung des gestalterischen Freiraums der Beteiligten geführt.700 Derartig zu berücksichtigende Besonderheiten können sich insbesondere aus regionalen demographischen Aspekten, der Morbidität oder sozioökonomischen Faktoren wie Einkommensarmut oder Pflegebedarf ergeben.701 Bei ihren planerischen Entscheidungen sind die Vertreter auf Landesebene folglich an die Planungskriterien und -maßstäbe gebunden, haben aber gleichzeitig die Möglichkeit, eigene gestalterische Erwägungen einzubringen.702 Jenseits der gesetzlichen Vorgaben kann die Gestaltungsfreiheit der Beteiligten sowie der Vertreter im Landesausschuss auch in faktischer Hinsicht durch die Aufsichtsbefugnisse der obersten Landesbehörde beschränkt werden. Diese können sowohl die Entscheidungen der Landesausschüsse gem. § 90 Abs. 6 SGB V als auch den von den Vertretern aufgestellten Bedarfsplan gem. § 99 Abs. 1 S. 5, 6 SGB V beanstanden. Als ultima ratio steht der Landesbehörde gem. §§ 90 Abs. 6 S. 3, 94 Abs. 1 S. 5 SGB V, wie bei der Richtlinienprüfung durch das BMG, ein Recht zur Ersatzvornahme zu.703 Neu ist die Mitwirkungsbefugnis der Landesbehörden an den Beratungen der Landesausschüsse gem. § 90 Abs. 4 S. 2, 3 SGB V.704 Auch wenn es sich bei den Aufsichtsbefugnissen um eine Rechtsaufsicht handelt, kann auch hier eine faktische Beeinträchtigung nicht gänzlich ausgeschlossen werden.705 So umfasst das Mitberatungsrecht nach § 90 Abs. 4 S. 3 SGB V auch die Anwesenheit der Landesbehörde bei der Beschlussfassung, was den Diskussionsprozess im Landesausschuss lenkend beeinflussen kann.706 Gegen die Aufsichtsmaßnahmen kann sich der Landesausschuss im Klageverfahren wehren, da diese als Verwaltungsakte zu qualifizieren sind.707 Die Beteiligten, die Landesverbände der Krankenkassen und die KVen, können sich ebenfalls gegen Beanstandungen nach § 99 Abs. 1 S. 6 SGB V gerichtlich zur Wehr setzen.708 Gerichtlicher Rechtsschutz gegen den veröffentlichten Bedarfsplan ist hingegen nur im Wege einer inzidenten Überprüfung möglich, da ihm lediglich eine verwaltungsinterne Bedeutung zukommt und er nicht als Verwaltungsakt zu quali-

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BT-Drs. 16/6906, S. 72 f.; Krauskopf / Sproll, SGB V § 99 Rn. 25. Vgl. § 2 BedarfsPlRl, die exemplarisch und nicht verbindlich regionale Besonderheiten konkretisiert, Hauck / Noftz / Geiger, SGB V § 99 Rn. 75. 702 Die Planungskriterien unterstreichen sogar das den Beteiligten zustehende Planungsermessen, Hauck / Noftz / Geiger, SGB V § 99 Rn. 80. 703 NK-MedR / Ihle, SGB V § 99. 704 BT-Drs. 17/6906, S.  66; Becker / K ingreen / Schmidt-De Caluwe, SGB V § 90 Rn. 11. 705 Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Berner, SGB V § 90 Rn. 29; Wahrendorf, VSSR 2015, 241, 247 spricht von „weicher“ Rechtsaufsicht; vgl. auch bei den Gesamtverträgen 3.  Kap. B. I. 2.  oder beim Bewertungsausschuss 3.  Kap. B. II. 3. b) bb). 706 So Wahrendorf, VSSR 2015, 241, 246; Becker / K ingreen / Schmidt-De Caluwe, SGB V § 90 Rn. 11, der jedoch einschränkend darauf hinweist, dass eine Beteiligung der Aufisichtsbehörden bereits zuvor Usus war. 707 Hauck / Noftz / Vahldiek, SGB V § 90 Rn. 35. 708 Becker / K ingreen / Kaltenborn, SGB V § 99 Rn. 8. 701

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

fizieren ist.709 Vertragsärzte können den Bedarfsplan bspw. im Rahmen einer Zulassungsstreitigkeit überprüfen lassen.710 Auch gegen die weiteren Entscheidungen der Landesausschüsse ist der Klageweg aufgrund ihrer nur verwaltungsinternen Wirksamkeit ausgeschlossen.711 b) Die Berücksichtigung der ärztlichen Interessen in den Landesausschüssen Die gestalterische Freiheit der Vertreter auf Landesebene bei der Aufstellung der Bedarfspläne wird insbesondere durch die Vorgaben der Bedarfsplanungsrichtlinie des GBA determiniert. Gleichwohl eröffnet ihnen die neu eingeführte Abweichungsbefugnis gestalterischen Freiraum zur Einbringung eigener Wertungen und Interessenstandpunkte. Über die strittigen Fragen entscheiden im Konfliktfall die Vertreter des Landesausschusses, denen der gleiche gesetzliche Entscheidungsrahmen zur Verfügung steht. Innerhalb der eingeräumten Freiräume kann ein Interessenaustausch zwischen den Vertretern beider Seiten stattfinden. Die Ärztevertreter können in diesem Rahmen die ärztlichen Interessen einbringen und durchsetzen. Die Existenz des Landesausschusses als schiedsähnliches Konfliktgremium lässt allerdings vermuten, dass nur selten ein mehrheitsfähiger Kompromiss erzielt wird. Durch die Besetzung des Landesausschusses mit einem dreiköpfigen Gremium aus unparteiischen Mitgliedern wird sichergestellt, dass Pattsituationen vermieden werden.712 Für die Vertragsparteien ist hiermit die potentielle Gefahr verbunden, überstimmt zu werden und die eigenen Standpunkte nicht durchsetzen zu können. Folglich können parteieigene Interessen zwar im vorgeschalteten Einigungsprozess eingebracht werden, eine Durchsetzung derselben ist wie bei allen schiedsähnlichen Gremien gerade nicht in jedem Falle garantiert. Der etablierte Konfliktlösungsmechanismus stellt sicher, dass die Bedarfspläne zum Zwecke der Funktionsfähigkeit des Systems aufgestellt werden. Ausgeschlossen ist es indes nicht, dass ein Vermittlungsversuch zwischen den Parteien erfolgreich ist und eine mehrheitsfähige Entscheidung doch noch gelingt, die dann den Interessenstandpunkten beider Seiten größtenteils Rechnung trägt. Für die tatsächliche Einbringung und Durchsetzung der ärztlichen Interessen im Landesausschuss tragen letztlich die entsandten Vertreter der KVen die Verantwortung.

709 JurisPK-SGB  V / Pawlita, § 99 Rn. 28; KassKomm / Hess, SGB V § 99 Rn. 7 f.; BMR / ​ Meschke, Ärzte-ZV § 16b Rn. 8. 710 KassKomm / Hess SGB V § 99 Rn. 8. 711 LPK-SGB  V / Hellkötter-Backes, § 90 Rn. 11. 712 JurisPK-SGB  V / Wiegand, § 90 Rn. 11.

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7. Der Gemeinsame Bundesausschuss Der GBA ist heute das zentrale Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten, Krankenkassen und der Krankenhausgesellschaft.713 Mit seiner Gründung wurden der bisherige Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen, der Ausschuss Krankenhaus und der Koordinierungsausschuss ersetzt.714 Durch seine Besetzungsstruktur unterscheidet sich der GBA von den anderen paritätischen Ausschüssen. Hinzukommt, dass er sich von den ursprünglichen Wurzeln der gemeinsamen Selbstverwaltung hin zu einem Organ effektiver Gesetzesvollziehung emanzipiert hat.715 Da die Ärzteschaft fester Bestandteil dieses Gremiums ist und bei den Beschlussfassungen eingebunden ist – nach § 91 Abs. 2a SGB V sogar mit erhöhtem Stimmgewicht – werden die Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung aufgrund der genannten Abweichungen hier nur überblicksartig erörtert. a) Aufgaben, Organisation und Verfahren des Gemeinsamen Bundesausschusses Die Grundstrukturen des heutigen GBA sind wie bei allen Gremien der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen auf das Berliner Abkommen von 1913 zurückzuführen. Der damalige Zentralausschuss, der zunächst nur mit der Durchführung des Berliner Abkommens betraut war,716 erhielt bereits in der nächsten Entwicklungsetappe des Kassenarztrechts als Reichsausschuss umfassende rechtsetzende Befugnisse zur Regelung der Beziehungen zwischen Krankenkassen und Ärzten.717 Schon damals setzte er sich aus 13 Mitgliedern zusammen, wovon zehn jeweils zur Hälfte von beiden Seiten zu besetzen waren. Die restlichen drei gehörten keiner der Parteien an und sollten als unparteiische Mitglieder die Entscheidungsfähigkeit des Gremiums sichern.718 Die Zusammensetzung des heutigen Beschlussgremiums des GBA ist zwar grundsätzlich gleich geblieben, trägt aber dem Zusammenschluss aus den zuvor bestehenden Bundesausschüssen Rechnung.719 Je nach zu behandelnder Thematik 713 NK-GesundhR / Harney, SGB  V § 91 Rn.  2; Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / ​ Musil, SGB V § 91 Rn. 13. 714 S. Hauck / Noftz / Hannes, SGB V § 91 Rn. 8. 715 Becker / K ingreen / Schmidt-De Caluwe, SGB V § 90 Rn. 4. 716 Albrecht, ZfS 1975, 139, 142; Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 40. 717 § 368a Abs. 1 RVO 1924; Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 48 ff.; Heinemann  / ​ Koch, Kassenarztrecht, S. 13; ausf. zur historischen Entwicklung Jung, Probleme der Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht Teil III, S. 13, 18 ff. 718 Albrecht, ZfS 1975, 180. 719 Das GMG v. 14. 11. 2003 ist die Geburtsstunde des GBA; das GKV-WSG v. 26. 3. 2007 ersetze alle sechs Gremien durch ein einziges Beschlussgremium, Schnapp / Wigge / Ziermann, HB des Vertragsarztrechts, § 7 Rn. 11, 15; NK-GesundhR / Harney, SGB V § 91 Rn. 1.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

ist gem. § 91 Abs. 2a SGB V eine unterschiedliche Besetzung vorgesehen, die für eine sachgerechte Stimmenverteilung sorgt.720 In seiner Hauptbesetzung wird die Leistungserbringerseite von jeweils zwei Vertretern von der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) sowie von der KBV und einem Vertreter von der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) gebildet. Die Krankenkassenseite wird durch fünf Vertreter des GKV-Spitzenbandes vertreten. Die Trägerorganisationen benennen ihre Mitglieder nach den in ihren Satzungen festgelegten Regelungen.721 Beratend treten Vertreter der Patientenorganisationen hinzu.722 Zur Verhinderung einer Beeinflussung von außen sind die Mitglieder bei den Entscheidungen im Beschlussgremium gem. § 91 Abs. 2 S. 15 SGB V nicht an Weisungen gebunden.723 Die Voraussetzungen für die Bestellung der unparteiischen Mitglieder sowie das Berufungsverfahren sind detailliert im Gesetz geregelt und wurden erst kürzlich durch das GKV-VStG modifiziert. So ist bspw. zur Stärkung ihrer Neutralität die Einführung einer einjährigen Karenzzeit in § 91 Abs. 2 S. 3 SGB V vorgesehen.724 Jedoch sorgt bereits die einvernehmliche Benennung der unparteilichen Mitglieder durch die Trägerorganisationen für eine sachgerechte Unparteilichkeit.725 Noch ausgeprägter ist der gesetzgeberische Einfluss auf den Bereich des Aufgabenbestandes des GBA. Dieser wurde kontinuierlich erweitert und konkretisiert, sodass der GBA neben seiner Ur- und damit Hauptaufgabe, dem Richtlinienerlass zur Sicherung der ärztlichen Versorgung in den insbesondere in § 92 Abs. 1 S. 2 SGB V genannten Versorgungsbereichen, mittlerweile zahlreiche weitere Aufgaben wahrnimmt.726 Hierzu zählen bspw. die Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden gem. §§ 135, 137c SGB V,727 das Festschreiben der Anforderungen an die Qualitätssicherung im ambulanten und stationären Bereich gem. §§ 136 Abs. 2, 137 SGB V oder die Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen gem. § 35a Abs. 1 SGB V.728 Die Bezeichnungen als „beherrschende

720

NK-MedR / Ihle SGB V § 91 Rn. 8; Becker / K ingreen / Schmidt-De Caluwe, SGB V § 91 Rn. 22. 721 Becker / K ingreen / Schmidt-De Caluwe, SGB V § 91 Rn. 13; Hauck / Noftz / Hannes, SGB V § 91 Rn. 47, 76 f. 722 NK-MedR / Ihle, SGB V § 91 Rn. 5; KassKomm / Roters SGB V § 91 Rn. 6 f. 723 Eine Einflussnahme durch die Trägerorganisationen ist hiermit indes nicht ausgeschlossen, so KassKomm / Roters, SGB V § 91 Rn. 6. 724 S. ausf. zu den Änderungen des Berufungsverfahrens Becker / K ingreen / Schmidt-De ­Caluwe, SGB V § 91 Rn. 14 f. und NK-GesundhR / Harney, SGB V § 91 Rn. 7 ff. 725 Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 23 Rn. 19a. 726 S. Aufzählung bei LPK-SGB V / Hellkötter-Backes, § 91 Rn. 21. 727 Auf den mit dieser Aufgabe verbundenen Machtzuwachs hinweisend Hauck / Noftz / Hannes, SGB V § 92 Rn. 5. 728 Becker / K ingreen / Schmidt-De Caluwe, SGB V § 91 Rn. 2, 6; Hauck / Noftz / Hannes, SGB V § 91 Rn. 9; ausf. zu den Aufgaben Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 23 Rn. 38 ff.

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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Steuerungsinstanz“729 des GKV-Systems, als „kleiner Gesetzgeber“730 oder als „höchstes Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung“731 sind jedoch allesamt auf die Befugnis des GBA zur „generelle[n] und abstrakte[n] Gestaltung des Leistungssystems“732 durch Richtlinienerlass zurückzuführen und verdeutlichen dessen maßgebliche Bedeutung für das System und die einzelnen Akteure. Für Vertragsärzte, Krankenkassen und Versicherte stellen die Richtlinien gem. § 91  Abs.  6 SGB V verbindliches Recht mit Außenwirkung dar, die den Umfang und Inhalt der vertragsärztlichen Versorgung näher definieren und konkretisieren.733 So enthalten die Richtlinien neben unverbindlichen Empfehlungen auch Leistungsausschlüsse oder -begrenzungen.734 Vor diesem Hintergrund erklärt sich die herausragende Bedeutung einer gleichberechtigten Einbindung und Beteiligung aller betroffenen Akteure in den Normsetzungsprozess des GBA. Das Beschlussgremium des GBA trifft die Entscheidungen, die im Vorfeld durch Unterausschüsse vorbereitet werden, mit einer einfachen Mehrheit, d. h. sieben Stimmen; bei sektorenübergreifenden Leistungsausschlüssen ist gem. § 91 Abs. 7 S. 3 SGB V eine qualifizierte Mehrheit von neun Stimmen erforderlich.735 Den Vertretern steht bei der Festsetzung der Richtlinien der für jeden Normgeber typische Gestaltungsspielraum zur Verfügung, der von den Gerichten nur eingeschränkt überprüfbar ist.736 Die Annahme eines Gestaltungsspielraumes des GBA ist insbesondere auf zwei Aspekte zurückzuführen: Der GBA stellt ein fachkundiges und interessenpluralistisch zusammengesetztes Expertengremium dar, welches vordergründig auf einen Interessenausgleich zwischen den vertretenen Gruppen abzielt.737 Darüber hinaus eröffnen die einzelnen gesetzlichen Zuweisungen dem GBA einen Beurteilungs- oder Gestaltungsspielraum, bspw. in § 92 Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 12 SGB V zur Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des Wirtschaftlichkeitsgebots, der teilweise auch als „Gestaltungsermessen“738 oder 729

Becker / K ingreen / Schmidt-De Caluwe, SGB V § 91 Rn. 4. Wenner, Vertragsarztrecht, § 8 Rn. 37. 731 Spickhoff / Barth, SGB V § 91 Rn. 1. 732 Engelmann, MedR 2006, 245, 246. 733 St. Rspr. BSG Urt. v. 20. 3. 1996 – 6 RKa 62/94, BSGE 78, 70, 74 f.; BSG Urt. v. 2. 9. 2014 – B 1 KR 11/13 R, BSGE 117, 10, 14; Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 23 Rn. 42 ff.; jurisPK-SGB V / Filges, § 92 Rn. 47 ff. 734 Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 23 Rn. 64; jurisPK-SGB V / Filges, § 92 Rn.  34; NK-MedR / Ihle, SGB V § 92 Rn. 3 f. 735 JurisPK-SGB  V / Wiegand, § 91 Rn. 67; zu den Unterausschüssen Hauck / Noftz / Hannes, SGB V § 91 Rn. 12 f. 736 BSG Urt. v. 31. 5. 2006 – B 6 KA 13/05 R, BSGE 96, 261, 280; BSG Urt. v. 1. 7. 2014 – B 1 KR 15/13 R, BSGE 116, 153, 157; BSG Urt. v. 13. 5. 2015 – B 6 KA 14/14 R, BSGE 119, 57, 70; jurisPK-SGB  V / Filges, § 92 Rn. 68, 121 ff.; Becker / K ingreen / Schmidt-De Caluwe, SGB V § 91 Rn. 4 spricht von einem erheblichen Gestaltungsspielraum. 737 So SG Berlin Urt. v. 13. 11. 2013  – S 79 KA 337/11, juris Rz. 47; s. a. BSG Urt. v. 31. 5. 2006 – B 6 KA 13/05 R, BSGE 96, 261, 282; Kluth, GesR 2015, 513, 514 f. 738 BSG Urt. v. 2. 9. 2014 – B 1 KR 11/13 R, BSGE 117, 10, 17; s. a. jurisPK-SGB V / Wiegand, § 92 Rn. 79. 730

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

„Gestaltungsfreiheit“739 bezeichnet wird.740 Bei der Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, Arzneimittel oder anderer medizinischer Leistungen hat der GBA in einem komplexen Abwägungsprozess den medizinischen Nutzen einer Leistung unter Berücksichtigung von Wirtschaftlichkeitserwägungen zu analysieren und zu bewerten. In seine Abwägung fließen auch Erwägungen wie die finanzielle Belastung der Kostenträger, die Priorisierung und Verteilung medizinischer Ressourcen und gesamtgesellschaftliche Interessen ein – er trifft letztlich „eine gesundheitspolitische Verteilungs- und Präferenzentscheidung“.741 Der weite Gestaltungsspielraum erfährt durch das gesetzliche Normenprogramm sowie die eigens aufgestellte Verfahrensordnung, die bspw. detaillierte Vorgaben zur Bewertung medizinischer Methoden enthält, allerdings zahlreiche Beschränkungen.742 So steht den Vertretern des Beschlussgremiums bei der Feststellung des medizinischen Nutzens und des objektiven Standes der medizinischen Wissenschaft kein Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum zu, da es sich hierbei um einen Erkenntnisvorgang handelt, den es anhand evidenzfähiger Unterlagen aus Literatur und Fachkreisen743 zu konkretisieren gilt.744 Auch enthalten die einzelnen Ermächtigungen zum Richtlinienerlass teilweise konkrete inhaltliche Vorgaben, wie bspw. im Bereich der Vorsorgeuntersuchungen gem. § 92 Abs. 4 SGB V oder im Bereich der zahnärztlichen Versorgung gem. § 92 Abs. 1a SGB V, mit denen der Gesetzgeber bewusst eine Beschränkung des Gestaltungsspielraumes erzielen wollte.745 Schließlich erfährt der Gestaltungsspielraum des GBA eine Einschränkung durch die speziellen Aufsichtsbefugnisse des BMG gem. § 94 Abs. 1 i. V. m. § 91a Abs. 1 SGB V.746 Hiernach bedarf es zur Wirksamkeit der Richtlinien des GBA der Zustimmung bzw. Nichtbeanstandung des BMG, dem die beschlossenen Richt­ 739

Wenner, Vertragsarztrecht, § 8 Rn. 38. Von Beurteilungsspielraum sprechen bspw. KassKomm / Roters, SGB V § 92 Rn. 13, § 12 Rn. 17; ausschließlich von Gestaltungsspielraum sprechen bspw. Engelmann, MedR 2006, 245, 250, 256; Schlegel, MedR 2008, 30, 33; NK-MedR / Ihle, SGB V § 92 Rn. 3. 741 Ausdrücklich Kingreen, MedR 2007, 457, 458; ferner Engelmann, MedR 2006, 245, 256; Francke / Hart, MedR 2008, 2, 4 f.; Hase, MedR 2005, 391, 396 f.; Boerner, Steuerungsinstrumente im Recht des Gesundheitswesens, Band 2: Kooperation, S. 1, 19. 742 LPK-SGB  V / Hellkötter-Backer, § 92 Rn. 18; gesetzlich festgelegte Kriterien bestehen insbesondere für die im Leistungsrecht verankerten Richtlinien KassKomm / Roters, SGB V § 92 Rn. 15 f. 743 Bspw. werden dem GBA die in Auftrag gegebenen Arbeitsergebnisse des IQWiG gem. § 139b Abs. 4 SGB V als Empfehlungen zugeleitet, NK-MedR / Ihle / Frühauf, SGB V § 139b Rn. 7; gleiches gilt für das IQTiG gem. § 137a Abs. 3 S. 1 SGB V. 744 BSG Urt. v. 31. 5. 2006 – B 6 KA 13/05 R, BSGE 96, 261, 280, 282; Francke / Hart, MedR 2008, 2, 4 f.; Engelmann, MedR 2006, 245, 255 f.; Schlegel, MedR 2008, 30, 33 f.; Seewald, VSSR 2017, 323, 339; ders., SGb 2018, 71, 78 f.; s. a. §§ 7 ff. der Verfahrensordnung des GBA. 745 BT-Drs. 14/1245, S. 74; KassKomm / Roters, SGB V § 92 Rn. 18; NK-GesundhR / Harney, SGB V § 92 Rn. 38 ff. 746 Die speziellen Aufsichtsbefugnisse in § 94 SGB V gehen den allgemeinen in § 91a SGB V vor, Becker / K ingreen / Schmidt-De Caluwe, § 94 Rn. 1. 740

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

129

linien vorzulegen sind. Die Befugnisse des BMG beschränken sich auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle, sodass unter Berücksichtigung des dem GBA zustehenden Beurteilungs- und Gestaltungsspielraums nur die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben überprüft wird.747 Soweit eine Richtlinie für rechtlich fehlerhaft erachtet wird, kann das BMG diese gem. § 94 Abs. 1 S. 2 SGB V beanstanden. Der GBA kann entweder die Beanstandung gerichtlich überprüfen lassen oder innerhalb der gesetzten Frist Abhilfe verschaffen. Bleibt der GBA untätig, erlässt das BMG die Richtlinie gem. § 94 Abs. 1 S. 5 SGB V im Wege der Ersatzvornahme.748 Die Aufsichtsbefugnisse führen folglich dazu, dass sich der GBA evtl. unter erneuter Durchführung des Beteiligungsverfahrens mit der Sache befassen muss749 oder dass ihm die Befugnis zur inhaltlichen Ausgestaltung gänzlich entzogen wird.750 Zur Vermeidung derartiger Konsequenzen ist auf eine größtmögliche Übereinstimmung mit dem BMG zu setzen.751 Der Konsensdruck auf die Vertreter wird hierdurch erhöht.752 Auch wenn das BMG keine Fachaufsicht ausübt, ist folglich eine faktische Beeinträchtigung des Gestaltungsspielraumes im Wege der „Vorwirkung“ nicht gänzlich auszuschließen.753 Gegen die aufsichtsrechtlichen Maßnahmen kann sich der GBA gerichtlich zur Wehr setzen. Für die Trägerorganisationen des GBA, die KBV, die KZBV, den GKV-Spitzenverband und die DKG kommt diese Möglichkeit mangels Klagebefugnis nicht in Betracht. Möglich ist jedoch ein Vorgehen gegen die rechtswirksamen Richtlinien des GBA.754 Für die Vertragsärzte beschränken sich die nachträglichen Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Richtlinien des GBA auf eine Inzidentkontrolle im Verfahren gegen den die Richtlinie umsetzenden Vollzugsakt.755 Ein Vertragsarzt, der eine bereits durch den GBA anerkannte Methode anbietet, kann bspw. die Anforderungen an eine konkurrierende, in einer Richtlinie neu zugelassene Untersuchungsund Behandlungsmethode auf etwaige wettbewerbsverfälschende Auswirkungen

747

Hauck / Noftz / Hannes, SGB V § 94 Rn. 20; Becker / K ingreen / Schmidt-De Caluwe, SGB V § 94 Rn. 3, 12; NK-GesundhR / Harney, SGB V § 94 Rn. 4. 748 Hauck / Noftz / Hannes, SGB V § 94 Rn. 27. 749 Becker / K ingreen / Schmidt-De Caluwe, SGB V § 94 Rn. 4; Krauskopf / Sproll, SGB V § 94 Rn. 7. 750 Dies als tiefen Eingriff in das Selbstverwaltungsrecht bezeichnend Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Musil, SGB V § 94 Rn. 7; Becker / K ingreen / Schmidt-De Caluwe, SGB V § 94 Rn. 14. 751 Vgl. Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 23 Rn. 44. 752 Boerner, Steuerungsinstrumente im Recht des Gesundheitswesens, Band 2: Kooperation, S. 1, 4; Hofmann, Steuerungsinstrumente im Recht des Gesundheitswesens, Band 2: Kooperation, S. 103, 118. 753 Vgl. Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 23 Rn. 44; Becker / Kingreen / SchmidtDe Caluwe, SGB V § 94 Rn. 10. 754 JurisPK-SGB  V / Wiegand, § 94 Rn.  19 f.; Hauck / Noftz / Hannes, SGB V § 94 Rn. 52 ff., 58. 755 LPK-SGB  V / Hellkötter-Backes, § 92 Rn. 22; NK-GesundhR / Harney, SGB V § 92 Rn. 9.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

überprüfen lassen.756 Die gerichtliche Kontrolldichte ist jedoch aufgrund des weiten Gestaltungsspielraumes des GBA auf die Frage beschränkt, ob die maßgeblichen Verfahrens- und Formvorschriften eingehalten sind, eine ausreichende Ermäch­ tigungsgrundlage vorhanden ist und die Grenzen des Gestaltungsspielraumes eingehalten werden.757 Ob durch ein gerichtliches Vorgehen den im Entscheidungsund Beschlussfassungsprozess nicht ausreichend berücksichtigten Interessen eines Vertragsarztes Geltung verschafft werden kann, erscheint angesichts der nur eingeschränkten Überprüfungsmöglichkeiten äußerst fraglich. b) Die Berücksichtigung der ärztlichen Interessen im GBA Als Gremium gruppenpluraler Entscheidungen ist der GBA bei seinen Entscheidungsfindungen grundsätzlich mit der Schwierigkeit konfrontiert, den umfang­ reichen „Interessenmix“758 einer mehrheitsfähigen Entscheidung zuzuführen.759 Der Aushandlungs- und Entscheidungsprozess der Vertreter im GBA wird durch das umfassende Regelungsgefüge des Gesetzgebers gesteuert. Hierbei müssen sie die Anforderungen an eine evidenzbasierte Wissenschaftlichkeit erfüllen.760 Gleichwohl erfordern nahezu alle im GBA zu treffenden Entscheidungen, insbesondere im Bereich der Bewertung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sowie Arzneimittel, die Vornahme eines Abwägungsprozesses unter Einbeziehung der unterschiedlichen Faktoren. Hierfür steht dem GBA ein weiter Gestaltungsspielraum zur Verfügung, der es den Vertretern ermöglicht, ihre jeweiligen Interessenstandpunkte einzubringen. Der Aushandlungsprozess wird mit einer von der Mehrheit getragenen Entscheidung beendet. Die Entscheidungen im GBA werden maßgeblich durch die Stimmen der unparteiischen Mitglieder sowie diejenige des unparteiischen Vorsitzenden bestimmt. Wie bei allen Gremien der gemeinsamen Selbstverwaltung ist das Vorliegen eines Patts zwischen Ärzten und Krankenkassen nicht ungewöhnlich, sodass die Unparteiischen maßgeblich die Entscheidung lenken können.761 Das hiermit verbundene Risiko, überstimmt zu werden und die eigenen Interessenstandpunkte infolgedessen nicht durchsetzen zu können, trifft indes beide Parteien in gleicher Weise. 756

Es besteht jedoch kein Schutz vor Veränderungen der Marktsituation durch das Hinzutreten neuer Anbieter, so BSG Urt. v. 14. 5. 2014 – B 6 KA 28/13 R, SozR 4–2500 § 135 Nr 22, Rn. 64 f. 757 BSG Urt. v. 14. 5. 2014 – B 6 KA 28/13 R, SozR 4–2500 § 135 Nr 22, Rn. 64 f.; BSG Urt. v. 17. 9. 2013 – B 1 KR 54/12 R, BSGE 114, 217, 224; BSG Urt. v. 31. 5. 2006 – B 6 KA 13/05 R, BSGE 96, 261, 280; s. a. juris-PK-SGB V / Wiegand, § 92 Rn. 76. 758 Diese Bezeichnung verwendet Seewald, SGb 2018, 71, 76; von „stark gegensätzlichen Interessen“ spricht Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Musil, SGB V § 91 Rn. 38. 759 Vgl. Holzner, SGb 2015, 247, 251; zur unsystematischen Verwendung der Begrifflichkeiten Beschluss, Richtlinie und Entscheidung NK-GesundhR / Harney, SGB V § 91 Rn. 23 ff. 760 Seewald, SGb 2018, 71, 78 f.; Loer, KrV 2017, 227, 229. 761 Becker / K ingreen / Schmidt-De Caluwe, SGB V § 91 Rn. 24; Holzner, Konsens im Allgemeinen Verwaltungsrecht und in der Demokratietheorie, S. 253.

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

131

Insgesamt werden den Vertretern des GBA bei den Entscheidungsprozessen zwar Freiräume zur Einbringung ihrer jeweiligen Interessenstandpunkte eröffnet. Diese werden allerdings zunehmend durch die an eine evidenzbasierte Medizin zu stellenden Anforderungen und Maßstäbe determiniert. Der Aushandlungsprozess zwischen den Vertretern konzentriert sich mittlerweile verstärkt auf die Auswertung vorhandener Expertisen, also auf das therapeutische Geschehen, und weniger auf den Ausgleich der widerstreitenden Interessen, wie es zu Zeiten der Bundesausschüsse der Fall war.762 8. Zwischenergebnis: Ärztliche Interessenwahrung, in den paritätisch besetzten Ausschüssen Durch die gleichberechtigte Zusammenarbeit in den vielen paritätisch besetzten Ausschüssen der gemeinsamen Selbstverwaltung erfüllen Ärzte und Krankenkassen ihre Pflicht aus § 72 Abs. 1 S. 1 SGB V, zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung zusammenzuwirken. In den einzelnen Gremien widmen sich die Vertreter gemeinschaftlich den unterschiedlichen Aufgabenbereichen des Vertragsarztrechts und konkretisieren mit ihren jeweiligen Entscheidungen, sei es in Form von Richtlinien, der Erstellung des EBM, der Konzeptionierung von Bedarfsplänen oder konkreten Einzelentscheidungen, den gesetzlichen Regelungsrahmen des Vertragsarztrechts.763 Aufgrund der in allen Ausschüssen vorgesehenen paritätischen Besetzung764 werden beide Parteien in gleicher Weise bei der Aufgabenwahrnehmung und -erfüllung in die Verantwortung genommen. Es besteht folglich ein ausgeglichenes Machtverhältnis zwischen den Parteien. Die Wahrnehmung der jeweiligen Aufgabenbereiche in den Ausschüssen setzt neben der Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben häufig komplexe Abwägungs-, Untersuchungs- und Wertungsvorgänge voraus. Hierfür werden den Vertretern Beurteilungs-, Ermessens- oder Gestaltungsspielräume eröffnet, die sie zur Einbringung ihrer Interessen nutzen können.765 Die Zusammenarbeit in den paritätischen Gremien bietet im Einigungs- und Aushandlungsprozess also Möglichkeiten zur Einbringung der jeweiligen Interessenstandpunkte und fördert insofern die Herbeiführung eines Interessenausgleichs.

762

Diese Entwicklung beschreibt Loer, KrV 2017, 227, 229 f.; s. a. Seewald, VSSR 2017, 323, 362; zur früheren Arbeitsweise und Funktion des Ausschusses Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn.  68, 627; Becker / K ingreen / Schmidt-De Caluwe, SGB V § 91 Rn. 3; Wahl, Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht, S. 314 ff. 763 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 211. 764 Mit Ausnahme der Prüfungsstellen s. 3. Kap B. II. 5. 765 Beurteilungs- und Ermessensspielräume werden den Vertretern in den Zulassungsund Berufungsausschüssen sowie den Prüfungsstellen und den Beschwerdeausschüssen (s. 3. Kap. B. II. 4. und 5.), Gestaltungsspielräume werden hingegen dem Bewertungsausschuss, den Landesausschüssen und dem GBA eingeräumt (3. Kap. B. II. 3., 6. und 7.).

132

3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

Für das Zustandekommen einer Entscheidung oder eines Beschlusses ist, anders als bei den Kollektivverträgen und mit Ausnahme des einfachen Bewertungs­ ausschusses, ein mehrheitsfähiger Kompromiss Voraussetzung. Dies kann zwar dazuführen, dass einzelne Positionen nicht durchgesetzt werden können, gewährleistet aber insgesamt das Zustandekommen einer Entscheidung, die den zuvor eingebrachten Interessen beider Parteien Rechnung trägt.766 Anders als beim Abschluss der Kollektivverträge sind die Vertreter der Ausschüsse indes nicht dazu gezwungen, zur Herbeiführung einer Entscheidung einen Kompromiss mit der Gegenseite einzugehen. Das Gegenteil ist der Fall – sie können auf ihrem Standpunkt beharren und auf einen für sie günstigen Ausgang durch die ausschlaggebende Entscheidung des unparteiischen Vorsitzenden hoffen. Nur im Zulassungsausschuss wird eine „Blockbildung“ durch den gesonderten Konfliktlösungsmechanismus vermieden, was sich rechtstatsächlich zunächst zum Nachteil der Vertragsärzte auswirken kann.767 Der in allen anderen Gremien etablierte schiedsähnliche Entscheidungsmechanismus zielt primär auf die Herbeiführung einer Vereinbarung ab und damit auf die Durchsetzung irgendeines Interesses.768 Im Falle eines Patts können je nach Entscheidung des Unparteiischen ausschließlich die Position der Ärztevertreter oder diejenige der Krankenkassen berücksichtigt werden. Ausgeschlossen ist es indes nicht, dass mit Hilfe des unparteiischen Vorsitzenden doch ein von der Mehrheit getragener Kompromiss zustande kommt.769 Der schiedsähnliche Abstimmungsmechanismus ruft folglich eine Diskrepanz zwischen der vorangegangenen, durch die Parteiinteressen gelenkten Verhandlung und dem maßgeblich durch den unparteiischen Vorsitzenden bestimmten Ergebnis hervor.770 Auf die Durchsetzbarkeit ihrer jeweiligen Belange haben die Vertreter, soweit kein Mehrheitsbeschluss zustande kommt, dementsprechend keinen Einfluss. Die paritätischen Ausschüsse eignen sich daher aus der Perspektive der Ärzte zwar grundsätzlich zur Einbringung von Interessen; eine zielgerichtete Durchsetzung derselben kann über sie hingegen nicht gewährleistet werden. Schließlich kann der Vertragsarzt versuchen, seine individuellen Interessen im Klageverfahren vor den Sozialgerichten durchzusetzen, wobei die Erfolgsaussichten je nach Angriffsgegenstand stark variieren können.771 766

Vgl. 3.  Kap. B. II. 3. b), 4. a), 5. a), 6. a), 7. a). Zum besonderen Konfliktlösungsmechanismus im Zulassungsausschuss 3. Kap. B. II. 4. a). 768 Vgl. hierzu BSG Urt. v. 3. 2. 2010  – B 6 KA 31/09 R, BSGE 105, 243, 250 f., das von „Konfliktösungsmustern“ spricht; für den erweiterten Bewertungsausschuss s. 3. Kap. ​ B. II. 3. c); für den Berufungsausschuss s. 3. Kap. B. II. 4. c) aa); für den Beschwerdeausschuss s. 3. Kap. B. II. 5. b); für den Landesausschuss s. 3. Kap. B. II. 6. b); für den GBA s. 3. Kap. ​ B. II. 7. b). 769 S.a. bei den Schiedsämtern 3. Kap. B. III. 4. 770 Vgl. Felix, Konfliktlösungsinstrumente im System der GKV, S. 197 f. 771 Vgl. bspw. die zurückgenommene Kontrolle der Gerichte bei einer Überprüfung des EBM 3.  Kap. B. II. 3. d). 767

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

133

Inwiefern bei der Zusammenarbeit in den paritätisch besetzten Gremien tatsächlich die ärztlichen Interessen gewahrt werden, liegt letztlich in der Verantwortung der Vertreter der KBV und der KVen. In Anbetracht der Konfliktlösungsmechanismen in den einzelnen Ausschüssen hängt die Durchsetzung der ärztlichen Belange allerdings nur zum Teil von ihrem Verhandlungsgeschick und vom Ausgang der jeweiligen Verhandlungen ab.772

III. Die Schiedsämter Mit dem Ziel, das „Ausbrechen eines offenen Kampfes“773 zu verhindern, sahen die damaligen Organisationen der Ärzte und Krankenkassen in Ziffer 5 des Berliner Abkommens vom 23. 12. 1913 die Errichtung eines Schiedsamtes vor und legten hiermit den Grundstein für eine lange Tradition des Schiedswesens im Vertragsarztrecht.774 Die Schiedsämter zählen heute zu den unverzichtbaren Elementen des Kollektivvertragssystems.775 Sie verhindern als zentrale Streitschlichtungsinstanz das Eintreten eines vertragslosen Zustandes und sind daher für das Funktionieren des Systems von überragender Bedeutung.776 1. Motive für die Entstehung des Schiedswesens Das Schiedswesen entstand aus der Notwendigkeit, in der damaligen konflikt­ reichen Zeit zwischen Ärzten und Krankenkassen einen Konfliktlösungsmechanismus zu etablieren.777 Die zerstrittenen „Lager“ strebten nach einer Beilegung ihres Konflikts sowie einer dauerhaften friedlichen Lösung als Grundlage für die weitere Zusammenarbeit im Kassenarztsystem. Die Vertragsparteien des Ber­liner Abkommens einigten sich daher auf die Etablierung eines paritätisch besetzten Schiedsamtes, dessen alleinige Aufgabe die Vertragsfestsetzung für den Fall der Nichteinigung war.778 Hierneben wurde ein Schiedsgericht errichtet, das für Streitfälle aus bereits abgeschlossenen Verträgen zuständig war.779 Ein Austragen der Konflikte vor staatlichen Gerichten wollten die Parteien bewusst vermeiden, da 772

Zur Schlüsselfunktion der KVen für die ärztliche Interessenwahrung s. ausf. 3. Kap. C. Albrecht, ZfS 1975, 139, 142; s. a. Sauerborn, DOK 1953, 293, 296. 774 Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 40; Felix, Konfliktlösungsinstrumente im System der GKV, S. 25. 775 Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Wenner, SGB V § 89 Rn. 1. 776 BeckOK-SozR / Orlowski, SGB V § 89 Rn. 1; s. a. Joussen, Schlichtung als Leistungs­ bestimmung und Vertragsgestaltung durch einen Dritten, S. 111. 777 Schnapp / Düring / Schnapp, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 11. 778 Das Schiedsamt war mit dem Vorsitzenden des Oberversicherungsamtes, zwei unparteiischen Mitgliedern und jeweils drei Vertretern beider Seiten besetzt, Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 23. 779 Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 23; Krauskopf, WzS 1973, 65, 68. 773

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

hierdurch Gefühle der Gegnerschaft hätten verstärkt werden können.780 Der Aufgabenbereich des Schiedswesens erfuhr im Zuge der unterschiedlichen Entwicklungsstufen des Kassenarztrechts eine zunehmende Konturierung und Ausweitung durch den Gesetzgeber, zwischenzeitlich nahmen sie sogar Aufgaben der Rechtsprechung wahr.781 Nachdem das Schiedswesen im Zuge der nationalsozialistischen Zentralisierungstendenzen faktisch abgeschafft wurde, machte sich das Fehlen einer Schlichtungs- und Schiedsinstanz nach Kriegsende sofort bemerkbar: Es kam erneut zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Ärzten und Krankenkassen. Erst mit dem GKAR vom 17. 8. 1955 erfolgte eine Neuregelung in den § 368h und § 368i RVO, mit der die Grundstrukturen für das heutige Schiedswesen gelegt wurden.782 Ergänzend trat die Schiedsamtsverordnung (SchiedsamtsVO) am 28. 5. 1957783 in Kraft, die alle verfahrensrechtlichen Aspekte festlegte und seither sowohl für die Bundes- als auch die Landesschiedsämter gilt.784 Heute nehmen die Schiedsämter ausschließlich die Aufgabe der Vertragsfest­ setzung wahr und verhindern hierdurch das Entstehen eines vertragslosen Zustandes.785 Letzterer diente den zerstrittenen Parteien über Jahre hinweg als Druckmittel und war Auslöser für zahlreiche Kämpfe zwischen Ärzten und Krankenkassen.786 Die Institutionalisierung paritätisch besetzter Schlichtungsinstanzen hat sich folglich als wichtiger Faktor zur Herstellung und Aufrechterhaltung einer friedvollen Zusammenarbeit zwischen den stark verfeindeten „Lagern“ der Ärzte und der Krankenkassen erwiesen.787 Die Schiedsämter werden daher auch als „Äquivalent“ zum Streikrecht eingestuft.788

780

Vgl. Klette, Die Kassenarztverträge der sozialen Krankenversicherung, S. 64. Mit der Notverordnung v. 8. 12. 1931 und der Neufassung der §§ 368 ff. RVO war eine erstinstanzliche Zuständigkeit in Zulassungsangelegenheiten und eine letztinstanzliche in Arzt­ registersachen vorgesehen, Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 71; Hauck / Noftz / Vahldiek, SGB V § 89 Rn. 3. 782 Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 22 Rn. 3. 783 BGBl. I, S. 570; zuletzt geändert durch das TSVG v. 6. 5. 2019; ausf. zu den Änderungen Schnapp / Düring / Düring / Schnapp, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 54. 784 Rechtsgrundlage für den Erlass einer Verordnung war § 368i Abs. 7 RVO (heute § 89 Abs. 11 SGB V); ergänzend gelten gem. § 37 S. 1 SGB X die Vorschriften des SGB X und der VwVfG, Becker / K ingreen / Kingreen, SGB V § 89 Rn. 4. 785 Hierzu trägt auch die Anordnung der Fortgeltung des bisherigen Vertrages in § 89 Abs. 3 S. 3 SGB V bei. 786 Vgl. zur Entwicklung des Kassenarztrechts 1. Kap.; ferner BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 127. 787 KassKomm / Hess, SGB V § 89 Rn. 3; Schnapp / Düring / Schnapp, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 11 f. 788 Krauskopf / Sproll, SGB V § 75 Rn. 7; s. a. Zacher, ZSR 1966, 129, 157, 164; Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 230; Uhlenbruck, RdA 1972, 327, 334. 781

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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2. Aufgaben, Organisation und Verfahren der Schiedsämter Das heutige Schiedswesen ist gem. § 89 Abs. 1, Abs. 2 SGB V in Landes- und Bundesschiedsämter untergliedert, die jeweils von den Verbänden der Ärzte und Krankenkassen gemeinsam zu bilden sind. Der GKV-Spitzenverband und die KBV errichten das Bundesschiedsamt, die Landesverbände der Krankenkassen und die KVen in ihrem jeweiligen Bezirk die Landesschiedsämter. Entsprechend dieser Untergliederung sind die Landesschiedsämter für die auf Landesebene geschlossenen Gesamtverträge und das Bundesschiedsamt für die auf Bundesebene geschlossenen Verträge, wie bspw. den BMV-Ä, zuständig. Zwischen den Schiedsämtern auf Bundes- und Landesebene besteht kein Instanzenzug.789 Die Zusammensetzung der Schiedsämter ergibt sich für die Bundes- und die Landesschiedsämter jeweils aus § 89 Abs. 5 SGB V. Hiernach ist für alle Schiedsämter eine paritätische Besetzung mit jeweils vier Vertretern der Vertragsparteien sowie drei unparteiischen Mitgliedern zwingend vorgesehen. Über letztere müssen sich die Vertragsparteien gem. § 89 Abs. 6 SGB V einigen. Bei fehlender Einigung dürfen die Vertragsparteien gem. § 89 Abs. 6 S. 3 SGB V einen zweiten Einigungsversuch unternehmen, andernfalls entscheidet nunmehr letztverantwortlich die Aufsichtsbehörde über die Besetzung. Zuvor sah § 89 Abs. 3 S. 5 SGB V a. F. für den Fall der Nichteinigung einen Losentscheid vor.790 Die Bestellung der sonstigen Mitglieder obliegt den jeweiligen Trägerorganisationen.791 Anders als im Zulassungsausschuss werden an das Amt des Vorsitzenden mittlerweile keine besonderen Anforderungen mehr gestellt.792 Der Vorsitzende muss absolut neutral sein, weshalb seine Besetzung in der Praxis häufig Anlass zum Streit bietet.793 Alle Mitglieder des Schiedsamtes sind bei der Ausübung ihres Amtes gem. § 89 Abs. 7 S. 2 SGB V nicht an Weisungen ihrer Entsendeorganisationen gebun­ den. Diese sachliche Weisungsfreiheit trägt maßgeblich zum Gelingen der Schlichtungsaufgabe bei, da ohne die Möglichkeit, von den ursprünglichen Ausgangspositionen und Interessen abzurücken, die Eingehung eines Kompromisses äußerst schwierig wäre.794 Die persönliche Weisungsfreiheit der unparteiischen Mitglieder wird durch § 89 Abs. 7 S. 3 SGB V abgesichert, wonach eine Abberufung nur aus 789

Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Wenner, SGB V § 89 Rn. 12 f.; Becker / K ingreen / Kingreen, SGB V § 89 Rn. 9. 790 § 89 SGB V wurde im Zuge der Einführung des § 89a SGB V durch das TSVG v. 6. 5. 2019 (BGBl. I, S. 646) systematisch überarbeitet und neu strukturiert. 791 Hauck / Noftz / Vahldiek, SGB V § 89 Rn. 33. 792 So aber früher in § 368i Abs. 2 RVO. 793 Von beträchtlichem Zündstoff spricht Schnapp, Probleme der Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht Teil II, S. 77, 84; Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Wenner, SGB V § 89 Rn. 16. 794 Düring, Rechtsschutz und Verfahren im Vertragspartnerrecht 2016, S. 109, 110; Schmiedl, Schiedsverfahren, S. 126.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

wichtigem Grund und ausschließlich durch die Aufsichtsbehörde vorgenommen werden kann.795 Anders verhält es sich mit der Weisungsfreiheit der Vertreter nach § 89 Abs. 7 S. 4 SGB V: Zum einen räumt das Gesetz den Entsendeorganisationen das Recht ein, ihre jeweiligen Vertreter jederzeit und ohne Grund abzuberufen. Zum anderen lässt sich eine gewisse „innere Verbundenheit mit der jeweiligen Vertragsseite“796 nicht von der Hand weisen. Denn wie die Bezeichnung „Ver­treter“ bereits impliziert, agieren diese gerade in der Funktion eines Interessen- oder Parteivertreters.797 Aufgabe der Schiedsämter ist es, subsidiär-schlichtende Vertragshilfe zu leisten.798 Sie werden erst dann tätig, wenn die Vertragsparteien gem. § 89 Abs. 3 S. 1 SGB V keine Einigung über den Inhalt eines Kollektivvertrages erzielen konnten und alle weiteren Einigungsbemühungen, angeleitet durch das Schiedsamt, gescheitert sind.799 Gleiches gilt für den Fall des Scheiterns der Vertragsverhandlungen nach einer Kündigung, vgl. § 89 Abs. 4 SGB V. Welche Verträge als schiedsfähig gelten, ist mangels gesetzlicher Definition dem Wortlaut und Gesamtzusammenhang anderer Vorschriften zu entnehmen.800 Gem. § 89 Abs. 3 SGB V sind alle Verträge schiedsfähig, deren Abschluss gesetzlich vorgeschrieben ist.801 Hierzu zählen insbesondere die Bundesmantel- und Gesamtverträge sowie deren gesonderte Vereinbarungen über die Höhe bzw. Veränderung der Gesamtvergütung gem. §§ 85, 87a SGB V oder Vereinbarungen über den Punktwert gem. § 87a Abs. 2 SGB V einschließlich etwaiger Zu- und Abschläge. Ausgenommen hiervon ist der EBM als Bestandteil des BMV-Ä, da mit dem erweiterten Bewertungsausschuss ein spezieller Schlichtungsmechanismus für den Falle der Nichteinigung existiert.802 Die Zuständigkeit der Schiedsämter ist nicht auf vergütungsrechtliche Fragestellungen beschränkt. Es können bspw. auch 795

Zur a. F. Schnapp / Düring / Düring / Schnapp, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn.  104; Becker / K ingreen / Kingreen, SGB V § 89 Rn. 22. 796 Becker, SGb 2003, 664, 670. 797 Liebold / Zalewski / Molière / Z alewski, SGB V § 89 Rn. C-89–30; ein blockweises Abstimmen sei der Regelfall, so Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Wenner, SGB V § 89 Rn. 15; Felix, Konfliktlösungsinstrumente im System der GKV, S. 194; die Weisungsfreiheit in diesen Fällen als „substanzlos und sinnlos“ bezeichnend Becker / K ingreen / Kingreen, SGB V § 89 Rn. 26 (6. Auflage 2018); so auch Schnapp, Probleme der Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht Teil II, S. 77, 83 f.; weniger kritisch Krauskopf / Sproll, SGB V § 89 Rn. 46. 798 Schnapp, NZS 2007, 561, 563. 799 § 13 Abs. 1 S. 1 SchiedsamtsVO a. F. verdeutlicht die mediative Funktion der Schiedsämter, jurisPK-SGB  V / Wiegand, § 89 Rn. 11 (3. Auflage 2016); s. a. KassKomm / Hess, SGB V § 89 Rn. 11 f. (105. Erg.-Lief., August 2019), der sogar eine Verpflichtung zur Vornahme eines Einigungsversuches aus § 13 SchiedsamtsVO a. F. ableitet. 800 Schnapp / Düring / Düring / Schnapp, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 74. 801 Schnapp / Wigge / Düring, HB des Vertragsarztrechts, § 9 Rn. 5; Krauskopf / Sproll, SGB V § 89 Rn. 9. 802 Becker / K ingreen / Kingreen, SGB V § 89 Rn. 6 f.; Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 22 Rn.  8; Schnapp / Düring / Düring / Schnapp, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 73 ff. mit ausf. Auflistung der schiedsfähigen Verträge.

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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Fragen über die Errichtung und Organisation der Zulassungs- und Berufungsausschüsse oder die Prüfvereinbarungen gem. § 106 Abs. 1 S. 2 SGB V Gegenstand des Schiedsverfahrens sein.803 Zur grundsätzlichen Schiedsfähigkeit der Verträge muss stets ein aktueller Schlichtungsbedarf hinzutreten – d. h. der entsprechende Vertrag bzw. Vertragsbestandteil muss in den vorausgegangenen Verhandlungen streitig gewesen und auch während des Schiedsverfahrens streitig geblieben sein.804 Zur Einleitung des Verfahrens vor den Schiedsämtern muss gem. § 89 Abs. 3 S. 3 SGB V i. V. m. § 14 S. 1 SchiedsamtsVO eine der beiden Parteien einen schriftlichen Antrag stellen, der die inhaltlichen Anforderungen des § 14 S. 2 SchiedsamtsVO erfüllt. Die Gründe für das Scheitern der Vertragsverhandlungen sind unerheblich, denn das Gesetz stellt nur auf das ganz oder teilweise nicht Zustandekommen des Vertrages ab. Aus diesem Grund kann es auch nicht auf das Führen der Vertragsverhandlungen mit gewisser Ernsthaftigkeit ankommen.805 Darüber hinaus kann das Verfahren im Falle der Vertragskündigung nach § 89 Abs. 4 S. 2 SGB V von Amts wegen oder bei fehlendem Antrag nach § 89 Abs. 3 S. 2 SGB V durch die Aufsichtsbehörde eingeleitet werden. Nach erfolgreicher Einleitung des Verfahrens entscheidet das Schiedsamt gem. § 16 SchiedsamtsVO aufgrund mündlicher Verhandlung, zu der auch die Vertragsparteien geladen sind. Als Abstimmungsmodus ist in § 89 Abs. 3, Abs. 7 S. 7 SGB V die einfache Stimmenmehrheit ohne die Befugnis zur Stimmenthaltung vorgesehen.806 Die ungerade Besetzungsstruktur der Schiedsämter und die Vertragsfestsetzung durch Mehrheitsbeschluss gem. § 89 Abs. 3 S. 1 SGB V i. V. m. § 16 Abs. 1 SchiedsamtsVO führen dazu, dass die unparteiischen Mitglieder, insbesondere aber der Vorsitzende, vielfach Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens haben.807 Sie müssen dafür Sorge tragen, dass eine objektive, sachdienliche und frei von spezifischen Interessen geleitete Entscheidung gefällt wird.808 Im Falle einer Blockbildung der beiden „Lager“ kommt ihren Stimmen ausschlaggebende Bedeutung zu.809

803

Becker / K ingreen / Kingreen, SGB V § 89 Rn. 7; zu den Prüfvereinbarungen vgl. BSG Urt. v. 27. 1. 1987 – 6 RKa 28/86, BSGE 61, 146. 804 Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 22 Rn. 12. 805 So explizit BSG Urt. v. 13. 8. 2004 – B 6 KA 6/14 R, BSGE 116, 280, 285 für den Fall, dass bereits keine Einigung über den Zeitpunkt der Verhandlungen erzielt werden kann; s. a. jurisPK-SGB  V / Filges, § 89 Rn. 48; a. A. Schnapp / Düring / Düring / Schnapp, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 128 und Becker / K ingreen / Kingreen, SGB V § 89 Rn. 12. 806 Eine Entscheidung kann hinfällig geworden sein, wenn der Antrag zurückgezogen wurde oder wenn mit Hilfe des Schiedsamtes eine Einigung erzielt wurde, Becker, SGb 2003, 712, 716. 807 Becker, SGb 2003, 712, 717; Schnapp / Düring / Düring / Schnapp, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 141. 808 Lüke, Das Schiedsverfahren nach § 89 SGB V und § 18a KHG, S. 93. 809 Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Wenner, SGB V § 89 Rn. 15; Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 22 Rn. 19.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

Für die Vertragsparteien geht hiermit wie bei den anderen Gremien mit schiedsähnlichem Konfliktlösungsmechanismus das Risiko einher, überstimmt zu werden und infolgedessen die eigenen Interessen nicht durchsetzen zu können. 3. Der Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum der Schiedsämter Ihrer Entstehungsgeschichte und Funktionsweise zufolge stellen die Schiedsämter Instrumente des Interessenausgleichs dar, weshalb im Folgenden die Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung im Rahmen des Schiedsverfahrens zu untersuchen sind. Das Verfahren tritt nur dann in eine zweite Phase der Beratung und Beschlussfassung, wenn sich im Laufe der mündlichen Verhandlungen keine Perspektive für eine Einigung der Vertragsparteien aufgetan hat.810 Das Schiedsamt kann in diesen Fällen mit einem Vermittlungsvorschlag auf eine Einigung hinwirken.811 Das Zustandekommen einer Einigung zwischen den Vertragsparteien setzt wie beim Abschluss eines Kollektivvertrages die beiderseitige Bereitschaft zur Zusammenarbeit voraus.812 Kommt ein Vertrag während eines bereits eröffneten Schieds­verfahrens zustande, ist dieser Ausdruck eines stattgefundenen Interessenausgleichs „in letzter Minute“. Den Vertragsparteien ist es in diesem Fall gelungen, hinsichtlich derjenigen Aspekte, die für die Einleitung des Schiedsverfahrens ursächlich waren und bei denen eine Einigung zunächst aussichtslos erschien, eine Lösung zu erzielen. In der Praxis stellt dies aber nicht den Regelfall dar, denn die mündlichen Verhandlungen schließen häufiger ohne eine erfolgreiche Einigung.813 An der zweiten Verfahrensphase, der Beratung und Beschlussfassung, nehmen die Vertragsparteien gem. § 18 SchiedsamtsVO dann nicht mehr teil. Die Beratungen bilden das „Kernstück der Entscheidungsfindung“, da sie den Willensbildungsprozess der Schiedsamtsmitglieder zur Festlegung des konkreten Inhalts des Schiedsspruchs darstellen.814 Die Schiedsämter übernehmen hiermit eine subsidiär-schlichtende Funktion, da sie die Vertragsverhandlungen der Vertragsparteien auf anderer Ebene fortführen. Sie setzten durch Schiedsspruch das fest, „was die Beteiligten […] in freier Verantwortung hätten regeln können“815. Hieraus folgt, dass die Schiedsämter über den gleichen Gestaltungsspielraum wie die Vertrags-

810

Schnapp / Düring / Düring / Schnapp, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 139. S. o. Fn. 799; ferner Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 22 Rn. 40. 812 Vgl. hierzu oben 3. Kap. B. I. 2. 813 Von einer lawinenartigen Zunahme der Schiedsverfahren spricht Schnapp / Düring / Düring / Schnapp, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 139; NK-GesundhR / Rehborn, SGB V § 89 Rn. 64; Mannsen, ZFSH / SGB 2004, 78. 814 Ausdrücklich Lüke, Das Schiedsverfahren nach § 89 SGB V und § 18a KHG, S. 144; ferner Becker, SGb 2003, 712, 717. 815 BSG Urt. v. 30. 10. 1963 – 6 RKa 4/62, BSGE 20, 73, 76 f. 811

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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parteien verfügen.816 Synonym wird von (Vertrags-)Gestaltungsfreiheit817 oder von Gestaltungsermessen818 gesprochen. Letzteres ist allerdings nicht mit dem für die Eingriffsverwaltung typischen Verwaltungsermessen gleichzusetzen. Das Schiedsamt ist gerade nicht mit der bloßen Setzung einer Rechtsfolge für einen bereits verwirklichten Tatbestand, sondern mit der Festsetzung eines die unterschiedlichen Interessenpositionen einenden Kollektivvertrages betraut.819 Es betreibt „exekutivische Rechtsetzung“.820 Bei der Festsetzung des Vertragsinhaltes verfügen die Schiedsamtsvertreter folglich ebenfalls über einen weiten Gestaltungsspielraum, der ihnen im Rahmen der gesetzlichen und untergesetzlichen Vorgaben die Freiheit zur inhaltlichen Ausgestaltung der Verträge eröffnet.821 Hierneben steht den Schiedsämtern auf tatbestandlicher Ebene ein nicht völlig objektivierbarer Beurteilungsspielraum zur Auslegung und Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe zur Verfügung, der im verwaltungstechnischen Sinne zu verstehen ist.822 Typischer Anwendungsfall des Beurteilungsspielraumes ist die Auslegung des Kriteriums der Angemessenheit der Vergütung nach § 72 Abs. 2 SGB V.823 Für die Annahme eines Beurteilungsspielraumes spricht zum einen, dass das Schiedsamt mit seinen Sachverständigen und Interessenvertretern ein pluralistisch besetztes Gremium darstellt, welches Entscheidungen wertender Art zu fällen hat. Zum anderen spricht der prognostische Charakter der Schiedsamtsentscheidungen hierfür.824 816

St. Rspr. zuletzt BSG Urt. v. 13. 8. 2014 – B 6 KA 6/14 R, BSGE 116, 280, 282, 288; s. a. BSG Urt. v. 9. 4. 2008 – B 6 KA 29/07 R, BSGE 100, 144, 145 f.; BSG Urt. v. 10. 5. 2000 – B 6 KA 20/99 R, BSGE 86, 126, 134 f.; Düring, Rechtsschutz und Verfahren im Vertragspartner­recht 2016, S.  109, 117 f.; Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Wenner, SGB V § 89 Rn. 11. 817 BSG Urt. v. 13. 8. 2014 – B 6 KA 6/14 R, BSGE 116, 280, 288. 818 BSG Urt. v. 30. 10. 1963 – 6 RKa 4/62, BSGE 20, 73, 76 f.; s. a. Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 761; Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 241 verwendet nur den Begriff des „Ermessens“. 819 Düring, Rechtsschutz und Verfahren im Vertragspartnerrecht 2016, S. 109, 118; Becker / K ingreen / Kingreen, SGB V § 89 Rn. 18; Mannsen, ZFSH / SGB 2004, 78, 79 spricht von einer Gesamtgestaltungsentscheidung. 820 So Schnapp / Düring / Düring / Schnapp, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 157. 821 BSG Urt. v. 30. 10. 1963 – 6 RKa 4/62, BSGE 20, 73, 76; BSG Urt. v. 13. 8. 2014 – B 6 KA 6/14 R, BSGE 116, 280, 300; Schnapp / Düring / Düring / Schnapp, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 161. 822 BSG Urt. v. 30. 10. 1963  – 6 RKa 4/62, BSGE 20, 73, 76 f; s. a. Schnapp / Düring / ​ ­Düring / Schnapp, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 155; nicht alle Autoren unterscheiden zwischen Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum, s. bspw. Eichenhofer / v. ­Koppenfels-Spies / Wenner / Wenner, SGB V § 89 Rn. 11; Schnapp / Wigge / Düring, HB des Vertragsarztrechts, § 9 Rn. 48 auf die Schwierigkeiten bei der Abgrenzung hinweisend; einen Beurteilungsspielraum sogar ablehnend Schmiedl, Schiedswesen, S. 203 f. 823 Schnapp / Düring / Düring / Schnapp, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 155; s. a. BSG Urt. v. 30. 10. 1963 – 6 RKa 4/62, BSGE 20, 73, 76 f. 824 Vgl. BSG Urt. v. 10. 5. 2000 – B 6 KA 20/99 R, BSGE 86, 126, 145; Schnapp / Wigge / ​ ­Düring, HB des Vertragsarztrechts, § 9 Rn. 48; Düring, Das Schiedswesen in der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 151; Lüke, Das Schiedsverfahren nach § 89 SGB V und § 18a KHG, S. 148 f.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

4. Die Berücksichtigung der ärztlichen Interessen im Schiedsamt Der Vertragsinhalt wird durch Schiedsspruch festgesetzt. Hierfür ist eine von der Mehrheit der Schiedsamtsmitglieder getragene Entscheidung erforderlich. Der grundsätzlich weite Gestaltungsspielraum ermöglicht den Vertretern, parteieigene Interessen im Rahmen der Einigung einzubringen und diese mit der Gegenseite auszutarieren. Die Schiedsamtsmitglieder unterliegen hierbei allerdings denselben Grenzen wie die Kollektivvertragspartner. Hierzu zählen neben den vertrags­ arztrechtlichen Regelungen gem. §§ 69 ff. SGB V, den Richtlinien des GBA gem. § 92 i. V. m. § 72 Abs. 2 SGB V sowie den kollektivvertraglichen Regelungen825 auch die Sachanträge der Beteiligten, die eine Obergrenze für die Festsetzungen der Schiedsämter bilden.826 Welche Konsequenzen dies für die Einbringung der jeweiligen Parteiinteressen hat, verdeutlichen exemplarisch die Vereinbarungen über die Anpassung bzw. Veränderung der Gesamtvergütung, die einen der Tätigkeitsschwerpunkte der Landesschiedsämter bilden.827 Bis zum 31. 10. eines Jahres müssen sich die Landes­ verbände der Krankenkassen und die KVen gem. § 87a Abs. 3 SGB V auf die Höhe der morbiditätsbezogenen Gesamtvergütung für die gesamten vertragsärztlichen Leistungen im Folgejahr einigen. Zusätzlich vereinbaren sie gem. § 87a Abs. 2 SGB V einen regionalen Punktwert, der mit den Punktzahlen des EBM multipliziert wird und zur Erstellung einer Euro-Gebührenordnung dient. Der Ablauf dieser Einigungsprozesse wird maßgeblich durch das umfangreiche Netz an gesetzlichen und untergesetzlichen Vorgaben geleitet.828 Der Gestaltungsspielraum der Schiedsamtsmitglieder zur Anpassung der Gesamtvergütung erfährt eine weitgehende Beschränkung – anders als zu Zeiten der RVO, wo § 368g Abs. 1 RVO für die Vereinbarung der vertragsärztlichen Vergütung lediglich die „Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage der Krankenkassen“ vorschrieb und alles Weitere großzügig der Ausgestaltungsmacht der Vertragsparteien überließ.829 Immerhin ermöglicht die eingeführte Relativierung des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität den Vertragsparteien, eine freie Abwägung hinsichtlich der Anpassungskriterien

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Bei der Festsetzung der gesamtvertraglichen Regelungen ist der Gestaltungsspielraum durch die allgemeinen Vorgaben des BMV-Ä als Bestandteil der Gesamtverträge begrenzt, s. o. 3.  Kap. B. I. 3. c) aa). 826 Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 22 Rn. 55; Schnapp / Düring / Düring  / ​ Schnapp, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 161. 827 Schnapp, NZS 2007, 561, 562; Schnapp / Düring / Düring / Schnapp, HB des sozialrecht­ lichen Schiedsverfahrens, Rn. 162, Fn. 282; auf das hohe Konfliktpotential- und die Konfliktbereitschaft hinweisend Hustadt, ErsK 1997,117, 118. 828 Ausf. 3. Kap. B. I. 3. c) bb); s. a. die ausf. Auseinandersetzung mit Beispielen des BSG Urt. v. 13. 8. 2014 – B 6 KA 6/14 R, BSGE 116, 280 von Düring, Rechtsschutz und Verfahren im Vertragspartnerrecht 2016, S. 109, 119 ff. 829 Daher von goldenen Zeiten für die Gestaltungsspielräume der Schiedsämter sprechend Schnapp, GesR 2014, 193, 200.

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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in § 87a Abs. 4 SGB V vorzunehmen und hierbei die eigenen Wertungen einfließen zu lassen.830 Neben den aufgezeigten rechtlichen Grenzen kann sich wie auf gesamtvertraglicher Ebene eine faktische Beschränkung der Gestaltungsfreiheit durch die Befugnisse der Aufsichtsbehörden ergeben. Denn § 89 Abs. 10 S. 6 SGB V schreibt eine Vorlagepflicht der Entscheidungen der Schiedsämter über die Vergütungen nach §§ 83, 85 und § 87a SGB V vor. Die zuständigen Aufsichtsbehörden, das BMG für das Bundesschiedsamt und die Ministerien bzw. Senatoren für die Landesschiedsämter, sind gem. § 89 Abs. 10 S. 4 SGB V „nur“ zur Rechtsaufsicht befugt.831 Zu den zulässigen Aufsichtsmitteln zählen nach § 89 Abs. 10 S. 7 SGB V insbesondere das Beanstandungsrecht, womit das Schiedsamt dazu verpflichtet werden kann, die Vergütungsvereinbarung entsprechend dem Beanstandungsbescheid abzuändern.832 Leistet das Schiedsamt dem nicht Folge oder kommt der Vertrag nach Ablauf von drei Monaten oder innerhalb der vorgesehenen Frist nicht zustande, legt die Aufsichtsbehörde gem. § 89 Abs. 9 S. 1 SGB V eine erneute Frist zur Festsetzung des Vertragsinhaltes fest. Sofern es innerhalb dieser Frist nicht zu einer Einigung zwischen den Vertretern kommt, entscheiden die unparteiischen Mitglieder. Das vorherige Ersatzvornahmerecht nach § 89 Abs. 1 S. 5 SGB V a. F., das der Aufsichtsbehörde ermöglichte, Zweckmäßigkeitserwägungen anzustellen und daher auch als „staatliche Lenkung“ charakterisiert wurde, ist hiermit hinfällig geworden.833 Gleichwohl erhöhen die Fristsetzung sowie die drohende Entscheidung durch die unparteiischen Mitglieder, ähnlich wie das zuvor bestehende Ersatzvornahmerecht, den Druck auf die Schiedsamtsmitglieder, eine Einigung zu erzielen.834 Die Mitgliedern werden also in ihrer Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit zwar nicht rechtlich aber jedenfalls faktisch beschränkt.835 Zuletzt bedingt die Aufgabe des Schiedsamtes, zwangsweise einen Vertrag festzusetzen, ebenfalls eine faktische Einschränkung. Auch wenn dem Schiedsamt grundsätzlich der gleiche Gestaltungsspielraum wie den Kollektivvertragspartner zur Verfügung steht, darf es diesen in Anbetracht seiner Schlichtungsfunktion nicht vollumfänglich ausschöpfen und ist an das billige Ermessen gebunden.836 830

Ausf. 3.  Kap. B. I. 3. c) bb); ferner LPK-SGB V / Engelhart-Au, § 87a Rn. 21; NK-­GesundhR / ​ Reuter, SGB V § 87a Rn. 14. 831 Vgl. zur Zuständigkeit §§ 89 Abs. 10 S. 1, 3 SGB V; Becker / K ingreen / Kingreen, SGB V § 89 Rn. 23 f. 832 JurisPK-SGB  V / Wiegand, § 89 Rn. 82, (3. Auflage 2016). 833 So Schnapp / Düring / D üring / Schnapp, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 199. 834 Zum Ersatzvornahmerecht vgl. Schnapp / Wigge / Düring, HB des Vertragsarztrechts, § 9 Rn. 61; Lüke, Das Schiedsverfahren nach § 89 SGB V und § 18a KHG, S. 166. 835 So ähnlich nur Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 743; Krauskopf / Sproll, SGB V § 89 Rn. 2 lehnt daher eine Bezeichnung des Schiedsverfahrens als Schlichtung i. S. e. einvernehmlichen Einigung ab; s. a. bei den Gesamtverträgen 3. Kap. B. I. 3. c) aa). 836 So Joussen, Schlichtung als Leistungsbestimmung und Vertragsgestaltung durch einen Dritten, S. 441; LPK-SGB V / Schuler, § 89 Rn. 16.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

Der Gestaltungsfreiheit der Landesschiedsämter werden zahlreiche rechtliche und faktische Grenzen gesetzt, die den zwischen den Schiedsamtsmitgliedern stattfindenden Einigungsprozess beschränken. Infolgedessen verbleibt für die Einbringung parteieigener Interessen ein geringerer Freiraum. Welche Belange sich letztlich im Schiedsspruch niederschlagen, d. h. welche Partei ihren Standpunkt erfolgreich durchsetzen kann, entscheidet sich im Falle eines Patts anhand des Abstimmungsverhaltens der unparteiischen Mitglieder. Da ein blockweises Abstimmen der Vertreter trotz gesetzlich normierter Weisungsfreiheit die Regel ist, besteht für beide Parteien ein potentielles Risiko, überstimmt zu werden.837 Dies ist der Funktionsweise der Schiedsämter geschuldet. Diese setzen zur Vermeidung eines vertragslosen Zustandes einen Vertrag fest und verhelfen damit entweder den Interessen der Ärztevertreter oder denjenigen der Krankenkassen zur Geltung. Soweit mit Hilfe des Vorsitzenden ein mehrheitsfähiger Kompromiss zwischen den Parteien zustande kommt, können hingegen die Interessen beider Parteien berücksichtigt werden. 5. Individuelle Interessenwahrung durch gerichtliche Kontrolle Die Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Schiedssprüche werden durch ihre Doppelnatur bedingt. Gegenüber den Verfahrensbeteiligten, den Landesverbänden der Krankenkassen und den KVen bzw. dem GKV-Spitzenverband und der KBV, stellt der Schiedsspruch einen vertragsstiftenden Verwaltungsakt gem. § 31 SGB X dar. Gegenüber den Mitgliedern der Vertragsparteien, den Krankenkassen und Ärzten, entfaltet er normative Wirkung und ist als Normsetzungsvertrag zu qualifizieren.838 Die Vertragsparteien können daher im Wege der Anfechtungs- oder Bescheidungsklage gegen den Schiedsspruch vorgehen.839 Dem einzelnen Vertragsarzt bleibt diese Möglichkeit versperrt. Ihm steht, wie gegen die Beschlüsse des erweiterten Bewertungsausschusses, nur eine inzidente Überprüfungsmöglichkeit im Wege der Klage gegen seinen Honorarbescheid zur Verfügung. Zwar können in diesem Rahmen bspw. gesamtvertragliche Regelungen auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht geprüft werden. Allerdings betrifft dies nur die normativ wirkenden Vertragsteile, sodass dem Vertragsarzt eine Überprüfung der festgesetzten Höhe bzw. der Anpassung der Gesamtvergütung aufgrund ihrer „nur“ obligatorischen Wirkung verwehrt bleibt. Die festgesetzte Höhe der Gesamtvergütung kann ausschließlich durch die Aufsichtsbehörden kontrolliert werden, deren Entscheidungen wiederum nur von den

837

So Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Wenner, SGB V § 89 Rn. 15. BSG Urt. v. 21. 3. 2012  – B 6 KA 21/11 R, BSGE 110, 258, 260; s. a. Becker / K ingreen / Kingreen, SGB V § 89 Rn. 17. 839 Schnapp / Düring / Düring / Schnapp, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 205 ff. 838

B. Die Instrumente des Interessenausgleichs im Vertragsarztrecht 

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Vertragsparteien im Klageverfahren überprüft werden können.840 Auch bleibt den Vertragsärzten eine Überprüfung der formellen Voraussetzungen für die Anrufung und Durchsetzung des Schiedsverfahrens verwehrt, da sie allein die Beteiligten des Schiedsverfahrens betreffen und nur von diesen zur Überprüfung gestellt werden können.841 Die Vertragsärzte sind darauf angewiesen, dass die KVen etwaige Mängel im Blick haben und ihre Interessen im Rahmen der laufenden Anfechtungsfrist vertreten.842 Darüber hinaus üben die Gerichte weitgehende Zurückhaltung bei der materiellen Überprüfung der Schiedssprüche, um dem weiten Gestaltungsspielraum der Schiedsämter und dem Kompromisscharakter der Schiedssprüche Rechnung zu tragen. Die Sozialgerichte prüfen nur, ob der den Schiedssprüchen „zugrunde gelegte Sachverhalt zutrifft, ob das Schiedsamt seinen Gestaltungsspielraum eingehalten, d. h. insbesondere die zwingenden rechtlichen Vorgaben beachtet hat, […] ob der Schiedsspruch die Gründe für das Entscheidungsergebnis ausreichend erkennen lässt“ und ob die grundlegenden verfahrensrechtlichen Anforderungen beachtet wurden.843 Bei fakultativen Vereinbarungen durch das Schiedsamt, wie bspw. der Vereinbarung von Zu- und Abschlägen gem. § 87a Abs. 2 S. 2 SGB V, genießt das Schiedsamt einen noch weiteren Gestaltungsspielraum, der mit einer weitgehend verringerten Kontrolldichte korreliert.844 Die Erfolgsaussichten einer gerichtlichen Überprüfung durch den Vertragsarzt sind daher – vergleichbar mit denjenigen gegen Beschlüsse des erweiterten Bewertungsausschusses – als sehr gering einzustufen.845 Der Schiedsspruch hält erst dann einer Überprüfung nicht mehr Stand, wenn wesentliche tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte außer Acht gelassen wurden oder eine bestimmte, nicht im Einklang mit dem Gesetz stehende Gewichtung der maßgeblichen Kriterien vorgenommen wurde.846 Angesichts dessen gewinnt die Einbringung und Durchsetzung der ärztlichen Interessen im Wege der kollektivvertraglichen Verhandlungen oder einer Einigung vor den Schiedsämtern durch die Vertreter der KVen an Bedeutung. 840

Vgl. bereits oben 3.  Kap.  B. I. 3. d) bb); Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Wenner, SGB V § 89 Rn. 11, 22, stuft diesen status quo als problematisch ein; Schnapp, GesR 2014, 193, 202; ders., NZS 2007, 561, 565; BSG Urt. v. 31. 8. 2005 – B 6 KA 6/04 R, BSGE 95, 86, 88 f. 841 Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner, SGB V § 89 Rn. 22; Schnapp / Düring / Düring / Schnapp, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 222. 842 Düring, Rechtsschutz und Verfahren im Vertragspartnerrecht 2016, S. 109, 128. 843 St. Rspr. BSG Urt. v. 13. 8. 2014 – B 6 KA 6/14 R, BSGE 116, 280, 288; s. a. BSG Urt. v. 16. 7. 2003 – B 6 KA 29/02 R, BSGE 91, 153, 156; zuletzt BSG Urt. v. 10. 5. 2017 – B 6 KA 5/16 R, BSGE 123, 115, 119; BSG Urt. v. 29. 11. 2017 – B 6 KA 42/16 R, GesR 2018, 468, 469 f.; Düring, Das Schiedswesen in der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 149 f.; kritisch Seewald, VSSR 2015, 27, 37 ff., 47 ff. 844 BSG Urt. v. 10. 5. 2017 – B 6 KA 5/16 R, BSGE 123, 115, 119 f.; s. a. Mushoff, NZS 2017, 829, 830. 845 Vgl. unter 3. Kap. B. II. 3. d); s. nur Hustadt, ErsK 1997, 117, 120; HS-KV / Schnapp § 49 Rn. 224; Tiemann / Tiemann, Kassenarztrecht im Wandel, S. 75. 846 Schnapp / Wigge / Düring, HB des Vertragsarztrechts, § 9 Rn. 75.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

6. Zwischenergebnis: Ärztliche Interessenwahrung in den Schiedsämtern Der Gestaltungsspielraum der Schiedsamtsmitglieder und derjenige der Vertragsparteien ist deckungsgleich. Im Schiedsverfahren stehen den Parteien die gleichen Möglichkeiten zur Interesseneinbringung wie beim Abschluss der Kollektivverträge zu: Solange die Gestaltungsspielräume der Vertrags- bzw. Schiedsamtsparteien nicht gänzlich durch gesetzgeberische Vorgaben determiniert sind, verbleiben den Vertragsparteien noch Freiräume zur Einbringung ihrer Belange. Dies gilt sowohl für die Verhandlungen vor den Landes- als auch vor den Bundesschiedsämtern. Hinsichtlich der Durchsetzbarkeit parteieigener Interessen unterscheiden sich die Schiedsamtsentscheidungen von den Kollektivvertragsabschlüssen, da für die Festsetzung eines Vertrages bereits die einfache Stimmenmehrheit genügt. Hierdurch kommt jedenfalls ein von der Mehrheit der Vertreter getragener Kompromiss zustande, der die Belange beider Parteien überwiegend berücksichtigt. Deutlich häufiger kann es aber zu einem Patt zwischen Ärzten und Krankenkassen kommen, der durch den unparteiischen Vorsitzenden zu Lasten einer der beiden Parteien aufgelöst wird. Das potentielle Risiko, infolgedessen die eigenen Belange nicht durchsetzen zu können, trifft beide Parteien in gleicher Weise. Aus der Perspektive der Ärzteschaft eignen sich die Schiedsämter daher zwar zur Einbringung ihrer Interessen, aber nicht zur zielgerichteten Durchsetzung derselben. Aufgrund der einseitigen Vertragsfestsetzung im Konfliktfall ist gerade nicht gewährleistet, dass sich die ärztlichen Interessen im finalen Vertrag niederschlagen. Schließlich stellen die individuellen Rechtsschutzmöglichkeiten aufgrund der eingeschränkten Kontrollbefugnisse der Gerichte keine erfolgversprechende Möglichkeit für die Vertragsärzte dar, ihre Interessen nachträglich zu wahren. Für die tatsächliche Wahrung der ärztlichen Interessen tragen die jeweiligen Vertreter der KVen bzw. der KBV die Verantwortung. In Anbetracht des etablier­ ten Konfliktlösungsmechanismus in den Schiedsämtern hängt die Durchsetzung der ärztlichen Interessen allerdings nicht nur von ihrem Verhandlungsgeschick und dem Ausgang der jeweiligen Verhandlungen ab.

C. Die Schlüsselfunktion von KBV und KV für die ärztliche Interessenwahrung Die Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung innerhalb des Systems konzentrieren sich, wie gesehen, auf die Aushandlungs- und Einigungsprozesse in den einzelnen Kooperationsgremien sowie bei den Kollektivvertragsverhandlungen. Die entsandten Vertreter der KVen bzw. der KBV übernehmen jeweils für

C. Die Schlüsselfunktion von KBV und KV 

145

die Vertragsärzte die Verhandlungsführung und tragen damit die Verantwortung für die tatsächliche Einbringung und Durchsetzung der ärztlichen Interessen. Sie nehmen insofern eine Schlüsselfunktion bei der ärztlichen Interessenwahrung innerhalb der Kooperationsstrukturen wahr. Da sich Vertragsärzte aufgrund ihrer Pflichtmitgliedschaft in der KV847 keine beliebige Organisation zur kollektiven Vertretung ihrer Interessen aussuchen können, sind sie auf die Repräsentation ihrer Interessen durch die KV und die KBV angewiesen. Mit der Mitwirkung in den paritätischen Ausschüssen der gemeinsamen Selbstverwaltung sowie beim Abschluss der Kollektivverträge erfüllen die KVen sowie die KBV ihren in § 75 Abs. 2 SGB V verankerten Rechtswahrnehmungsauftrag.848 Um hierbei eine Interessenvertretung im Sinne der Ärzteschaft gewährleisten zu können, muss sichergestellt sein, dass die mit den Vertragsverhandlungen oder der Ausschussarbeit betrauten Funktionsträger verfahrens- und organisationsrechtlich hinreichend an die Basis der Ärzteschaft gebunden sind, damit sie diese einheitlich repräsentieren können und ihre Entscheidungen auf diese rückführbar sind.849

I. Rückbindung an die Basis der Ärzteschaft durch Wahlen Für die Feststellung, ob zwischen den jeweiligen entsandten Vertretern in den Gremien und den die Vertragsverhandlung leitenden Vorständen eine ausreichende Rückbindung an die Basis der Ärzteschaft besteht, müssen die einzelnen Wahlakte nachvollzogen werden. Denn über Wahlen wird ein Legitimationszusammenhang sowie das Vorliegen eines Repräsentanzverhältnisses zwischen der KV und ihren Mitgliedern, den einzelnen Ärzten, begründet. Soweit eine ununterbrochene Legitimationskette gegeben ist, kann davon ausgegangen werden, dass die jeweiligen Amtswalter bei der Ausführung ihres Amtes zur Wahrung der ärztlichen Interessen legitimiert sind. In der unmittelbaren Staatsverwaltung muss, um den Anforderungen der demokratischen Legitimation aus Art. 20 Abs. 2 GG zu genügen, zwischen Volk und staatlich handelndem Amtswalter eine ununterbrochene, auf das Volk zurückzuführende Legitimationskette bestehen.850 Die einzelnen Vertreter der KVen werden hingegen nicht vom Staatsvolk, sondern „nur“ von den Verbandsmitgliedern, also primär den niedergelassenen Ärzten, gewählt.851 Im vorliegenden Kontext genügt diese verbandsautonome Legitimation indes zur Feststellung, ob ein Legitima 847

Zur Pflichtmitgliedschaft s. 2. Kap. B. I. Spickhoff / Nebendahl, SGB V § 75 Rn. 32; Schnapp / Wigge / Rompf, HB des Vertragsarztrechts, § 3 Rn. 22; zum Rechtswahrnehmungsauftrag der KVen s. o. 2. Kap. B. I. 1. b). 849 So für den GBA Loer, KrV 2017, 227, 229. 850 BVerfG Urt. v. 31. 10. 1990  – 2 BvF 3/89, BVerfGE 83, 60, 71 f.; BVerfG Beschl. v. 24. 5. 1995 – 2 BvF 1/92, BVerfGE 93, 37, 68; HStR / Böckenförde, § 24 Rn. 16. 851 Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, S. 218. 848

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

tionszusammenhang zwischen der Betroffenengemeinschaft und den jeweiligen Funktionsträgern besteht.852 1. Autonome Legitimation des Vorstandes zur Führung der Kollektivvertragsverhandlungen §§ 82 Abs. 1, 83 Abs. 1 SGB V legen für die Bundesmantel- und Gesamtverträge die Verhandlungsbefugnis der KBV bzw. der KVen fest. Eine konkrete Aussage darüber, wer die Vertragsverhandlungen leitet, enthält das Gesetz nicht. Allerdings lässt sich aus der Organisationsstruktur der KVen sowie der KBV ableiten, dass den mit Außenvertretungskompetenz ausgestatteten Vorständen die Vertragsabschlusskompetenz zukommt. Die Vorstände gelten als die maßgeblichen Handlungsorgane der jeweiligen Trägerorganisationen, denen das operative Geschäft obliegt. Letzteres umfasst die Verwaltung des gesamten gesetzlichen und vertraglichen Aufgabenbereiches, soweit nicht der Zuständigkeitsbereich der Vertreterversammlung aufgrund einer grundsätzlichen Bedeutung i. S. v. § 79 Abs. 3 Nr. 3 SGB V betroffen ist.853 Dies könnte zwar im Hinblick auf die Befugnis zum Abschluss der Kollektivverträge der Fall sein. Allerdings würde dies dazu führen, dass die mit der Errichtung hauptamtlicher Vorstände bezweckte „Professionalisierung“ unterlaufen wird. Als ihre Kernkompetenz nehmen die Vorstände daher die vertraglichen Beziehungen zu den gesetzlichen Krankenkassen wahr, wovon neben der Führung der Vertragsverhandlungen insbesondere die Abschlussbefugnis umfasst ist.854 Seine verbandsautonome Legitimation zum Vertragsabschluss erhält der Vorstand durch die Wahl der Vertreterversammlung gem. § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 SGB V, die ihrerseits auf eine Urwahl der Vertragsärzte gem. § 80 Abs. 1 S. 1 SGB V zu 852 Vgl. zum Begriff der autonomen Legitimation HStR / Böckenförde, § 24 Rn. 33 und Schmidt-Aßmann, Grundrechtspositionen und Legitimationsfragen im öffentlichen Gesundheitswesen, S. 75 f. Umstritten, aber für die vorliegende Untersuchung nicht von Bedeutung, ist, ob die durch verbandsinterne Wahlen vermittelte autonome Legitimation für die Annahme der personellen demokratischen Legitimation ausreicht. Dies ist für die Frage der demokratischen Legitimation untergesetzlicher Rechtsnormen im Vertragsarztrecht von Relevanz. Sich dafür aussprechend u. a. BSG Urt. v. 18. 3. 1998 – B 6 KA 37/96 R, BSGE 82, 41, 46; s. a. BSG Urt. v. 9. 12. 2004 – B 6 KA 44/03 R, BSGE 94, 50, 60; Clemens, MedR 1996, 432, 434 ff.; Schirmer, MedR 1996, 404, 410; Engelmann, NZS 2000, 76, 77; nur bzgl. der KVen Sodan, NZS 1998, 305, 309, 313; Joussen, SGb 2004, 334, 341; sich dagegen aussprechend Butzer / Kaltenborn, MedR 2001, 333, 338; Holzner, SGb 2015, 247, 248; Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, S. 218 ff.; Wimmer, NZS 1999, 113, 117. 853 Sodan / Z iermann, Krankenversicherungsrecht, § 20 Rn. 93; NK-MedR  /  Steinmeyer, SGB  V § 79 Rn.  16; Hauck / Noftz / Hamdorf, SGB V § 79 Rn. 49. 854 BSG Urt. 30. 10. 2013 – B 6 KA 48/12 R, BSGE 114, 274, 278, 281; NK-MedR / Steinmeyer, SGB V § 79 Rn. 6; KassKomm / Rademacker, SGB V § 79 Rn. 10; Krauskopf / Krauskopf, SGB V § 79 Rn. 31; s. bspw. § 10 Abs. 5 d Satzung KV BW; für die KBV vgl. Ziffer 21.2.14 Satzung der KBV.

C. Die Schlüsselfunktion von KBV und KV 

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rückgeht.855 Beim Abschluss der Landesverträge ist die Legitimation folglich auf ein zweiaktiges Wahlverfahren zurückzuführen, wohingegen bei den Bundesmantelverträgen bereits ein dreiaktiges Wahlverfahren gegeben ist. Als weiterer Wahlakt tritt hier die Wahl der Vertreterversammlung der KBV gem. § 80 Abs. 1a S. 2 SGB V hinzu. Diese wählt sodann ihren Vorstand gem. § 80 Abs. 2 Nr. 2 SGB V.856 2. Autonome Legitimation der Vertreter zur Zusammenarbeit in den gemeinsamen Gremien In den gemeinsamen Ausschüssen sowie den Schiedsämtern übernehmen jeweils entsandte Vertreter der KVen bzw. der KBV die ärztliche Interessenvertretung. Gesetzliche Vorgaben über die Bestellung und das konkrete Auswahlverfahren der Vertreter fehlen bei allen Ausschüssen. Ausschließlich die Anzahl sowie die Rechtsstellung der zu entsendenden Vertreter ist gesetzlich normiert.857 Konkretere Vorgaben hinsichtlich der internen Organzuständigkeit für die Auswahl der Vertreter lassen sich hingegen den jeweiligen Satzungen der KVen sowie der KBV entnehmen. Der Ablauf des Auswahlverfahrens wird daher zunächst für jeden Ausschuss einzeln herausgearbeitet, um anschließend die autonome Legitimation der Gremienvertreter feststellen zu können. a) Die Auswahl der Ausschussvertreter aa) Einfacher und erweiterter Bewertungsausschuss In den einfachen Bewertungsausschuss werden drei Vertreter der KBV entsandt, die vom Vorstand der KBV auszuwählen sind. Die Zuständigkeit des Vorstandes wird damit begründet, dass es sich bei der Bestellung um einen innerverbandlichen Akt handelt, welcher durch Satzungsrecht konkretisiert wird.858 Da der Vorstand der KBV die Vertragsabschlusskompetenz für die Bundesmantelverträge inne hat und der Bewertungsausschuss lediglich der „verlängerte Arm der Vertragsparteien“ ist,859 erscheint es gerechtfertigt, ihm – wie in Ziffer 21.2.11 der Satzung der KBV geschehen – die Auswahl der Vertreter des Bewertungsausschusses zu überlassen. Es werden keine konkreten Voraussetzungen für die jeweiligen Vertreter aufgestellt, sodass davon auszugehen ist, dass sowohl Ärzte als auch Nichtärzte gewählt

855

So auch Krause, VSSR 1990, 107, 116. Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, S. 177 (zu den Gesamtverträgen), S. 181 (zu den Bundesmantelverträgen). 857 Vgl. jeweils bei den einzelnen Ausschüssen 3. Kap. B. II. 858 Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 87 Rn. 334. 859 Vgl. oben Fn. 473. 856

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

werden können. Die Vertreter können jederzeit grundlos abberufen werden, was auf ihre Weisungsgebundenheit schließen lässt.860 Die Besetzung des erweiterten Bewertungsausschusses fällt ebenfalls in den Zuständigkeitsbereich der Vorstände. Auch wenn § 87 Abs. 4 S. 3 SGB V dies nicht ausdrücklich vorschreibt, ist davon auszugehen, dass die unparteiischen Mitglieder, wie die anderen Mitglieder auch, durch den Vorstand benannt werden. Lediglich auf die Person des Vorsitzenden müssen sich die Vertragsparteien nach § 87 Abs. 4 S. 2 SGB V einigen. Die drei unparteiischen Mitglieder sind ihrer Funktion als Schlichtungspersonen entsprechend an Weisungen nicht gebunden.861 bb) Zulassungs- und Berufungsausschüsse Die drei ärztlichen Vertreter für die Zulassungs- und Berufungsausschüsse werden gem. § 96 Abs. 2 S. 2 i. V. m. § 97 Abs. 2 S. 4 SGB V von den KVen ausgewählt. Wiederum enthält sich das Gesetz näherer Angaben über den Ablauf des Auswahlverfahrens der Vertreter. Die Zulassungsverordnungen gestalten zwar gem. § 98 Abs. 2 Nr. 1, 2, 3 SGB V die Besetzung, die Geschäftsführung sowie das Verfahren näher aus, die konkreten Modalitäten der Wahl sind jedoch den jeweiligen Körperschaftssatzungen vorbehalten. Satzungsgemäß zuständig für die Auswahl der Vertreter ist bei einigen KVen der Vorstand,862 der teilweise auch auf Grundlage einer vom Bezirksbeirat erstellten Liste seine Entscheidung trifft,863 bei anderen die Vertreterversammlung.864 In manchen Fällen fehlt eine ausdrückliche Regelung, sodass davon ausgegangen werden kann, dass die Befugnis zur Geschäftsführung des Zulassungsausschusses auch die Befugnis zur Auswahl der Vertreter umfasst.865 Über den unparteiischen Vorsitzenden des Berufungsausschusses, der die Befähigung zum Richteramt haben muss, einigen sich die sechs Vertreter gem. § 97 Abs. 2 S. 2 SGB V. Die Vertreter sind gem. § 96 Abs. 2 S. 4 SGB V an Weisungen nicht gebunden, wobei eine gewisse Nähe zu den entsendenden Organisationen vermutet wird. Bestimmte persönliche oder fachliche Voraussetzungen müssen die Ärztevertreter nicht erfüllen.866 Einigkeit besteht darüber, dass sie nicht zwangs 860 861

BSG Urt. v. 29. 9. 1993 – 6 RKa 65/91, BSGE 73, 131, 133; vgl. hierzu 3. Kap. B. II. 3. a). Zur Rechtsstellung der Vertreter und der unparteiischen Mitglieder s. o. 3. Kap. B. II. 3. a),

c).

862

§§ 10 Abs. 5g Satzung KV BW; § 16 Nr. 3e Satzung KV Bayern; § 15 Satzung KV Sachsen; § 11 Abs. 5c Satzung KV Niedersachsen; § 11 Abs. 4n Satzung KV Thüringen. 863 Vgl. § 19 Abs. 6b Satzung KV BW; § 11 Abs. 5c Satzung KV Hessen sieht eine Genehmigung der Wahl durch die Vertreterversammlung vor. 864 § 37 Abs. 1 Nr. 26 KV HH; § 8 Abs. 1u Satzung KV Bremen; § 9 Abs. 1 Nr. 7g Satzung KV Westfalen-Lippe; § 7 Abs. 19e Satzung KV Rheinland-Pfalz; § 5 Abs. 2 Nr. 6 Satzung KV Berlin. 865 Bei der KV Nordrhein sind dies bspw. die Kreisstellen als unselbstständige Verwaltungsstellen der KV § 14 Nr. 3 bb) Satzung KV Nordrhein. 866 S. ausf. 3.  Kap. B. II. 4. a).

C. Die Schlüsselfunktion von KBV und KV 

149

läufig Ärzte sein müssen. Es kann sich für die Leistungserbringer als durchaus interessengerecht erweisen, wenn Nichtärzte mit anderweitiger Sachkunde ihre Interessen in den Gremien vertreten. Eine ausschließliche Besetzung mit Nichtärzten wird allerdings für nicht zulässig erachtet, da die Funktion der Zulassungsausschüsse die Einbringung ärztlichen Sachverstandes erfordert.867 cc) Prüfungsstellen und Beschwerdeausschüsse Die Auswahl der Vertreter für die Prüfungsstellen sowie für den paritätisch besetzten Beschwerdeausschuss erfolgt bei einigen KVen entweder durch den Vorstand der jeweiligen KV868 oder durch die Vertreterversammlung.869 Auf den unparteiischen Vorsitzenden des Beschwerdeausschusses müssen sich, anders als beim Berufungsausschuss, die KVen und die Landesverbände der Krankenkassen einigen, wobei intern von einer Zuständigkeit der jeweiligen Vorstände auszugehen ist.870 Für ihn wird keine bestimmte Qualifikation vorausgesetzt, allerdings darf der ausgewählte Vorsitzende zur Wahrung der Unabhängigkeit keiner der Trägerorganisationen angehören.871 Die Vertreter des Beschwerdeausschusses unterliegen keinen Weisungen.872 An die Vertreter der Prüfungsstellen und Beschwerdeausschüsse werden ebenfalls keine besonderen fachlichen Voraussetzungen gestellt, sodass die Stellen mit Ärzten und Nichtärzten besetzt werden können. Für die Beschwerdeausschüsse besteht zudem kein Gebot, Vertreter „mit der fachlichen Ausrichtung der geprüften Ärzte einzusetzen“, da sie als „fachkundig zusammengesetzte Einrichtungen konzipiert [sind und] grundsätzlich selbst die erforderliche medizinische Sachkunde [aufweisen].“873 dd) Landesausschuss Die Auswahl der neun Ärztevertreter für den Landesausschuss nach § 90 Abs. 1 S. 1 SGB V erfolgt durch den Vorstand als das satzungsgemäß zuständige Organ874 867

So BSG Urt. v. 25. 11. 1998 – B 6 KA 81/97 R, SozR 3–2500 § 97 Nr 2, S. 5 f.; Kremer / Wittmann, Vertragsärztliche Zulassungsverfahren, Rn. 26. 868 Vgl. §§ 10 Abs. 5g, 19 Abs. 6g Satzung KV BW; § 16 Nr. 3e Satzung KV Bayern; § 15 Satzung KV Sachsen; § 11 Abs. 5d Satzung KV Niedersachsen; § 8 Abs. 10g Satzung KV Rheinland-Pfalz; § 11 Abs. 4n Satzung KV Thüringen; § 11 Abs. 5d Satzung KV Hessen. 869 § 37 Abs. 1 Nr. 23 KV HH; § 8 Abs. 1v Satzung KV Bremen; § 9 Abs. 1 Nr. 7g Satzung KV Westfalen-Lippe; § 5 Abs. 2 Nr. 6 Satzung KV Berlin. 870 Für die KVen vgl. bspw.: § 10 Abs. 5g Satzung KV BW; § 11 Abs. 5d Satzung KV Niedersachsen; § 8 Abs. 10g Satzung KV Rheinland-Pfalz. 871 Hauck / Noftz / Engelhard, SGB V § 106 Rn. 492. 872 S. o. 3.  Kap. B. II. 5. a). 873 BSG Urt. v. 28. 6. 2000 – B 6 KA 36/98 R, juris Rz. 24. 874 § 11 Abs. 4n Satzung KV Thüringen; § 11 Abs. 6c Satzung KV Westfalen-Lippe; §§ 10 Abs. 5g Satzung KV BW; § 11 Abs. 5d Satzung KV Hessen.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

oder die Vertreterversammlung.875 Die unparteiischen Mitglieder inklusive des Vorstandes werden von den Trägerorganisationen gemeinsam ausgewählt, vgl. § 90 Abs. 2 S. 2 SGB V. Sie üben ihr Amt gem. § 91 Abs. 3 S. 2 SGB V frei von Weisungen aus.876 Auch hier sind keine besonderen Qualifikationsanforderungen für die Ärztevertreter vorgeschrieben, sodass neben Ärzten auch andere Personen als Vertreter in Betracht kommen können.877 ee) GBA Auch für den GBA, der sich von den anderen Gremien der gemeinsamen Selbstverwaltung stark unterscheidet,878 erfolgt die Bestellung und Auswahl der ärztlichen Vertreter nach dem hier beschriebenen Muster. Die zwei Vertreter der KBV sind gem. § 91 Abs. 2 S. 1 SGB V grundsätzlich durch die KBV zu benennen, allerdings wird die Auswahl durch die Ziffer 21.2.15 der Satzung der KBV konkretisiert, wonach die Posten stets durch den Vorsitzenden sowie den stellvertretenden Vorsitzenden der KBV wahrgenommen werden. Die Vertreter des GBA sind gem. § 91 Abs. 2 S. 15 SGB V nicht an Weisungen gebunden. Auf die unparteiischen Mitglieder haben sich die Trägerorganisationen zunächst zu einigen, müssen ihren Vorschlag aber gem. § 91 Abs. 2 S. 2 SGB V dem BMG zur Prüfung vorlegen. ff) Schiedsämter Die Besetzung der Schiedsämter unterliegt ebenfalls der eigenverantwortlichen Ausgestaltung der Trägerorganisationen. § 89 Abs. 5 SGB V legt die Anzahl der zu bestellenden Vertreter für jede Seite auf vier fest, enthält sich aber weiterer Vorgaben über etwaige von den Vertretern zu erfüllende Voraussetzungen. Lediglich die Weisungsfreiheit der Vertreter ist, wie bei allen Ausschüssen, in § 89 Abs. 7 S. 2 SGB V gesetzlich angeordnet.879 Sie müssen daher nicht zwangsläufig Bedienstete oder Angestellte der Trägerorganisationen, sondern können auch von extern sein.880 Benannt werden die Vertreter bei den meisten KVen durch den Vorstand,881 in ei 875 § 37 Abs. 1 Nr. 28 KV HH; § 8 Abs. 1t Satzung KV Bremen; § 8 Abs. 4g Satzung KV Bayern; § 9 Abs. 5g Satzung KV Sachsen; § 5 Abs. 2 Nr. 7 Satzung KV Berlin. 876 S. o. 3.  Kap. B. II. 6. a). 877 Kremer / Wittmann, Vertragsärztliche Zulassungsverfahren, Rn. 26 verweist darauf, dass der Gesetzgeber dies andernfalls ausdrücklich, wie bspw. in § 12 Abs. 3 SGG vorgeschrieben hätte. 878 S. o. 3.  Kap. B. II. 7. a). 879 S. o. 3.  Kap. B. III. 2. 880 Schnapp / Düring / Düring / Schnapp, HB des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Rn. 97; Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 747. 881 § 11 Abs. 5d Satzung KV Niedersachsen; § 15 Satzung KV Sachsen; § 16 Nr. 3e Satzung KV Bayern; § 11 Abs. 4n Satzung KV Thüringen; § 11 Abs. 6a Satzung KV Westfalen-Lippe; § 8 Abs. 10g Satzung KV Rheinland-Pfalz; § 11 Abs. 5d Satzung KV Hessen.

C. Die Schlüsselfunktion von KBV und KV 

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nigen Fällen aber auch durch die Vertreterversammlung.882 In der KBV erfolgt die Benennung ebenfalls durch den Vorstand.883 Die drei unparteiischen Mitglieder des Schiedsamts wählen die Trägerorganisationen gem. § 89 Abs. 6 S. 1 SGB V grundsätzlich gemeinsam aus.884 b) Autonome Legitimation der Gremienvertreter Die ärztlichen Vertreter in den Gremien der gemeinsamen Selbstverwaltung werden entweder durch den jeweiligen Vorstand der KVen oder durch die Vertreterversammlung benannt. Dies führt dazu, dass die autonome Legitimation der entsandten Ärztevertreter auf Landesebene bei einer Auswahl durch die Vertreterversammlung auf ein zweiaktiges Wahlverfahren und bei einer Auswahl durch den Vorstand auf ein dreiaktiges Wahlverfahren zurückzuführen ist.885 Für die Auswahl der Vertreter des erweiterten Bewertungsausschusses sowie des GBA erweitert sich die Legitimationskette hingegen um einen weiteren Bestellungsakt – die Wahl der Vertreterversammlung der KBV gem. § 80 Abs. 1a S. 2 SGB V –, sodass ein vierstufiges Wahlverfahren gegeben ist.886 Damit steht fest, dass bei einer Auswahl durch die Vertreterversammlung, insbesondere bei den Gremien auf Landesebene, eine stärkere Rückbindung an die Basis der Ärzteschaft gegeben ist (zweiaktiges Wahlverfahren) als bei einer Auswahl durch den Vorstand (drei- oder vieraktiges Verfahren). Auch wenn bei einer Auswahl durch den Vorstand die Legitimation der entsandten Vertreter durch die hohe Anzahl der zwischengeschalteten Wahlakte jedenfalls eine Abschwächung erfährt,887 besteht, wenn auch über eine längere Legitimationskette, eine Rückbindung an die Basis der Ärzteschaft.888 Teilweise werden die Auswahlmodi aber auch vermischt, sodass der Vorstand seine getroffene Entscheidung durch die Vertreterversammlung genehmigen lassen muss.889 Darüber hinaus kommt der Vertreterversammlung gem. § 79 Abs. 3 Nr. 2 SGB V 882 § 37 Abs. 1 Nr. 27 KV HH; § 8 Abs. 1 s) Satzung KV Bremen; § 5 Abs. 2 Nr. 7 Satzung KV Berlin. 883 S. Ziffer 21.2.11 Satzung der KBV. 884 S. o. 3.  Kap. B. III. 2. 885 Wahlakt 1: Wahlen der Vertreterversammlung durch die Mitglieder; Wahlakt 2: Wahl des Vorstandes durch die Vertreterversammlung; Wahlakt 3: Auswahl des jeweilgen Vertreters durch den Vorstand; vgl. für die Benennung der Schiedsamtsmitglieder Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, S. 178. 886 Zur Bestellung der Vertreter des Bewertungsausschusses Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, S. 182. 887 Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, S. 184, spricht von einer Minderung der Qualität; Flüchter, Kollektivverträge und Konfliktlösung im SGB V, S. 81, 149; Butzer / Kaltenborn, MedR 2001, 333, 339; aus diesem Grund von einem „homöopathischen Grad der Verdünnung“ sprechend Schwerdtfeger, SDSRV 1991, 123, 143. 888 S. zur Wahl der Vertreter des Bewertungsausschusses BSG Urt. v. 29. 6. 1993 – 6 RKa 65/91, BSGE 73, 131, 132; BSG Urt. v. 26. 1. 1994 – 6 RKa 66/91, SozR 3–2200 § 368g Nr 2, S. 3; Clemens, MedR 1996, 432, 435; a. A. Wimmer, NZS 1999, 113, 117. 889 So in § 11 Abs. 5c Satzung KV Hessen.

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3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

ohnehin eine allgemeine Überwachungsfunktion zu, in deren Rahmen sie die Handlungen des Vorstandes auf die Einhaltung der gesetzlichen, dienstvertraglichen und satzungsrechtlichen Pflichten überprüft.890 Als weiterer die personelle Legitimation abschwächender Faktor wird auf die Weisungsfreiheit der entsandten Vertreter verwiesen.891 In Anbetracht des Modells der parlamentarischen Demokratie, in dem die in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG normierte Weisungsfreiheit der Abgeordneten nicht zur Unterbrechung des Legitimationszusammenhangs führt, sind diese Zweifel zu verneinen.892 Zusätzlich lässt sich bei allen Ausschüssen eine gewisse Nähe zwischen den Vertretern und den sie entsendenden Organisationen nicht von der Hand weisen. Dies äußert sich häufig in der Möglichkeit zur jederzeitigen grundlosen Abberufung.893 Die Weisungsfreiheit der Vertreter kann daher das Bestehen eines Legitimationszusammenhanges nicht erschüttern. Insgesamt lässt sich bei allen Gremienvertretern, vermittelt über die autonome Legitimation, eine ausreichende Rückbindung an die Basis der Ärzteschaft feststellen. c) Autonome Legitimation der unparteiischen Mitglieder Für die Auswahl der unparteiischen Mitglieder in den gemeinsamen Ausschüssen ist stets eine einvernehmliche Personalentscheidung vorgesehen, die entweder durch die Trägerorganisationen selbst oder durch die Vertreter des Ausschusses vorgenommen wird.894 Dies erhöht die Akzeptanz der ausgewählten Unparteiischen und damit einhergehend die Chance, eine einvernehmliche Entscheidung im Gremium zu erzielen.895 Entscheidungsbefugt über die Auswahl der unparteiischen Mitglieder sind diejenigen Organe, die auch die sonstigen Vertreter der Schiedsämter bzw. Ausschüsse auswählen.896 Hinsichtlich der demokratischen Legitimation der Unparteiischen ergibt sich daher nichts anderes als bei der Auswahl der „gewöhnlichen“ Vertreter: Bei einer Auswahl durch den Vorstand besteht auf Landesebene ein dreiaktiges und auf Bundesebene ein vieraktiges Wahlverfahren.897 890

NK-GesundhR / Bartels / Nebel, SGB V § 79 Rn. 9. Insbesondere Wimmer, MedR 1996, 425, 426 unter Verweis auf BSG Urt. v. 29. 9. 1993 – 6 RKa 65/91, BSGE 73, 131, 132; vgl. hierzu auch Clemens, MedR 1996, 432, 435. 892 Clemens, MedR 1996, 432, 435; Butzer / Kaltenborn, MedR 2001, 333, 340; Rompf, VSSR 2004, 281, 286. 893 Vgl. beim einfachen und erweiterten Bewertungsausschuss 3. Kap. B. II. 3. b), c), beim Zulassungsausschuss s. 3.  Kap. B. II. 4. a) und beim Beschwerdeausschuss s. 3.  Kap. B. II. 5. a). 894 Letzteres ist im Berufungsausschuss der Fall 3. Kap. B. II. 4. c) aa). 895 So Felix, Konfliktlösungsinstrumente im System der GKV, S. 198. 896 Für die Auswahl der Unparteiischen bei den Schiedsämtern vgl. § 11 Abs. 5d Satzung KV Niedersachsen; § 11 Abs. 5d Satzung KV Hessen; § 5 Abs. 2 Nr. 7 Satzung KV Berlin; für die Auswahl des unparteiischen Vorsitzenden des Beschwerdeausschusses vgl. § 5 Abs. 2 Nr. 6 Satzung KV Berlin. 897 Auf Landesebene: Wahlakt 1: Wahlen der Vertreterversammlung durch die Mitglieder; Wahlakt 2: Wahl des Vorstandes durch die Vertreterversammlung; Wahlakt 3: Auswahl des 891

C. Die Schlüsselfunktion von KBV und KV 

153

Für den Fall, dass sich die Vertragsparteien nicht einigen, greift ein gesonderter Konfliktlösungsmechanismus bspw. in Form eines Losverfahrens oder einer Entscheidung durch die Aufsichtsbehörde.898 Im Falle eines Losentscheids kann ein Legitimationszusammenhang nur zu derjenigen Vereinigung hergestellt werden, auf deren Personalvorschlag das Los entfallen ist.899 Die Legitimationskette wird jedoch dann unterbrochen, wenn eine Auswahl durch die Aufsichtsbehörde vorgenommen wird, wie bspw. gem. § 89 Abs. 5 S. 7, Abs. 6 S. 3 SGB V.900 Unabhängig hiervon werden immer wieder grundsätzliche Bedenken hinsichtlich der Beteiligung der unparteiischen Mitglieder vorgebracht, da diese die Entstehung einer autonomen Entscheidung durch die Betroffenen verhindern könnten.901 Die Funktion der unparteiischen Mitglieder als Repräsentanten der Vertrags­parteien wird teilweise angezweifelt.902 Dieser Einwand kann jedoch in Anbetracht der grundsätzlich durch die Trägerorganisationen oder durch die Vertreter des Ausschusses vorzunehmenden gemeinsamen Auswahl entkräftet werden.903 Hierdurch wird nicht nur die Akzeptanz gegenüber den Unparteiischen erhöht, sondern gleichzeitig vermieden, dass den Beteiligten eine Entscheidung „von außen“ aufgedrängt wird.904 Darüber hinaus wird angeführt, dass die Gremien mit unparteiischen Mitgliedern immer noch mehrheitlich mit demokratisch legitimierten Mitgliedern besetzt sind.905 Ähnliches wird unter Bezugnahme auf das Prinzip der doppelten Mehrheit des BVerfG vorgebracht, wonach sich die eine Entscheidung tragende Mehrheit aus der Mehrheit der ihrerseits demokratisch legitimierten Mitglieder des Gremiums zusammensetzen muss.906 Im Konfliktfall kommen Entscheidungen zwar gerade nicht durch einen Mehrheitsbeschluss der Vertreter, sondern maßgeblich durch den unparteiischen Vorsitzenden sowie die unparteiischen Mitglieder zustande. jeweilgen Vertreters durch den Vorstand; auf Bundesebene kommt als weitere Vermittlungsstufe die Wahl der Vertreterversammlung der KBV durch die Vertreterversammlung der KVen hinzu, vgl. Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, S. 176 ff.; ferner Clemens, NZS 1994, 337, 344. 898 Zur Ersetzung des Losverfahrens bei den Schiedsämtern durch eine finale Entscheidung der Aufsichtsbehörde 3. Kap. B. III. 2.; zum erweiterten Bewertungsausschuss 3. Kap. B. II. 3. c). 899 Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, S. 178 (zur Auswahl der Unparteiischen bei den Landesschiedsämtern), S. 183 f. (zu den Bundesschiedsämtern), S. 182 (zum Bewertungsausschuss); Clemens, NZS 1994, 337, 346; von fehlender demokratischer Legitimation ausgehend BSG Urt. v. 20. 3. 1996 – 6 RKa 62/94, BSGE 78, 70, 84. 900 Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, S. 178 Fn. 545. 901 Krause, VSSR 1990, 107, 117; Ebsen, VSSR 1990, 57, 65. 902 So Wimmer, NZS 1999, 113, 118; Holzner, SGb 2015, 247, 248; s. a. Clemens, NZS 1994, 337, 344, der die Zweifel i. E. verneint. 903 So Clemens, NZS 1994, 337, 344. 904 Vgl. Boerner, Steuerungsinstrumente im Recht des Gesundheitswesens, S. 1, 5; Clemens, NZS 1994, 337, 344. 905 Ausf. und m. w. N. Clemens, NZS 1994, 337, 344. 906 BVerfG Urt. v. 24. 5. 1995 – 2 BvF 1/92, BVerfGE 93, 37, 72; Engelmann, NZS 2000, 76, 81.

154

3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

Bei allen Unparteiischen handelt es sich jedoch wiederum um Mitglieder, die von ihrerseits demokratisch legitimierten Trägerorganisationen benannt werden, die insofern ihre demokratische Legitimation an die Benannten weitergeben.907

II. Zwischenergebnis Die Auswahl und Bestellung der Ärztevertreter unterliegt der freien Ausgestaltung der KVen. Sie bestimmen in ihren Satzungen die interne Organzuständigkeit, sodass entweder der Vorstand oder die Vertreterversammlung die Auswahl und Bestellung vorzunehmen haben. Dies hat abgesehen von der Anzahl der zwischengeschalteten Wahlakte keine rechtlichen Konsequenzen, denn in beiden Fällen handelt es sich um durch die Ärzteschaft legitimierte Organe.908 Die Länge der Legitimationsketten führt lediglich zu einer Abschwächung der autonomen Legitimation, nicht aber zu einer Unterbrechung des Legitimationszusammenhangs.909 Qualifikationsanforderungen an die zu entsendenden Vertreter sind nur teilweise vorhanden. Bspw. kann eine Qualifikation zum Richteramt oder Unparteilichkeit erforderlich sein. Abgesehen hiervon können in die Ausschüsse Ärzte sowie Nichtärzte bestellt werden. Als ungeschriebene Vorgabe gilt allein im Zulassungsund Beschwerdeausschuss, dass eine ausschließliche Besetzung mit Nichtärzten unzulässig ist. Auch wenn die fachliche Ausbildung nicht allein für die Qualität der Interessenwahrung ausschlaggebend ist, soll mit der ungeschriebenen Besetzungvorgabe im Zulassungsausschuss mit mindestens einem Arzt sichergestellt werden, dass ärztlicher Sachverstand eingebracht wird. Dies erscheint sinnvoll, zumal hiermit auch die Akzeptanz in der Ärzteschaft erhöht werden kann. Diese ungeschriebene Vorgabe sollte daher verbindlich werden und auf alle gemeinsamen Ausschüsse Anwendung finden. Insgesamt handelt es sich bei den Ärztevertretern, die den Rechtswahrnehmungs­ auftrag der KV und der KBV innerhalb der Kooperationsstrukturen umsetzen, um durch Wahlen der Ärzteschaft legitimierte Vertreter. Sie sind dazu ermächtigt, die ärztlichen Interessen bei den entscheidenden Aufgaben, den Vertragsverhandlungen mit den Krankenkassen sowie der Zusammenarbeit in den gemeinsamen Gremien der Selbstverwaltung zu repräsentieren. Über das Wahlverfahren wird die Interessenvertretungsfunktion der KVen und der KBV gewährleistet, da allen Mitgliedern die Möglichkeit eingeräumt wird, Einfluss auf die Besetzung der ihre Interessen repräsentierenden Organe zu nehmen.910 Die Wahlen lassen sich 907

Rixen, GesR 2005, 433, 436. So auch Clemens, MedR 1996, 432, 435. 909 Sodan, NZS 1998, 305, 309; Flüchter, Kollektivverträge und Konfliktlösung im SGB V, S. 81, 149, stuft vier Wahlgänge als gerade noch ausreichende Legitimationsdichte ein; s. a. BSG Urt. v. 9. 12. 2004 – B 6 KA 44/03 R, BSGE 94, 50, 77. 910 Vgl. hierzu Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, S. 262; ähnlich auch Flüchter, Kollektivverträge und Konfliktlösung im SGB V, S. 81; bei den Kranken­kassen 908

D. Fazit

155

allerdings nur abstrakt als geeignetes Mittel zur Einflussnahme einstufen,911 da sowohl die Realisierung von (Wahl-)Versprechen als auch die Durchsetzung gewisser Standpunkte gegenüber den Krankenkassen innerhalb einer Amtsperiode von einer Vielzahl an Faktoren abhängen.

D. Fazit: Die Ausgleichsinstrumente des Kollektivvertragssystems als Mittel zur ärztlichen Interessenwahrung Ein ausgeglichenes Machtverhältnis zwischen Ärzten und Krankenkassen ist für das Funktionieren des heutigen Vertragsarztrechts und die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung unabdingbar. Zur Erfüllung dieses Ziels muss der „strukturbedingte Interessenkonflikt“912 zwischen den beiden Parteien bestmöglich überwunden werden, weshalb der Gesetzgeber Ärzten und Krankenkassen in § 72 Abs. 1, Abs. 2 SGB V die kooperative Zusammenarbeit zur Pflicht macht und ihnen drei Kooperationsinstrumente – die Kollektivverträge, die paritätisch besetzten Ausschüsse sowie die Schiedsämter – an die Hand gibt. Diese drei Kooperationsformen sind ihrem historischen Ursprung sowie den Motiven der damaligen Akteure zufolge auf die Herbeiführug eines Interessenausgleichs zwischen Ärzten und Krankenkassen angelegt. Ziel war es ein System zu schaffen, das die Vormachtstellung der Kassen beseitigte und das von Streikund Kampfmaßnahmen überschattete Verhältnis zwischen den Parteien auf eine solide Basis stellte. Hierfür wurden Ärzte und Krankenkassen mit den gleichen Befugnissen ausgestattet und in gleicher Weise in die Verantwortung genommen. Eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe war ihnen somit möglich. Das Zusammenwirken von Ärzten und Krankenkassen in paritätischen Gremien und durch den Abschluss von Kollektivverträgen galt fortan als oberster Grundsatz des Kassenarztrechts und wurde daher in § 386 Abs. 1 S. 1 RVO fest verankert.913 Die organisatorische Struktur und das Verfahren ist bei den einzelnen Instrumenten so konzipiert, dass ein Interessenausgleich zwischen den Parteien gefördert wird: Die fehlende Vertragsabschlussfreiheit zwingt die Vertragsparteien zur Kompromissfindung. Jeder Vertragsschluss ist damit Ausdruck eines gefundenen Interessenausgleichs zwischen Krankenkassen und Ärzten. In den gemeinsamen Ausschüssen und den Schiedsämtern begünstigt die paritätische Besetzung und die ist dies aufgrund der Friedenswahlen gerade nicht der Fall, s. Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, S. 164 f. 911 Anders BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 147, das die Wahlen zur Vertreterversammlung als geeignetes Mittel zur Einflussnahme darstellt. 912 Boerner, Steuerungsinstrumente im Recht des Gesundheitswesens, Band 2: Kooperation, S. 1, 7. 913 Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 97 ff.

156

3. Kap.: Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung 

Ausstattung mit gleichen Entscheidungs- und Einflussmöglichkeiten einen gleichberechtigten Austausch und Diskurs zwischen den Vertretern. Hinsichtlich der Geeignetheit der einzelnen Instrumente als Mittel zur ärztlichen Interessenwahrung muss hingegen differenziert werden: Bevor es zu einer konkreten Entscheidung in Form eines Vertrages, Beschlusses oder Schiedsspruches kommt, ist bei allen Instrumenten die Durchführung eines Aushandlungs- und Einigungsprozesses zwischen den Parteien erforderlich. Dieser wird maßgeblich durch die Einräumung von Beurteilungs-, Ermessens- und Gestaltungsspiel­räumen gesteuert,914 die den beiderseitigen Vertretern die potentielle Möglichkeit verschaffen, ihre jeweiligen Interessenstandpunkte in die Verhandlung einzubringen. Allerdings werden die Ausgestaltungsspielräume der Vertragsparteien zunehmend durch die gesetzlichen Regelungen im Vertragsarztrecht determiniert, sodass sich der Einigungsprozess in vielen Bereichen als bloße Umsetzung der Gesetzesvorgaben darstellt. Besonders umfangreich sind die Vorgaben bei der Anpassung der Gesamtvergütung und dementsprechend gering die Möglichkeiten der Einflussnahme. Die Kooperationsinstrumente eignen sich daher aus der Perspektive der Ärzteschaft nur insofern als taugliche Mittel zur Interessenwahrung, als ihnen noch Ausgestaltungsfreiräume zur Einbringung ihrer Interessen verbleiben. Die zielgerichtete Durchsetzung von zuvor eingebrachten Interessenstand­ punkten kann nur über die Kollektivverträge sowie die vertragsähnlichen Beschlüsse des einfachen Bewertungsausschusses gewährleistet werden. Denn für ihr jeweiliges Zustandekommen ist eine Einigung zwischen den Vertragsparteien zwingende Voraussetzung. Das Ergebnis des vorangegangenen Aushandlungsprozesses schlägt sich direkt im finalen Kompromiss, dem geschlossenen Kollektivvertrag oder einem Beschluss, nieder. In den paritätischen Ausschüssen mit etabliertem Konfliktlösungsmechanismus sowie den Schiedsämtern ist die Kompromissfindung unter den Vertretern hingegen nicht zwingende Voraussetzung für das Zustandekommen eines Verhandlungsergebnisses. Soweit kein mehrheitsfähiger Kompromiss gefunden wird und es zum Patt zwischen Ärzten und Krankenkassen kommt, entscheiden die unparteiischen Mitglieder bzw. der unparteiische Vorsitzende. Die Vereinbarung trägt sodann entweder den Interessen der Ärzteschaft oder denjenigen der Krankenkassen Rechnung. Den Vertragsparteien wird der Streitgegenstand entzogen915 und damit ihre Möglichkeit, das konkrete Verhandlungsergebnis zu beeinflussen. Diese Ausgangssituation ist auf den Zweck der Schlichtungsmechanismen zurückzuführen, zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung das Entstehen eines vertragslosen Zustands zu vermeiden. Die gleichmäßige Berücksichtigung der jeweiligen Interessenstandpunkte tritt hinter diesem Zweck zurück.

914 915

S. Fn. 765. So für das Schiedsamt BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 127.

D. Fazit

157

Insgesamt gewährleisten die drei Kooperationsinstrumente aus Sicht der Ärzte­ schaft nur dann eine Durchsetzung ihrer Interessen, wenn ein mehrheitsfähiger Kompromiss in den gemeinsamen Ausschüssen oder eine einstimmige Entscheidung im Rahmen der vertraglichen Vereinbarungen gelingt. Soweit die Schlichtungsmechanismen greifen, ist eine zielgerichtete Durchsetzung ihrer Interessenstandpunkte dagegen nicht gewährleistet. Der einzelne Vertragsarzt, der seine Interessen über die kollektivvertraglichen Entscheidungen und Beschlüsse nur unzureichend abgebildet sieht, kann eine nachträgliche Überprüfung vor den Sozialgerichten anstreben. Gegen die Entscheidungen der Zulassungsgremien und Prüfgremien kann der Vertragsarzt unmittelbar Klage erheben,916 bei allen anderen Vereinbarungen und Beschlüssen ist er auf eine inzidente Vorgehensweise beschränkt. Als Hindernis erweist sich hierbei die zurückgenommene Kontrolle der Gerichte hinsichtlich der auf einem Interessenausgleich beruhenden Entscheidungen und Beschlüsse.917 Eine effektive Überprüfungsmöglichkeit bietet der nachträgliche Rechtsschutz also nicht, sodass die Einbringung und Durchsetzung der ärztlichen Interessen auf kollektiver Ebene an Bedeutung gewinnt. Hierfür tragen letztlich die entsandten KV / K BV-Vertreter die Verantwortung, die den in § 75 Abs. 2 SGB V verankerten Rechtswahrnehmungsauftrag der KV und KBV rechtstatsächlich umsetzen. Die mit den Vertragsverhandlungen oder der Ausschussarbeit betrauten Funktionsträger sind über Wahlen hinreichend an die Basis der Ärzteschaft gebunden und damit rechtlich zur Repräsentation der ärztlichen Interessen legitimiert.

916

S. o. 3.  Kap. B. II. 4. c) und 5. a). Vgl. insbesondere bei den Kollektivverträgen 3. d), bei den Beschlüssen des Bewertungsausschusses 3. Kap. B. II. 3. d) und bei den Schiedssprüchen 3. Kap. B. III. 5.

917

4. Kapitel

Die Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung abseits der Kooperationsinstrumente des Vertragsarztrechts Die vorangegangene Analyse hat gezeigt, dass sich die kollektivvertraglichen Kooperationsinstrumente aus der Perspektive der Ärzteschaft zwar grundsätzlich zur Wahrung ihrer Interessen eignen. Sie sind allerdings primär auf die Herbeiführung eines Interessenausgleichs zwischen Ärzten und Krankenkassen und damit auf eine gleichmäßige Berücksichtigung der beiderseitigen Parteiinteressen ausgerichtet. Die ärztlichen Interessenwahrungsmöglichkeiten im Rahmen des Vertragsarztrechts setzten eine Kooperation mit den Krankenkassen voraus. In den vergangenen zwanzig Jahren griffen Vertragsärzte zur Verfolgung berufspolitischer Ziele immer wieder zu Maßnahmen, denen ein gewisses Druckpotential immanent war, wie dem kollektiven Zulassungsverzicht, dem Chipkartenboykott oder Praxisschließungen.918 Ärzte scheinen also über die im System vorgesehenen Möglichkeiten der Interessenwahrung hinaus ein Bedürfnis nach anderen Mitteln zur Durchsetzung ihrer Interessen zu haben. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass ihre Einflussmöglichkeiten im Rahmen der Kooperationsinstrumente zunehmend durch gesetzgeberische Regelungen begrenzt werden und eine zielgerichtete Durchsetzung parteieigener Interessen hierüber gerade ausgeschlossen ist. Inwiefern Vertragsärzte zulässigerweise ihren Interessen auch einseitig, also ohne eine Kooperation mit den Krankenkassen, zur Geltung verhelfen können, soll in diesem Kapitel aufgezeigt werden.

A. Der Austritt des Vertragsarztes aus dem System Vertragsärzte, die die Leistungserbringung unter den Bedingungen des Vertragsarztsystems als nachteilhaft empfinden, können das System verlassen. Gem. § 95 Abs. 7 SGB V endet die Zulassung zur vertragsärztlichen Tätigkeit neben Gründen wie Wegzug, Befristung, Tod oder Alter auch durch Wirksamwerden eines erklärten Verzichts. Die Verzichtserklärung des Arztes muss gegenüber dem Zulassungsausschuss oder der Geschäftsstelle der KV abgegeben werden.919 Sie ist unwiderruflich und kann nur nach den für die Anfechtung von Willenserklä 918 919

S. hierzu jeweils Fn. 308, Fn. 309, Fn. 310. Eichenhofer / von Koppenfels-Spies / Wenner / Motz, SGB V § 95 Rn. 130.

B. Öffentliche Meinungskundgabe und Demonstration

159

rungen geltenden Grundsätzen gem. §§ 119, 120, 123 BGB beseitigt werden.920 Sie wird gem. § 28 Abs. 2 S. 1 Ärzte-ZV mit dem Ende des auf den Zugang der Verzichtserklärung folgenden Kalendervierteljahres wirksam. Mit der Einräumung eines Befristungszeitraums für das Wirksamwerden des Verzichts wollte der Gesetzgeber verhindern, dass sich ein Vertragsarzt mit sofortiger Wirkung von seinen Verpflichtungen im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung lösen kann. Außerdem soll es den KVen ermöglicht werden, rechtzeitig auf Veränderungen in der Versorgungssituation reagieren zu können.921 Der Austritt aus dem System gestattet es dem Vertragsarzt, seine individuelle Vorstellung von einer freiberuflichen Tätigkeit umzusetzen, da er hinsichtlich der gesamten Ausgestaltung seiner Leistungserbringung nicht mehr an die Vorgaben des Vertragsarztrechts gebunden ist. Der Austritt stellt insofern ein Mittel zur individuellen Interessenwahrung dar. Dies gilt allerdings nur unter der Prämisse, dass sich eine Tätigkeit als Privatarzt auch tatsächlich finanziell lohnt, denn mit dem Austritt aus dem System verzichtet der Vertragsarzt auf die Behandlung von ca. 90 % der Bevölkerung und damit auf die Abrechnung zu Lasten der GKV. Die Erfolgsaussichten einer ausschließlich privatärztlichen Tätigkeit hängen von unterschiedlichen Faktoren wie bspw. den Standortbedingungen und der Fachrichtung ab.922

B. Öffentliche Meinungskundgabe und Demonstration I. Interessenwahrung unter Berufung auf die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG Vertragsärzte können unter Berufung auf ihre Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG für ihre Interessen in der Öffentlichkeit eintreten.923 Hierzu sehen sich viele Vertragsärzte angesichts der zunehmenden gesetzlichen Beschränkungen und Verpflichtungen bei der Ausübung ihrer Tätigkeit veranlasst.924 Mit Protestaktionen, Informationsschriften, Plakaten, Interviews oder anderen öffentlichen Veranstaltungen können sie öffentlichkeitswirksam ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verleihen. Der Adressatenkreis der Maßnahmen variiert. Sie können sich an andere Vertragsärzte, Patienten, die allgemeine Öffentlichkeit, den Gesetzgeber, die Gre 920

LSG Baden-Württemberg Urt. v. 29. 12. 1997 – L 5 Ka 3737/97, juris Rz. 46 ff.; BSG Urt. 28. 9. 2016 – B 6 KA 1/16 R, SozR 4–2500 § 95 Nr 30 Rz. 15. 921 Ausschussbericht zum KVKG vom 27. 6. 1977, BT-Drs. 8/338, S. 52, 63; s. hierzu Ludes, Die Honorierung kassenärztlicher Leistungen als Instrument zur Angebotssteuerung im ambulanten Sektor, S. 58 f. 922 Vgl. hierzu die Studie über den Einfluss der Privatpatientendichte auf die Facharztdichte, Sundmacher / Ozegowski, European Journal of Health Economics, S. 1–9. 923 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 118; Wenner, GesR 2009, 505, 516. 924 So Clemens, FS 50 Jahre BSG, S. 373; Steinhilper / Schiller, MedR 2003, 661, 664; zu den Verpflichtungen vgl. bspw. die Vorgaben des TSVG s. 3. Kap. B. I. 3. b) bb).

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4. Kap.: Möglichkeiten abseits des Vertragsarztrechts

mien der gemeinsamen Selbstverwaltung, die KVen und / oder die Kranken­kassen richten.925 Die Ärzteschaft unterliegt hierbei den üblichen Grenzen der freien Meinungsäußerung, die sich insbesondere aus den Rechten Dritter, Gesetzen und anderen Normen sowie dem vertragsärztlichen Pflichtenprogramm ergeben.926 Darüber hinaus folgt analog zu den KVen aus der Einbindung der Vertragsärzte in das öffentlich-rechtliche Gesundheitssystem und der damit korrespondierenden Sicherstellungsverpflichtung ein strengerer Maßstab für die freie Meinungsäußerung der Vertragsärzte. So sind Vertragsärzte dazu verpflichtet, die Verwaltungsabläufe der KVen und der gemeinsamen Gremien nicht zu stören, um die Funktionsfähigkeit des Systems aufrecht zu erhalten.927 Sie unterliegen ferner der Pflicht, mit den anderen Institutionen vertrauensvoll zusammenzuarbeiten, denn die Gewährleistung der vertragsärztlichen Versorgung basiert auf dem Gedanken eines kooperativen und vertrauensvollen Miteinanders der Akteure.928 Demzufolge überschreiten Vertragsärzte die Grenze der Meinungsäußerungsfreiheit, wenn sie mit ihrem verbalen Protest die eigene vertragsgemäße Aufgabenerfüllung infrage stellen oder das Vertrauensverhältnis derart erschüttern, dass eine Fortdauer der Rechtsbeziehungen unzumutbar erscheint.929 Letzteres ist insbesondere bei Äußerungen gegenüber Patienten zu berücksichtigen, zumal hier deren Rechte aus Art. 2 Abs. 2 GG mit einzubeziehen sind. Mit unsachlichen Informationen können Patienten bspw. davon abgehalten werden, erforderliche Leistungen in Anspruch zu nehmen, wodurch das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient sowie das Vertrauen in das vertragsärztliche Versorgungssystem insgesamt erschüttert werden.930 Zweifel an der Erfüllung der vertragsärztlichen Pflichten können auch bei Äuße­r ungen gegenüber den Institutionen der gemeinsamen Selbstverwaltung entstehen. So führte ein Schreiben eines Vertragsarztes an den Zulassungsausschuss, in dem er das kassenärztliche System als „Krankheits-Zwangs-VersicherungsVerarztungs-System“ bezeichnete und zugleich auf seine Zulassung verzichtete, zu berechtigten Zweifeln an der Erfüllung der vertragsärztlichen Pflichten durch den Arzt. Das Schreiben ließ er auch seinen Patienten sowie anderen Ärzten zu-

925

Steinhilper / Schiller, MedR 2003, 661, 664 ff.; Ehlers / Hesral, Disziplinarrecht, Kap. 1 Rn. 129. 926 Steinhilper / Schiller, MedR 2003, 661, 664 f.; Ehlers / Hesral, Disziplinarrecht, Kap. 1 Rn. 133; zu Schmähkritik und Formalbeleidigungen vgl. BVerfG Beschl. v. 19. 12. 1990  – 1 BvR 389/90, NJW 1991, 1529; BVerfG Beschl. v. 24. 9. 1993 – 1 BvR 1491/89, NJW 1994, 2413; ausf. Besprechung der Fälle bei Clemens, FS 50 Jahre BSG, S. 373, 376 ff. 927 So Steinhilper / Schiller, MedR 2003, 661, 665. 928 Ausdrücklich BSG Beschl. v. 25. 9. 1997 – 6 BKa 54/96, juris Rz. 5; Ehlers / Hesral, Disziplinarrecht, Kap. 1 Rn. 134. 929 S. bspw. BSG Urt. v. 8. 7. 1981 – 6 RKa 17/80, SozSich 1982, 87; Ehlers / Hesral, Disziplinarrecht, Kap. 1 Rn. 135. 930 Ehlers / Hesral, Disziplinarrecht, Kap. 1 Rn. 135; Steinhilper / Schiller, MedR 2003, 661, 665 f.

B. Öffentliche Meinungskundgabe und Demonstration

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kommen.931 Ferner können Äußerungen, die zwar grundsätzlich unter den Schutz­ bereich von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG zu fassen sind, im Rahmen einer Gesamtbewertung Sanktionsmaßnahmen rechtfertigen. Dies ist dann der Fall, wenn zu erkennen ist, dass der Arzt nicht gewillt ist, seine vertragsärztlichen Pflichten zu erfüllen.932 Mit öffentlichkeitswirksamen Äußerungen können sich Vertragsärzte in den üblichen Grenzen der Meinungsfreiheit „verbal entladen“ 933 und einem variablen Adressatenkreis ihre Interessenstandpunkte kundtun. Eine gezielte Durchsetzung ihrer Interessen ist über die öffentliche Meinungskundgabe hingegen nicht möglich, da sich der jeweilige Adressatenkreis nicht zwangsläufig zu Anpassungsreaktionen veranlasst sehen muss.

II. Interessenwahrung unter Berufung auf die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG Vertragsärzten steht grundsätzlich der in Art. 8 Abs. 1 GG verbürgte Schutz zu, an einer Versammlung teilzunehmen, sie zu leiten oder sie zu veranstalten.934 Mit der Organisation und Teilnahme an einer Versammlung können Vertragsärzte ihrem Unmut über Missstände innerhalb des Systems in zulässiger Weise Nachdruck verleihen. Je nach Größe der Veranstaltung, Art und Inhalt sowie Auswahl des Veranstaltungsortes kann eine Demonstration besonders öffentlichkeitswirksam ausgestaltet werden.935 Weitaus mehr Aufmerksamkeit kann ein Vertragsarzt mit der Schließung der eigenen Praxis zum Zwecke der Teilnahme an einer Kundgebung erreichen. Denn der eigene Patientenstamm wird in diesen Fällen an eingerichtete Notfallpraxen verwiesen,936 wodurch die Unzufriedenheit der Ärzteschaft nicht nur verbal, sondern auch faktisch zum Vorschein tritt. Diesen verstärkenden Effekt kann eine Kundgebung, die außerhalb der Sprechstundenzeiten stattfindet, nicht entfalten. Ob ein derartiges Verhalten allerdings unter den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG fällt, ist zu bezweifeln. Der sachliche Schutzbereich der Versammlungsfreiheit umfasst nur die Zusammenkunft zur gemeinschaftlichen Erörterung oder Kundgabe, die auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet ist, 931

BSG Urt. v. 8. 7. 1981 – 6 RKa 17/80, SozSich 1982, 87. S. bspw. BSG Beschl. v. 5. 11. 2003 – B 6 KA 54/03 B, juris Rz. 18; kritisch hierzu Ehlers / Hesral, Disziplinarrecht, Kap. 1 Rn. 136; Clemens, FS 50 Jahre BSG, S. 373, 380 ff., 387. 933 Clemens, FS 50 Jahre BSG, S. 373, 401. 934 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 118 f.; Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke / Müller-Franken, GG Art. 8 Rn. 17; s. a. HK-AKM / U hlenbruck, Ärztestreik Nr. 460 Rn. 4. 935 BVerfG Beschl. v. 14. 5. 1985 – 1 BvR 233/81, BVerfGE 69, 315, 343; Hömig / Wolff / Wolff, GG Art. 8 Rn. 2. 936 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 118, schreibt die Einrichtung eines Notdienstes als verpflichtend vor. 932

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4. Kap.: Möglichkeiten abseits des Vertragsarztrechts

und nicht die zwangsweise oder selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungen.937 Nutzt ein Arzt die Teilnahme an einer Kundgebung gezielt als Vorwand, um seine Praxis zu schließen, so kann sich dahinter die Intention verbergen, durch eine Beeinträchtigung der ärztlichen Versorgung Druck auf die Krankenkassen oder andere Akteure des Gesundheitssystems auszuüben. In diesem Fall wäre die Teilnahme an der Versammlung nur Mittel zur Durchsetzung eigener Forderungen und daher nicht unter den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG zu fassen. Die Schwierigkeit in der Praxis wird es sein, einem Arzt diese Umgehungsabsicht nachzuweisen. Anhaltspunkte könnten sich bspw. aus der Häufigkeit derartiger Aktionen ergeben.938 Auch das BSG verneint in diesen Fällen eine Eröffnung des Schutzbereiches: Soweit das Bestreben im Vordergrund stehe, durch eine Beeinträchtigung der Versorgung der Versicherten Druck auf die Krankenkassen auszuüben, gestalte sich die Praxisschließung nicht mehr als „unvermeidliche Folge der Demonstrationsabsicht“, sondern vielmehr als ein „unzulässiger Streik“.939 Das BSG will hiermit eine Umgehung des von ihm aufgestellten Streikverbots verhindern. Mit der Organisation und Teilnahme an einer Protestversammlung und -kundgebung wird Vertragsärzten grundsätzlich eine weitere Möglichkeit eröffnet, öffentlichkeitswirksam Einfluss auf die KVen, die Krankenkassen, den Gesetzgeber sowie die Öffentlichkeit im Allgemeinen zu nehmen. Die Einflussnahme ist darauf beschränkt, dass die Demonstrationsadressaten über gewisse, die vertragsärzt­ liche Tätigkeit betreffende Missstände oder eine allgemeine Unzufriedenheit mit dem System in Kenntnis gesetzt und für die Stimmung in der Ärzteschaft sensibi­ lisiert werden. Öffentliche Kundgebungen eignen sich hingegen nicht zur gezielten Durchsetzung der eigenen Interessen und Forderungen. Ob sich die jeweiligen Adressaten zu Anpassungsreaktionen veranlasst sehen und wie sich dies im Einzelfall äußern kann, ist nicht vorhersehbar; ein gewünschtes Ergebnis kann nicht mittels einer Kundgebung erzwungen werden.

937

St. Rspr. BVerfGE Beschl. v. 24. 10. 2001 – 1 BvR 1190/90, NJW 2002, 1031; s. a. BeckOKGG / Schneider, Art.  8 Rn.  9; Jarass / Pieroth / Jarass, GG Art. 8 Rn. 3 ff.; Hömig / Wolff / Wolff, GG Art. 8 Rn. 2; etwas weiter im Hinblick auf die materiellen Anforderungen an den verfolgten Zweck auslegend Dreier / Schulze-Fielitz, GG Art. 8 Rn. 15 und Maunz / Dürig / Depenhauer, GG Art. 8 Rn. 48; kritisch zum Ausschluss einer zwangsweisen Durchsetzung von Forderungen Kniesel / Poscher, NJW 2004, 422, 423. 938 So BSG Urt v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 118. 939 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 119.

B. Öffentliche Meinungskundgabe und Demonstration

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III. Exkurs: Ärztliche Interessenwahrung durch die Öffentlichkeitsarbeit der KVen Die öffentliche Meinung kann nicht nur durch die Vertragsärzte selbst beeinflusst werden, sondern auch durch eine geschickte Öffentlichkeitsarbeit der KVen. Diese erfüllen hiermit ihren Rechtswahrnehmungsauftrag aus § 75 Abs. 2 S. 1 SGB V.940 Die Öffentlichkeitsarbeit der KVen ist vielseitig und erfolgt bspw. durch Stellungnahmen, Presseerklärungen, Interviews, Faltblätter oder andere Informationsschriften.941 Zielgruppen ihrer Maßnahmen sind entgegen dem Wortlaut von § 75 Abs. 2 S. 1 SGB V nicht nur die Krankenkassen, sondern auch der Gesetzgeber, Patienten, Vertragsärzte sowie die allgemeine Öffentlichkeit.942 Die KVen und die KBV sind als Körperschaften des öffentlichen Rechts gem. § 77 Abs. 5 SGB V keine Grundrechtsträger und können sich dementsprechend nicht auf die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG berufen.943 Ihnen steht nach einhelliger Meinung kein allgemeinpolitisches, sondern ein gesundheitspolitisches Mandat zu, weshalb sie zu sozial- und gesellschaftspolitischen Fragen nur insoweit Stellung nehmen können, wie diese einen erkennbaren Bezug zum Vertragsarztwesen aufweisen.944 So sind die KVen bspw. dazu berechtigt, Aktionen durchzuführen, die auf den Erhalt des sozialen Status des Vertragsarztes im System gerichtet sind.945 Alle Informationen müssen allerdings objektiv und inhaltlich richtig sein und dürfen keinen diffamierenden oder gar polemischen Gehalt bzgl. einzelner Personen oder Gruppierungen aufweisen.946 Dies ergibt sich insbesondere aus dem Prinzip der Sachlichkeit, an das die KVen wie alle öffentlich-rechtlichen Körperschaften mit Zwangsmitgliedschaft gebunden sind.947 Weitere Grenzen für die Ausgestaltung der Öffentlichkeitsarbeit ergeben sich aus der Sicherstellungsund Gewährleistungsverpflichtung der KVen nach § 75 Abs. 1 SGB V. Dies lässt sich exemplarisch an einer Boykottaktion der berlinerischen KV aus dem Jahre 940

Steinhilper / Schiller, MedR 2003, 661, 662; jurisPK-SGB V / Hesral, § 75 Rn. 191. Steinhilper / Schiller, MedR 2003, 661, 662; Sodan / Ziermann, Krankenversicherungsrecht, § 20 Rn. 60. 942 S. § 73 Abs. 8 SGB V und BVerwG Beschl. v. 2. 7. 1979 – 1 C 9/75, NJW 1980, 656, 659; kritisch im Hinblick auf die Patienten LSG BW Urt. v. 21. 8. 1995, MedR 1995, 505; Stein­ hilper / Schiller, MedR 2003, 661, 662; Schnapp / Wigge / Schiller, HB des Vertragsarztrechts, § 5 A. Rn. 181 f.; Clemens, FS 50 Jahre BSG, S. 373, 396. 943 S. nur BVerfG Beschl. v. 8. 12. 1982 – 2 BvL 12/79, BVerfGE 62, 354, 369; BVerfG Nichtannahmebeschl. 27. 9. 2000 – 2 BvR 687/00, juris Rz. 2; m. w. N. Clemens, FS 50 Jahre BSG, S. 373, 393 f. 944 Vgl. Fn. 192; vgl. bspw. den Protest gegen den Bau eines Atomkraftwerkes LSG NRW Urt. v. 20. 12. 1978 – L 1 KA 27/78, SozVers 1979, 272 und eine Plakataktion im Wartezimmer LSG BW Urt. v. 21. 8. 1995, MedR 1995, 505, 508; Schnapp / Wigge / Schiller, HB des Vertragsarztrechts, § 5 A. Rn. 183; Steinhilper / Schiller, MedR 2003, 661, 662, 667. 945 Schnapp / Wigge / Schiller, HB des Vertragsarztrechts, § 5 A. Rn. 183. 946 Steinhilper / Schiller, MedR 2003, 661; Schnapp / Wigge / Schiller, HB des Vertragsarztrechts, § 5 A. Rn. 183. 947 Vgl. BVerfG Beschl. v. 19. 12. 1962 – 1 BvR 541/57, BVerfGE 15, 238, 241. 941

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4. Kap.: Möglichkeiten abseits des Vertragsarztrechts

2001 zeigen. Diese rief ihre Mitglieder dazu auf, zum Zwecke der Teilnahme an einer Protestversammlung vorübergehend ihre Praxen zu schließen. Das LSG Berlin bewertete den Aufruf als unrechtmäßig, da die KV hiermit die Erfüllung des von ihr zu tragenden Sicherstellungsauftrages gefährdet und zugleich ihre Kooperationspflicht aus § 72 Abs. 1 SGB V gegenüber den anderen Vertragspartnern verletzt habe.948 Grundsätzlich ist den KVen nur die Wahrnehmung der ärztlichen Interessen im Rahmen der von ihnen zu tragenden Sicherstellungsverantwortung gestattet. In diese Hauptaufgabe ist ihre Befugnis zur Rechtswahrnehmung aus § 75 Abs. 2 SGB V derart eingebunden, dass bei einer Kollision zwischen Interessenwahrnehmungspflicht und Sicherstellungsverantwortung immer letzterer der Vorrang zu gewähren ist.949 Diese strikte Verpflichtung zur Einhaltung des gesetzlichen Aufgabenkreises folgt nicht nur aus dem Sicherstellungsauftrag selbst, sondern auch aus ihrer öffentlich-rechtlichen Organisationsform sowie der Zwangsmitgliedschaft der Vertragsärzte.950 Auch wenn die Öffentlichkeitsarbeit der KVen inhaltlichen Grenzen unterliegt, stellt sie gleichwohl ein geeignetes Mittel dar, um die ärztlichen Interessen gegenüber einer breiten Zielgruppe kundzutun und der Unzufriedenheit der Ärzteschaft Ausdruck zu verleihen.951 Die KVen können, solange der Informationsgehalt sachlich und informativ vermittelt wird, auf Konflikte aufmerksam machen, die den gesetzlichen Status der Vertragsärzte beeinträchtigen. Unzulässig sind allein streikähnliche Maßnahmen, mit denen gezielt Druck auf die Krankenkassen ausgeübt werden soll, um Zugeständnisse zu erzwingen.952 Denn soweit es sich um die Lösung von Konflikten handelt, die ausschließlich die beiden Vertragspartner – die KVen und die Krankenkassen – betreffen, sind hierfür die kooperativen Strukturen des Vertragsarztsystems vorgesehen.953

C. Streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ zur ärztlichen Interessenwahrung Die in diesem Kapitel bisher untersuchten Maßnahmen zur Wahrung der ärztlichen Interessen ermöglichen der Ärzteschaft zwar eine Einflussnahme, stellen indes keine Mittel zur zielgerichteten Interessendurchsetzung dar. Dies wäre nur 948

LSG Berlin Urt. v. 5. 12. 2001 – L 7 KA 17/99, NZS 2002, 386, 387 f.; s. a. Clemens, FS 50 Jahre BSG, S. 373, 397; ähnlich beim Chipkartenboykott, Auktor, MedR 2003, 503, 506. 949 Clemens, FS 50 Jahre BSG, S. 373, 395 f. 950 LSG Berlin Urt. v. 5. 12. 2001 – L 7 KA 17/99, NZS 2002, 386, 387; LSG NRW Urt. v. 20. 12. 1978 – L 1 KA 27/78, SozVers 1979, 272, 273; Clemens, FS 50 Jahre BSG, S. 373, 394 f.; jurisPK-SGB  V / Hesral, § 75 Rn. 187. 951 Clemens, FS 50 Jahre BSG, S. 373, 401. 952 So wie der Aufruf zur Praxisschließung (LSG Berlin Urt. v. 5. 12. 2001 – L 7 KA 17/99, NZS 2002, 38) oder die Chipkartenboykotte (BSG Urt. v. 27. 6. 2001 – B 6 KA 7/00 R, BSGE 88, 193; Aufruf der KZV Bayern am 7. 2. 2003, Auktor, MedR 2003, 503). 953 Vgl. Clemens, FS 50 Jahre BSG, S. 373, 399.

C. Streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ 

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mit Maßnahmen möglich, denen vergleichbar mit einem Arbeitnehmerstreik ein gewisses Druckpotential innewohnt. In diesem Fall könnten Zugeständnisse erzwungen und parteieigene Interessenstandpunkte einseitig durchgesetzt werden. Ob Vertragsärzte auch streikähnliche Maßnahmen zur Durchsetzung ihrer Interessen ergreifen dürfen, wird im Folgenden untersucht.

I. Begriffliche Einordnung Auch wenn die Entstehungsgeschichte des „Ärztestreiks“ und diejenige des Vertragsarztsystems eng miteinander verbunden sind, erscheint es befremdlich, im Zusammenhang mit freiberuflichen Vertragsärzten von streikähnlichen „Kampfmaßnahmen“ oder „Streik“ zu sprechen, weshalb zunächst eine begriffliche Einordnung erfolgen muss. 1. Die Definition des „Ärztestreiks“ Der Begriff des „Ärztestreiks“ ist kein „abstrakt bestimmbar und fest zu umreißender, sondern ein komplexer und schillernder Begriff“.954 Er wird undifferenziert weit verstanden und umfasst unterschiedliche Ausführungsmodalitäten des ärztlichen Protests, wie den Boykott der Kassen, den „Scheine-Streik“, bei dem die Ärzte die Annahme der für die Behandlung erforderlichen Krankenscheine verweigern,955 „heftige Propaganda gegen die Krankenkassen,“956 Protest und Demonstration oder politischen Streik.957 Als typische Ausführungsmodalität des „Ärztestreiks“ etablierte sich im frühen 20. Jahrhundert die Vorgehensweise des Leipziger Verbandes.958 Diese sah neben der Aufkündigung der Arztverträge, der Ablehnung der ärztlichen Behandlungen sowie der finanziellen Unterstützung der betroffenen Ärzte eine öffentliche Warnung vor nachteiligen Vertragsabschlüssen mit Krankenkassen auf den Ca-

954

Uhlenbruck, RdA 1972, 327, 329. Burkardt, Ärztliche Standespflichten und Streikrecht der Kassenärzte und der in Krankenhäusern privatrechtlich angestellten Ärzte, S. 5. 956 Albrecht, ZfS 1975, 139, 140; Heinemann / Koch, Kassenarztrecht, S. 12; Lehmann, Ärzte und Krankenkassen, S. 8; Aye, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 17. 957 Aye, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 16 f.; HK-AKM / Uhlenbruck, Ärztestreik Nr. 460 Rn. 3; ders., RdA 1972, 327, 329; Laufs / Kern / Rehborn / Kern / Rehborn, HB des Arztrechts, § 18 Rn. 3. 958 Der erste vom Leipziger Verband unterstütze Kampf fand am 3. 1. 1903 in Gera statt. Es folgten größere Streiks in Leipzig und Köln im Jahre 1904, s. hierzu Herold-Schmidt, Geschichte der deutschen Ärzteschaft, S. 43, 92 f.; ausf. zum Ablauf der Kämpfe in Köln Nigge­ mann, Strukturwandlung in den rechtlichen Beziehungen zwischen Aerzten und Krankenkassen? S. 19. 955

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4. Kap.: Möglichkeiten abseits des Vertragsarztrechts

vete-Tafeln vor.959 Hierdurch trat eine sogenannte „Sperre“ der offenen Arztstellen bei Krankenkassen ein, da die Warnungen in den meisten Fällen die Ablehnung der Stellen zur Folge hatten.960 Diese Kombination aus Herbeiführung eines vertragslosen Zustands und der Aufrechterhaltung der Vertragslosigkeit mittels der Warnungen auf Cavete-Tafeln ermöglichte der Ärzteschaft, gezielt Druck auf die Krankenkassen auszuüben, da diese zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen gegenüber den Mitgliedern auf die Mithilfe der Ärzte angewiesen waren.961 Schließlich werden auch kollektive „Kampfmaßnahmen“ von angestellten Ärzten als „Ärztestreik“ bezeichnet.962 Als hauptverantwortliche Gewerkschaft organsierte der Marburger Bund963 insbesondere in den 1970er Jahren Kampfmaßnahmen wie den „Bleistiftstreik“964, die „Aktion intensive Behandlung“965 oder kollektive Kündigungen.966 Im April und Mai 2019 organsierte der Marburger Bund großflächige Warnstreiks an kommunalen Krankenhäusern zur Druckausübung auf die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände, die letztlich in einem neuen Tarifabschluss mündeten.967 Die Variationsbreite an Ausführungsmodalitäten des ärztlichen Protests hat dazu geführt, dass sich eine sehr weite Definition etabliert hat, wonach „Ärztestreik“ als „eine durch die geschichtliche Entwicklung, die Besonderheiten des Arzttums und das Spezifische ärztlicher Heiltätigkeit geprägte Form kollektiver ärztlicher Repression anzusehen [ist], die je nach Art der Maßnahme, Ziel­setzung und Adressaten im Einzelfall kollektive Meinungsäußerung freiberuflich Tätiger, politische Demonstration, Boykott der Krankenkassen, Arbeitskampf im eigentlichen Sinn oder gar politischer Kampfstreik sein kann […].“968 959

S. Fn. 31. Plaut, Der Gewerkschaftskampf der deutschen Ärzte, S. 136 ff., 171. 961 Huerkamp, Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert, S. 294 f.; Puppe, Die Bestrebungen der deutschen Aerzte zu gemeinsamer Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen, S. 100 ff.; Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 33. 962 So bspw. Reuß, RdA 1972, 321; Uhlenbruck, RdA 1972, 327, 329; HK-AKM / Uhlenbruck, Ärztestreik Nr. 460 Rn. 3; Zacher, ZSR 1966, 129, 137, 163, spricht differenzierter von einem „Streik der Arbeitnehmerärzte“; Laufs / Kern / Kern, HB des Arztrechts, § 16 Rn. 2; anders jetzt Laufs / Kern / Rehborn / Kern / Rehborn, HB des Arztrechts, § 18 Rn. 4. 963 Verband der angestellten und beamteten Ärztinnen und Ärzte in Deutschland e. V. 964 Hier besteht die Streiktätigkeit in der Ablehnung jeglicher Schreibarbeit und büromäßiger Nebentätigkeit, HK-AKM / Uhlenbruck, Ärztestreik Nr. 460 Rn. 5. 965 Hierbei handelt es sich um einen „Bummelstreik“. Die Patienten wurden besonders intensiv untersucht und behandelt, HK-AKM / Uhlenbruck, Ärztestreik Nr. 460 Rn. 4. 966 Vgl. Uhlenbruck, RdA 1972, 327; HK-AKM / Uhlenbruck, Ärztestreik Nr. 460 Rn. 2, 4 ff.; Reuß, RdA 1972, 321, 322. 967 Vgl. Homepage des Marburger Bundes, unter Home / T hemen / Tarifpolitik / VKA Tarifrunde 2019: https://www.marburger-bund.de/bundesverband/tarifpolitik/vka-tarifrunde-2019 (zuletzt abgerufen am 30. 9. 2020). 968 So Uhlenbruck, RdA 1972, 327, 329 f.; Laufs / Kern / Rehborn / Kern / Rehborn, HB des Arztrechts, § 18 Rn. 2 weisen auf den Wandel des Begriffsverständnisses aufgrund der Entscheidung des BSG v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R hin. 960

C. Streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ 

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2. Anpassung der Definition Die weite Definition des „Ärztestreiks“ gewährleistet ein möglichst getreues Abbild nahezu aller ärztlichen Protestmaßnahmen, deren Vorbilder ihren Ursprung im vergangenen Jahrhundert haben. Sie eignet sich indes weniger für eine Auseinandersetzung mit „Kampfmaßnahmen“ freiberuflicher Ärzte aus jüngerer Zeit, wie dem kollektiven Verzicht auf die Zulassung, dem Chipkartenboykott oder Praxisschließungen. Denn seit der Einstellung der Kampfaktivitäten durch den Hartmannbund besteht eine nahezu „streikfreie“ Zeit von über 50 Jahren,969 sodass ein enger Bezug zur gewerkschaftsähnlichen Tradition des Hartmannbundes sowie zu den historischen Ursprüngen des „Ärztestreiks“ mittlerweile nicht mehr besteht. Heute kann folglich nicht mehr von einer durch die geschichtliche Entwicklung geprägten Form kollektiver ärztlicher Repression gesprochen werden.970 Darüber hinaus sollten Streikaktionen angestellter Ärzte als Arbeitskampf im herkömmlichen Sinne deutlich von denjenigen freiberuflicher Ärzte unterschieden werden, indem sie aus der Definition des „Ärztestreiks“ herausgenommen und als „Streik angestellter Ärzte“ begrifflich gekennzeichnet werden.971 Unter Berücksichtigung dieser Kritikpunkte ist die Definition dahingehend anzupassen, dass „Ärztestreik“ als eine durch die Besonderheiten des Vertragsarztrechts und die spezifische ärztliche Heiltätigkeit geprägte Form kollektiver Druckausübung der Vertragsärzte anzusehen ist, die je nach Art der Maßnahme, Zielsetzung und Adressaten im Einzelfall differieren kann und über eine bloße öffentliche Meinungskundgabe i. S. d. Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG oder Teilnahme an einer Kundgebung i. S. d. Art. 8 Abs. 1 GG hinausgeht. Dieser Definitionsvorschlag verzichtet bewusst auf eine Aufzählung möglicher Ausprägungsformen des ärztlichen Protests und ist damit wesentlich weiter gefasst. Hiermit wird angesichts der jüngsten streikähnlichen Maßnahmen eine gewisse Flexibilität zur vollständigen Erfassung derselben geschaffen. Gleichzeitig beschränkt sich die Definition auf Maßnahmen freiberuflicher Vertragsärzte, deren Berufsbedingungen maßgeblich durch die Eingliederung in das Vertragsarztsystem bestimmt werden. Zuletzt werden die Möglichkeiten von Vertragsärzten, ihre Interessen mittels öffentlicher Meinungskundgabe oder durch die Teilnahme an einer Demonstration zu verteidigen, bewusst ausgeklammert, da hierüber in Abgrenzung zu streikähnlichen Maßnahmen gerade keine zielgerichtete Durchsetzung von Interessen möglich ist.972 Der folgenden Untersuchung wird dieses abgeänderte Begriffsverständnis zugrunde gelegt. Soweit von „(Ärzte)streik“ gesprochen wird, ist ausschließlich ein Vorgehen der Vertragsärzte gemeint.

969 Seit den Streikaktionen des Hartmannbundes ist es zu keiner vergleichbaren Kontinuität des ärztlichen Protests gekommen. 970 Zur Definition vgl. 4. Kap. C. I. 1. 971 So macht es bspw. Zacher, ZSR 1966, 129, 137, 141. 972 S. ausf. 4. Kap. B. I., II.

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4. Kap.: Möglichkeiten abseits des Vertragsarztrechts

3. Kritik Auch mit Hilfe der angepassten Definition kann nicht darüber hinweggeholfen werden, dass die Bezeichnung von Kampfmaßnahmen freiberuflicher Ärzte als „Ärztestreik“ bzw. „Streik“ unpassend ist. Dies liegt bereits darin begründet, dass Streik im herkömmlichen Sinne als gemeinsame, planmäßig durchgeführte Arbeitseinstellung einer Mehrzahl von Arbeitnehmern zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels hinsichtlich kollektiv regelbarer Arbeitsbedingungen definiert wird.973 Streik stellt ein typisches Kampfmittel der Arbeitnehmerschaft dar.974 Darüber hinaus weisen ärztliche „Kampfmaßnahmen“, abgesehen von der Verweigerung der persönlichen Arbeitskraft, nicht die für einen Arbeitnehmerstreik typischen Merkmale auf:975 Der „Ärztestreik“ trifft kein mit einem Arbeitgeber vergleichbares Gegenüber, da er sich gegen einen variierenden Adressatenkreis richtet – stets betroffen sind allerdings die Patienten.976 Die anvisierten „Kampfziele“ stellen keine tariflich regelbaren Ziele dar, sondern deuten vielmehr auf eine gewisse Nähe zum politischen Streik hin, da primär auf die staatlichen Akteure Druck ausgeübt werden soll.977 Auch fehlt es an der für einen Arbeitnehmerstreik typischen Kampfparität.978 Darüber hinaus scheidet Streik im herkömmlichen Sinne als Mittel zur Durchsetzung besserer Vergütungsbedingungen innerhalb der kollektivvertraglichen Strukturen bereits deshalb aus, weil die Festsetzung der Gesamtvergütung anderen Mechanismen folgt als die Vereinbarung durch Tarif­ verhandlungen.979 In Anbetracht dieser Kritik liegt der Schluss nahe, eine sinngemäße Bezeichnung ärztlicher Kampfmaßnahmen als „Streik“ zu vermeiden und stattdessen auf alternative Termini zurückzugreifen. In jüngeren Abhandlungen finden sich Bezeichnungen wie „kollektiver Protest“, „kollektive (Kampf)maßnahmen“,980

973 S. zur Definition des Streiks Rüthers, Streik und Verfassung, S. 11 ff. unter Bezugnahme auf andere Ansätze; Hueck / Nipperdey / Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, S. 610; Reuß, RdA 1972, 321, 322. 974 So Zacher, ZSR 1966, 129, 134 f.; Neuhaus, Arbeitskämpfe, Ärztestreiks, Sozialreformer, S. 310 f.; ebenfalls kritisch Plaut, Der Gewerkschaftskampf der deutschen Ärzte, S. 139 ff.; Uhlenbruck, RdA 1972, 327, 329; Sodan / Schaks, VSSR 2014, 89, 99. 975 Reuß, DVBl 1968, 57, 59, Fn. 14. 976 Zacher, ZSR 1966, 129, 135; Uhlenbruck, RdA 1972, 327, 329; Burkardt, Ärztliche Standespflichten und Streikrecht der Kassenärzte und der in Krankenhäusern privatrechtlich angestellten Ärzte, S. 26. 977 Zacher, ZSR 1966, 129, 136; zum politischen Streik vgl. Rüthers, Streik und Verfassung, S. 79 ff.; Uhlenbruck, RdA 1972, 327, 329. 978 Zur Kampfparität Mayer-Maly, RdA 1968, 432; Uhlenbruck, RdA 1972, 327, 329; s. a. BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 142; zur fehlenden Vergleichbarkeit s. 4. Kap. C. III. 1. a), b). 979 Hierzu auch 4. Kap. C. IV; s. nur Isensee, VSSR 1995, 321, 331 f. 980 S. bspw. Sodan / Schaks, VSSR 2014, 89, 109, 115; ähnlich Starck, DOK 1964, 613 und Wimmer, Sind „streikende“ Kassenärzte Rechtsbrecher? FAZ v. 22. 1. 2003, Nr. 18, S. 8.

C. Streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ 

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„streikähnliche Maßnahmen“ oder „Auseinandersetzungen“981 und schließlich wiederum „Streik“.982 Es macht keinen nennenswerten Unterschied, ob ärztliche Protestmaßnahmen als „Ärztestreik“ oder mit alternativen Umschreibungen bezeichnet werden, da es in beiden Fällen zur näheren Konkretisierung weiterer Ausführungen hinsichtlich der konkreten Art, der Zielsetzung sowie der Adressaten der Maßnahme bedarf. Da die alternativen Termini nicht zur Präzision beitragen, muss die Bezeichnung „Streik“ oder „Ärztestreik“ auch nicht zwangsläufig vermieden werden, zumal sie gegenüber anderen Umschreibungen einen nicht zu unterschätzenden Vorteil birgt: Der Begriff des „Streiks“ wird häufig in einem übertragenen Wortsinn, d. h. außerhalb der Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, als Druckmittel oder als Ausdruck eines allgemeinen Protests gegen bestimmte geänderte Umweltund Gesellschaftsbedingungen auf andere (Kampf)situationen übertragen.983 Hiermit wird implizit ein Vorgang der Druckausübung sowie die Verweigerung eines irgendwie geschuldeten oder auch nur sozialüblichen Verhaltens ausgedrückt.984 Die sinngemäße Bezeichnung der variierenden Ausübungsformen des ärztlichen Protests als „(Ärzte)streik“ bringt daher deutlich die Intention der Ärzteschaft zum Ausdruck, zur Verbesserung ihrer Erwerbsbedingungen innerhalb des Vertragsarztsystems in irgendeiner Form Druck auf den Gesetzgeber, die KVen oder die Krankenkassen ausüben zu wollen. Da in jedem Fall erweiternde Ausführungen zur konkreten Beschreibung der vertragsärztlichen Protestmaßnahmen erforderlich sind, kann sowohl auf alternative Termini wie (streikähnliche) „Kampfmaßnahmen“ als auch auf die sinngemäße Bezeichnung als „(Ärzte)streik“ zurückgegriffen werden. Durch die Verwendung von Anführungszeichen soll allerdings die fehlende Vergleichbarkeit zum Streik im klassischen Sinne kenntlich gemacht werden.985

981

So bspw. das BSG. Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 119, 142; s. a. Laufs / Kern / Rehborn / Kern / Rehborn, HB des Arztrechts, § 18 Rn. 4; Lauber, MedR 2017, 845. 982 Hänsle, Streik und Daseinsvorsorge, S. 140 ff. 983 S. bspw. aktuell den Klima- oder Bildungsstreik sowie den Hungerstreik, Steuerstreik, Sitzstreik, weitere Beispiele bei Hänsle, Streik und Daseinsvorsorge, S. 167; Staatslexikon / Nell-Breuning, Band 5, Spalte 191; Staatslexikon / Wallraff / Brecher, Band 7, Spalte 798; Reuß, RdA 1972, 321. 984 Hänsle, Streik und Daseinsvorsorge, S. 167. 985 So handhabt es auch die aktuelle Rechtsprechung, BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 115, 117, 118 („Kampfmaßnahmen“; „Warnstreik“; streikähnliche „Kampfmaßnahmen“); entsprechend jurisPK-SGB V / Hesral, § 72 Rn. 83.

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4. Kap.: Möglichkeiten abseits des Vertragsarztrechts

II. Fachgesetzliche Verankerung streikähnlicher „Kampfmaßnahmen“? Zunächst soll untersucht werden, welche Erkenntnisse auf fachgesetzlicher Ebene für oder gegen die Zulässigkeit streikähnlicher Maßnahmen der Vertragsärzte gewonnen werden können. 1. §§ 24 Abs. 2, 32 Abs. 1 S. 2 Ärzte-ZV Vertragsärzte könnten zur Durchsetzung ihrer Interessen vorübergehend ihre Praxen schließen, um hierdurch auf die Krankenkassen, die KVen sowie den Gesetzgeber Druck auszuüben. Dem steht allerdings das Vertragsarztrecht eindeutig entgegen. Grundsätzlich sind alle Vertragsärzte kraft ihrer Zulassung gem. § 95 Abs. 3 S. 1 SGB V zur vertragsärztlichen Versorgung nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet. Sie unterliegen einer Behandlungspflicht, nach der sie gegenüber gesetzlich Versicherten Sachleistungen erbringen müssen, ohne hierfür eine Zuzahlung verlangen zu dürfen.986 Dies gilt auch für Leistungen, die nicht kostendeckend erbracht werden können und daher als unrentabel gelten.987 Nur in begründeten Fällen – wie bspw. bei fehlender Vorlage der Versichertenkarte gem. § 13 Abs. 7 S. 1 BMV-Ä – kann die Behandlung eines Versicherten abgelehnt werden. Die Behandlungspflicht ist eng mit der Pflicht zur persönlichen Leistungserbringung aus § 32 Abs. 1 S. 1 Ärzte-ZV sowie der aus § 24 Abs. 2 Ärzte-ZV resultierenden Präsenzpflicht verknüpft.988 Hiernach muss der Vertragsarzt seine Tätigkeit persönlich ausüben, indem er Sprechstunden in ausreichendem Umfang am Vertragsarztsitz anbietet, vgl. § 17 Abs. 1 BMV-Ä. Nur in den in § 32 Abs. 1 S. 2 Ärzte-ZV abschließend normierten Fällen, d. h. bei Krankheit, Urlaub, Teilnahme an einer ärztlichen Fortbildung oder an einer Wehrübung, kann sich ein Arzt vertreten lassen. Diese Regelung gewährleistet, dass die vertragsärztliche Versorgung nicht durch eine temporäre Abwesenheit gefährdet wird.989 Soweit keiner der zulässigen Unterbrechungsgründe vorliegt, muss der Arzt in den Sprechstundenzeiten dauernd für die vertragsärztliche Versorgung der Patienten bereit sein.990 Schließen Vertragsärzte ihre Praxis, um auf die Akteure des Gesundheitssystems oder den Gesetzgeber Druck auszuüben, verstoßen sie damit gegen ihre Pflicht zur Behandlungsübernahme, zur persönlichen Leistungserbringung und insbesondere ihre Präsenzpflicht. Die Teilnahme an einem „(Warn-)streik“ zählt

986

Schnapp / Wigge / Rompf, HB des Vertragsarztrechts, § 2 Rn. 52; s. a. 2. Kap. B. 2. b). BSG Urt. v. 14. 3. 2001 – B 6 KA 54/00 R, BSGE 88, 20, 28 f.; BSG Urt. v. 14. 3. 2001, B 6 KA 36/00 R, SozR 3–2500 § 81 Nr 7. 988 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 115. 989 Sodan / Schaks, VSSR 2014, 89, 108. 990 So BayLSG Urt. v. 15. 1. 2014 – L 12 KA 91/13, NZS 2014, 518, 519. 987

C. Streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ 

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nicht zu den in § 32 Abs. 1 S. 2 Ärzte-ZV genannten zulässigen Unterbrechnungsgründe und rechtfertigt daher keine Praxisschließung. So hat es auch das BSG in seiner Grundsatzentscheidung bestätigt: Der Vertragsarzt vernachlässige seine Versorgungsverpflichtung, wenn er regelmäßig angekündigte Sprechstunden nicht einhalte. Dies gelte sogar dann, wenn die wöchentliche Mindestsprechstundenzeit nach § 17 Abs. 1a BMV-Ä eingehalten und eine Notfallversorgung sichergestellt sei.991 Das BSG stuft damit „jede nicht durch Sachgründe bedingte bzw. gerechtfertigte Versorgungsunterbrechung als Störung des Systems der vertragsärztlichen Versorgung“ ein.992 Es unterstreicht hiermit den zwingenden Charakter der rechtlichen Vorgaben des Vertragsarztrechts und insbesondere des Sicherstellungsauftrages der KVen und ihrer Mitglieder aus § 75 Ab. 1 S. 1 SGB V. Dieser könne nur dann erfüllt werden, wenn „alle Vertragsärzte im vorgesehenen und als erforderlich erachteten Umfang an der Versorgung teilnehmen“.993 2. § 95b SGB V Eine weitere Maßnahme zur Druckausübung stellt der kollektive Verzicht auf die Zulassung als Vertragsarzt dar, der teilweise sogar als „Ärztestreik“994 oder „Quasi-Streik“995 bezeichnet wird. Im Herbst 1992 kündigten einige niedersäch­ sische Vertragszahnärzte an, in einem abgestimmten Verfahren auf ihre Zulassung zu verzichten, um Versorgungsengpässe herbeizuführen. Hierzu hatten sie ihre Verzichtserklärungen an zentraler Stelle gesammelt und als genügend Erklärungen „im Korb“ waren, sich für einen kollektiven Austritt entschlossen.996 Auch wenn das vertragsärztliche System durch die Aktion der niedersächsischen Zahnärzte nicht derart unter Druck geriet und die erhofften Verbesserungen ausblieben, sah sich der Gesetzgeber gleichwohl dazu veranlasst, derartige kollektive Bestrebungen der Ärzte zum Schutze des Systems vorsorglich zu unterbinden.997 Seit der Implementierung des § 95b SGB V durch das Gesundheitsstrukturgesetz v. 21. 12. 1992 991

So BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 116 ff.; der konkrete Einzelfall könnte ggf. anders zu beurteilen sein, dies andeutend BVerfG Nichtannahmebeschl. v. 24. 10. 2019 – 1 BvR 887/17, juris Rz. 16; grds. auch Sodan / Schaks, VSSR 2014, 89, 108, die jedoch Praxisschließungen unter Errichtung eines Notdienstes und unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit zur „Wahrnehmung berechtigter Interessen“, gestützt auf Art. 12 Abs. 1 GG, für zulässig erachten. 992 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 134, 145 993 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 133, 144 f. 994 MAH SozR / Plagemann, § 18 Rn. 78 f.; Rüfner, NJW 1993, 753, 754; Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Motz, SGB V § 95b Rn. 1; s. a. SG Stuttgart Urt. v. 23. 7. 2015 – S 4 KA 3147/13, juris Rz. 23. 995 Ludes, Die Honorierung kassenärztlicher Leistungen als Instrument zur Angebotssteuerung im ambulanten Sektor, S. 57 f. 996 Hauck / Noftz / Klückmann, SGB V § 72a Rn. 2 f.; Rabatta, DÄ 2007, A-2165. 997 BT-Drs. 12/3608, S.  95; s. a. Eichenhofer / v. Koppenfels-Spies / Wenner / Motz, SGB V § 95b Rn. 2.

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4. Kap.: Möglichkeiten abseits des Vertragsarztrechts

ist der kollektive Zulassungsverzicht ausdrücklich verboten.998 Der Gesetzgeber sanktioniert das pflichtwidrige Verhalten der Ärzte mit einer sechsjährigen Wiederzulassungssperre in § 95b Abs. 2 SGB V sowie Vergütungsbeschränkungen in § 95b Abs. 3 SGB V.999 Er stellt damit klar, dass Vertragsärzte zur Erfüllung des Sicherstellungsauftrags verpflichtet sind und alles zu unterlassen haben, was die Sicherstellung und die Durchführung der vertragsärztlichen Versorgung gefährden oder ausschließen könnte.1000 Aus der spezifischen Regelung des § 95b SGB V können allerdings keine allgemeinen Schlüsse für die Zulässigkeit anderer ärztlicher „Kampfmaßnahmen“ gewonnen werden. Hierfür spricht zum einen die Entstehungsgeschichte der Norm, da der Gesetzgeber mit dem Erlass des § 95b SGB V unmittelbar und allein auf die regional begrenzt gebliebenen kollektiven Aktionen der Zahnärzte reagieren wollte.1001 Auch der Wortlaut ist eindeutig, die Regelung sanktioniert den kollektiven Zulassungsverzicht von Vertragsärzten. Gleiches ergibt sich auch aus dem Sinn und Zweck der Regelung des § 95b SGB V.1002 Das BSG vertritt diese Auffassung ebenfalls in seiner Grundsatzentscheidung zum „Ärztestreik“: § 95b SGB V gelte ausschließlich für das kollektive Ausscheiden aus der vertragsärztlichen Versorgung und könne nicht auf andere „Kampfmaßnahmen“ analog angewendet werden.1003 Gleiches gelte für die Rechtsfolgenregelung in § 72a SGB V, aus der sich weder ein „Streikverbot“ noch eine gesetzliche Tolerierung aller übrigen „Kampfmaßnahmen“ ableiten lasse.1004 In seiner Entscheidung versucht das BSG dann letztlich doch, aus den spezifischen Regelungen zum kollektiven Zulassungsverzicht eine allgemeine Aussage über die Zulässigkeit des „Ärztestreiks“ abzuleiten. Es führt aus, dass der Gesetzgeber mit diesen Vorschriften deutlich zu erkennen gegeben habe, dass „Kampfmaßnahmen“ mit der vertragsärztlichen Tätigkeit unvereinbar sind. Denn andernfalls wären „die sehr scharfen Sanktionen im Fall eines abgesprochenen Systemausstiegs […] nur beschränkt plausibel, wenn ‚Ärztestreiks‘ unter Beibehaltung des Zulassungs­status zulässig wären“.1005 Dem kann angesichts des klaren Wortlauts, des Sinn und Zwecks sowie der Entstehungsgeschichte der §§ 95b, 72a SGB V nicht gefolgt werden. Die Existenz 998

BGBl. I 1992, Nr. 59, S. 2266. Zu den verfassungsrechtlichen Bedenken vgl. Joussen, SGb 2008, 388, 392 f.; Schinnenburg, MedR 2005, 26, 27 f.; ausf. Sodan, Das Verbot kollektiven Verzichts auf die vertragszahnärztliche Zulassung als Verfassungsproblem, S. 65 ff., 84 ff. 1000 BT-Drs. 12/3608, S. 95; s. a. jurisPK-SGB V / Pawlita, § 95b Rn. 11. 1001 S. Fn. 997. 1002 So auch Sodan / Schaks, VSSR 2014, 89, 105. 1003 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 119. 1004 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 120. 1005 BSG Urt. v. 30. 11. 2016  – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 11, 135; s. a Lauber, MedR 2017, 845. 999

C. Streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ 

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dieser Regelungen belegt nur, dass der Gesetzgeber, soweit er die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung in Gefahr sieht, sofort handlungsbereit ist, um alles zu ihrem Schutze zu unternehmen.1006 3. Systemimmanentes „Streikverbot“ Das Fachrecht sieht keine ausdrückliche Regelung vor, die es Vertragsärzten erlauben würde, mittels kollektiver „Kampfmaßnahmen“ zur Interessendurch­ setzung Druck auszuüben. Es existieren allerdings auch keine Regelungen, die Vertragsärzten eine Ausübung kollektiver „Kampfmaßnahmen“ zur Interessendurchsetzung verbieten. Ausdrücklich normiert ist lediglich das Verbot des kollektiven Zulassungsverzichts in § 95b SGB V, wodurch Vertragsärzten jedenfalls diese Möglichkeit der Druckausübung verwehrt wird. Allerdings hat das BSG in seiner Grundsatzentscheidung vom 30. 11. 2016 aus der gesetzlichen Konzeption des Vertragsarztrechts ein systemimmanentes Verbot ärztlicher „Kampfmaßnahmen“ hergeleitet.1007 Das Vertragsarztrecht stelle ein in sich geschlossenes System dar, durch dessen Ausgestaltung der Gesetzgeber die partiell gegenläufigen Interessen zum Zwecke der Sicherstellung einer verlässlichen Versorgung der Versicherten zum Ausgleich gebracht habe. Dies werde insbesondere durch die vier prägenden Strukturelemente des Vertragsarztrechts – das Kollektivvertragssystem, die Übertragung des Sicherstellungsauftrages, die Trennung der Rechtskreise sowie die historische Entstehungsgeschichte des Systems – erreicht. Deren wesentlicher Zweck bestünde darin, die Versorgung der Versicherten ungeachtet der Interessengegensätze zwischen Ärzten und Krankenkassen unter allen Umständen zu gewährleisten.1008 Die Ausgestaltung des Vertragsarztrechts als ein Kollektivvertragssystem nennt das BSG als eines der wesentlichen Strukturelemente. Hiermit ist nicht nur der Abschluss von Kollektivverträgen zwischen Ärzten und Krankenkassen gemeint, sondern auch das eigenverantwortliche Zusammenwirken als gemeinsame Selbstverwaltung. Die kooperativen Strukturen fördern, nach Ansicht des BSG, die Herbeiführung eines Interessenausgleichs zwischen Ärzten und Krankenkassen.1009 Diese These stützt auch das dritte Kapitel der vorliegenden Arbeit, das gezeigt hat, dass die kollektivvertraglichen Kooperationsinstrumente des Vertragsarztsystems auf die Herbeiführung eines Interessenausgleichs zwischen Ärzten und Krankenkassen auf anderem Wege als durch „Streik“ angelegt sind.1010 Gleichzeitig geht das BSG in seiner Urteilsbegründung aber davon aus, dass Vertragsärzte 1006

Schneider, HB des Kassenarztrechts, Rn. 354, bezeichnet § 95b SGB V daher auch als eine „legislative Drohung“. 1007 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 120, 135. 1008 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 120 f. 1009 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 120 f., 126. 1010 S. 3. Kap. B. I. 1., II. 1., III. 1., D.

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4. Kap.: Möglichkeiten abseits des Vertragsarztrechts

„durch ein ‚Streikverbot‘ keineswegs schutzlos gestellt“ seien und ihre Interessen in ausreichendem Umfang Berücksichtigung finden.1011 Vor dem Hintergrund des dritten Kapitels kann dieser Aussage nicht uneingeschränkt zugestimmt werden. Vertragsärzte können ihre Interessen zwar grundsätzlich über die Kooperationsinstrumente einbringen. Ihre Möglichkeiten werden allerdings zunehmend durch gesetzgeberische Vorgaben beschränkt. Auch die Durchsetzung ihrer Interessen kann, soweit die Konfliktlösungsmechanismen greifen, nicht zwangsläufig gewährleistet werden.1012 Die Übertragung des Sicherstellungsauftrages auf die KVen gem. § 75 Abs. 1 SGB V stuft das BSG ebenfalls als prägendes Strukturelement ein.1013 Dieser Umstand spricht uneingeschränkt für die Unzulässigkeit von „Kampfmaßnahmen“ der Vertragsärzte. Nach Ansicht des BSG resultiert aus der gesonderten Aufgabenübertragung die Gesamtverantwortung der KVen für die ordnungsgemäße Durchführung der vertragsärztlichen Versorgung. Die Vertragsärzte seien aufgrund ihrer Zwangsmitgliedschaft gem. § 95 Abs. 3 S. 1 Hs. 1 SGB V zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung verpflichtet und gem. §§ 70 Abs. 1, 72 Abs. 1, 75 Abs. 1 SGB V in den Sicherstellungsauftrag eingebunden. Andernfalls könnten die KVen ihre Verpflichtung auch nicht erfüllen.1014 KVen und Vertragsärzte würden folglich gemeinsam die Verantwortung für den Erhalt und die Funktionsfähigkeit des Systems tragen. Hierfür sei die Bereitschaft der Vertragsärzte zur Einhaltung der Vorschriften sowie zur Kooperation mit den vertragsärztlichen Institutionen wesentliche Voraussetzung.1015 Mit streikähnlichen „Kampfmaßnahmen“, wie bspw. vorübergehenden Praxisschließungen, zeigten sich Vertragsärzte keineswegs kooperativ, sondern vernachlässigten vielmehr ihre aus der Übertragung des Sicherstellungsauftrages resultierenden Pflichten.1016 An der Sicherstellungsverpflichtung der KVen änderten, nach Anicht des BSG, auch die aktuellen Möglichkeiten des Selektivvertragsabschlusses zunächst nichts. Das Gesetz ordne für die selektivvertraglichen Optionen lediglich eine „Einschränkung“ und keine „Aufhebung“ des Sicherstellungsauftrages an.1017 Dem BSG ist zuzustimmen, zumal die Selektivverträge aufgrund der gesetzlichen Ausgestaltung innerhalb des Vertragsarztsystems bisher nur eine untergeordnete Rolle einneh-

1011 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 147; vgl. auch die Anmerkung von Ruppel / Peters, GuP 2017, 104, 107 und Diering, ersatzkasse magazin 2017, 12. 1012 S. o. 3.  Kap. B. II. 8., III. 6. 1013 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 120 f., 121 ff. 1014 BSG Urt. v. 30. 11. 2016  – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 122 f. m. w. N.; vgl. 2.  Kap. B. I. 1. a) aa). 1015 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 123. 1016 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 116; s. a. LSG Berlin Urt. v. 5. 12. 2001 – L 7 KA 17/99, juris Rz. 29 f.; Sodan / Schaks, VSSR 2014, 89, 108 f.; bereits auch Zacher, ZSR 1966, 129, 159 ff.; Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 229 f.; Albrecht, ZfS 1957, 146, 147; Uhlenburck, RdA 1972, 327, 334 Fn. 101 m. w. N. 1017 So BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 122.

C. Streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ 

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men.1018 Etwaige Auswirkungen auf den Sicherstellungsauftrag der KVen und die dadurch etablierte gleichberechtigte Vertragspartnerschaft mit den Krankenkassen1019 erscheinen daher als fernliegend.1020 Nach Ansicht des BSG bestätigen zahlreiche Vorschriften die zentrale Bedeutung des Sicherstellungsauftrages für den Systemerhalt. Hierzu zählten bspw. die Vorschriften über den kollektiven Zulassungsverzicht in §§ 72a, 95b SGB V, die der Gesetzgeber zum Zwecke der Vermeidung einer Systemstörung erlassen hat.1021 Auch die Präsenzpflicht aus § 24 Abs. 2 Ärzte-ZV sowie die hiermit verbundenen Pflichten zur persönlichen Leistungserbringung und zur Behandlungsübernahme nach dem Sachleistungsprinzip würden zur Erfüllung des Sicherstellungsauftrages der KVen aus § 75 Abs. 1 SGB V beitragen.1022 Ergänzend verweist das BSG auf die Überwachungs- und Disziplinarbefugnis der KVen aus § 75 Abs. 2 S. 2 SGB V. Diesen obliege es, die Vertragsärzte ggf. mit Mitteln des Disziplinarrechts dazu anzuhalten, sich der Mitwirkung an der vertragsärztlichen Versorgung nicht ohne sachlichen Grund – auch nicht in Teilbereichen – zu entziehen.1023 Die Aussagen des BSG lassen sich dahingehend interpretieren, dass die Präsenzpflicht und die hiermit verbundenen Pflichten als einfachgesetzlicher Ausdruck der Unzulässigkeit streikähnlicher „Kampfmaßnahmen“ zu verstehen sind. Als weitere Strukturmerkmale nennt das BSG die Trennung der Rechtskreise sowie die historische Entwicklung des Kollektivvertragssystems, die ebenfalls Ausdruck der Ausrichtung des Systems auf einen Interessenausgleich sind. Die rechtliche Trennung der Rechtsbeziehungen zwischen Arzt und Krankenkassen bei der Vereinbarung der Höhe und Auszahlung der Gesamtvergütung gem. §§ 85, 87a SGB V sowie bei der anschließenden Verteilung auf die Vertragsärzte gem. § 87b Abs. 1 SGB V schaffe „eine gewisse ‚Verrechtlichung‘ und damit Versachlichung der Auseinandersetzungen“.1024 Diese Aussage des BSG erklärt sich insbesondere vor dem historischen Hintergrund der Ablösung der Individualverträge durch ein Kollektivvertragssystem und die hiermit verbundene Abschaffung des Abhängigkeitsverhältnisses der Vertragsärzte von den Krankenkassen.1025 Angesichts der in den letzten Jahren zunehmenden Regulierungen des gesamten Vergütungssystems, die die Einflussmöglichkeiten der Parteien bei den Vergütungsverhandlungen stark

1018

S. o. 2.  Kap. B. III. So ausdrücklich Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 19 Rn. 9; Eichenhofer / ​ von Koppenfels-Spies / Wenner / Bäune, SGB V § 75 Rn. 4. 1020 Anders Wigge / Harney, MedR 2008, 139, 144; Muschallik, MedR 2003, 139, 141. 1021 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 123 f. 1022 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 115. 1023 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 122 f.; s. a. BSG Urt. v. 14. 3. 2001 – B 6 KA 67/00 R, juris Rz. 26; zur Disziplinargewalt s. 2. Kap. B. I. 1. a) bb). 1024 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 121; vgl. bereits BSG Urt. v. 3. 2. 2010 – B 6 KA 30/08 R, BSGE 105, 224, 231. 1025 S. 1. Kap. D. 1019

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4. Kap.: Möglichkeiten abseits des Vertragsarztrechts

beschränken,1026 ist es hingegen nicht auszuschließen, dass trotz einer gewissen Versachlichung der Rechtsbeziehungen neue Konflikte aufkommen. Nach Ansicht des BSG verdeutlichen schließlich die wesentlichen historischen Etappen, dass das heutige Vertragsarztrecht auf einen Interessenausgleich zwischen den Parteien angelegt sei.1027 Die kausale Verknüpfung zwischen dem Rückgang des gewerkschaftsähnlichen Kampfes der Ärzte und der Etablierung eines Systems, das auf der kooperativen Zusammenarbeit von Ärzten und Krankenkassen aufbaut, konnte auch im ersten Kapitel dieser Arbeit aufgezeigt werden. Der Ärzteschaft wurde mit der zwangsweisen Festsetzung der Verträge im Falle eines Patts ihre traditionelle Möglichkeit zum „Streik“ genommen. Dies hielt einige von ihnen jedoch nicht davon ab, zur Wahrung ihrer Interessen weiterhin auf streikähnliche Maßnahmen zurückzugreifen.1028 Es ist daher offensichtlich, dass trotz des „Angelegt-seins“ des Systems auf einen Interessenausgleich nicht jeder Arzt seine Interessen ausreichend berücksichtigt sieht. Das BSG geht unter Zugrundelegung dieser vier wesentlichen Strukturelemente des Vertragsarztrechts davon aus, dass sich aus dem Gesamtzusammenhang der Regelungen des Vertragsarztrechts, also aus dem einfachgesetzlichen Fachrecht, ein Ausschluss ärztlicher „Kampfmaßnahmen“ ergibt.1029 Dies begründet es anhand einzelner konkreter Regelungen, insbesondere der Sicherstellungsverantwortung der KVen gem. § 75 Abs. 1 SGB V, der Präsenzpflicht gem. § 24 Abs. 1 Ärzte-ZV, der Pflicht zur persönlichen Leistungserbringung gem. § 32 Abs. 1 S. 1 Ärzte-ZV und dem Abschluss der Kollektivverträge gem. §§ 82, 83 SGB V. Im Kern stützt das BSG seine Herleitung allerdings auf die Feststellung, dass die Konzeption des Vertragsarztrechts die gegenläufigen Interessen von Ärzten und Krankenkassen zum Ausgleich gebracht habe. Anstelle eines „Streikrechts“ würden die abschließend vorgesehenen Mittel des in sich geschlossenen Systems treten. Vertragsärzte bedürften zur Durchsetzung ihrer legitimen Interessen daher keiner „Kampfmaßnahmen“.1030

1026 Zur Beschränkung des Gestaltungsspielraumes der Kollektivvertragspartner s. 3. Kap. ​ B. I. 3., 4.; hierauf ebenfalls hinweisend Lauber, MedR 2017, 845, 846; Pütz, KV-Blatt 1.2017, 27, 29; Ruppel / Peters, GuP 2017, 104, 107; Burkiczak, NZS 2017, 536, 538. 1027 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 120 f., 132 f. 1028 S. o. 1. Kap. E., F. 1029 Vgl. BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 138. 1030 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 120, 147; s. a. Ruppel / Peters, GuP 2017, 104, 107.

C. Streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ 

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III. Verfassungsrechtliche Grenzen des systemimmanenten Ausschlusses von streikähnlichen „Kampfmaßnahmen“ Angesichts des im dritten Kapitel herausgearbeiteten, abweichenden Ergebnisses im Hinblick auf die Geeignetheit der Kooperationsinstrumente zur ärztlichen Interessenwahrung stellt sich die Frage, ob der systemimmanente Ausschluss von „Kampfmaßnahmen“ den Vertragsärzten tatsächlich ohne Weiteres zumutbar ist, wie es das BSG behauptet,1031 oder ob hierdurch ihre höherrangigen Rechte verletzt sein könnten. Der systemimmanente Ausschluss von streikähnlichen „Kampfmaßnahmen“ könnte die Vertragsärzte in ihrem Recht auf Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG sowie ihrer Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzen. 1. Die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG a) Persönlicher Schutzbereich Eine Berufung auf die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG liegt angesichts des offenen Wortlauts, wonach „jedermann und allen Berufen“ das Recht auf koalitions­mäßige Betätigung zusteht, zunächst sehr nahe.1032 Mit „jedermann“ sind grundsätzlich alle natürlichen Personen gemeint, wobei bereits hier einschränkend verlangt wird, dass es sich um natürliche Personen auf Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberseite handelt.1033 Der Kreis der Grundrechtsträger wird jedoch aufseiten der Arbeitnehmer überwiegend weit verstanden, sodass hierunter auch Auszubildende, Beamte, Soldaten, Richter, arbeitnehmerähnliche Personen1034 und Arbeitslose gezählt werden.1035 Dies legt die Überlegung nahe, dass auch andere Berufsgruppen wie die Vertragsärzte hierunter zu fassen sind.1036 Diskutiert wird auch, dass Vertragsärzten der Schutz aus Art. 9 Abs. 3 GG deshalb zustehen könnte, da sie innerhalb der kollektivvertraglichen Strukturen des Vertragsarztrechts eine mit Arbeitnehmern vergleichbare Rolle einnehmen.1037 Allerdings wird dem Schutzbereich der Koalitionsfreiheit aufgrund der historischen Entwicklung des Grund 1031

BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 147. So Burkiczak, NZS 2017, 536, 537; Preis, MedR 2010, 139, 145. 1033 Sodan / Sodan, GG Art. 9 Rn. 21; NK-ArbR / Hensche, GG Art. 9 Rn. 34; s. a. BVerfG Urt. v. 26. 6. 1991 – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212, 223 f. 1034 Offenlassend Jarass / Pieroth / Jarass, GG Art. 9 Rn. 43. 1035 ErfK / Linsenmaier, GG Art. 9 Rn. 27; Sachs / Höfling, GG Art. 9 Rn. 118 f.; Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke / Kannengießer, GG Art. 9 Rn. 23; AR / Spelge, GG Art. 9 Rn. 6; Maunz / ​ Dürig / Scholz, GG Art. 9 Rn. 178 f.; NK-ArbR / Hensche, GG Art. 9 Rn. 34 jeweils m. w. N. 1036 Burkiczak, NZS 2017, 536, 537; s. a. LSG Niedersachsen-Bremen Urt. v. 9. 4. 2008 – L 3 KA 139/06, juris Rz. 50. 1037 Pütz, KV-Blatt 2017, 27, 28; i. E. ablehnend Zacher, ZSR 1966, 129, 157 f. und Burkardt, Ärztliche Standespflichten und Streikrecht der Kassenärzte und der in Krankenhäusern privatrechtlich angestellten Ärzte, S. 25 ff. 1032

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4. Kap.: Möglichkeiten abseits des Vertragsarztrechts

rechts vor allem eine arbeitsrechtliche Prägung beigemessen. Entscheidend ist, ob die jeweilige Tätigkeit in einem persönlichen und wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnis erbracht wird und ein Erfordernis gegeben ist, die individuelle Verhandlungsschwäche mit Hilfe kollektiver Interessenvertretung auszugleichen.1038 An diesen Voraussetzungen scheitert die Einbeziehung der Vertragsärzte in den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG: Vertragsärzte erbrin­ gen ihre Tätigkeit gerade nicht in einem persönlichen und wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnis, auch wenn dies in Anbetracht der zahlreichen gesetz­lichen Regulierungen und Vorgaben häufig anders von ihnen empfunden wird.1039 Es fehlt bereits ein mit einem Arbeitgeber vergleichbares Gegenüber, zu dem ein etwaiges Abhängigkeitsverhältnis bestehen könnte.1040 Diese Rolle nehmen weder die KVen noch die Krankenkassen ein. Zu letzteren stehen sie außer in den Fällen eines Selektivvertragsabschlusses1041 in keinem Vertragsverhältnis und auch die rechtliche Beziehung zu den KVen wird nicht durch eine vertragliche Verbindung, sondern durch das öffentlich-rechtliche Mitgliedschaftsverhältnis gem. §§ 77 Abs. 3, 95 Abs. 3 SGB V bestimmt, welches mit der Zulassung zum System begründet wird.1042 Vertragsärzte sind daher nicht unter den Arbeitnehmerbegriff des Art. 9 Abs. 3 GG zu fassen. Sie üben eine freiberufliche Tätigkeit aus,1043 weshalb eine Schutz­ bereichseröffnung bereits aus diesem Grund abgelehnt werden kann.1044 Auch das BSG setzt sich in seiner Grundsatzentscheidung vom 30. 11. 2016 mit der Koa­ litionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG auseinander. Es scheint ebenfalls zu einer Beschränkung des persönlichen Schutzbereiches der Koalitionsfreiheit auf Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu tendieren, legt sich aber letztlich nicht fest.1045

1038

So ErfK / Linsenmaier, GG Art. 9 Rn. 28; s. a. NK-ArbR / Hensche, GG Art. 9 Rn. 20 ff., 34; Sachs / Höfling, GG Art.  9 Rn.  85; Maunz / Dürig / Scholz, GG Art. 9 Rn. 178. 1039 So auch BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 140; s. a. SG Stuttgart Urt. v. 23. 7. 2015 – S 4 KA 3147/13, juris Rz. 11; Uhlenbruck, RdA 1972, 327, 334. 1040 Vgl. Isensee, VSSR 1995, 321, 330. 1041 Zu den selektiven Vertragsoptionen s. 2. Kap. III. 1042 So bereits Küchenhoff, RdA 1955, 413, 417 f.; Burkardt, Ärztliche Standespflichten und Streikrecht der Kassenärzte und der in Krankenhäusern privatrechtlich angestellten Ärzte, S. 23 ff.; Schindera, Das Recht des Kassenarztwesens im System der sozialen Krankenversicherung unter besonderer Berücksichtigung des Honorarwesens, S. 87; Sodan / Schaks, VSSR 2014, 89, 99; s.a. BVerfG Urt. v. 23. 3. 1960 – 1 BvR 216/51, BVerfGE 11, 30, 39; a. A. bzgl. der KVen Pütz, KV-Blatt 2017, 27, 28. 1043 Ausf. 2. Kap. A. III. 1044 So Sodan / Schaks, VSSR 2014, 89, 98 f.; s. a. LSG Saarland Urt. v. 4. 4. 2000 – L 2/3 K 31/95, juris Rz. 32; Freiberufler ausdrücklich ausnehmend Maunz / Dürig / Scholz GG Art. 9 Rn. 180 und Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 179; eine Schutzbereichseröffnung grds. in Betracht ziehend LSG Niedersachsen-Bremen Urt. v. 9. 4. 2008 – L 3 KA 139/06, juris Rz. 50. 1045 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 139 f.; s. a. Burkiczak, NZS 2017, 536, 537.

C. Streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ 

179

b) Sachlicher Schutzbereich Unterstellt man die Anwendbarkeit des Art. 9 Abs. 3 GG auf Vertragsärzte, so ist die Eröffnung des sachlichen Schutzbereiches mit einer ähnlichen Argumentation abzulehnen. Zu den geschützten Aktivitäten der hier in Betracht kommenden kollektiven Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG zählen insbesondere der Abschluss von Tarifverträgen einschließlich der Mittel, die zur Erreichung dieses Zwecks für geeignet gehalten werden.1046 Die wichtigsten von der Koalitions­freiheit geschützten Aktivitäten sind Arbeitskampfmaßnahmen wie Streik und Aus­sperrung.1047 Geschützt ist der Streik, der auf den Abschluss eines Tarifvertrages gerichtet ist,1048 oder der Warnstreik, mit dem der Eintritt in die Tarifverhandlungen oder die Abgabe eines Angebotes erzwungen werden soll.1049 Beides ist im Falle vertragsärztlicher „Kampfmaßnahmen“ nicht gegeben: „Streikende“ Vertragsärzte verfolgen gerade keine „tariflich regelbaren Ziele“. Mit ihren „Kampfmaßnahmen“ zielen sie weder auf den Abschluss eines Vertrages ab, noch machen sie ihre Forderungen gezielt gegenüber dem gegnerischen Vertragspartner geltend, der im Rahmen von Vertragsverhandlungen hierauf reagieren könnte. Stattdessen üben sie gegen eine je nach Anlass variierende Zielgruppe Druck aus, zu der sowohl die Krankenkassen, die KVen oder der Gesetzgeber zählen können.1050 Es liegt gerade keine Identität zwischen den Kontrahenten des „Arbeitskampfes“ und den die Vertragsverhandlungen führenden Vertragspartnern vor.1051 So war es auch in dem vom BSG zu entscheidenden Fall: Hier hat der Stuttgarter Arzt seine Forderungen zwar primär gegenüber seiner KV kundgetan, inhaltlich hätte seine Forderung nach einem neuen ärztlichen Honorarsystem mit festen Preisen und ohne eine Form der Mengenbegrenzung genauso gegen den Gesetzgeber sowie die Krankenkassen gerichtet sein können1052 – zumal die Einführung eines neuen ärztlichen Honorarsystems ohne die anderen Beteiligten im System nicht zu realisieren gewesen wäre. Aus diesem Grund vergleicht das BSG den „Warnstreik“ des Stuttgarter Arztes auch mit einem unzulässigen politischen Arbeitskampf, der sich nicht gegen einen

1046

Sachs / Höfling, GG Art.  9 Rn.  71; Jarass / Pieroth / Jarass, GG Art. 9 Rn. 39. Sachs / Höfling, GG Art. 9 Rn. 101 f.; Dreier / Bauer, GG Art. 9 Rn. 84; Sodan / Sodan, GG Art. 9 Rn. 23. 1048 St. Rspr. s. BAG Urt. v. 5. 3. 1985  – 1 AZR 468/83, BAGE 48, 160; BVerfG Beschl. v.  26. 6. 1991  – 1 BvR 779/85, BVerfGE 84, 212; ErfK / Linsenmaier, GG Art. 9 Rn. 114; Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke / Kannengießer, GG Art. 9 Rn. 31 jeweils m. w. N. 1049 S. nur BAG Urt. v. 21. 6. 1988 – 1 AZR 651/86, BAGE 58, 364–394; Sachs / Höfling, GG Art. 9 Rn. 108. 1050 Burkiczak, NZS 2017, 536, 537 unter Bezugnahme auf BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 141; s. a. die begriffliche Einordnung im 4. Kap. C. I. 1051 So ausdrücklich BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 141; bestätigend Burkiczak, NZS 2017, 536, 537. 1052 Hiervon geht auch das BSG aus, s. Leitsatz BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112. 1047

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4. Kap.: Möglichkeiten abseits des Vertragsarztrechts

Tarifvertragspartner, sondern die Verwaltung, Rechtsprechung oder den Gesetzgeber richtet und somit keine tariflich regelbaren Ziele verfolgt.1053 Zwar ist es durchaus vorstellbar, dass sich Vertragsärzte mit einer konkreten Forderung ausschließlich gegen die Krankenkassen wenden. Allerdings scheitert auch dann eine Eröffnung des sachlichen Schutzbereiches, da die KVen nicht in der Funktion als Koalition der Ärzteschaft mit den Krankenkassen die Vertragsverhandlung führen. Die KVen lassen sich gerade nicht als Koalitionen der Vertragsärzte qualifizieren, da sie sich nicht zum Zwecke der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder zusammengeschlossen haben, sondern gem. § 77 Abs. 1 SGB V zur Erfüllung ihrer gesetzlich übertragenen Aufgaben wie der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung zu bilden sind. Dass sie neben ihrer hoheitlichen Funktion auch gem. § 75 Abs. 2 S. 1 SGB V die Rechte der Vertragsärzte gegenüber den Krankenkassen wahrnehmen, ist zwangsläufige Folge, aber nicht der Grund ihres Zusammenschlusses.1054 Zudem sind sie als Körperschaften des öffentlichen Rechts nicht grundrechtsberechtigt und stellen aufgrund der vorgesehenen Zwangsmitgliedschaft keinen frei gebildeten Zusammenschluss dar.1055 Darüber hinaus stehen sich Krankenkassen und Vertragsärzte nicht als Tarifvertragspartner gegenüber, da sie anders als Arbeitgeber und Arbeitnehmer gerade keine unmittelbaren Rechtsbeziehungen zueinander unterhalten.1056 Zuletzt unterscheidet sich auch das Zustandekommen der Kollektivverträge, insbesondere der Vergütungsvereinbarungen, von demjenigen der Tarifverträge. Letztere kommen maßgeblich durch das „freie Spiel der Kräfte“ zustande, während Kollektivverträge weitgehend durch gesetzliche Vorgaben determiniert werden.1057 In Anbetracht dieser aufgezeigten Divergenzen ist auch eine Eröffnung des sachlichen Schutzbereiches der Koalitionsfreiheit abzulehnen.1058 Das BSG legt sich

1053 So BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 141; Burkiczak, NZS 2017, 536, 537; zum politischen Streik s. nur BAG Urt. v. 20. 12. 1963  – 1 AZR 428/62, BAGE 15, 174, 191 ff.; ErfK / Linsenmaier, GG Art. 9 Rn. 119; Rüthers, Streik und Verfassung, S. 79 ff. 1054 Hess / Venter, Das Gesetz über das Kassenarztrecht, S. 250 f.; Zacher, ZSR 1966, 129, 158; Hänsle, Streik und Daseinsvorsorge, S. 486; Jarass / Pieroth / Jarass, GG Art. 9 Rn. 34; s. zum früheren Hartmannbund Becker / Kingreen / Scholz, SGB V § 77 Rn. 2; anders Burkardt, Ärztliche Standespflichten und Streikrecht der Kassenärzte und der in Krankenhäusern privatrechtlich angestellten Ärzte, S. 26. 1055 Zacher, ZSR 1966, 129, 158; Hänsle, Streik und Daseinsvorsorge, S. 486; Maunz / ​ ­Dürig  /  Scholz, GG Art. 9 Rn. 196, 198. 1056 Vgl. hierzu die Grundstrukturen des Vertragsarztrechts unter 2. Kap. A. I. 1057 Hierauf hinweisend BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 141.; s. a. LSG Urt. v. 5. 12. 2001 – L 7 KA 17/99, NZS 2002, 386, 388; s. a. Burkardt, Ärztliche Standespflichten und Streikrecht der Kassenärzte und der in Krankenhäusern privatrechtlich angestellten Ärzte, S. 27. 1058 Hierzu tendieren auch Ruppel / Peters, GuP 2017, 104, 107.

C. Streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ 

181

zwar hinsichtlich des sachlichen Schutzbereiches nicht fest, äußert jedoch deutlich, dass es eine Anwendung der koalitionsspezifischen Rechte und Betätigungen, insbesondere den Abschluss von Tarifverträgen sowie Streik und Aussperrung, „als sehr fernliegend“ erachtet.1059 c) Ergebnismodifikation auf Grundlage von Art. 11 EMRK Vertragsärzte können sich folglich nicht auf die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG berufen. Dieses Ergebnis soll nach vereinzelt vertretener Ansicht auf Grundlage der zu Art. 11 EMRK ergangenen Rechtsprechung des EGMR modifiziert werden.1060 Mit diesen Erwägungen setzt sich das BSG in seiner Entscheidung vom 30. 11. 2016 nicht auseinander, sondern überprüft lediglich eine Eröffnung des Schutzbereiches des im Schutzumfang vergleichbaren Art. 11 EMRK, an der es Zweifel äußert.1061 Der Schutzbereich der Vereinigungsfreiheit aus Art. 11 EMRK ist grundsätzlich mit demjenigen aus Art. 9 Abs. 3 GG vergleichbar, da der Begriff der „Gewerkschaft“ primär als Zusammenschluss von Arbeitnehmern zur Vertretung ihrer Interessen und damit arbeitsrechtlich verstanden wird.1062 Freiberufler wie die Vertragsärzte sind daher grundsätzlich nicht vom Schutzbereich erfasst. Allerdings geben zwei Entscheidungen des EGMR zum Streikrecht von Beamten Anlass, über eine Ausweitung des Schutzbereiches auch auf andere Berufsgruppen wie die Vertragsärzte nachzudenken. Die Rechtsprechung des EGMR entfaltet zwar keine unmittelbare Bindungswirkung für den deutschen Gesetzgeber und die Gerichte – Art. 46 EMRK ordnet inter-partes-Wirkung an. Allerdings ist die EMRK in der Auslegung des EGMR aufgrund des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit auch bei der Anwendung und Auslegung des Grundgesetzes zu berücksichtigen. Darüber hinaus ist die Bundesrepublik gem. Art. 1 EMRK als Konventionsstaat dazu verpflichtet, die Konventionsrechte zu gewährleisten.1063 In seinem Grundsatzurteil Demir und Baykara hat der EGMR wesentliche Bestandteile der gewerkschaftlichen Betätigungsfreiheit wie die Gründung von 1059 BSG Urt. v. 30. 11. 2016  – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 140; dies offenlassend BVerfG Nichtannahmebeschl. v. 24. 10. 2019 – 1 BvR 887/17, juris Rz. 7 ff. 1060 Nur Sodan / Schaks, VSSR 2014, 89, 99 ff. 1061 BSG Urt. v. 30. 11. 2016  – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 142; ebenfalls kritisch Lauber, MedR 2017, 845, 846. 1062 So ausdrücklich HK-EMRK / Meyer-Ladewig, Art. 11 Rn. 18 ff. in 3. Auflage; NK-GA / ​ Sagan, EMRK Art. 11 Rn. 3; offener HK-EMRK / Daiber, Art. 11 Rn. 7 ff. 1063 BVerfG Beschl. v. 14. 10. 2004 – 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307, 316 ff.; BVerfG Urt. v. 4. 5. 2011 – 2 BvR 2333/08, BVerfGE 128, 326; zuletzt BVerfG Urt. v. 12. 6. 2018 – 2 BvR 1738/12, NJW 2018, 2695, 2699 f.; Franzen / Gallner / Oetker / Schubert, EMRK Art. 1 Rn. 84, 101; NK-GA / Sagan, EMRK Art. 1 Rn. 26, Art. 9 Rn. 1; HK-EMRK / Meyer-Ladewig / Brunozzi Art. 46 Rn. 16 ff.

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4. Kap.: Möglichkeiten abseits des Vertragsarztrechts

Gewerkschaften oder das Führen von Tarifverhandlungen anerkannt. In dem zugrundeliegenden Fall ging es um Gemeindebedienstete, die mit ihrem öffentlich-rechtlichen Arbeitgeber Tarifverhandlungen führen wollten.1064 In der Entscheidung Enerji Yapi-Yol Sen stufte der EGMR ein pauschales Streikverbot für Beschäftigte in staatlichen Unternehmen als Verstoß gegen Art. 11 EMRK ein.1065 In der Folge dieser beiden Entscheidungen wurde das im deutschen Recht geltende Streikverbot für Beamte für konventionswidrig gehalten und der Ruf nach einer Anpassung laut.1066 Dieser erteilte das BVerfG mit seiner Entscheidung vom 12. 6. 2018 indes eine Absage und postulierte damit den weiteren Bestand des Beamtenstreikverbots in Deutschland.1067 In Anbetracht dieser klaren Entscheidung des BVerfG über ein etwaiges Streikrecht von Beamten ist die Überlegung, Vertragsärzten im Wege eines Erst-Rechts-Schlusses ein „Streikrecht“ zu gewähren,1068 ebenfalls abzulehnen. Unabhängig davon spricht gegen die Ausdehnung des Schutzbereiches des Art. 11 EMRK auf Vertragsärzte die fehlende Vergleichbarkeit zwischen Beamten und Vertragsärzten. Denn letztere haben als typische Freiberufler anders als Beamte, die aufgrund ihres Treueverhältnisses wie Arbeitnehmer in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Dienstherrn stehen und dessen Weisungen unterliegen, gerade keinen Dienstherrn oder Arbeitgeber.1069 2. Die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG Anders als bei der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG ist eine Berufung der Vertragsärzte auf die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG naheliegend. Sie stellt das typische Abwehrrecht der Vertragsärzte gegen die Vielzahl an gesetzlichen und untergesetzlichen Regulierungen ihrer Tätigkeit im Vertragsarztrecht dar.1070 Mit dem vom BSG aufgestellten Verbot streikähnlicher „Kampfmaßnahmen“ wird eine verbindliche Aussage über die Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung getroffen. Das Verbot muss sich daher auch an Art. 12 Abs. 1 GG messen lassen.

1064

EGMR Urt. v. 12. 11. 2008 – 34503/97, NZA 2010, 1425. EGMR Urt. v. 21. 4. 2009 – 68959/01, NZA 2010, 1423; bestätigt durch EGMR Urt. v. 13. 7. 2010 – 33322/07 (Çerikci / Türkei), AuR 2011, 306. 1066 Den Gesetzgeber auffordernd BVerwG Urt. v. 27. 2. 2014 – 2 C 1/13, NZA 2014, 616 f.; BVerwG Urt. v. 26. 2. 2015 – 2 B 6/15, NZA 2015, 505; Polakiewicz / Kessler, NVwZ 2012, 841, 842; Schlachter, RdA 2011, 341, 347; Seifert, EuZA 2013, 205, 217; s. a. NK-ArbR / Hensche GG Art. 9 Rn. 123; NK-GA / Sagan EMRK Art. 11 Rn. 17 f. 1067 BVerfG Urt. v. 12. 6. 2018 – 2 BvR 1738/12, NJW 2018, 2695; s. a. Sura, NJOZ 2019, 1, 5; s. a. Haug, NJW 2018, 2674, 2676 f. 1068 So die Idee von Sodan / Schaks, VSSR 2014, 89, 102. 1069 Sodan / Schaks, VSSR 2014, 89, 101 ff. 1070 SRH / Ebsen / Wallrabenstein, § 15 Rn. 33. 1065

C. Streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ 

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a) Das Grundrecht der Vertragsärzte Der Schutz der Berufsfreiheit steht Vertragsärzten uneingeschränkt zu, da sie trotz ihrer Eingliederung in das öffentlich-rechtliche Gesundheitssystem als Freiberufler und nicht als Beliehene oder Angehörige des öffentlichen Dienstes zu qualifizieren sind.1071 Die Berufsfreiheit stellt eine umfassende Freiheitsgarantie für den durch sie geschützten Lebensbereich dar.1072 Zu den von Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Verhaltensweisen zählen die Berufswahl und die Berufsausübung.1073 Letztere umfasst „die Gesamtheit der mit der Berufstätigkeit, ihrem Ort […], ihren Inhalten […], ihrem Umfang […] ihrer Dauer […], ihrer äußeren Erscheinungsform, ihren Verfahrensweisen und ihren Instrumenten zusammenhängenden Modalitäten der beruflichen Tätigkeit“.1074 Geschützt ist folglich der „Beruf in all seinen Aspekten“,1075 sodass sich die Berufsfreiheit in zahlreiche Teilfreiheiten untergliedern lässt. So wird bspw. neben der unternehmerischen Organisationsfreiheit, der Werbefreiheit oder der Wettbewerbsfreiheit auch die freie Vertrags- und Preisgestaltung geschützt.1076 Mit letzteren geht die Freiheit einher, ein Entgelt für die Leistungen festzusetzen oder mit den Interessenten auszuhandeln.1077 Untrennbar hiermit verbunden ist auch die Freiheit, eine angemessene Vergütung zu fordern.1078 Gesetzliche Vorgaben, mit denen Preise reglementiert1079 oder allgemeine Vergütungsvorgaben1080 getroffen werden, stellen regelmäßig Grundrechtseingriffe in die Berufsfreiheit dar.1081 Im Vertragsarztrecht wird den einzelnen Ärzten diese individuelle Preisgestaltungsmacht genommen und durch das umfangreiche kollektivvertraglich regulierte Vergütungssystem ersetzt, in dessen Rahmen die Vertragspartner eine ange­messene Vergütung aushandeln sollen.1082 Die Vertragsärzte sind zwar über 1071

S. o. 2. Kap. A. III.; ferner Gaier, FS Jäger, S. 421, 422. HGR V / Schneider, § 113 Rn. 55. 1073 Sachs / Mann, GG Art. 12 Rn. 77. 1074 Sachs / Mann, GG Art. 12 Rn. 79. 1075 Hömig / Wolff / Wolff, GG Art. 12 Rn. 6. 1076 Sachs / Mann, GG Art.  12 Rn.  79; Jarass / Pieroth / Jarass, GG Art. 12 Rn. 10 f. 1077 BVerfG Beschl. v. 8. 6. 2010 – 1 BvR 2011/07, BVerfGE 126, 115, 138; BVerfG Beschl. v. 23. 10. 2013 – 1 BvR 1842/11, BVerfGE 134, 204; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, S. 254 ff. 1078 BVerfG Urt. v. 30. 3. 1993 – 1 BvR 1045/89, BVerfGE 88, 145, 159; BVerfGE Urt. v. 30. 3. 2004 – 2 BvR 1520/01, BVerfGE 110, 226, 251; Sodan / Sodan, Krankenversicherungsrecht § 2 Rn. 66; ders., NJW 2003, 1761, 1763 f. 1079 S. bspw. die Preisregelung für zahntechnische Leistungen BVerfG Beschl. v. 31. 10. 1984 – 1 BvR 35, 356, 794/82, BVerfGE 68, 193, 216. 1080 S. bspw. die Notargebühren BVerfG Beschl. v. 1. 3. 1978 – 1 BvR 786/70, BVerfGE 47, 285, 321. 1081 Sodan / Schaks, VSSR 2014, 89, 110; HGR V / Schneider, § 113 Rn. 60; Hufen, Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, S. 27, 32 f. 1082 Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, S. 291; s. zur Eingriffsqualität der gesetzlichen Vergütungsregelungen m. w. N. Gesellensetter, Die Annäherung des freien Arzt 1072

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4. Kap.: Möglichkeiten abseits des Vertragsarztrechts

ihre KV-Vertreter mittelbar an der Festlegung der Gesamtvergütung gem. §§ 85 Abs. 2, Abs. 3, 87a Abs. 3 SGB V beteiligt, allerdings stehen diesen angesichts der hohen Dichte an gesetzlichen Vorgaben nur beschränkte Möglichkeiten zur Einflussnahme auf das Verhandlungsergebnis zu.1083 Darüber hinaus wirken Vertragsärzte an der Aufstellung und Anpassung des EBM im hierfür verantwortlichen Bewertungsausschuss bzw. im erweiterten Bewertungsausschuss mit. Jedenfalls bei Beschlüssen im erweiterten Bewertungsausschuss können sie sich der Durchsetzung ihrer Interessen nicht sicher sein, weil das Ergebnis im Falle einer Patt­ situation vom Stimmverhalten des unabhängigen Vorsitzenden abhängt.1084 Das System eröffnet den Vertragsärzten folglich nur eingeschränkte Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die Vergütung. Neben den vergütungsrechtlichen Vorgaben sehen sich Vertragsärzte bei der Erbringung ihrer Tätigkeit vielen weiteren Beschränkungen durch gesetzliche und untergesetzliche Regelungen des Vertragsarztrechts ausgesetzt.1085 Viele dieser Regelungen zielen nicht unmittelbar auf die berufliche Betätigung ab, sind aber infolge spürbarer tatsächlicher Auswirkungen als faktische Beeinträchtigung der Berufsfreiheit einzustufen und weisen im Verhältnis zu den Vertragsärzten eine berufsregelnde Tendenz auf.1086 So unterliegen Vertragsärzte bspw. hinsichtlich des Ortes, des zeitlichen sowie des inhaltlichen Umfangs ihrer Leistungserbringung umfangreichen Beschränkungen.1087 Zahlreiche inhaltliche Vorgaben existieren bspw. im Hinblick auf die Behandlungs- und Verordnungstätigkeit der Ärzte und führen zu einer Verkürzung der durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten ärztlichen Therapiefreiheit.1088 Mit der im TSVG vorgesehenen Erhöhung des Mindestsprechstundenangebots von 20 auf 25 Stunden wurde zuletzt der zeitliche Umfang der vertragsärztlichen Tätigkeit reguliert.1089 § 95 Abs. 1 SGB V i. V. m. § 24 Abs. 1 Ärzte-ZV verpflichtet die Vertragsärzte zur Erbringung ihrer Tätigkeit am Vertragsarztsitz. Damit ist auch die Präsenzpflicht aus § 24 Abs. 2 Ärzte-ZV eng verbunden, von der nur in den abschließend in § 32 Abs. 1 S. 2 Ärzte-ZV geregelten

berufes an das Gewerbe, S. 105 f.; Hufen, Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenver­ sicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, S. 27, 32 f.; s. die exemplarische Aufzählung einiger Vergütungsregelungen bei Clemens, Die ärztliche Berufsausübung in den Grenzen der Qualitätssicherung, S. 17, 41 ff. Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 17 Rn. 94 ff. 1083 S. o. 3.  Kap. B. I. 3. c) aa), bb). 1084 3. Kap. B. II. 3. c). 1085 Exemplarische Aufzählung bei Clemens, Die ärztliche Berufsausübung in den Grenzen der Qualitätssicherung, S. 17, 37 ff.; s. a. 2. Kap. B. I. 2. b), C. 1086 Umbach / Clemens / Clemens, GG Anhang zu Art. 12 Rn. 66; Sachs / Mann, GG Art. 12 Rn. 94 f.; Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der GKV, S. 291 f.; s. bspw. BVerfG Beschl. v. 17. 8. 2004 – 1 BvR 378/00, NZS 2005, 199, 200. 1087 Sodan / Bristle, Krankenversicherungsrecht, § 17 Rn. 94 ff. 1088 S. hierzu Boecken, FS Maurer, S. 1091, 1098 f.; Reuther, Die Vergütung des Vertragsarztes und die Stabilität des Beitragssatzes – Grundrechte als Vorgaben der Budgetierung, S. 212 ff.; Gesellensetter, Die Annäherung des freien Arztberufes an das Gewerbe, 116 ff. 1089 BT-Drs. 19/6337, S. 2; s. o. 3.  Kap. B. I. 3. b) bb).

C. Streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ 

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Fällen eine Ausnahme zulässig ist.1090 Eine Praxisschließung zum Zwecke der Druckausübung auf die Krankenkassen oder den Gesetzgeber ist hiermit unvereinbar und wird durch die KVen disziplinarisch geahndet.1091 Die Tätigkeit eines Arztes außerhalb des Systems gestaltet sich vergleichsweise freier, da er nicht den hier nur exemplarisch genannten Vorgaben hinsichtlich der Erbringung, Abrechnung, des Ortes sowie der Zeit der Leistungserbringung unterliegt. Ein freiberuflicher, ausschließlich Privatpatienten behandelnder Arzt kann bspw. seine Öffnungszeiten unabhängig von den Vorgaben der Ärzte-ZV festlegen und seine Praxis nach freiem Belieben schließen, ohne hierfür einen Disziplinarverweis zu erhalten. Als Angestellte in einem Krankenhaus steht Ärzten wiederum die Möglichkeit zu, unter Berufung auf ihre Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG mittels Streikmaßnahmen für bessere Arbeits- und Entgeltbedingungen einzutreten.1092 Vertragsärzte sind hingegen mit ihrer Zulassung zum System dazu verpflichtet, unter den vorherrschenden Bedingungen tätig zu werden. Ihre Möglichkeiten, Einfluss auf die Vergütung sowie die weiteren Erwerbsbedingungen zu nehmen, ergeben sich ausschließlich aus der Konzeption des Vertragsarztrechts. Der Gesetzgeber hat hiermit eine abschließende Regelung im Hinblick auf den Ausgleich der widerstreitenden Interessen zwischen Ärzten und Krankenkassen getroffen – die Frage der ärztlichen Interessenwahrung also gleichfalls abschließend geregelt. So hat es das BSG in seiner Grundsatzentscheidung vom 30. 11. 2016 in der Wendung eines „systemimmanenten Streikverbots“ bestätigt.1093 In der Konsequenz stehen Vertragsärzten zur Wahrung ihrer Interessen nur die im System vorgesehenen Kooperationsinstrumente sowie die Möglichkeiten einer öffentlichen Kundgabe oder Meinungsäußerung zur Verfügung. Eine zielgerichtete Durchsetzung ihrer Interessenstandpunkte, wie sie bspw. über streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ erreicht werden kann, ist über die Mittel im System sowie andere öffentlichkeitswirksame Maßnahmen gerade nicht garantiert.1094 Darüber hinaus ist ihnen die Druckausübung mittels „Streik“ zwar nicht ausdrücklich, aber implizit aus dem Gesamtzusammenhang der Regelungen des Vertragsarztrechts untersagt.1095 Damit lässt sich das Verbot streikähnlicher Maßnahmen nicht auf eine spezifi­ sche Regelung innerhalb des Vertragsarztsystems zurückführen, es beruht vielmehr auf der gesamten Konzeption des Vertragsarztrechts und damit auf einer Vielzahl an Regelungen, die dieses System prägen. 1090

Vgl. hierzu oben 2. Kap. B. I. 2. b). S. o. 4.  Kap. C. II. 1. 1092 Vgl. die Aktivitäten des Marburger Bundes Fn. 967; anders für angestellte Ärzte in einem MVZ oder einer BAG, so BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 137; s. hierzu Steinhilper, MedR 2018, 639, 641. 1093 Vgl. BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 120. 1094 Zu den Interessenwahrungsinstrumenten s. 3. Kap. B.; zu den anderen Maßnahmen 4. Kap. A., B. 1095 S. o. 4.  Kap. C. II. 3. 1091

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4. Kap.: Möglichkeiten abseits des Vertragsarztrechts

Nach dem modernen Eingriffsbegriff stellt jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht, gleichgültig ob diese Wirkung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich, mit oder ohne Befehl und Zwang eintritt, einen Eingriff dar.1096 Diese Voraussetzungen erfüllt der systemimmanente Ausschluss streikähnlicher Durchsetzungsmöglichkeiten. Er ist dazu geeignet, die Berufsfreiheit der Vertragsärzte mittelbar zu beeinträchtigen. Im Einzelfall kann sich der konkrete Eingriff etwa in einer Disziplinarmaßnahme durch die KV äußern. Rechtsgrundlage hierfür könnte dann § 81 Abs. 5 SGB V i. V. m. § 24 Abs. 2 Ärzte-ZV sein, soweit von einem Verstoß gegen die Präsenzpflicht auszugehen ist.1097 Eingriffe in die Berufsausübungsfreiheit unterliegen gem. Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG grundsätzlich einem einfachen Gesetzesvorbehalt.1098 Zwar ist zweifelhaft, ob das systemimmanente Verbot als solches dem Erfordernis eines Gesetzesvorbehaltes genügt.1099 Allerdings kann über einen Rückgriff auf die Vielzahl der einzelnen Normen, die die allgemeinen Erwerbsbedingungen der Vertragsärzte im System regulieren und ihre Berufsfreiheit beschränken, in einer Gesamtschau den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts der Berufsausübung genügt werden. b) Hinreichende Berücksichtigung der ärztlichen Interessen durch die Konzeption des Vertragsarztrechts Die Beeinträchtigung der Berufsfreiheit der Vertragsärzte durch den Ausschluss streikähnlicher Durchsetzungsmöglichkeiten könnte gerechtfertigt sein. Hierfür müsste eine hinreichende Berücksichtigung der ärztlichen Interessen über die im System vorhandenen Kooperationsinstrumente sichergestellt sowie verbleibende Defizite zum Schutze höherrangiger Gemeinwohlbelange hinzunehmen sein. Bei der Gesamtabwägung der verfassungsrechtlichen Güter müssen zudem die spezifische Betroffenheit der Vertragsärzte und die mit der Eingliederung in das System verbundenen, staatlichen Begünstigungen und Beschränkungen berücksichtigt werden.1100

1096

BVerfG Urt. v. 26. 6. 2002 – 1 BvR 670/91, BVerfGE 105, 279, 301; s. a. HStR / Isensee, § 191 Rn. 106, zur Eingriffsdogmatik Rn. 111 ff.; HStR / Hillgruber, § 200 Rn. 89. 1097 S. BVerfG Nichtannahmebeschl. v. 24. 10. 2019 – 1 BvR 887/17, juris Rz. 12; an der Tauglichkeit dieser Rechtsgrundlage zur Sanktionierung von vertragsärztlichen Warnstreiks zweifelt Burkiczak, NZS 2017, 536, 538. 1098 S. hierzu nur BVerfG Urt. v. 1.7.980 – 1 BvR 23/75, BVerfGE 54, 224, 234. 1099 So auch Burkiczak, NZS 2017, 536, 538. 1100 Tettinger, DVBl 1999, 679, 686; Hufen, MedR 1996, 394, 400; Schnapp / Wigge / Schnapp  / ​ Nolden, HB des Vertragsarztrechts, § 4 Rn. 36.

C. Streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ 

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aa) Die kollidierenden Verfassungsgüter Vertragsärzte sind kraft ihrer Zulassung gem. § 95 Abs. 3 SGB V in das öffentlich-rechtliche Gesundheitssystem eingebunden und erbringen ihre Leistungen in einem künstlichen Markt, der nicht wie gewöhnlich durch freie Marktkräfte, sondern durch gesetzgeberische Ausgestaltung gesteuert wird.1101 Auf die Zulassung zu diesem System sind nahezu alle Ärzte in Anbetracht des 90 %igen Anteils GKV-Versicherter in der Bevölkerung1102 zur erfolgreichen Ausübung des Berufs des niedergelassenen Arztes angewiesen, da es nur einem geringen Teil gelingen kann, eine auskömmliche Praxis mit der ausschließlichen Behandlung von Privat­ patienten zu betreiben.1103 Freiberufliche Ärzte befinden sich aufgrund dieser monopolartigen Ausgestaltung des Vertragsarztrechts in einer gewissen Zwangslage: Denn eine freie Wahl, dem System fernzubleiben, haben sie nicht.1104 Diese elementare Bedeutung des Vertragsarztsystems für die Ärzteschaft führt dazu, dass dessen Ausgestaltung durch gesetzliche und untergesetzliche Vorgaben von maßgeblicher Relevanz für die Ausübung der vertragsärztlichen Tätigkeit ist und daher mit Art. 12 Abs. 1 GG in Einklang zu bringen ist. Dies gilt auch für die Möglichkeiten der Interessenwahrung, die durch die Konzeption des Vertragsarztrechts eine abschließende Regelung erfahren haben. Eingriffe in die verfassungsrechtlich verbürgte Berufsausübungsfreiheit der Vertragsärzte können zum Schutze gewichtiger Gemeinwohlbelange gerechtfertigt sein, soweit das gewählte Mittel zur Erreichung dieses Zwecks geeignet, erforderlich und den Betroffenen zumutbar ist.1105 Zu den hier in Betracht kommenden gewichtigen Belangen zählen die Sicherstellung der Versorgung der gesetzlich Versicherten1106 sowie die Sicherung der finanziellen Stabilität und damit die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung.1107 Die Finanzierbarkeit des Systems wird als 1101 Isensee, VSSR 1995, 321, 331 f.; s. a. BVerfG Beschl. v. 31. 10. 1984 – 1 BvR 35, 356, 794/82, BVerfGE 68, 193, 220 f. 1102 2020 zählte die GKV 73,30 Mio. Versicherte, was einem Anteil von ca. 88,09 % entspricht, vgl. Ergebnisse der amtlichen Statistik KM1/August 2020, Stand: September 2020 und PKV Zahlenbericht 2018, Stand: Juni 2020, unter: https://www.gkv-spitzenverband.de/ gkv_spitzenverband/presse/zahlen_und_grafiken/zahlen_und_grafiken.jsp, (zuletzt abgerufen am 30. 9. 2020). 1103 Vgl. Fn. 922; Gesellensetter, Die Annäherung des freien Arztberufes an das Gewerbe, S. 85. 1104 So aber BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 146. 1105 S. nur BVerfG Urt. v. 3. 11. 1982 – 1 BvL 4/78, BVerfGE 61, 291, 312; BVerfG Beschl. v. 22. 5. 1996 – 1 BvR 744/88, BVerfGE 94, 372, 389 f.; m. w. N. Sodan / Sodan, Krankenversicherungsrecht, § 2 Rn. 69 und HK-KV / Merten, § 5 Rn. 81. 1106 BVerfG Beschl. v. 20. 3. 2001 – 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172, 184; s. a. BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 143 f.; bestätigend BVerfG Nichtannahmebeschl. v. 24. 10. 2019 – 1 BvR 887/17, juris Rz. 15. 1107 BVerfG Beschl. v. 31. 10. 1984 – 1 BvR 35, 356, 794/82, BVerfGE 68, 193, 220 f.; BVerfG Beschl. v. 14. 5. 1985 – 1 BvR 449/82, BVerfGE 70, 1, 26, 29, 31; BVerfG Beschl. v. 20. 3. 2001 –

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4. Kap.: Möglichkeiten abseits des Vertragsarztrechts

eine Gemeinwohlaufgabe verstanden, „welche der Gesetzgeber nicht nur verfolgen darf, sondern der er sich nicht einmal entziehen dürfte“.1108 Hiermit wird dem aktuellen System ein Vorrang gegenüber den Grundrechten der Leistungserbringer eingeräumt1109 und faktisch ein Verfassungsrang zuerkannt.1110 Dieser besteht indes nicht, da dem Grundgesetz gerade keine Garantie für das bestehende System der gesetzlichen Krankenversicherung oder seine tragenden Organisationsprinzipien entnommen werden kann. Das Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber lediglich zur Vorhaltung einer Mindestversorgung im Gesundheitsbereich. Dem ist er mit der Schaffung des Sozialversicherungssystems, dessen wesentlicher Bestandteil das Vertragsarztrecht ist, nachgekommen.1111 Infolgedessen muss der Gesetzgeber für dessen Funktionieren Sorge tragen, da es der Verwirklichung des im Sozialstaatsprinzip wurzelnden Ziels der Vorhaltung eines Sicherungssystems gegen die Wechselfälle des Lebens dient.1112 Die Sicherung einer angemessenen Versorgung zu bezahlbaren Konditionen stellt damit einen Gemeinwohlbelang von überragender Wichtigkeit dar.1113 bb) Geeignetheit des Ausschlusses streikähnlicher „Kampfmaßnahmen Der Ausschluss streikähnlicher „Kampfmaßnahmen“ der Vertragsärzte ist grundsätzlich dazu geeignet, die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung sowie die Funktionsfähigkeit des Systems zu gewährleisten. Denn zum einen stellen die im System getroffenen Vorkehrungen sicher, dass im Falle der Nichteinigung zwischen Ärzten und Krankenkassen eine Entscheidung in Form eines Beschlusses oder Schiedsspruches zustande kommt. Hiermit wird das Entstehen eines vertragslosen Zustands vermieden und damit die Gefahr, dass eine Partei die Auswirkungen dieses vertragslosen Zustandes dazu nutzt, ein für sich genehmes

1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172, 184 f., 192; BVerfG Urt. v. 10. 6. 2009  – 1 BvR 706/08, BVerfGE 123, 186, 244; BVerfG Kammerbeschl. v. 26. 9. 2016 – 1 BvR 1326/15, GesR 2016, 767, 770. 1108 BVerfG Urt. v. 31. 10. 1984 – 1 BvR 35, 356, 794/82, BVerfGE 68, 193, 218. 1109 S. bspw. BVerfG Beschl. v. 8. 2. 1994  – 1 BvR 1237/85, BVerfGE 89, 365, 376 ff.; BVerfG Beschl. v. 20. 3. 2001 – 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172 ff., 184; BVerfG Beschl. v. 18. 7. 2005 – 2 BvF 2/01, BVerfGE 113, 167, 198, 215. 1110 Sodan / Sodan, Krankenversicherungsrecht, § 2 Rn. 85; kritisch hierzu Sodan / Schaks, Krankenversicherungsrecht, § 16 Rn. 8 ff. 1111 BVerfG Beschl. v. 9. 4. 1975  – 2 BvR 879/73, BVerfGE 39, 302, 314 f.; BSG Urt. v. 9. 12. 2004 – B 6 KA 44/03 R, BSGE 94, 50, 99; BVerfG Urt. v. 10. 6. 2009 – 1 BvR 706/08, BVerfGE 123, 186; BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 143. 1112 S. nur BVerfG Urt. v. 17. 6. 2009 – B 6 KA 16/08 R, BSGE 103, 243, 255; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, S. 309; Sodan / Schaks, Krankenversicherungsrecht, § 16 Rn. 14. 1113 BVerfG Beschl. v. 20. 3. 2001  – 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172, 184; BSG Urt. v. 9. 12. 2004 – B 6 KA 44/03 R, BSGE 94, 50, 100 unter Verweis auf Jaeger, NZS 2003, 225, 232; BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 143 f.

C. Streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ 

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Ergebnis einseitig zu Lasten der anderen Partei zu erzwingen.1114 Die vorgesehenen Instrumente gewährleisten darüber hinaus die Finanzierbarkeit des Systems. Denn Vergütungsverhandlungen erfolgen ausschließlich in dem vorgegebenen kollektivvertraglichen Rechtsrahmen, der den Vertragsparteien nur geringe Verhandlungsspielräume belässt. Selbst bei einer Ausweitung der bestehenden Möglichkeiten der Interesseneinbringung und -durchsetzung wären überhöhte Honorarsteigerungen in Anbetracht der gesetzlichen Vorgaben ausgeschlossen.1115 Zum anderen ist durch die abschließende Ausgestaltung der Interessenwahrungsmöglichkeiten sichergestellt, dass Vertragsärzte die Funktionsfähigkeit des Systems nicht durch streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ gefährden können. Soweit sie pflichtwidrig zu derartigen Maßnahmen greifen, besteht die Möglichkeit, dies disziplinarisch zu ahnden. Insoweit entfalten die drohenden disziplinarischen Maßnahmen eine präventive Wirkung.1116 cc) Erforderlichkeit des Ausschlusses streikähnlicher „Kampfmaßnahmen“ Der Ausschluss streikähnlicher Durchsetzungsmöglichkeiten müsste auch erforderlich sein, d. h. es dürften keine milderen, gleich geeigneten Mittel zur Sicherung der genannten Gemeinwohlbelange existieren.1117 Ein milderes Mittel als der absolute Ausschluss von „Kampfmaßnahmen“ wäre die Einräumung eines Druckmittels unter Auflagen. Praxisschließungen könnten bspw. gestattet werden, soweit eine Notversorgung sichergestellt und die Mindestsprechstundenzeit nach § 17 Abs. 1a BMV-Ä eingehalten wird. Bei einer flächendeckenden Beteiligung wäre hiermit indes die Gefahr verbunden, dass die Versorgung gleichwohl beeinträchtigt wird. Auch wenn die bisherigen Erfahrungen gezeigt haben, dass diese Gefahr nicht überschätzt werden sollte,1118 gewährleistet die Einräumung einer derartigen Option nicht die gleiche Sicherheit und Kontrolle für die Funktionsfähigkeit des Systems wie der vollständige Ausschluss von „Kampfmaßnahmen“. Schließlich bergen Ausnahmeregelungen immer eine abstrakte Missbrauchsgefahr, die, wenn auch nur punktuell, zu Störungen der Versorgung führen kann.1119 Aufgrund dieser 1114 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 127; vgl. zu den Kooperationsinstrumenten 3. Kap. B. I., II., III. 1115 Vgl. oben Fn. 1026. 1116 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 145. 1117 S. allgemein BVerfG Beschl. v. 27. 1. 1983  – 1 BvR 1008/79, BVerfGE 63, 88, 115; BVerfG Beschl. v. 4. 5. 1985 – 1 BvR 449/82, BVerfGE 70, 1, 28 f. 1118 Die letzten größeren Protestaktionen gingen von der Vertragszahnärzteschaft aus. Bei Vertragsärzten erscheint ein kollektives Auftreten angesichts der unterschiedlichen Verdientsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Fachgruppierungen weitaus unrealistischer; zu den Verdienstmöglichkeiten s. Fn. 1145. 1119 Daher deutlich strenger BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSE 122, 112, 145, demzufolge die Organistion eines Notdienstes nichts an der Störung der Versorgung ändert.

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4. Kap.: Möglichkeiten abseits des Vertragsarztrechts

abstrakten Missbrauchsgefahr sind sogar einmalige Praxisschließung zum Zwecke der Druckausübung, die aufgrund ihres zunächst nur singulären Charakters keine ernsthaften Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung der Versicherten haben, kein milderes, gleich geeignetes Mittel.1120 Der Ausschluss von „Kampfmaßnahmen“ der Vertragsärzte ist daher erforderlich. dd) Zumutbarkeit des Ausschlusses streikähnlicher „Kampfmaßnahmen“ Zuletzt müsste der Ausschluss streikähnlicher Durchsetzungsmöglichkeiten den Vertragsärzten zumutbar sein. Die hiermit einhergehende Beeinträchtigung der Berufsfreiheit müsste in einem angemessenen Verhältnis zu den gewichtigen Gemeinwohlbelangen, d. h. dem Erhalt der Funktionsfähigkeit und der Finanzierbarkeit des Systems sowie der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung, stehen. (1) Die Möglichkeiten der Interesseneinbringung und -durchsetzung Die Konzeption des Vertragsarztrechts stattet Ärzte und Krankenkassen mit den gleichen Einfluss- und Gestaltungsbefugnissen in allen für das Funktionieren des vertragsärztlichen Versorgungssystems relevanten Bereichen aus. Über die vorgesehenen Kooperationsinstrumente wird den Vertragsparteien eine Möglichkeit eröffnet, ihre Interessen einzubringen, mit der Gegenseite auszutarieren und in eine einvernehmliche oder mehrheitsfähige Entscheidung münden zu lassen. Allerdings wird ihr Verhandlungs- und Ausgestaltungsspielraum, der zur Interessenwahrung unabdingbar ist, zunehmend durch gesetzgeberische Aktivitäten beschnitten.1121 In der Folge gestaltet sich der Einigungsprozess zwischen den Parteien nicht mehr als ergebnisoffen und kontrovers, sondern vielmehr als Umsetzung des gesetzgeberischen Programms.1122 Nur soweit den Vertragsparteien Freiräume zur Einbringung ihrer Interessen verbleiben, wovon bei der aktuellen Ausgestaltung des Vertragsarztrechts noch auszugehen ist, können die Kooperationsinstrumente als taugliches Mittel zur ärztlichen Interessenwahrung eingestuft werden. Neben der inhaltlichen Determinierung durch den Gesetzgeber erschweren auch die vorgesehenen Konfliktlösungsmechanismen im Vertrags- und Ausschusswesen die Durchsetzbarkeit von Interessenstandpunkten. Soweit eine mehrheitsfähige bzw. einstimmige Entscheidung zwischen den Parteien nicht zustande kommt, entscheiden die unparteiischen Mitglieder bzw. der unparteiische Vorsitzende. In diesen Fällen spiegelt sich das Ergebnis des vorangegangenen Aushandlungs­ prozesses in der Regel nicht im festgesetzten Beschluss bzw. Vertrag wider, da der 1120

Vgl. hierzu BVerfG Nichtannahmebeschl. v. 24. 10. 2019 – 1 BvR 887/17, juris Rz. 16. Vgl. ausf. 3. Kap. B. I., II., III., D. 1122 Dies ist insbesondere bei den Kollektivverträgen der Fall, s. 3. Kap. B. I. 1121

C. Streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ 

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unparteiische Vorsitzende entweder der Position der Ärzteschaft oder derjenigen der Krankenkassen Rechnung trägt. Insbesondere vor den Schiedsämtern und den Landesausschüssen ist es jedoch nicht ausgeschlossen, dass ein Vermittlungsversuch zwischen den Parteien gelingt. Die Konfliktlösungsmechanismen zielen darauf ab, in jedem Fall die Herbeiführung einer Entscheidung zu gewährleisten. Die gleichmäßige Berücksichtigung der jeweiligen Parteiinteressen ist hierbei zweitrangig.1123 Der einzelne Vertragsarzt, der seine Interessen über die Kooperationsstrukturen nur unzureichend abgebildet sieht, kann seine individuellen Interessen im Wege des nachträglichen Rechtsschutzes versuchen zu wahren. Die Erfolgsaussichten sind jedoch in Anbetracht der zurückgenommenen Kontrolle der Gerichte hinsichtlich der durch einen Interessenausgleich zustande gekommenen Entscheidungen und Beschlüsse als gering einzustufen. Insbesondere bei den Gesamtvergütungsvereinbarungen, die ausschließlich durch die Aufsichtsbehörden kontrolliert werden, ist die Ärzteschaft daher verstärkt darauf angewiesen, dass ihre Belange bei den Vertragsverhandlungen durch die jeweiligen KV-Vertreter ausreichend eingebracht werden.1124 Darüber hinaus ist es der Ärzteschaft zwar nicht verwehrt, mittels Meinungskundgabe oder einer Demonstration ihren Interessen Nachdruck zu verleihen. Hierbei handelt es sich jedoch um mildere Formen der Einflussnahme, die sich nicht zur zielgerichteten Durchsetzung von Interessenstandpunkten eignen.1125 Insgesamt verfügen die Vertragsärzte nach der Konzeption des Vertragsarztrechts über Mittel zur Interessenwahrung, die ihnen in einem eng begrenzten Rahmen die Einbringung ihrer Interessenstandpunkte ermöglichen. Durchsetzen kann die Ärzteschaft ihre Interessen hingegen nur über einen Kompromiss, eine mehrheitsfähige Entscheidung mit den Krankenkassen oder wenn sich im Falle eines Patts der unparteiische Vorsitzende zu ihren Gunsten entscheidet. Eine Möglichkeit, die eigenen Interessenstandpunkte unabhängig von einer Kooperation mit den Krankenkassen zur Geltung zu verhelfen, also einseitig durchzusetzen, steht der Ärzteschaft anders als in den frühen Anfängen des 20. Jahrhunderts nicht zu. Insbesondere können sie einer unzureichenden Berücksichtigung ihrer Belange – bspw. bei den Vertragsverhandlungen über die Höhe der Gesamtvergütung, die bei fehlender Einigung ins Schiedsverfahren münden – nichts entgegensetzen, da sie über keine erfolgversprechenden nachträglichen Überprüfungsmöglichkeiten verfügen.

1123 Vgl. 3. Kap. B. II., III.; ferner zur maßgeblichen Bedeutung der unparteiischen Mitglieder in jeglichem Entscheidungsgremium, Felix, Konfliktlösungsinstrumente im System der GKV, S. 197 f. 1124 Vgl. 3. Kap. B. I. 3. d) (Kollektivverträge), II., 3. d) (Bewertungsausschüsse); 4. c) (Zulassungs- und Berufungsausschuss), 5. b) (Prüfgremien), 6. b) (Landesausschüsse), 7. b) (GBA), III. 5. (Schiedswesen). 1125 S. zur Öffentlichkeitsarbeit der KVen 4. Kap. B. III. und zu Art. 5 und Art. 8 GG 4. Kap. ​ B. I., II.

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4. Kap.: Möglichkeiten abseits des Vertragsarztrechts

(2) Strukturelle Parität Diese Sichtweise auf die Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung ist jedoch verkürzt, da sie die Position der Krankenkassen im Kollektivvertragssystem außen vor lässt. Es muss berücksichtigt werden, dass die Konzeption des Vertragsarztrechts gerade keine strukturelle Benachteiligung der Vertragsärzte bedingt. Denn die Interessenwahrungsmöglichkeiten von Ärzten und Krankenkassen sind seit der Etablierung der kollektivvertraglichen Kooperationsstrukturen grundsätzlich gleichberechtigt ausgestaltet. Beide Parteien sind in gleicher Weise dem Risiko, im Falle eines Patts durch den unparteiischen Vorsitzenden überstimmt zu werden, ausgesetzt.1126 Anders als in den frühen Anfängen des Kassenarztrechts kann folglich nicht mehr von einer strukturellen Disparität zwischen Ärzten und Krankenkassen gesprochen werden, die Indiz dafür wäre, dass Vertragsärzten zur Sicherung ihrer Position im System eine zusätzliche Abwehrmöglichkeit eingeräumt werden müsste.1127 Der Gesetzgeber hat sich unter Ausschöpfung seines weiten Gestaltungsspielraums1128 dazu entschlossen, den Interessenausgleich zwischen den Hauptakteuren des Systems durch strukturelle Vorkehrungen zu steuern. Angesichts der elementaren Bedeutung eines funktionierenden Gesundheitssystems erscheint es legitim, dass er zur Herbeiführung dieses Ausgleichs bewusst auf eine Kooperation zwischen den damaligen Kontrahenten statt auf eine Austragung durch „Kampfmaßnahmen“ gesetzt hat. Vertragsärzte werden durch die Eingliederung in das System und die damit verbundene Inpflichtnahme im Vergleich zu den Krankenkassen folglich weder benachteiligt noch gänzlich schutzlos gestellt. Dies könnte die Annahme rechtfertigen, dass sie durch den Ausschluss streikähnlicher Durchsetzungsmöglichkeiten keine gravierenden Nachteile im System erleiden. (3) „Störung“ des ausgewogenen Machtverhältnisses Trotz des strukturell ausgewogenen Machtverhältnisses im System darf allerdings nicht vergessen werden, dass die Vertragsärzte nach der Konzeption des Vertragsarztrechts über kein gesondertes Mittel verfügen, mit dem sie einem pflichtwidrigen Verhalten der Krankenkassen entgegentreten könnten. Den Krankenkassen steht hingegen mit dem in § 75 Abs. 1 S. 2 SGB V verankerten Zurückbehaltungsrecht ein gesondertes Druckmittel zur Verfügung.1129 Hiernach können

1126

S. ausf. 3. Kap. B. Ausf. 3. Kap. B. I., II., III., C. 1128 S. nur BVerfG Beschl. v. 25. 2. 1960  – 1 BvR 239/52, BVerfGE 10, 354, 371; ferner Fn. 302. 1129 Als „Druckmittel“ bezeichnend Hauck / Noftz / Klückmann, § 75 Rn. 4e; so auch BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 124. 1127

C. Streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ 

193

sie eine durch die KVen zu verantwortende Verletzung des Sicherstellungsauf­trages mit der Zurückbehaltung eines Teils der Gesamtvergütung sanktionieren.1130 Das BSG hält die Voraussetzungen des Einbehalts auch im Zusammenhang mit ärztlichen „Kampfmaßnahmen“ für gegeben.1131 Der Einbehalt kann potentiell die gesamte Ärzteschaft betreffen und begründet eine „Kollektivhaftung“. Er muss so empfindlich wirken, dass er als „Beugemittel“ geeignet ist und eine ernsthafte Gefährdung der Sicherstellung verhindert.1132 Der Ärzteschaft bzw. stellvertretend den KVen steht kein derartiges Beugemittel für den Fall einer vergleichbaren Pflichtverletzung der Krankenkassen zur Verfügung. Zur Leistungsverweigerung sind sie nicht berechtigt.1133 Auch wenn die praktische Relevanz der Vorschrift bisher gering ist – eine erhebliche Verletzung des Sicherstellungsauftrages ist bisher ausgeblieben1134 –, führt sie rechtlich gesehen zu einer Störung der ansonsten gleichberechtigt ausgestalteten Rechtsbeziehung zwischen Ärzten und Krankenkassen. (4) Faktische Unterlegenheit Schließlich muss berücksichtigt werden, dass sich Vertragsärzte angesichts der monopolartigen Stellung des Vertragsarztsystems in einer gewissen Zwangslage befinden und damit jedenfalls faktisch gesehen im Vergleich zu den Krankenkassen eine unterlegene Position innerhalb des Systems einnehmen.1135 Sie haben gerade nicht die Möglichkeit, wie das BSG ohne Weiteres behauptet, sich für oder gegen die Eingliederung und damit auch für die verbundenen Vor- und Nachteile zu entscheiden.1136 Ungeachtet dieser Zwangslage kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass mit der vertragsärztlichen Zulassung verschiedene Vorteile verbunden sind, die die systembedingten Einschränkungen im Hinblick auf die Möglichkeiten der Interessenwahrung rechtfertigen könnten. Denn wer aus dem System Nutzen zieht, muss zu dessen Erhalt auch Eingriffe ertragen, die ein Unternehmen, das sich auf

1130

Krauskopf / Sproll, SGB V § 75 Rn. 17. BSG Urt. v. 30. 11. 2016  – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 124; anders BeckOKSozR / Scholz, BMV-Ä § 54 Rn. 8. 1132 Spickhoff / Nebendahl, SGB V § 75 Rn. 9. 1133 BSG Urt. v. 14. 3. 2001 – B 6 KA 36/00 R, MedR 2002, 42, 43; kritisch hierzu Gesellensetter, Die Annäherung des freien Arztberufes an das Gewerbe, S. 163 ff.; Wimmer, Sind „streikende“ Kassenärzte Rechtsbrecher? FAZ v. 22. 1. 2003, Nr. 18, S. 8, will Vertragsärzten auf Grundlage von § 72 Abs. 2 SGB V ein kollektives Leistungsverweigerungsrecht zur Durchsetzung einer angemessenen Vergütung zugestehen. 1134 KassKomm / Rademacker, SGB V § 75 Rn. 18. 1135 Boecken, Markt und Regulierung 2003, S. 139, 157. 1136 BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 146 mit Verweis auf BSG Urt. v. 9. 12. 2004 – B 6 KA 44/03 R, BSGE 94, 50. 1131

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4. Kap.: Möglichkeiten abseits des Vertragsarztrechts

dem Markt behaupten muss, nicht hinnehmen müsste.1137 Die Schwelle der Zumutbarkeit ist folglich erhöht.1138 Als Vorteile des Systems gelten insbesondere der Zugang zum Kreis der GKVVersicherten als potentieller Patientenstamm sowie die Tatsache, dass den Vertragsärzten sichere, insolvenzgeschützte und auch auskömmliche Einnahmen von öffentlich-rechtlichen Institutionen gewährt werden.1139 Darüber hinaus sind Vertragsärzte, anders als andere freiberuflich tätige Berufsgruppen, durch die öffentlich-rechtlichen Vergütungsansprüche gegen die KVen davor geschützt, ihre Leistungen nicht, nicht vollständig oder nicht in angemessener Zeit honoriert zu bekommen, wodurch ihnen ein hohes Maß an Planungssicherheit zukommt.1140 Geschützt sind Vertragsärzte auch gegen Konkurrenz, da das System der ambulanten ärztlichen Versorgung einen Vorrang einräumt und externe Anbieter nur unter bestimmten Voraussetzungen Zugang zum System erhalten.1141 Mit dem Gebot der angemessenen Vergütung aus § 72 Abs. 2 SGB V existiert zudem ein zwingender Maßstab, den die Vertragsparteien bei der Vereinbarung der Gesamtvergütung zu berücksichtigen haben und wodurch dem Interesse der Vertragsärzte an einer angemessenen Vergütung ihrer Leistungen Rechnung getragen wird.1142 Allerdings ist hiergegen einzuwenden, dass der einzelne Vertragsarzt aus § 72 Abs. 2 SGB V keinen subjektiv-rechtlichen Anspruch auf eine höhere Vergütung ableiten kann, es sei denn eine zu niedrige Vergütung würde das Versorgungssystem als Ganzes und infolgedessen die berufliche Existenz der an diesem System teilnehmenden Leistungserbringer gefährden.1143 Insofern ist es zwar richtig, dass Vertragsärzte die Einhaltung dieses Gebots gerichtlich überprüfen lassen können,1144 ihrem Interesse an einer angemessenen Vergütung können sie hiermit allerdings nur im Ausnahmefall zur Geltung verhelfen. 1137

BVerfG Beschl. v. 31. 10. 1984 – 1 BvR 35, 356, 794/82, BVerfGE 68, 193, 220 f.; BVerfG Beschl. v. 14. 5. 1985 – 1 BvR 449/82, BVerfGE 70, 1, 30; BSG Urt. v. 9. 12. 2004 – B 6 KA 44/03 R, BSGE 94, 50, 100 f.; Ratzel / Lippert / Prütting / Prütting MBO-Ä § 1 Rn. 19. 1138 Reuther, Die Vergütung des Vertragsarztes und die Stabilität des Beitragssatzes – Grundrechte als Vorgaben der Budgetierung, S. 152; s. a. Gesellensetter, Die Annäherung des freien Arztberufes an das Gewerbe, S. 112 f; Becker / Meeßen / Neueder / Schlegelmilch / Schön / Vilacklara, VSSR 2011, 323, 344. 1139 BSG Urt. v. 14. 3. 2001 – B 6 KA 54/00 R, BSGE 88, 20, 24; BVerfG Nichtannahmebeschl. v. 16. 7. 2004  – 1 BvR 1127/01, NZS 2005, 91, 93; zum Saldierungsgedanken s. a. BVerfG Beschl. v. 14. 10. 1970 – 1 BvR 307/68, BVerfGE 29, 221, 237. 1140 BSG Urt. v. 9. 12. 2004 – B 6 KA 44/03 R, BSGE 94, 50, 104 f.; BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 146. 1141 BVerfG Beschl. v. 17. 8. 2004  – 1 BvR 378/00, NZS 2005, 199, 201; BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 146 f.; s. a. Gesellensetter, Die Annäherung des freien Arztberufes an das freie Gewerbe, S. 113, 114. 1142 BSG Urt. v. 16. 7. 2003 – B 6 KA 29/02 R, BSGE 91, 153, 160; BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 147. 1143 BSG Urt. v. 30. 10. 1963 – 6 RKa 4/62, BSGE 20, 73, 77; BSG Urt. v. 12. 10. 1994 – 6 RKa 5/94, BSGE 75, 187, 190; BSG Urt. v. 20. 10. 2004 – B 6 KA 30/03 R, BSGE 93, 258; s. a. Ebsen, FS Hufen, S. 11, 20. 1144 So BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 147.

C. Streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ 

195

Auch wenn sich die Vorzüge des Systems nicht leugnen lassen, ist ihre pauschalierende Beschreibung durch die höchsten Gerichte gleichwohl auffällig. Insbesondere bei Fragen rund um die vertragsärztliche Vergütung können verallgemeinernde Aussagen nur schwer getroffen werden, da die Höhe der Einkommen bei den einzelnen Fachgruppierungen stark voneinander abweicht.1145 So empfindet nicht jeder Arzt seine Einnahmen als „auskömmlich“ und verspürt „ein hohes Maß an Planungssicherheit“.1146 Ursache hierfür können zahlreiche Faktoren sein wie bspw. geringe Zusatzeinnahmen durch Privatpatienten, was durch die Fachrichtung oder den Praxissitz bedingt sein kann, Regressforderungen der KVen, die teilweise existenzbedrohende Summen erreichen können oder hohe Investitionskosten.1147 Gleichwohl liegt das Durchschnittseinkommen aller Vertragsärzte auch heute noch weit über demjenigen pflichtversicherter Arbeitnehmer.1148 Aus den aktuellen Statistiken über das durchschnittliche Nettoeinkommen der Vertragsärzte gehen zwar die Unterschiede hinsichtlich der Einkommenshöhe der Fachgruppierungen hervor. Die Nachteile und Lasten einer freiberuflichen Tätigkeit, wie das hohe unternehmerische Risiko, die enormen Bürokratielasten und die defizitäre WorkLife-Balance, spiegeln die Statistiken hingegen nicht wider.1149 Dass derartige Faktoren die Tätigkeit des niedergelassenen Vertragsarztes zunehmend unattraktiver werden lassen, zeigt der aktuelle Trend unter jungen Medizinern, die eine Beschäftigung im Angestelltenverhältnis einer eigenen Niederlassung vorziehen. Darüber hinaus haben zahlreiche niedergelassene Praxisinhaber Schwierigkeiten bei der Suche nach einem geeigneten Nachfolger, insbesondere in ländlichen Regionen.1150 Die Entwicklung der letzten Jahre sendet also ein deutliches Signal: Die Tätigkeit als freiberuflicher Arzt im öffentlich-rechtlichen Gesundheitssystem ist längst nicht mehr so attraktiv wie früher.1151

1145

Vgl. die Übersicht bei Korzilius, DÄ 2017, A-106, A-107. Vgl. Fn. 1140. 1147 S. Laufs / Kern / Rehborn / Clemens, HB des Arztrechts, § 28 Rn. 10; zu den Regressforderungen s. Steiner, FS Deutsch, S. 635, 639; Rixen, MedR 2018, 667. 1148 Vgl. den Honorarbericht der KBV für das 2. Quartal 2018 v. 3. 7. 2020: https://www.kbv. de/media/sp/Honorarbericht_Quartal_2_2018.pdf, S. 3, 79 (zuletzt abgerufen am 30. 9. 2020); Ergebnisse des Zentralinstituts für kassenärztliche Versorgung (Zi) v. 3. 8. 2017: Hiernach lag der durchschnittliche Jahresüberschuss eines Praxisinhabers im Jahre 2015 bei 160.820 Euro (Netto-Einkommen i.H.v. 80.295  Euro), s. https://www.zi.de / cms / presse/2017/03-august-2017/ (zuletzt abgerufen am 30. 9. 2020). 1149 Vgl. Rixen, MedR 2018, 667; s. a. Steiner, FS Deutsch, S. 635, 639. 1150 Versorgungsbericht der KV Baden-Württemberg, Die ambulante medizinische Versorgung 2019, S. 7, 9; vgl. zum Anstieg der angestellten Ärzte und zum Rückgang der niedergelassenen Ärzte, Ärztestatistik v. 31. 12. 2018, S. 7, 33, online abrufbar unter: https:// www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/Statistik2018/ Stat18AbbTab.pdf (zuletzt abgerufen am 30. 9. 2020); v. Stillfried, DÄ 2017, A-245; s. a. Bärdorf, Doktor Beitzens letzte Tage, FAZ v. 30. 12. 2018, Nr. 52, S. 17; zu den Vorteilen einer Anstellung s. Steinhilper, MedR 2018, 639. 1151 Ebenso Rixen, MedR 2018, 667 ff. 1146

196

4. Kap.: Möglichkeiten abseits des Vertragsarztrechts

(5) Auflösung der Kollisionslage? Auf Grundlage der mit der Eingliederung in das Versorgungssystem einhergehenden Vorteile kann die Kollisionslage der hier in Rede stehenden Verfassungsgüter nicht ohne Weiteres aufgelöst werden. Angesichts der Tatsache, dass der Großteil der Ärzte auf die Zulassung als Vertragsarzt angewiesen ist, um eine auskömmliche Praxis betreiben zu können, gewinnt die Ausgestaltung der ärztlichen Interessenwahrungsmöglichkeiten sogar an Gewicht. Da Vertragsärzte zum Tätigwerden innerhalb des Systems „gezwungen“ sind, muss im Gegenzug sichergestellt sein, dass ihre „grundrechtliche Freiheit auch möglich bleibt“.1152 Mit der Ausgestaltung der vertragsärztlichen Tätigkeit als Monopolberuf trifft den Gesetzgeber eine Garantenstellung dahingehend, das Grundrecht der Vertragsärzte auf die freie Berufsausübung zu gewährleisten.1153 Hierzu zählt auch die Möglichkeit, die eigenen Interessen in ausreichendem Umfang wahren zu können, um nicht zu einem fremdgesteuerten Akteur des Systems zu mutieren.1154 Allerdings stehen der Berufsfreiheit mit der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung sowie der Funktionsfähigkeit und Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems Gemeinwohlgüter von großem Gewicht gegenüber.1155 Der Sicherung der finanziellen Stabilität des Systems ist der Gesetzgeber sogar besonders verpflichtet.1156 Diese Gemeinwohlgüter lassen die hier festgestellten Beschränkungen der ärztlichen Berufsfreiheit vergleichsweise gering erscheinen und vermögen diese angesichts der „unendlichen“ Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers auf dem Gebiet der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftsordnung1157 grundsätzlich zu rechtfertigen.1158 Vor diesem Hintergrund ist der Ausschluss streikähnlicher „Kampfmaßnahmen“ durch die abschließende Ausgestaltung der Interessenwahrungsmöglichkeiten im Vertragsarztrecht den Ärzten zuzumuten. Sie können ihre Interessen – zwar nur, aber immerhin in einem stetig enger werdenden gesetzlichen Rahmen – über die Kooperationsstrukturen einbringen und auch durchsetzen. Dass ihnen die zielgerichtete Durchsetzung ihrer Interessen durch die Konfliktlösungsmechanismen erschwert wird und ihnen keine mit einem Streik vergleichbaren, einseitigen Durchsetzungsmöglichkeiten zustehen, hat die Ärzteschaft zum Schutze derart hoher 1152

Hufen, MedR 1996, 394, 397. Hufen, MedR 1996, 394, 397; Wimmer, Sind „streikende“ Kassenärzte Rechtsbrecher? FAZ v. 22. 1. 2003, Nr. 18, S. 8; Becker / Meeßen / Neueder / Schlegelmilch / Schön / Vilaclara, VSSR 2011, 323, 342. 1154 Diese Befürchtung äußert auch Hillgruber, Fremdbestimmung des Arztes durch Politik und Gesetzgeber, Ärztliche Freiheit und Berufsethos, S. 155, 175. 1155 Vgl. Steiner, MedR 2003, 1, 6. 1156 S. oben Fn. 291. 1157 S. nur Hufen, NJW 2014, 14, 26; vgl. m. w. N. Fn. 302. 1158 Ähnlich Preis, MedR 2010, 139, 146, nach dem das BVerfG dem Ziel eines funktionierenden Gesundheitssystems alle anderen verfassungsrechtlich geschützten Interessen unterordnet. 1153

C. Streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ 

197

Gemeinwohlgüter folglich hinzunehmen. Der sich aus dem Gesamtzusammenhang der Regelungen des Vertragsarztrechts ergebende Ausschluss streikähnlicher „Kampfmaßnahmen“ kann daher nach der aktuellen Konzeption noch als gerechtfertigter Eingriff in die Berufsfreiheit der Vertragsärzte qualifiziert werden.1159 (6) Anzeichen für eine Verschiebung des Systemrahmens Dieses Ergebnis wirft allerdings die Frage auf, ob Vertragsärzten auf lange Sicht eine ihre Freiheitsrechte wahrende Perspektive innerhalb des Systems erhalten bleiben kann. Denn werden Beschränkungen der vertragsärztlichen Berufsfreiheit auch künftig mit den gleichen „Passepartout-Argumenten“1160 gerechtfertigt, „ist die Berufsfreiheit bis auf Weiteres keine effektive Gewährleistung, sondern ein ‚zahnloses‘ Versprechen“.1161 Ob sich die Bedingungen innerhalb des Systems bereits weiter zulasten der Vertragsärzte verschoben haben, sodass nicht mehr von einem ausgewogenen Verhältnis zwischen der Berufsfreiheit der Vertragsärzte und den kollidierenden höherrangigen Gemeinwohlgütern ausgegangen werden kann, hätte jüngst das BVerfG entscheiden können.1162 Anzeichen für eine Verschiebung dieses Verhältnisses sind jedenfalls vorhanden: Allen voran führt die zunehmende Dichte an Regulierungen im Vertragsarztrecht dazu, dass die gestalterischen Befugnisse der gemeinsamen Selbstverwaltung eingeengt und den Vertragsparteien, Freiräume zur Interessenwahrung genommen werden. Das gesteigerte Bedürfnis im Sozialversicherungsrecht, speziell im Vertragsarztrecht, nach gesetzlichen Anpassungen1163 darf allerdings nicht als Vorwand für eine stetige Aushöhlung der ärztlichen Interessenwahrungsmöglichkeiten im System dienen. Verschiebungen des aktuellen Systemrahmens deuten sich auch durch die Weiterentwicklung neuer, innovativer Versorgungsformen an. Die Etablierung selektivvertraglicher Optionen schreitet zwar aufgrund bestehender Anerkennungs- und Umsetzungsprobleme nur zögerlich voran. Dort, wo sie zum Versorgungsangebot zählen, wirken sie sich jedoch auf die elementaren Strukturelemente des Systems aus, wie den Sicherstellungsauftrag der KVen oder das Vergütungssystem.1164 Mit dem fortschreitenden Ausbau eines neben dem Kollektivvertragssystem be-

1159

So auch BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 138 ff., 147. Diese Bezeichnung verwendet Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, S. 318. 1161 Rixen, MedR 2018, 667, 675. 1162 Die Verfassungsbeschwerde des Stuttgarter Vertragsarztes wurde aber nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG Nichtannahmebeschl. v. 24. 10. 2019 – 1 BvR 887/17, juris. 1163 So auch SRH / Ebsen / Wallrabenstein, § 15 Rn. 24; Gründe hierfür sind die sich ändernden Lebensumstände der Bevölkerung sowie der medizinische und technische Fortschritt, Schnapp / Wigge / Schnapp, HB des Vertragsarztrechts, § 1 Rn. 66. 1164 S. o. 2.  Kap. B. III. 3.  1160

198

4. Kap.: Möglichkeiten abseits des Vertragsarztrechts

stehenden Versorgungsangebots werden sich die bisherigen Strukturen zwangsläufig verändern. Zuletzt hat auch die Rechtsprechung zu einem nicht unerheblichen Teil dazu beigetragen, dass sich der Rahmen des Systems bereits zu Lasten der Berufsfreiheit der Vertragsärzte verschoben hat. Mit einer „stereotypen“,1165 „geradezu inflationären und pauschalen“1166 Herangehensweise rechtfertigten die höchsten Gerichte in den vergangenen Jahren Eingriffe in die Berufsfreiheit durch Regelungen des Vertragsarztrechts zum Schutze der finanziellen Stabilität und der Funktionsfähigkeit des Systems.1167 Diese systemstabilisierenden Tendenzen der Rechtsprechung führen auf lange Sicht dazu, dass die Eingriffe in die vertragsärztliche Tätigkeit beständig dichter werden, der Berufsfreiheit der Ärzte bei der Ausgestaltung des Vertragsarztrechts immer weniger Beachtung geschenkt wird und sich Art. 12 Abs. 1 GG immer mehr als stumpfes Schwert für die Vertragsärzte erweist.1168 „Vertragsärzte haben [daher] regelmäßig keinen Erfolg mit der Rüge […], ihre Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG sei durch staatliche Regelungen des Gesundheitswesens verletzt worden.“1169 Da sie bei der Einbringung und Durchsetzung ihrer Interessen über die kollektivvertraglichen Kooperationsinstrumente an Grenzen stoßen, die nachträglichen Rechtsschutzmöglichkeiten nur bedingt erfolgversprechend sind und öffentlichkeitswirksame Maßnahmen sich nur zur allgemeinen Einflussnahme eignen, ist die zunehmende Entwertung der Berufsfreiheit der Vertragsärzte umso gravierender. Eine Anpassung des Systemrahmens erscheint daher geboten, damit Vertragsärzten für die Ausübung ihrer Tätigkeit innerhalb des in sich geschlossenen Vertragsarztsystems auch langfristig eine freiheitswahrende Perspektive erhalten bleibt.1170 Hierfür spricht auch, dass das Gesundheitssystem maßgeblich auf die Leistungserbringung durch freiberufliche Ärzte setzt. Deshalb ist es nahezu para 1165 Sodan / Sodan, Krankenversicherungsrecht, § 2 Rn. 84; Joussen, GuP 2016, 1, 6; als „gebetsmühlenartig“ bezeichnend Hillgruber, Fremdbestimmung des Arztes durch Politik und Gesetzgeber, Ärztliche Freiheit und Berufsethos, S. 155, 171. 1166 Hufen, NJW 1994, 2913, 2918; ders., NJW 2004, 14 ff. 1167 S. bspw. BVerfG Beschl. v. 31. 3. 1998 – 1 BvR 2167/93, NJW 1998, 1776 f.; BVerfG Beschl. v. 28. 7. 1999  – 1 BvR 1056/99, NJW 1999, 2730; BVerfG, Beschl. v. 20. 3. 2001  – 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172, 194; Rixen, MedR 2018, 667, 668; Boecken, Markt und Regulierung 2003, S. 139, 157; Hufen, NJW 2014, 14. 1168 Joussen, GuP 2016, 1, 6; HStR / Axer, § 95 Rn.  31; Schnapp / Wigge / Schnapp / Nolden, HB des Vertragsarztrechts, § 4 Rn. 78; Preis, MedR 2010, 139, 145; Rixen, MedR 2018, 667. 1169 Ausdrücklich Joussen, GuP 2016, 1, 6; s. a. Hufen, Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, S. 27, 43; Preis, MedR 2010, 139, 144 f. 1170 Vgl. Kluth, Ärztliche Berufs- und Gewissensfreiheit im Rahmen eines ökonomisch gesteuerten Gesundheitswesens, Ärztliche Freiheit und Berufsethos, S. 127, 143; ähnlich auch Steiner, FS Deutsch, S. 635, 645, der Maßnahmen zur Deregulierung fordert; ein Umdenken und Umsteuern, dass durch das entschlossene Auftreten der Ärzteschaft angestoßen werden muss, fordert Hillgruber, Fremdbestimmung des Arztes durch Politik und Gesetzgeber, Ärztliche Freiheit und Berufsethos, S. 155, 175.

C. Streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ 

199

dox, dass Gesetzgeber und Rechtsprechung unter dem Vorwand des Systemerhalts die Berufsfreiheit der Vertragsärzte weiter aushöhlen.1171 Sie tragen dazu bei, diese zu fremdgesteuerten Akteuren des Systems zu degradieren.1172 Hinzu kommt der aktuelle Trend unter jungen Ärzten, der Selbstständigkeit als Vertragsarzt eine Anstellung vorzuziehen, der das System ebenfalls vor neue Herausforderungen stellt.1173 Das BSG macht es sich daher zu leicht, wenn es die verfassungsrechtliche Überprüfung des systemimmanenten Ausschlusses von „Kampfmaßnahmen“ mit den üblichen Argumenten pauschal bejaht und sich hierbei der faktischen Zwangslage der Vertragsärzte verschließt. Vielmehr hätte es überprüfen müssen, ob der Gesetzgeber mit der aktuellen Ausgestaltung des Vertragsarztrechts seiner angesichts der monopolartigen Ausgestaltung des Systems bestehenden Garantenstellung für die Berufsfreiheit der Leistungserbringer1174 ausreichend nachgekommen ist. Bei Zweifeln hätte es diese Frage nach Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG vorlegen müssen. Voraussetzung hierfür wäre allerdings gewesen, dass das BSG erkennt, dass über die Kooperationsinstrumente des Vertragsarztrechts eine Berücksichtigung der ärztlichen Interessen nicht in jedem Fall gewährleistet ist.

IV. Lösungsansätze Ohne eine Nachjustierung des aktuellen Systems gestaltet sich der Ausschluss von „Kampfmaßnahmen“ der Vertragsärzte durch die Konzeption des Vertragsarztrechts als schmale Gratwanderung an der Grenze zu einem ungerechtfertigten Eingriff in die vertragsärztliche Berufsfreiheit. Angesichts des stetigen Wandels und Anpassungsdrucks im Gesundheitssystem droht sich der status quo der vertragsärztlichen Interessenwahrungsmöglichkeiten schnell zum Nachteil der Ärzteschaft zu verändern. Ein systemimmanentes Verbot von „Kampfmaßnahmen“ lässt sich daher nur dann aufrechterhalten, wenn dieser Entwicklung Einhalt geboten wird. Zunächst könnte über die Einräumung weiterer Interessenwahrungsmöglichkeiten nachgedacht werden. Insbesondere bei den Vergütungsvereinbarungen sind die Einflussmöglichkeiten der Vertragsärzte limitiert.1175 Vereinzelt wird vorgeschlagen, den Vertragsärzten das Recht einzuräumen, vorbereitend oder begleitend zu den Honorarverhandlungen ihre Position auch nachdrücklich, also durch den

1171 Vgl. Preis, MedR 2010, 139, 145, der im Zusammenhang mit § 95b SGB V sein Unverständnis über die Herangehensweise des Gesetzgebers äußert. 1172 Hillgruber, Fremdbestimmung des Arztes durch Politik und Gesetzgeber, Ärztliche Freiheit und Berufsethos, S. 155, 175. 1173 S. Fn. 1150. 1174 S. o. Fn. 1153. 1175 S. o. 3.  Kap. B. I. 3. c).

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4. Kap.: Möglichkeiten abseits des Vertragsarztrechts

Einsatz geeigneter Druckmittel, zu vertreten.1176 Hiergegen spricht aber, dass die Druckausübung im Vertragsarztrecht gerade nicht zur Erzielung einer besseren Vergütung geeignet ist. Die Festsetzung des ärztlichen Honorars folgt anderen Mechanismen als die Lohnvereinbarungen im arbeitsrechtlichen Tarifvertragssystem.1177 Sie ergibt sich aus dem Zusammenspiel gesetzlicher Vorgaben, untergesetzlicher Vereinbarungen über die Gesamtvergütung und Satzungsregelungen über die Honorarverteilung.1178 Die Erfolgsaussichten einer Einflussnahme durch „Streik“ auf die Vergütung sind angesichts dessen äußerst gering.1179 Anknüpfungspunkte für eine Nachbesserung bieten hingegen die vergütungsrechtlichen Strukturen selbst. Bei den Vergütungsvereinbarungen streben Ärzte und Krankenkassen jeweils nach einer bestmöglichen Berücksichtigung der eigenen Interessenstandpunkte. Da die Dichte an gesetzlichen und untergesetzlichen Vorgaben für die Vereinbarung der Gesamtvergütung bereits besonders hoch und der Gestaltungsspielraum der Vertragsparteien entsprechend gering ist, würde eine zunehmende gesetzliche Verengung dieser Freiräume dem Einigungsprozess der Vertragsparteien jede Qualität eines kontroversen Interessenausgleichs nehmen. Aus diesem Grund sind die durch den Gesetzgeber veranlassten Regionalisierungs- und Flexibilisierungstendenzen der Vergütungsstrukturen zu begrüßen, da sie den Vertragsparteien autonome Ausgestaltungsbefugnisse verschaffen. Mit diesem Ansatz werden neue Freiräume „kollektiven Aushandelns“ realisiert, die die Vertragsparteien zur Wahrung ihrer Interessenstandpunkte ausschöpfen können.1180 Soweit die bestehenden Vergütungsstrukturen des Kollektivvertragssystems Potential für eine derartige „Rückgewinnung“ von autonomen Gestaltungsspielräumen bieten, sollte der Gesetzgeber dies nutzen, um die Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen langfristig zu stärken. Dies gilt umso mehr, als die Vereinbarung der Vergütung durch Kollektivverträge zu den zentralen, friedensstiftenden Errungenschaften der einstigen Auseinandersetzungen zwischen Ärzten und Krankenkassen zählt. Dies trifft gleichfalls auf die gemeinsame Zusammenarbeit in den paritätischen Ausschüssen zu. Auch hier sind empfindliche Interessen beider Parteien involviert, sodass im Rahmen der vorzunehmenden Abwägungs-, Untersuchungs- und Interpretationsvorgänge Möglichkeiten zur Wahrung und zum Ausgleich der widerstreitenden Interessen verbleiben müssen. Mit der Einführung einer Abweichungsbefugnis in § 99 Abs. 1 S. 3 SGB V zur Berücksichtigung regionaler Besonderheiten hat der Gesetzgeber bspw. zur Erweiterung des gestalterischen Freiraums der Beteiligten in den Landesausschüssen beitragen können. Eine gegenläufige Entwick 1176

So der Vorschlag von Sodan / Schaks, VSSR 2014, 89, 112. Vgl. BVerfG Beschl. v. 31. 10. 1984 – 1 BvR 35, 356, 794/82, BVerfGE 68, 193, 220 f.; BVerfG Beschl. v. 20. 3. 2001 – 1 BvR 491/96, BVerfGE 103, 172, 185 f. 1178 Boecken, Markt und Regulierung 2003, S. 139, 147. 1179 Vgl. Burkiczak, NZS 2017, 536, 537; Isensee, VSSR 1995, 321, 331 f.; dies räumt auch das BSG ein, Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 141. 1180 S. o. 3.  Kap. B. I. 3. c) aa), bb). 1177

C. Streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ 

201

lung würde nicht nur die Möglichkeiten der Interessenwahrung limitieren, sondern gleichzeitig Entscheidungsbefugnisse verstärkt auf einige wenige Vertreter auf Bundesebene auslagern.1181 Vorgaben für die vertragsärztliche Versorgung würden den regionalen Partner dann verstärkt „von oben“ oktroyiert, was Unzufriedenheit in der Ärzteschaft und zu Akzeptanzproblemen bei der Interessenvertretung führen könnte. Auch wenn es sich bei allen KBV-Organen um durch die Ärzteschaft legitimierte Organe handelt, lässt sich aus tatsächlicher Perspektive eine gewisse Distanz zwischen den obersten Entscheidungsträgern auf Bundesebene und der breiten Basis der Ärzteschaft nicht verneinen.1182 Um bei der Interessenvertretung die Einbringung ärztlichen Sachverstands gewährleisten zu können und damit die Akzeptanz bei den Ärzten zu erhöhen, könnte eine verbindliche Vorgabe über Qualifikationsanforderungen der Ärztevertreter in den gemeinsamen Ausschüssen beitragen. Als Mindeststandard müsste, wie im Zulassungs- und Beschwerdeausschuss bereits üblich, eine ausschließliche Besetzung mit Nichtärzten als unzulässig gelten.1183 Abseits des etablierten Kollektivvertragssystems könnte der weitere Ausbau neuer Versorgungsformen und damit die Flexibilisierung der Vertragsbeziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen der Ärzteschaft „echte“ Vertragsautonomie verleihen.1184 Vertragsärzten kann dadurch ihre unternehmerische Freiheit ein Stück weit zurückgegeben werden, da sie mit den Krankenkassen eine autonome Vereinbarung über Inhalt, Qualität und Preis der Leistungserbringung treffen können. In der Konsequenz können sie mit zusätzlichen, festen Einnahmen kalkulieren und sind nicht mehr ausschließlich auf die abstrakte Punktwertvergütung ihrer KV angewiesen.1185 Für die Leistungserbringer eröffnen sich aus den heute bestehenden Vertragsmodellen bereits eine Vielzahl an Chancen, insbesondere neue Gewinnund Vergütungschancen.1186 Eine Beseitigung der aktuellen Umsetzungshemmnisse könnte die selektiven Vertragsmodelle zu einer echten wettbewerblichen Option in Ergänzung zum Kollektivvertragssystem aufwerten,1187 die sich sodann durch ihre Marktfähigkeit unter Beweis stellen müssen. Es besteht Potential für eine Nachbesserung der Strukturen, mit der die ärztlichen Interessenwahrungsmöglichkeiten im System ausgebaut werden können und einer weiteren Beschränkung derselben Einhalt geboten werden kann. Eine derartige Fort- und Weiterentwicklung steht indes vor zwei systemimmanente Schwierigkeiten: Erstens wird die Tätigkeit freiberuflicher Ärzte immer gesetz 1181 Vgl. zur damaligen Befugnis des Bewertungsausschusses zur Anpassung des Behandlungsbedarfes 3.  Kap. B. I. 3. b) bb). 1182 Vgl. zur Länge der Legitimationsketten 3. Kap. C. II. 1183 S. hierzu 3. Kap. C. I. 2. a) bb), cc), II. 1184 Vgl. Schnapp / Wigge / Knieps / Müller, HB des Vertragsarztrechts, § 11 Rn. 1, 74. 1185 Vgl. Wigge / Harney, MedR 2008, 139, 143 f. 1186 Schnapp / Wigge / Knieps / Müller, HB des Vertragsarztrechts, § 11 Rn. 74. 1187 Zu den Umsetzungshemmnissen s. 2. Kap. B. III. 3.

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4. Kap.: Möglichkeiten abseits des Vertragsarztrechts

geberischen Regulierungen und Anpassungen unterliegen, da die Institutionalisierung und Ausdifferenzierung des Arztberufes angesichts seiner zentralen gesellschaftlichen Bedeutung nicht primär oder letztverantwortlich der Privatautonomie des Einzelnen oder berufsständischen Gruppen überlassen werden kann.1188 Zweitens wird auch eine „Rückgewinnung“ autonomer Ausgestaltungsbefugnisse nicht vermeiden können, dass ein korporatistisches System wie das Vertragsarztrecht Typsierungen vornehmen muss, worunter die individuelle Lage einzelner Vertragsärzte leidet.

1188

Pitschas, FS 40 Jahre Sozialgerichtsbarkeit in Rheinland- Pfalz, S. 217, 222.

5. Kapitel

Zusammenfassung der Ergebnisse  Die Arbeit hat die kollektiven und individuellen Möglichkeiten der Vertragsärzte zur Wahrung ihrer Interessen aufgezeigt. Nach der Konzeption des Vertragsarztrechts verfügen Ärzte und Krankenkassen grundsätzlich über die gleichen Möglichkeiten zur Einbringung und Durchsetzung ihrer divergierenden Interessen. Der Gesetzgeber hat sich dazu entschlossen, die ambulante ärztliche Versorgung der Versichertengemeinschaft der unmittelbaren Staatstätigkeit zu entziehen und der gemeinsamen Selbstverwaltung der Beteiligten zu überlassen. Seine Überlegung, dass staatliche Regelung und Zwang niemals so fruchtbare Ergebnisse zeitigen würden wie die Selbstverantwortung der Beteiligten, hat sich bewahrheitet, sodass sich auf Grundlage der kooperativen Zusammenarbeit der vormaligen Konfliktparteien ein wirkungsvolles Modell zur Gewährung einer umfassenden Gesundheitsversorgung durchsetzen konnte.1189 Systemstrukturen wie die des Gesundheitssystems sind jedoch angesichts zahlreicher gesellschaftlicher und sozio-ökonomischer Implikationen sowie des medizinisch-technischen Fortschritts nicht starr, sondern unterliegen einem ständigen Anpassungs- und Entwicklungsprozess. Dies spiegelt sich in den letzten Jahren in einer zunehmenden Regulierung durch den Gesetzgeber wider, der hiermit den konfligierenden Interessen im System Rechnung zu tragen versucht. Hierbei sehen sich Vertragsärzte immer wieder mit neuen Beschränkungen ihrer Berufsfreiheit konfrontiert, zumal ihre Position mit den gewichtigen Gemeinwohlgütern der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung und der Funktionsfähigkeit und Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems konfligiert.1190 Die Vertragsärzte haben als Hauptakteure des Systems ein wesentliches Interesse daran, eine für sie günstige Position im System sicherzustellen, weshalb sie die ihren Beruf prägenden Bedingungen mit ausgestalten und beeinflussen wollen. Hierfür stehen ihnen die Kooperationsinstrumente – die Kollektivvertragsvereinbarungen, die Zusammenarbeit in paritätisch besetzten Ausschüssen sowie die Schiedsinstanzen – zur Verfügung.1191 Anders als in den frühen Anfängen des Kassenarztrechts sind Vertragsärzte nunmehr darauf beschränkt, ihre Interessen gegenüber den Krankenkassen auf kooperativem Wege und nicht durch einseitige, streikähnliche „Kampfmaßnahmen“ durchzusetzen. 1189

S. oben 1. Kap. und 3. Kap. B. S. 4.  Kap. C. III. 2. b) aa). 1191 S. 2. Kap. B. 2. b); 3. Kap. B. I., II., III. 1190

204

5. Kap.: Zusammenfassung der Ergebnisse  

Dies ergibt sich aus der gesetzlichen Konzeption des Vertragsarztrechts, das als in sich geschlossenes System auf die Herbeiführung eines Interessenausgleichs zwischen Ärzten und Krankenkassen ausgerichtet ist. Die Möglichkeiten der ärztlichen Interessenwahrung wurden hiermit abschließend geregelt. Zwar enthält das einfachgesetzliche Fachrecht kein ausdrückliches Verbot streikähnlicher „Kampfmaßnahmen“, jedoch lässt sich aus dem vertragsärztlichen Pflichtenprogramm die Unzulässigkeit eines solchen Verhaltens ableiten. Mit Praxisschließungen zum Zwecke der Druckausübung verstoßen Vertragsärzte insbesondere gegen ihre Präsenzpflicht aus § 24 Abs. 1 Ärzte-ZV sowie ihre Verpflichtungen aus dem Sicherstellungauftrag gem. §§ 70 Abs. 1, 72 Abs. 1, 75 Abs. 1 SGB V.1192 Dies bestätigte das BSG in der Grundsatzentscheidung vom 30. 11. 2016 mit der Annahme eines systemimmanentes Streikverbot. Es stützt seine Begründung im Kern auf die Feststellung, dass die Konzeption des Vertragsarztrechts auf einen Interessenausgleich zwischen Ärzten und Krankenkassen ausgerichtet ist und die ärztlichen Interessen hierbei in ausreichendem Umfang Berücksichtigung finden. Vertragsärzte bedürften zur Durchsetzung ihrer legitimen Interessen daher keine streikähnlichen „Kampfmaßnahmen“.1193 Damit geht das BSG in seiner Urteilsbegründung jedoch von zweifelhaften Prämissen aus: Die Arbeit konnte aufzeigen, dass Vertragsärzte über die Kooperationsinstrumente des Systems zwar grundsätzlich ihre Interessen einbringen können, sie hierbei aber zunehmend Beschränkungen erfahren. Eine zielgerichtete Durchsetzung ihrer Belange ist aufgrund der vorgesehenen Konfliktlösungsmechanismen im Vertrags- und Ausschusswesen nicht möglich. Diese sind zum Zwecke der Funktionsfähigkeit der vertragsärztlichen Versorgung primär auf die Herbeiführung einer Entscheidung ausgerichtet. Die gleichmäßige Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen tritt hinter diesem Zweck zurück. Darüber hinaus sind die Möglichkeiten der individuellen Interessenwahrung im Wege des nachträglichen Rechtsschutzes wenig erfolgversprechend, sodass die Berücksichtigung der ärztlichen Interessen im Rahmen der kollektivvertraglichen Strukturen an Bedeutung gewinnt.1194 Hierneben können Vertragsärzte unter Berufung auf ihre Rechte aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 GG zwar ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verleihen, aber keine konkreten systemischen Anpassungen erzwingen.1195 Als geeignetes Mittel zur individuellen Interessenwahrung kann sich hingegen der Austritt aus dem System erweisen, allerdings nur, insoweit sich eine Tätigkeit in einer Privatpraxis auch aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten anbietet.1196

1192

S. 4.  Kap. C. II. 2. BSG Urt. v. 30. 11. 2016 – B 6 KA 38/15 R, BSGE 122, 112, 120, 147; s. a. 4. Kap. C. II. 3. 1194 S. 3. Kap. B. I., II., III., D. 1195 S. 4. Kap. B. I., II. 1196 S. o. 4. Kap. A. 1193

5. Kap.: Zusammenfassung der Ergebnisse 

205

Über die Kooperationsinstrumente ist folglich nicht in jedem Fall die Durchsetzung und damit, anders als das BSG annimmt, in ausreichendem Umfang gewährleistet, dass die ärztlichen Interessen berücksichtigt werden.1197 Zusätzlich stehen Vertragsärzten auch keine mit einem Streik vergleichbaren Durchsetzungsmöglichkeiten zur Verfügung. Gleichwohl hält das aufgestellte systemimmanente Streikverbot einer verfassungsrechtlichen Überprüfung stand. Ein Eingriff in die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG scheidet bereits deshalb aus, weil Vertragsärzten als typische Freiberufler diese Freiheitsverbürgung nicht zusteht. Die mit dem Ausschluss streikähnlicher „Kampfmaßnahmen“ einhergehende Beeinträchtigung der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG ist zum Schutze gewichtiger Gemeinwohlgüter, der Funktionsfähigkeit und Finanzierbarkeit des Systems sowie der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung, gerechtfertigt. Dies gilt, obwohl sich Vertragsärzte aufgrund der monopolartigen Ausgestaltung des öffentlichrechtlichen Gesundheitssystems in einer Zwangslage befinden und damit faktisch eine schwächere Position als die Krankenkassen einnehmen. Der Ausschluss streikähnlicher „Kampfmaßnahmen“ kann der Ärzteschaft unter der aktuellen Konzeption des Vertragsarztrechts noch zugemutet werden. Allerdings deuten sich bereits Veränderungen innerhalb des Systems an, die sich auf lange Sicht zu Lasten der vertragsärztlichen Berufsfreiheit auswirken können. Um den status quo der ärztlichen Interessenwahrungsmöglichkeiten daher aufrechtzuerhalten, sollte der Gesetzgeber mindestens neue Freiräume zur Interessenwahrung realisieren, statt bestehende weiter zu verengen. Nur so kann den Vertragsärzten innerhalb des Systems eine freiheitswahrende Perspektive erhalten bleiben.

1197

S. o. 4.  Kap. C. II. 3.

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Sachwortverzeichnis Arztwahl, freie  24, 34 Aufsichtsbefugnisse  96 f., 123 f., 128 f., 141 Ausschüsse, paritätisch besetzte  26 f., 31, 47, 87 ff., 147 ff., 155 ff., 200 Beanstandungsrecht  80 ff., 96 ff., 141 Bedarfsplanung siehe Landesausschüsse Bedarfsplanungsrichtlinie 122 Behandlungsbedarf – Morbiditätsstruktur  81 ff. Berliner Abkommen  26 ff., 87 f., 125, 133 Berufsfreiheit  61 ff, 182 ff., 198, 203 Berufungsausschuss – Beurteilungs- und Ermessensspielräume ​ 111, 114 f. – Konfliktlösungsmechanismus  113, 115 – Stimmenmehrheit 113 – Vertreter  110 f. Beschwerdeausschuss – Beurteilungs- und Ermessensspielraum ​ 118 – Konfliktlösungsmechanismus  118 f. – Stimmenmehrheit 118 – Vertreter  116 f. Besondere Versorgung siehe Selektivverträge Beurteilungs- und Ermessensspielraum siehe Berufungsausschuss; siehe Beschwerdeausschuss; siehe Prüfungsstellen; siehe auch Schiedsamt; siehe Zulassungsausschuss Bewertungsausschuss – einstimmig / Einstimmigkeits- 91 f., 98, 104 – Gestaltungsspielraum  92 ff., 102 ff. – Vertreter 90 Boykott  25, 163 f., 165 ff. Bundesmantelvertrag-Ärzte – Ausgestaltungsbefugnisse  71, 73 ff., 202 – (nicht) vorgeschriebener Vertragsbestandteil  72 ff., 86 Cavete-Tafeln  25, 165 f.

Chipkartenboykott  63, 167 Demonstration  161 ff., 191 Disziplinarbefugnis  31, 46 – Disziplinarmittel  52 f. Einflussmöglichkeiten  21, 156, 158, 175 Erweiterter Bewertungsausschuss – Konfliktlösungsmechanismus  96, 104 – Mehrheitsentscheidung  98 ff. – Vertreter  98 ff. Erwerbsbedingungen, Einflussnahme  75 ff., 185 ff. Finanzielle Stabilität  60 f., 187, 196 Finanzierbarkeit der GKV  187 ff. Gemeinsame Selbstverwaltung  27 f., 31 ff., 36, 65, 68, 71 f. Gemeinsamer Bundesausschuss – Gestaltungsspielraum  127 ff. – Stimmenmehrheit 127 – Vertreter  125 f. Generalstreik 26 Gesamtvertrag – Ausgestaltungsbefugnisse  71, 78 ff., 200, 202 – Gesamtvergütung  41 f., 50, 58, 76, 78 ff., 94 ff., 140 ff. – (nicht) vorgeschriebener Vertragsbestand­ teil  78 ff., 86 Gestaltungsspielraum siehe (erweiterter) Bewertungsausschuss; siehe Gemeinsamer Bundesausschuss; siehe Kollektivverträge; siehe Landesausschuss; siehe Schiedsamt Gewerkschaftsähnliche Funktion  44, 47 Gremien, paritätisch besetzte siehe Ausschüsse Hartmannbund  24 ff., 167 Honorar  23 ff., 34 f., 40, 80 ff., 85, 200

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– Honorarbescheid  84 f., 101 f., 142 – Honorarverteilung  50, 81, 94

Öffentlichkeitsarbeit  33, 163 f. Orientierungswert  81 f., 92 ff.

Individualvertrag  29, 67 Interessenausgleich – Instrumente  20, 64, 65 ff., 155 ff. – Interesseneinbringung und -durchsetzung ​ 66 ff., 190 f. – Interessengegensätze  35 f., 64, 173 – Interessenwahrung, ärztliche 61 ff., 66, 156, 158 ff. Interessenwahrung  siehe Interesseneinbringung und -durchsetzung

Pflichten, vertragsärztliche siehe Vertragsarzt Pflichtverletzung  53, 170 f. Präsenzpflicht  51 f., 170 f. Praxisschließung  161 f., 171 Prüfungsstellen – Besetzung  116, 120 – Beurteilungs- und Ermessensspielraum ​ 118 – Vertreter 120 – Wirtschaftlichkeitsprüfung  117 ff.

Kampfmaßnahmen  34 f., 63 f., 164 ff., 189 ff. f., 44  ff., Kassenärztliche Vereinigung 30  144 ff. – verbandsautonome Legitimation  145 ff. – Wahlakte  145 ff., 154 ff., Kollektiver Zulassungsverzicht 35, 171  175 Kollektivverträge – Gestaltungsspielraum  71 ff., 79 ff. – Normsetzungsverträge 69 – Obligatorischer Vertragsbestandteil 69, 84 f. – Vertragsparteien 68 Kompromiss  87, 91, 100, 113, 124, 132, 135, 143, 155 f., 191 Konfliktlösungsmechanismus  96, 104, 107, 113, 115, 118 f., 124, 132 f., 138, 144, 156, 174, 190 f. Konzeption des Vertragsarztrechts siehe Vertragsarztrecht Kooperationsinstrumente siehe Interessenausgleich, Instrumente Landesausschuss – Bedarfsplanung  121 ff. – Gestaltungsspielraum  122 ff. – Konfliktlösungsmechanismus 124 – Stimmenmehrheit 122 – Vertreter  121 f. Leistungserbringer siehe Vertragsarzt Machtverhältnis  67, 131, 151, 188 Meinungskundgabe  159 ff., 167, 191 Mitgliedschaftsverhältnis  37, 42 ff., 50, 52

Rechtskontrolle siehe Beanstandungsrecht Rechtswahrnehmungsauftrag  44, 47 f., 145 ff. Regelleistungsvolumen 85 Sachleistungsprinzip  37 f. Schiedsamt – Beurteilungs-  und Gestaltungsspielraum ​ 138 ff. – schiedsähnlicher Entscheidungsmechanis­ mus  100, 124, 132 – SchiedsamtsVO  134, 137 f. – Stimmenmehrheit  137 f., 140 ff. – Vertreter  135 f. Selektivverträge  54 ff. – Bereinigung der Gesamtvergütung  58 – Besondere Versorgung  56 Sicherstellungsauftrag  38 f., 45 f., 50, 58 f., 76, 164, 171 ff., 193 Streik – Ärztestreik  165 ff., 171 f. – politischer Streik  165 ff., 179 – streikähnliche Durchsetzungsmöglichkei­ ten  186 ff., 189 ff., 205 – Streikverbot  36, 162, 170 ff., 185 – Warnstreik  35, 166, 179 Strukturelemente des Vertragsarztrechts siehe Vertragsarztrecht Verhandlungsspielraum  80 ff. Verschaffungspflicht  23, 37 Vertragsarzt – freiberuflich 40 ff., 159, 166 ff., 185 f., 194 f. – Hauptakteuer des Systems  37, 60, 65

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– Leistungserbringer  24, 38 ff., 43 ff. – Pflichten  50 ff., 174 ff. – (Gesamt)vergütung 39 ff., 50, 57 ff., 63, 78 ff., 91 ff., 140 ff., 172, 180, 184 f., 194 f. Vertragsarztrecht – Konzeption  35, 63 ff., 173 ff. – Strukturelemente des Vertragsarztrechts ​ 35, 169 ff. Verweis siehe Disziplinarbefugnis Wahlakte siehe Kassenärztliche Vereinigungen Weisungsfreiheit  siehe bei den jeweiligen Ausschüssen sowie bei Kollektivverträgen unter Vertreter

Wirtschaftlichkeitsprüfung siehe Prüfungsstellen Zulassung – Entziehung  53, 112 – Ruhen 52 – Verzicht  158 ff. – Zulassungsbescheid 39 Zulassungsausschuss – Beurteilungs-  und Ermessensspielraum ​ 107 ff., 115 – Konfliktlösungsmechanismus  107, 115 – Stimmenmehrheit 106 – Vertreter  105 f. Zusammenwirkungsgebot 65