Migration und Baukultur: Transformation des Bauens durch individuelle und kollektive Einwanderung 9783035618419, 9783035619218

Ever since antiquity, migration has driven change to the art and techniques of building. Triggers can be war, political

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German Pages 287 [288] Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Einführung
Architekturen des Überlebens und des Ankommens? Von Heimatverlust, Transitexistenz und neuen Lebensräumen
Völkerwanderung und Baukultur Die Vandalen in Nordafrika
Migration von Architekturelementen, Bauformen und Baustilen
Migration von Architekturelementen, Bauformen und Baustilen
Das Odeion des Perikles in Athen als Kopie des persischen Königszeltes? Eine Aktualisierung und Re-Evaluation des archäologischen Befundes
West-to-East Migration and the Dynamics of Celtic Monasteries in a European Context
Einsamkeit Das architektonische Ideal der Kartäuserarchitektur im Wandel seines Umfelds
»Dass der Herr uns gebe einen Nagel an seiner heiligen Stätte« Die Anfänge der Siedlung der württembergischen Tempelgesellschaft bei Haifa
Unsettled Modernities Armenian Refugee Settlements in French Mandate Beirut (1923–43)
Typologie einer Remigrationsarchitektur Arbeitsmigration und ihr Einfluss auf die Vorstellung vom Eigenheim türkisch-deutscher Bauherren
Migration von Einzelpersönlichkeiten als Experten des Bauens
Conrad Schick Leben und Werk eines deutschen Architekten im Jerusalem des 19. Jahrhunderts
Johann August Roebling Anything Goes – Brücken in der Neuen Welt
Guastavino Tile Vaults The Long Migration of a Building Technique
T. J. Gueritte und Karl W. Mautner, oder: Wie Emigranten den Spannbeton nach Großbritannien brachten
Modernetransfer als Sinnstiftung Die »Internationale Méditerranée« als Gegenbewegung zum International Style
Migration von Technologien durch Wanderungsbewegungen ganzer Gruppen von Experten des Bauens
Migrative Bewegungen spätmittelalterlicher Steinmetze und Werkmeister
Wissens- und Technologietransfer zwischen Sachsen und Russland im 18. Jahrhundert auf dem Gebiet des Montanwesens
Europäische Wasserbau-Ingenieure im 18. und 19. Jahrhundert Wanderungen und Wissenszirkulation
Farbtafeln
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Migration und Baukultur: Transformation des Bauens durch individuelle und kollektive Einwanderung
 9783035618419, 9783035619218

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Migration und Baukultur Transformation des Bauens durch individuelle und kollektive Einwanderung

Kulturelle und technische Werte historischer Bauten Hg. von Klaus Rheidt und Werner Lorenz Band 3

Heiderose Kilper (Hg.)

Migration und Baukultur Transformation des Bauens durch individuelle und kollektive Einwanderung

Birkhäuser · Basel

Publiziert mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Graduiertenkollegs 1913 »Kulturelle und technische Werte historischer Bauten«, Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg; Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung Erkner; Archäologisches Institut der Humboldt Universität zu Berlin.

Wissenschaftlicher Beirat Dr. Bill Addis, PD Dr. Ralf Dorn, Dr. habil. Regina Göckede, Prof. Dr. Axel Klausmeier, Dr.-Ing. Karl-Eugen Kurrer, Prof. Dipl.-Ing. Heinz Nagler, Prof. Dr.-Ing. Corinna Rohn, Dr.-Ing. Peter Schneider, Dr. Alexandra Skedzuhn-Safir, Prof. Dr. Monika TrümperRitter, Dr.-Ing. Kai Wellbrock, Dr.-Ing. Volker Wetzk, Dr. Anke Wunderwald Konzept: Klaus Rheidt, Werner Lorenz, Albrecht Wiesener Lektorat: Johannes Althoff Projektkoordination, Layout und Satz: Sophia Hörmannsdorfer Covergestaltung: Jörg Denkinger Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Umschlagabbildung: Temple Colony near Haifa at the foot of Mount Carmel, Syria von Jakob Schumacher, 1877 (Ausschnitt). Quelle: Archiv der Tempelgesellschaft, Stuttgart.

Library of Congress Control Number: 2019944858 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Dieses Buch ist auch als E-Book (ISBN PDF 978-3-0356-1841-9) erschienen.

© 2019 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel Postfach 44, 4009 Basel, Schweiz Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF ∞ Printed in Germany

ISBN 978-3-0356-1921-8

987654321

www.birkhauser.com

Inhalt

Einführung Heiderose Kilper Architekturen des Überlebens und des Ankommens? Von Heimatverlust, Transitexistenz und neuen Lebensräumen Karl-Siegbert Rehberg Völkerwanderung und Baukultur. Die Vandalen in Nordafrika Philipp von Rummel

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35

Migration von Architekturelementen, Bauformen und Baustilen Griechen – Römer – Mitbürger. Auftraggeber und Bauprojekte im Kleinasien der römischen Kaiserzeit Ursula Quatember

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Das Odeion des Perikles in Athen als Kopie des persischen Königszeltes? Eine Aktualisierung und Re-Evaluation des archäologischen Befundes Ioulia Kaoura

63

West-to-East Migration and the Dynamics of Celtic Monasteries in a European Context Lynda Mulvin

77

Einsamkeit. Das architektonische Ideal der Kartäuserarchitektur im Wandel seines Umfelds Elke Nagel

89

»Dass der Herr uns gebe einen Nagel an seiner heiligen Stätte«. Die Anfänge der Siedlung der württembergischen Tempelgesellschaft bei Haifa Zofia Durda

97

Unsettled Modernities. Armenian Refugee Settlements in French Mandate Beirut (1923–43) Joseph Rustom

115

Typologie einer Remigrationsarchitektur. Arbeitsmigration und ihr Einfluss auf die Vorstellung vom Eigenheim türkisch-deutscher Bauherren Stefanie Bürkle

131

Migration von Einzelpersönlichkeiten als Experten des Bauens 147

Conrad Schick. Leben und Werk eines deutschen Architekten im Jerusalem des 19. Jahrhunderts Constanze Röhl

163

Johann August Roebling. Anything Goes – Brücken in der Neuen Welt Andreas Kahlow

183

Guastavino Tile Vaults. The Long Migration of a Building Technique Santiago Huerta

203

T. J. Gueritte und Karl W. Mautner, oder: Wie Emigranten den Spannbeton nach Großbritannien brachten Roland May

221

Modernetransfer als Sinnstiftung. Die »Internationale Méditerranée« als Gegenbewegung zum International Style Bernd Nicolai

Migration von Technologien durch Wanderungsbewegungen ganzer Gruppen von Experten des Bauens 235

Migrative Bewegungen spätmittelalterlicher Steinmetze und Werkmeister Alexandra Druzynski v. Boetticher

247

Wissens- und Technologietransfer zwischen Sachsen und Russland im 18. Jahrhundert auf dem Gebiet des Montanwesens Friedrich Naumann

259

Europäische Wasserbau-Ingenieure im 18. und 19. Jahrhundert. Wanderungen und Wissenszirkulation Christoph Bernhardt

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Farbtafeln

Einführung

Die Geschichte des Bauens zeigt, welche besondere Bedeutung den Wanderungsbewegungen von Individuen als Experten oder Bauherren, von religiösen Gemeinschaften und/oder ethnischen Bevölke­ rungs­gruppen für die Veränderung und Entwicklung von Baukunst und Bautechnik seit der Antike beizumessen ist. Neue Bauaufgaben, Angebote und Einladungen über Grenzen hinweg haben schon immer Fachleute aus anderen Regionen und Ländern angezogen. Deren temporäre oder dauerhafte Nieder­ lassung selbst führte wiederum zu neuen Bauformen und Veränderungen der Baupraxis in der Ankunfts­ gesellschaft. Immer wieder kam es dabei zu kulturellen Überprägungen, Konfrontationen, Transformationsund Verdrängungs­prozessen, deren Ergebnisse die Wandlungsfähigkeit einer Gesellschaft verdeutlichen. Baukultur ist demnach etwas Dynamisches, Neues in sich Aufnehmendes, gleichzeitig aber auch ortsgebunden, von Material­verfügbarkeit, topographischen und klimatischen Randbedingungen abhängig. Neue Impulse und das Beharren auf lokal Bewährtem kennzeichnen gleichermaßen das Bauen als kulturelle Praxis. Von diesen Überlegungen ausgehend, widmete das DFG-Graduiertenkolleg »Kulturelle und technische Werte historischer Bauten« der Brandenburgischen Technischen Universität (BTU) Cottbus-Senftenberg sein zweites Querschnittskolloquium1 den Auswirkungen von Migrationsbewegungen auf Architektur und Städtebau sowie auf Bauwerke der technischen Infrastruktur von der Antike bis zur Gegenwart. An Beispielen aus dem gesamten Spektrum der Baugeschichte sollten die Mechanismen untersucht werden, die zur Transformation des Bauens in der Folge individueller und kollektiver Einwanderung, aber auch Eroberung und Unterwerfung geführt haben. Gleichzeitig sollte diskutiert werden, welche Phänomene sich im Kontext baukultureller Vermischung als besonders wirkmächtig und welche sich als besonders widerstandsfähig erwiesen haben, und welche neuen Ausdrucksweisen in Stil, Bautechnik und Funktion aus der Begegnung autochthoner und importierter Praktiken sowie unterschiedlicher kultureller Wertvorstellungen entstanden sind. Auch dieses Kolloquium wurde von vier Wissenschaftseinrichtungen gemeinsam ausgerichtet: der BTU Cottbus-Senftenberg, dem Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung IRS in Erkner, der Humboldt-Universität zu Berlin2 sowie dem Berliner Exzellenzcluster TOPOI3. Das DFG-Graduierten­kolleg steht somit für die Kooperation in der Doktorandenausbildung zwischen universitärer und außeruniversitärer Forschung wie für die Kooperation zwischen Brandenburger und Berliner Wissenschaftseinrichtungen. Mit seiner thematischen Ausrichtung leistet das Querschnittskolloquium einen Beitrag zur Erkundung der Leitfrage des DFG-Graduiertenkollegs, wie das Bauen in seiner kulturellen und technischen Bedeutsamkeit für unterschiedliche Zeithorizonte und Kulturkreise eingeordnet werden kann. In einer multi-disziplinären Ausrichtung haben sich Forschungsperspektiven und -methodiken von Fachdisziplinen aus den Geistes-, Sozial- und Ingenieurwissenschaften präsentiert, wie es auch im DFG-Graduiertenkolleg gelebt wird. Vertreten sind die Bau- und Bautechnikgeschichte, die Denkmalpflege und Kunstgeschichte an der BTU Cottbus-Senftenberg, die Archäologie am Winckelmann-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin sowie die Historische Urbanistik und Planungsgeschichte an der Historischen Forschungsstelle des Leibniz-Instituts für Raumbezogene Sozialforschung IRS.

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Einführung

Die Einzelbeiträge des Sammelbandes stehen für diese unterschiedlichen Fachdisziplinen und thematisieren ein breites Spektrum an Gebautem: öffentliche und private Einzelgebäude (Beiträge von v. Rummel, Quatember, Kaoura und Bürkle); religiöse Gebäude und Gebäudeensemble (Mulvin, Druzynski v. Boetticher und Nagel); Siedlungsbau (Durda, Rustom und Röhl); Verkehrsbauten bzw. Bauten der technischen Infrastruktur (Kahlow, Huerta, May, Naumann und Bernhardt). Thematisiert werden die Migration von Experten, seien dies Einzelpersönlichkeiten oder Gruppen, religiös motivierte Migration, Fluchtmigration wie auch Remigration. Chronologisch können die Beiträge vier Zeithorizonten zugeordnet werden: der Spätphase der griechischen und römischen Antike (v. Rummel, Quatember und Kaoura); der Periode vom (Hoch-)Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert (Mulvin, Nagel, Druzynski v. Boetticher und Naumann); dem 19. Jahrhundert, geprägt von Auswanderungen und Industrialisierung (Durda, Röhl, Kahlow, Huerta, May und Bernhardt); dem 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Rustom, Bürkle und Nicolai). In einer Gesamtschau auf die Beiträge zeigt sich, dass analytisch drei grundlegende Formen von Migration unterschieden werden können, die in den Ankunftsorten und -ländern ihre Wirkung auf Baukultur entfaltet haben bzw. entfalten: erstens die Migration von Architekturelementen, Bauformen und Baustilen im Zusammenhang mit der Migration von Auftraggebern, von ethnischen und/oder religiösen Gruppen; zweitens die Migration von Einzelpersönlichkeiten als Experten des Bauens; drittens die Migration von Technologien im Kontext der Wanderungsbewegungen ganzer Gruppen von Experten des Bauens. Eröffnet wurde das Querschnittskolloquium am Abend des 23. November 2016 in den Räumen der Humboldt-Universität zu Berlin mit einem Abendvortrag von Karl-Siegbert Rehberg, seit Sommersemester 2015 Seniorprofessor und Inhaber der Forschungsprofessur für Soziologische Theorie, Theoriegeschichte und Kultursoziologie an der Technischen Universität Dresden. Mit seinem Beitrag Architekturen des Überlebens und des Ankommens? Von Heimatverlust, Transitexistenz und neuen Lebensräumen eröffnen wir auch den vorliegenden Sammelband. Aus einer soziologischen Perspektive heraus setzt er das Gebaute (= architektonische Formen und Funktionen für Migranten in den Ankunftsund Aufnahme­ländern) und das Sozio-Kulturelle (= Großherzigkeit und Abwehrängste als Ambivalenzen in Wahrnehmung, Verhalten und Handeln der Mitglieder in den Ankunftsgesellschaften) immer wieder in Beziehung zueinander. Ausgehend von der Denkfigur des Homo Migrans versteht er Migration als ein universales Phänomen der Menschheitsgeschichte, das wie Fortpflanzung, Geburt, Krankheit und Tod zur Conditio Humana gehöre, und belegt dies mit prägnanten historischen Beispielen. In seinen typologischen Überlegungen unterscheidet er zwischen Anwerbungsarchitektur, Sakralbauten als Identifikations­zentren, transponierten Heimatarchitekturen und Notarchitekturen, auch dies illustriert mit historischen und aktuellen Beispielen aus dem In- und Ausland. Breiten Raum nehmen Befunde zu aktuellen »Architektur-Antworten« ein, mit denen Stadtplaner und Architekten vor allem seit 2015 versuchen, kurzfristig und im Sinne einer »primären Bewältigung von Notlagen« für eine hohe Anzahl von Flüchtlingen Unterkünfte und Wohnraum zu schaffen. Mit einer Rezeption der Konzeption der »Arrival Cities« des kanadischen Publizisten Doug Saunders, dem intellektuellen Inspirator des GermaniaPavillons auf der 15. Architekturbiennale in Venedig, endet der Beitrag. Eine weitere Sonderstellung im Sammelband nimmt der Beitrag Völkerwanderung und Baukultur. Die Vandalen in Nordafrika von Philipp von Rummel ein. Auch wenn es sich bei der »Völkerwanderung« um kollektive Einwanderung bzw. die Niederlassung auswärtiger Kriegergruppen auf dem Territorium

Einführung

des sich auflösenden Römischen Reiches handelt, ist dieses historische Ereignis keiner der drei Formen von Migration zuzuordnen, die wir oben analytisch unterschieden haben, auch nicht der Migration von Architekturelementen, Bauformen und Baustilen. Im Fokus des Beitrags steht die Frage, ob nach der Eroberung von Karthago, der Hauptstadt des römischen Afrika, die Vandalen in der dortigen Baukultur Spuren hinterlassen haben. Philipp von Rummel zeigt anhand von Ausgrabungsfunden, dass, bis auf Ausnahmen einzelner öffentlicher Gebäude im karthagischen Odeonsviertel, kein einziger Zerstörungsbefund sicher mit den Vandalen in Verbindung gebracht werden könne. Für Nordafrika insgesamt wird festgehalten, dass bisher noch keine Bauten gefunden worden seien, die dort fremd wirkten und Bezüge zu den Auswanderungsgebieten der Vandalen im heutigen Polen oder an der Donau aufwiesen. Die Assoziation »zerstörungswütige Menschen«, die wir gemeinhin mit dem germanischen Stamm der Vandalen verbinden, erweist sich bei genauerem Hinsehen als Fiktion. Mit diesem Vorurteil wird im Beitrag Philipp von Rummels gründlich aufgeräumt.

Migration von Architekturelementen, Bauformen und Baustilen Ursula Quatember untersucht in ihrem Beitrag Griechen – Römer – Mitbürger. Auftraggeber und Bauprojekte im Kleinasien der römischen Kaiserzeit, inwiefern sich mögliche Einflüsse Roms auf die private Bautätigkeit von Amtsträgern nachweisen lassen, die nach Jahren hoher Mobilität und nach Abschluss ihrer beruflichen Karriere in ihre kleinasiatische Heimat zurückgekehrt sind. In ihrem Beitrag Das Odeion des Perikles in Athen als Kopie des persischen Königszeltes? Eine Aktualisierung und Re-Evaluation des archäologischen Befundes geht Ioulia Kaoura der Frage nach, welche Elemente dieses Bauwerk am Südabhang der Akropolis als Beleg für die Migration persischer Architekturelemente nach Athen gedeutet werden könnten. Die Frage wird an drei baulichen Elementen des Odeion erörtert, am Polystylon, an der Terrassenmauer sowie an der Gestaltung der Südseite des Odeion. Eingebettet in ein umfassendes Verständnis keltisch-irischer Klosterkultur, das neben der Baukultur auch Schriften, Kultgegenstände und Kunstwerke der bildlichen Darstellung umfasste, beschreibt Lynda Mulvin in ihrem Beitrag West-toEast Migration and the Dynamics of Celtic Monasteries in a European Context die Wege und Wirkungen irischer Mission in der ausgehenden Spätantike und im frühen Mittelalter. Besondere Aufmerksamkeit schenkt sie den iro-schottischen Klostergründungen in Deutschland und Österreich. Elke Nagel setzt sich in ihrem Beitrag Einsamkeit. Das architektonische Ideal der Karthäuserarchitektur im Wandel seines Umfelds mit der Frage auseinander, wie es den Karthäusern als Bauherren gelungen ist, ihrem architektonischen Ideal treu zu bleiben, auch bei sich ändernden topographischen, siedlungsstrukturellen und kulturellen Umgebungen, vom hochalpinen Standort bis hin zur innerstädtischen Lage in Lyon. Sie betrachtet dabei einen Zeitraum von über 500 Jahren, vom Ende des 11. Jhs. bis zur Mitte des 17. Jhs. Der Beitrag »Dass der Herr uns gebe einen Nagel an seiner heiligen Stätte«. Die Anfänge der württembergischen Tempelgesellschaft bei Haifa von Zofia Durda befasst sich mit der Baugeschichte der Siedlungen der württembergischen Tempelgesellschaft, die 1868 ins osmanische Palästina eingewandert ist. Die Gebäude der Siedlung in Haifa werden auf der Basis von Grundrissen vier Hauptformen zugeordnet, die teils in arabischer und teils in deutscher Bautradition verortet werden können. Gegenstand des Beitrags Unsettled Modernities. Armenian Refugee Settlements in French Mandate Beirut (1923–43) von Joseph Rustom sind die Siedlungen armenischer Flüchtlinge im Beirut der 1920er und 1930 Jahre. Geplant als Identifikationsräume, sollten sie den verlorenen Traditionen, Fähigkeiten und Lebensweisen der Geflüchteten und Entwurzelten wieder Geltung verschaffen. Näher beschrieben werden zwei

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Einführung

Siedlungstypen, die einmal von libanesischen Städtebauern und Architekten nach den Grundsätzen eines modernen Wohnungsbaus errichtet worden sind, dann von armenischen Flüchtlingen selbst und in der Zuständigkeit der Patriotic Unions, einer Vereinigung innerhalb der armenischen Exil-Gemeinschaft. Der siebte und letzte Beitrag, der sich mit der Migration von Architekturelementen, Bauformen und Baustilen beschäftigt, ist der Beitrag Typologie einer Remigrationsarchitektur. Arbeitsmigration und ihr Einfluss auf die Vorstellung vom Eigenheim türkisch-deutscher Bauherren von Stefanie Bürkle. Hier geht es um die Eigenart von Eigenheimen türkischer Remigranten, die einen Großteil ihrer Berufsbiographie in (West-)Deutschland verbracht haben. In den Beschreibungen der von Stefanie Bürkle identifizierten Haustypen wird gezeigt, wie Eindrücke vom Leben, von Architektur und eigenem Wohnen in Deutschland, Vorstellungen über das künftige Leben in der Türkei wie auch Erinnerungen aus der eigenen Kindheit ihren jeweiligen Ausdruck finden.

Migration von Einzelpersönlichkeiten als Experten des Bauens In dem Beitrag Conrad Schick. Leben und Werk eines deutschen Architekten im Jerusalem des 19. Jahrhunderts macht uns Constanze Röhl mit einer vielseitig begabten wie auch tätigen Architekten­persönlichkeit bekannt. Sie schildert Conrad Schick (1822–1901) als Einwanderer, der es Mitte des 19. Jhs. in einem für ihn fremden sozio-kulturellen Umfeld vermocht hat, autochthone und europäische Stilelemente sowie historische Reminiszenzen miteinander in Einklang zu bringen und dabei die Akzeptanz der ansässigen wie der eingewanderten deutschen Bevölkerung zu finden. Ein Experte auf dem Gebiet der Verkehrsinfrastruktur war der deutsche Ingenieur Johann August Röbling (1806–1869). Andreas Kahlow stellt in seinem Beitrag Johann August Roebling. Anything Goes – Brücken in der Neuen Welt dar, wie es dem Brückenbau-Experten im zweiten Drittel des 19. Jhs. gelang, in den USA beruflich Fuß zu fassen, welche Rückschläge und Erfolge er erfahren hat, und wie er sich schließlich auf Grundlage einer von ihm entwickelten Drahtseiltechnik als Spezialist für den Bau von Hängebrücken profilieren konnte. Mit dem Erfindungsgeist und unternehmerischen Wirken des spanischen Architekten und Baumeisters Rafael Guastavino (1842–1908) war und ist die Erfolgsgeschichte des Sichtziegelgewölbes verbunden, auch bekannt als Katalanisches oder Guastavinisches Gewölbe. Santiago Huerta zeichnet in seinem Beitrag Guastavino Tile Vaults. The Long Migration of a Building Technique dessen Erfolgsgeschichte in den USA nach, eingebettet in die Darstellung der über tausendjährigen Entwicklungsgeschichte des Lehmziegelgewölbes als Migrationsgeschichte einer Bautechnik. Roland May zeigt in seinem Beitrag T. J. Gueritte und Karl W. Mautner, oder: Wie Emigranten den Spannbeton nach Großbritannien brachten, wie – trotz ihrer ganz unterschiedlichen Lebenswege – der Franzose Alfred Tony Jules Guéritte (1875–1964) und der Deutsche Karl Walter Mautner (1881–1949) in ihrer Wahlheimat Großbritannien in bedeutenden Baufirmen rasch mit führenden Funktionen betraut wurden und jeder auf seine Art im britischen Bauwesen als Innovationsagent tätig war. Einen ganz eigenen Akzent setzt Bernd Nicolai mit seinem Beitrag Modernetransfer als Sinnstiftung. Die »Internationale Méditerranée« als Gegenbewegung zum International Style. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem Diskurs um eine Méditerranée, der sich um 1930 in Auseinandersetzung mit Normativität, Funktionalismus und Formalismus des Neuen Bauens der 1920er Jahre herausgebildet hat. Bernd Nicolai zeigt, dass dieser Diskurs in dem Sinne als »alternative Moderne« verstanden werden kann, dass seine Protagonisten einen Beitrag zu einer modernen Architektur unter Einbeziehung des Genius Loci regionaler Baukultur und -traditionen leisten wollten. Das Jahr 1933 bewertet er dabei als »historische Zäsur«. Er schreibt, dass viele mitteleuropäische

Einführung

Architekten nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ihre Heimatländer Deutschland, Österreich und die Tschechoslowakei verlassen mussten und zu Flüchtlingen bzw. Immigranten in der Türkei, im Britischen Mandatsgebiet von Palästina, in Frankreich, Spanien, Italien und Ägypten wurden. Die neuen Eindrücke, die Emigration und Exil mit sich brachten, so Nicolai, hätten zu einer veränderten Sichtweise auf die Architektur des Neuen Bauens beigetragen. Im Kontext der Migration von Einzelpersönlichkeiten als Experten des Bauens rückt er damit die Bedeutung der Ankunftsorte und -länder für deren Denken und Schaffen in den Vordergrund.

Migration von Technologien durch Wanderungsbewegungen ganzer Gruppen von Experten des Bauens Am Beispiel des Dom-Baus in Prag, Bern und Regensburg, der Wanderungsbewegungen herausragender Werkmeister-Dynastien sowie am Beispiel von Skizzenbüchern, die bei diesen Wanderungen entstanden sind, rekonstruiert Alexandra Druzynski v. Boetticher in ihrem Beitrag Migrative Bewegungen spätmittelalterlicher Steinmetze und Werkmeister die Spätgotik als einen gesamteuropäischen Architekturstil, der sich aus einem überregionalen, gemeinsamen Fundus an Formen, Details und bautechnischen Lösungen zusammensetzt, die stets neu kombiniert und weiterentwickelt worden sind. Einem besonderen Kapitel in der Geschichte des europäischen Technologietransfers widmet sich Friedrich Naumann in seinem Beitrag Wissens- und Technologietransfer zwischen Sachsen und Russland im 18. Jahrhundert auf dem Gebiet des Montanwesens. Beleuchtet werden Aspekte der grenzüberschreitenden Migration von Experten unter den Bedingungen des Absolutismus. Gezeigt wird, dass es dabei nicht nur um die (befristete) Anwerbung sächsischer Fachkräfte gegangen ist, deren Expertise bei der geologischen Erkundung von Lagerstätten, bei Abbau und Förderung sowie Aufbereitung und Verhüttung mineralischer Rohstoffe genutzt werden sollte. Naumann zeigt auch, dass die russischen Zaren die sächsische Expertise gezielt für den Aufbau von Bergschulen und die Institutionalisierung einer leistungsfähigen Bergverwaltung genutzt haben. Mit dem Aufbau einer Montanindustrie waren letztendlich auch die Voraussetzungen für die Eisenkonstruktionen und damit u. a. deren systematische Anwendung beim Bau der Dächer der Eremitage in St. Petersburg geschaffen. Am Beispiel der Berufsgruppe der Wasserbau-Ingenieure interessiert sich Christoph Bernhardt in seinem Beitrag Europäische Wasserbau-Ingenieure im 18. und 19. Jahrhundert. Wanderungen und Wissenszirkulation für den Wandel im überregionalen Transfer von baukulturellem Wissen. Er analysiert diesen Transfer als einen Prozess, der einerseits vom Aufbau einzelstaatlicher Infrastrukturverwaltungen als einem wichtigen Teil der inneren Staatsbildung sowie andererseits von internationalen Debatten über hydraulisch-mathematische Fragen geprägt war. Am Beispiel ausgewählter Protagonisten skizziert er deren berufliche Karrieren und zeigt, wie sich die Mobilitätsmuster dieser Spezialisten in diesem Zeitraum gewandelt haben. Ein Befund lautet, dass im Laufe des 19. Jhs. die Mobilität der Wasserbau-Ingenieure ab- und die Bedeutung medialer Wissensvermittlung in Form von Handbüchern, Fachzeitschriften etc. zugenommen haben. Betrachtet man die – nahezu überall positiven – Auswirkungen der in diesem Band beschriebenen unterschiedlichen Migrationsformen auf das Bauen, so rückt, um auf den einleitenden Beitrag von KarlSiegbert Rehberg zurückzukommen, der Homo Migrans tatsächlich als Impulsgeber für die Baukultur in den Vordergrund. Die Migration wird so zum natürlichen Motor des Fortschritts, und dies für die aus der Fremde Ankommenden gleichermaßen wie für die ansässigen Gesellschaften.

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Einführung

Abschließend verbleibt mir, meinen Kollegen Klaus Rheidt und Werner Lorenz, den Herausgebern der Schriftenreihe Kulturelle und technische Werte historischer Bauten, für das Vertrauen zu danken, das sie mir als ehemaligem Mitglied der Lenkungsgruppe des DFG-Graduiertenkollegs entgegengebracht haben, indem sie mir die Herausgabe des Sammelbandes Migration und Baukultur. Transformation des Bauens durch individuelle und kollektive Einwanderung und damit die wissenschaftliche Begleitung der Beiträge anvertraut haben. Ich danke den Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge sowie den Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirats für ihre hilfreichen Kommentare und Hinweise. Mein besonders herzlicher Dank geht an Albrecht Wiesener, der seit Anbeginn die Verantwortung für die wissenschaftliche Koordination der DFG-Graduiertenkollegs trägt, und Sophia Hörmannsdorfer, die mir im November 2016 in Vertretung von Albrecht Wiesener bei der Ausrichtung des Querschnitts­ kolloquiums am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung IRS in Erkner als Ansprechpartnerin von Seiten der BTU Cottbus-Senftenberg hilfreich zur Seite stand. Sophia Hörmannsdorfer schulterte auch die Hauptlast bei der technischen Fertigstellung dieses Sammelbandes. Sie war mir eine immer aufmerksame und zuverlässige Begleiterin, die nicht nur für das Layout der Beiträge verantwortlich war, sondern mich auch wirkungsvoll dabei unterstützte, dem Vorhaben »Sammelband«, das unter den wissenschaftlichen Publikationsformaten immer wieder aufs Neue eine spezielle Herausforderung darstellt, eine stabile Statik zu verleihen. Erkner/Cottbus, im März 2019 Heiderose Kilper

1 Das Querschnittskolloquium Migration und Baukultur von der Antike bis zur Gegenwart fand vom 23. bis 25. November 2016 an der Humboldt-Universität zu Berlin und am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner statt. Das 1. Querschnittskolloquium setzte sich mit dem Thema Groß Bauen. Großbaustellen als kulturgeschichtliches Phänomen auseinander. Es wurde vom 28. bis 30. Oktober 2015 an der Humboldt-Universität zu

Berlin und der BTU Cottbus-Senftenberg ausgerichtet; vgl. K. Rheidt / W. Lorenz: Groß Bauen. Großbaustellen als kulturgeschichtliches Phänomen (Basel 2018). 2 Diese drei Einrichtungen sind die verantwortlichen Träger des DFG-Graduiertenkollegs. 3 Excellence Cluster TOPOI – The Formation and Transformation of Space and Knowledge in Ancient Civilizations.

Architekturen des Überlebens und des Ankommens? Von Heimatverlust, Transitexistenz und neuen Lebensräumen

Karl-Siegbert Rehberg

Humanität in Zeiten der Flüchtlingskrise Überall wird heutzutage von Flüchtlingsströmen, -wellen oder -lawinen gesprochen, jeweils schon sprachlich Schreckensbilder der Unabschließbar­ keit und Unbewältigbarkeit mitliefernd. Durch den seit 2011 wütenden Bürgerkrieg in Syrien, die bewaffneten Auseinandersetzungen in Afghanistan oder den ›saudisch-iranischen‹ Stell­ vertreter­ krieg im Jemen sowie die durch Spannungs- und (von den reichen Ländern mitverursachten) Armutslagen auf dem afrikanischen Kontinent stiegen in den Jahren 2015 und 2016 die Zahl von Menschen, die in Europa Zuflucht suchten, sprunghaft an. Sie haben von der temporären »Willkommens­kultur« bis zu rechtspopulistischen Hass-Reaktionen vielfältige Resonanzen gefunden. Großherzigkeit und Abwehr­ängste machen die Ambivalenzen der Situation deutlich. Beides wurde in Deutschland ausgelöst durch die »Öffnung der Grenzen« am 4. September 2015. Damals ging es zuerst nur um die Aufnahme der am Budapester Ostbahnhof festgehaltenen Flüchtlinge, deren Ruf »Germany help us« durch das ermutigende Wort der Bundeskanzlerin Angela Merkel »Wir schaffen das«1 nicht ungehört blieb. Die »geleistete Solidarität und zupackende Hilfsbereitschaft«2 am Münchener Hauptbahnhof, welche die bayerische Sozialministerin Emilia Müller (CSU) lobte, war ein Beispiel für die oftmals freundliche Begrüßung von Flüchtlingen. Das führte anfangs auch international zu Bewunderung. Es war dies das Jahr größter Hilfsaktionen (die sich an vielen Orten bis heute stabilisiert haben) und zugleich

erschreckter, v. a. auch: erschreckender Reaktionen auf die Masse der aus Notgebieten kommenden Menschen. Die Kanzlerin hatte allerdings versäumt, den Unterschied zwischen der kurzfristigen Bewältigung dieser Notsituation und einem langfristigen Konzept für die Aufnahme von Asyl­ suchenden und anderen Migranten deutlich zu machen. Die Bewältigung der (seit 1990 größten) Flüchtlings­massen wurde zu einem innen- und außenpolitischen Streitfall. Sie trug zu einer verschärften gesellschaftlichen Polarisierung bei, die nicht auf einzelne Nationalstaaten oder auch die Europäische Union begrenzt ist, sich also selbst als ein globaler Ereigniszusammenhang erweist: Die Vereinten Nationen sehen bereits heute die Lebens­grundlage von 1,5 Milliarden Menschen bedroht. Aber trotz der zum Teil apokalyptischen Visionen von Flüchtlingen, die in die reichsten Länder strömen, leben heute nur zwei bis vier Prozent der Weltbevölkerung nicht in ihren Herkunftsländern, und die meisten Emigranten bleiben in Nachbar­staaten innerhalb der Krisenbzw. Armuts­regionen.3 Alle Klimaforscher gehen davon aus, dass die Gründe für kollektive Wande­ rungen sich durch die erwartbare Klima­katastro­ phe verschärfen werden. Das Schicksal des jüdischen Volkes, das diskriminiert und nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahre 70 n. Chr. schon seit den Frühzeiten der römischen Staatsreligion und ganz besonders dann wiederum nach seiner Vertreibung von der iberischen Halbinsel im Jahre 1492 bis hin zum Völkermord durch Nazideutschland

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Karl-Siegbert Rehberg

vielfältig verfolgt wurde, macht bewusst, wie ein Zwang zur Wanderung durch zentrale Topoi einer essentialistischen (religiösen oder rassistischen) Diskriminierung beantwortet wurde. In ihrem Werk »Dialektik der Aufklärung«, dem »schwärzesten Buch«4 der Kritischen Theorie, erkannten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in dem durch den christlichen Antijudaismus tief im Bewusstsein der europäischen Gesellschaften verankerten Antisemitismus den Prototyp aller modernen Formen der negativen Stereotypisierung von Gruppen.5

Wanderung als universales Phänomen Die neuesten Entwicklungen der Migration sind nicht zu verstehen ohne die Ent-Ortung durch erzwungene Mobilität, v. a. auch in den Aufnahmeländern selbst, zumal große Migrations­ prozesse nichts Neues sind: »Homo Migrans« bestimmte schon die weltweite Verbreitung der frühesten Hominiden, so dass Wanderungen ebenso zur »Conditio Humana« gehören wie Fortpflanzung, Geburt, Krankheit und Tod.6 Universal waren immer schon Migrationen zur Eroberung und Erschließung unbesiedelter Land­ zonen, die Flucht aus gefährlichen Situationen und Lebens­räumen oder die Suche nach gesicherten und ertragreichen Territorien. Vor diesem Hintergrund ist die – unter heutigen Bedingungen ver­fassungs­rechtlich durchaus geforderte – Unterscheidung von Kriegsund »Wirtschafts«-Flüchtlingen von nur relativer Bedeutung. Das gilt allerdings nicht für die tatsächliche Bewältigung der mit beidem verbundenen aktuellen Probleme. Um kollektive Mobilität analytisch beurteilen zu können, muss man typologisch etwa das Nomaden­tum unterscheiden von kollektiven Auswanderungen oder Siedlungs­ bewegungen um des Überlebens der Gruppe willen, diese wiederum von den das bloße Überleben ermöglichen sollenden Massen­auswanderungen, sodann verschiedene Varianten von Versklavung,

Ver­schleppung oder Vertreibung. In der »christlich-jüdischen Tradition«, wie manche Politiker etwas geschichts­vergessen zu sagen pflegen, in dieser die europäische Kultur wesentlich mitbedingenden Verklammerung zweier mono­theistischer Religionen also, perpetuierte sich die Geschichte einer Zwangsmigration durch Unterdrückung und Verschleppung der Israeliten, sei es nach Ägypten oder nach Babylon, und schließlich die Zerstreuung in die Diaspora. Gerade die Konstitution des »auserwählten Volk Gottes« war erst durch die fast zwei Generationen dauernde Flucht aus Ägypten in das gelobte Land Kanaan möglich geworden. Daran erinnert mit der Sukka auch eine räumliche Konstruktion, jene aus Natur­materialien gefertigte Laubhütte, die an dem entsprechenden hohen jüdischen Festtag errichtet wird. In vielen Gesellschaften gab und gibt es Armutsmigranten, aber auch Formen einer an Institutionen und Ordnungen orientierten temporären Mobilität, etwa von Kriegern und dem mit einer herrschaftlichen Landnahme verbundenen Personal, sodann auch von Handwerksgesellen, Missionaren, Pilgern oder Bettlern, schließlich auch Wanderarbeitern, die es bis heute überall auf der Welt gibt, etwa in den arbeitskraftverschlingenden und schnell expandierenden Megacities der »Schwellenländer«, oder auch den Sonderfall einer Abenteurermigration im »Goldrausch«. Ebenso gab es in allen Hochkulturen eine Beweglichkeit privilegierter Schichten, etwa von Kaufleuten oder Beamten (nicht erst in den uns vertrauten transnationalen Institutionen) und schließlich das, was unter der heutigen kommunikativen und verkehrstechnischen Verdichtung von dem deutsch-britischen Soziologen Lord Dahrendorf die »globale Klasse«7 genannt wurde. Dabei wird oft vergessen, dass die Mehrheit der Menschen trotz aller Reiselust zu begehrten Touristenzielen8 und den auch weltweit schrumpfenden Entfernungen wesentlich doch lokal lebt. Nicht zuletzt sind die populistischen Radikalisierungen auch als ein »Aufstand der Sesshaften« zu interpretieren.9

Verortung des Erinnerns oder des Vergessens?

Das 18. und 19. Jh. war ein Höhepunkt der von Europa ausgehenden Armuts- und Arbeits­ migration10, also einer zumeist durch erbärmliche Lebens­verhältnisse erzwungenen Massen­­ einwan­derung in die britischen und französischen Kolonien Nordamerikas. Dabei fanden die damaligen, v. a. aus Italien, auch aus Deutschland und Irland, massenhaft kommenden »Wirtschafts­ flüchtlinge« ganz andere Bedingungen vor, als sie solchen Migranten heute begegnen, die in etablierte Gesellschaften kommen. In der Konstitutions­ phase der sich bildenden Vereinigten Staaten von Amerika suchte man, sich – unter Einschluss des Völker­mordes an den indianischen Urein­ wohnern – eine neue Zukunft in dem schier unbegrenzt erscheinenden »New Heaven« zu erschaffen. Allerdings relativierte sich diese wirklich offene gesellschaftliche Situation bereits mit der zweiten Generation der in Amerika geborenen Einwanderer. Zwischen 1800 und 1860 bestand das amerikanische Bevölkerungswachstum nur noch zu einem Fünftel aus Einwanderern,11 die nun ihrerseits als fremd empfunden wurden, etwa als »countless hordes of Germans [who] have flowd over this year«.12 In den protestantischen Ländern, v. a. in den USA, wurden die Katholiken in ähnlicher Weise abgewertet, wie wir das heute für muslimische Flüchtlinge wieder erleben. Es ging vielen der deutschen Auswanderer, die bis ins 20. Jh. hinein die größte Migranten­gruppe ausmachten, kaum besser. Oft wurden sie zu Spekulations­objekten der Reeder (wie es ja auch im fürstlichen Menschen­ handel zur Zwangs­rekrutierung der in die überseeischen Kolonien geschickten Soldaten üblich war). Auswanderer konnten noch im 19. Jh. nach ihrer Ankunft »als eine Ware« verkauft werden, so dass Friedrich Kapp berichtete: »Die Neger, die man in Afrika stiehlt und nach Amerika schafft, werden, wenn nicht besser, so doch keinesfalls schlechter behandelt, als die deutschen Auswanderer«.13 Auch wurde die Ablehnung von Katholiken Mitte des 19. Jhs., von Juden Anfang des 20. Jhs. und von Muslimen in unserer Zeit mit immer den glei-

chen Topoi verbunden: Kinderreichtum, Faulheit und Schmutzigkeit, geheimes Expansions­streben und Unter ­werfungs­ambitionen.14 In allen diesen Fällen zeigt sich, dass Be­drohungs­gefühle zu ganz widersprüchlichen Vorurteilen führen, wie das den Juden gegenüber im National­sozialismus geschah, als sie gleichermaßen zu den Verursachern des Kapitalismus wie des Bolschewismus gemacht wurden. Das Auf und Ab von »Willkommenskultur« und angsterzeugtem Fremdenhass zeigte sich auch schon im 18. Jh.: 1709 erlebten viele »poor palatines« diesen schnellen Wechsel. Wie im Falle der bereits erwähnten Ermutigung durch Angela Merkel und der darauf zielenden Behauptung, nun habe man in allen Flüchtlingsgebieten und in ganz Afrika die Aufforderung, nach Deutschland zu kommen, gehört, verließen Tausende Menschen aus Süd-West-Deutschland, der Parole »Fort von der Heimat und in das gastfreie England!«15 folgend, ihre Höfe, weil sie von dem Gerücht gehört hatten, die britische Queen Anne vergebe freies Land in den nordamerikanischen Kolonien und bezahle sogar die Überfahrt, weil sie »den leuthen das Brod geben wolle«. 1709 kamen auf 600.000 Einwohner Londons mehr als 13.000 Deutsche. Ähnlich der heutigen Hoffnung auf die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte hatten die Whigs ein Ein­bür­ ge­rungs­gesetz durchgesetzt, das der These von Daniel Defoe folgte: »Je mehr Menschen, desto mehr Handel; je mehr Handel, desto mehr Geld; je mehr Geld, desto mehr Macht; je mehr Macht, desto stärker die Nation.«16 Die ankommenden protestantischen »Pfälzer« wurden als »ein unschuldiges, arbeitsames, friedliebendes, gesundes und erfindungsreiches Volk« begrüßt, und es gab eine überaus große Spendenbereitschaft der Briten, auch der Königin selbst, bis schließlich doch die Regierung die enormen Kosten für die Unterbringung der Anreisenden übernehmen musste. Aber bald schon sprach man von »Pfälzer Flegeln«, die als »gantz stinckend« erlebt wurden und als »ein Haufen von Vagabunden, die durchaus ihr Auskommen in ihrem Land gehabt hätten, wenn

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nicht ihre faule Veranlagung und die Kunde von unserer wohl bekannten Großzügigkeit sie von dort herausgetrieben haben würde.« Schließlich schickte man 3.000 von ihnen nach New York, wo ihnen das mitgegebene königliche Empfehlungsschreiben an den dortigen Gouvernor Robert Hunter allerdings wenig half, weil dieser ihnen das versprochene Land mit dem zynischen Hinweis verweigerte: »Hier bin ich der König«. Schließlich wurde – auch weil man den Flüchtlingen nun die Bereitschaft zu Mordanschlägen unterstellte und sie als Feinde der Königin ansah – das großzügige Einwanderungsgesetz 1712 wieder aufgehoben.17 Stereotype fanden sich auch für Migrations­ bewegungen in früheren Epochen: So wurden die Zerstörungen der römischen Hochkultur durch die Vandalen sprichwörtlich. Dass die Bewegungen großer Gruppen quer durch Europa von Akten der Gewaltsam­keit, der Plünderung und Schlimmerem begleitet gewesen sein dürften, kann man – wie für Kriegs­züge – auch hier annehmen. Interessant übrigens, dass man in der historischen Erinnerung beispielsweise von »Tartarenstürmen«, im Falle von Germanen, so auch für die immerhin den Begriff »Vandalismus« ermöglicht habenden Stämme hingegen gemütlich (auch ohne des Müllers Lust) von der »Völkerwanderung« spricht. Philipp von Rummel hat dargelegt, wie die Vandalen, die in Karthago ihr Zentrum im Süden gefunden hatten, keineswegs die römische Kultur zerstört, sie vielmehr im Rahmen ihrer dortigen Königsherrschaft weitergeführt und sogar überboten haben, ein Aspekt, der in der neueren Forschung gegenüber älteren Mythenbildungen zunehmend beachtet wird.18

Typologische Überlegungen zu architektonischen Funktionen und Formen für Migranten Es mag nützlich sein, unter dem Begriff »Flücht­ lings­architektur« oder umfassender: Migranten­ architektur heutige Lösungsvorschläge für die

vorläufige und dann auch langfristige Unter­ bringung von Migranten in ein Verhältnis zu historischen Formen gebauter Bedingungen für eine Lebens­führung der zumindest anfangs »Fremden« zu setzen; Georg Simmel definierte den Fremden als »Wandernden, der heute kommt« und, das ist entscheidend, »morgen bleibt«.19 Mit Blick auf die architektonischen Lösungen für in anderen Gesellschaften ankommende Menschen lassen sich in erster Näherung folgende Idealtypen bilden: Anwerbungsarchitekturen V. a. in fürstlichen Zeiten und zur Förderung der Wohlfahrt des eigenen Landes gab es verstärkt im frühen 17. Jh. gezielte, auch Werber einsetzende20 »Einladungen« an produktive, in ihren Lebensbedingungen jedoch bedrohte Gruppen, ganz gleich, ob die Migration in einer scharfen Diskriminierung oder gar Vertreibung begründet war oder das fürstliche Versprechen einer materiell besseren Existenz »Wirtschaftsflüchtlinge« anziehen sollte. Zumeist folgten umfassende Privilegierungen samt der Zusage von bebaubarem Land oder städtischen Wohn- und Arbeits­ orten als Antwort auf die krisenhafte Verminderung der eigenen Bevölkerung, v. a. durch den Dreißig­ jährigen Krieg oder nachfolgende kriegerische Zerstörungen. In diesem Zusammen­hang gab es großzügige Entwürfe für neue Städte, für die zum Beispiel Hanau oder Neu-Isenburg als Muster­ beispiele angeführt werden können. Ihre Anlage folgte einer (auch auf die Antike beziehbaren) raum­bezogenen Rationalität, die klare Gestaltungs­ muster vorschrieb, wie sie seit der Renaissance systematisch (auch mit Bezug auf den Festungs­ bau) erdacht worden sind.21 Hunderte von Orten beherbergten alleine Hugenotten, besonders nach der Aufhebung des Edikts von Nantes durch Ludwig XIV. im Jahre 168522; Ende des 17. Jhs. flohen etwa 250.000 französische Protestanten in die Nachbarländer, weil sie in ihrer Heimat grausam verfolgt wurden. Man kann das am Beispiel der »Quadrate­ stadt« Mannheim illustrieren, deren gitterförmiges

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inner­städtisches Straßennetz bis heute erhalten ist. Nach den Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges bemühte sich der pfälzische Kurfürst Karl I. Ludwig seit 1652 nicht nur um die Errichtung öffentlicher Bauten, sondern finanzierte auch private Ansiedlungen. Um geflohene Bürger nach der erneuten, nun durch die Truppen Ludwigs XIV. im Rahmen des Pfälzischen Erbfolgekrieges erfolgten Einäscherung der Stadt im Jahre 1689 zur Rückkehr zu bewegen und neue Zuwanderer anzuziehen, kam es unter Kurfürst Johann Wilhelm 1697 zum Wiederaufbau der an die Festung angegliederten Stadt. Der Einladung folgten (auch wegen der religiösen Toleranz und der Erlaubnis, neben der deutschen Amts­sprache auch Französisch und andere Sprachen zuzulassen) Hugenotten und Wallonen, vorwiegend Tuchmacher aus Frankreich, Handwerker und Kaufleute aus den Niederlanden und der französischen Schweiz. Die Inhomogenität ihrer Bevölkerung, v. a. durch eine vielgestaltige Mehr­konfessionalität und die besonderen Konzessionen für die Juden, beförderte nicht nur in diesem Fall ein Erblühen der Stadt. 23 Immer wirkten das Versprechen freier Religions­ausübung, hier v. a. der »wahren« reformierten Religion24, sowie die Zulassung des Französischen als Gottesdienstsprache und in vielen Teilen Deutschlands auch im Schulunterricht anziehend, wobei die Tolerierung der französischen »Zunge« möglich war, weil es sich um die Sprache der aristokratischen und dadurch auch administrativen Eliten handelte. 1717 gründeten Hugenotten Neu-Isenburg, das ihnen 1699 durch Graf Johann Philipp zu Ysenburg und Büdingen zugewiesen worden war. Das erste öffentliche Gebäude war die Kirche, 1702 folgten Marktplatz und Rathaus und zwei Jahre später die erste Isenburger Schule, in der bis in das 19. Jh. hinein Französisch die Unterrichtssprache war. Eine handwerklich und kommerziell motivierte Anwerbung von Holländern durch den »Soldatenkönig« Friedrich Wilhelm I. von Preußen führte zur Errichtung des »Holländischen Viertels« in Potsdam, wenngleich der Erfolg begrenzt war

1  Salzburger Flüchtlinge in Preußen.

und die Häuser bald auch an Einheimische vermietet wurden. In derselben Stadt findet sich auch eine andere Gastsiedlung, die Alexandrowska, ein nach dem Zaren Alexander I. benanntes, in russischer Holzbauweise gestaltetes Dörfchen, das Friedrich Wilhelm III. 1826/27 für die letzten zwölf russischen Sänger eines ehemals aus 62 Soldaten bestehenden Chores errichten ließ. Alle diese Beispiele zeigen eine gegenüber späteren Flüchtlingsschicksalen unvergleichliche Großzügigkeit. Zu den Beispielen einer Vertreibung aus religiösen Gründen zählen auch die Salzburger Protestanten, die, 1731 vom dortigen Fürstbischof vertrieben, das Angebot einer neuen Heimstatt in »Friedrich Wilhelms Land« (Abb. 1), also im Osten Preußens, fanden und zugleich die Erinnerung an die verlorene Heimat für lange Zeit pflegten.25 Beispiele für andere, über Jahrhunderte wirksame Wanderungen finden sich auch in der Umsiedlung

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der sogenannten Siebenbürger »Sachsen«, die seit dem 12. Jh. vom ungarischen König angeworben worden waren. Sie kamen weitgehend aus Gegenden westlich des Rheins und wurden später in das Osmanische Reich und schließlich in die Donaumonarchie eingegliedert. Nach der Konstitution Großrumäniens 1918/19 leben viele als Teil der »Rumäniendeutschen«. Nach dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme kam es zu einem neuen Exodus, besonders in die Bundesrepublik Deutschland. So leben heute im zentralrumänischen Malmkrog, dem noch am meisten »sächsischen« Dorf, nur noch fünfzehn Siebenbürger Familien. In den Hochzeiten ihrer Zuwanderung entwickelten sich eigene Haus- und Ortsstrukturen, die an mittelalterliche Bauformen anknüpften und sich auf konkrete Herkunftsländer nicht zurückbeziehen lassen. Schließlich wurden herrschaftsbedingt österreichische Bauformen aufgenommen. Als Besonderheit im Banat – als Folge der Rückeroberung des nur noch schwach besiedelten ungarischen Teils des Osmanischen Reiches – kam es zur Anwerbung von Kolonisten aus allen deutschen Sprachgebieten. Auch hier ging es v. a. um die territoriale Sicherung, weshalb der Siedlungsbau, aber auch der Bau von Kirchen etc. von der öffentlichen Hand finanziert wurden. 26 Damals schon wurde eine serielle Bauweise mit geradezu industriellen Typenmodellen eingesetzt, die zu einem besonders einheitlichen Siedlungs­ bild führten. »Anwerbungen« sind ein in Migrations­ prozessen vielfach beobachtbares Phänomen, aber die Umstände und Bedingungen derjenigen, die den Versprechungen folgten, sind höchst unterschiedlich. So mussten etwa in der Bundesrepublik seit den 1950er Jahren viele der »Gastarbeiter« in elenden Unterkünften wohnen, wie einer von ihnen sich 2005 in einem Interview erinnert: »Wir haben in einem Wohnheim geschlafen […] In einem Raum von der Größe eines normalen deutschen Wohnzimmers waren sechs Mann. In einem Raum von der Größe eines deutschen Kinderzimmers

waren vier Mann und in einem normalen Zimmer waren drei Mann«.27 Und – wie eine Sendereihe im WDR-Rundfunk erschreckend belegt28 – schlug etwa den »Maccaronis« ein aus Ängsten gespeister ungezügelter Hass entgegen. Erinnerungskultur stilisiert zumeist einzelne Aspekte der historischen Zustände. Wenn die fürstliche Anwerbungsarchitektur auch mit den zumindest zeitweisen Container­unterbringungen heutiger Flüchtlinge nicht vergleichbar ist, so waren doch die Probleme, welche in unseren Tagen unter dem Begriff »Integration« gebündelt erscheinen, auch damals vorhanden, ja sogar bedrückender. Ulrich Niggemann hat sich mit der organisatorischen Bewältigung der Einwanderung von Hugenotten in Deutschland und England befasst und sehr plastisch herausgearbeitet, welche Differenz es gab zwischen den Anwerbungsversprechungen und v. a. den damit verbundenen besonderen Privilegierungen der durch sie angezogenen Migrantengruppen auf der einen und den tatsächlichen Bedingungen und schwer zu bewältigenden Problemlagen auf der anderen Seite. Dabei waren die Vorkehrungen oft sehr detailliert, gab es zum Beispiel zur Anwerbung von Kolonisten oder von Handwerkern und Händlern empfohlene Routen, auf denen diese angebotenes Ackerland oder städtische Neuansiedelungen erreichen konnten. Gleichwohl wurde die Mehrheit der Hugenotten im preußischen Fall zuerst in verschiedenen Städten provisorisch untergebracht, musste Platz geschaffen werden, zuweilen durch die Vertreibung von Juden. Vielfach entstanden aber auch neue Stadtanlagen, wie etwa in Erlangen oder Kassel, wurden verfallene Häuser bewohnbar gemacht, etwa in Städten, in denen die Pest gewütet hatte. 29 Sakralbauten als Identifikationszentren Heilige oder historisch bedeutsame Bauten sind Verkörperungen von Gemeinschaften und häufig symbolisch gesteigerte Formen im städtischen Leben seit den frühen Hochkulturen, so dass auch viele Flüchtlinge in Kirchen und

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Gemeindebauten eine identitätsstiftende, jedenfalls Zusammenhalt ermöglichende Verortung des eigenen Gruppenlebens fanden. Man kann dabei an die Burgkirchen der Siebenbürger Sachsen30 denken und die Charakteristik von die Gemeinde symbolisch darstellenden und real verbindenden Bet- und Gemeindehäusern, Kirchen und Versammlungshallen, wie sie sich in den meisten Ankunftsorten von Migranten finden. Die Kirchenbauten versicherten die Ankom­ men­den nicht nur der tatsächlich garantierten Aus­übung ihres Ritus, sondern sorgten auch für eine Auslese und ein ordnungsgemäßes Leben. So wurden in Berlin die aus Frankreich Geflüchteten durch den Pfarrer der französischen Gemeinde einer strengen Prüfung unterzogen, so dass »Vagabunden und Abenteurer« keine Aufnahme fanden. An allen Aufnahme­orten war der Kern der Vergesellschaftung die Kirchengemeinde, wie man das auch für die Vereinigten Staaten von Amerika sagen kann. Um dieses Zentrum herum entwickelten sich bürgerliche Gemeinwesen mit spezifischer Verwaltung und zuweilen Rechtsprechung. In Berlin waren die reformierten Flüchtlinge der ersten Generation noch eine »Not­gemeinschaft«, die sich an eine zivilisatorisch ungewohnte Umgebung anpassen musste. Dennoch gelang langfristig auch hier die Ansiedelung von Hugenotten, v. a. wohl durch die Vergabe der bereits erwähnten Privilegien.31 Heute sind Moscheen als muslimische Sakral­ bauten keineswegs immer, jedoch häufiger Gegenstand von Konflikten. Diese sind ausgelöst auch durch die strategische Finanzierung aus Ländern, die damit bestimmte Ausprägungen des Islam sozusagen exportieren. Zwar sind die meisten muslimischen Gebetsräume unauffällig und ohne eigenen architektonischen Gestus. Demgegenüber sind es die herausragenden Bauten, insbesondere wenn sie sich von ihrem Umfeld durch eine eigene, architektonisch gesteigerte Symbolik deutlich abheben, die nicht selten als provokative Zeichen der Differenz­setzung empfunden und deshalb zum Auslöser für Konfliktverschärfungen werden. Der

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Streit um die von Gottfried und Paul Böhm entworfene Zentral­moschee in Köln (Abb. 2) ist hier ein Beispiel.32 Das schweizerische, plebiszitär geschaffene Verbot von Minaretten macht sichtbar, »was die aktuelle Empörung im Namen der Integration übersieht und der Schweizer Volks­ entscheid ans Licht gerissen hat: Mögen die verzweifelt Gutwilligen multikulturelle Harmonie beschwören und die notorisch Unwilligen eine schleichende Islamisierung an die Wand malen, die bald in eine militante umschlagen könnte – die betreffenden Bauten bezeugen tiefe Gräben.«33 Transponierte Heimatarchitekturen (›Schneckenhäuser‹) Verbunden mit den großen Auswandererwellen aus dem notleidenden Europa in die, Paradiese versprechende, Neue Welt gab es die konzeptionelle Mitnahme von Mustern heimischer Behausungen und deren Verpflanzung in eine neue Umgebung. Im Sammelband America’s Architecture Roots34 werden Beispiele solcher ethnischen ErinnerungsArchitekturen vorgestellt. Hier soll nur ein Beispiel herangezogen werden, nämlich Häuser und

2  Die sich öffnenden Kuppelschalen der von Paul Böhm und seinem Vater Gottfried entworfenen Kölner Moschee sollen lokalem Kon­spi­ra­tions­verdacht entgegenwirken.

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Kirchen von Russland-Deutschen. Diese migrierten von der Wolga nach Kansas und Nebraska, vom Schwarzen Meer nach North und South Dakota, sowie in die kanadischen Provinzen, v. a. nach Alberta und Manitoba. Sämtlich handelte es sich um ländliche Gebäude, dabei auch einfache Bethäuser. Man kann diese Form einer Verknüpfung von Herkunft und Ankunft in vielen Aussiedlergebieten des 19. Jhs. finden, wobei oft schon Stilverschmelzungen mit den in der neuen Umgebung vorgefundenen Hausformen existieren.35 Wie das auch für die meisten anderen Emigranten gilt, waren dies Bauformen einer Übergangsphase. Kaum ein halbes Jahrhundert später passte sich ihre Architektur an amerikanische Bauweisen an.36 Aber es gab auch transportable Bauten wie die »Kupferhäuser«, die als Fertighaussystem in Plattenbauweise von dem Architekten Robert Krafft und dem Ingenieur Friedrich Förster ab 1929 als Angebot für Menschen, die nach Palästina emigrierten, entwickelt worden waren. 1933 vom Reichswirtschaftsministerium für die nun zur »Flucht« gezwungenen Juden als zur »Ausreise« erlaubtes »Umzugsgut« zugelassen, wurden insgesamt ca. 100 dieser Häuser (die in Israel wie »UFOs ausgesehen haben könnten«37) exportiert. Mit einem jeweiligen Gesamtgewicht von 15.313 kg wurden sie in 34 Paketen transportiert und konnten in 24 Stunden aufgebaut werden.38 Notarchitekturen Die Anwerbungsarchitekturen wie auch die Symbolbauten mit religiöser oder politischer Bedeutung mögen in Wanderungsbewegungen wichtig gewesen sein für die Verortung der eigenen Existenz. Die extremen Notlagen von Flüchtlingen erzwingen jedoch oft zuerst einmal eine vorläufige Unterbringung und Versorgung, um ihr Überleben zu sichern. Heute gibt es in vielen Ländern Zeltstädte, in denen 2014 allein in der Türkei und in Pakistan rund 1,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen wurden. Selbst im Libanon mit seinen nur etwa 4,5 Millionen

Einwohnern fand eine Million palästinensischer Flüchtlinge Zuflucht. Bei den dauerhaft gewordenen Palästinenserlagern handelt es sich um sichtbare Zeichen der nun schon seit einem halben Jahrhundert beidseitig »gepflegten« stabilisierten Instabilität. Das größte von ihnen befindet sich mit 80.000 Bewohnern in Jordanien. Für diese trost- und aussichtslosen Notunterkünfte39 gibt es allerdings neuere serielle Konstruktionen, wie das IKEA-Haus, entwickelt von der schwedischen Designfirma »Better Shelter«, unterstützt von dem dort gegründeten, multinationalen Einrichtungskonzern in Zusammenarbeit mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. Es handelt sich dabei um zwei kompakte Flachkartons von je 80 kg Gewicht, die in vier bis acht Stunden aufgebaut werden und bis zu drei Jahre halten können. 15.000 davon wurden bisher für Flüchtlinge in Afrika, im Irak, in Afghanistan, in Mazedonien und auf den griechischen Inseln ausgeliefert.40 Ulrich Pantle erinnert auch an die RADBaracken in Holzskelettbauweise, die schon 1934 durch Führererlass für das »Deutsche Hilfswerk« als »Notwohnungshäuschen«, als modulare, vorgefertigte Bausysteme entwickelt worden waren.41 Später wurde die Konstruktion von »Notstands­ häusern«, im Volksmund »Ley-Lauben« genannt, vorangetrieben und 1944 in München auf der NS-Gauleitertagung vorgestellt. Auch diese Behelfs­bauten konnten ohne Facharbeiter errichtet werden und sollten bis zum Jahresende in 300.000 Exemplaren zur Verfügung stehen. Vergleichbares gab es als Resultat des Zweiten Weltkrieges auch nach 1945. V. a. die Vertrie­benen, aber auch »Heimgekehrte, Ausgebombte, Durch­ reisende, Arme und Verarmte«42 mussten in Not­ unterkünften wohnen. Diese Menschen wurden damals durchaus nicht mit offenen Armen aufgenommen; München etwa wehrte sich verzweifelt gegen neuen Zuzug.43 Dabei waren die »Nissenhütten«44 (Abb. 3) der verbreitetste Typ eines »Erste-Hilfe-Wohnens«. In solchen Umgebungen musste nicht nur die materielle,

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sondern auch die »geistige Not« bewältigt werden.45 Die heutige Wiederkehr von Zelt- und Contai­ner­lagern haben manche Interpreten, v. a. Giorgio Agamben46, dazu verführt, inmitten der durch den Massenkonsum geprägten Gegenwart das »Lager« erneut zum Symbol der gesellschaftlichen Zustände zu erklären. Man denkt assoziativ sofort an die Vernichtungslager des Nazi-Regimes, aber auch an die Lager für heimkehrende Kriegsgefangene der Nachkriegszeit, später auch für DDR-Flüchtlinge etwa in Friedland. Im Jahre 2008 lebten in Deutschland etwa 100.000 Menschen in Massenunterkünften unterschiedlichen Typs (1993 waren es sogar 1,5 Millionen).47 Aktuell geht es v. a. um Behelfsunterkünfte, mögen sie nun »Ausreisezentren«, Abschiebeund Inter­nie­rungs­lager oder Gemeinschafts­unter­ künfte heißen. Sie sind gekennzeichnet durch die Erosion der Privatsphäre, was auch zu psychischen Schäden beitragen kann. Zuweilen handelt es sich zudem noch um vielfach »rechtsfreie Räume eines ›institutionellen Rassismus‹«.48 Stefanie Duttweiler hat den Flüchtlings­raum als Netz beschrieben, das sich aufspannt »zwischen den für Flüchtlinge eingerichteten ›totalen Institutionen‹«49 der Sammel­ unter­ künfte, Wohn­ container und Abschiebe­ gefäng­ nisse als Rahmen für »Festsetzungs-, Verteilungs- und Registrierungs­verfahren, Über­ prüfungs- und Über­ wachungs­ tätigkeiten von Bundes­grenz­schutz, Polizei, Ausländer­behörden […] bis zu Krankenhäusern und Ärzten, Flug­gesell­ schaften und Taxifahrern«.50 All das mag auch der Abschreckung oder der Förderung einer »freiwilligen Ausreise« dienen.51 Sven Opitz spricht von »Orten der Aufbewahrung« unter einem »post-disziplinären Paradigma«, an denen »die Gesellschaft mithilfe der Technik der Einschließung an ihre interne Grenze stößt, wenn also Inklusion und Exklusion […] ununterscheidbar werden«.52 Gleichzeitig zu transnationalen Räumen und Ver­ gesellschaftungen im grenzenlosen Verkehr von Waren, Daten und Menschen entstehen so Räume

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3  Nissen­hütten in Neumünster, Aufnahme aus dem Oktober 1951.

der extremen Einschränkung von Bewegungs- und Handlungsfreiheiten.53 Pantle formulierte, dass in den aktuellen Debatten die »Ortsfrage« auf die Kontextfrage im besiedelten Raum geschrumpft sei und dass dadurch unklar werde, was man aus den jüngeren Bauten für Flüchtlinge »über unser grundlegendes Architektur­verständnis« erfahren könne.54

Architektur-»Antworten«? 2015 war ein Jahr der sich vertiefenden Spaltungen, nicht nur in sozialer, sondern auch in polit-emotionaler und kultureller Hinsicht. Schnell reagierten viele Wissenschaftlerinnen und Wissen­schaftler sowie Spezialisten für das Bauen auf diese Lage. Architektonische Fixierung auf die Nothilfe (Zelte etc.) Auszugehen ist vom Zwang zu einer primären Bewältigung von Notlagen, insbesondere der Überlebenssicherung von Flüchtlingen. Dabei sind Alltagsbewältigung und administrative Verfahren vielfältig ineinander verwoben. Die enormen Schwierigkeiten, die zuweilen bei allen Beteiligten Aggressionspotential freisetzen, müssen in einigermaßen erträgliche Bedingungen

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überführt werden und schrittweise in eine »Normalisierung«55 münden, die eine Integration in das Beschäftigungssystem ebenso wie Ansätze zu einer kulturellen Integration überhaupt erst ermöglichen. Aber was bedeutet das nun für die Schaffung von Wohn- und Arbeitsräumen? Michael Mönninger meint etwa, eine ideenreiche »Architektur der Zuflucht« bedürfe keiner Zelte, zumal diese »fragilen Energieschleudern mit extremem Aufwand für Sicherheit und Wachschutz bei gleichzeitig verweigerter Privatsphäre« in Zeiten der Not doppelt so teuer seien wie echte Bauwerke.56 Deren Trostlosigkeit wurde bereits erwähnt, jedoch könnten diese auch als eine besondere Form der Verbindung von Beweglichkeit und Schutzraum erscheinen. Unabhängig davon, ob man auch diese Behausungen als »Architektur« bezeichnen will, ist es doch bemerkenswert, dass sich im Kontakt mit einer konzeptionell innovativen Architektursoziologie auch eine neuere »Architekturethnologie« herausgebildet hat, die etwa mobile Zeltkonstruktionen in ihre Betrachtung einbezieht. So können Notunter­ bringungen als bewegliche Wohnorte romantisiert werden, wenn etwa durch eine tektonische Ästhetisierung neue Bauformen angeregt werden sollen. Sie sind jedoch beengt, und unterschiedlichste Witterungsbedingungen sind ebenso ein Problem wie der relativ schnelle Materialverschleiß. Gleichwohl werden Zelte für acht bis zehn Personen, wie sie die Bundeswehr bei internationalen Einsätzen verwendet, für die Flüchtlingsunterbringung vorgeschlagen. In dieser Lage schien das Projekt MORE THAN SHELTERS des Künstlers und Social Designers Daniel Kerber gerade recht zu kommen, der die Schaffung eines menschenwürdigen Wohnraumes durch schnell zu errichtende »Informelle Siedlungen« beanspruchte, durch welche die Menschen sogar ermutigt werden sollten, die eigene Zukunft aktiv zu gestalten. Sofort wurde das in der Werbung vor dem Bildhintergrund einer riesigen Lager-»Stadt« mit dem Label »Arrival City« verbunden. Aber leider erweist sich das modulare

Zeltsystem DOMO57 trotz der Möglichkeiten, einen Privatraum für Familien zu schaffen, v. a. als suggestive Anpreisung einer Zeltkombinatorik, die dem Stigma einer kurzfristigen Notunterbringung und allen Lager-Vergleichen entgehen will, ohne im Prinzip etwas Neues zu bieten. Wahrscheinlich stehen am Anfang der Ankunft von Flüchtenden keine »architektonischen« Lösungen, obwohl für die »Gemeinschafts­ unterkünfte« gilt, worauf der Stadtplaner und Soziologe René Kreichauf hinwies, dass es nämlich in Massen­unter­künften eine erwiesene Korrelation zwischen Raumgröße und Gewaltausbrüchen gebe und diese dadurch zu Orten der Abschreckung würden.58 Deshalb wäre es besser, fünfzig bis sechzig Menschen gemeinsam in einem Gebäude unterzubringen, »als hunderte Traumatisierte in einer Turnhalle«.59 Gleichwohl scheinen Interimslösungen situativ schwer vermeidbar zu sein, dürfen allerdings nicht zu einem Dauerzustand werden. Im »Provisorium Tempelhof« mit seinen Hangars ohne hinreichende Belüftung waren 2.000 Menschen untergebracht, ohne dass ein menschenwürdiges Leben in Aussicht stand.60 Dort wurde einer der Bewohner damit zitiert, dass man wohl ein Zimmer brauche, »aber mit einer Tür«. Berechtigte Klagen wie diese haben inzwischen zur Beendigung dieses »Experiments« geführt.61 Auch anderswo geht es anfangs nicht darum, in welchem Typ von Container man untergebracht wird, wenn man nicht einmal kochen oder waschen kann, die räumliche Geschlechtertrennung, auch innerhalb der Familie, außer Acht gelassen werden muss oder die viel schwierigere Ermöglichung von Distanzen zwischen religiös oder politisch konfligierenden Gruppen ungelöst bleibt. Denkt man an die Kupferhäuser des vergangenen Jahrhunderts oder die neuartigen IKEA-Häuser, so mögen zum Selbstbau auf einer Bodenplatte gelieferte Fertighäuser auch heute sogar hilfreich sein. Aber zumeist handelt es sich bei den vorgeschlagenen Bauformen nur um Variationen von bekannten Notarchitekturen, die sich ein wenig bunter und variabler geben. Optisch überraschende

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Einzelbeispiele einer Neubestimmung von Bauten gibt es durchaus, wie den einstmaligen holländischen Pavillon bei der EXPO 2000, der nun als begrünte Flüchtlingsunterkunft und als Begegnungszentrum dient. Überraschend ist auch das »Bauen mit Müll« des Münchener Künstler Markus Heinsdorff, der aus Abfall ästhetisch verzierte Raumkonstruktionen entwarf.62 Versuche der Veredelung von Modulbauten Betrachtet man aktuelle Vorschläge von Architektinnen und Architekten, so dominieren bei allem guten Willen doch Containerbauten oder daraus entwickelte Varianten.63 Jörg Friedrich sprach von einer »Blechkastenarchitektur«, die Aggressionen und Gewalt statt Integration fördere.64 Da deren Ausführung in Stahl kaum mehr akzeptiert wird, hat etwa Melanie Karbasch für das Rote Kreuz Holzelementebauten entworfen, die mit vorgefertigten Wand-, Boden- und Deckenelementen sowie mit kompletten Nasszellen ausgerüstet sind. Solche Konstruktionen könnten Akzeptanz finden durch ihr besseres Raumklima, eine positive CO₂-Bilanz und sich als »nachnutzbar« für Studierende und vielleicht sogar für den öffentlichen Wohnungsbau erweisen.65 Auch sollen Laubengänge das Gesamtbild verbessern helfen, wie sie von dem Planungsteam um die MOSAIK-Architekten für deren zweigeschossige Holzmodule vorgeschlagen wurden.66 In eine ähnliche Richtung gehen die Leichtbauhallen von Stefan Feldschnieder und Tobias Kister, welche Überseecontainer so umgestalten wollen, dass sie in zweigeschossiger Anordnung bis zu 240 Menschen aufnehmen können.67 Durch die Kombination voneinander geschiedener Schlaf-, Sanitär- und Küchencontainer versucht man im hessischen Friedrichsdorf sowohl Gemeinschafts- als auch Individualbereiche zu schaffen. Materialverbesserungen und Farbigkeit sollen visuell die Notzustands-Behälter in neue, leichtere Bauweisen transformieren.68 Nach Frank Kaltenbach sollte das Wort »Container« nicht schrecken. Auch wenn Industrie-Container als

Orte des Wohnens wenig akzeptiert seien, werde doch ihr »rauer Charme« für Eventlocations und Studentenwohnungen zunehmend nachgefragt.69 Auch in Hannover, Berlin-Treptow und Kopenhagen wurden Flüchtlingsunterkünfte errichtet, die später als Studentenwohnheime benutzt werden könnten.70 Jesse Connuck schlägt demgegenüber flexible und zugleich an Containermodule erinnernde »Hochhausstrukturen« mit kleinen, unter dem Standard liegenden Appartements vor, dabei auch auf die hohen Bodenpreise reagierend.71 Zumeist muss es genügen, die Unterkünfte für Migranten mit Begegnungsräumen zu verbinden. Es komme dabei darauf an, »das Minimale fein [zu] machen«, wofür es auch im Studium entwickelter »raffinierter und geschickter, studentischer Entwürfe« bedürfe, wenn mancher auch – wie der von Fabian Wieczorek gelobte Vorschlag, Treppen durch Leitern zu ersetzen – etwas skurril erscheinen mag.72 Der Architekt Jörg Friedrich unterstützt solche Vorschläge mit Nachdruck, obwohl er die Erfahrung machen musste, dass das politische Interesse daran »gleich Null« sei.73 Zukunftsmodell für die Selbstversorgergesellschaft? Gerade der Blick auf die Zukunft von Flüchtlings­ architekturen macht deutlich, dass es sich um eine Aufgabe für die gesamte Profession handelt, wobei Architektinnen und Architekten in einer solchen Situation über ihre Entwurfskompetenz hinaus die ganze Bandbreite vom Emergency Design bis zum krisenbasierten (Raum)ManagementDesign beherrschen müssten.74 Architektonische Trostlosigkeit zeigt sich nicht nur in Krisenlagen. Vielmehr sieht man in selbst schönster Umgebung überall die »Industriegebiete«, welche zwar kompakter und funktional komplexer ausgestattet sind als Notunterkünfte, deren architektonischer Eindruck kaum weniger deprimierend wirkt als die hier behandelte Containerarchitektur. So gehen Not- und Kommerzmoderne Hand in Hand. Gefragt ist jedenfalls eine reflexive Phantasie der Architektinnen und Architekten, was einen

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kritischen Blick auf ihr eigenes Fach und dessen in der Moderne selbst fragwürdig gewordene Stellung einschließen würde. Da genügt der großtönende Anspruch nicht, dass die Bauten für Flüchtlinge die Zukunft des Urbanismus und der Architektur definieren würden.75 Vielmehr wäre die höchst überraschende Verdammung einer geistlosen Beton-Moderne einzubeziehen, welche erstaunlicherweise auch im Rahmen der Architekturbiennalen in Venedig nicht unerörtert blieb.76 Auch das verweist auf die Notwendigkeit neuer Perspektiven für das Bauen weit über die Flüchtlingsproblematik hinaus, für die auch Ulrich Pantle eine notwendige Neuorientierung der zeitgenössischen Architektur forderte: Die aktuelle Debatte um Flüchtlingsbauten offenbart […] drei zentrale Kritikpunkte an der Moderne: Die unzureichende Berücksichtigung des Ortes und seiner präarchitektonischen Wirkungsfähigkeiten; die Ökonomisierung und Kommerzialisierung des Bauens […], wodurch die zeichenhafte Wirkung […] der Architektur nicht mehr ausreichend beachtet [wird], sowie die Auswirkungen der Ausdifferenzierung, die die Rolle aller Beteiligten, insbesondere der Planer und Nutzer [problematisch werden lässt, so dass geradezu] die Legitimationsfrage an die Architektur gestellt wird.77

Beiträge in diese Richtung fanden sich in der Baunetzwoche, in der im Jahr 2015 unter dem Titel Give Them Shelter. Willkommen in Deutschland und dem witzigen Zusatz Kulturen aller Länder vereinigt euch zahlreiche Entwurfs­ideen vorgestellt wurden. Eingeleitet wurde das durch einen Kommentar von Stephan Burkoff, wonach durch einen »von Moral und Ethik befreiten Kapitalismus«78 der Planet in ein Ungleich­gewicht gekommen sei und trotz aller Konflikt­zuspitzungen gerade die »Flüchtlings­ krise« eine letzte Chance eröffne, die Folgen »westlicher Überheblichkeit« zu überwinden. Erstmals in Deutschland würde dann wirkliche Integration gelingen können. Das sind immerhin Ansätze dafür, nicht nur Übergangs­lösungen bereitzustellen, wenngleich, angesichts der pragmatischen Zwänge einer Unterbringung großer Gruppen in relativ kurzer Zeit, Provisorien unausweichlich sein dürften, selbst wenn zwei Jahre nach der Krise

von 2015 viel weniger Asylbewerberinnen und -bewerber gezählt wurden. Da es keineswegs nur um ästhetische Formen oder die Optimierung von Wohnraum geht, wären darüber hinaus auch die Stadtplaner verpflichtet, mit ihren Entwicklungs­ konzepten auf die Zuwanderung und die mit ihr verbundenen Integrations­probleme zu reagieren, was laut Hans Henning von Winning bisher nicht erkennbar sei.79 Die Schwierigkeiten der Planenden sind auch darin begründet, dass private Immobilienhändler als neue »Assetklasse« mit Blick auf Anlagen nur bauen oder kaufen, was sich rentiert.80 Überhaupt zeigen sich hier die Folgen einer Entwicklung, in der eine »Bauherrenarchitektur«, die kommunales Bauen zur Bewältigung sozialer Probleme durchaus einschloss, fast durchweg von einer »Investorenarchitektur«81 verdrängt worden ist. Aber bei der Ansiedlung von Migranten ergibt sich auch noch eine andere Schwierigkeit: Wenn etwa in für sie neu geschaffenen oder hergerichteten Wohngebieten Unterkünfte mit minimaler Ausstattung gebaut werden, so diene das, wie René Kreichauf feststellte, auch der »Neidabwehr nach Innen«, weil, wie ihm der Direktor des Deutschen Architekturmuseums Peter Cachola Schmal sekundierte, »niemand etwas bauen möchte, das von der Bevölkerung als zu schön angesehen wird«.82 An dessen Stelle tritt dann allzu oft eine Art »visuellen Verschwindens der […] gemeinschaftlich untergebrachten Insassen«.83 Angesichts dieser Lage helfen Fanfarenstöße wie »Man muss bauen« (Arno Brandlhuber) beziehungsweise »bauen, bauen, bauen« (Ricarda Petzold)84 kaum weiter, wenngleich es heute offenbar ist, dass der neoliberal geschwächte soziale Wohnungsbau der Kommunen zu einer verstärkten Bautätigkeit führen muss. Da kann das im Doppelsinne »revolutionäre« und bis heute seine Wirkungen zeigende Beispiel der Wiener Gemeindebauten nur neidisch machen.85 Ebenso wenig genügt ein entgegengesetztes »Verbietet das Bauen!« (Daniel Fuhrhop)86, wenngleich schonende Umbauten und Umnutzungen

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und die Einbeziehung sanierbarer Wohnungen auch ein wichtiger Beitrag zur Behebung des Wohnungsdefizites sein können. Ein Beispiel für die neue Funktion eines bereits abgenutzten Baues ist die Bockenheimer Mensa der Frankfurter GoetheUniversität, in der Geflüchtete untergebracht sind. Besonders viel Resonanz fand der in Chile bereits realisierte Entwurf des künstlerischen Leiters der 15. Architekturbiennale in Venedig, Alejandro Aravena, in dem gleichförmige, an ein Pueblo erinnernde Holzbauten mit Außentreppe präsentiert wurden (Abb. 4 links). Das sah zwar sehr schematisch aus, das wichtige Moment der Eigeninitiative einer Gestaltung gewann jedoch dadurch, dass eine Hausseite mit allen technischen Infrastrukturen ausgestattet war, während die andere Hälfte und die Fassade der individuellen Gestaltung durch die Bewohner überlassen blieb. Wenn man Bilder der Siedlung Quinta Monroy in der nordchilenischen Stadt Iquique sieht (Abb. 4 rechts), so zeigt sich eine vielfältige Lebendigkeit dieses Ensembles, auf das die Stadt zurecht stolz ist.87 Auch unter den hier teilweise präsentierten Vorschlägen für innovative Aspekte einer Flüchtlingsarchitektur gab es mehrere Beispiele, die Raum schufen für eine eigenständige Gestaltung durch die Bewohner.88

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Architektur der Zuflucht – kulturtheoretische und soziologische Reflexionen Konstruktive Postmodernität Amalia Barboza hat Architekturbeispiele vorgestellt89, welche als Reaktion auf die von dem Migrationsforscher Erol Yildiz in seinem Buch Die weltoffene Stadt erhobene und von Pierre Bourdieu und Loïc Wacquant unterstützte Forderung nach einer »Konversion des Blicks« auf die Probleme der »Topografien des Ankommens« gelten können.90 In den theoretischen Diskursen gibt es dafür ein eigenes semantisches Feld: Ludger Pries spricht von »transnationalen Räumen«, Wolfgang Welsch oder Robert Pütz von »Transkulturalität« oder Mark Terkessidis von »Interkultur«91 – vielleicht sind dies neue An­wen­dungs­felder eines konstruktiv werdenden Post­modernismus. Dabei kommt es allerdings auch auf unterschiedliche Typen des Ankommens und Bleibens an: Assimilation, Bewahrung der Herkunfts­identität, Möglichkeit der Transtopien oder des provisorischen Ankommens wären zu unterscheiden. Hierher gehören auch Praxisprojekte, in welchen derartige Thesen überprüfbar wurden. Als ein Beispiel, das durch seine weit gestreute

4  Siedlung in Iquique (Alejandro Aravena). Links: Nach der Fertigstellung, rechts: nach Gestaltung durch die Bewohner.

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Beachtung zugleich sichtbar macht, dass es ein singulärer Versuch geblieben ist, erweist sich, dass es für eine integrative Unterbringung von Flüchtlingen v. a. einer Verbindung mit dem alltäglichen Leben der Ankunftsgesellschaft bedarf. Das gelang im Augsburger »Grand Hotel Cosmopolis«, das 2011 durch eine Künstler­initiative entstand.92 Hier können Flüchtlinge und Touristen gleichermaßen wohnen, so dass sie als »freiwillige« und »unfreiwillige Reisende« in Kontakt miteinander kommen. Carolin Krahl sah darin eine Anwendung des Konzeptes der »Sozialen Plastik« von Joseph Beuys.93 Zugleich war das Projekt durchaus umstritten.94 Vermutet wurde, dass derlei Zwischennutzungen letztlich der Markt­konformität in die Hände spielten, indem sie – wie auch das »Wächterhausprinzip«95 – die Immobilien­branche auf verwertbare Räume aufmerksam mache. Auch könne die Verleihung von Preisen, welche das Projekt vielfach erhielt, die öffentliche Empörung gegenüber der Behandlung

5  »Arrival Cities«, das Motto des Germania-Pavillon der 15. Architekturbiennale in Venedig.

von Flüchtlingen in Schach halten und dadurch »der Politik den Rücken frei halten«.96 Dabei stellt sich allerdings die Frage, was der Anspruch, eine »soziale Plastik« geschaffen zu haben, bedeute, wenn es Beuys doch darum ging, einerseits den exklusiven Künstlerbegriff aufzulösen und andererseits die Auffassung des Kunstwerkes programmatisch zu verändern. Dem radikale Konzepte der Demokratisierung voranbringen wollenden Künstler ging es nicht um autonome Alternativen, sondern um Irritationen der gängigen sozialen Wirklichkeit, aus welchen Änderungsprozesse durch neue Formen des Bewusstseins ausgelöst werden sollten. Das geschieht nun tatsächlich in Augsburg eben dadurch, dass das »Grand Hotel« zugleich Stadteilzentrum, Mehrgenerationenhaus, Kulturzentrum und Bürgergaststätte geworden ist.97 Das Konzept der »Arrival Cities« von Doug Saunders Die Problematik der temporären wie auch der langfristigen Unterbringung von Flüchtlingen und anderen Migranten wurde 2016 während der 15. Architekturbiennale in Venedig gebündelt und mit öffentlicher Aufmerksamkeit versehen in dem, selbst auch baulich-dekonstruierten, zu einem einladend-offenen Durchgangsort gemachten Germania-Pavillon in den giardini (Abb. 5). Der kanadische Publizist Doug Saunders, der mit dem Stichwort »Arrival Cities« eine notwendige Einstellungsveränderung zur Migration einfordert, war für die Mitarbeiter des Frankfurter Deutschen Architekturmuseums, Herausgeber des Begleit­ buchs »Making Heimat«98 und Koordinatoren des deutschen Biennale-Beitrags, ein intellektueller Inspirator. Zu prüfen ist, inwieweit diese Präsentation stadtplanerische und architektonische Phantasie für eine situationsangepasste Gestaltung von Räumen und Bauten mobilisieren konnte. Bei dem Auftritt in Venedig blieb es nicht, vielmehr hat das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt am Main weitere Initiativen entwickelt, insbesondere die Herausgabe des Handbuches

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»Flüchtlings­bauten«, das als Planungshilfe und Anregungsreservoir für eine »Architektur der Zuflucht« dienen soll.99 Doug Saunders betont, dass für die (häufig vom Land in Großstädte ziehenden) Migranten im ersten Schritt Segregationsprozesse notwendige Voraussetzung für eine spätere Integration seien. Er bestimmt Arrival Cities dadurch, dass sie »selbst gebaut«100 sind, dass also die Eigeninitiative bei der Überwindung eines anfangs oft unzumutbaren Wohnraums und vergleichbaren Umfeldes von entscheidender Bedeutung sei, v. a. dadurch, dass bürokratische Anforderungen umgangen werden können.101 In seiner Monographie führt er als Beispiel weitgehend rechtsfreie Zonen in asia­ tischen, südamerikanischen und abgeschwächt auch europäischen Städten an. Zu prüfen wäre seine These, nach welcher aus den durch Überfüllung und Notlagen entstandenen Zusammenballungen von Flüchtlingen und ihren Netzwerken gesteigerte Aufstiegschancen in einen gesicherten Mittelstand möglich sein sollen. Für Saunders sind europäische Großstädte – jenseits »der äußerlichen Illusion ihrer offiziellen, symbolträchtigen Stadtzentren – großenteils Ansammlungen von Migrantensklaven«.102 Er geht von Beispielen aus unterschiedlichsten Regionen der Welt aus und zeigt nicht nur für chinesische Städte oder London, wie anfangs elendeste Lebensbedingungen in der zweiten Generation zu signifikanten Aufstiegschancen führten. Das funktioniere nicht ohne städtische Verdichtung und die damit verbundenen Differenzierungsprozesse, die einmünden könnten in Arbeitsverhältnisse, in Schul- und Studienaufstiege, in die Schaffung monetärer Vermögen. Es gibt Beispiele, die diese Annahme stützen – nicht nur mit Blick auf die Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada oder die südamerikanischen Länder vom 18. bis in das frühe 20. Jh. hinein –, dass nämlich kulturell und auch sprachlich durchaus für lange Zeit in einer Halbdistanz zur sozialen Umwelt existierende Gruppenmilieus die Integration in die Melting Pots der Aufnahmegesellschaften

möglich gemacht haben. Man denke an die Little Italies oder Chinatowns in den USA. Die Differenz zur heutigen Einwanderung in die europäischen Länder liegt allerdings darin, dass damals die Ankunft im »gelobten Land« zu einer grundsätzlichen, zivilreligiös verstärkbaren Loyalität geführt hat. Jedenfalls gibt es – vielleicht vergleichbar dem Imperium Romanum – einen Stolz auf den Status eines US-amerikanischen citizen, und man findet trotz extremer Formen der Ungleichheit und einer immer noch bestehenden rassistischen Diskriminierung tatsächlich eine Bindung durch eine Art »Verfassungspatriotismus«.103 Saunders setzt auf Geschäftstätigkeiten unterhalb aller Genehmigungen, durch welche Regel­losigkeit zur Chance wird, weil »nicht gänzlich rechtskonforme Praktiken« toleriert werden.104 Anders gesagt: »Energie und Engagement für die umgebende Gemeinschaft« müssen erzeugt werden, indem wir den noch Nichtintegrierten »die Herrschaft über ihren Raum und ihr politisches Leben überlassen«; Saunders hofft und kann an manchem Beispiel zeigen, dass sich dann auch jene selbst »integrieren und neue Räume und Gemeinschaften schaffen, die auch uns nachhaltig verändern werden.«105 Schädlich jedenfalls erscheint ihm – und es gibt, wie gesagt, auch in Deutschland manches Beispiel dafür –, wenn Flüchtlinge auf dem platten Land in irgendeinen vorgefundenen Großbau eingewiesen werden oder – selbst bei bester Betreuung – in abgeschiedene Häuser, etwa in eine vom Ortskern getrennte Waldidylle106, weil dort Orte der Anregung, des Kontaktes und auch Institutionen weniger präsent sind und die räumliche Isolation auch durch eine soziale verstärkt wird. Aber es geht nicht nur um das Wohnen, sondern auch um überdurchschnittlich gute »Magnetschulen« gerade in armen Migrantenvierteln und darum, dass auch Bibliotheken zu »Treffpunkten für MigrantInnen« werden können.107 Daraus könnte sich eine Aufgabe für das Bauen ergeben, nämlich Räume der Sicherheit zu schaffen, die gleichwohl nicht zu Ghettos werden. Die deutsche Angst

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vor »Parallelgesellschaften« führt in besonderer Weise dazu, dass solche Zusammenhänge oft nicht wahrgenommen werden. Die nicht nur hingenommene, sondern nach dem zwischen den Bundesländern und dem Bund vereinbarten »Königsteiner Schlüssel« administrativ vorgenommene Verteilung von Migrantinnen und Migranten ist (bei allen Problemen, die durch eine Massierung bestimmter Migrantengruppierungen entstehen könnten) der gleichzeitig ständig geforderten schnellen Integration nicht förderlich. Alle Flüchtenden suchen – wo eben möglich – Menschen auf, die mit ihrer Familie, mit ihrem Herkunftsort, vielleicht auch nur mit ihrem Land oder ihrer Sprache verbunden sind. Das war 1945 bei den Vertriebenen aus dem Osten nicht anders als in internationalen Wanderungsbewegungen. Wenn man Adressen hat von Menschen, beispielsweise in Offenbach oder in Ingolstadt, steigen die Integrationschancen nicht, wenn einem Rostock als Aufenthaltsort zugewiesen wird, wo man einer der wenigen und umso mehr abgelehnten Flüchtlinge ist. Marina und Herfried Münkler haben in ihrem Buch »Die neuen Deutschen« ebenfalls bemerkt, dass die Verbindung von Herkunftsgruppen durchaus auch einen »Schutzraum« für die hier Ankommenden bilden können.108 Saunders’ Überzeugung ist es, dass Ein­ wanderung nur in Räumen gelingen kann, in denen sichtbare Differenzen zur Mehrheits­ gesellschaft besonders deutlich und gleichermaßen schmerzhaft hervortreten. Gleichwohl sind die Beispiele von zumindest nicht durch gewaltsame Konflikte bekannt gewordenen Orten, wie dem der Metropole Frankfurt am Main nahegelegenen Offenbach oder der einstmals berühmten, dann heruntergekommenen und neuerdings wiederbelebten Großsiedlung Amsterdam-Slotervaart, genauer zu prüfen.109 Christian Holl hat in diesem Sinne kritisiert, dass die heutigen Stadtbewohner in Deutschland oft genug eine »Wohlfühloase« suchten und von der Vorstellung geleitet seien, dass alles, »was

ein bisschen dreckig und unbequem ist, vergraben oder weggeschoben« werden müsse: aber so »entsteht keine Stadt«. In der bedürfe es – wie auch Tilmann Harlander und Gerd Kuhn betonen – der sozialen Mischung, welche durch eine gelungene Integration von Flüchtlingen und Migranten entscheidend vorangebracht werden könne.110 Wenn »Arrival Cities« Brückenstädte sind, die anfangs noch (v. a. durch Geld­überweisungen) in Kontakt mit den Orten der Herkunft und zugleich nicht schon durch eine vollständig stabilisierte Ordnung gekennzeichnet sind, dann stellt sich allerdings die Frage, wo sich derartige Übergangszonen in den durchorganisierten Gesellschaften wie der Bundesrepublik überhaupt noch finden lassen. Wie kann man also in den europäischen Wohlstandsgesellschaften solche latent integrierenden Lebensbedingungen schaffen, ohne die negative Konzentration in den banlieus zu wiederholen? Der Appell an die Hinnahme von Unordnung, weil ein erfolgreiches Ankommen in einer städtischen Struktur gerade dann unwahrscheinlicher wird, wenn alles sauber und geordnet ist – die Ermutigung zu mehr chaotischen Freiräumen also – widerspricht allen erfahrbaren Praktiken in sozial und kulturell durch Privilegierungsunterschiede gekennzeichneten Situationen. Oft scheinen die Schilderungen Saunders’ in dem Paradox zu münden, dass die relative Desintegration der Einheimischen zur entscheidenden Integrationschance für die Zuwandernden werde. Aber es gibt bei ihm auch noch andere Komponenten der Förderung oder Blockierung von Integrations­chancen. Dafür ist der Vergleich einer relativ ähnlichen Migrantenherkunft aufschlussreich, wenn Saunders nämlich die Wanderung aus Ost­anatolien nach Istanbul mit den Existenz­ bedingungen von Menschen aus derselben Region in Berlin-Kreuzberg vergleicht. Die Pointe liegt darin, dass er zeigt, dass die in die Metropole am Bosporus zugewanderten Türken sich viel weiter modernisiert haben als ihre in der Bundes­ republik lebenden Landsleute.111 Was nun an den

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unterschiedlichen Integrationschancen türkischer Migranten zum Beispiel in Berlin-Kreuzberg interessiert, sind die Isolation und Verlorenheit vieler, die seit den 1960er Jahren in das damals noch heruntergekommene Viertel in Mauernähe gekommen waren. Selbstverständlich waren die sprachlichen und kulturellen Lebensbedingungen sehr unterschiedlich zu den ebenfalls aus dem Osten der Türkei nach Istanbul gezogenen Menschen, so dass Sprachprobleme, aber auch eine hohe Arbeitslosigkeit dazu führten, dass, wie Saunders es ausdrückt, »die Türken in Berlin ›eine groteske Karikatur des Lebens im eigenen Heimatland‹« darstellen, da sie an Traditionen festhalten, die der Mehrheit der in Istanbul lebenden Türken inzwischen fremd geworden sind. Die entscheidende Ursache einer dauerhaften Fremdheit auch ansonsten gut integrierter Türkinnen und Türken in Deutschland sieht Saunders allerdings in der vom Staat lange verweigerten Staatsbürgerschaft, welche von den 2,5 Millionen hier lebenden Türkinnen und Türken im Jahre 2002 nur 470.000 besaßen (und nie mehr als 3% der Gesamtbevölkerung); das sei im europäischen Vergleich ein außerordentlich niedriger Wert.112 Erst im Jahre 2000 wurde angesichts der demografischen Zukunftsprobleme,

besonders mit Blick auf die Altersversorgung der Deutschen, das Ausländergesetz geändert, so dass nun auch hier geborene Kinder von Einwanderern sowie unter bestimmten Bedingungen auch ihre Eltern eingebürgert werden können. Aber für Saunders blieb es dabei: »Die deutsche Politik schien von Anfang an darauf ausgerichtet, eine gescheiterte Ankunftsstadt hervorzubringen.«113 Eine »real existierende« Integrationsabwehr zeigt sich demgegenüber durch eine architektonische Leistung besonderer Art, die bekannt ist durch den von Walter Ulbricht 1961 errichteten »antifaschistischen Schutzwall« zwischen DDR und BRD (aber es fallen einem auch Israel oder das »Versprechen« einer Trump-Mauer an der mexikanischen Grenze ein): Im Münchner Stadtteil Neuperlach kam es zur Errichtung einer vier Meter hohen Mauer, welche eine Flüchtlingsunterkunft von den mittelständischen Reihenhäusern abgrenzt. Erlaubt hatte dies das zuständige Verwaltungsgericht, weil es sich um eine »Schallschutzwand« handele. Zahlreiche Protestaktionen und Graffiti haben auf den Skandal reagiert, etwa eine Künstlergruppe mit der Errichtung eines »Checkpoint Ali« als symbolischem Grenzübergang.114

Bei der Erarbeitung der Materialien für den Festvortrag am 23.11.2016 in der Humboldt-Universität zu Berlin, der dem vorliegenden Text zu Grunde liegt, und dessen weitere Ausarbeitung ist v. a. Martin Siebert für seine sachkundige, immer anregende und kritische Mitarbeit zu danken, sodann auch Carolin Thiele, Richard Groß und Laura Fröbisch. Dank sei auch Klaus Rheidt, dem Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs 1913 »Kulturelle und technische Werte historischer Bauten«, für sein geduldiges Interesse an meiner Behandlung des Zusammenhanges von Migration und Architektur und Sophia Hörmannsdorfer für ihre umsichtige Redaktionsarbeit und die Klärung der Bildrechte. 1 Diese Formulierung wurde zuvor von Sigmar Gabriel kreiert, FAZ 1.9.2016. 2 Überraschend ist eine Beobachtung von Mönninger, wonach es ein gegenläufiges »Nord-Süd-Gefälle« gebe, nämlich liberale Stellungnahmen von Politikern im Norden mit wenig originellen Lösungen, während

im Süden zwar die schärfere CSU-Rhetorik vorherrsche, sei jedoch die funktionierende Verteilung und Einquartierung der Migranten in menschenwürdige Unterkünfte »mustergültig«; vgl. Mönninger 2017. Vgl. Dauss 2016, 75. Dem Buch liegt das Symposium »Ankommen! Perspektiven der Flucht in einer flüchtigen Gesellschaft« im Mai 2015 in der Universität des Saarlandes in Zusammenarbeit mit den Saarbrückener Kunst- und Musikhochschulen zugrunde. Habermas 1985, 130. Vgl. auch Horkheimer / Adorno [1944] 1969, 177–217. Bade 2017, 12. Vgl. Dahrendorf 2000. Holert und Terkessidis zeigen eine ungewöhnliche Perspektive auf die mobile Gesellschaft, indem sie die sich überkreuzenden Bewegungen von Migranten und Touristen in einen Zusammenhang brachten. Tanger wird

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dabei als ein exemplarischer »Ort des vorübergehenden Aufenthalts« geschildert, zumal dort inzwischen manche ungenutzten Großhotels – zumeist für den Zwischen­ aufenthalt – der Aufnahme von Flüchtlingen dienen, vgl. Holert / Terkessidis 2006. Vgl. Rehberg 2019. Vgl. auch Bade 2000, der die Auswanderungsprozesse an der Wende vom 19. zum 20. Jh. bis zu den postsozialistischen Ost-West-Wanderungen nach 1990 darstellt, einschließlich der staatlich organisierten »GastarbeiterWanderungen« als »illegaler Arbeitswanderung« bis zur Asyl- und Fluchtwanderung (bes. Teil II, IV u. V). Aengenvoort 1997, 143. Brief aus dem Jahre 1832, zit. in: Aengenvoort 1997, 174. Kapp 1868, 287. Vgl. Saunders 2012, darin zur Geschichte der Stereotype: die »katholische Flut« (167–183) und die »jüdische Flut« (184–198). Mönckmeier 1912, 9. Daniel Defoe zit. in: Blaschka-Eick / Bongert 2016, 42. Vgl. Blaschka-Eick / Bongert 2016; Mönckmeier 1912, 9; Kapp 1868, 78–77, 88. Vgl. Beitrag von Rummel in diesem Band sowie Meier 2016. Vgl. Simmel 1992, 764. Vgl. Stubenvoll [1917] 1990, 28–29. Vgl. Stubenvoll [1917] 1990, 11–27. Vgl. auch Lausberg 2007. Vgl. Kirchgässner 1992, 10; 5–44, bes. 16–17. Das gilt auch für viele andere Städte, man denke etwa an die Anziehungskraft, die der Papsthof in Avignon seit dem 13. Jh. auf ausländische Händler und Handwerker ausübte, vgl. dazu Rau 2014, bes. 118–125. Vgl. Stubenvoll [1917] 1990, 82. Vgl. Rau 2018 sowie von Glinski / Wörster 1992. Vgl. die 2005 im Museum St. Ulrich des Bistums Regensburg gezeigte Ausstellung »Steingewordener Glaube. Kirchliche Architektur im Banat im 18. Jahrhundert« (https://bistumsmuseen-regensburg.de/ kunst-entdecken/kuenstlerdatenbank/kuenstler/43-zitzelsberger.html, 5.4.2019). Zit. in Projekt Migration 2005, 489. WDR-Sendung mit Originalaufnahmen mit Kölner Marktfrauen aus den 1950er Jahren. Vgl. Niggemann 2008, 146–164. Vgl. Ausstellung »Steingewordener Glaube« [wie Anm. 26]. Vgl. Wilke 1988, 47–60. Vgl. z.B. Farin 2007. Die von den Architekten beabsichtigte, integrieren sollende Öffnung des Ritualraums verhinderte nicht, dass die politische Okkupation der Einweihungsfeiern durch den türkischen Staatspräsidenten Erdogan als provozierend empfunden wurde und die Konflikte zwischen DITIB und der Stadt Köln einen vorläufigen Höhepunkt erreicht haben; vgl. Thob/AFP 2018.

33 Vgl. Bartetzko 2009. 34 Upton 1986, der Beispiele von Immigranten aus Afrika, Holland, England, Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Irland, Russland, Spanien, Belgien, China, Tschechien, Dänemark, Finnland, Japan, Norwegen, Schweden und der Ukraine dokumentiert hat. 35 Koop 1986, 130. 36 Vgl. Koop 1986, 130 u. 132. 37 Vgl. Barboza: 2016, 132. 38 Vgl. Niendorf 2018. 39 Immerhin gibt es dort aber auch Sozialprojekte, z.B. in der Kombination von »Community- und Lernzentren«, wichtig auch die Verbindung mit Müllmanagement, Abwasserleitung etc. 40 Vgl. Kaltenbach 2017. 41 Pantle 2016, 53. 42 Pantle 2016, 52. 43 Pantle 2016, 50ff. 44 Der Name bezieht sich auf den Erfinder, den kanadischen Ingenieur und Offizier Peter Norman Nissen, der diese halbrunden Wellblechunterkünfte, die auch in Kriegsgefangenenlagern Verwendung fanden, 1916 entwickelte; https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Norman_ Nissen (5.4.2019). 45 Vgl. auch Kustermann 1947, 165. 46 Vgl. Agamben: [1998] 2002, 185 u. 175–189 sowie die Kritik daran in Hartung 2007. 47 Vgl. Pieper 2008a, 10–12 sowie Pieper 2008b. 48 Vgl. Pieper 2008a, 294–305. 49 Vgl. Goffman [1961] 1972. 50 Duttweiler 2013, 4. 51 Baden-Württemberg war in den frühen 1980er Jahren übrigens das erste Bundesland mit Massenunterkünften, was den damaligen Ministerpräsidenten Lothar Späth zu der ironisierenden Beobachtung führte: »Die Buschtrommeln verbreiteten in Afrika: Geht nicht nach Baden-Württemberg. Dort müsst ihr ins Lager«; vgl. Unterberg / Schnee 2016. 52 Vgl. Opitz 2007, 55 sowie Dauss 2016, 77–78. 53 Duttweiler 2013, 1. 54 Vgl. Pantle 2016, 49. 55 § 3 des Hessischen Landesaufnahmegesetzes bspw. schreibt im Einklang mit der Richtlinie des Europäischen Rates (2003/9/EG) vom 27.1.2003 die Schaffung eines menschen­würdigen Aufenthaltes ohne gesundheitliche Beein­trächtigungen vor. 56 Mönninger 2017. 57 Vgl. Pantle 2016, 66 u. http://www.morethanshelters.org/ de/ueber-uns/die-vision/ (5.4.2019). 58 Kreichauf in: Unterberg / Schnee 2016 sowie über die Bamberger Stadtplanung: Mühlbauer / Shretah 2017, 73ff. 59 Friedrich 2015. 60 Neben dem Wohnbereich gab es eine von Gorenflos Architekten Berlin entworfene Veranstaltungshalle; vgl. Mühlbauer / Shretah 2017, 224–225.

Verortung des Erinnerns oder des Vergessens?

61 Zit. in: Unterberg / Schnee 2016. 62 Vgl. Mühlbauer / Shretah 2017, 292–300. 63 Vgl. Beispiele zu Hallen und Modulen in: Mühlbauer / Shretah 2017, 216–225. 64 Vgl. Friedrich 2015. 65 Kaltenbach 2017. 66 Vgl. Pantle 2016, 65. 67 Vgl. Pantle 2016, 64. 68 Vgl. Pantle 2016, 65. 69 Vgl. Kaltenbach 2017. 70 Vgl. Pantle 2016, 65. 71 Stott 2016a. 72 Vgl. Wiezcorek in: Unterberg / Schnee 2016. 73 Friedrich in: Unterberg / Schnee 2016. 74 Vgl. Blechinger / Milev 2007, 7. 75 Vgl. Stott 2016a und Stott 2016b. 76 Vgl. Bartetzko 2006 und Bartetzko 2014, besonders mit Bezug auf das von Rem Koolhaas als Leiter der XIV. Architekturbiennale gesetzte Leitthema für die Länderpavillons: »absorbing modernity 1914–2014«. 77 Pantle 2016, 74. 78 Burkoff 2015, 23. 79 von Winning in: Unterberg / Schnee 2016. 80 Vgl. Mönninger 2017. 81 Vgl. Rehberg 2014a, 253. 82 von Cachola Schmal in: Unterberg / Schnee 2016. 83 Dauss 2016, 78. 84 von Petzold in: Unterberg / Schnee 2016. 85 Vgl. Novy 1993. 86 Fuhrhop: Verbietet das Bauen. Der Blog gegen die Bauwut (http://www.verbietet-das-bauen.de/, 5.4.2019). 87 Vgl. zu Alejandro Aravenas Siedlungsentwurf: Cachola Schmal et al. 2016, 165. 88 Die Architekten Andreas Postner, Conrad Duelli und Hermann Kaufmann entwarfen Wohnhäuser in regionaler Holzbauweise als »veredelten Rohbau«, der von den Bewohnern mitgestaltet werden soll, wie das auch Guinand Jauslin Architekten GmbH Arrival City 4.0 für ihre modulare Grundstruktur vorgesehen haben. Drexler Guinand Jauslin Architekten GmbH Projekt Pre Fab Max: Kombination modularer Bauweise mit extrem hohem Vorfertigungsgrad, geringem Transportvolumen und hohes Maß an Flexibilität, zit. in: Pantle 2016, 66. 89 Barboza et al. 2016. 90 Vgl. E. Yildiz: Die weltoffene Stadt. Wie Migration Globalisierung zum urbanen Alltag macht (Bielefeld 2013), zit. in: Barboza 2016, 124–125. 91 Zit. in: Barboza 2016, 124. 92 Vgl. Heiss / Schwab: 2017 sowie Adamczyk 2016. 93 Carolin Krahl hat an diesem Beispiel Beuys‘ Konzept der sozialen Plastik eingehender diskutiert: vgl. Krahl 2015. 94 Vgl. auch Barboza et al 2016, 10. 95 Dabei handelt es sich um die temporäre Nutzung von Häusern, die sonst dem endgültigen Verfall preisgegeben

wären. Der Begriff war v. a. in Leipzig in der Stadt­ entwicklungspoltik nach der Wende gebräuchlich. 96 Krahl 2015, 62. 97 Vgl. Krahl 2015. Auch in Wien wurde 2015 ein ehemaliges Seniorenheim aus den 1960er Jahren zum Hotel »Magdas« umgebaut, das – finanziert über Crowdfunding und einen Kredit der Caritas – ebenfalls von Flüchtlingen betrieben wird. Es gingen viele Sachspenden unterschiedlichster Firmen und Privatpersonen ein, so dass unter anderem eine Bibliothek aufgebaut werden konnte. Ähnlich wie bei dem Umbau eines Berliner Seniorenheimes in ein »Sharehaus Refugio«, das nach einer Idee aus Südafrika gestaltet die Wohnunterkünfte mit Räumen für externe Nutzer verbindet und etwa gemeinsames Kochen, Meditation, Nachhilfe, Urban Gardening, Filmabende und auch Kunstauktionen anbietet. Auch gibt es ein 1963 errichtetes Altenheim, das als Paul-Gerhardt-Haus der Diakonie nach jahrelangem Leerstand nun 66 Räume in einer Gesamtfläche von ca. 2.600 qm anbietet. Vgl. auch die Darstellung durch AllesWirdGut Architektur Wien in: Mühlbauer / Shretah 2017, 301–306. Diese zumeist hochgelobten und immer wieder als Vorzeigeprojekte herausgehobenen Initiativen sind wichtig, zugleich aber so singulär, dass sie auch sichtbar machen, was alles nicht geschieht. 98 Cachola Schmal et al. 2016. 99 Vgl. Mühlbauer / Shretha 2017, 6–7. 100 Saunders 2011, 155. 101 Saunders-Motto, in: Cachola Schmal et al. 2016, 155. 102 Saunders 2016a, 23. 103 Vgl. zur deutschen Debatte: Sternberger 1990; Habermas 1992 sowie Rehberg 2014b. 104 Saunders 2016a, 35 und Saunders 2016b, 117. Dafür steht das Beispiel des Dong Xuan-Centers in BerlinLichtenberg in: Saunders 2016b, 117–153 sowie in Mager 2017. 105 Saunders 2016a, 39. 106 Positiv wird die Möglichkeit des Ausweichens in verlassene Landstriche, etwa einstmalige vom Braunkohleabbau bedrohte und bereits verlassene Dörfer erwogen in: Maak 2015. Bei Duttweiler 2013, 9 wird auf das Asylverfahrensgesetz (AsylVfG 1982) verwiesen, wo die Regelunterbringung in peripheren und desintegrierten Standorten nahelegt wird. 107 Vgl. Saunders 2016a, 31–35. 108 Vgl. Münkler / Münkler 2016, 8–9. 109 Vgl. Schulze-Böing / Peikert 2016 [Interview mit Kai Vöckler: 243–261 und Offenbachportraits: 264–283] sowie Bokern 2016, 187–197. 110 Vgl. Holl 2017. 111 Vgl. Saunders 2011, 266ff. 112 Vgl. Saunders 2011, 401–402. 113 Saunders 2011, 409. 114 Vgl. Wirnshofer 2017.

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Völkerwanderung und Baukultur Die Vandalen in Nordafrika

Philipp von Rummel

Die Zeit der sog. Völkerwanderung (ca. 375–568 n. Chr.) bietet spannende Beispiele zur Diskussion der zentralen Frage dieses Bandes. Zum einen gab es, wie der Epochenname schon sagt, in dieser Zeit zahlreiche Bewegungen von Menschengruppen über teilweise große Entfernungen. Zudem ist die als Völkerwanderung bezeichnete Zeit ein historiographisch überaus interessantes Studienobjekt. In stärkerem Maße als andere Epochen diente sie immer wieder, und nicht zuletzt auch wieder in ganz besonderer Weise in den vergangenen Jahren, als Projektionsfläche für aktuelle Probleme, Ängste und Utopien.

Die »Völkerwanderung« Die Wurzeln des Mythos »Völkerwanderung« reichen zurück bis in die Renaissance. Spätestens seit dem 19. Jh. galt sie im europäischen Geschichts­ bewusstsein als grundlegender Einschnitt – in den letzten Jahren mehren sich jedoch Stimmen, die ihn grundsätzlich in Frage stellen.1 Von Anfang an besaß der Begriff »Völkerwanderung« eine doppelte Bedeutung: Einerseits bezeichnete man damit ein bestimmtes historisches Ereignis, nämlich die Niederlassung auswärtiger Kriegergruppen auf dem Boden des sich auflösenden römischen Imperiums. Andererseits meinte man damit eine bestimmte historische Epoche, die das Ende der Antike und zugleich den Beginn des Mittelalters markiert habe. Ob die beiden Begriffsebenen, Ereignis und Epoche bzw. Migrationsereignis und Epochenwechsel, tatsächlich in einem kausalen

Zusammenhang stehen, wie lange angenommen wurde, und daher unbesehen in einem Begriff zusammengeführt werden können, muss kritisch hinterfragt werden. Ebenso müssen wir, bevor wir Veränderung durch »Völkerwanderung« apriorisch annehmen und nach den Mechanismen fragen, die zur Transformation des Bauens in der Folge von individueller und kollektiver Einwanderung geführt haben, für jeden Einzelfall prüfen, welcher Art die besprochene Einwanderung war und wer die migrierenden Menschen waren. Die Antwort auf diese Fragen trägt erheblich dazu bei, mit welchem Blick wir die Bautradition betrachten, ebenso wie umgekehrt sichtbare oder eben nicht vorhandene Veränderungen wiederum den Blick auf die Menschen und Gruppen beeinflussen, die wir untersuchen. Der historiographische Blick auf die traditionell als »Völker« bezeichneten Gruppen war stets einem zeitgebundenen Wandel unterworfen. Es steht außer Frage, dass mit dem gleichen Set von Quellen sehr unterschiedliche Erzählungen der gleichen Vorgänge entwickelt werden können.2 Dennoch aber gilt es zu fragen, ob die Kategorie »Volk« für die Beschreibung der spätantiken Vorgänge das angemessene terminologische Werkzeug ist. Völker sind heute selbstverständlicher Teil unserer politischen Vorstellungswelt. Die heutige Vorstellung von Völkern hat ihren Ursprung im späten 18. Jh., als sich in Europa die Idee der Nationalstaaten entwickelte und verbreitete. Völker galten nun als quasi natürliche Einheiten, die ursprünglicher und älter sind als alle Staaten, und deren einzig sinnvolle Organisationsform ein Nationalstaat

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sei. Teil dieser Vorstellung und auch Kern heutiger »identitärer« Debatten ist ein essentialistischer Volksbegriff, der nicht nur von einer Blutsund Geistesgemeinschaft eines Volkes ausgeht, sondern auch von einem bestimmten ›Volkstum‹, das sich etwa in Sprache, Kunst und Kultur äußere. Völker sind in dieser traditionellen Sichtweise wie »kollektive Individuen«, die wie einzelne Personen über unverwechselbare Züge verfügen, über einen einheitlichen Willen, ein gemeinsames Schicksal und selbstverständlich auch über eine übereinstimmende Geschichte. Tatsächlich zeigt sich aber, dass Sprachgruppen keineswegs mit Völkern gleichzusetzen sind, genau wie Nationen in sich auch ohne rezente Migrationsereignisse nicht kulturell homogen sind. Dies gilt für heutige Völker und umso mehr für Gruppen der Vergangenheit, die den nationalromantischen Volksbegriff noch nicht kannten. Dennoch schrieb die Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jh. unsere Vergangenheit zu einer Geschichte der Völker und Stämme um. Völker galten ihr als eigentliche Akteure des historischen Geschehens, die nacheinander auf der Bühne der Weltgeschichte auftraten, sich dramatisch bekämpften, um zu siegen oder unterzugehen. Die Epoche der Völkerwanderung war von dieser nationalen Geschichtsschreibung besonders betroffen: Einerseits sahen eine ganze Reihe moderner Staaten in Europa bestimmte völkerwanderungszeitliche Gruppen als ihre unmittelbaren Vorfahren an. Die Gelehrten aus diesen Ländern ergriffen deshalb häufig in ihren Geschichts­darstellungen Partei für eine bestimmte Fraktion, beispielsweise die deutschen Historiker und Archäologen für »die Germanen«. Nicht von ungefähr heißt die Völkerwanderung auf Französisch »invasions barbares«. Andererseits reduzierte man das ganze chaotische, vielstimmige und nicht zielgerichtete Geschehen während der Völkerwanderung auf ein einheitliches Motiv, nämlich die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Völkern. Hinter den schriftlich überlieferten Gruppenbezeichnungen wie »Vandalen«, »Goten« oder »Franken« verbergen

sich jedoch keine langlebigen, unveränderlichen Einheiten, sondern im Gegenteil sich stetig wandelnde Interessens­gemein­schaften, die vor allem durch gemeinsame Ziele zusammengehalten wurden. Mitunter besaßen diese – oder zumindest ihre Kern­gruppen – zwar eine gemeinsame Sprache, Religion und Abstammungsglauben, mussten es aber nicht. Auch die Annahme, jene Gruppen und ihre Staats­gründungen auf dem Gebiet des westlichen Imperiums wären die wichtigste Ursache für das Ende des Römischen Reichs und damit den Zusammenbruch der antiken Zivilisation, muss wesentlich differenzierter betrachtet werden. Dies ist für unsere Frage entscheidend, denn die Beschreibung und Positionierung von Einwanderergruppen beeinflusst stark die Sicht auf die Frage, wie jene Einwanderer die Baukultur beeinflusst haben könnten. Betrachten wir dies im Folgenden an dem konkreten Beispiel der Vandalen, die von Mitteleuropa aus über Spanien nach Nordafrika zogen und dort ein ungefähr 100 Jahre währendes Königreich schufen.3 Da der Kontrast zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen hier alleine schon aufgrund der geographischen Distanz besonders groß ist, eignet sich dieses Beispiel besonders gut für eine Diskussion über die Transformation des Bauens in der Folge von individueller und kollektiver Einwanderung.

Vandalen und Alanen erreichen Nordafrika Im Jahr 429 n. Chr. überquerte ein Heer unter der Leitung des vandalischen Königs Geiserich von Spanien aus das Mittelmeer und landete auf dem afrikanischen Kontinent. Im Gegensatz zu den Grenzgebieten des Römischen Reiches an Rhein und Donau, in denen die kriegerischen Konflikte und Migrationen in der ersten Hälfte des 5. Jhs. schon seit vielen Generationen fast alltäglich waren, war der nordafrikanische Süden des Imperiums vor den Vandalen noch weitgehend unbehelligt von nördlichen Heeresverbänden geblieben. Obwohl sich mit unterschiedlichen maurisch-berberischen

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Stämmen in der Spätantike auch hier »Barbaren« finden und unterschiedliche soziale und religiöse Konflikte Unruhe erzeugten, war Nordafrika zu Beginn des 5. Jhs. im Vergleich zu nördlichen Provinzen noch ein Hort von Wohlstand und römischer Ordnung.4 Die Gemeinschaft, die Geiserich nach Afrika führte, bestand vor allem aus hasdingischen und silingischen Vandalen sowie Alanen, aber auch aus Römern, Goten und Sueben. Sie umfasste wahrscheinlich zwischen 50.000 und 80.000 Personen, darunter etwa 15.000 Soldaten.5 Nach Christian Courtois lebten zu dieser Zeit in den nordafrikanischen Provinzen des Römischen Reiches ungefähr drei Millionen Menschen.6 Einem Vandalen/einer Vandalin standen demnach etwa 40 Menschen nordafrikanischer Herkunft gegenüber. Wenn diese Zahlen auch geschätzt und keineswegs sicher sind, so helfen sie doch zu illustrieren, dass die vandalische Gemeinschaft zwar nicht zahlenmäßig dominant, aber auch nicht so klein war, dass sie sich in der Masse der einheimischen Bevölkerung vollkommen verloren hätte. Die Frage, ob diese Vandalen in der Baukultur Spuren hinterlassen haben, ist also durchaus sinnvoll. Zehn Jahre nach ihrer Ankunft in Nordafrika eroberten die Vandalen unter Führung Geiserichs 439 n. Chr. Karthago, die Hauptstadt des römischen Afrika, und damit die bedeutendsten Teile der afrikanischen Provinzen. Für das westliche Römische Reich war diese Eroberung fatal, da die reichen Steuereinnahmen aus Afrika nun nicht mehr zur Verfügung standen. Daher unternahmen ost- und weströmische Truppen 441 n. Chr. gemeinsam den Versuch, die afrikanischen Provinzen durch eine massive militärische Intervention wiederzugewinnen. Dem Feldzug war jedoch kein Erfolg beschieden, da das Reich auch durch Druck von Hunnen an der Donaugrenze und Persern im Osten bedroht war. Mit dem Scheitern dieses Feldzuges konnten sich die Vandalen dauerhaft in Afrika niederlassen. 442 n. Chr. schlossen Geiserich und der weströmische Kaiser Valentinian III. einen Vertrag, demzufolge dem römischen Kaiser lediglich der westliche Teil von Numidien

und die mauretanischen Provinzen (im heutigen Algerien und Marokko) verblieben. Die nun vandalischen Gebiete verteilte Geiserich unter seinen Anhängern. Als königlichen Besitz behielt er die Provinzen Byzacena und Numidien (im heutigen südlichen Tunesien und Ostalgerien). Grundstücke in der Provinz Africa Proconsularis (Nordtunesien) übergab er seinem Heer als erblichen und steuerfreien Besitz. Die weniger ertragreichen Böden beließ Geiserich den früheren Besitzern, belegte sie aber mit so hohen Steuern, dass sie keine Gewinne erwirtschaften konnten.7 Diese Neuaufteilung des Landes ging mit umfangreichen Enteignungen römischer Vorbesitzer einher, die exiliert, in den Status von Kolonen versetzt oder versklavt wurden.8 In Hinsicht auf die Landverteilung errechnete Courtois ein eindrucksvolles Modell: Wenn etwa 15.000 Angehörige des vandalischen Heeres zu versorgen gewesen wären und jeder einzelne einen Besitz von 50 Hektar erhalten hätte, dann wäre hierfür nur die Hälfte des riesigen vormals kaiserlichen Besitzes in Nordafrika nötig gewesen.9 Es war genug Land vorhanden, um das vandalische Heer zu versorgen. Dennoch aber zeigt ein brutal niedergeschlagener Aufstand gegen Geiserich 442 n. Chr., dass einige mit dem Modus der Verteilung nicht zufrieden waren.10

Abgrenzung und Erkennbarkeit der Vandalen Wie aber haben sich Vandalen von Nicht-Vandalen in Nordafrika unterschieden? Zu nennen sind hier an erster Stelle Merkmale, die keine Spuren in der Sachkultur oder im Bauwesen hinterlassen haben. So war neben Verwandtschaft und vererbter Zugehörigkeit zum Verband vor allem die soziale Zugehörigkeit zum Verband der Vandalen, also die gegenseitige Akzeptanz von König und Gefolgsleuten, von entscheidender Bedeutung. Der Kern der vandalischen Gemeinschaft bestand aus den Familien, die mit Geiserich von Spanien nach Afrika gekommen waren. In Afrika kamen jedoch neue Menschen hinzu: Nordafrikanische

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Frauen, die von Vandalen geheiratet wurden und Männer, die mit den neuen Herrschern zusammenarbeiteten und eine wichtige, ja unverzichtbare Stütze der Verwaltung und Führung des Königreiches darstellten. Viele von diesen »Neuvandalen« nahmen die homöische (arianische) Konfession an. Andere blieben jedoch, wie Victor von Vita bezeugt, katholisch, galten aber dennoch als Vandalen.11 Ähnlich wie im religiösen ist es auch in anderen Lebensbereichen schwierig, Vandalen klar von den anderen im Nordafrika lebenden Menschen abzugrenzen. So ist auch eine sprachliche Abgrenzung der Vandalen nicht möglich. Zeugnisse einer gesprochenen germanischen Sprache im Vandalenreich existieren nicht. Lediglich eine unklare Textstelle und die Verwendung germanischer Namen lassen es möglich erscheinen, dass zumindest im Kern der vandalischen Gemeinschaft eine germanische Sprachtradition gepflegt wurde.12 Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Vandalen in Nordafrika in einem recht polyglotten Umfeld lebten, in dem zumindest Latein, Griechisch, in bestimmten Regionen auch Punisch und berberische Sprachen zum Alltag gehörten. Ein klares Unterscheidungsmerkmal zwischen Vandalen und Nicht-Vandalen war das Verhältnis zur neuen Form der Herrschaft. Während die eroberten Provinzen zuvor Teile des von römischen Kaisern regierten riesigen Reiches waren und von entsandten Vertretern verwaltet wurden, herrschte nun ein König in der zur Hauptstadt eines Reiches gewordenen ehemaligen Provinzkapitale Karthago. Ihn als Herrscher anzuerkennen und von ihm und seinem Umfeld als Mitglied der Gemeinschaft anerkannt zu werden, war eine der entscheidenden Voraussetzungen, Vandale zu sein. Die vandalische Gemeinschaft war in erster Linie eine militärische.13 Auch dies unterschied sie von der zivilen Bevölkerung der Provinzen, genau wie ihre militärische Kleidung, die Victor von Vita habitus barbarus nennt.14 Dieser Habitus wurde nach Victor von Angestellten am vandalischen Königshof getragen, von Arianern und Katholiken sowie von Männern

und Frauen, und wies am weiblichen Gewand wohl im römischen Afrika unbekannte Modeelemente auf, die mit den Vandalen ins Land gekommen sein können.15 Wenn das vandalische Königtum auch eine neue Form der politischen Ausrichtung sowie Loyalitätspflichten mit sich brachte, so deutet doch vieles darauf hin, dass das Römische Reich auch in vandalischen Kreisen weiterhin ein wichtiger Maßstab war, nicht nur in seiner geistig-literarischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und religiösen, sondern auch in seiner politischen Dimension. Das Vandalenreich war im Grunde eine kleine Kopie des Römischen Reiches, die sich möglicherweise weiterhin als Teil eines größeren Ganzen gesehen hat. Den Vandalen gelang es, das Funktionieren einer römischen Ordnung über ein Jahrhundert aufrecht zu erhalten. In dieser kleinen Kopie übernahmen die Vandalen auch die Rolle Roms gegenüber den einheimischen maurischen Stämmen. So übergab der vandalische König in einem offiziellen Ritual maurischen Fürsten die Insignien der Herrschaft.16 In einem berühmten Vergleich von Mauren und Vandalen stellt Prokop das luxuriöse Leben der Vandalen der ärmlichen Existenz der Mauren gegenüber. Die Quelle, die im Kontext der Flucht des Vandalenkönigs Gelimer nach der Niederlage gegen die Truppen Justinians zu den Mauren auf dem Berg Papua zu sehen ist, beschreibt die Vandalen als das am stärksten verweichlichte aller Völker, ganz im Gegensatz zu den kriegstüchtigen Mauren: Denn seit der Eroberung Libyens nahmen ja sämtliche Vandalen Tag für Tag warme Bäder und hatten ihre Tafel mit den schmackhaftesten und besten Speisen besetzt, was Land und Meer eben bieten. Sie trugen reichsten Goldschmuck, dazu persische Gewänder, die man jetzt serische heißt, und brachten ihre Tage in Theatern, auf Rennbahnen und bei sonstigen Lustbarkeiten, am meisten aber mit Jagden zu. Außerdem gab es bei ihnen Tänzer und Schauspieler sowie zahlreiche Darbietungen für Aug’ und Ohr, kurz alles, was bei Menschen Musik heißt und sonst als sehenswert gilt. [...] bei jeder Gelegenheit veranstalteten sie Trinkgelage und übten sich eifrig in allen

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Arten von Liebesgenuss. Die Maurusier [Mauren] hingegen wohnen Sommer wie Winter und zu jeder anderen Zeit in engen Zelten und können sich so weder gegen Schnee noch Sonnenhitze noch sonstige Unbilden der Natur schützen. Sie schlafen auf dem Erdboden, wobei sich die Wohlhabenden allenfalls ein kleines Fell unterlegen. Auch ist es bei den Maurusiern nicht herkömmlich, sich den verschiedenen Jahreszeiten entsprechend zu gewanden, sie tragen vielmehr jederzeit einen dicken Mantel und ein grobes Hemd. Ebensowenig kennen sie Brot oder Wein oder sonst etwas Schmackhaftes. Sie verzehren statt dessen Korn, Weizen und Gerste, ungekocht und ungemahlen und nicht anders als die Tiere17.

Prokop nimmt so eine Gegenüberstellung vor, die in der römischen Ethnographie altbekannt war: die Kritik an verweichlichten Kulturmenschen durch den Vergleich mit harten, urtümlichen Barbaren. Die entscheidende Information dieser Quelle ist, dass die Vandalen von ihrem römisch-städtischen Umfeld offenbar kaum zu unterscheiden waren.

Spuren der Vandalen Was aber taten die neuen vandalischen Besitzer mit dem Land, das sie erhalten hatten, und wie beeinflussten sie dessen Baukultur? Seit HenriBaptiste Grégoires negativer Verwendung des Vandalenbegriffs im Jahr 1794, mit dem er die Vernichtung von Kunstwerken durch jakobinische Eiferer anprangerte,18 entwickelte der ›Vandalismus‹ eine derart nachhaltige Kraft,19 dass sogar in gelehrten Kreisen davon ausgegangen wurde, der Vandalenzug über Gallien und Spanien bis nach Afrika habe sich gewiss durch umfangreiche Verwüstungen bemerkbar gemacht. Zerstörungen durch die Vandalen sind bis auf wenige Hinweise während der Eroberung Karthagos 439 n. Chr. in Schriftquellen jedoch kaum nachzuweisen. Die Eroberung war zweifellos von Brutalität und grausamen Ereignissen begleitet. Archäologisch konnte bisher jedoch kein Zerstörungsbefund sicher mit den Vandalen in Verbindung gebracht werden; vor allem zeigt sich bisher nirgendwo die von Victor von Vita

beschriebene allgemeine Zerstörung, die so gewaltsam gewesen sei, »dass jetzt jene alte Schönheit der Städte so sehr verschwunden ist, als hätte sie gar nicht existiert«20. Ein in diesem Zusammenhang interessanter Befund im Odeonsviertel in Karthago wird weiter unten ausführlicher besprochen.21 Bei ihrer Ankunft übernahmen die Vandalen die Häuser der enteigneten Römer samt Land­ besitz, Pächtern, Handwerkern und Sklaven. Der oströmische Historiker Prokop schreibt hierzu, ihre Mehrzahl habe »in gut bewässerten und mit Bäumen reich bestandenen Lustgärten (paradeisoi)« gewohnt.22 In der älteren Literatur zu den Vandalen ist daher häufig zu lesen, sie hätten Städte gemieden und sich vor allem auf dem Land niedergelassen. Ob die paradeisoi auf dem Land lagen oder in Städten, ist jedoch nicht bekannt. Zumindest einige Städte waren unter vandalischer Herrschaft noch wichtige Ver­wal­ tungs­zentren, in denen, wie etwa Inschriften aus Haïdra (Ammaedara) oder die Tablettes Albertini (ein bedeutender Fund von beschrifteten Holz­ täfelchen) zeigen, die städtische Oberschicht noch immer ihrer alten Bestimmung als Stadtherren nachkam. 23 Ohne eine gewisse Anzahl städtischer Vandalen hätte die vandalische Herrschaft diese Zentren nicht kontrollieren können. Viele der inschrift­lichen Hinweise, die auf vandalische Anwesenheit hindeuten, stammen zudem aus Städten.24 Die wirklich reichen Vandalen besaßen wahrscheinlich sowohl Häuser in Städten als auch auf dem Land. In der Spätzeit des Vandalenreichs gibt der Dichter Luxorius mit einem Lobgedicht auf das Garten­ schlösschen des vandalischen Adligen Fridamal einen Einblick in vandalisches Leben in Nord­afrika. Der Dichter besingt eine turmartige Villa inmitten eines Waldes samt Gärten, Brunnen und kunstvoller Ausstattung, die genau wie der Dichter Fridamals Tapferkeit und seinen Jagd­erfolg preist.25 Wenn der im Gedicht besungene Fridamal sicher auch nicht repräsentativ ist für die ganze vandalische Gemeinschaft, so lebt er im Gedicht ungefähr so, wie es auch auf Mosaiken

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dargestellt ist, die ebenfalls aus dem 5. Jh. stammen und gänzlich römisch-aristokratisches Leben zeigen.26 Es ist daher nicht erstaunlich, dass in Nordafrika bisher keine Bauten gefunden wurden, die dort fremd wirken und Bezüge zu den Aus­wan­de­rungs­ gebieten der Vandalen im heutigen Polen oder an der Donau aufweisen. Dass Vandalen in Afrika traditionelle Holzhäuser gebaut haben, ist auch sehr unwahrscheinlich. Bauholz ist im Gegensatz zu Stein in Nordafrika schwer zu beschaffen, und es gibt eigentlich keinen Grund, dass die neue Elite des Landes freiwillig auf die Annehmlichkeiten der lokalen Architektur verzichtet hätte.27 Sowohl die archäologischen Quellen als auch Prokop bezeugen, dass die Vandalen einen sehr ›römischen‹ Lebensstil pflegten, zu dem auch die Badekultur gehörte. Eine in der Altstadt von Tunis als Spolie wiederverwendete und dort in zwei Teilen gefundene Inschrift bezeugt den Bau, vielleicht auch die Renovierung von Thermen durch den Vandalen Gebamund, einen Angehörigen der königlichen Familie der Hasdingen. Mit dem Bau öffentlicher Bade­anlangen zum Wohle der Bevölkerung nahm Gebamund die Tradition römischer euergetischer Stiftungen auf. Die Inschrift besitzt die Gestalt eines Epigramms aus sechs Hexametern und zeigt so den Willen des vandalischen Herrscherhauses, seine klassische Bildung zu demonstrieren.28 Eine eigene vandalische Chronologie, die in Inschriften und auf Münzen bezeugt ist, begann die Zählung ganz in römischer Tradition im Jahr der vandalischen Eroberung Karthagos 439. Zusätzlich wurde unter den Nachfolgern Geiserichs eine Datierung in Regierungsjahren des jeweiligen Königs verwendet.29 Auch ihre Toten bestatteten die Vandalen in römischer Manier auf älteren Nekropolen oder in Kirchen. Lediglich eine kleine Zahl von zumeist reichen Gräbern mit prunkvoll gewandeten Toten weist auf ein fremdes, in Afrika zuvor unübliches und daher wohl mit den Vandalen verbundenes Be­stat­tungs­ritual hin. Anstelle von Architekturimporten von den Nord­ grenzen des Römischen Reiches ist im

vandalischen Reich eine Blüte römischer Bau­ tradition festzustellen. Als Beispiel sei hier die »Maison de la rotonde« vorgestellt, ein eindrucksvolles Haus auf dem sog. Odeons­hügel in Karthago, das von einem französisch-tunesischen Team von 1987 bis 2000 untersucht und beispielhaft vorgelegt wurde.30 Das Haus liegt zwischen den Kardines 9 und 10 Ost südlich des Decumanus 6 Nord des römischen Karthago. Erste Baumaßnahmen sind hier im 1. Jh. n. Chr. noch in julisch-claudischer Zeit festzustellen. In punischer Zeit lag das Areal außerhalb der Stadt, wovon punische Gräber des 4. und 3. Jhs. v. Chr. unter der römischen Bebauung zeugen. Zur ersten Phase gehören Bassins für die Herstellung von Garum, die den handwerklichen Charakter dieses Quartiers in seiner Frühphase zeigen. Die zweite Phase des Komplexes beginnt in severischer Zeit mit der Ostausdehnung des Gebäudes und seiner Umwandlung in zwei Wohnkomplexe im nördlichen und südlichen Teil. Das Gebäude war in seiner zweiten Phase über zweihundert Jahre in Benutzung. Die in severischer Zeit erfolgte Mosaik­austattung der zweiten Phase zeigt schwarz-weiße geometrische Muster, die in Italien im 1. Jh. n. Chr. beliebt waren, in Karthago aber offensichtlich noch ein Jahrhundert später verlegt wurden. In der dritten Phase fasste ein potenter Bauherr die beiden Teile im Süden und Norden zu einem Gesamt­ ensemble zusammen. Für den nun großen Bau wurden im Südosten neue Terrassierungen sowie im Nordwesten des großen Peristyls ein repräsentativer Saal mit einer Apsis und daneben der namensgebende runde Raum mit Apsis angelegt. Die umfangreichen Baumaßnahmen sind durch die Verfüllung einer Zisterne, die über 13.000 Keramik­ fragmente enthielt, gut zu datieren. Die jüngsten Stücke stammen hier aus der ersten Hälfte des 5. Jhs. n. Chr. Die Ausgräber gehen davon aus, dass die Bau­ maßnahmen nicht beendet worden sind und erklären die Unterbrechung der Arbeiten am Bau mit der Eroberung Karthagos durch die Vandalen im Jahr 439 n. Chr.31 Ob die Befunde aber tatsächlich Auswirkungen der vandalischen Eroberung zeigen,

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scheint nicht so sicher, wie es in der Publikation dargestellt wird. Die archäologischen Fakten bezeugen große Bauarbeiten in der Maison de la rotonde im frühen 5. Jh. n. Chr. und eine weitere, umfassende Umgestaltung des Hauses im späten 5. Jh. Dabei wurde stark in die ältere Bausubstanz eingegriffen, vor allem auch im Bereich des Peristyls. Die These, dass der Bau der dritten Phase nicht fertiggestellt wurde, basiert auf der Beobachtung, dass das Peristyl einen Meter tiefer als der Vorgänger­ bau neu errichtet wurde. Es sei daher unwahrscheinlich, dass man die Niveau­absenkung unternommen hätte und auf gleichem Grundriss neu gebaut habe, zudem in schlechterer Qualität, wenn der Vorgängerbau fertiggestellt gewesen wäre. Andere Elemente des Vorgänger­baus seien dagegen übernommen worden.32 So entsteht die Erzählung einer Unterbrechung der laufenden Bauarbeiten durch die Eroberung, die Zeit einer längeren Brache und die Wiederaufnahme der Bauarbeiten im fortgeschrittenen Vandalenreich. J. Freed zieht aus dem Befund der Maison de la Rotonde gar einen Zusammenhang zwischen der von Victor von Vita überlieferten Zerstörung des Odeons und des Theaters mit dem Niedergang der umliegenden Bebauung.33 Hier ist jedoch Vorsicht geboten. Die Zer­ störung von Odeon und Theater sind primär bei Victor von Vita überliefert. Archäologisch ist die Zerstörung durch die frühe, dokumentationslose Ausgrabung weder bewiesen noch widerlegt. Theater und Odeon sind aber zumindest keine starken Argumente, die die These für die Maison de la rotonde stärken würden.34 Durchaus möglich ist daher eine Nutzung des Gebäudes bis zum Beginn der nächsten Bauphase im letzten Viertel des 5. Jhs bzw. zu Beginn des 6. Jhs. Hierbei handelt es sich um jene umfangreichen Bau­maßnahmen, die im Kontext dieses Beitrages von besonderem Interesse sind: Das Haus gruppiert sich nun um einen großen Peristylhof, der mit seinen 24 Säulen zu den größten Karthagos gehört. Den Apsiden­saal, wahrscheinlich ein stibadium, schmückte ein prächtiges Mosaik. Die ebenfalls luxuriös ausgestattete Rotunde diente

wohl einem Mitglied der vandalischen Elite, wie die Ausgräber vermuten, als »petit appartement privé«35. In Größe und Ausstattung gehören diese Räume zu den umfangreichsten Komplexen, die im römisch-vanda­lisch-byzantinischen Karthago bisher entdeckt wurden. In Form und Technik ist kein Unterschied zum gleichzeitigen römischen Bauen festzustellen; auffällig ist lediglich ein Kontrast zwischen der prächtigen Ausstattung der Räume und der bescheidenen Qualität der Bausubstanz. Die Datierung der Phase erfolgt auch durch zwei Münzen des Vandalen­königs Gunthamund, die in der Bettung des Mosaiks im Apsidensaal gefunden wurden. Die Ergebnisse dieses Projekts sind durchaus als spektakulär zu bezeichnen: Noch nie wurde zuvor in einer umfassenden archäologischen Publikation so klar gezeigt, wie luxuriös in vollständig römischer Kontinuität im Vandalenreich gebaut wurde. Dieser Befund passt allgemein gut in das Bild einer wirtschaftlichen und kulturellen ›Renaissance‹ im späteren Vandalenreich, die anhand verschiedener Quellengattungen wahrscheinlich zu machen ist. So prägten beispielsweise die Vandalen seit König Gunthamund (484–496) eigene Bronze- und Silbermünzen, deren weite Verbreitung für die Vitalität des vandalenzeitlichen Handels spricht.36 Auch die berühmte afrikanische Feinkeramik wurde wie zuvor unter römischer Herrschaft im Vandalenreich produziert und in den gesamten Mittelmeerraum exportiert. In Rom stammten noch in der zweiten Hälfte des 5. Jhs. bis zu 90 % der Feinkeramik aus nordafrikanischer Produktion.37 Dies bezeugt, dass die unentbehrlichen Lebensmittellieferungen aus Nordafrika trotz der vandalischen Eroberung und der daraus resultierenden Hindernisse Rom noch immer erreichten. Der vandalische Einfluss auf Stadtbilder und größere urbanistische Zusammenhänge ist auf der Grundlage des heutigen Forschungsstandes nur sehr grob zu beurteilen. Die beeindruckenden Elemente von Kontinuität in Architektur, Bauschmuck und Ausstattung wird durchaus auch von Entwicklungen begleitet, die in eine andere

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Richtung deuten. Ein Anzeichen dafür ist beispielsweise das für Karthago gut untersuchte, aber auch in vielen anderen nordafrikanischen Städten zu beobachtende Phänomen vandalenzeitlicher Gräber in bereits aufgegebenen Stadtvierteln.38 Vergleicht man den Zustand der afrikanischen Städte um das Jahr 300 mit demjenigen um 500, sind überall deutliche Veränderungen festzustellen. Die zunehmenden Schwierigkeiten der kurialen Verwaltung der Städte verursachten besonders im Bereich des öffentlichen Raumes und öffentlicher Bauten einen deutlichen Niedergang, der sich nicht nur im Bereich der Inschriften, sondern auch in zahlreichen archäologischen Befunden abzeichnet. Besonders eindrücklich zeigt sich diese Entwicklung bei den städtischen fora, von denen die meisten ihre Funktion schon im 5. Jh. verloren hatten. Statt öffentlicher Bauten, deren Bau und Erhaltung traditionell in der Hand der nun geschwächten städtischen Eliten lag, zeigt der archäologische Befund des 5. Jhs. ein großes

Interesse an privaten Bauten und natürlich an Kirchen, die zunehmend die die Städte dominierenden öffentlichen Bauten waren.39 Diese urbanistischen Entwicklungen hatten jedoch in allen ihren Elementen bereits vor den Vandalen begonnen und setzten sich nach der byzantinischen Eroberung fort. Sie sind zudem in anderen Provinzen des Reiches auch zu beobachten und stehen daher in keinem direkten Zusammenhang zur Migration der Vandalen. Durch die Eroberung verlor das westliche Römische Reich seine reichsten Provinzen und ergiebigsten Steuerquellen. Die Vandalen beschleunigten in diesem Sinne durchaus den Niedergang des Weströmischen Reiches. Kulturelle oder ethnische Differenz sind jedoch keine Faktoren, die den Wandel der afrikanischen Provinz unter vandalischer Herrschaft beschleunigt hätten. Entgegen allen ›vandalistischen‹ Erwartungen ist in diesem Beispiel kein Einfluss von Migration auf die Transformation von Baukultur festzustellen.

1 Pohl 2005; Halsall 2007; Fehr / von Rummel 2011; Steinacher 2017. 2 Vgl. Pohl 2013; Heather 2013. 3 Die Geschichte der Vandalen ist in einer Reihe von neuen Übersichtswerken zu erschließen, s. bspw. Berndt 2007; Karlsruhe 2009; Miles / Merrills 2010; Vössing 2014; Steinacher 2016. 4 Leone 2007. 5 Steinacher 2016, 94–95. 6 Courtois 1955, 106. 7 Vict. Vit. 1, 13. Vgl. Vössing 2011, 158–160; Steinacher 2016, 142–146. W. Goffart vertritt die Ansicht, die vandalischen Neuankömmlinge hätten vom König kein Land bekommen, sondern steuerfreie Anteile an Geldmitteln oder Naturalleistungen (Goffart 2010, 78–87; ähnlich Durliat 1988, 40–45). Es gibt jedoch zahlreiche Belege dafür, dass Land tatsächlich von Vandalen in Besitz genommen wurde. 8 Steinacher 2016, 151. 9 Courtois 1955, 276–283. 10 Steinacher 2016, 146–148.

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Steinacher 2016, 109–116. Steinacher 2016, 113–114. Steinacher 2016; von Rummel 2007. Vict. Vit II, 8–9. Vgl. zu dieser kontrovers diskutierten Frage von Rummel 2007; Eger 2012. Prok. Vand. I, 25, 3–9. Prok. Vand. II, 6, 5–14 (Übersetzung O. Veh). Vgl. Steinacher 2004, 942–946. Demandt 1997. Vict. Vit. I, 8: »...ut nunc antiqua illa speciositas civitatum nec quia fuerit prorsus appareat« (Übersetzung Vössing 2011, 37–38). Zur Frage der Zerstörungen vgl. von Rummel 2008, 153– 157. Prok. Vand., 206–207. Duval 1984; Courtois et al. 1952. Der Tatsache, dass alte Ämter fortbestanden, folgt, wie Wickham herausgestellt hat, nicht zwangsläufig die Annahme eines Fortbestehens der Kurien: Wickham 2007, 637. Courtois 1955, 367–388 (Appendice II).

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25 Anth. Lat. 304: »[...] Haec vero aetherias exit quae turris in auras, / Consessum domino deliciosa parans, / omnibus in medium lucris ornata refulget / obtinuitque uno praemia cuncta loco. / Hinc nemus, hinc fontes exstructa cubilia cingunt / statque velut propriis ipsa Diana iugis. / Clausa sed in tanto cum sit splendore voluptas / artibus ac variis atria pulcra micent, / admiranda tuae tamen est virtutis imago, / Fridamal, et stratae gloria magna ferae / qui solitae accendens mentem virtutis amore / aptasti digno pingere facta loco [...]«. »[...] Dieser Turm reicht wahrlich in luftige Höhen,/ er bietet seinem Herrn einen angenehmen Ruheplatz,/ leuchtet inmitten der Wälder prachtvoll hervor/ und vereint alle denkbaren Vorzüge an einem Ort./ Hier umgeben Haine, dort Brunnen die Räume/ und wie auf heimischem Berg steht eine Statue von Diana./ Ja, obwohl entzückende Dinge in verschwenderischer Pracht verwendet wurden,/ obwohl verschiedenste Kunstwerke die Räume erstrahlen lassen,/ ist doch besonders die Darstellung Deiner Tapferkeit zu bewundern,/ Fridamal, und das auf höchst ruhmreiche Weise erlegte Wild;/ von der Liebe zu der Dir eigenen Tapferkeit getrieben,/ hast Du eine Tat vollbracht, um diesen würdigen Platz zu schmücken.[...]« (Übersetzung P. von Rummel). 26 S. etwa das berühmte Dominus-Julius-Mosaik aus Kar­ tha­go (heute im Bardo-Museum Tunis): Dunbabin 1999, 118–120; zur Datierung ins 5. Jh.: Ben Abed / Duval 2000, 200; vgl. auch die Bände des Corpus des mosaïques de Tunisie. 27 von Rummel 2008, 164. 28 Corpus Inscriptionum Latinarum VIII 25362: »Cerne salutiferas sp[lendent]i marmore Baias / qui calidos aest[us tin]gere quaeris aquis / hic ubi Vulcano Ne[rine](?)

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certat amore / nec necat unda f[aces? n]ec nocet ignis aquas / gaude operi Gebam[undiac]o(!) regalis origo / deliciis sospes ute[re cum] populo.« Deutsch: »Sieh an das heilbringende Bad mit seinem blinkenden Marmor, der du die Gluthitze (der Sonne) durch das Wasser brechen willst. Hier, wo mit Vulcanus Neptunus in Eintracht streite, erstickt weder das Wasser das Feuer, noch schadet das Feuer den Wassern. Freue dich über dein Werk, Gebamundus, königlicher Spross, nutze den Luxus in voller Gesundheit zusammen mit dem Volke« (Übersetzung Busch 1999, 243). – Zur Inschrift Gauckler 1907; Busch 1999, 242–245. Steinacher 2016, 120–125. Balmelle et al. 2012. Balmelle et al. 2012, 106: »La mise en oevre de l’état III se situe donc à une date très voisine de celle de la chute de Carthage en 439 qui marque l’établissement du royaume vandale en Afrique et il n’est pas interdit de penser que son inachèvement s’explique par cet événement historique«. Balmelle et al. 2012, 105–106. «After the Vandals destroyed the odeon and the theatre, the neighboring housing on the Odeon hill, which had clearly been upper-class in the Late Roman period, seems to have gone through a period of internal division and abandonment», Freed 2013, 814. Vgl. von Rummel 2008, 153–157. Balmelle et al. 2012, 138. Morrisson 2003. Panella / Saguì 2001, 779. Leone 2003. Inschriften: Lepelley 1979. Archäologie: Roskams 1996; Potter 2001; Leone 2007; Leone 2013.

Primärquellen

Sekundärliteratur

Prok. Vand. Prokop: Vandalenkriege Griechisch-Deutsch. Übers. O. Veh (München 1971).

Berndt 2007 G. M. Berndt: Konflikt und Anpassung: Studien zu Migration und Ethnogenese der Vandalen (Husum 2007).

Vict. Vit. Victor von Vita: Kirchenkampf und Verfolgung unter den Vandalen in Nordafrika (Herausgegeben, eingeleitet und übersetzt von K. Vössing) (Darmstadt 2011).

Balmelle et al. 2012 C. Balmelle / A. Bourgeois / H. Broise / J.-P. Darmon / M. Ennaïfer: Carthage, colline de l’Odéon. Maisons de la rotonde et du cryptoportique (recherches 1987–2000). Collection de l’École Française de Rome 457, 2 Bde (Rom 2012).

Anth. Lat. Anthologia Latina, sive poesis latinae supplementum I. Carmina in codicibus scripta 1: Libri Salmasiani aliorumque carmina. Hg. A. Riese (Leipzig 1869). Luxorius’ Lobpreis von Fridamals Villa: Anthologia Latina 304.

Ben Abed / Duval 2000 A. Ben Abed / N. Duval: Carthage, la capitale du royaume vandale et les villes de Tunisie à l’époque vandale, in: G. Ripoll / J. M. Gurt (Hg.): Sedes Regiae (Barcelona 2000) 163–218.

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Migration von Architekturelementen, Bauformen und Baustilen

Griechen – Römer – Mitbürger Auftraggeber und Bauprojekte im Kleinasien der römischen Kaiserzeit

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Im Rahmen einer Untersuchung der Auswirkungen von Migration auf Baukulturen bietet sich für die historische Epoche der Antike insbesondere die römische Kaiserzeit als Thema an. Als geographischer Raum wurde für den folgenden Beitrag das westliche Kleinasien1 gewählt. Dies hat vor allem zwei Gründe: Zum einen ist die Quellenlage – sowohl die epigraphischen Zeugnisse als auch die architektonischen Überreste – für diesen Zeitraum und für diese Region sehr gut. So lassen sich vor allem aus Inschriften häufig recht detaillierte Biographien von römischen Amts­trägern rekonstruieren, die auch ihre Aufenthalte in der Stadt Rom und in Kleinasien beinhalten. Gleichzeitig sind in vielen Fällen – wiederum über die Inschriften – den Honoratioren Klein­asiens konkrete Gebäude und Bauprojekte zuzuordnen, die auf eine Beeinflussung durch die Reise­tätigkeit ihrer Stifter hin untersucht werden können. Zum anderen liegt die Auswahl des Unter­ suchungs­ gegenstandes im Römischen Reich selbst begründet: So erlaubten etwa die recht gut ausgebauten Verkehrswege eine Reise­tätigkeit in einem bis dahin für die antike Mittelmeer­welt nicht bekannten Ausmaß und Tempo.2 Gleichzeitig setzte die politische Verwaltungs­ struktur des Römischen Reiches eine hohe Mobilität seiner Amtsträger voraus.3 Dies beinhaltete sowohl den Zwang für römische Senatoren aus den Provinzen, ihren Wohnsitz nach Rom zu verlegen, als auch die Notwendigkeit für römische Amtsträger, sich zur Verwaltung der Provinzen in andere Regionen des Römischen Reiches zu begeben. Gleichzeitig zog diese »offizielle« Reisetätigkeit auch die Mobilität

anderer Bevölkerungs­gruppen, wie etwa von Gesandtschaften oder von Familienangehörigen und anderen Privatpersonen, nach sich. Neben vielen anderen Folgen sind damit auch die Grundlagen für einen intensiven Austausch im Bereich der Baukultur gegeben. Eine wichtige Voraussetzung stellen zu guter Letzt die unterschiedlichen Baukulturen in verschiedenen Gebieten des Römischen Reiches dar, die eine Untersuchung der Auswirkung von Migration erst möglich machten. Während Über­ blicks­werke und Handbücher oft den Eindruck erwecken, Bauen sei im gesamten Römischen Reich ein einheitliches Phänomen, zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass es lokale und regionale Unterschiede gibt. Diese lassen sich nicht zuletzt auch auf unterschiedliche »Baukulturen« zurückführen, die etwa auf anderen Traditionen oder Ressourcen wie qualitativ hochwertigen Bau­ gesteinen oder Hölzern basieren.4 Dies trifft auch auf die Architektur des römischen Kleinasien zu. Im Folgenden sollen im Rahmen von zwei Fallstudien mögliche Zusammenhänge zwischen der Karriere von römischen Amtsträgern und der damit zusammenhängenden Migrationstätigkeit einerseits und den von ihnen gestifteten Bauten andererseits untersucht werden.

C. Iulius Zoilos und seine Bauten in Aphrodisias Das in Karien gelegene Aphrodisias war eine Stadt mittlerer Größe, die vor allem ab dem späteren 1. Jh. v. Chr. ausgebaut und deren öffentlicher

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1  Das Stadtzentrum von Aphrodisias.

Griechen – Römer – Mitbürger

2  Säulen des Aphrodite-Tempels nach dem spätantiken Umbau in eine Kirche.

Raum mit prächtigen Bauten ausgestattet wurde (Abb. 1).5 Der Name, der mit dieser Ausbau­ phase der Stadt wesentlich verbunden wird, ist C. Iulius Zoilos, ein Freigelassener, der sich nach seiner Rückkehr aus Rom große Verdienste um Aphrodisias erwarb und wohl gleichzeitig als eine Art römischer »Botschafter« in seiner alten Heimat fungierte.6 So bezeichnet etwa Octavian, der spätere Kaiser Augustus, Zoilos in einem Brief als einen »Freund« und sorgt sich um dessen Wohlergehen.7 Aus einer Reihe von im Stadtgebiet gefundenen Inschriften lässt sich der Aufstieg des C. Iulius Zoilos aus einer kleinasiatischen Provinzstadt in die mächtige Elite des Römischen Reiches belegen. Auch wenn die Details seiner Karriere im Dunklen bleiben müssen, lassen sich aus den Zeugnissen immerhin Eckdaten rekonstruieren: Zoilos geriet – möglicherweise durch Piraterie oder auch im Zuge von Kriegshandlungen – wohl in noch jugendlichem Alter in den Jahren um 70/60 v. Chr. in die Sklaverei. Wahrscheinlich kam er in weiterer Folge

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3  Die Nord-Stoa der Agora während der Ausgrabung in den 1960er Jahren.

in den Besitz von C. Iulius Caesar, der ihm auf Grund seiner treuen Dienste die Freiheit schenkte und ihn als Freigelassenen in seinen Mitarbeiterstab aufnahm. Nach der Ermordung Caesars 44 v. Chr. wäre er demnach zu Octavian übergewechselt. Nach einer alternativen Deutung der Zeugnisse war es erst Octavian selbst, der Zoilos die Freiheit schenkte.8 In der Zeit nach 44 v. Chr., spätestens im Jahr 38 v. Chr., kehrte Zoilos als wohlhabender und angesehener Mann in seine Heimatstadt zurück und verwendete sein Vermögen für mehrere Bauprojekte in Aphrodisias. Wohl in den 20er Jahren v. Chr. verstarb Zoilos.9 Nach seinem Tod erhielt er ein Ehrengrab oder Heroon.10 Von diesem Grabmonument stammen mehrere Platten mit fast lebensgroßen Reliefdarstellungen von außergewöhnlich hoher Qualität; die Architektur des Bauwerks ist hingegen ebenso wenig bekannt wie sein Standort. Die von Zoilos selbst initiierten Projekte in Aphrodisias sind besser bekannt. Dazu zählen

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4  Bühnengebäude des Theaters, Rekonstruktion von D. Theodorescu.

zumindest Teile der Marmorarchitektur des Aph­ ro­dite-Tem­pels (Abb. 2), dessen Türsturz eine Wid­mungs­inschrift von Zoilos trägt.11 Dieses für Aphrodisias namensgebende Heiligtum liegt im Zentrum der Stadt; sein Pseudo-Dipteros steht letztlich in der Tradition kleinasiatischer Archi­ tektur.12 Ebenfalls zu den von Zoilos finanzierten Bau­ projekten gehört möglicherweise die Nordstoa der nördlichen Agora (Abb. 3), eine zweischiffige Hallen­anlage mit ionischer Ordnung außen und korinthischen Kapitellen im Inneren, wobei die innere Säulenreihe den doppelten Achsabstand der Außensäulen aufwies.13 Das Fragment einer Bauinschrift, die mittig in der Stoa vor dem Bouleuterion gefunden wurde, nennt zwar lediglich einen Priester der Eleuthería; dieser ist nach

J. Reynolds jedoch höchstwahrscheinlich mit der Person des Zoilos zu identifizieren.14 Ein drittes – und wohl auch das größte – Bau­ projekt von Zoilos stellt das Bühnengebäude des Theaters dar (Abb. 4).15 Es ist seiner Inschrift zufolge vor dem Jahr 28 v. Chr. fertiggestellt worden16 und damit das älteste bislang bekannte Büh­nen­gebäude Kleinasiens17, das mit einer zwei­ s töckigen Tabernakelarchitektur ausgestattet war, einer Bauform, die in weiterer Folge nicht nur zur »Standard­ausstattung« nahezu jedes Theaters in Kleinasien avancierte, sondern auch zur Fassaden­gestaltung zahlreicher anderer Bautypen verwendet wurde.18 Im Jahr 55 v. Chr. wurde das Theater des Pompeius eingeweiht, Roms erstes Stein­theater. Zu jener Zeit dürfte der junge Zoilos seiner rekonstruierten Biographie

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5  Die Lage der Celsus-Bibliothek (Nr. 3) im Zentrum von Ephesos.

zufolge in Rom gewesen sein.19 In augusteischer Zeit kam das Marcellus-Theater hinzu, das bereits 44 v. Chr. unter Caesar begonnen worden war. 20 Es dürfte also einiges dafür sprechen, dass Zoilos die Vorbilder für sein Theater-Projekt während seiner Zeit in der Hauptstadt Rom kennenlernte.

Ti. Iulius Celsus Polemaeanus und seine Bibliothek in Ephesos Etwa ein Jahrhundert nach Zoilos ist Ti. Iulius Celsus Polemaeanus anzusiedeln, der in Zusammenhang mit der kleinasiatischen Metropole Ephesos zu diskutieren ist, der Hauptstadt der Provinz Asia (Abb. 5). Celsus stammte wahrscheinlich aus dem

kleinasiatischen Sardes und machte über den Umweg des römischen Militärs in Rom Karriere, wo er unter Vespasian (69–79 n. Chr.) in den Senat aufgenommen wurde. Etwa 84/85 n. Chr. war Celsus Prokonsul der Provinz Pontus et Bithynia. Nachdem er 92 n. Chr. wiederum in Rom das Amt eines Suffektkonsuls ausgeübt hatte, diente er um 90 n. Chr. als Legat in Kilikien und wohl erneut 105/106 als Prokonsul in Kleinasien, in seiner Heimatprovinz Asia. 21 Für unsere Zwecke besonders interessant ist die Tatsache, dass Celsus auch als curator aedium sacrarum et operum locorumque publicorum populi Romani fungierte, also als einer von zwei Leitern der römischen Baubehörde, deren Amtsbereiche in aedes sacrae und loca sacra – also Heiligtümer – sowie in opera publica – öffentlich zugängliche Bauten – getrennt

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6  Die wiederaufgebaute Fassade der Celsus-Bibliothek.

waren.22 In dieser Funktion war Celsus gemeinsam mit seinem Amtskollegen für die Verwaltung von Bauten und Plätzen der Stadt Rom zuständig. Dazu gehörte unter anderem die Instandhaltung von Gebäuden, höchstwahrscheinlich aber auch die Errichtung von Neubauten. Es ist also davon auszugehen, dass Celsus über die aktuellen

Bauprojekte in der Hauptstadt ebenso bestens informiert war wie über neue Entwicklungen auf dem Gebiet der Bautechnik. Der Name des Ti. Iulius Celsus Polemaeanus wird heute in erster Linie mit seinem Grabbau verbunden, der nach ihm benannten Bibliothek in Ephesos (Abb. 6. 7). 23 Der am westlichen Ende

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7  Grundriss der Celsus-Bibliothek.

der Kuretenstraße unmittelbar neben dem Südtor der Tetragonos Agora gelegene Bau besaß zu dem ihm vorgelagerten Platz hin eine zweistöckige Tabernakelfassade. Der querrechteckige Innenraum war auf zwei Ebenen mit Nischen für die Buchrollen ausgestattet. Der Zugang zu der großteils unterirdisch gelegenen Grabkammer

mit dem Sarkophag des Celsus im Westen des Bibliotheks­saales erfolgte über einen Gang, der in der Nordostecke des Innenraumes durch eine Tür betreten werden konnte. Eine Verbindung zwischen Bibliothek und Grabkammer wurde durch mehrere Öffnungen auf Bodenniveau des Innenraumes hergestellt.

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Auch für prominente Bürger war es offenbar nicht ohne weiteres möglich, einen Grabbau un­mittel­ bar im Stadtzentrum zu errichten; die Verbindung mit einer Gebäude­stiftung zum Nutzen der All­ gemein­heit bildete hingegen anscheinend einen guten Vorwand zur Errichtung eines Eh­ren­grabes. Die ungewöhnlich anmutende Kombination von einer Grabkammer mit einem Bib­lio­theks­gebäude könnte ihre Anregung aus Rom, konkret vom Traians­forum, bezogen haben, wo sich der Kaiser im Sockel der nach ihm benannten Säule und in unmittelbarer Nähe von zwei Bibliotheken bestatten ließ.24 Die ephesische Bibliothek wurde nach dem Tod des Celsus, der noch vor 114 n. Chr. anzusetzen ist, durch seinen Sohn Ti. Iulius Aquila Polemaeanus sowie – nachdem auch Letzte­rer verstorben war – über einen Testaments­vollstrecker errichtet. Informationen zur Karriere des Ti. Iulius Celsus Polemaeanus sowie zur Errichtung der Bibliothek und der damit verbundenen Stiftung waren der Inschrift auf dem Architrav des Untergeschosses, den Basen von zwei Reiterstandbildern des Celsus links und rechts der Treppe sowie der Stiftungs­ inschrift zu entnehmen, die auf dem Quader­ mauerwerk im südlichen Interkolumnium angebracht war.25 Zusätzlich zu den Inschriften steht auch das Bildprogramm der Bibliothek im Zeichen der intendierten Botschaft, die die Fassade dem antiken Betrachter vermitteln sollte: In den Nischen des Untergeschosses befanden sich Statuen, die die Tugenden des Celsus verkörperten, aber auch Statuen von ihm selbst waren in der Fassade aufgestellt.26 Ebenso war die Architekturdekoration Teil dieses Programms. An den Seiten von sechs der acht Pilaster des Untergeschosses sind die zwölf konsularischen fasces eingearbeitet, also die Rutenbündel, die das höchste jemals von Celsus ausgeübte Amt, das Konsulat, versinnbildlichen. Aufsteigende Adler in der Frieszone verweisen sowohl auf die Apotheose des Verstorbenen als auch auf den Namen seines Sohnes Tiberius Iulius Aquila Polemaeanus (aquila, lat. für Adler), und

in den Rankenpilastern des Erdgeschosses finden sich Allegorien, die die Themen Tod und Grab andeuten.27 Abgesehen von diesen ikonographischen Details steht die Architekturornamentik der Fassade im Wesentlichen in der Tradition einer kleinasiatischen Formsprache, weist jedoch auch einige innovative Elemente auf, die V. M. Strocka von stadtrömischen Handwerkern beeinflusst sah.28 Anders als aber von ihm angenommen, sind die Kapitelle nicht unbedingt direkt vom Traiansforum übernommen, sondern durchaus mit einem Formenschatz zu vereinbaren, wie er in dieser Zeit in Ephesos üblich war.29 Interessant für das Thema »Migration und Übernahme von Bautechniken« ist das durchgeschichtete Ziegelmauerwerk, das in den oberen Bereichen des Innenraumes verwendet wurde. Generell ist zu konstatieren, dass es sich dabei um eine Bautechnik handelt, die im römischen Kleinasien relativ selten und zumeist nur in geringem Umfang angewendet wurde. An der Westküste Kleinasiens ist die Celsus-Bibliothek eines der frühesten Beispiele für durchgeschichtetes Ziegelmauerwerk.30 Es wäre naheliegend, daraus einen Zusammenhang mit der Funktion des Celsus als Leiter der stadtrömischen Bauverwaltung herzustellen, in deren Rahmen er sicherlich über Kenntnisse der aktuellen Bautechnik verfügte, die in Rom zur Anwendung kam; letztlich kann dies jedoch nur spekuliert werden. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass Celsus wahrscheinlich über verwandtschaftliche Beziehungen zu Ziegelei­ besitzern in der Umgebung von Rom verfügte.31 Dies war für einen curator aedium sacrarum et operum locorumque publicorum populi Romani offenbar keineswegs ungewöhnlich, wie auch andere Zeugnisse nahelegen, und gesetzliche Bestimmungen sollten offenbar einen Missbrauch solcher Verbindungen verhindern.32 Gerade im Hinblick auf die Verwendung von Ziegeln bei der Errichtung des Bibliotheksgebäudes lässt sich jedoch spekulieren, ob hier möglicherweise – wenn auch in begrenztem Umfang – die Verwendung

Griechen – Römer – Mitbürger

von durchgeschichtetem Ziegelmauerwerk propagiert werden sollte, ähnlich wie dies U. WulfRheidt für die wenig später entstandene »Rote Halle« von Pergamon vorgeschlagen hat.33

Zusammenfassung Die Karrieren des Zoilos und des Celsus lassen sich selbstverständlich nicht vergleichen, da beide von äußeren Bedingungen geprägt und von ihren Zeitumständen abhängig waren. Dennoch können anhand dieser beiden Fallbeispiele einige Phänomene zum Thema »Migration und Baukultur in der römischen Kaiserzeit« beleuchtet werden: Beiden Männern ist gemeinsam, dass sie nach einem längeren Aufenthalt und einer damit verbundenen Karriere in der Stadt Rom in ihre kleinasiatische Heimat zurückkehrten. Die Ausstattung

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der jeweiligen Polis mit prächtigen Bauwerken steht ganz in der Tradition des Euergetismus und wurde von wohlhabenden Bürgern erwartet.34 Die gewählten Bautypen ergeben ein differenziertes Bild: Zoilos wählte für Aphrodisias zum einen konventionelle Mittel, wie etwa eine Stoa, zur Ausgestaltung der nördlichen Seite der Agora. Ob und in welchem Umfang er auf das Projekt des Aphrodite-Tempels, eines ebenfalls in kleinasiatischer Tradition stehenden Gebäudes, überhaupt Einfluss nehmen konnte, muss dahingestellt bleiben. Im Gegensatz dazu steht die Tabernakel­ architektur vom Bühnengebäude des Theaters, das als Innovation in Kleinasien gelten darf. Als im frühen 2. Jh. n. Chr. die Kombination aus Bibliothek und Grabbau für Celsus errichtet wurde, war die ÄdikulaArchitektur ihrer Fassade hingegen kein Novum mehr. Die Entscheidung für den Bautyp dürfte vielmehr eher den Repräsentations­bedürf­nissen des

8  Das hellenistische Theater von Priene, Rekonstruktion durch A. von Gerkan.

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Grabinhabers und seiner Familie geschuldet sein als dem Wunsch nach Neuerung. Auch wenn das allgemeine Konzept der Ver­bindung eines Ehren­ grabes mit einer Bibliothek durch das Vorbild des Kaisers Traian selbst inspiriert worden sein könnte, ist dies durch die Lage der Grab­­kammer im Sockelbereich des Gebäudes nur wenig augenfällig. Mit ihren zahlreichen Ädi­kulen und Nischen eignete sich diese ephesische Bibliothek aber zur Aufstellung von Statuen, wie nicht zuletzt auch die Darstellung des Celsus und seiner Tugenden in der Bibliotheks­fassade zeigt. Dieses Bedürfnis nach Repräsentation war im 2. Jh. n. Chr. in Kleinasien weit verbreitet und ist keines­wegs auf Celsus und seine Familie beschränkt. Auch Dekoration und Bildsprache der Bauten in Aphrodisias und Ephesos stehen im Wesentlichen in klein­asiatischer Tradition. In begrenztem Umfang scheint hingegen beim Bau der Bibliothek durchgeschichtetes Ziegel­mauer­werk die Übernahme stadtrömisch-italischer Bautechniken anzuzeigen. Dies kann jedoch nur den Bauvorgang selbst betreffen: Nach der Fertig­­stellung des Bauwerks

wurden die Ziegel mit Marmor­­­verkleidung verdeckt und waren für den Betrachter damit nicht mehr sichtbar. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine Verbindung von Migration und Baukultur im Sinne einer Übernahme von neuen Gebäudetypen oder auch technischen Innovationen in Folge der Verbindungen der kleinasiatischen Oberschicht nach Rom zwar durchaus feststellbar ist, letztlich aber doch offenbar nur in begrenztem Umfang geschah. Eine auffällige Ausnahme stellt hingegen die Fassade des Bühnengebäudes von Aphrodisias dar, die im Vergleich zu den hellenistischen Bühnen Kleinasiens nahezu revolutionär gewirkt haben muss (Abb. 4. 8). Die meisten anderen Bauprojekte auch von weitgereisten kleinasiatischen Stifterpersönlichkeiten sind hingegen weniger von spektakulären Innovationen geprägt. Dies ist nicht zuletzt vielleicht auf das einheimische Zielpublikum der Gebäudestiftungen zurückzuführen, das die allzu ostentative Zurschaustellung von Neuerungen möglicherweise nicht unbedingt zu schätzen wusste.

1 Die Ausarbeitung des Beitrags konnte im Rahmen eines vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF Projekt Nr. 27921) zur »Architektur des römischen Kleinasien« finanzierten Projekts an der Universität Graz erfolgen. Mein Dank gilt Peter Scherrer, Hilke Thür und Ulrike Outschar sowie R.R.R. Smith. 2 So betrug etwa die schnellste Reiseverbindung zwischen der kleinasiatischen Hafenstadt Ephesos und der Hauptstadt Rom abhängig von der gewählten Route und der Jahreszeit zwischen 13 und 16 Tagen. Vgl. dazu ORBIS. The Stanford Geospatial Network of the Roman World http://orbis.stanford.edu/ (1.3.2017). 3 Zusammenfassend: Eck 2017. 4 Zur Bedeutung von qualitativ hochwertigen Baugesteinen für die Architektur Kleinasiens s. Quatember 2016. 5 Zusammenfassend: Ratté 2002. 6 Grundlegend zu Zoilos: Reynolds 1982, 156–164; Smith 1993, bes. 4–13. 7 IAph2007 8.29; vgl. auch Reynolds 1982, 96–99 (doc. 10); Smith 1993, 11 (T. 11). 8 Zu einer Diskussion dieser alternativen Szenarien s. Smith 1993, 4 f.

9 Smith 1993, 8. Reynolds 1990, 38: »death in the first third of Augustus’ reign is a reasonable guess«. 10 Smith 1993. 1 1 IAph2007 1.2; Reynolds 1990, bes. 37 f. Auf die Bau­ geschichte des Tempels und jener Teile, die mit Zoilos zu verbinden sind, kann in diesem Rahmen nicht weiter eingegangen werden. Sicher ist jedoch, dass Elemente wie bspw. einzelne Säulen von anderen Stiftern finanziert wurden, vgl. etwa IAph 1.4–1.8. 12 Vgl. Ratté 2002: »[…] in its final form, this building is one of a number of similar pseudodipteroi of the Late Hellenistic and Early Imperial periods in Asia Minor, of which perhaps the most notable is the Temple of Augustus and Rome in Ankara: a building whose dedication clearly recognizes and embraces the reality of a world ruled by Rome, but whose form places it firmly within the ancient but still vital traditions of Greek political and religious architecture«. Zum AphroditeTempel selbst s. bes. Theodorescu 1990. Ein weiteres Forschungsprojekt wird derzeit von J. J. Coulton durchgeführt. 13 Smith / Ratté 1998, 233–235.

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14 IAph2007, 3.2. Vgl. auch Reynolds 1996, 43. 15 Zur Rekonstruktion s. de Chaisemartin / Theodorescu 1991; Theodorescu 1996; zuletzt de Chaisemartin / Theodorescu 2017. Zur Bauornamentik und ihren Vergleichen vor allem in Kleinasien s. bislang auch Outschar 1987, 109–110. 16 Reynolds 1991. 17 Ein weiteres frühes Beispiel ist die Theaterfassade von Stratonikeia, die ihrer Bauornamentik zufolge ebenfalls in augusteische Zeit zu datieren ist, s. Mert 2008, 30–33. 112–150. 18 Zusammenfassend zu Bauten mit Tabernakelfassade in Kleinasien s. Quatember 2011, 90–99. 19 Zusammenfassend: Stamper 2005, 84–90; Sear 2006, 57–61. Die marmorne scaenae frons ist möglicherweise erst 32 v. Chr. entstanden und stünde damit in noch größerer zeitlicher Nähe zum Theater von Aphrodisias, s. dazu Gleason 1994, bes. 21–24.; Stamper 2005, 89. 20 Sear 2006, 61–65. 21 Zur Karriere des Celsus s. PIR2 J 260; Eck 1970, bes. 66. 104. 135. 140 f. 164. Grundlegend auch der Beitrag von Strocka 1978; Kolb 1993, 164 f. Die Literatur zu Celsus und dem Bibliotheksgebäude, das seinen Namen trägt, ist äußerst umfangreich. Im Folgenden werden deshalb nur die wichtigsten Werke genannt. 22 Zur Bauverwaltung der Stadt Rom s. Kolb 1993, bes. 114– 121 zu den Aufgaben ihrer leitenden Beamten. 23 Zum Bibliotheksgebäude und seiner Architektur nach wie vor grundlegend: Wilberg et al. 1953; s. auch Hueber

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1984; Hueber 1989; Strocka 1988, 295–297 sowie zuletzt Strocka 2009. Zu dieser Vorbildwirkung s. Strocka 2009, 250–251. Zu den Inschriften s. Keil 1953, 61–80; IvE VII 2, 5101–5115. Drei Bronzestatuen des Celsus sowie eine seines Sohnes Aquila sind aus den erhaltenen Statuenbasen zu erschließen. Zur Statuenausstattung s. auch Strocka 2009, bes. 247–248. Strocka 2009, 248–250. Strocka 1988, 295–297. Thür 1989, 92–95; Quatember 2008, 250–251. Hier ist insbes. auf die Kapitelle des sog. Straßenbrunnens zu verweisen, die mit jenen der Bibliothek sicherlich im selben Herstellungszusammenhang stehen. Der Brunnen ist inschriftlich in die Jahre 102 bis 114 n. Chr. datiert und wurde damit vor der Bibliothek fertiggestellt. Auch wenn damit eine Beeinflussung dieses Kapitelltypus durch Trends in Rom nicht generell ausgeschlossen werden kann, lässt sich dies jedoch nicht auf einen unmittelbaren Zusammenhang mit Celsus zurückführen. Wilberg et al. 1953, 35; Strocka 1988, 302; Waelkens 1987, bes. 96. Zur Verwendung von Ziegeln s. auch Dodge 1990, 116–118; Spanu 2015, bes. 33–36. Setälä 1977, 89–90. Kolb 1993, 120–121. Wulf-Rheidt 2009. Die Literatur zu diesem Thema ist sehr umfangreich, s. bspw. Quaß 1993, bes. 196–228. Besonders zu Ephesos im 2. Jh. n. Chr. auch Halfmann 2001, 63–83.

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Das Odeion des Perikles in Athen als Kopie des persischen Königszeltes? Eine Aktualisierung und Re-Evaluation des archäologischen Befundes

Ioulia Kaoura

Das persische Königszelt fiel in die Hände der Griechen, als sie nach der Schlacht von Plataiai 479 v. Chr. in das Lager der Perser eindrangen. Herodot beschreibt das Ereignis ausführlich, widmet aber dem Königszelt nur wenige Worte: »κατασκευὴν χρυσῷ τε καὶ ἀργύρῳ καὶ παραπετάσματι ποικίλοισι κατεσκευασμένην» (»Feldgerät [...], das aus Gold und Silber und bunten Teppichen bestand«)1. Wie auch die Beschreibung der übrigen Beute zeigt, liegt Herodots Fokus auf den kostbaren Materialien und dem Luxus der Einrichtung.2 Die Zeltarchitektur scheint hingegen keinen besonderen Eindruck gemacht zu haben. Viele Jahrhunderte später überlieferten Plutarch und Pausanias, dass eines der bedeutendsten Gebäude Athens und zugleich der größte Bau der griechischen Antike, das Odeion des Perikles am Südabhang der Akropolis, als Nachahmung des persischen Königszeltes konzipiert worden sei.3 Dies überrascht, nicht nur weil es in gewissem Widerspruch zu Herodots Schilderung steht, sondern hauptsächlich, weil persische Einflüsse in der griechischen Architektur des 5. Jhs. v. Chr. sehr schwer nachweisbar sind.4 Eine nähere Betrachtung der Quellen zeigt, dass die von Plutarch und Pausanias überlieferte Information nicht wörtlich zu verstehen ist. Obwohl beide Schriftsteller das Odeion selbst besichtigt hatten, verweisen sie auf eine anscheinend mündliche Quelle, um zu vermitteln, dass es eine Nachahmung gewesen sein sollte.5 Damit wird zunächst impliziert, dass der persische Charakter des Odeion nicht direkt auffällig war. Da zudem unklar ist, wann und unter welchen Umständen die mündliche Überlieferung

entstand, könnte das Odeion auch erst nachträglich als ›persisch‹ verstanden worden sein.6 Die Tatsache, dass das klassische Gebäude während des Ersten Mithridatischen Krieges im Jahr 86 v. Chr. niedergebrannt und kurz danach vom König Kappadokiens, Ariobarzanes II., wiederaufgebaut wurde,7 lässt allerdings unterschiedliche Interpretationen zu. Obwohl angenommen wird, dass Ariobarzanes die alte Form des Odeion getreu wiederholte,8 gilt es zu bedenken, dass er teilweise persischer Abstammung war und seine Motivationen nicht ausreichend geklärt sind.9 Es war jedenfalls sein Odeion, das im 2. Jh. n. Chr. vor den Augen des Plutarchs und Pausanias stand. Könnte man einen direkten Vergleich zwischen dem Königszelt und dem Odeion vornehmen, ließe sich das Bauwerk möglicherweise im Sinne einer Migration persischer Architekturformen nach Athen interpretieren. Wir wissen aber sehr wenig über die Form des persischen Königszeltes. Der Großkönig benötigte während seiner Feldzüge jedenfalls eine komplexe Anlage aus mehreren Zelten unterschiedlicher Funktion.10 Das Vorbild des Odeion wäre vermutlich das Audienzzelt gewesen, welches wir aber von den übrigen Zelten ohne deren nähere Kenntnis bautypologisch nicht unterscheiden können. Vergleiche mit persischer Palastarchitektur könnten hier helfen, auch wenn sich die alte Auffassung, dass diese als steingewordene Zeltarchitektur zu betrachten sei, nicht mehr vertreten lässt.11 Eine zumindest funktionale Parallelität zwischen dem beweglichen und dem ständigen Königssitz rechtfertigt somit bis zu

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Ioulia Kaoura

einem gewissen Grad den Vergleich des Odeion mit persischen hypostylen Saalbauten. Schwierig ist jedoch auch die Rekonstruktion des Odeion, insbesondere wegen der nur partiellen und unzureichend dokumentierten Ausgrabung. Ein neu entdecktes Fundament, das hier erstmals präsentiert wird, ergänzt den fragmentarischen Kenntnisstand, führt aber nicht zu einer sicheren Rekonstruktion.12 In der archäologisch nachgewiesenen Architektur des Odeion wird jedenfalls nach ›persischen‹ Elementen gesucht, die sowohl aus der Zelt- als auch der Palastarchitektur stammen und zumindest den Eindruck einer Formenmigration persischer Architekturelemente nach Athen hervorgerufen haben könnten. Diese Elemente müssen nicht im engen Sinne persisch sein. Die Überlieferung legt gleichwohl nahe, dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt zwischen dem 5. Jh. v. Chr. und dem 2. Jh. n. Chr. als persisch verstanden worden sein könnten.

Erhaltene Baureste und Rekonstruktion Die einzige systematische Ausgrabung des Odeion begann 1914 unter den Auspizien der Archäologischen Gesellschaft Athens und der Leitung von P. Kastriotis. Der Erste Weltkrieg und seine Folgen, der allmähliche Abriss hier befindlicher Häuser der modernen Stadt, der parallel zur Grabung stattfand, sowie die bis zu 7 m hohen Schuttschichten mit späten Bebauungsresten behinderten die Untersuchung. Zudem erwartete man, dem damaligen Forschungsstand folgend, ein rundes oder halbrundes Gebäude. Erst nach einigen Jahren realisierte man, dass es sich um ein rechteckiges Gebäude handelte, dessen Dach von regelmäßig angeordneten Innenstützen getragen wurde, ein hypostyler Saalbau wie das Telesterion in Eleusis und das Thersilion in Megalopolis, die beide damals bereits bekannt waren. Als die Ausgrabung 1932 nach dem Tod von Kastriotis

1  Die in den 1960er Jahren freigelegten Punktfundamente X2, X3, X4, X6 und X7. Ansicht von Südwesten.

Das Odeion des Perikles in Athen

von A. Orlandos abgeschlossen wurde, waren die Nordmauer in ihrer ganzen Länge, Teile der Ostund Westmauer, wenigstens eine Eingangssituation an der Ostseite sowie die nordöstliche, aus dem Felsen des Akropolis-Hügels herausgearbeitete Ecke ans Licht gekommen. Auf dem geglätteten Fels wurden vier quadratische Innensäulenbasen (I9, II8–9, III9) und die Einsenkungen von weiteren vier Basen (wahrscheinlich I8, III8, IV8–9) entdeckt, die in Achsweiten von 6,15 m angeordnet waren.13 Auf dieser Grundlage konnte ein rechteckiges Gebäude rekonstruiert werden, dessen westöstliche Ausdehnung 62,40 m beträgt und 9 Innen­säulen umfasst.14 Mit der Erweiterung der archäologischen Stätte und dem Abriss weiterer moderner Häuser während der 1960er Jahre traten fünf Punktfundamente aus weichen Porosquadern zutage (Abb. 1), die Travlos der südlichsten Innensäulenreihe des Odeion zuschrieb.15 Er rekonstruierte somit einen

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von Mauern umschlossenen, nahezu quadratischen Bau mit Dimensionen von 62,40 × 68,60 m und 9 × 10 Innensäulen (Abb. 2 links).16 Ein weiteres Punktfundament kam 1980 während des Baus einer Wasserleitung zum Vorschein. Wichtigere Erkenntnisse zur Rekonstruktion des Odeion lieferten dennoch einige neu entdeckte choregische Monumente südlich des Odeion und entlang der Tripoden-Straße (Abb. 2 rechts).17 Sie zeigen, dass das Gehniveau im Süden des Odeion bedeutend tiefer lag als dessen Fußboden und für seinen Bau eine ca. 8,50 m hohe Terrasse mit einer mächtigen Stützmauer errichtet worden sein musste. Da sich die freigelegten choregischen Monumente Nr. 6 und 7 viel größer erwiesen als von Travlos abgebildet, blieb zudem kein Platz mehr für die in seinem Plan rekonstruierte südwestliche Ecke des Odeion. Als Reaktion auf diese Beobachtungen erarbeite M. Korres auf der Grundlage der damals verfügbaren Daten einen Rekonstruktionsvorschlag

2  Das Odeion. Links: Erhaltene Baureste und Rekonstruktionsplan nach Travlos 1980. Rechts: Topographischer Plan nach Korres 1980. N I9 II8

II9 III9

X2

6

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X3

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X6

X7

X8

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X3

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Ioulia Kaoura

3  Modell des Odeion im ausgehenden 5. Jh. v. Chr. (M. Korres, P. Dimitriadis, 2001) im Alten Museum, Berlin.

4  Südliche Ansicht des Fundaments in der Thrasyllou-Str. 16.

ohne Außenmauern, bei dem das Dach ausschließlich von den Innensäulen getragen wird und die im Norden ausgegrabenen Mauern als einfache Stützmauern interpretiert wurden. Die notwendigen Terrassenmauern wurden nach Westen unter der ersten westlichsten Säulenreihe (1) und nach Osten unter der östlichsten Säulenreihe (9) angesetzt (Abb. 3).18 Diese Theorie geriet ins Wanken, als 2002 in einem Kellerraum in der Thrasyllou-Str. 16 ein 3,47 m hohes Fundament aus sieben Quaderlagen freigelegt wurde, das hinsichtlich Material, Quadergröße und Verband identisch mit den oben besprochenen Punktfundamenten ist (Abb. 4). Das in seiner Lage nur bis zur Grundstücksgrenze freigelegte, 1,90 bis 2,53 m breite Fundament ruht auf dem Felsen, dessen Niveau mit 84,46 m ü. NN festgestellt wurde. Die unterste Quaderlage, die etwas vor die oberen ragt und dazu schief läuft, ist die einzige, die in eine Fundamentgrube hineingestellt wurde (Abb. 5); alle folgenden Lagen wurden oberirdisch aufgemauert und zugeschüttet. Der Rest eines Straßenbelags auf 85,09 m ü. NN, der von der Grube des Fundaments geschnitten wurde, erlaubte es, die Höhe der Aufschüttung für die Terrassierung an dieser Stelle mit ca. 7,80 m präzise zu ermitteln.19 Das neu entdeckte Fundament erwies sich als das Ende des von Kastriotis entdeckten östlichen Mauer­fundaments, das die Linie der bekannten Punkt­fundamenten abschließt, jedoch ohne in eine südliche, quer­laufende Mauer einzubinden. Alle bekannten Reste wurden auf einem Grundrissplan zusammengestellt (Farbtafel I, 273),20 der sich allerdings nicht wesentlich von bereits vorgestellten Re­kons­truk­tions­plä­nen unterscheidet21 und in zwei Punkten Probleme aufweist: Wenn die Westmauer des Odeion entsprechend der in der Thrasyllou-Str. 16 freigelegten Ost­mauer rekonstruiert wird, ohne das choregische Monument 6 zu überschneiden, bleibt, worauf Korres richtig hinwies, kein Platz für eine Ter­ras­sen­mauer, die aber für die ungefähr 8 m hohe künstliche Aufschüttung notwendig war

Das Odeion des Perikles in Athen

(s. Schnitt A–A, Farbtafel II, 274). Um das Problem zu veranschaulichen, wurde im Modell Farbtafel III, 275 das Monument Nr. 6 in die Terrassen­mauer integriert.22 Das zweite Problem betrifft die Gestaltung der Südseite des Baus. Da die Ostmauer in der Thrasyllou-Str. 16 abschließt, ohne in eine Quermauer einzubinden, muss man annehmen, dass die Front des Odeion an dieser Seite von der südlichsten X. Säulen­ reihe gebildet wurde (Farbtafel III, 275). Die Säulen auf den Punktfundamenten der X. Reihe besaßen aber aller Wahrscheinlichkeit nach die gleichen Proportionen wie die der übrigen Reihen, deren unterer Durchmesser höchstens 0,90 m betrug.23 Die im Befund ablesbaren Interkolumnien von ungefähr 5,25 m – d. h. fast 6 unteren Durchmessern – eignen sich eher für Innenräume, wo die Säulen so schlank und hoch und die Interkolumnien so weit wie möglich sein müssen. Für ›normale‹ Außensäulen, selbst der ionischen Ordnung, sind die betreffenden Punkt­fundamente zu gering dimensioniert und liegen zu weit auseinander. 24 Für eine solche neunsäulige Fassade in antis hätte man zudem nicht Einzel­fundamente, sondern ein durchlaufendes Fundament erwartet.25 Die verfügbaren Daten weisen infolgedessen auf eine ausgesprochen ungewöhnliche Außen­gestaltung hin, bei der die Innen­säulen­ordnung quasi von außen sichtbar wurde.

Auf der Suche nach dem ›Persischen‹ Der Überblick zum Forschungsstand zeigt, wie wenig wir über das Odeion wissen, zumal ungeachtet der Unsicherheiten bei der Rekonstruktion des Grundrisses bisher kein einziges Glied des Ober­ baus bekannt ist.26 Auch die Überlieferung Vitruvs und die eher nebulöse Beschreibung Plutarchs tragen wenig zum Gesamtbild des Gebäudes bei.27 Somit ist ein Vergleich zwischen dem Odeion und irgendeinem anderen Architektur­werk – geschweige denn dem persischen Königs­zelt – methodisch

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5  Die unterste Steinlage des Fundaments in der Thrasyllou-Str. 16. Ansicht von Süden.

nicht ohne weiteres möglich.28 Nach den bisher bekannten Fakten lässt sich das Odeion als ein quadratisches Gebäude rekonstruieren, das nur an drei Seiten von Mauern umschlossen war. Seine Innen­dimensionen lassen sich mit 60,60 × 62 m ungefähr bestimmen. 29 Das Dach wurde von 9 × 10 Innen­säulen getragen und lässt sich wegen der quadratischen Form des Baus sowie anhand der Beschreibung Plutarchs wahrscheinlich als Walmdach rekonstruieren.30 Es liegt kein Zeugnis für eine besondere Gestaltung der Südseite vor, die somit offen geblieben wäre. Während die Baufläche des Gebäudes im Norden aus dem anstehenden Felsen herausgearbeitet worden war, stand das Gebäude nach Süden auf einer ca. 8 m hohen Terrasse. Zugänglich war es durch Eingänge von Osten und Westen, vermutlich in der Form von Propyla, die einander nicht symmetrisch gegenüber lagen, sondern anscheinend auf den Straßen­verlauf Bezug nahmen.31 Welche der archäologisch nachweisbaren Elemente lassen nun auf den überlieferten persischen Charakter des Odeion schließen? Gehörten diese ›persischen‹ Elemente zum Bauentwurf des Perikles bzw. Ariobarzanes oder wurden sie erst nachträglich als ›persisch‹ identifiziert? In diesem

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Ioulia Kaoura

Kontext ist zu fragen, ob es Elemente gibt, die untypisch für die griechische Architektur der klassischen oder der römischen Zeit sind. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob diese untypischen Elemente auf persische Zelt- bzw. Palastarchitektur verweisen können. Das erste Element, in dem das Odeion den hypostylen Saalbauten der persischen Paläste auffällig ähnelt, ist das ›Polystylon‹, der vielsäulige Innenraum.32 Das Polystylon verweist auch auf die Zelt­architektur; das Audienzzelt des Alexanders in Susa verfügte über fünfzig goldene Säulen im Innenraum.33 Wollte man ein persisches Vorbild kopieren, hätte man freilich ein Polystylon im Innenraum anwenden müssen. Diese Innen­raum­ gestaltung lässt sich trotzdem als Indiz für irgendeinen Einfluss oder eine bewusste Imitation nicht akzeptieren, denn sie hängt in erster Linie von der Größe des Baus ab und ist bei einer Überdeckung mit horizontalen, auf Stützen ruhenden Balken eine Notwendigkeit. Das Odeion ist allerdings weder das einzige noch das älteste Gebäude des griechischen Raums, das einen vielsäuligen Innenraum aufweist. Das älteste bekannte Beispiel ist der nach der Mitte des 8. Jhs. v. Chr. datierte zweite Tempel in Yria auf Naxos, dessen Dach durch drei Reihen von fünf runden Holz­stützen getragen wurde. Um die Funktion und Bedeutung des Polystylon im zweiten Tempel zu verstehen, ist der Nachfolge­ tempel aus dem frühen 7. Jh. v. Chr. zu beachten: Während der dritte Tempel die gleiche Breite wie der zweite hatte, enthielt er nur zwei Säulen­ reihen im Innenraum.34 Der Fall zeigt am deutlichsten, dass die Innen­säulen­zahl mit den statischen Anforderungen der Überdachung (samt der jeweiligen technischen Möglichkeiten) und nicht mit ästhetischen bzw. gestalterischen Gründen zusammenhängt. Zum gleichen Schluss kommt man bei den aufeinanderfolgenden Telesteria von Eleusis. Die Gegen­überstellung dieser immer größer werdenden Gebäude – wenigstens vom spät­ archaischen bis zum sog. iktinischen Telesterion – demonstriert den ständigen Versuch, die Innen­ säulen­zahl zu verringern.35 Die Herausforderung

bestand offenbar darin, einen möglichst säulenfreien Innenraum zu schaffen. Würde das Polystylon trotzdem als Hinweis auf eine Verbindung mit der persischen Zelt- bzw. Palast­ architektur gewertet, hätte dies für alle Gebäude Griechenlands, die ein Polystylon aufweisen, gelten müssen.36 Dies sprengt aber sowohl inhaltlich als auch zeitlich den von den Quellen gesetzten Rahmen, denn der Bezug zum persischen Königszelt wird nur für das Odeion überliefert und dies just in einer Zeit, als das Königszelt nach Griechenland gekommen war. Keiner der übrigen, gut erhaltenen hypostylen Saalbauten wurde als ›persisch‹ interpretiert. Persische Einflüsse wären auch in historischer Hinsicht schwer zu begründen, da die fraglichen Bauten in Athen, Argos, Sikyon, Megalopolis, Delos und Dodona sowohl vor den Perserkriegen bzw. der Errichtung des Odeion als auch viel später, bis ins 2. Jh. v. Chr. entstanden.37 Das Polystylon allein reicht zwar als Hinweis für die Nachahmung persischer Vorbilder nicht aus, wurde als Argument für einen persischen Einfluss aber dennoch immer wieder herangezogen. Dies könnte auf moderne Konzepte der Innen­raum­ gestaltung zurückzuführen sein. Die Art und Weise, wie Innenräume heute entworfen und erlebt werden, reicht als Folge eines langen Ent­wick­lungs­ prozesses bis in die römische Architektur zurück, weicht aber von allen vorausgehenden Epochen grundlegend ab. Bei den hypostylen Saalbauten lässt sich die Menge der Innenstützen mit dem heutigen Innen­raum­empfinden nicht begründen. Ihre Notwendigkeit ist zwar theoretisch nachvollziehbar, bleibt aber gestalterisch wenig überzeugend; man ist also dazu geneigt, zusätzliche Gründe für ihre Wahl zu suchen, und der Verweis auf ein angebliches persisches Vorbild erscheint in diesem Kontext als willkommenes Erklärungsmodell. Weitgespannte Überdachungen, die ein neues Innenraumerlebnis bewirkten, gab es freilich schon zur Zeit des Ariobarzanes und in noch größerer Zahl in der Zeit von Plutarch und Pausanias. Am anderen Rand des Südhangs der Akropolis

Das Odeion des Perikles in Athen

etwa entstand im 2. Jh. n. Chr. das Odeion des Herodes Atticus, dessen Weite von 50 m offenbar stützenfrei überdacht wurde,38 anders als das Odeion des Perikles, dessen Wirkung auf den Betrachter in römischer Zeit wir nicht kennen.39 Von den älteren hypostylen Saalbauten waren zwar noch einige in Betrieb und das Telesterion von Eleusis wurde nach seiner Zerstörung 170 bzw. 171 n. Chr. nach dem klassischen Plan mit 42 Säulen im Innenraum wiederaufgebaut.40 Es lässt sich dennoch nicht ausschließen, dass das altmodische Polystylon bereits in der Antike einer zusätzlichen Begründung bedurfte bzw. zu einer gewissen Verwirrung hinsichtlich der Deutung des Odeion beitrug. Vielleicht war es gerade dessen altertümliche Wirkung, die Ariobarzanes dazu bewegte, dieses Projekt zu finanzieren.41 Weitere Ähnlichkeiten des Odeion mit den persischen Saalbauten von Persepolis und Susa betreffen angeblich die Form, Größe, Säulenzahl und Achsweiten.42 Quadratische und rechteckige Innenräume, deren Überdachung von einem Polystylon getragen wurde, kommen freilich sowohl in der persischen als auch in der griechischen Architektur vor.43 Was die Größe betrifft, sind nur die Innendimensionen vergleichbar. In ihren Außenmaßen übertreffen die persischen Saalbauten wegen ihrer Mauerstärke bzw. umgebender Vorhallen das Odeion bei weitem.44 Auf der anderen Seite ist das Odeion zwar der größte Bau der griechischen Antike, aber sein Maß sprengt nicht alle bekannten Dimensionen, wie ein Vergleich mit dem Telesterion, dem Thersilion und auch dem hypostylen Saalbau von Delos zeigt.45 Zudem waren diese Maßübereinstimmungen bzw. -unterschiede für den Betrachter im Einzelfall kaum wahrnehmbar. Der nächste Punkt betrifft die Terrassenmauer des Odeion bzw., wie Miller es formulierte, »the overall impact of the Odeion on its platform«: Von der Tripoden-Straße aus gesehen könnte die Südfassade des Odeion auf ihrer hohen Terrasse den Eindruck persischer Palastfassaden vermittelt haben.46 Sie könnte deswegen mit den Terrassen

der persischen Paläste in Susa, Pasargadai und Persepolis, aber auch mit der archaischen Terrasse im ›Byzantine Fortress‹ in Sardis assoziiert worden sein, auf denen eventuell auch ein Palastbau stand.47 In Athen jedoch war es aufgrund der antiken Topographie kaum möglich, die Südfassade des Odeion samt der Terrassenmauer wahrzunehmen, da die Tripoden-Straße am Fuß bzw. sehr nah an der Terrassenmauer verlief und die Mauer sehr hoch war. Millers Interpretation setzt zudem die Annahme voraus, dass die Terrasse des Odeion in der Landschaft fremdartig bzw. seltsam erschien. Die Errichtung großer Bauten am Abhang erforderte jedoch selbstverständlich die Errichtung mehr oder weniger hoher Terrassen. Im Dionysos-Heiligtum selbst waren die Analemmata des Theaters entsprechend hoch und imposant und der Peribolos des Heiligtums, der auch als Terrassenmauer diente, erreichte anscheinend an der Südseite eine Höhe von ungefähr 7 m.48 Nur eine besondere Form der Terrassenmauer, nicht ihre Größe bzw. ihre Existenz per se, könnte eventuell »the alien and alienating appearance« der persischen Palastfassaden hervorrufen,49 aber dafür fehlt, wie ausgeführt, jegliche Evidenz.50 Die angesprochenen Elemente sind demnach sämtlich ungeeignet, einen persischen Eindruck zu vermitteln, da keines der griechischen Architektur fremd ist. Es gibt nur ein Element, das sich aus den vorhandenen Bauresten ergibt und m. W. über keine Parallele in der griechischen Architektur verfügt: die Gestaltung der Südseite. Falls an der Südseite des Odeion tatsächlich die Innensäulenordnung von außen sichtbar war, könnte dies als persisches Architekturmotiv gedeutet werden. Die Saalbauten von Persepolis und Susa, bei denen die Säulen der Vorhallen die gleichen Proportionen haben und nach dem gleichen Raster angeordnet sind wie die Säulen der Hauptsäle, sind damit vergleichbar.51 Im Wesentlichen handelt es sich um eine Projektion des Innensäulenrasters nach außen. Um diese Ähnlichkeit zu veranschaulichen, zeigt die Rekonstruktion (Abb. 6) eine Art Vorhalle vor einer Türwand anstelle der VIII. Säulenreihe.52

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Ioulia Kaoura

der Frontseite des Bankett­zeltes,54 er passt aber auch gut zur Südseite des Odeion – sowohl was das Fehlen einer Mauer als auch die weiten Inter­ kolumnien und die schlanken Säulen betrifft, die wie »in Stein umgesetzte Zelt­stangen«55 gewirkt haben könnten.56 Als letztes Element sei schließlich das Py­ra­ mi­dal­dach des Odeion angesprochen, das nach Meinung mehrerer Forscher an ein Zelt erinnern könnte.57 Auch wenn diese Dachform der attischen Architektur sicherlich nicht fremd war, handelte es sich hierbei doch um das größte Dach, das man je gesehen hätte, was entsprechende Assoziationen zumindest nicht ausschließen lässt.58 0

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6  Rekonstruktionsversuch des Grundrisses des Odeion am Beispiel eines persischen hypostylen Saalbaus.

Wenn nicht für den Betrachter des 5. Jhs. v. Chr., so doch für den der späthellenistischen und römischen Zeit wäre eine derartige, von der Gestaltung des Innenraums abgeleitete Besonderheit, die gänzlich ungewohnte Proportionen auf die Außenseite eines repräsentativen Großbaus projektiert, sicherlich auffällig und einer Erwähnung wert. Diese Interpretation der Gestaltung der Süd­ seite des Odeion wird durch die Beschreibung des Bankett­zeltes des Ptolemaios II. gestützt: »Die dem Betrachter gegenüber gelegene Stirn­seite war nämlich freigelassen worden«.53 Dieser Satz diente als Grundlage verschiedenartiger Rekonstruktionen

Fazit Die Gestaltung der Südseite scheint als einziges Element auf die persische Palast- bzw. Zelt­ architektur zu verweisen. Selbst dies ist aber in Anbetracht der unsicheren Rekonstruktion des Baus eine ziemlich gewagte Assoziation, mehr eine Idee als eine gut begründete These. Die Quellen hatten zwar sicherlich einen Grund für die Wiedergabe dieser Vermutung. Im Odeion des Perikles eine bewusste Migration persischer Architekturformen nach Athen sehen zu wollen, bleibt jedoch ein theoretisches Konstrukt. Dass es Elemente gab, die zumindest nachträglich als ›persisch‹ verstanden oder bezeichnet werden konnten, scheint andererseits plausibel; in späthellenistischer bzw. römischer Zeit wäre die Kombination des Polystylon mit der Gestaltung der Südseite gleichwohl geeignet gewesen, Assoziationen an persische Bauten zu wecken.

Das Odeion des Perikles in Athen

Diese Untersuchung ist Teil meiner in Vorbereitung befindlichen Dissertation an der HU Berlin. Für wertvolle Diskussionen und vielfältige konstruktive Anregun­gen über das Odeion des Perikles möchte ich mich bei St. Schmid, P. Valavanis und M. Korres herzlich bedanken. Den Herausgebern dieses Bands und insbesondere K. Rheidt verdanke ich hilfreiche Kommentare und verständnisvolle Formulierungs- und Kürzungs­vorschläge. Für die sprachliche Überarbeitung einer ersten Fassung dieses Beitrags sowie inhaltliche Bemerkungen bin ich nicht zuletzt V. Vaelske dankbar. 1 Hdt. 9,82,1, Übersetzung: F. Lange. 2 S. Hdt. 9,70,3; 80,1; 82,2–3. 3 Plut. Per. 13,5: »Τὸ δ’ Ὠιδεῖον, τῇ μὲν ἐντὸς διαθέσει πολύεδρον καὶ πολύστυλον, τῇ δ’ ἐρέψει περικλινὲς καὶ κάταντες, ἐκ μιᾶς κορυφῆς πεποιημένον, εἰκόνα λέγουσι γενέσθαι καὶ μίμημα τῆς βασιλέως σκηνῆς, ἐπιστατοῦντος καὶ τούτῳ Περικλέους.« (»Das Odeum, welches seiner inneren Einrichtung nach eine Menge Sitze und viele Reihen von Säulen hatte und dessen Bedeckung von der Spitze aus einem Punkte abschüssig herablief, soll als ein Bild oder eine Nachahmung von dem Zelte des Königs [Xerxes] gebaut worden sein, ebenfalls nach Perikles’ Angabe«, Übersetzung: J. F. S. Kaltwasser). Paus. 1,20,4: »ἔστι δὲ πλησίον τοῦ τε ἱεροῦ τοῦ Διονύσου καὶ τοῦ θεάτρου κατασκεύασμα, ποιηθῆναι δὲ τῆς σκηνῆς αὐτὸ ἐς μίμησιν τῆς Ξέρξου λέγεται: ἐποιήθη δὲ καὶ δεύτερον, τὸ γὰρ ἀρχαῖον στρατηγὸς Ῥωμαίων ἐνέπρησε Σύλλας Ἀθήνας ἑλών.« (»In der Nähe des Dionysosheiligtums und des Theaters ist ein Gebäude, das eine Nachahmung des Zeltes des Xerxes sein soll. Es ist aber das zweite; das ursprüngliche verbrannte der römische Feldherr Sulla, als er Athen einnahm«, Übersetzung: E. Meyer). Anders Vitr. 5,9,1: »exeuntibus e thetro sinistra parte odeum, quod Themistocles | columnis lapideis dispositis naviurn malis et antemnis e spoliis Persicis pertexit (idem autem etiam incensum Mithridatico bello rex Ariobarzanes restituit).« (» für die, die das Theater verlassen, linker Hand das Odeion, das Themistokles nach Aufstellung von Steinsäulen mit den Schiffsmasten und Rahen aus der persischen Beute überdeckte [nachdem es aber auch im Mithridatischen Krieg in Flammen aufgegangen war, stellte es der König Ariobarzanes wieder her[«, Übersetzung: C. Fensterbusch). – Die Widersprüche zwischen Vitruv und Plutarch bzw. Pausanias werden hier nicht thematisiert. Die Verknüpfung des Gebäudes mit den Perserkriegen wurde immerhin erstmals von Vitruv Ende des 1. Jhs. v. Chr. vorgenommen. 4 Alle angeblichen Einflüsse gehen auf das Odeion bzw. auf die genannten Quellen zurück und betreffen die Herkunft des Bautyps der griechischen hypostylen Saalbauten und die der Skene des Theaters. Zu einem Überblick über persische Einflüsse auf das Athen des 5. Jhs. v. Chr. s. Miller 1997 und auf die griechische Kultur generell Boardman 2003, 247–260.

5 S. Anm 3: »λέγουσι« (Plut.) bzw. »λέγεται« (Paus.). 6 So Meinel 1980, 154; Lambrinoudakis 1986, 132; Miller 1997, 223–224; Boardman 2003, 281 Anm. 134; Deppmeyer 2007, 20. 7 Zum Brand: App. Mithr. 38.149; anders Paus. (Anm. 3). Zum Wiederaufbau: Vitr. (Anm. 3); IG II² 3426; IG II² 3427. Dazu s. Bringmann / Steuben 1995, 84–86 Kat. 38; Morales 2016. 8 Die Ansicht basiert auf dem von Vitruv verwendeten Verb »restituit« (Anm. 3). Archäologischerseits besteht bisher keinen Anhaltspunkt für eine Grundrissänderung durch Ariobarzanes. 9 Dazu s. Thompson 1987, 4; Miller 1997, 223–224; Morales 2016. 10 Zum Zelt des Xerxes und zur Zeltarchitektur s. Gall 1977; Gall 1979; Miller 1997, 49–53. 235–238; Hesberg 1996, 86–88; Normann 1996, 134–138; Papathanasopoulos 2003, 89–98; Schmid 2006, 81–83; Shear 2016, 215–219 mit weiterer Literatur und Verweisen auf die Quellen. Letztere betreffen hauptsächlich die Zelte Alexanders des Großen und der Diadochen (namentlich Bankettzelte), die aber in achämenidischer Tradition standen. 11 Osten 1956, 59; Gall 1977. Zu einem Überblick der frühen hypostylen Saalbauten Irans s. Young 1994; Gopnik 2010; Huff 2010, 334–337 mit Literaturangaben. 12 Für die Publikationsrechte möchte ich mich bei den Aus­ gräbern A. Papadimitriou und I. Galani-Kazamiaki herzlich bedanken. Kurze Erwähnungen des Befundes in der Thrasyllou-Str. 16 finden sich in Horemi-Spetsieri 2003, 15; Papathanasopoulos 2003, 45; Trianti et al. 2012, 13. 13 Das Innensäulenraster des Odeion wurde von Norden nach Süden mit lateinischen und von Osten nach Westen mit arabischen Zahlen nummeriert (Farbtafel I, 273). 14 Da die Ausgrabung nie publiziert wurde, bleiben die namentlich in der ArchEph und den Prakt der Jahre 1914–1929 publizierten Berichte von Kastriotis unsere Hauptdokumentationsquelle; sie enthalten jedoch Unklarheiten und Diskrepanzen, die sich, da die Baureste zum größten Teil nicht mehr sichtbar sind, nicht beseitigen lassen. Die in Prakt 1931 und 1932 veröffentlichten Berichte von Orlandos sind erhellender, betreffen aber hauptsächlich die Nordmauer. Mehr oder weniger detaillierte Übersichten der erhaltenen Baureste: Robkin 1976, 10–18. 30–31; Miller 1997, 224–227; Papathanasopoulos 2003, 41–51; Gogos 2015, 22–25; Shear 2016, 199–204. Neue Informationen zur Nordmauer: Korres 1980, 18; Papastamati-von Moock 2015, 60. 15 Travlos 1980, 387 Abb. 501. 502. 16 In Travlos’ Plan werden die Innensäulen des Odeion mit einem Kreis abgebildet, womit der untere Durchmesser der Säulen gemeint ist. An der X. Säulenreihe werden dennoch Fundamente abgebildet, die freilich rechteckig und von größeren Dimensionen sind. Dies ist keinesfalls als Hinweis auf eine Art Vorhalle bzw. Betonung der Front zu verstehen (wie u. a. von Gogos 2015, 25 gedacht), da Travlos auch an der Südseite eine Mauer rekonstruierte.

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Die dunkle Schraffur der acht Punktfundamente vermittelt andererseits den Eindruck, alle acht seien ans Licht gekommen. Die Fundamente X1 und X5 wurden in Wirklichkeit nie gefunden, während X8, das im Plan teilweise schraffiert ist, anscheinend dasjenige ist, das 1980 unter der Umgrenzungsmauer der archäologischen Stätte entdeckt wurde. Korres 1980, 14–18. In beiden m. W. hergestellten Modellen (im Zentrum für Akropolis-Studien, Athen, und im Alten Museum, Berlin) ist die erste nördliche Säulenreihe (I) ausgelassen und das Odeion mit 9 × 9 Säulen rekonstruiert; dies entspricht nicht der Fundsituation in der nordöstlichen Ecke des Gebäudes (die Basis I9 ist sicher nachgewiesen). Auf jeden Fall verdeutlichen die Modelle Korres’ Rekonstruktionsvorschlag, der sonst summarisch in Korres 1980, 16–18 präsentiert wurde. Dagegen: Papathanasopoulos 2003, 71; Feller 2011, 79 Anm. 14. Die Keramik aus der Füllung der Fundamentgrube datiert der Einschätzung der Ausgräber nach in die erste Hälfte des 5. Jhs. v. Chr.: Horemi-Spetsieri 2003, 15; Trianti et al. 2012, 13. Der Plan beruhte auf den publizierten Plänen sowie auf Plänen aus dem Archiv der Ephorie Athens, die mit Hilfe von neuen Vermessungspunkten zusammengestellt wurden; eingemessen wurden das Fundament in der Thrasyllou-Str. 16, noch sichtbare Quader der von Kastriotis freigelegten nördlichen Stützmauer, die nordwestliche Innenecke des Odeion, die Punktfundamente X2, X3, X4, X6, X7 sowie die teilweise sichtbare östliche Fluchtlinie des Monuments Nr. 6. Für ihre bereitwillige Hilfe bei dieser Arbeit möchte ich der Ephorie Athens und dem Wissenschaftsausschuss für die Monumente am Südhang der Akropolis herzlich danken. Insbesondere bin ich K. N. Kazamiakis, A. G. Nannos und M. Roumantzi für die Bereitschaft, mir ihre Arbeit zur Verfügung zu stellen, sehr dankbar. Feller 2011, 80 Abb. 1; Shear 2016, 200 Abb. 67, jedoch mit falscher Verortung der choregischen Monumente. Obwohl der heutige Geländeverlauf darauf schließen lässt, dass der größte Teil der Terrassenmauer verloren ist, müssen sich im nie systematisch erforschten Bereich zwischen den choregischen Monumenten und der X. Säulenreihe des Odeion sowie auf den beiden Seiten wenigstens geringe Reste dieser Mauer erhalten haben. Nach der Seitenlänge der freigelegten Basen (I9, II8–9, III9): Kastriotis 1922, 33; Orlandos in Kastriotis 1922, 37. – Die Säulen der X. Reihe werden oftmals mit größerem Durchmesser als die der übrigen Reihen rekonstruiert; s. z. B. Robkin 1976, 20–23 Abb. 1–3, wo ein Durchmesser von 2,196 m angenommen wird. Da aber die obersten Lagen der Fundamente X2 und X3 an ihrer sichtbaren Südseite eine Breite von ungefähr 1,25–1,30 m aufweisen, kann man auch für die Säulen der X. Reihe auf einen unter 1,25 × 1,25 m großen Durchmesser schließen. Vgl. die Fassaden der hypostylen Saalbauten in Argos, Delos und Sikyon: Feller 2011, Abb. 7. Zu Proportionen: Tabelle

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der griechischen Tempel in Dinsmoor 1950; Wesenberg 1983, Tabelle zu S. 102. Die Stoa der Athener in Delphi, wo das Verhältnis von Säule zu Interkolumnium 1 : 8,2 beträgt, »spottet« Grubens Formulierung nach »jeder Regel« und bildet einen Sonderfall: Gruben 1986, 90. – Feller 2011, 79 rekonstruiert die Säulen der X. Reihe mit ca. 1,10 m Durchmesser und nimmt eine ungewöhnlich weite Säulen­ stellung an, die ein Holzgebälk getragen hätte. Punktfundamente werden in der Regel für Innen­säulen­ stellungen von Stoen und hypostylen Saalbauten verwendet, aber sehr selten für Außensäulenstellungen bzw. Peristasen: Müller-Wiener 1988, 62; Martin 1965, 310– 312, wo auch auf Ausnahmen hingewiesen wird. Drei während der Grabung gefundene Kalköfen enthielten »nicht wenige« verbrannte Marmorfragmente in einer Schicht zusammen mit Olivenkernen: Kastriotis 1915, 146; Kastriotis 1919, 9; Kastriotis 1921, 29. Dass sich ansonsten nichts vom Baumaterial des größten Gebäudes der griechischen Antike erhalten haben soll, überzeugt dennoch nicht. Aus irgendeinem Grund sind wir noch nicht in der Lage, seine Bauteile zu identifizieren. S. Anm. 3. Bezüglich Plutarchs Beschreibung vgl. die zutreffenden Beobachtungen von Miller 1997, 227. Vgl. Nylander 1970, 73–75. Miller 1997, 231 weist auf die Einschränkungen einer Arbeit hin, die nur mit Hilfe von Grundrissplänen erfolgt. Die nordsüdliche Ausdehnung lässt sich mit höchstens 62 m und mindestens 61,60 m berechnen. Orlandos 1932, 27 hat die ostwestliche Ausdehnung mit 60,60 m angegeben. In Farbtafel I, 273 ist dieser Abstand um einige Zentimeter größer, aber Orlandos’ Messung ist freilich zuverlässiger. Miller 1997, 227; Winter 2006, 139. So Papastamati-von Moock 2015, 61–62. Der Begriff Polystylon bezeichnet die ›Vielsäuligkeit‹ bzw. den sog. Säulenwald im Innenraum. Polystylon (auf vielen Stützen ruhend) findet sich als Adjektiv in Strab. 15,1,21; 17,1,28 (s. unten, Anm. 39); Plut. Per. 13,5 (in Bezug auf das Odeion: s. Anm. 3); Hesych., s.v. Κωλιάς. Hypostylon (auf Stütze ruhend) ist ein weiter gefasster Begriff, der sich bei Diod. 1,48,5 (in Bezug auf das bzw. ein Odeion) findet; er kann auch Räume bezeichnen, deren Dach nur durch eine Stütze getragen wird. Ail. var. 9,3; Polyain. 4,3,4. (s. Studniczka 1914, 28–30). Vgl. das Bankettzelt des Ptolemaios II., das nach Athen. 5,196b nur ein Peristyl von 4 × 5 hölzernen Säulen im Inneren besaß: s. Emme 2013, 34. Gruben 2007a, 79–80. Abb. 35, 2. 3; Gruben 2007b, 160. S. auch Kaoura im Druck. Zu einer Gegenüberstellung der Telesteria s. u. a. Mylonas 1961, Abb. 26. Es handelt sich namentlich um die griechischen sog. hypostylen Saalbauten (s. Lauter 1986, 155–163; Winter 2006, 135–149; Feller 2011; Feller im Druck), aber auch andere Gebäude, wie den bereits erwähnten Tempel von Yria und die Krene von Theagenes in Megara (s. Hellner 2004; Hellner 2009).

Das Odeion des Perikles in Athen

37 Einige Forscher vermuten, dass auch die dem Odeion vorausgehenden hypostylen Saalbauten von einem persischen Vorbild abgeleitet wurden: s. Schefold 1968, 56; Meinel 1980, 141–140; Shear 2016, 190–195. Die dem Odeion nachfolgenden Saalbauten, wie etwa das Thersilion von Megalopolis, werden dagegen nie mit persischen Architekturvorstellungen in Verbindung gebracht. Es spricht aber nichts für die These, das Polystylon sei nur anfänglich für persisch gehalten und danach in die griechische Architektur integriert worden. Zudem würde dies ja bedeuten, dass das Polystylon des Odeion nach dem 5. Jh. v. Chr. nicht mehr als persisch hätte erkannt werden können. 38 Korres 2014 mit ausführlichen Literaturangaben. 39 In diesem Zusammenhang ist Strabons Beschreibung des Sonnentempels in Heliopolis von Interesse (17,1,28): »ἔστι δέ τις καὶ πολύστυλος οἶκος, καθάπερ ἐν Μέμφει, βαρβαρικὴν ἔχων τὴν κατασκευήν: πλὴν γὰρ τοῦ * μεγάλων εἶναι καὶ πολλῶν καὶ πολυστίχων τῶν στύλων οὐδὲν ἒχει χαρίεν οὐδὲ γραφικόν, ἀλλὰ ματαιοπονίαν ἐμφαίνει μᾶλλον.« (»Auch findet man wohl, wie in Memphis, ein auf vielen Säulen ruhendes Gebäude, welches eine barbarische Bauart zeigt; denn ausser dass die Säulen gross und zahlreich und vielreihig sind, hat es nichts Wohlgefälliges und Schöngezeichnetes, sondern zeigt vielmehr zwecklose Arbeit«; Übersetzung: C. G. Groskurd). Da die großen, zahlreichen und vielreihigen Säulen anscheinend von der Kritik ausgenommen sind, stellt sich die Frage, worauf sich besagte »zwecklose Arbeit« beziehen könnte, wenn nicht auf den Säulenwald. 40 Noack 1927, 107–112. 275–283; Mylonas 1961, 160–162; Travlos 1988, 97. 41 So Miller 1997, 223–224. 42 Gall 1977, 123–124; Gall 1979, 448; Meinel 1980, 140–144; Kleiss 2015, 103–104. Abb. 260 a; Shear 2016, 223. 43 S. breitrechteckige persische Saalbauten in Pasargadai und Dasht-i Gohar bzw. die griechischen Saal­bauten im Heraion von Argos, in Megalopolis und auf Delos. Quadratisch sind die persischen Saalbauten in Susa und Persepolis bzw. die Innenräume der Telesteria von Eleusis, der hypostyle Saalbau auf der Agora von Argos, das Bouleuterion in Sikyon und mehrere Bouleuteria späterer Datierung. 44 Außen Innen Säulenzahl Achs­weite

Susa, Apadana 109 × 109 m 58 × 58 m Persepolis, Apadana 112 × 112 m 60,5 × 60,5 m Persepolis, 100-Säulen-Saal — 68,5 × 68,5 m

6 × 6 6 × 6 10 × 10

8,60 m 8,65 m 6,20 m



Eleusis ca. 66,6 × 54 m 51,56 × 51,96 m 7 × 6 6,13–8,23 m Megalopolis 66,65 × 52,43 m ca. 65 × 50,5 m 60 5,5–10,36 m Delos 56,39 × 34,26 m 55,22 × 33,09 m 9 × 5 (44) ca. 5,5 / 11 m

aus: Schmidt 1953, 78. 80. 132; Huff 2010, 330; Boucharlat 2013, 423; Ladiray 2013, 179. Die Außendimensionen des 100-Säulen-Saals sind nicht messbar, da er Teil eines Bauensembles war. 45 Außen Innen Säulenzahl Achs­weite

aus: Noack 1927, 108. 123–124. 181 (Eleusis, Telesterion); Lauter / Lauter-Bufe 2004, 139 Abb. 19; Feller 2011, 85 (Megalopolis, Thersilion); Moretti / Fincker 2016, 99–100. Abb. 2 (Delos, Hypostyler Saalbau).

46 Miller 1997, 239. 47 Nicht alle persischen Palastbauten ließen sich aus der Ferne beurteilen. Die Auffassung scheint hauptsächlich vom Apadana in Persepolis auszugehen: s. Koch 1992, bes. 80–81. Abb. 32. 34. – Auf der mehr als 10 m hohen Terrasse des »ByzFort« fanden sich nur wenige Baureste von unklarer Bestimmung; ein Palast bzw. eine Residenz oder ein Heiligtum werden angenommen; s. Ratté 1994, 363–364. 385; Ratté 2011, 102–107 Abb. 176–194 mit Literaturangaben. 48 Das Straßenniveau im Süden liegt bei 81,5/81 m ü. NN (nach Korres 1980, Abb. 1), während das Laufniveau im Heiligtum, den Bauresten des Neuen Tempels und der Stoa nach zu urteilen, auf mehr als 88 m ü. NN lag (s. Korres 1980, Abb. 1; Dörpfeld / Reisch 1896, 10 Taf. 1; Townsend 1982, 92–93). 49 Miller 1997, 239. 50 Die Lage der Choregenmonumente zeigt auf jeden Fall, dass eine rechteckige Terrasse auszuschließen ist. Wie in Farbtafel I, 273 gezeigt, ist es wahrscheinlicher, dass die Terrassen­mauer parallel zur Tripoden-Straße lief. Ob sie eine oder mehrere Abstufungen besaß, ist nicht mehr festzustellen. Zu Stufenstützmauern s. Becker 2004, 261– 281; Hollinshead 2015, passim. 51 S. Schmidt 1953, 79. 80. 132 (Persepolis, Apadana, 100-Säulen-Saal); Koch 1992, 81 (Persepolis, Apadana); Perrot 2013, 211–215 (Susa, Apadana). Vgl. die Vorhallen in Pasargadai und Dasht-i Gohar, deren Säulen kleinere Proportionen als die der Hauptsäle haben (daher ist auch ihre Zahl viel größer und die Interkolumnien sind enger). Interessanterweise ist dies auf griechisch-ionischen Einfluss zurückzuführen; s. Nylander 1970, 112– 113. 118–121; Stronach 1978, 72; Boardman 2003, 76–77; Boucharlat 2013, 417. 52 Die erhaltenen Baureste widersprechen dieser Rekonstruktion nicht, die Existenz der Türwand ist aber auch nicht notwendig. 53 Athen. 5.197a: »ἡ γὰρ κατὰ πρόσωπον ὂψις ἀφεῖτ‘ ἀναπεπταμένη«, Übersetzung Emme 2013, 34. 54 Emme 2013, 46, wo auch ältere Rekonstruktionen besprochen und abgebildet werden. 55 Osten 1956, 59. 56 Ob die »freigelassene Stirnseite« als allgemeines Merkmal der Zeltarchitektur angesehen werden kann, ergibt sich aus den vorhandenen Daten nicht. Über das imaginäre Bankettzelt, das Ion in Delphi aufstellte, wissen wir nur, dass es mehr als einen Eingang hatte: Eur. Ion 1163–1165 (s. Schmid 2006, 82). Im Fall des Bankettzeltes diente die offene Seite der Öffentlichkeit der Zeremonie: Die Gäste, die sich vor dem Zelt versammelten, durften »das Zelt als kostbares Objekt und als Szenerie anschauen und bestaunen« (Hesberg 1996, 87). Auch »um den Apadana herum blieben weite freie Flächen, auf denen sich die Teilnehmer großer Festlichkeiten versammeln konnten« (Koch 1992, 81). Derartige Funktionen lassen sich im Fall des Odeion aufgrund des Platzmangels sicherlich nicht annehmen.

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57 Lambrinoudakis 1986, 132; Miller 1997, 237–239; Deppmeyer 2007, 24; Shear 2016, 215. Der Verweis auf die Zeltarchitektur ist hierbei von den meisten Forschern generell gemeint. Gall 1979, 447–448 argumentierte anhand von Curt. 3,3,9 dafür, dass das Zelt des Dareios III. auch ein Pyramidaldach hatte. Dazu vgl. Miller 1997, 238 Anm. 129.

58 Die Dachziegel, die Kastriotis in der Zerstörungsschicht des Odeion in großer Zahl fand, könnten evtl. Aufschluss über die Rekonstruktion des Daches bieten, aber ihr Verbleib ist nicht bekannt; s. Kastriotis 1919, 5 Abb. 9. 10; Travlos 1951, 43. Merk­wür­diger­weise sollen in der gleichen Schicht auch Dachziegel angeblich klassischer Zeit gefunden worden sein: s. Kastriotis 1919, Abb. 10 a; Buren 1926, 113 Kat. 96.

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Abbildungsnachweis

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West-to-East Migration and the Dynamics of Celtic Monasteries in a European Context

Lynda Mulvin

The German pavilion at the 2016 Venice Architecture Biennale addressed the topic of migration and carried the message of openness in the theme Making Heimat: Germany Arrival Country.1 This was at the peak of migration into Europe, with over one million migrants arriving in Germany in 2015. The central role played by Germany in Europe was highlighted at the biennale, demonstrating how a culture of openness enables growth and can provide an ambient platform for increasing stability, with a measurable impact in terms of cultural responses. The construction of a Hindu temple near Hamm provides a visual narrative for cultural syncretism. 2 The welcoming stance that Germany has offered to recent migrants has resulted in rapid absorption, as culturally and socially new architectural forms were incorporated and cultural trends transmitted quickly. There are certain parallels that can be drawn from the Early Middle Ages in a European context, as a similar procedure led to an architectural legacy promoting cultural syncretism in medieval Europe. This paper focuses on the impact of Irish scholarly monks, or peregrini, as they travelled from Ireland to continental Europe in some numbers from the sixth to the tenth century AD and built ecclesiastical settlements using a Celtic oval monastic plan. This so-called «Insular mission»3 contributed substantially to European culture and learning in the Early Middle Ages. The translation of the Celtic «oval form» monastery to certain sites spread across Europe will be discussed here, as traces are evident at monastic sites at Luxeuil-les-Bains

(France), St Gall (Switzerland), Reichenau (Germany), and Bobbio (Italy). Long distance trade routes connected people across many different ethnic boundaries in a «globalised» medieval Europe. The Christian church was a stimulating force in terms of the international dynamics of Western Europe in the Early Middle Ages, with the added intensity of Irish elements of cultural and religious interaction.4 Some of the earliest vernacular literature came from Ireland to continental Europe. As relics of a prehistoric society this literature was transmitted orally, drawing on the Ogham script – a system of linear symbols based on the Roman alphabet and early forms of writing – which assisted in the revival of spoken Latin in early monasteries as scribes transcribed the four Holy Gospels. Preserved in the National Museum of Ireland, the Springmount handwritten Latin wax tablets from Co. Antrim (c. 600 AD) were trial work for a Book of Psalms, indicating the high standards required by official monastic scribes.5 Latin was preserved in this way as the language of the book and transmitted to Europe as the written word. Ireland, originally not integral to the Roman Empire, was granted a place in the western postRoman world. As the Latin term scotti denoted the Gaelic-speaking people of Ireland together with the Irish who settled in western Scotland and mainland Europe, the missionaries were considered part of the «Hiberno-Scottish» or Insular mission. There was a notable reliance on traditional maritime and riverine passages as pilgrimage routes, which were viewed as a means for the transmission of new ideas and artistic currents.

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The Irish Missionaries’ Routes through Europe Early Irish churchmen played critical roles in the spread of Christianity to the British isles. St Columba founded the «oval-form» monasteries in Ireland at Durrow and Derry, and is credited with spreading Christianity to Iona in Scotland and Lindisfarne in Northumbria as recorded in Adomnán’s Vita Columbae hagiography. St Fursey (650 AD) was credited with bringing Christianity to East Anglia under the Christianising king Sigbert. The Venerable Bede paid tribute to the role of the Irish in securing «faith and piety bestowed on pagan Alban and casting off darkness of idolatry».6 The power and effect of migration was already being felt and reference to Christianity had a unifying effect at the time of St Columbanus, whose early biographer Jonas of Bobbio outlined his setting up of small religious foundations in Europe along existing pathways.7 Arriving at the coast of Brittany, France, the peregrini moved inland and

1  Bobbio, Italy.

settled in the remote site of Annegray, Vosges Mountains (Haute-Soâne) at the eastern edge of the Frankish kingdom next to the kingdom of Burgundy. The mission spread further to the nearby Luxeuil-les-Bains (c. 585–590 AD) and then to the Alsatian Marmoutier and Murbach. Columbanus sparked a new monastic tradition in which Irish rule was separate from Rome, venerating the memory of the Irish founder. This «Cult of the Founder» may account for the Irish monks’ enduring presence in Europe from an early period. Hagio­graphers and charter scribes later linked these religious Irishmen with certain settlements fanning out from the early French locations north: to St. Fiachra (c. 670 AD) of Breuil and Meaux and to sites near modern-day Belgium, such as St. Feuillen (c. 652 AD) near Tongeren. Here, associated reliquary objects, such as the ecclesiastical Tongeren Horn and the Northumberland ivory plaque, products of Irish craftsmanship, were found.8 The continental network connected further sites located in St. Gall near Lake Constance

West-to-East Migration and the Dynamics of Celtic Monasteries in a European Context

in modern-day Switzerland (c. 630 AD) and across the Alps to Bobbio, Italy, c. 615 AD (fig. 1), close to Piacenza. Further east, other Irish connections were found at Wurzburg (c. 689 AD) with St Killian and at Reichenau, not far from St. Gall, where legendary tradition told that FranconianIrish St. Pirmin drove out the worm-like snakes of Lake Constance as St. Patrick had done previously in Ireland. These were localised saints associated with the so-called Scottus monasteries in Germany. St. Fergal or Virgilius of Salzburg (784 AD) was also linked to these developments, coming from the Irish site of Aghaboe into the Carolingian realm.9 These peregrini brought the literacy and learning of manuscripts, developed in association with the founder as demonstrated in the Cult of the Saints.10 The practices of the peregrini and missionary monks were reflected in their withdrawing and retirement from the world into anchorite lodgings for periods of time, combined with missionary activities and apostolic work for souls. It is estimated that some fifty houses were associated with these early Irish foundations, the footprint often enduring in local place names.11 The abbeys of St. Gall, Bobbio, and Reichenau retained Insular manuscripts. Other Scottus monasteries in Germany and Austria have a legacy of Insular ecclesiastical objects, manuscripts, and artefacts, demonstrating the dominance of these ecclesiastical institutions in the make-up of early medieval Europe.12 Bobbio from its foundation followed the Rule of St. Columbanus who was buried there in 615 AD.13 The abbey’s library contained manuscripts Columbanus had brought from Ireland. It included the Bangor Antiphonary, which contained sets of collects that can be compared to the hexameters in the Reichenau Gallican fragment.14 The abbey in St. Gall would become the centre for a follower of Columbanus as shown in the St Gall Missal in the Stiftsbibliothek. It includes the Peccavimus Parcuri depicting St John, which was held in the abbey library from the 10th century.15

The passes across the Alps bear witness to further traces of Irish peregrini with the painting of an Irish bell (Angel’s Bell) appearing in the ninth-century fresco in the abbey church of St John, Müstair. The abbey was positioned in the Val Müstair, near the Umbrail pass from Italy to Grisons, and was able to control the passage of travellers to and from the pass.

Architectural Features of Irish Monasteries The Insular mission was associated with an evolving network of knowledge exchange with particular reference to monastic complexes that arose from the foundation of abbeys and religious houses. These would spread simple architectural features and plans of monastic houses: oval-walled sacred enclosures populated with orientated, single-cell churches, and additional features of round towers or bell houses, which were symbols of the faith, monuments heralding the presence of the monastery from far and wide. The evidence for monastic foundations in Ireland is drawn from remote sites and from certain texts such as the eighth-century Collectio Canonum Hibernensis.16 This text reached the continent as a manuscript by the mid-eighth century. Probably used at Corbie, Picardie, c. 740 AD,17 the text is interpreted as a description of an early Irish church layout: There ought to be two or three termini around a holy place: the first in which we allow no one at all to enter except priests, because laymen do not come near it, nor women unless they are clerics; the second, into the streets the crowds of common people, not much given to wickedness, we allow to enter; the third, in which men who have been guilty of homicide, adulterers and prostitutes, with permission and according to custom, we do not prevent from going within. Whence they are called, the first sanctissimus, the second sanctior, the third sanctus, bearing honour according to their difference.18

This passage establishes the early Irish monastery as having enclosures with three separate, well-defined areas for different activities: sanctissimus, sanctior, and sanctus. The main church and

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oratories were located in one section, with smaller chapels in other areas. Timber huts and shelters were hastily erected in forests and in secluded areas. Later stone architecture replaced the timber buildings.19 The Liber Angeli described the layout of Patrician churches, composed of an enclosure, a house, with a kitchen, an oratory, and cloister; inside were two churches, a south church where bishops and priests and anchorites worshipped, and a north church for virgins, penitents and those serving the church.20 Surviving traces can be seen in the monastic settlement patterns at Kells, Co. Meath and in the monastery of Clonmacnoise, Co. Offaly (fig. 2), where the oval form enclosure circle contained an

2  Clonmacnoise Teampuill Finghans.

aligned single-cell church seen in the image for Armagh depicted in Richard Barlett’s map c. 1601 (pl. IV, 276). The map shows the physical details of the monastic circular form typically found in Ireland: comprising an inner and outer enclosure and an outer boundary wall to the enclosures. The timber huts within the boundary described earlier can also be found on this map. The small cells, such as those seen at eighth-century St Kevin’s Monastery, at Glendalough, Co. Wicklow, had interiors once adorned with church plate, chalices, bells, manuscripts, processional crosses, and reliquaries.21 The legacy of these churches survives in an extraordinary testimonial, the description written c. 660 AD by the scholarly monk Cogitosus in his Vita Brigit of the monastic timber church dedicated to St Brigit in Co. Kildare. Cogitosus describes the development of the monastic site of St Brigit as follows: St Brigit founded church and oratory on an ancient site described as a city over the course of time, several oratories/houses appeared around her religious establishment as it became necessary to provide for the necessities of those, who came from a distance, or, who were brought from more immediate districts, to assist at the pious exercises and public celebrations of her conventual institute. By degrees from being merely a village, Kildare became a very considerable town; and at length, its habitations extended in number and size, so that it ranked as a city. 22

This depiction is of a sacred sanctuary around which is clustered a number of oratories. These are pointers for visualising the simple monastic houses set up in European sites. In 762 AD St Brigit’s church was referred to in the Annals as dairthech (wooden church). The description that followed was a significant depiction of such an early wooden construction:

For the number of the faithful of both sexes increasing, the Church, occupying a spacious area, and elevated to a menacing height, and adorned with painted pictures, having within three oratories large and separated by plank partitions, under one roof of the greater house, wherein one partition decorated and painted with figures and covered with linen hangings, extended along

West-to-East Migration and the Dynamics of Celtic Monasteries in a European Context

the breadth of the eastern part of the Church, from the one to the other party wall of the Church, which [partition] has at its extremities two doors and through the one door, placed in the right side, the chief prelate enters the sanctuary accompanied by his regular school, and those who are deputed to the sacred ministry of offering sacred and dominical sacrifices: through the other door, placed in the left part of the partition abovementioned, and lying transversely, none enter but the abbess with her virgins and widows among the faithful, when going to participate in the banquet of the body and blood of Jesus Christ. But another partition dividing the pavement of the house into two equal parts, extends from the eastern side to the transverse partition lying across the breadth. Moreover this church has in it many windows, and one adorned doorway on the right side, through which the congregation of virgins and women among the faithful are used to enter. And thus in one very great temple a multitude of people, in different order and ranks, and sex, and situation, separated by partitions, in different order, and [but] with one mind worship the Omnipotent Lord. 23

A loose interpretation of this passage is that it describes an early rectangular plan, consisting of a nave and chancel divided into east and west parts with lateral entrances. The adornments described reflected the desire to ornament the monastery’s main church building. Another notable feature was that the sanctuary was lit by a number of windows. The different entrances for the male and female religious communities was notable, as was a division of the nave by a wooden partition. Another partition separated the clergy, placing the bishop with his chapter on the south side, and the abbess with her nuns on the north side. In this connection it was probable that the dwellings of the bishop and monks were on the south side of the church, and those of the abbess and the nuns were on the north and west. The monastic settlement at Kildare was proclaimed the head of almost all the Irish churches and was a significant site. The description of the great church in the innermost sanctuary provided a visual interpretation of the elaborate, spacious seventh-century church construction in Kildare as described by Cogitosus. At a later stage the first wooden church

(dairthech) must have been rebuilt in stone, as it was now referred to as daimlaig (stone church) in the Annals of the Four Masters. In 1050 Kildare was burnt. A teampall (a large stone church) was mentioned in 1067, indicating that the reconstructed church was also of stone. Furthermore the monastic «city» was delineated with a boundary enclosure within which stood several houses of the religious establishment; by degrees it became a sizeable monastic settlement along the lines of the visual depiction in Barlett’s map of Armagh. Evidence of single-cell churches in Ireland is further provided by the skeuomorph models of capstones in Irish high crosses seen in the example of Tully High Cross, Co. Dublin (fig. 3).

3  Capstone Irish High Cross, Tully High Cross, 10th c.

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Traces of Irish Architectural Ideas in Europe The impact of artistic connections in Europe from late antiquity to the early middle ages stems, in part, from the legacy of the layout of Columban and post-Columban abbeys in continental Europe. These practices were transmitted to Europe with elements of ascetism captured in the written description of the sacred sanctuary and the inner enclosure. It was essentially these elements that define the influence of Irish monks on architecture in Europe through the foundations they established. The monasteries in Iona, Lindisfarne, Luxeuil, Honau, St Gall, Bobbio, and Reichenau, as well as the Scottus monasteries in Germany and Austria, share simple common attributes, as shown in St Columba’s foundations from Durrow, Derry to Iona. Traces of different oratories and churches at these sites demonstrated oval-form enclosures with many small oratories surviving in

5  Reichenau, Germany.

4  Luxeuil-les-Bains, France.

small churches in these settlements. These are the features cited earlier from the Collectio Canonum Hibernensis.24 At Luxeuil-les-Bains recent archaeological exploration has exposed a rectangular church building constructed during 670 AD (fig.  4).25

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Another example of such a building is the church of Saint Martin reconstructed in the ninth century by abbot Anségise (817–833 AD).26 The monastic plan of the settlement with a circular enclosure and three aligned churches points to the early Irish monastic ideals.27 This continental network is connected further at the site of St Gall, Switzerland (c. 630 AD), where the original monastic layout is of a simple church at the centre and cell-like structures in the surrounding region.28 Although there are only some traces on the ground, the connections with early Irish church arrangements are clear. The survival of similar settlement patterns at the holy island monastery of Reichenau, Lake Constance are noted (fig. 5). The origin on this monastery is described in the Vita Pirmin: «for three days and three nights creating an area in a clearing and built a lovely house for the living and true God and shared lodging for his disciples».29 Reichenau retained some of the traces of these early monastic layouts as the underlying structure of this monastery overlies the Irish monastic layout, with a circular enclosure and several aligned churches and small lay huts perceptible from an overview. A 1627 map of Reichenau depicted an imprint of the early monastic layout of three churches: Mittelzell at the centre of the sacred enclosure, and Oberzell and Niederzell, two outlying churches with associated oratories and chapels. Similarities are found as the structure appeared to be overlaid at Bobbio (c. 615 AD), derived from Celtic traditions and the rule of St Columba, with a main church at the centre and outlying chapels dedicated to San Lorenzo, San Policaro, and San Nicola adhering to the pattern of different enclosures.30

Reliquaries as Transmittors of Architectural Forms The discovery of several Insular reliquaries at monastic sites in Europe is further evidence of the dissemination of artistic creation in Europe.31

Reliquaries were portable ecclesiastical objects brought to Europe by pilgrims, containers designed to hold relics. These relics were believed to have healing power32 and because of the relics inside these miraculous powers were also attributed to the containers.33 The simplicity of these reliquaries conceals the precious nature of ecclesiastical objects,34 in the form of miniature chapel buildings similar to the temple of Jerusalem depicted in the Book of Kells. They are seen as models of church architecture and depicted on the capstone of the Cross of the Scriptures, Clonmacnoise, County Offaly (fig. 6).35 The house-like shrine at Monymust, Scotland (fig. 7), for example, is modelled on small chapel structures such as St Kevin’s Glendalough and the form of the early stone church structure on St Mac Dara’s island off the west coast of

6  Clonmacnoise, House church, Cross of the Scriptures.

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Galway.36 The model is a skeuomorph re-enacting the church/temple format as an object, with decorative insular spiral motifs found in an Insular context (fig.  8).37 Similarly the Clonmore shrine in Blackwater, Co. Kilkenny can be compared to the Bobbio house shrine: both are eighth-century shrines, enamelled and bearing animal ornaments in the form of Insular art.38 There are nine surviving Insular house shrines in total in Scotland, Denmark, France and Italy, accorded different functions as reliquaries and chrismals of the Holy Host.39 The peregrini carried them to Europe for instruction and for church rituals.

7  Houseshrine, late 8th/early 9th century. Glenmorangie, Monymusk, Scotland.

8  Monymusk houseshrine, decorative details.

Second Wave of Migration in the Carolingian Renaissance Such encounters enabled a substantial contribution to the art and architecture, particularly in abstraction and figural decoration, of core areas in Europe during the medieval period, most notably the Frankish kingdom and the Holy Roman empire. The evidence highlights the political context of migration via Irish monasticism, with earliest references from the sixth to the eighth centuries AD. The Irish holy émigrés to Europe were connected to the foundation of monasteries. From these centres of learning developed the Irish reputation for scholarship. The Irish connections to Latin literacy were significant, as Latin was the language of the Holy Scriptures. Thus, missionaries influential in the early Church history of Constance, Wurzburg, Vienna, and Regensburg were referred to as Schottenklöster (Scottish monasteries). The name applied to the monastic houses of Scottish and Irish missionaries. At the Imperial abbey of Reichenau, one monastic scribe, Walafrid Strabo (d. 849 AD), conjured up an image of the continent being full de natione scottorum, «of the Irish», to whom «custom to travel had become almost second nature».40 Early Irish foundations would become centres with transient communities.41 The ninth century AD

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Irish philosopher John Scottus Eriugenia referred to an «angelic hierarchy» in his translation of Dionysius the Areopagite.42 The intellectual impact was apparent at the court of Charlemagne and was one of the contributing factors of the Carolingian Renaissance.43 Columban monastic rules were written down as part of Carolingian church reform. Carolingian reformer Benedict of Aniane (d. 821 AD) produced a collection of all the monastic rules in Vita Benedicti Anianensis. Einhard’s biography, Life of Charlemagne, describes the revival of Latin learning in the West as a renovatio.44 By 800 AD an Irish scholar, Dungal of Pavia, was charged by Charlemagne to assist in organising education in Italy. Irish intellectual achievement made a mark on European culture. The abbey at Honau on the Rhine was known for an intervention from Charlemagne: «Charles by the Grace of God King of the Franks gives orders the king of the Franks have given freedom to all Irish Pilgrims to the end that no one shall carry off anything of their property and that no generation except their generation shall occupy their churches».45 Knowledge was imported to Europe with prime examples of serving dignitaries, like Sedulius Scottus at the Liege court. Scottus (c. 850 AD) produced the text De Rectoribus Christianis, assessing spiritual and political power, deposited in the Bremen Stiftsbibliothek.46 John Scottus Eriugena was a prolific and wide-ranging scholar at the Palace School of Charles the Bald and his work On The Nature of Things in 860 AD was reviewed by papal librarian Anastasius: it is a wonderful thing how that barbarian, living at the ends of the earth who might be supposed to be as far removed from the knowledge of this other language, as he is from familiar use of it, has been able to comprehend

such ideas and translate them into another tongue: I refer to John Scottigena whom I have learned by report to be in all things a holy man.47

Summary The cultural contribution of the Irish abroad in Europe was apparent in successive waves of migration as Irish peregrini from the sixth to the ninth century AD created a unique concept of monastic culture and a type of monastic institution with Irish origins.48 Scholars and missionaries from Ireland exerted great influence in continental Europe to make innovations in emerging new canons of art and architecture. This is manifest in ecclesiastical architectural remains found as traces in the form of house shrines such as Monymusk reliquary. These traces exerted influence in the portable nature of form and ideas, as the impact of migration was transmitted. This was an impetus for a second wave of migration to Europe as the Carolingian Renaissance was infused with Irish scholars and saints, providing a significant platform for new developments in applied art and architecture. Ireland’s relationship with Europe was profoundly different during the early Middle Ages when the migration of Irish scholars or peregini to Europe created an impact of overlapping connections of literacy, learning, and artistic contributions stemming from the impetus of Insular art. The nature of the exchange processes necessary for the dissemination of architectural influences in the realm of migration and diaspora in the Early Middle Ages was framed in monastic building culture.

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1 Cachola Schmal et al. 2016. 2 Cachola Schmal et al. 2016, Fig. 71: Sri Kamadchi Ampal Temple in Hamm. 3 Hughes 1966. See also for general reading Mulvin 2017a. 4 Loveluck / O’Sullivan 2016. 5 Mulvin 2017b. 6 Bede Ecclesiastical History of England (Book 1 Chapter xiii), see Sellar 1912. 7 Doherty 1991. 8 James 1982. See also Ó Corráin 1984, esp. 157–160. 9 See Flechner 2008. 10 Johnson 2016 and also Mulvin 2017a. 11 Gougaud 1931. 12 Stokes 1895. 13 For a translation of Columbanus’s Life by Jonas of Susa, see Munro 1993. 14 Ryan 1961 and also Levy 1987. 15 Micheli 1936. 16 Reynolds 1983; Reynolds 2000. 17 Reynolds 2000, 20–50. 18 Reynolds 1983, 99–135. 19 Ó Carragáin 2007, 95–109. 20 St Patrick’s biographer associated with Tíreachán, Alexander 1978, vol. 1. The basic work on the Book of Armagh is Gwynn 1913, especially: xii–xvi, lxxix–xcii, and ci–xxxiv. 21 Henri 1967, Fig 2. 22 Bitel 2004; Swift 1998, 105–125. 23 Connolly / Picard 1987. 24 Meens 2000, 1–19. 25 See the «Amis de Saint Colomban» website (http://www. amisaintcolomban.org/ARCHEO-LUXEUIL.html, 10 April 2018). 26 Bully 2006. 27 Associated manuscripts were more likely produced at Hanou on the Rhine, which is known for an intervention from Charlemagne. Reeves 1853. 28 «In Scotia insula Hybernia deposition sancti Columbae, cognomento apud suos Columb-Killi, eo quod multarum cellarum id est monasterium uel ecclesiarum instititutor fundator et rector existerit (…) beattisimi Columbani magistri domini et patris nostril Galli, virtutatum ac meritaorum suiru quasi unicum», Notker Balbulus Martyrologium, June 9, Cols. 1101–3, H. Canisius (ed.): Lectiones Antiquae VI (Ingolstadt 1604); reproduced in Migne 1844–65, vol. 131, 1015–164. See Picard 1998 and Connolly / Picard 1987, 5–27. 29 Vita Pirmium 9, 75. John 2006, 13. 30 Tosi 1978. 31 See chapter «Art of Worship and Devotion» in Moss 2014, 225–327.

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Ryan 1990, 102–11. Ryan 1990. Soderberg 1993, 156–65. Breathnach 1985, 319–30. Ó Carragáin 2007 and more generally Ó Carragáin 2010. For the Shrine Mount refer to inv. MAN 52748.01-02: Françoise Vallet (1982) «Trésors d’Irlande», in Catalogue de L’exposition and recently on loan at the Musée de Cluny in Paris, for the exhibition Celtes et Scandinaves, in 2008–2009. This information has been kindly provided by Professor Laurent Olivier, Curator-in-Chief of the Department of Celtic and Gallic Archaeology at the National Museum of Archaeology in Saint-Germain-enLaye (France). Many thanks also to Laurent Olivier for his assistance with this Shrine Mount piece and also to the Curator Ms. Christine Lorre for freely providing further inventory information. See more general discussion in Moss 2007. Bourke 1995, 27–32; Moss 2014. Bourke 1995 and also on Irish early church architecture generally see Ó Corráin 2006 and the chapter «Reliquaries» in Moss 2014, 283–296. ‹as a part of courtly culture› (Firchow 1981, chap 25). v. Corvey 1981; McKitterick 2001. Gurevich 1972, 220. For details on the Viking incursions into Ireland, see Clarke et al. 1998. Firchow 1981. Reeves 1837. An undated instrument of Charlemagne, in which he formally adjudicates to Adalbert or Odbert, advocate of St. Michael’s of Honaugia, or Beatus the Abbot XIV. The closing charter contains the donation of the Mabillon, Annal. Append, p. 698 b, 699a. Abbot Beatus to his monastery: «Sacrosanct ecclesiae, quae est constructa in insula, quae publice ab omnibus Hohenaugia nominatur, super fluvium Rhenum in honore S. Michaelis archangeli, ceterorumque sanctorum (…) trado atque transfundo, et in perpetuum ut permaneat volo tam terris, campis, pratis, silvis, vineis, domibus, aedificiis, peculiis utriusque sexus, mancipiis, aquis, aquarumve discursibus, mobilibus, et immobilibus; in hac vero conditione, ut ab illo die transitus mei, ipse abbas loci illius, cui ego commenda vero, habeat potestatem habendi, possidendi, commutandi, aut quicquid ex ilia re regulariter et ecclesiastice facere voluerit.» The text image appended is in The Reichenau Primer and the manuscript is in St. Paul in Lavathal Carinthia, Austria. Ó Cróinín 1993. Sheldon-Williams 1968–1981. Fox 2016.

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Image Sources 1 Photograph: Lynda Mulvin 2019. 2, 3 Photograph: Muiris Moynihan 2018. 4–6 Photograph: Lynda Mulvin 2018. 7, 8 Courtesy of National Museum of Scotland, Archaeology Division. Pl. IV  Courtesy of the National Library of Ireland MS 2656.

Einsamkeit Das architektonische Ideal der Kartäuserarchitektur im Wandel seines Umfelds

Elke Nagel

»In Frieden will ich darin schlafen und ruhen. In dem, was die Harmonie des Himmels in Schlaf senkt, daß nichts mehr sich regt, das Herz nicht mehr bangt und zagt: Das ist wahre Ruhe im Herrn.«1 Eine präzisere Beschreibung der kartusianischen Mönchsbehausung liefert Guigo von Kastell, fünfter Prior der Großen Kartause und Verfasser der Ordensregel Consuetudines Cartusiae (*1083, †1137; Priorat 1120–1137), in seinen Notizen leider nicht. Einsamkeit und Stille sind die beiden wichtigsten Leistungen der Kartäuser­architektur. Die spezielle Lebensweise der Kartäuser als Eremiten in einer Gemeinschaft erfordert einen Lebensraum, der jedem einzelnen Mönch ein ausreichendes Maß an Individualität zugesteht und zugleich die gesamte Kommunität eint. Über die Kartäuser zu forschen bedeutet oft, sich zwischen paradoxen Polen zu bewegen und in Gegensätzen eine Einheit sehen zu können. Das Zellenhaus mit dem ummauerten Garten ist ein vollkommen kontemplatives Refugium für den Einzelnen, die Verbindung durch den Kreuzgang das gebaute Manifest der Gemeinschaft.

Kartausen als städtebauliches Gefüge Im Grundsatz sind alle Kartäuserklöster aus den gleichen drei funktionalen Modulen zusammengesetzt, die der Klostergemeinschaft aus Zellen­ mönchen (Patres) und Brudermönchen (Fratres) den jeweils angemessenen Schaffensraum bieten. Von außen nach innen filtern die Gebäudeteile Störungen aus und sorgen für ein kontemplatives

Umfeld. Im Gesamtgrundriss finden sich im äußersten Ring zudienende Bereiche und Gebäudeteile der Laien bzw. Brudermönche, gefolgt von dem Bereich für die gesamte Klostergemeinschaft aus Zellenmönchen und Brudermönchen – dem sogenannten Zönobium. Hierzu gehören u. a. der kleine Kreuzgang mit dem Refektorium, dem Kapitelsaal und der Kirche. Schlussendlich folgt die Klausur, zu der ausschließlich die Zellenmönche dauerhaften Zugang haben: der große Kreuzgang mit den angereihten Zellenhäusern. Die Kartäuser haben eine architektonische Ordnung – auch wenn man so will: eine Bau­ordnung – ersonnen, aber keine Bauordnung im heutigen Wort­sinn verfasst, denn verschriftlichte oder gar normative Quellen zu den baulichen Charakte­ristika der Zellen­häuser finden sich nicht. Ihre Ordens­regel bezieht sich an mehreren Stellen auf die Zelle als Mönchs­behausung, ohne jedoch in irgendeiner Form Auskunft über deren bauliche Beschaffen­ heit als einzelnes Haus zu geben oder auf deren architektonische Ausgestaltung als mehr­räumige Wohnung einzugehen. Frieden und Abge­schieden­ heit werden hervorgehoben (XIV, 5) sowie die Stille als Rückzugsort für die gesamte Woche (VII,2)2.

Zellenhäuser mit individuellem Garten als spezifische Wohnform Die Zellen waren von Beginn an als spezielle kartusianische Wohnform vorhanden, wie sich anhand von zeitgenössischen Reisebeschreibungen und Briefen nachweisen lässt. Guibert de Nogent, Abt

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Grande Chartreuse (Gründung 1084), hochalpine Lage.

Chartreuse de lés Ecouges (Gründung 1115), hochalpine Lage auf der ausgesetzten Hochebene.

Chartreuse Durbon (Gründung 1116), alpine Lage an der Flanke eines Hochtals.

Chartreuse Pomiers (Gründung 1170), offene Hanglage.

Chartreuse de Bonpas (Gründung 1278), Ebene des großen Flusstals der Durance.

Chartreuse Villeneuve-lès-Avigon (Gründung 1356), urbane Lage im Dorf.

1  Topografische Modelle der Standorte der Kartäuserkloster (Originalmaßstab 1:10.000).

Einsamkeit

von Nogent-sous-Coucy (* um 1055; † um 1125; Wahl zum Abt 1104) berichtet: »Sie wohnen ein jeder einzeln in einer Zelle, angeordnet um einen Kreuzgang, wo sie arbeiten, schlafen und essen.«3 Detaillierter ist die Beschreibung im sog. »Goldenen Brief« von Wilhelm, Abt des Benediktinerklosters Saint-Thierry zu Reims aus der Mitte des 12. Jh. In einem Vergleich der Kartäuserbauten mit der Baukunst der Zisterzienser empfiehlt er seinen Mitbrüdern, anstatt prunkvoller Wohnstätten kleine Häuschen nach dem Vorbild der Kartäuser zu bauen, die man in der Sterbestunde leichter zurücklassen könne als die reichen Klosterbauten. Die Kartäuserzellen zu Mont-Dieu bezeichnet er als bescheidene allseitig geschlossene Hütten aus verflochtenem mit Lehm bestrichenem Astwerk, in denen ein bescheidenes Leben möglich sei.4 Wie so häufig im Kontext des Kartäuserordens tritt ein Paradoxon auf: So wichtig die spezielle Wohnform für das regelkonforme Leben ist, so wenig augenfällige Würdigung findet sie. Da der Kartäusermönch seine Zelle nur selten für den Gang zur Kirche oder den wöchentlichen Spaziergang verlässt, muss das Haus allen Aspekten eines gesamten Lebens Rechnung tragen. Rückblickend muss die spezielle Wohnform als einer der kulturhistorischen Meilensteine der von Bruno initiierten und von Guigo verschriftlichten Lebensweise gewürdigt werden.

Typologische Entwicklung Von hochalpinen Standorten bis hin zu innerstädtischen Lagen lässt sich die Zielsetzung eines Kartäuserklosters auf die Frage reduzieren: Wie kann Architektur zugleich Einsamkeit kreieren und Raum schaffen für ein ganzes Leben? Die Suche nach dem architektonischen Ideal, dem autochtonen Element, beginnt nun im frühen 13. Jh. in den südfranzösischen Alpen und geht über sechs typologische Stufen talwärts bis ins Stadtgebiet von Lyon.5 Die abgebildeten topografischen Modelle illustrieren die Unterschiede in der Lage und

Zugänglichkeit der Ordenshäuser, die maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung der Klosteranlagen hatten (Abb. 1). Gründungs- und Konsolidierungsphase (1084–1115, 1115–1203)6 In der Frühzeit hielt die topografisch ausgesetzte Lage im hochalpinen Gebiet Störungen von außen fern, sodass diese Struktur die notwendige Stille garantierte. Die ersten beiden Entwicklungsstufen, die Gründungs- und Konsolidierungsphase, folgten einem stringenten Grundrissschema, wobei die Struktur des Gesamtklosters sich unmittelbar aus der Topografie des Bauplatzes auf einem Berg­ sporn oder in einem schmalen Hochalpental ergab. In langen, schmalen Umrissformen beschränkt man sich auf die notwendigen Bestand­ teile (Abb. 2a). Die Umgebung mit steilen, langwierigen Aufstiegen in weithin unbewohnter Gegend bot ausreichend Schutz vor Störungen. Die Kartäuser nannten es ihre »Wüste«, bezugnehmend auf den symbolischen Rückzugsort ins Einsame. Die meisten Kartausen entstanden im Rahmen weniger Tagesmärsche im Umfeld von Grenoble sowie südund ostwärts im Raum der Alpen. Erste Adaptionsphase (1200–1340) Kartäuserklöster konnten nur auf die Initiative von Stiftern gegründet werden, nicht aus ordenseigenem Betreiben. Somit mussten die Klöster dort angesiedelt werden, wo das Grundstück lag. Die Stiftungen sollten nicht nur die eigenen Seelen­ qualen im Fegefeuer verkürzen, sondern auch als besondere Frömmigkeit des Stifters nach außen strahlen. Die Annäherung an die Welt, gleichsam die Aufhebung der topografischen Klausur, fand schrittweise statt, wobei die Migration nicht innerhalb des Ordens gründete, sondern durch die Grund­stück­wahl der Stifter bedingt war. Die An­sied­ lungs­orte wandelten sich ab dem 13. Jh. maßgeblich in ihrem Charakter, weil die ortsimmanente Ab­schottung ausblieb und die Kartäuser – trotz gleichbleibenden Bauprogramms – auf die veränderte Lage reagieren mussten. Die Unsicherheit der

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Wanderung ins Tal zeigt sich in den ersten Bauten nach dem Bruch, die vor allem durch Un­gleich­heiten auffallen. In einer ersten Adaptions­phase (ab ca. 1200) wurden Kartausen auf offenen Hangflanken mit Blickkontakt, aber in ausreichender Entfernung zur besiedelten Welt errichtet. Die Strukturen wurden unregelmäßig, da die Kartäuser sich erst in ihrer neuen Situation zurecht­finden mussten. Axiale Verdrehungen, Versprünge im Gefüge und hohe Mauern sind die Folge (Abb. 2b). Im Prinzip offenbart sich in der Divergenz und der Asymmetrie eine ideologische Phasen­verschiebung. Erst etwa ein Jahrhundert nach der Verlagerung der Bauplätze entwickelte sich wieder eine repetitionswürdige architektonische Ausformung. Erste Repräsentationsphase (1340–1408) Im 14. Jh. erlebte der Orden eine Blütezeit, oder man sollte fast eher sagen, dass sie ihm widerfuhr. Er wurde in der Gesellschaft durch die (kirchen)politischen und sozio-ökonomischen Para­ digmen­wechsel stärker wahrgenommen. Mit der Vielzahl von Neugründungen gingen jedoch auch Repräsentationsansprüche der Stifter einher. Als die Bauplätze sich mehr und mehr den besiedelten Tälern näherten, mussten neue Wege zur architektonischen Umsetzung der Einsamkeit gefunden werden. Zeitgleich erfolgte die Anlagerung der landwirtschaftlichen Kloster­betriebe, die bislang in einigem Abstand zum Mönchs­kloster lagen. Die zudienenden Bereiche legten sich mit allen Freiflächen, Höfen, Obstgärten und Bauten als schützende Hülle um das Kloster und hielten die Außenwelt auf Distanz. Auch der Flächen­bedarf der zönobitischen Klosterbereiche nahm massiv zu und schützte die Zellenmönche gegen Angriffe, Störungen und die wirtschaftliche Betriebsamkeit des Umfelds. Die großen Kreuzgänge vervielfachten ihre Fläche. Erstmals finden sich entwerferische Lösungen für die Gesamt­anlagen. Zweite Adaptionsphase (1450–1498) Nun entwickelten sich fortifikatorische Elemente, wie zinnenbewehrte Mauern oder flankierende

Tor­türme. Die Wanderungsbewegung der Bau­ plätze hatte die Kartäuser ins flache Land geführt, in große Flusstäler oder ebenes Freiland in der Nähe von Städten. Der Orden und seine Lebens­weise veränderte sich nicht, sodass es galt, Behausungen zu schaffen, die mit dem neuen Ort und Umfeld interagierten und dennoch im Kern mit den Mönchs­ wohnungen die hochalpine »Wüste« ausbildeten (Abb. 2c). Bis heute postulieren die Kartäuser: numquam deformata – numquam reformata.7 Auf den ersten Blick scheint das in Anbetracht der massiven Veränderungen der Gesamt­anlagen nicht zuzutreffen, doch das kartusianische Herzstück, das Zellenhaus mit den drei Haupt­räumen Studium, Cubiculum (Schlafraum) und Werkstatt sowie einem ummauerten Garten, blieb bis ins 18. Jh. vollkommen unverändert. Zweite Repräsentationsphase (1585–1633) Schließlich kamen Bauten in nachmittelalterlicher Formensprache hinzu. Maßgeblich wurden nun Bau­ plätze in Städten, wie z. B. in Lyon, wo die Kartause hoch über der Bischofskirche thront – ein Bau­platz mit einer doppelten Hypothek: Erstens musste seiner exponierten Lage architektonisch entsprochen werden, zugleich durfte aber das Lebens­ideal der Kartäuser nicht zu Gunsten der weltlichen Einflüsse verraten werden (Abb. 2d).

Zellenhäuser als autochthones Element jeder Kartause Die Migration der Ordenshäuser quer durch ganz Europa hatte so gut wie keinen Einfluss auf die Bau­ form, obschon vereinzelt regionale Haus­ typen in Ansätzen aufgenommen werden, Bau­ materialien an die regionalen Gegeben­heiten anzupassen waren und die lokalen Stifter zumindest in den Jahrhunderten des ausgehenden Mittel­alters durchaus stilistisches Mitspracherecht einforderten. Die Bauweise des Ordens blieb stets ausschließlich der Schaffung von Ruhe und Abgeschiedenheit der Mönche verpflichtet und ruhte in ihren eigenen,

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2 Typische Grundrisse. a Konsolidierungsphase in langgezogener, schmaler Form. Chartreuse de La Verne, gegründet 1170. b Erste Adaptionsphase mit Achsverschneidungen und Versprüngen in der Situierung der Zellen. Chartreuse de Pomiers, gegründet 1170. c Erste Repräsentationsphase mit Flächenzunahme als Reaktion auf die näher kommenden Störungen durch die Umwelt. Certosa di Pontignano, gegründet 1343. d Zweite Repräsentationsphase mit architektonischem Gesamtentwurf und nachmittel­alterlicher Gestaltung der Kirche. Certosa di Padova, gegründet 1449.

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3  Zellenhaus der Chartreuse de Portes aus regional anstehendem Stein (Gründungsdatum 1170).

4  Ehemaliges Zellenhaus der Kartause Köln aus Backsteinmauerwerk.

kartusianischen Grundsätzen. Nachzuweisen ist die Zweitrangigkeit der wenigen Ortsanpassungen am besten anhand der Zellen­häuser, deren einziger Zweck die regelkonforme Behausung der Mönche ist. Der empirischen Recherche zu den Gesamtanlagen und der – erfolglosen – Suche nach archivalisch überlieferten Bauvorschriften folgte zunächst die Frage nach den autochtonen Elementen der Kartäuserzelle, um ihr architektonisches Ideal zu erschließen und ihre Entwicklung nachzuzeichnen.8 Zugleich wurden lokale Einflüsse aus den ortstypischen Bauweisen betrachtet, wobei es sich hier meist nur um das Bau­material handelte. In den Alpenregionen finden sich Bruchsteinhäuser aus dem anstehenden Stein, in den Städten Nürnberg und Köln sowie in Norddeutschland Backsteinbauten (Abb. 3. 4). In ihrer Anmutung scheinen die Häuser zwar einen gewissen Regionalbezug aufzuweisen, aber die Reihen­untersuchung ergab keine auffälligen Häufungen der entwerferischen Strukturen, die auf einen örtlich begrenzten Haustyp schließen lassen. Insgesamt unterscheiden sich die kleinen Häuser weit mehr als die regelhaften Gesamt­anlagen. In den allermeisten Fällen der überkommenen Zellenhäuser lässt sich zu Kubatur, Dachform und architektonischen Details ohnehin wenig über deren Ursprungszustand aussagen, da sich aufgrund von Zerstörungen durch Brände oder feindliche Übergriffe in der Regel nicht viel Original­ substanz erhalten hat und archivalisch meistens gleich mehrfach Wiederaufbauphasen nachgewiesen sind. Hinzu kommt, dass viele Kartäuser­ zellen erst nach und nach in Stein gebaut wurden und zumindest in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung des Ordenshauses noch gar nicht ihre spätere Gestalt angenommen hatten. Als Kubaturen treten Solitärhäuser auf quadratischer oder längsrechteckiger Grundfläche auf, Reihenhäuser mit gemeinsamem Dach und vereinzelt Doppelhäuser. Die übliche Dachform dürften einfache Satteldächer gewesen sein, die in einigen Fällen im 19. Jh. durch Walmdächer oder Zeltdächer ersetzt wurden. Die Zugänglichkeit vom Kreuzgang aus variiert: Teils werden Häuser direkt betreten,

Einsamkeit

teils über einen zusätzlichen Laubengang oder Flur. Die innere Erschließung erfolgt häufig schneckenförmig, mit dem Ziel, den Hauptaufenthaltsraum als abgeschirmtesten Platz im Haus zu gestalten. Die Zonierung der Räume differiert ebenso wie deren Aufteilung auf die Geschosse des Hauses. Für die Frühzeit der Kartausen an hochalpinen Standorten sind eher eingeschossige Häuser anzunehmen, die wohl auch noch nicht die komplexe Binnen­gliederung der späteren Häuser aufwiesen. Es dauerte allerdings vermutlich nicht lange, bis sich das mindestens dreiräumige Individual­wohnhaus entwickelte und erste Häuser aus Stein gebaut wurden. Die Hausgröße der frühen Kartausen wurde logischerweise von lokal vorhandenen Bau­ materialien und der maximal sinnvollen Raum­ größe für die vorhandenen Mittel der Belichtung und Heizung definiert. Auch die Topografie des Standorts ist eine augenfällige Maßgabe. Interessant im Sinne der architektonischen Gestaltung wurden die Haus- und Raumgrößen daher erst ab dem Moment, an dem es andere Optionen gegeben hätte, weil eine materielle bzw. existenzielle Beschränkung fehlte. Trotz variierender Grundfläche ist das Flächenangebot innerhalb des Hauses relativ konstant. Die Raumgrößen der meisten Zellen sind ähnlich. Zu beobachten ist ein Einpendeln auf mittlere Hausgrößen und zweigeschossige Nutzung. Bei den Bauplätzen in weitgehend ebenem Gelände, die sich aber noch weit genug außerhalb von Siedlungen befanden, um nicht neuen Zwängen zu unterliegen, hätte ausreichend Platz für größere oder flachere Häuser zur Verfügung gestanden, insbesondere wenn man die massive Vergrößerung des Platzbedarfs der Gesamtanlagen im Blick behält. Aber auch hier änderte sich an den räumlichen Verhältnissen innerhalb der Zelle und dem Zellengarten nichts. Da schriftliche Zeugnisse hierzu ja nicht existieren, kann das als Beweis dafür dienen, dass die Zellenhäuser »normiert« waren. Die meisten Hausgrößen haben Wohnflächen von 70 m² bis 90 m². Korrelationen mit der Zeit­ stellung der Gründung des Ordenshauses oder

regionalen Bautypen bestehen nicht. Auch als ab dem späten 14. Jh. namhafte Baumeister für die Errichtung von Kartausen verantwortlich zeichneten, kam es zu keiner Neuordnung der Zelle an sich. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Kartause Pavia. Die Parzellengröße unterliegt zunächst stark der Topografie, geht aber auch bei topografisch günstigen Gegebenheiten nicht über 240  m² hinaus. Größere Parzellen ziehen nicht automatisch größere Hausgrundflächen nach sich. Sowohl Häuser wie Parzellen variieren nicht selten innerhalb eines Klosters. Die Wohnfläche von ca. 90 m² für eine Einzelperson ist nur im Licht des Mittelalters bemerkenswert, da die Hausgröße weit über das lebensnotwendige Maß für eine Person hinausgeht. Einräumige Eremitenhütten in spartanischen Abmessungen gab es höchstens in den ersten Jahrzehnten. Die Individualwohnung als Wohnkonzept existierte in diesem Sinne noch nicht, Häuser egal welcher Schicht waren für Familienverbände mit zweckgebundenen Räumen errichtet. Die Verquickung der eremitischen Klause mit zweckgebundener Zonierung zu einem Haustyp mit regelhaft reproduzierbarem Grundriss, bestimmt für eine Person, ist eine architekturgeschichtlich bedeutsame Innovation der Kartäuser.

Zusammenfassung Aus der Betrachtung der überkommenen Zellen­ häuser ergibt sich als Fazit, dass die Anforderungen, die aus der kartusianischen Lebensweise heraus erwachsen, sich auf vielfältige Art und Weise erfüllen lassen. Auch weil jede Kartause eine individuelle Lösung darstellt, lässt sich keine typologische Entwicklungs­linie in den fünf Jahrhunderten zwischen der Ordens­gründung und der Zeiten­ wende zur Moderne nachzeichnen. Die Häuser sind sich im Grundsatz alle ähnlich, lediglich ihre Detaillierung unterliegt den Vorgaben des Bauplatzes. Jedes untersuchte Haus erfüllt auf seine Weise die Maßgabe der »solitudine«, der

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Eremiten­wohnung, die durch den Kreuzgang mit der Klostergemeinschaft in Verbindung steht. Der Wohnraum muss gegen das Umfeld abgeschlossen sein, um Ablenkung und externe Störung zu vermeiden. Gleichzeitig gehört Verbundenheit mit der Natur, die sowohl als Erholungsraum als auch der Strukturierung des Tagesablaufs diente, zum Zellenleben dazu. In siedlungsfernen Lagen ergeben sich nicht selten weite Ausblicke, in den Stadt­ kartausen musste der ummauerte Garten reichen.

Ideale Lebensräume zu schaffen ist das Haupt­ anliegen aller Baumeister und Architekten, wobei sich die Ideale sehr unterscheiden. Für den Stifter ist das Ideal die Sichtbarmachung seiner Frömmigkeit, für den Mönch ist die Nicht­wahrnehmung des Umfelds – Mensch und Bau – erstrebenswert. Einsamkeit zu bauen ist eine besondere architektonische Herausforderung. Sie über alle Zeiten und allen Wandel hinweg zu retten, eine kulturhistorische Meisterleistung.

Kastell 1952, Eintrag 292, 85. Zadnikar 1983, 54. Devaux 1998, 14. Zadnikar 1983, 58; 79. Um die kartusianische Bauordnung typologisch zu ordnen, musste zunächst ein Katalog des erhaltenen Bestands und der Bauplätze angelegt werden. 140 Kar­ tau­sen im gesamten Alpenraum und ausgewählte Re­fe­ renz­objekte dürften die kritische Masse ausreichend überschritten haben, um fundierte Rückschlüsse auf die Grund­riss­dis­po­si­tion zuzulassen. Die Auswertung erfolgte zum Teil über eine Kategorisierung und Ver­schlag­ wortung der Gebäude­elemente und deren statistisches Auftreten innerhalb der Reihen­untersuchung.

6 Die angegebenen Jahreszahlen sind die Gründungsdaten der jeweils ersten und letzten Kartause, die die typischen baulichen Merkmale der typologischen Stufe aufweisen und sind als zeitliche Einordnung in den Gesamtablauf der typologischen Entwicklung zu verstehen nicht als jahresscharfe Abgrenzung einer Ära. 7 »nie verformt – nie reformiert«. 8 Für die detaillierte Untersuchung der Gesamtanlagen und Zellenhäuser sei auf die Dissertation der Autorin (Nagel 2013) verwiesen. Alle im vorliegenden Artikel angeführten Ergebnisse sind Teil der Dissertation und werden nicht einzeln als Zitat gekennzeichnet. Ausschließlich Inhalte, die anderen Quellen entnommen wurden, werden durch Zitate kenntlich gemacht.

Beer 1963 M. Beer: Dionysius´ des Kartäusers Lehre vom desiderium naturale des Menschen nach der Gottesschau (München 1963).

Kastell 1952 G. v. Kastell: Tagebuch eines Mönchs. Des Kartäuserpriors Gigo Meditationen. Aus dem Lateinischen übertragen und eingeführt von Paul Alfred Schlüter (Paderborn 1952).

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Devaux 1998 A. D. Devaux: L´Architecture dans l´ordre des Chartreux, Bd. 1 u. 2 (Sélignac 1998). Greshake 1992 G. Greshake: Bruno – Guigo – Antelm, Epistulae Catusianae. Frühe Kartäuserbriefe, Fontes Christiani, Bd. 10 (Freiburg et al. 1992). Hogg 2006 J. Hogg: Kartäusische Kunst und Architektur mit besonderer Berücksichtigung der Kartausen Zentraleuropas, Analecta Cartusiana 207 (Salzburg 2006). Hogg 1993 J. Hogg: Die Kartäuser und ihre Welt. Kontakte und gegenseitige Einflüsse, Bd. 1 u. 2, Analecta Cartusiana 62 (Salzburg 1993). Jaricot 2014 I. D. Jaricot: Essai sur l´histoire de nos coutumes chartreuses, Analecta Cartusiana 308 (Salzburg 2014).

Nagel 2013 E. Nagel: Die Klausur der Kartäuser. Typologie und Grundriss­ organisation der großen Kreuzgänge im Spannungs­verhältnis zwischen Ordensidealen und örtlicher Lage. Analecta Cartusiana 297 (Salzburg 2013). Nagel et al. 2011 E. Nagel / T. Riegler / A. Girard: La Chartreuse de Valbonne, Analecta Cartusiana 270 (Salzburg 2011). Zadnikar 1983 M. Zadnikar: Die Kartäuser. Der Orden der schweigenden Mönche (Köln 1983).

Abbildungsnachweis 1 2 3 4

Modelle von E. Nagel, Fotos: Isabel Mühlhaus, TUM, 2012. Alle Grundrisszeichnungen von der Autorin. Foto: T. Riegler 2008. Foto: E. Nagel 2009.

»Dass der Herr uns gebe einen Nagel an seiner heiligen Stätte«1 Die Anfänge der Siedlung der württembergischen Tempelgesellschaft bei Haifa

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Aus religiöser Motivation kamen die Mitglieder der aus Württemberg stammenden Tempel­ gesellschaft 1868 ins osmanische Palästina und gründeten dort bis 1906 sechs Siedlungen, die als sog. Deutsche Kolonien bekannt sind: Haifa, Jaffa, Sarona, Rephaim/Jerusalem, Wilhelma und Betlehem. 2 Die Tempel­mitglieder waren in Palästina wirtschaftlich insgesamt erfolgreich und sollen in einiger Hinsicht als Vorbild für die jüdische Einwanderung gedient haben.3 Sie blieben allerdings eine relativ kleine Gruppe: 1939 gehörten der Tempelgesellschaft im britischen Mandats­ gebiet Palästina ca. 1.300 Personen an,4 die während des oder nach dem Zweiten Weltkrieg von der Mandats­macht mitsamt Palästinadeutschen anderer Konfessionen als Angehörige eines feindlichen Staates ausgewiesen wurden. Eine Rückkehr­möglichkeit gab es für sie nicht. In den Ankunfts­ländern Deutschland und Australien hat die Tempel­gesellschaft auch noch heute aktive Mitglieder. Die Baugeschichte der Tempelsiedlungen in Palästina war bislang kein Gegenstand einer umfassenden Untersuchung.5 Der vorliegende Aufsatz widmet sich den ersten Jahren der Bau­ tätigkeit der deutschen Auswanderer in ihrer ersten Siedlung in Palästina, die 1869 bei Haifa gegründet wurde und sich schließlich zu der größten Tempel­siedlung im Heiligen Land entwickelte.6 Im Vordergrund steht die Frage nach Faktoren, die das Baugeschehen beeinflussten, und dem Verhältnis zwischen mitgebrachten und vor Ort angeeigneten Bauformen. Näher betrachtet werden dabei die Siedlungs­anlage, die Bautechnik

und -materialien sowie die Grundrissformen der frühen Gemeinde- und Wohnbauten.7

»(...) erklären wir Unterzeichnete unsere Lossagung von Babylon (...)«8 Gründung und Ziele der Tempelgesellschaft Im 17. bis 19. Jh. entstanden in Württemberg mehrere pietistische Gruppen9, in deren Glauben die »Sehnsucht nach Jerusalem« eine große Rolle spielte, die es allerdings nie schafften, nach Palästina zu gelangen. Anders war es mit der von dem Theologen Christoph Hoffmann10 initiierten Tempelgesellschaft.11 Hoffmann kritisierte den Zustand der christlichen Institutionen und glaubte, »(...) daß die Heilung der Völkerkrankheit im Bau des Tempels, d. h. in der Bildung einer unabhängig von den bestehenden Kirchen auf rein christlicher Grundlage organisirten Gesellschaft, ähnlich der ersten Christengemeinde, also auf der Sammlung des Volkes Gottes beruhe.«12 In diesem Geiste formierte sich 1854 die Gesellschaft für Sammlung des Volkes Gottes in Jerusalem.13 Die sog. Jerusalemsfreunde, hauptsächlich Handwerker, Bauern und Kaufleute14, strebten nach einer »Aufrichtung des Reiches Jesu Christi auf Erden«15 und gingen davon aus, dass Jerusalem für sie der Ort sei, »von wo diese rein biblische Lebensordnung ihren Ausgang nehmen müsse (…).«16 Im Heiligen Land wollten sie durch fromme Lebensführung in Lebens- und Glaubensgemeinschaften als Vorbild dienen und dadurch das Christentum verbreiten, weswegen sie ihre geplanten Siedlungen

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auch als Missionskolonien bezeichneten.17 Durch die Kolonisation Palästinas wollten sie außerdem zur Hebung des Landes aus seinem angeblich »herabgekommene[n] Zustand« beitragen.18 Im Jahr 1861 erklärten sich die Jerusalemsfreunde schließlich zu einer eigenständigen religiösen Organisation namens Deutscher Tempel, deren Leitung Christoph Hoffmann übernahm.19

Vorbereitung der Ansiedlung Die Vorsteher der Tempelgesellschaft, Hoffmann und der Kaufmann Georg David Hardegg20, hatten einige Gründe, um äußerst vorsichtig an die Ansiedlung heranzugehen. Ihre Versuche, Unter­ stützung für das Kolonisations­projekt zu gewinnen, etwa bei der Bundes­versammlung in Frankfurt, missglückten.21 Außerdem waren die Erfahrungen des Zusammen­lebens in einer Probe­gemeinde, die 1865 auf dem Gut Kirschen­hardt­hof gegründet wurde, eher ernüchternd.22 1858 unternahmen Hoffmann, Hardegg und ein Winzer aus dem Tempelkreis eine Erkundungs­ reise ins Heilige Land, um die Möglichkeit einer Kolonisierung zu prüfen. Nach einigen Wochen Aufenthalt im Land kamen sie zum Schluss, dass die Ausführung ihres Plans aufgrund von ungünstigen Bedingungen vor Ort größere Schwierig­ keiten bereiten würde als ursprünglich gedacht. Den Ansiedlungs­gedanken verwarfen sie jedoch nicht.23 Da die Finanzen nicht mehr erlaubten, wurden 1860 vier junge Männer nach Palästina vorgeschickt, konnten dort aber keinen Fuß fassen. 24 Auch ein eigenwilliger, undurchdachter Versuch einer Ansiedlung durch einzelne Templer in der Jesreel-Ebene 1867 scheiterte und kostete mehrere Menschen das Leben. 25 Nicht von Erfolg gekrönt blieb außerdem der Siedlungs­versuch einer 156-köpfigen amerikanischen Religions­ gemein­schaft in der Nähe von Jaffa 1866, wovon die Tempel­gesellschaft erfuhr.26 Zehn Jahre nach der Erkundungsreise, im Jahr 1868, wurde schließlich eine Kolonisationskasse

eingerichtet, die Beiträge von Mitgliedern in Deutschland, Russland und den USA als Darlehen entgegennahm und die nun zu beginnende Ansiedlung finanzieren sollte.27 Es wurde allerdings beschlossen, dass »vor Ankunft der Vorsteher in Palästina von der Tempelgesellschaft dort kein Land sollte eingekauft werden, weil Landkauf, wenn auch selbstverständlich und notwendig, doch nur ein untergeordneter Zweck des Tempels sein könne.«28 Zwar gehörte es zu den Zielen der Tempelgesellschaft, den Tempel in Jerusalem zu bauen, es handelte sich jedoch um einen Tempel ausschließlich im geistigen Sinne.29 Von einer physischen Bautätigkeit, der Anlage von Siedlungen und Errichtung von Häusern in Palästina, scheint die Organisation keine Vision entwickelt zu haben. Eine Auseinandersetzung damit fehlt jedenfalls in der Süddeutschen Warte,30 die sonst so oft über das Vorhaben in Palästina publizierte. Im selben Jahr brachen Hardegg und Hoffmann mit Familien als Vorhut der Kolonisation ins Heilige Land auf. Ihre Reise ging über Konstantinopel, wo sie um eine Zustimmung des Sultans für das Siedlungsprojekt – wie sich später herausstellte, vergeblich – baten.31

»Bis hierher hat der Herr geholfen«32 Gründung und erste Jahre der Siedlung Haifa In Palästina angekommen, begannen Hoffmann und Hardegg, nach geeignetem Bauland zu suchen. Es wurde entschieden, vorerst keine Siedlung, sondern einen kleinen »Tempelposten« in der Nähe der ca. 4.000 Einwohner33 zählenden Küstenstadt Haifa zu gründen.34 Das ausgewählte Grundstück, in der Süddeutschen Warte als »verwahrlost und steinig, allein baufähig«35 beschrieben, hatte eine Fläche von ca. 20 Morgen36 und lag in einiger Entfernung westlich der Stadt, auf einer leichten Anhöhe zwischen dem Mittelmeer und dem Berg Karmel. Der Land­kauf wurde von der Organisation im Februar 1869 genehmigt.37 Da deutsche Bürger im Osmanischen Reich zu diesem Zeitpunkt noch

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keinen Grund und Boden besitzen durften, umging die Tempel­gesellschaft das Gesetz: Das Land wurde vorerst auf den Namen eines arabischen Einwohners Haifas eingetragen.38 Nun standen die wenigen sich bereits im Land aufhaltenden Tempel­mitglieder vor der Herausforderung, auf dem erworbenen Boden eine kleine landwirtschaftliche Niederlassung39 zu errichten: ohne eigene Handwerker und vertrautes Baumaterial, dafür aber möglichst klimagerecht und kostengünstig. Die Süddeutsche Warte schrieb abwertend über »[d]ie engen unregelmäßigen Straßen, die abscheuliche Unreinigkeit, welche in Haifa wie in den übrigen türkischen Ortschaften getroffen wird (…).«40 Die neue Tempelsiedlung wurde in Kontrast dazu geregelt konzipiert. Hardegg entwickelte, wahrscheinlich mit Beteiligung von drei Tempel­ältesten,41 einen Plan für ein Straßen­ dorf – ein bis dahin in Palästina unbekanntes Siedlungs­muster42 – mit zunächst 10 Parzellen.

Die annähernd in Nord-Süd-Richtung verlaufende Hauptstraße mit jeweils fünf Grundstücken auf beiden Seiten sollte 100 Fuß breit sein und durch zwei Baumreihen beschattet werden.43 Der Plan wurde anschließend vom Ausschuss des Tempels bewilligt.44 Schließlich wurde das vorhandene Land anscheinend in 12 Parzellen aufgeteilt.45 Wie die Umzeichnung einer frühen Siedlungskarte erkennen lässt (Abb. 1), wuchs das Dorf schnell und wurde sehr bald um neue Straßen erweitert. Aufgrund der beschränkten Verfügbarkeit des Bodens waren die Parzellen nicht ganz regelmäßig angelegt. Abgesehen von zwei für die deutsche und amerikanische Tempelgemeinde reservierten Bauplätzen wurden die einzelnen Grundstücke an auswanderungswillige Mitglieder der Tempel­gesellschaft allein nach Kriterien der Nützlichkeit für das Siedlungsvorhaben vergeben: Nur Menschen, die einen vor Ort gebrauchten Beruf ausübten und

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1  Die Siedlung im Jahr 1871 oder Anfang 1872. Die Karte ist nicht sehr genau – das Größenverhältnis zwischen den Gebäuden und den Grundstücken stimmt nicht und am Karmelabhang sind Bauten teilweise an falschen Stellen eingezeichnet –, ermöglicht es aber, eine gute Vorstellung von der jungen Siedlung zu bekommen.

Land im Besitz der Templer

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eine Zustimmung des Tempelausschusses erhielten, durften sich ansiedeln. Die einzelnen Familien oder Personen waren für den Bau der Eigenheime zuständig.46 In den ersten Jahren des Bestehens entwickelte sich im Tempeldorf eine rege Bautätigkeit. Da nicht genügend Arbeitskräfte aus dem eigenen Kreis vor Ort waren, bewilligte der Tempelausschuss den Vorschlag Hardeggs, die ersten Häuser ausschließlich von arabischen Maurern errichten zu lassen.47 1869 und 1870 arbeiteten auf den Baustellen der deutschen Siedlung jeden Tag 60 bis 100 arabische Arbeiter, die nicht nur aus der Nähe von Haifa, sondern auch aus Nazareth oder Jerusalem kamen.48 Es ist davon auszugehen, dass auch später arabische Arbeiter beschäftigt wurden, obwohl die Anzahl der deutschen Fachkräfte stieg. Um 1872 wohnten in der Siedlung bereits mehrere Handwerker, die der Tempelgesellschaft angehörten: zwei Maurer bzw. Steinhauer, ein Pflasterer bzw. Steinlieferant, ein Möbel- bzw. Bauschreiner, ein Schreiner, ein Architekt bzw. Feldmesser und ein Schmied.49 1876 waren es ein Architekt, zwei Steinbrecher, ein Steinhauer, zwei Maurermeister, fünf Schreiner und zwei Schmiede.50 Die Templer arbeiteten bald nicht nur in der eigenen Siedlung, sondern wirkten bei verschiedenen Bauvorhaben auch inner- und außerhalb Haifas mit.51 Sieben Jahre nach ihrer Gründung bestand die Siedlung schon aus 52 ein- oder zweigeschossigen, zumindest teilweise unterkellerten und jeweils mit einer Zisterne ausgestatteten Wohnhäusern, die von insgesamt 330 Menschen bewohnt waren. Auch Brunnen und Nebengebäude wie Ställe und Scheunen waren in großer Anzahl vorhanden.52 Das Dorf wurde in drei sog. Bezirke aufgeteilt: In dem oberen lebten vor allem Winzer, die auf dem Abhang des Karmel ihre Pflanzungen vornahmen, in dem mittleren Handwerker und Bauern, und in dem unteren siedelten sich »industrielle Unternehmungen« wie eine Seifenfabrik oder Metzgerei an (Abb. 2).53 Doch die Entwicklung der Siedlung verlief nicht ohne Schwierigkeiten. Bereits 1869

kam es zu einem Bruch zwischen Hoffmann und Hardegg wegen theologischer und persönlicher Differenzen, der Hoffmann zu einem Rückzug in die zweite, im selben Jahr initiierte54 Siedlung der Tempel­gesellschaft bei Jaffa veranlasste. Hardegg wurde so zum Vorsteher der Tempelgemeinde Haifa. Es kam zu einer Isolierung der Siedlung in Haifa durch den Rest der Organisation und sogar zur Verweigerung zusätzlicher Gelder für die Entwicklung der Siedlung im Sommer 1870, woraufhin Hardegg die Haifaer Kolonisten besteuern ließ.55 Auch der deutsch-französische Krieg 1870–1871 beeinflusste die Bau­tätigkeit in Palästina dahingehend, dass zweigeschossig geplante Häuser aus Geldmangel nur eingeschossig ausgeführt wurden.56 Hinzu kam die große Verschuldung der Gemeinde Haifa, die erst nach dem Austritt Hardeggs aus der Tempel­ gesellschaft 1874 publik wurde.57 Mit Hardegg verließen einzelne Mitglieder die Organisation, doch erst 1878 traten seine Anhänger geschlossen aus der Tempel­gesellschaft aus – in Haifa war es etwa ein Drittel der Siedlungs­einwohnerschaft.58 Die vorliegende Betrachtung beschäftigt sich nun mit dem Zeitraum der ersten acht Jahre nach der Gründung bis zum Bruch der Gemeinschaft 1869– 1877.

Baumaterialien und Bautechnik Informationen zu Bauaktivitäten und Bauweisen in dieser ersten Phase der Siedlungsgeschichte sind soweit allein zeitgenössischen Berichten zu entnehmen, vor allem solchen, die in der Süddeutschen Warte erschienen.59 Für die Errichtung von ersten Bauten in der Tempelkolonie Haifa wurden vorwiegend lokal erhältliche Baumaterialien verwendet, die kostengünstiger und unkomplizierter in der Beschaffung waren als importierte Ware. Da der Baugrund in der Siedlung eher felsig war, mussten Gebäudekeller und Brunnen oft direkt in Kalk- oder Sandstein gehauen werden.60 Die so gewonnenen Steine wurden in den Hauswänden

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2  Die Siedlung im Jahr 1876.

oder Gartenmauern vermauert. Mehr Baumaterial wurde in nahe gelegenen Steinbrüchen am Fuß des Bergs Karmel abgebaut.61 Die traditionelle Architektur in Palästina kam weitgehend ohne Holz aus, da dieses in vielen Gegenden nicht vorhanden war.62 Bauholz war deswegen teuer,63 so dass die Tempelmitglieder ihre Gebäude zunächst ortsüblich mit Flachdächern deckten. Dies erwies sich als eine unbefriedigende Lösung, denn oft drang das Regenwasser in die Häuser hinein.64 Die Süddeutsche Warte berichtete, dass ein Templer aus Jaffa 1870 eine Reise nach Tartus im heutigen Syrien unternahm, um dort günstigeres Holz zu erwerben. Er beförderte nach Haifa eine bestimmte Menge dieses Materials, »welches (…) zu hölzernen Häusern, wie man sie in Württemberg hat, verwendet werden soll[te].«65 Das Zitat zeugt vom Wunsch, die aus

der Heimat bekannten Formen und Bautechniken beim Hausbau in Haifa zu verwenden. Ob es sich dabei um reine Fachwerkbauten oder um Häuser mit einem hohen Anteil an Holzkonstruktion handelte, bleibt unklar. Bislang fanden sich allerdings keine schriftlichen oder baulichen Hinweise darauf, dass umfangreiche Holzkonstruktionen ausgeführt wurden.66 Als die finanzielle Situation der einzelnen Familien sich allmählich besserte, fingen die Siedler an, die Flachdächer gegen ziegelgedeckte Sattel- und seltener Walmdächer auszutauschen. Neubauten wurden direkt mit ziegelgedeckten Dächern errichtet. Bauholz konnte spätestens 1873 über den Holzhandel von Breisch in Jaffa67 und allem Anschein nach spätestens 1876 aus einem Holzhandel in der eigenen Siedlung bezogen werden.68 Werden in einem Brief in der

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Süddeutschen Warte von Anfang 1877 mindestens sieben ziegelgedeckte von insgesamt 56 Wohnhäusern erwähnt,69 so zeigt die perspektivische Darstellung von Jakob Schumacher aus demselben Jahr (Abb. 3) bereits eine deutlich größere Anzahl von Gebäuden mit ziegelgedeckten Dächern.

»Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen«70 Die frühen Wohn- und Gemeindebauten Das erste Gebäude, das die Tempelgesellschaft in Palästina errichten ließ, war ein Gemeindehaus. Es wurde als ein multifunktionaler Bau geplant, in dem im Erdgeschoss Gemeindeversammlungen und Schulunterricht stattfinden und im Obergeschoss neu in der Siedlung ankommende Familien vorläufig untergebracht werden konnten.71 Zur Zeit der Grundsteinlegung im September 1869 wurde das Gebäude von der Tempelleitung bereits als »Musterbau« bezeichnet.72 Da die einzelnen

Familien freie Hand bei der Gestaltung ihrer Häuser hatten, war der Musterbau höchstwahrscheinlich nicht als ein Typenbau gemeint, sondern sollte den Siedlern lediglich als eine Demonstration des Möglichen dienen und Entscheidungen beim Bau privater Wohnbauten erleichtern. Die Leitung der Organisation erkannte jedoch schnell selbst, dass das Gemeindehaus als Musterbauwerk nicht geeignet war, weil es »keinen Maßstab für das gewöhnliche Bedürfnis« darstellte,73 also schlichtweg zu groß für den Bedarf und die finanziellen Möglichkeiten einer durchschnittlichen Familie war. »Ein gewöhnliches Haus von 3 Gelassen« wurde stattdessen als ein für Mitglieder erschwingliches empfohlen.74 In der ersten Hälfte des Jahres 1869 gab es unter den wenigen bereits in Haifa lebenden Templern noch niemanden, der das Gemeindehaus hätte entwerfen können. Die Zeichnungen wurden unentgeltlich von Peter Julius Loytved erstellt, einem dänischen Baumeister in Beirut.75 Hardegg hatte ihn möglicherweise ein Jahr zuvor während seines Aufenthaltes in Beirut auf dem Weg von

3  Perspektivische Darstellung der Tempelsiedlung Haifa vom Jahr 1877, Blick von Südwesten. Ausschnitt aus Schumacher 1877.

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Das Zentralhallenhaus Das Zentralhallenhaus wird durch eine meist mittig im Hauptgeschoss liegende (Wohn-)Halle definiert. Diese wird in der Hauptfassade in der Regel durch drei aneinandergereihte, mit Bögen abschließende Öffnungen markiert, von denen die mittlere als Türöffnung zum anschließenden Balkon dienen kann. In neuerer Literatur zu diesem Bautyp80 taucht neben dem Begriff Zentralhallenhaus auch der englische Name threearched house bzw. die französische Bezeichnung maison aux trois arcs auf, die den Fokus auf das Vorkommen der drei mit Bögen abschließenden Wandöffnungen setzen. Das Zentralhallenhaus war in der Levante weit verbreitet, in Palästina kommt es vermehrt ab Mitte des 19. Jhs. vor,

4  Undatierte Fotografie des Gemeindehauses, Blick auf die Nord- und Westfassade.

5  Das Gemeindehaus, das erste Gebäude der Tempelgesellschaft in Palästina, ist ein Zentralhallenhaus. Grundriss des Erd- und Obergeschosses nach einem Bauaufmaß vom Jahr 1989.

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Konstantinopel nach Palästina kennengelernt.76 Loytved entwarf ein zweigeschossiges, mit einem Flachdach gedecktes Gebäude, das das typische Fassadenbild eines Zentralhallenhauses hat. Die zwei im Obergeschoss des Gemeindehauses platzierten Balkone vor den jeweils drei mit Bögen abschließenden Öffnungen suggerieren, dass im Obergeschoss sogar zwei Mittelhallen zu finden sind77 (Abb. 4). Ein Blick auf die Grundrisse führt jedoch zu dem Schluss, dass es sich um eine Halle pro Geschoss handelt (Abb. 5). Diese verläuft in beiden Stockwerken annähernd in NordSüd-Richtung und wird im Erdgeschoss an ihrem nördlichen Ende direkt vom Außenraum betreten; der Zugang zum Gebäude erfolgt also nicht von der ebenfalls in etwa Nord-Süd ausgerichteten Hauptstraße, sondern über einen Vorplatz im Hof. Es hat daher den Anschein, als ob der Balkon im Westen des Gebäudes dazu dienen soll, die sonst eher einfache Straßenfassade repräsentativer wirken zu lassen. Außer den Plänen des Gemeindehauses konnten bisher Bauaufmaße von weiteren 13 von insgesamt etwa 5678 Hauptgebäuden, die zwischen 1869 und 1877 entstanden, ausgewertet werden.79 Die Grundrisse konnten vier Hauptformen zugeordnet werden:

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6  Ein weiteres Zentralhallenhaus ist das Haus Kraiss. Grundriss des EG nach einem Bauaufmaß vom Jahr 2000.

was mit dem beginnenden Wachstum der Städte zusammenhängt. Zentral­hallen­häuser wurden vor allem von wohlhabenden Familien errichtet, die den dicht bebauten Stadtkernen villenähnliche, freistehende Häuser in Vorstädten vorzogen.81 In Haifa wird das früheste bekannte Gebäude dieser Art von Ron Fuchs auf bereits Ende der 1820er Jahre datiert.82 Sechs von 14 untersuchten frühen Bauten aus der Tempelsiedlung Haifa sind als Zentralhallen­ häuser zu bezeichnen. Neben dem bereits beschriebenen Gemeindehaus ist ein weiteres Gebäude, das 1872 erbaute83 Haus Kraiss (Abb. 6), erwähnenswert. Die Mittel­ halle im erhöhten Erdgeschoss kann an ihren beiden Enden betreten werden und ist an der Fassade deutlich ablesbar: Straßenseitig wird sie durch eine Veranda mit einer dreiteiligen Arkade und drei dahinterliegende Öffnungen mit Bogenabschluss gekennzeichnet, hofseitig durch einen Vorraum mit einer zweiteiligen Arkade.

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7  Eines der frühen Eckflurhäuser: Haus Kühnle, Grundriss des EG nach einem Bauaufmaß vom Jahr 2001.

Das Eckflurhaus Der annähernd quadratische Grundriss des Eck­ flur­hauses wird von einer die ganze Gebäude­tiefe einnehmenden Innenwand in zwei etwa gleich große Hälften geteilt. Diese werden von entweder einer durchgehenden oder von zwei zueinander versetzten Innenwänden weiter unterteilt, so dass der Grundriss aus insgesamt vier Räumen besteht. Der erste von außen betretene Raum dient dabei als Diele, von der aus ggf. die Geschosstreppe nach oben führt. Untersuchungen in Schwaben und Mittelfranken verbinden diese Grundrissform vor allem mit kleineren Bauernhäusern.84 Unter den vier identifizierten Grundrissformen ist das Eckflurhaus die einfachste. Es ist sehr wahrscheinlich, dass dies das für die ersten Siedler zur Ausführung empfohlene »Haus von 3 Gelassen«85 war. Vier Häuser konnten dieser Gruppe zugeordnet werden, eins von ihnen ist das Haus Kühnle, das frühestens 1871 und spätestens 187686 errichtet wurde (Abb. 7). Ursprünglich eingeschossig,87

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8  Beispiel eines Querflurhauses: Haus Sus, Grundriss des EG nach einem Bauaufmaß vom Jahr 1998.

wurde es im Laufe der Zeit wie die meisten Wohn­ häuser aufgestockt und umgebaut. Das Querflurhaus Beim Querflurhaus handelt es sich um ein traufbzw. längsseitig erschlossenes Gebäude mit einem quer zum First bzw. zur Längsseite verlaufenden Flur, der meist als Durchgangsflur ausgebildet ist. An den Flur grenzen beidseitig Räume an, die von diesem aus betreten werden können. Der Unterschied zum Zentralhallenhaus ist nicht immer an der Flur- bzw. Hallenbreite festzumachen, sondern an der Abwesenheit der drei bogenförmig abschließenden Öffnungen. Solche dreizonigen Häuser mit traufseitigem Eingang sind in Mittelund Süddeutschland weit verbreitet.88 Drei der untersuchten Bauten sind als Quer­ flur­häuser zu bezeichnen, darunter das frühestens 1871 und spätestens 187689 errichtete Haus Sus (Abb. 8). Traufseitig an der Hauptstraße stehend, weist das Gebäude auf allen vier Seiten ein

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9  Das Haus Schumacher ist ein typisches Riwaq-Haus. Grundriss des EG nach einem Bauaufmaß vom Jahr 2001.

schlichtes, schmuckloses Fassadenbild auf. Der Grundriss ist nahezu symmetrisch, mit jeweils zwei unterschiedlich großen Räumen auf beiden Seiten des mittig gelegenen schmalen Durchgangsflurs. Das Riwaq-Haus Kennzeichnend für diese Grundrissform ist eine im Hauptgeschoss liegende Bogenhalle, die einen Zugang zu den ihr entlang gelegenen Räumen gewährt und die Fassade (mit-)prägt. Das RiwaqHaus stellt einen Grundtyp dar, der in der traditionellen Architektur der Levante üblich ist, in Palästina allerdings wahrscheinlich erst im 19. Jh. zur Verwendung kam.90 Diese Grundrissform kommt unter den analysierten Gebäuden nur einmal vor: im 1870 erbauten91 Wohnhaus des Architekten Jakob Schumacher (Abb. 9). Der symmetrische Grundriss des ursprünglich eingeschossigen92 Gebäudes besteht im heutigen Erdgeschoss aus drei aneinandergereihten gleich großen Räumen und

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einer Vorhalle, die im Osten straßenseitig vor den Räumen liegt und von der aus jeder Raum betreten werden konnte. Das Gebäude erhielt später ein zweites Stockwerk sowie einen Anbau im Westen. Die Anzahl der analysierten Häuser ist relativ klein und bildet lediglich etwa ¹⁄₄ des Wohnbau­ bestandes des Jahres 1877. Die 14 betrachteten Grundrisse lassen sich in nur vier Hauptgruppen einteilen, innerhalb deren gewisse Variationen vorkommen, wobei nicht auszuschließen ist, dass nicht betrachtete Gebäude noch andere Grundrissformen aufweisen. Die sowohl im Grund- als auch im Aufriss herrschende Einfachheit der analysierten frühen Gebäude war sicherlich zum großen Teil der finanziellen Not und

dem Ressourcenmangel geschuldet, entsprach aber gleichzeitig den Glaubensgrundsätzen der Tempelgesellschaft.93 Der religiöse Hintergrund der Ansiedlung lässt sich an vielen Häusern zudem direkt erkennen, da über ihren Eingängen Spruchinschriften mit Bibelzitaten angebracht wurden. Ein Tempelmitglied schrieb 1870 an die Süddeutsche Warte: »Auch die Inschriften, welche über den Hausthüren eines jeden neu erbauten Hauses zu sehen sind, (...) erwecken das Gefühl, daß es sich an diesem Platze um ein neues auf Gott und seine Verheißungen gegründetes Leben handelt.«94 Die Spruchinschriften sind als öffentliche Glaubensbekenntnisse der Hauserbauer anzusehen. Oft drückten die Bauherren dadurch ihre Dankbarkeit für die Möglichkeit der Ansiedlung

10  Die »Deutsche Kolonie« als Stadtteil Haifas in den frühen 1930er Jahren. Blick von Süden.

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im Heiligen Land und die Hilfe Gottes bei dieser Unternehmung aus und stellten das eigene Haus unter weiteren Schutz des Allmächtigen. Nicht zuletzt können die sichtbar an den Fassaden angebrachten Bibelzitate in deutscher Sprache auch als Demonstration der eigenen Zugehörigkeit gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen interpretiert werden.

Spätere Entwicklungen Die Deutsche Kolonie Haifa entwickelte sich kontinuierlich und verlor zunehmend ihren landwirtschaftlichen Charakter.95 Neben einfachen Ein­ familien­häusern entstanden dort auch Stadtvillen, mehrgeschossige Mietshäuser und Wohngebäude mit Gewerbeflächen im Erdgeschoss. Bestehende Bauten wurden oft aufgestockt und erweitert, neue Baustile und -formen wurden eingeführt. All dies hatte verschiedene Gründe. Mit dem Bau des Suezkanals und dem Ausbau von Häfen in Palästina ging eine größere Verfügbarkeit von importierten Baumaterialien einher.96 Die technischen Möglichkeiten stiegen ebenfalls durch das Aufkommen neuer Bautechniken wie des Betonbaus.97 Schließlich führten ein Werte­ wandel98 innerhalb der Tempelgesellschaft und die Überwindung von wirtschaftlichen Notlagen durch einzelne Familien zum Bedürfnis nach repräsentativeren Bauformen.99 Das heterogene Bild der Deutschen Kolonie (Abb. 10), die in den 1930er Jahren bereits ein Stadtteil des schnell wachsenden Haifa war,100 prägte allerdings nicht nur die Tempel-, sondern auch eine evangelische Gemeinde, die 1886 gebildet wurde.101 Die meisten Gebäude, die dort durch Deutsche beider Konfessionen bis 1939 errichtet wurden, sind heute noch erhalten.

Zusammenfassung Wie die vorliegende Untersuchung zeigt, folgte die Tempelgesellschaft bei der Errichtung ihrer ersten Niederlassung in Palästina keiner vorab definierten architektonischen Vision und traf ihre Entscheidungen abhängig von örtlichen Zuständen. An eine Ansiedlung ging die Leitung der Organi­ sation eher vorsichtig heran, schreckte jedoch nicht davon ab, osmanisches Gesetz zu brechen. Der anfängliche Planungs- und Bauprozess stand ganz im Schatten der religiösen Idee und erfolgte in Abhängigkeit von verfügbaren Ressourcen. Der Landkauf und die Einteilung der Grundstücke waren zunächst Aufgabe der Organisation. Die Tempel­ gesellschaft stellte jedoch keine Typen­bauten, sondern nur Empfehlungen bereit und ermöglichte es dadurch Familien und Personen, Wohn­häuser nach eigenem Geschmack und im Rahmen des finanziell Möglichen zu errichten. Trotzdem scheint in den ersten Ansiedlungs­jahren eine beschränkte Anzahl an Grundriss­formen entstanden zu sein, von denen einige ihren Ursprung in arabischer und einige in deutscher Bautradition haben. Unter den 14 untersuchten Grundrissen von Gebäuden, die zwischen 1869 und 1877 entstanden, wurden sechs Zentral­ hallen­häuser, vier Eckflur­häuser, drei Querflur­häuser und ein Riwaq-Haus identifiziert. Die Einfachheit der frühen Bauten der Templer in Palästina war einerseits den finanziellen Bedingungen geschuldet, entsprach aber andererseits den Glaubens­grundsätzen der Organisation. Ihren »Nagel an der heiligen Stätte« markierten die Mitglieder der Tempel­ gesellschaft oft durch Anbringung von Bibel­zitaten in deutscher Sprache über den Eingängen ihrer Häuser. Zu den ersten Umbau­maßnahmen in der Haifaer Siedlung gehörte der Umbau von ortsüblichen Flachdächern in ziegel­gedeckte Dächer, die das Bild der Deutschen Kolonie bis heute prägen.

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1 Inschrift über dem Eingang des Hauses Kraiss in der Tempelsiedlung Haifa, heute in der Ben Gurion Ave. 15. 2016 war sie nicht mehr erkennbar, wurde aber in BarOn / Shlomi 2000, 9 dokumentiert. Das Zitat stammt aus dem Alten Testament, Esra 9:8. 2 Die Baugeschichte der sechs Tempelsiedlungen in Palästina ist Thema des Dissertationsvorhabens der Verfasserin im DFG-Graduiertenkolleg 1913 »Kulturelle und technische Werte historischer Bauten« an der Brandenburgischen Technischen Universität CottbusSenftenberg, das von Prof. Dr. phil. Leo Schmidt und Prof. Dr.-Ing. Klaus Rheidt betreut wird. 3 Ben-Artzi 1992, 101; Ben-Artzi 1997, 296–297. Ben-Artzi betont, dass die Tempelsiedlungen, die in den Augen vieler Reisender und Neuankommender »ein Stück Europa« in Palästina waren, für die jüdische Ansiedlungen vor allem als Beweis dienten, dass eine erfolgreiche europäische Ansiedlung im Heiligen Land möglich sei (BenArtzi 1997, 219, mit weiterführender Literatur). Außerdem waren Templer an der Planung und am Aufbau einiger jüdischer Siedlungen direkt beteiligt (Ben-Artzi 1992, 102–103, mit weiterführender Literatur). 4 Angaben des Archivs der Tempelgesellschaft in Stuttgart, zit. n. Sauer 1985, 268. 5 Es liegen diverse Publikationen zu der Geschichte der Tempelgesellschaft vor, z. B. Carmel 2000, Lange 1899 oder Sauer 1985, die ebenfalls auf einzelne Aspekte der Siedlungstätigkeit in Palästina eingehen. Lange, Mitglied der Tempelgesellschaft und Lehrer an der Schule der Tempel­ siedlung Haifa, beschreibt das Wirken der Organisation bis 1884. Carmels Betrachtungszeitraum endet 1918. Die im Auftrag der Tempelgesellschaft entstandene Arbeit Sauers behandelt ebenfalls die Nach­kriegsjahrzehnte bis in die 1980er Jahre hinein. Zu dem Beitrag der Tempelgesellschaft zur »Modernisierung« Palästinas s. z. B. Seibt 1933, BenArtzi 1992 oder Kark/Thalmann 2003, die teilweise auf einzelne Aspekte des Bauens eingehen. Die Architektur der Tempelgesellschaft wurde zum Thema der Dissertation von Goldman, allerdings bleibt eine detailliertere Betrachtung der Baugeschichte dort bewusst ausgeklammert (Goldman 2003, 21 u. 50). 6 Als Gründungsjahr wird hier die Jahreszahl der Grund­ stein­legung für das erste Gebäude angenommen, s. Absatz »Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen« – Die frühen Wohn- und Gemeindebauten auf S. 102. 7 Für die Unterstützung bei der Recherche möchte ich mich bei den MitarbeiterInnen des Conservation Units in Haifa, des Archivs der Tempelgesellschaft in Stuttgart, des Archivs der Temple Society Australia in Bentleigh, des Archivs des Schumacher-Instituts in Haifa sowie des Archivs des Technion in Haifa herzlichst bedanken. Mein Dank gilt auch meiner Hilfskraft Josie Engel für die Unterstützung bei der Erstellung von Zeichnungen. 8 Abschrift der Urkunde zur Gründung des Deutschen Tempels auf dem Kirschenhardthof, 19.–20. Juni 1861, zit. n. Lange 1899, 239.

9 Dies, laut Föll, sei »(...) ein Umstand, der die kirchenhistorische Forschung immer wieder zu Erklärungsversuchen herausforderte.« (Föll 2002, 21 mit weiterführender Literatur). 10 1815–1885, Sohn des Gründers der Evangelischen Brüdergemeinden Korntal und Wilhelmsdorf Gottlieb Wilhelm Hoffmann. Lebensbild s. Hoffmann 1881 u. Hoffmann 1884. 11 Föll 2002, 211. 12 Hoffmann 1926, 8. 13 Lange 1899, 46 u. 50. 14 Seibt 1933, 15. 15 Statut der Tempelgesellschaft in: Hoffmann 1926, 127 (Beilage 1). 16 Denkschrift über das Werk des Tempels in Palästina im Frühling 1875, in: Hoffmann 1926, 128. 17 Auszug aus dem Vortrag Joseph Bubecks in Bad Canstatt am 8. September 1858, in: Eisler 2004, 26. Die Leitung der Tempelgesellschaft sprach sich dezidiert gegen »Proselytenmacherei« im traditionellen Sinne aus. (»Orientpost«, Brief von Fr[iedrich] L[ange] vom 30. Mai 1880 in: SW 26/1880, 24. Juni 1880, Sp. 3). 18 Hoffmann 1926, 1; Zitat nach Hoffmann 1926, 10. 19 Lange 1899, 240. Die Tempelgesellschaft hatte Mitglieder nicht nur in Deutschland, sondern auch in Russland und den USA. Auch von dort wanderten bereits ab 1869 Familien nach Palästina ein (Lange 2015, 38-N, 38a-N u. 41-Q). 20 1812–1879, Lebensbild s. Baur 2000. 21 Lange 1899, 50–51; Carmel 2000, 11–12. Auch die Hoffnungen, die die Tempelleitung in den Gründer des Roten Kreuzes Henri Dunant legte, erfüllten sich nicht, da dieser zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme seinen Einfluss bereits verloren hatte (Carmel 2000, 19–20 mit weiterführender Literatur). 22 Sauer 1985, 31, 43 u. 47. Der Kirschenhardthof als Mittel­ punkt des Tempels in Württemberg wurde 1873 zugunsten Stuttgarts aufgegeben (Lange 1899, 468). 23 Hoffmann 1884, 440; Hoffmann 1926, 9–10. 24 Hoffmann 1926, 11. 25 Seibt 1933, 16. 26 Sauer 1985, 49–50; Carmel 2000, 18 mit weiterführender Literatur. 27 Lange 1899, 338 u. 440. Die Tempelgesellschaft finanzierte ihre Arbeit aus Beiträgen der Mitglieder; für verschiedene Zwecke gab es separate Kassen. Berichte der von einem Verwaltungsrat und zwei Prüfern beaufsichtigten Kolonisationskasse erschienen jährlich in der Süddeutschen Warte (ebd.). 28 Lange 1899, 343. 29 Statut der Tempelgesellschaft in: Hoffmann 1926, 126 (Beilage 1). 30 Die 1845 als Wochenblatt gegründete Süddeutsche Warte wurde 1853 zur offiziellen Zeitschrift der Tempelbewegung (Hoffmann 1926, 6 u. 9). Zwischen 1877 und 1911 erschien die Zeitschrift als Warte des

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Tempels, zwischen 1912 und 1920 als Jerusalemer Warte und seit 1921 heißt sie erneut Warte des Tempels, wobei während des und nach dem Zweiten Weltkrieg nur ein Rundschreiben veröffentlicht wurde. Eine Zeitlang wurden in der Zeitschrift keine Seitenzahlen angegeben, sondern nur Spaltennummern (hier abgekürzt mit Sp.). Lange 1899, 342. Die Hohe Pforte forderte von den Mitgliedern der Tempelgesellschaft, die osmanische Staatsbürgerschaft anzunehmen, was die Deutschen ablehnten. (»Nachricht über die Anfänge der Ansiedlung des Tempels im Heiligen Lande, von Chr. Hoffmann, Aeltester des Tempels in Jaffa« in: SW 51/1869, 23. Dezember 1869, 203). Inschrift über dem Eingang in den Anbau am Gemeindehaus, heute Ben Gurion Ave. 11. Das Zitat stammt aus dem Alten Testament, Samuel 7:12. »Haifa und der Carmel« in: SW 5/1869, 4. Februar 1869, 17. Lange 1899, 372. »Bericht über die Ausschußsizung des deutschen Tempels am 21. Juli 1869« in: SW 31/1869, 5. August 1869, 122. »Bücheranzeige. XXI. Nachwort über die gegenwärtige Weltlage und über das Tempelwerk im heiligen Lande« in: SW 45/1873, 6. November 1873, 179. Lange 1899, 372. Carmel 2000, 28; »An den Ausschuß der Gesellschaft des Tempels in Württemberg« vom 22. Januar 1869, in: SW 13/1869, 1. April 1869, 50. Die 1867 verabschiedete Ergänzung zum Landgesetz von 1858 erlaubte es ausländischen BürgerInnen, Boden im Osmanischen Reich (mit Ausnahme von Hedschas) zu besitzen mit den gleichen Rechten und Pflichten wie osmanische BürgerInnen. Alle Angelegenheiten bezüglich des Grundeigentums wurden osmanischer Gerichtsbarkeit unterstellt. Das Recht wurde für ausländische StaatsbürgerInnen erst dann wirksam, nachdem ihre Staaten eine entsprechende Vereinbarung mit dem Osmanischen Reich geschlossen hatten (Tute [1927], 140–141; Lange 1899, 381–383). Der Norddeutsche Bund tat dies im Jahr 1869 (Lange 1899, 381), die USA, deren Staatsbürgerschaft einige Templerfamilien besaßen, im Jahr 1874 (Kark 1991, 73). Dass der Landkauf durch die Tempelgesellschaft und ihre Mitglieder eine äußerst umstrittene Angelegenheit war, zeigen die Studien von Kark 1991 und Yazbak 1999. »Vorläufiges über die Sendung der Aeltesten und ihre Arbeiten« in: SW 28/1869, 15. Juli 1869, 105. »Bericht über die Ausschußsizung des deutschen Tempels am 21. Juli 1869« in: SW 31/1869, 5. August 1869, 122–123. Über den Planungsprozess ist sehr wenig bekannt. In der Süddeutschen Warte wird der Siedlungsentwurf nur an zwei Stellen erwähnt. Laut dem ersten Bericht entstand der Plan für die Siedlung bei Haifa in Zusammenarbeit von Hardegg und drei Tempelältesten, die sich zu jener Zeit in Palästina aufhielten: Jakob Gauß, Karl Wurster und Philipp Reinhardt (»Vorläufiges über die Sendung

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der Aeltesten und ihre Arbeiten« in: SW 28/1869, 15. Juli 1869, 105). Der zweite Artikel nennt nur Hardegg als Entwurfsautor (»Bericht über die Ausschußsizung des deutschen Tempels am 21. Juli 1869« in: SW 31/1869, 5. August 1869, 122–123). Eine detailliertere Auseinandersetzung mit diesem Thema ist der Dissertation vorbehalten. Goldman 2003, 442. Laut Ben-Artzi waren die landwirtschaftlichen Siedlungen der Tempelgesellschaft die ersten geplanten landwirtschaftlichen Siedlungen im »Palästina moderner Zeit« (Ben-Artzi 1992, 94). »Bericht über die Ausschußsizung des deutschen Tempels am 21. Juli 1869« in: SW 31/1869, 5. August 1869, 122; Lange 1899, 372. Carmel merkt dazu an, dass »das Vorhaben in keinem Verhältnis zu dem [stand], was damals im Lande existierte.« (Carmel 2000, 29). »Nachricht über die Anfänge der Ansiedlung des Tempels im Heiligen Lande, von Chr. Hoffmann, Aeltester des Tempels in Jaffa« in: SW 51/1869, 23. Dezember 1869, 203. Lange 1899, 374. »Bericht über die Ausschußsizung am 8. Dez. 1869« in: SW 51/1869, 23. Dezember 1869, 202; »Vorläufiges über die weitere Entwicklung des Tempelpostens in Jaffa« in: SW 15/1870, 14. April 1870, 58; Lange 1899, 391. Anzumerken ist, dass die Tempelleitung jeder Person, die eigenmächtig nach Palästina umsiedeln wollte, mit dem Entzug der Mitgliedschaft drohte (»Nachtrag zur Ausschußsizung am 28. Okt. 1870« in: SW 46/1870, 17. November 1870, 181). Den für die Ansiedlung bei Haifa ausgewählten Familien wurde geraten, eine Person nach Haifa vorauszuschicken, die »dafür sorgt, daß ihr Wohnhaus für ihre Verhältnisse zweckmäßig gebaut wird und welches zugleich im Stande ist, die Nachfolgenden zu belehren, was mitzunehmen und wie die Uebersiedlung am besten auszuführen ist.« (»Bericht über die Ausschußsizung am 8. Dez. 1869« in: SW 51/1869, 23. Dezember 1869, 202). »Bericht über die Ausschußsizung des deutschen Tempels am 21. Juli 1869« in: SW 31/1869, 5. August 1869, 122–123. Hardegg begründete den Vorschlag so: »Die arabischen Maurer sind in ihrer Weise sehr geschickt und arbeiten trotz der Hize [sic] den ganzen Tag fort, was die Europäer nicht aushalten können. Entscheidend ist namentlich auch der Umstand, dass dort alle Hilfsmittel fehlen, an welche unsere Maurer gewöhnt sind.« (ebd.). »Reisebericht von Chr. Paulus. VII.« in: SW 11/1871, 16. März 1871, 43. Schumacher [1871 o. 1872]. »Orientpost«, anonym publizierter Brief vom 23. März 1876 in: SW 21/1876, 25. Mai 1876, 83. Der Schreiner Carl Oldorf leitete mit Unterstützung des Wegemeisters Johann Wilhelm Gohl den Bau einer Straße zwischen Haifa und Nablus (»Orientpost«, anonym publizierter Brief vom 20. April 1876 in: SW 21/1876, 25. Mai 1876, 84), der Architekt Jakob Schumacher und Templerhandwerker arbeiteten u. a. beim Bau des englischen Waisenhauses in Nazareth (»Orientpost«, Brief

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von J. H. vom 1. März 1876 in: SW 17/1876, 27. April 1876, 67–68; Lange 1899, 471). Kark und Thalmann betonen, dass Baufachleute aus dem Kreis der Tempelgesellschaft einige der ersten Ingenieure und Architekten in Palästina waren (Kark/Thalmann 2003, 209). »Orientpost«, anonym publizierter Brief vom 23. März 1876 in: SW 21/1876, 25. Mai 1876, 83. »Die Tempelcolonie Haifa nach ihrem gegenwärtigen Bestand«, Brief von Chr[ristoph] P[aulus] in: SW 39/1874, 24. September 1874, 154. In der Nähe von Jaffa kaufte die Tempelgesellschaft einige Holzhäuser, die die bereits erwähnte amerikanische Gruppe (s. Anm. 26) 1866 mitbrachte und aufstellte. (»Bericht über die Ausschuß-Sizung am 31. März 1869« in: SW 15/1869, 15. April 1869, 57). »Bericht über die Ausschußsizung am 24. Juli 1870«, Brief Hardeggs an Christoph Paulus vom 10. Juni 1870 in: SW 31/1870, 4. August 1870, 121; Lange 1899, 538– 539; Carmel 2000, 32. Brief von Georg David Hardegg an den Ausschuss der Gesellschaft des Tempels vom 12. August 1870 in: SW 36/1870, 8. September 1870, 141. Lange 1899, 587. Nachfolger Hardeggs als Vorsteher der Siedlung Haifa wurde der Architekt und seit 1872 amerikanische Vizekonsul Jakob Schumacher (Carmel 2000, 36; Sauer 1985, 62), dessen Wohnhaus im weiteren beschrieben wird. Lange 1899, 730 u. 740; Eisler 1998, 82–83. Die Aus­ ge­tretenen gründeten in Haifa den Tempelverein mit Hardegg an der Spitze. 1886 bildete sich aus einem Teil der Hardegg-Anhängerschaft eine evangelische Gemeinde, die an die evangelische Landeskirche Preußens angeschlossen wurde (Eisler 1998, 83–84). Während der Arbeit am Dissertationsvorhaben war es nicht möglich, eigene Bauforschung durchzuführen: Die Zahl der zu untersuchenden Wohn- und Gemeinde­ bauten in den sechs ehemaligen Siedlungen der Tempel­ gesellschaft war für diesen Rahmen zu groß, die einzelnen Gebäude außerdem nicht zugänglich. »Bericht über die Ausschußsizung am 2. Febr. 1870« in: SW 6/1870, 10. Februar 1870, 21. »Reisebericht von Chr. Paulus. VI.« in: SW 10/1871, 9. März 1871, 37–38. Canaan 1933, 8. »Bericht über die Ausschußsizung am 2. Febr. 1870« in: SW 6/1870, 10. Februar 1870, 21. »Orientpost«, anonym publizierter Brief vom 9. Januar 1877 in: SW 8/1877, 22. Februar 1877, Sp. 7. »Nachricht von der Colonie in Jaffa« in: SW 49/1870, 8. Dezember 1870, 195. Erwähnt auch in Lange 1899, 410. An den vom öffentlichen Raum aus zugänglichen Fassaden der heute noch existierenden Bauten konnten keine entsprechenden Befunde beobachtet werden. Da im Rahmen der Arbeit am Dissertationsvorhaben keine eigene Bauforschung erfolgte, konnten weitere Fassaden sowie die Innenräume der Gebäude nicht untersucht werden.

67 »Das äußere Leben der Colonisten in Jaffa« in: SW 14/1874, 2. April 1874, 54. 68 »Orientpost«, anonym publizierter Brief vom 23. März 1876 in: SW 21/1876, 25. Mai 1876, 83. 69 »Orientpost«, anonym publizierter Brief vom 9. Januar 1877 in: SW 8/1877, 22. Februar 1877, Sp. 7; Lange 1899, 669. 70 Inschrift über dem Eingang ins Haus von Christian Beilharz sen., heute in der Me‘ir Rutberg St. 23. Das Zitat stammt aus dem Alten Testament, Josua 24:15. 71 »Bericht über die Ausschußsizung am 2. Febr. 1870« in: SW 6/1870, 10. Februar 1870, 21. 72 Lange 1899, 374. 73 »Bericht über die Conferenz der Tempel-Gesellschaft Amerika‘s am 3. Januar 1870« in: SW 8/1870, 24. Februar 1870, 31. 74 »Bericht über die Conferenz der Tempel-Gesellschaft Amerika‘s am 3. Januar 1870« in: SW 8/1870, 24. Februar 1870, 31. 75 »Neueste Posten aus Palästina«, Brief Hardeggs vom 24. September 1869 in: SW 42/1869, 21. Oktober 1869, 165. Loytved kam außerdem auf eigene Kosten nach Haifa, um sich den Bauplatz anzuschauen (ebd.). 76 Schumacher-Institut Haifa, P-LPJ-01, Peter Julius Löytved 1836–1911. Biographische Daten (Erste Fassung) zusammengestellt von Gunther Loytved, undatiertes Manuskript, 5. 77 Drei, seltener zwei oder eine, mit Bögen abschließende Öffnungen in der Fassade sind gewöhnlich ein Hinweis auf eine Mittelhalle im Inneren des Hauses (Fuchs 2000/2001, 64; Fuchs 1998, 58). 78 Einige dieser Gebäude wurden bereits vor 1939 abgerissen, einige weitere nach 1939. 79 Da Originalpläne aus der Zeit nicht auffindbar waren und keine eigene Bauforschung durchgeführt wurde, wurde auf Archivmaterial in Form von jüngeren Bestandsplänen zurückgegriffen. Die Gebäudepläne stammen aus denkmalpflegerischen Dokumentationen, die im Archiv des Conservation Units von Haifa dank der Freundlichkeit der MitarbeiterInnen im Herbst 2015 eingesehen werden konnten. Die Aufmaße stammen hauptsächlich aus den 1990er und 2000er Jahren und zeigen die Gebäude in einem oft sehr veränderten Zustand. Spätere Aufstockungen und Umbauten wurden, soweit sie in Plänen, historischen Fotos oder vor Ort erkennbar waren oder in denkmalpflegerischen Dokumentationen bereits identifiziert wurden, aus dieser Betrachtung ausgeklammert. Die den jeweils ersten Bauphasen zugeschriebene Bausubstanz wurde in den Grundrisszeichnungen durch eine schwarze Blockschraffur markiert. 80 Davie 2003. Eine entsprechende deutsche Bezeichnung scheint nicht zu existieren. 81 Awad 2003, 171; Fuchs 1998, 53 u. 58. 82 Fuchs 2000/2001, 66. 83 Datierung durch Inschrift. 84 Gebhard 1999, 355; Gebhard 1996, 333.

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85 »Bericht über die Conferenz der Tempel-Gesellschaft Amerika‘s am 3. Januar 1870« in: SW 8/1870, 24. Februar 1870, 31. 86 Datierung nach Schumacher [1871 o. 1872] u. Schumacher 1876. 87 Afek 2001, o. S. 88 Bedal 1994, 64. Oft kommen zusätzliche Querzonen für Stall etc. dazu (ebd.). 89 Datierung nach Schumacher [1871 o. 1872] u. Schumacher 1876. 90 Fuchs 2000/2001, 64. 91 Datierung durch Inschrift. 92 Güterbuch, Eintrag 23. 93 Goldman 2003, 459 u. 510–511. 94 »Reisebericht des Cassiers der Gesellschaft deutschen Tempels H. G. Aberle« in: SW 20/1870, 19. Mai 1870, 78. 95 Carmel 2000, 55.

96 Goldman 2003, 370. 97 Wie die Baupläne des Büros Ruff und Weller aus den Beständen des Schumacher-Instituts Haifa zeigen, wurden in den 1930er Jahren viele Neubauten in der Deutschen Kolonie zumindest in Teilen in Betonbauweise errichtet. (Schumacher-Institut, bspw. A-GC-01, A-GC-02, A-GC-06). 98 Innerhalb der Gemeinschaft verstärkten sich mit der Zeit säkulare Orientierungen. Zudem gewann ein deutsches, später auch völkisch-deutsches, Nationalgefühl an Einfluss (Sauer 1985, 197, 230 u. 259). 99 Ruff 2010, 23; Goldman 2003, 460. 100 Lifschitz 1939. 101 S. Anm. 58. Die beiden Gemeinden arbeiteten in weltlichen Angelegenheiten im Rahmen einer Bürgergemeinde zusammen, die einige eigene Grundstücke in der Siedlung besaß (Güterbuch, Eintrag 159).

Archivmaterial Archiv des Conservation Units, Haifa Municipality

Archives of the Temple Society Australia, Bentleigh

Afek 1998 ‫ סקר היסטורי למבנה‬.24 ‫גוריון‬-‫ שדרות בן‬.1871 .‫בית סוס‬ [S. Afek: Haus Sus. 1871. Ben Gurion Ave. 24. Historische Baubetrachtung, 1998 (Hebr.)].

Güterbuch Güterbuch der Deutschen Colonie Haifa, 1879 angelegt und fortlaufend ergänzt.

Afek 2001 ‫ סקר היסטורי למבנה‬.44 ‫גוריון‬-‫ שדרות בן‬.1870 .‫בית קונלה‬ [S. Afek: Haus Kühnle. 1870. Ben Gurion Ave. 41. Historische Baubetrachtung, 2001 (Hebr.)].

Archiv des Technion, Haifa, Schumacher-Kartensammlung

Bar-On / Shlomi 2000 ‫ חוברת שימור‬.‫ מושבה גרמנית חיפה‬,15 ‫גוריון‬-‫ שד‘ בן‬,‫בית קרייס‬ [N. Bar-On / I. Shlomi: Haus Kraiss, Ben Gurion Ave. 15, Deutsche Kolonie Haifa. Denkmalpflegerische Dokumenta­ tion, 2000 (Hebr.)]. Bar-On / Shlomi 2001 ‫ חוברת שימור‬.‫ מושבה גרמנית חיפה‬,12 ‫גוריון‬-‫ שד‘ בן‬,‫בית שומאכר‬ [N. Bar-On / I. Shlomi: Haus Schumacher, Ben Gurion Ave. 12, Deutsche Kolonie Haifa. Denkmalpflegerische Doku­men­ tation, 2001 (Hebr.)]. Mosheli 1989 ‫ סקר מבנה מפורט‬.11 ‫ שד‘ בן גוריון‬- ‫ בית העם‬.‫המושבה הגרמנית חיפה‬ [Y. Mosheli: Deutsche Kolonie Haifa. Gemeindehaus – Ben Gurion Ave. 11. Detaillierte Baubetrachtung, 1989 (Hebr.)]. Haifa University Library Lifschitz 1939 Z: Lifschitz: Haifa and Environs, 1:40,000, Edited by the Palestine Land Development Co. Ltd., 1939, Signatur: MAP 2-P-40-1939.

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Zofia Durda

Zeitschrift Süddeutsche Warte (SW)

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»Dass der Herr uns gebe einen Nagel an seiner heiligen Stätte«

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Unsettled Modernities Armenian Refugee Settlements in French Mandate Beirut (1923–43)

Joseph Rustom

While the Armenian Genocide (1915–17) has been an important research topic in recent decades, researchers have rarely paid attention to the migration routes of Armenian survivors and their settlement in countries such as Lebanon and Syria.1 Following the Lausanne Treaty of 1923 that allowed Armenian refugees to acquire the citizenship of their host countries, large-scale residential quarters dedicated to Armenian refugees were established in cities such as Beirut, Aleppo, and Alexandretta, then under French Mandate. These settlements not only represent a unique and pioneering experience in social housing, urban planning, and construction technology in the Middle East, they also epitomise the birth of Modern European humanitarianism for which Lebanon and Syria served as one of the first testing grounds. Focusing on the case of Beirut, this paper tackles the history of Armenian refugee settlements in the complex ethno-religious context of the French Mandate in Lebanon (1923–43). Through period photographs, reports of European humanitarians and missionaries, local press articles, and preliminary observations of the remaining settlements, it seeks to reveal the ideologies that were at work to reconstruct a lost home and identity for a «genderimbalanced community of broken families»2 that had suffered the tragedy of war and displacement in a new environment that was witnessing the birth of a new Lebanese national identity. Two types of quarters are presented here: those conceived and built by urban planners and architects and self-made quarters constructed by the inhabitants themselves. For the first type of

settlements, we focus on the importance – and limits – of the innovative concepts of modern architecture and urbanism as well as the novel use of concrete in shaping new ways of living for the refugees. For the second type, we show how rescued skills and traditions, but also personal artefacts and photographs, were purposefully used to create spaces of identification and a distinct cultural identity for the community. By exploring the re-use of these quarters by other groups of refugees (Palestinians, Lebanese Shias, Kurds, and, more recently, Syrians), the study finally sheds light on the primordial role these settlements continue to play in the daily life of the city.

Historical background of the Armenian refugee settlements in Beirut While population displacements are often associated with the notion of «crisis» and «exception», Beirut invites us to rethink these categories as its history is deeply intertwined with a cascading series of migratory waves that constantly reshaped its future.3 Furthermore, while refugee crises are generally identified with «instability» and «decline», Beirut equally seems to prove that the labour, the capital, and the know-how brought by refugees can contribute to the city’s wealth and development. Following an important migratory wave in the aftermath of sectarian strife in Mount Lebanon and Damascus in 1860, Beirut, then under Ottoman rule,

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rose to become at the end of the 19th century the leading port city of the eastern Mediterranean and, in 1888, the capital of an Ottoman province (wilāya).4 This drastic evolution was largely due to a favourable political and economic context prompted by the late Ottoman reforms, the Tanzimat (1839–76), that ensured equality among all the subjects of the Empire, but also the formation of a merchant and intellectual class largely derived from the city’s new inhabitants. This new class played a crucial role in shaping public discourse, public space, and architecture during what is considered today as the city’s first modern âge d’or. Having found solid partners in the Christian notables of the city, European interest groups recognised the importance attached to Beirut and made it the centre of their consular and commercial activities. The arrival of the Armenian refugees in Beirut corresponds to another seminal moment of the city’s history: its transformation into the capital of a modern state. Under Ottoman rule (1516– 1918), Armenians and Arabs had shared for centuries a common past in the Middle East. Like the traditional Christian communities of the Empire, the Armenians were recognised as millet, i. e. a non-Muslim religious community that paid a poll tax ( jiziya) to the state and, in exchange, was guaranteed protection and granted substantial

autonomy in the management of its own internal affairs, such as the management of property and personal status laws. Despite this common past, Armenians and Arabs were not necessarily predisposed to live together in the states newly created in the wake of the First World War. The settlement of around 100,000 Armenian refugees in Lebanon and Syria, under French Mandate, was therefore not historically self-evident. A third of Beirut’s population had died from starvation during the war and entire villages around the city were emptied from their population. It was in this very difficult context that the Armenian refugees – as well as other persecuted Christian communities – arrived in Beirut in several migratory waves. The first waves occurred in the wake of WW1, followed by an important wave after the ceding of Cilicia to the Turkish Republic in October 1921,5 and a third wave brought to Beirut the Armenian refugees of Damascus who had fought on the side of the French during the Great Revolt of 1925–27 and who were then chased out of Syria.6 Reluctant at the beginning to break the ethnoreligious equilibrium of the Lebanon, the French Mandate authorities quickly looked favourably upon the arrival of Armenian Christians, considering them as a necessary tool for the reinforcement of their authority. The Maronite Christians for whom the Lebanon was destined as a homeland also saw in the arrival of the Armenians a consolidation of the Christian vocation of the country.7

1  Armenian camp in Beirut.

The camps By 1922 the number of Armenian refugees in Beirut had reached 35,000,8 with 8,000 living in four adjacent camps created for them near the city’s lazaretto (fig. 1).9 In 1926 the number of refugees in the camps rose to 12,000 and the number of camps grew to five.10 Progressively the tents were replaced by more solid constructions. First, small huts were built from wooden crates and covered with tin cut

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from oil drums, or from recycled French military barracks, the famous baraques Adrian. Bricks and corb later replaced the wooden crates,11 and Beirut’s camps started resembling a city in which districts took the names of lost hometowns like Adana, Sis, Hadjin, or Marash. With the support of the French Mandate authorities, the Beirut municipality executed all necessary public works for the camps, such as swamp drainage, drinking water supply, sewage, and lavatories. Progressively small shops were created and, since the shop owners had neither legal residence nor the obligation to pay taxes, trade within the camps started to flourish.12 Refugees with better financial means established large residences with private gardens on the periphery of the camps, along the new roads created by the municipality.13 Although they had the means to live in richer quarters among the city’s local population, they preferred to stay close to their compatriots in houses perhaps less comfortable but which at least they had built themselves.14 Many refugees in fact enjoyed good living conditions. Of around 80,000 refugees in Syria and Lebanon more than 55% «live[d] from their own work and need[ed] no assistance», another 30% «live[d] from their own work but need[ed] assistance», and only less than 15% lived in destitute conditions.15 Furthermore Beirut was a rapidly expanding new capital that offered the refugees cheap living conditions and abundant work possibilities, chiefly for the construction of modern infrastructure, public buildings for the newly created state, lush residential suburbs for the rising bourgeoisie, and last but not least a new city centre after the old one had been largely demolished during the war.16 The mandate authorities allowed, encouraged, and provided work to the refugees, according to their competencies.17 A direct result of this policy was an important increase in the labour force, and consequently a decrease in average wages of casual manual labour by half, from 100 to 50 Syrian piasters.18 The local press relayed native Beirutis’ animosity towards competition from Armenian labour,19 but

the city’s notables understood the great economic and political advantages of this immigration and made the most of it.20

The new quarters In 1923 the Lausanne treaty gave the Armenian refugees the opportunity to acquire the nationality of their host countries. By 1925, 13,000 refugees had opted for Lebanese nationality. 21 While the wish of the French authorities was to disperse the Armenian population in Lebanon, the Armenians themselves tended to stay grouped together in order to maintain cohesion within the community and to protect their language, culture, and traditions.22 Seeking to reduce the pressure on the Beirut labour market, the French authorities first took the decision to withdraw Armenian farmers – whose integration into urban life was considered more difficult – from the city and relocate them in newly created agricultural settlements. This task was made easy by the fact that entire agricultural lands and villages were abandoned following the Great Famine of Mount Lebanon (1915–18) during WW1.23 The first agricultural settlement was created in Ra’s al-‘Ain, near the city of Tyre, in 1926. The operation quickly failed due to the animosity between refugees from different regions, but also between the refugees and the local population. The refugees had therefore to be relocated to Beirut. The failure of the French authorities’ «functionalist» strategy, which distributed refugees according to their competencies – the farmers in the rural areas and the craftsmen in the city – led to the recognition of the wish of the Armenians to stay gathered according to their geographical origin. The authorities allowed the refugees a certain degree of self-organisation, often regulated by an elders’ council. They also sought to settle refugees, to the extent possible, in coastal regions, along the main trade routes, or near ethno-religious groups that would be favourable to their

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presence. Predisposed to organise their internal affairs under the millet system, the Armenian refugees were ready to make best use of this selfautonomy, as the creation of the new settlements shows. The construction of these quarters was meanwhile becoming a sanitary, economical, political, and security emergency. In 1926 plague cases had been detected in the camps leading to the demolition of around 120 barracks by fire. 24 At the same time the owners of the parcels on which the camps were built were asking to recover their properties. The launching of the construction of the Armenian settlements in Beirut was the beginning of a novel process for both the international community and the local authorities. Indeed the newly created political borders after WW1 and the displacement of populations that they engendered forced the international community, represented by the League of Nations, to administer new processes related to refugees and minorities. Secular, expert-driven knowledge and highly bureaucratic inter­governmental institutions were to replace European missionary-based welfare that had provided local populations with aid and development during the 19th century.25 The resettlement of the Armenian refugees in Beirut was one of the first testing grounds for this new type of humanitarianism. In Beirut this vast and complex operation lasted around two decades and involved many protagonists: the League of Nations’ International Labour Organization (ILO/BIT) and High Commissioner for Refugees (later called the Nansen International Office for Refugees), the French Mandate authorities, the Lebanese government, and numerous Armenian charitable organisations, most importantly the AGBU (Armenian General Benevolent Union). A central committee was created to conduct the project, as well as three local committees for the cities of Beirut, Aleppo, and Alexandretta.26 Parallel to the committees, European and American missionaries and charitable organisations continued their work by founding new educational

and welfare structures for the refugees. Three schools, including a nursery school for 400 pupils, a sewing room for oriental embroideries, and a clinic that treated around 3,500 patients per year, were created by the Armenian Jesuit mission.27 In the schools, the Arabic, Armenian, and French languages were taught to give the refugees the best chance to integrate into local professional, social, and political life. The American missionaries were present through the Near East Relief, which created fifteen Armenian orphanages in Syria and Lebanon,28 and the YWCA. The British United Armenian Committee gathered several British organisations, among them the Lord Mayor’s Fund, Friends of Armenia, Save the Children Fund, and Society of Friends, which gave important donations for the integration of the refugees.29 Belgian, Danish, German, and Norwegian humanitarian organisations also contributed to this project. The planned quarters Between 1927 and 1930 the Central Committee acquired several plots outside the city, near the Beirut River (Nahr Bayrūt) where land was relatively cheap,30 and started planning the creation of five new quarters: The White Pavilions, Parcel n. 603, The Slopes, Hayachèn, and Gebaïli. Georges Werner, vice-president of the International Committee of the Red Cross (ICRC) and president of the Nansen International Office for Refugees, gives a detailed account of the creation of the planned quarters.31 The municipality and the Land Registry Service first planned the infrastructure of the projected quarter. After acquiring the land, the layout plan was executed and an architect established a master subdivision plan. The plots were usually dimensioned to receive a building comprising two housing units. Only individuals who had independent means of living were eligible for this type of housing, not welfare recipients. Indeed the authorities decided that land and construction materials would be lent to the refugees and reimbursed through monthly or yearly payments at a rate considered affordable according

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2  The White Pavilions in the 1930s.

to their material circumstances. Through this policy the French authorities sought to empower refugees they considered «temporarily unfortunate persons» (des personnes momentanément malheureuses),32 in need of a repayable advance rather than indigent. After obtaining a budget of 3,000,000 French francs from the Lebanese government, the Central Committee first bought two plots of 14,500 and 9,000 m² on the eastern side of the hill of Ashrafieh.33 The first plot was the ground for the first Armenian settlement in Beirut: The White Pavilions.34 Later the committee bought a third plot of 50,000 m² to build the settlement of Gebaïli.35 The choice of the plots followed the hygienic criteria of modern urban planning: a hill swept by the sea wind, excellent sun exposure, and dry and well-drained ground. All these factors were meant to ensure a healthy environment for the new residents. The White Pavilions settlement, for instance, consisted of twenty pavilions of reinforced concrete, each containing eight housing units (fig. 2). Each housing unit comprised

two rooms, a kitchen, and a restroom. Wastewater was collected in a large basin built at the foot of the hill, outside the quarter. A garden surrounded each pavilion, allowing the vegetation to protect the inner spaces from the summer heat. A purchase-lease system allowed the new residents to repay the price of their apartment over a period of fifteen years. For the French authorities and the High Commissioner for Refugees this first operation was particularly successful (une opération particulièrement heureuse) as it finally gave the refugees clean and comfortable dwellings.36 Visiting another settlement in 1929, a delegate of the ICRC, Suzanne Ferrière,37 refers to its «picturesque setting», admirably located on a hill. Fifty pavilions comprising two housing units each were erected here. Built with reinforced concrete, the pavilions were «guaranteed for fifty years without any reparation needed». Ferrière explains that, through a purchase-lease system, each family paid a monthly rent of 125 Syrian piasters (25 French francs) and thus became the owner of its apartment after ten years.38

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3  Mass plan, plan, and elevation of the Gullabachen settlement. Architect: Mardiros Altounian.

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The new quarters quickly became a development model for private landowners whose properties were adjacent to the new quarters. These owners subdivided their properties into plots that they sold to the refugees through the same purchaselease system.39 The official French discourse about the planned settlements clearly adopted new urban and architectural concepts circulating in Europe during the 1920s and 1930s, namely the principles of access to light, air, and sun, as well as the innovative concept of a spatial Existenzminimum for the poorest. They also promoted the new industrialised mass-production and pre-fabrication building techniques and reinforced concrete as a novel construction method, especially important since France was the main exporter of cement to the region. Between 1923 and 1930 consumption of imported cement had indeed increased five times in Lebanon and Syria,40 mainly due to the residential growth of the city to which the refugee settlements largely contributed. Encouraged by the French, local manufacturing started in 1931, irrevocably consecrating cement as an indispensable construction material. At the same time a first generation of design professionals – engineers, architects, and urban planners – formed in Europe and the United States as well as in local universities and was entrusted with the design of major buildings. Among these professionals were also Armenian refugees like the renowned architect Mardiros Altounian,41 designer of the settlement of Gullabachèn (figs. 3 and 4). These professionals relayed the modernist discourse while showing a concern for local architectural identity. In addition to the modernist discourse, French officials also incorporated elements of the colonial discourse developed in North Africa during the construction of social housing in cities like Algiers or Casablanca, often simplifying the needs and expectations of the local population by overstressing lifestyle and cultural differences. Leitmotivs circulated in official reports, highlighting what were considered personal traits of the «Armenian race»

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like hard work, parsimony, acquisitiveness, distrust towards other races, and the instinctive need to live in community.42 Nevertheless Armenians were considered as a strong added value to the French presence in Lebanon. It was therefore important «to anchor such an interesting element for the development of the territories under French Mandate».43 Finally the architecture planned for the refugees was also influenced by the French colonial experience. The use of purist white plasticity for The White Pavilions was yet another colonial construct imported from North Africa,44 since the white colour was not characteristic of Beirut’s architecture during this period. The refugees’ perception of the quarters as relayed by the French authorities and humanitarians seems to be different from the official discourse. At first the refugees were reluctant to move to strictly residential quarters, leaving behind the camps where they managed to locate both their residences and their work activities 45 and have access to facilities such as bakeries, groceries, and butcheries. The remote location of the new quarters on top of the Ashrafieh Hill was yet another difficulty, as the camps were located on a main commercial artery, the Beirut-Tripoli road.

4  The Gullabachen settlement in the 1930s.

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5  The White Pavilions in the 1930s with takht-s on the rooftops.

Furthermore the rigid plans of the settlements with their two-room apartments were not adapted to the size of all the families, while reinforced concrete did not offer sufficient climate protection, especially in the summer. Period photographs show diverse types of appropriation of these settlements by the new inhabitants, including the installation of traditional wooden structures named takht or chardakh on the rooftops of The White Pavilions (fig.  5). Shaped like big canopy beds, these structures allowed the residents to escape the summer heat inside their homes by spending their evenings and nights on the rooftop. They served as a meeting place for family, relatives, and friends as well as dining rooms and bedrooms for family members. The elevated platform of the takht isolated it from the heat of the rooftop, ensured the circulation

of fresh air, and protected users from crawling insects. Unknown to Beirut, takht-s marked the cityscapes of Anatolian cities like Adana, Marash, and Diyarbakir. The self-made quarters By 1929 the number of Armenian refugees in Lebanon had reached 40,000, with a large majority of them living in Beirut. Starting in 1930, with the world economic crisis of 1929 reaching Lebanon, the role of the French and Lebanese authorities progressively diminished while that of the Armenian charitable associations inversely grew. Motivated by the will of the community to create a new urban environment in which they would constitute a clear majority, and driven by the French Mandate authorities to form an independent electoral constituency committed to the

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6  The Nor Marash settlement.

French presence in Lebanon, the local and international Armenian associations decided to develop new quarters on the opposite side of the Beirut River, to the east, further outside the city. Unlike the hill of Ashrafieh, the chosen plots did not correspond to modernist criteria, as they consisted of swamps that needed to be drained. Their proximity to a main national commercial artery, the Beirut-Tripoli road, was considered a more important criterion.46 A particular solidarity network played a major role in the construction process of these new quarters: the Campatriotic Unions, which gathered together the former co-citizens of individual Armenian towns. Bound together by civic solidarity and, more concretely, by regular reviews, bulletins, and social activities, they collected considerable funds to help build the new settlements. Among

numerous examples are the Compatriotic Union of the citizens of Marash, which in 1930 bought a plot of 10,000 square meters to develop a NorMarash (or New Marash; fig. 6). Similar projects by the Compatriotic Unions of Hadjin, Sis, and Adana followed. By naming the new settlements after their lost hometowns, the Compatriotic Unions symbolically reconstituted the lost geographical space of the Armenians in the Ottoman Empire.47 Along with the residential quarters, these unions also helped establish a new set of Armenian institutions destined to cater for the material, cultural, and spiritual needs of the community. By creating these unions, the Armenian community seems again to have perpetuated the model of the Ottoman millet system, through which the community organised all aspects of its communal life by itself, without any support from the state.

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7  The Parcel 603 settlement.

Constructed after 1930, the new settlements created by the unions followed a different development model than the planned quarters as they were conceived and executed by their future owners. The role of the authorities and the central committee was reduced to ensuring the availability of credit and imposing a general master plan. As they were driven to build their own dwellings instead of standard apartments conceived by an architect, the commitment and motivation of the refugees in the financing, design, and execution of these quarters was much bigger.48 A first step toward this autonomous process was taken during the construction of the settlement of Gebaïli on the left side of the Beirut River, conceived for 400 families. Comparing the planned White Pavilions to the self-made dwellings of Gebaïli, French

humanitarians and officials, Burnier, Jude, and Lubet, write: As the first quarter, with its uniform buildings, gave too much the impression of a working-class quarter or even a military barrack, we allowed each one the liberty, within a general master plan, to modify the facade and the interior layout of their dwelling at their sole discretion. Generally, all the houses are constructed with concrete, solidly built, with multiple rooms, arranged according to the taste of the owner and prepared for the subsequent construction of a second floor. Lavatories were added to each house or each group of houses. With its large ventilated streets, its sidewalks, and the succession of its houses of various architectural styles and of various colours for the walls, the doors, and the windows, the new city amazes the visitors. They are pleasantly surprised by such a success, which is all to the praise of the Armenian craftsmen whose quality of work, persevering will, and ingenuity have been [here] brilliantly proven. 49

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The new quarters on the right side of the Beirut River marked a further step towards more autonomy in the construction process of the settlements. In Nor-Sis and Nor-Marash, the Central Committee merely gave recommendations concerning building materials, prohibiting for instance the use of wood and tin in order to compel the refugees to build solid and permanent dwellings. Traditional techniques were mixed with new ones: reinforced concrete structures cohabited with cut stone, imported iron retaining beams, and red roof tiles (fig. 7).50 Inner partitions were executed in the baghdādi style, popular in Anatolia. Consisting of a wooden structure covered by a coating made of plaster and straw, baghdādi partitions were low cost, strong against adverse weather conditions, resistant to earthquakes, and with their insulating air layer ensured protection from both heat and cold.51 The contribution of the refugees to the construction of their dwellings led to the creation of a new vernacular architecture made out of concrete. In contrast to the planned quarters, concrete was here used as an «artificial stone» that allowed the emulation of historical architectural styles through moulding and casting. Using personal photographs the refugees were able to easily reproduce architectural ornamentation reminiscent of their home cities, thus personalising their dwellings at low cost.52 For this they utilised their particular know-how in coppersmithing. As architect Robert Saliba notes, Armenian coppersmiths became quickly renowned in Beirut for low-relief ornamentation, realised through the placing of incised metallic sheets in the concrete mould.53 Public buildings (churches, schools, etc.) planned for these quarters were conceived, at first, in the image of, and given the names of, the public buildings of the lost hometown (fig. 8).54 Here again, postcards and personal photographs were used to great effect. In the Late Ottoman period, photography was already widespread in the empire and Armenian photographers largely dominated the field of photography in the major cities.55

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In conclusion, the desire of the French authorities to minimise the construction costs of planned settlements led them to involve the end users of the settlements in a process that would be called today participatory design. The hybridisation of architectural form and the proliferation of eclectic ornamentation fostered by the cement industry and concrete construction were far from being unique to the refugees. In fact this general trend pervaded domestic architecture everywhere, from Paris to Beirut, and epitomised the encounter between local cultures and international capitalism.56 In the case of refugees, though, this emulation was not a mere question of taste but a strong identity marker needed for the reconstruction of their identity. Their vernacular architecture can therefore be seen today as an «alternative voice» added to the largely obscured voices of the refugees, only heard through rare self-published autobiographies or handwritten accounts and letters in lost dialects. In 1938 the construction of the Armenian quarters, as planned by the League of Nations, officially came to an end. The Nansen International Office for Refugees, which had helped build up to 4,871 housing units at that date,57 was dissolved on 31 December 1938, its staff dismissed, and its archives

8  The Karassoun Manoug Armenian Apostolic Church of Nor Marash.

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deposited at the Crédit Foncier d’Algérie et de Tunisie. One month before, on 28 November 1938, the Sandjak of Alexandretta was ceded to Turkey and a new Armenian migratory wave arrived in Beirut, protracting the Armenian refugee crisis.58

Refiguring migration categories through the Armenian experience The history of the Armenian refugee settlements in Beirut, as discussed in this chapter, reveals the ideologies that were at work to reconstruct a lost home and identity for a population that had lost all its networks of relations as well as entire chapters of its collective history. The newly created quarters were purposefully conceived as spaces of identification, helping the community recover lost traditions, skills, and ways of living. A closer look at this process suggests that much of the reconstruction of what was lost was in fact a new construction, largely influenced by the complex political and social context of the French Mandate in Lebanon.59 This chapter has also shown how the novel interwar concepts of modern urban planning and architecture in Europe were applied to the settlements and where they failed. Beyond architecture, it tackled the issue of Modern European humanitarianism that first took shape in the modern Middle East. Its secular intergovernmental institutions were meant to replace the missionarybased welfare of the 19th century, but the confrontation of French political interests with those of the Lebanese communities finally drove these new structures to follow the sectarian and ethnic lines of the Late Ottoman period. In their divideand-conquer politics in Lebanon, the French transformed the Armenian community into yet another minority that needed their protection. The vulnerable situation in which the Armenian refugees stood facilitated this transformation. The recurrent question that the Armenians asked the French authorities, about what would happen to them when the French Mandate came to an end, is very

enlightening in this regard.60 The answer of the French was clear through the consociational system of government implemented in Lebanon in the wake of the mandate. The refugees’ settlements are a physical manifestation of this complex political context in an urban space. The multifaceted concept of modernity in politics, economy, industry, humanitarianism, and architecture, as manifested in these settlements, therefore seems unsettled, if not unsettling. Nevertheless scholars unanimously agree today in judging the integration of the Armenian community in Lebanon to have been successful.61 Contemporary history clearly proves the success of the Armenian community in creating for itself a permanent space and a distinct cultural place among the other ethno-religious groups in Lebanon. As pointed out above, the reason for this success is not only to be looked for in the hard work and perseverance of the Armenians, but also in the Ottoman millet concept. Discriminatory under Ottoman rule, this concept helped accelerate the resettlement of the Armenians in their new homelands as they were used to counting on themselves instead of counting on the state. Be it for political, economic, or confessional reasons, the relative autonomy granted by the French helped the Armenian population in Beirut better integrate into the life of the city. This autonomy ultimately questions preconceived labels attributed to refugee crises in the world today, for instance, the notions of «reliance», «passivity», and «acquiescence». It is therefore possible, through the Armenian case study, to suggest alternative categories for contemporary refugee crises such as the following: the narrow limits of institutional state welfare; the importance of informal solidarity networks among refugees; the positive consequences of the valorisation of past life experiences; and the crucial role of resilience and self-determination in the restoration of a human being, the provision of his fundamental rights, and his reconnection with a new community.

Unsettled Modernities

The troubled history of modern Lebanon has led to a cascading series of migratory crises of which the Armenian crisis was a mere beginning. In the wake of the Israeli-Palestinian conflict, thousands of Palestinian refugees sought shelter in Beirut. They were followed by Lebanese Shias fleeing conflicts in southern Lebanon and Kurds escaping from northeastern Syria and eastern Turkey. Ironically, these populations were accommodated in camps located exactly where the Armenian camps stood half a century earlier. An important number of these families were later relocated to several Armenian quarters left empty after an important wave of Armenian migration to Soviet Armenia in the fifties, and to Europe and North America during the Lebanon war (1975–90). The quarters were therefore continuously extended and readapted to meet the needs of their new inhabitants, thus questioning the notions of «temporariness» and «predictability» often attributed to refugee crises (fig. 9). Conceived to be at the periphery of the city, the Armenian settlements now stand in the centre of developing quarters, for instance, in the case of Nor-Hadjin, trapped in the middle of an ongoing gentrification process. While most of the city’s precious architectural heritage is being daily razed by bulldozers, it is improbable that the humble refugees settlements will be soon recognised as

part of the national heritage. Nevertheless the settlements remain to this day Lebanon’s only experience in social housing in its modern history and, above all, they mark the reconstructed/reinvented identity of a community that has since long found its place among the many other Lebanese communities.

1 See Greenshields 1978, and, more recently, Kochuyt 2004; Kévorkian et al. 2007; Migliorino 2008; and Boudjikanian 2009. 2 Migliorino 2008, 45. 3 Fawaz 2016. 4 On Late Ottoman Beirut see, among others, Davie 2001 and Hanssen 2005. 5 Around 21,000 Armenian refugees fled from Cilicia to Beirut in 1922. Armenian families with better living conditions fled to Egypt and Cyprus (Duguet 1927, 300). 6 Duguet 1927, 310. 7 Eddé 2007, 191–95. 8 Burnier Report, 1. 9 Tachjian 2007, 119.

10 Poidebard 1926, 17. 11 While Beirut’s mild climate allowed these light constructions, houses in Aleppo’s camps were built with sun dried mud bricks (Burnier Report, 1). 12 Ferrière 1930, 10. 13 Poidebard 1926, 17. 14 Jude et al. 1932, 4. 15 Duguet 1927, 311. 16 On urban planning in French Mandate Beirut see Ghorayeb 2014. 17 For instance, in Aleppo where many refugees were weavers, around 8,500 families worked on 2,000 weaving looms (Duguet 1927, 309). 18 Poidebard 1926, 17.

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9  The White Pavilions today.

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Joseph Rustom

19 See, for instance, Al-Ma‘rad, 14 October 1923 and Lisān al-Hāl for the month of March 1925. This animosity mostly came from Lebanese nationalists who saw in the integration of the Armenian refugees a consolidation of the French presence in Lebanon (Eddé 2007). 20 Poidebard 1926, 18. 21 Poidebard 1926, 17. 22 Burnier 1928, 402. 23 It was afterwards decided to locate agricultural settlements near Christian, Kurdish, or Circassian populations, considered more likely to accept the presence of the Armenians (Burnier et al. 1932, 5). 24 Duguet 1927, 311. 25 Watenpough 2016. 26 Tachjian 2007, 132. 27 Poidebard 1926, 19–22. 28 Western proselytisation accompanied these welfare structures, as the internal correspondence of the missions shows. 29 Tachjian 2007, 132. 30 Seminal work on these settlements has been done by the historian Vahé Tachjian. See, for instance, Tachjian 2007. 31 Werner 1933, 401–03. 32 Werner 1933, 403. 33 Tachjian 2007, 133. 34 Today called al-Kamp al-Abiad. 35 Jude et al. 1932, 2. 36 Jude et al. 1932, 3. 37 Suzanne Ferrière was a member of the ICRC and the niece of Frédéric Ferrière, vice-president of the ICRC. 38 The average wage of a worker was 50 Syrian piasters (Poidebard 1926, 17). 39 Burnier Report, 2. 40 Saliba 1998, 22. 41 Collective experiences of migration often overshadow individual experiences. The migration paths of individuals like Mardiros Altounian (1889–1958) allow us to examine Armenian migration in a new light. Appointed Architect of the Ministry of Public Works under the French Mandate, Altounian quickly became one of the most successful architects of the period. He conceived many iconic monuments for the nascent Lebanese republic, including the Lebanese Parliament (1934), several places of worship for Christian and Muslim communities, and numerous residential projects, often in an eclectic local art deco style. He is also the architect of the first residential rental property in Lebanon, the Jabre building in Mar Mikhael, built following the French HBM (habitations à bon marché) model. He conceived several projects for the Armenian community, including the Gullabachèn settlement (1933), which consisted of 154 housing units spread over 21 blocks. Each dwelling included two housing units and a garden. An additional block comprised twenty shops and three floors of smaller apartments, destined for the most deprived persons of the community. Altounian’s career was largely supported by Christian Libanist politicians

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and businessmen, among them the billionaire philanthropist Charles Corm. Burnier 1928, 402. Jude et al. 1932, 4. On urban projects and colonialism in Algiers see Çelik 1997. Burnier Report, 2. The new inhabitants quickly profited from this new location by creating shops on the periphery of the quarters designed to cater for the Lebanese. For instance the NorHadjin settlement had an inner souk for the quarter’s inhabitants and an outer one for external customers: Antranik Dakessian (Director of the Armenian Diaspora Research Center at the Haigazian University) in discussion with the author, October 2016. More rarely the quarters took the names of the benefactors who helped erect them: for instance the settlement of Gullabachèn, named after Gullabi Gulbenkian whose New-York-based foundation funded the project (Tachjian 2007, 136). During the Lebanon war, Lebanese displaced populations also used the names of their lost villages to refer to their temporary settlements in the city. See for instance Rustom 2013, 241. Jude et al. 1932, 3. Jude et al. 1932, 2–3. Jude et al. 1932, 3–4. Jude et al. 1932, 3. A recent study of the Camp of al-Azraq for Syrian refugees in Jordan shows how they used personal photographs to reconstruct their homes. See Doraï and PiraudFournet 2018. Saliba 1998, 21. Progressively the Armenian religious communities in Lebanon distanced themselves from the religious architecture of their hometowns in Asia Minor and replicated the medieval Armenian architecture of the Caucasus, such as the cathedrals of Ani, Etchmiadzin, and Zvartnots. This redefinition of a «pure» Armenian religious architecture in the diaspora was largely fostered by the archaeological and historical research of Nicholas Marr, Toros Toramanian, and Josef Strzygowski. One of the first examples of this architecture is the Armenian Cathedral of Saint John the Baptist in Paris, conceived by French architect Albert-Désiré Guilbert and inaugurated in 1904. The official photographers of the Sultan were more often than not Armenian, like the brothers Abdullah. Armenians also operated some of the early photography schools, the most famous one being the School of the Patriarch Garabedian in Jerusalem. On the history of photography in the Ottoman Empire see Çelik / Eldem 2015. Saliba 1998, 29. Burnier Report, annex. Burnier Report, 3. See also Migliorino 2008, 46. Werner 1933, 404–05. See, for instance, Kochuyt 2004 and Migliorino 2008.

Unsettled Modernities

Altounian 1997 A. M. Altounian: A la recherche du temps retrouvé avec mon père: L‘architecte Mardiros Altounian (Beirut 1997).

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Kévorkian et al. 2007 R. H. Kévorkian / L. Nordiguian / V. Tachjian (eds.): Les Armé­ niens, 1917–1939: la quête d‘un refuge (Beirut 2007).

Burnier Report Rapport Burnier: Installation des arméniens en Syrie et au Liban de 1920 à 1946, Bibliothèque Orientale, Archives Poidebard. Boudjikanian 2009 A. Boudjikanian (ed.): Armenians of Lebanon: From Past Princesses and Refugees to Present-Day Community (Beirut 2009). Çelik 1997 Z. Çelik: Urban forms and colonial confrontations. Algiers under French rule (Berkeley, Los Angeles, London 1997). Çelik / Eldem 2015 Z. Çelik / E. Eldem (eds.): Camera Ottomana: Photography and Modernity in the Ottoman Empire, 1840–1914 (Istanbul 2015). Davie 2001 M. Davie. Beyrouth 1825–1975. Un siècle et demi d’urbanisme (Beirut 2001). Doraï / Piraud-Fournet 2018 K. Doraï / P. Piraud-Fournet: Self-Settlement of Syrian Refugees in Northern Jordan: a comparative study of Zaatari Refugee Camp and Azraq City, Structures of Protection: Rethinking Refugee Shelter (Oxford 2018). Duguet 1927 Duguet: La situation des réfugiés au Liban et en Syrie, Revue Internationale de la Croix-Rouge 9 (101), 1927, 299–314. Eddé 2007 C. Eddé: Beyrouth face à l‘établissement des réfugiés arméniens pendant les années 1920 : les limites de l‘hospitalité, in: Kévorkian et al. 2007, 185–197. Fawaz 2016 M. Fawaz: Unsettling the «Refugee Crisis»: Notes from Beirut; International Journal of Urban and Regional Research, Spotlight On: The Urban Refugee ‹Crisis›: Reflections on Cities, Citizenship, and the Displaced (online, 2016). http://www. ijurr.org/wp-content/uploads/2016/11/Refugee-SpotlightUnsettling-the-22Refugee-Crisis22-Fawaz.pdf (14.5.2017).

Kochuyt 2004 T. Kochuyt: Nous nous occupons de nos affaires: Une étude sociologique sur l‘enclave économique de Bourj-Hammoud et le fonctionnement de son marché de l‘emploi, Annales de sociologie et d‘anthropologie (Beirut 2004). Migliorino 2008 N. Migliorino: (Re)constructing Armenia in Lebanon and Syria: ethno-cultural diversity and the state in the aftermath of a refugee crisis, Studies in forced migration (New York 2008). Poidebard 1926 R. P. Poidebard: La Mission française des camps arméniens de Beyrouth. Revue Internationale de la Croix-Rouge 8 (85), 1926, 16–22. Rustom 2013 J. Rustom: Multireligious Societies and the Right to the City: The Case of the Mosque of al-Khandaq al-Ghamiq in Beirut, in: J. Becker / K. Klingan / S. Lanz / K. Wildner (eds.): Global Prayers: Contemporary Manifestations of the Religious in the City (Zürich 2013) 226–243. Saliba 1998 R. Saliba: Beirut 1920–1940. Domestic Architecture Between Tradition and Modernity (Beirut 1998). Tachjian 2007 V. Tachjian: Des camps de réfugiés aux quartiers urbains: Processus et enjeux, in: Kévorkian et al. 2007, 112–145. Watenpaugh 2016 K.  D. Watenpaugh: The Drowned, the Saved, and the Forgotten: Genocide Survivors and Modern Humanitarianism, International Journal of Middle East Studies (48), 2016, 367– 371. Werner 1933 G. Werner: Visite aux réfugiés arméniens établis en Syrie et au Liban, Revue Internationale de la Croix-Rouge 15 (173), 1933, 395–405.

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, 3–8 1 Bnu Collection. 2 Oriental Library of the Saint Joseph University. 9 J. Rustom.

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Typologie einer Remigrationsarchitektur Arbeitsmigration und ihr Einfluss auf die Vorstellung vom Eigenheim türkisch-deutscher Bauherren Stefanie Bürkle

Anfang der 1960er Jahre kamen die ersten türkischen Arbeitsmigranten, damals Gastarbeiter genannt, nach Deutschland. Aus der anfänglichen Gewissheit, nur für einen begrenzten Zeitraum in Deutschland zu leben und zu arbeiten, entwickelt sich in den Jahren der Stabilisierung des Aufenthalts, mit dem Zuzug der Familie und der Geburt der Kinder in Deutschland zunehmend eine Projektion als Gegenbild zur Lebenswirklichkeit in Deutschland.1 Hämmig spricht in seiner Analyse zu den Lebenswelten der türkeistämmigen zweiten Generation in der Schweiz von einer »Rückkehr­ illusion«, die ein Wunsch- und Gegenbild zu den Widersprüchen des Alltags, der abweichenden Erfahrungswelt der eigenen Kinder und innerfamiliären Konflikten darstellt.2 Sie allein als Resultat einer gesellschaftlichen Marginalisierung und somit als Bewältigungsstrategie zu interpretieren, greift sicherlich zu kurz. Sie steht eher im Zusammenhang mit einem identitätsbildenden Prozess, der das Bild der eigenen Heimat dem Bild der Fremdheit in Deutschland und Befremdung durch ein Deutschsein gegenüberstellt. Vor dem Hintergrund der unsicheren politischen Lage in der Türkei der 1970er und 1980er Jahre, nachdem Familien nachgeholt und Nachkommen geboren wurden, war Deutschland vom zeitlich begrenzten Aufenthaltsort zum dauerhaften Lebensort geworden, ohne dass die Rückkehrillusion als Verortungsstrategie aufgegeben wurde. Im Rahmen des Projekts »Migration von Räumen, Architektur und Identität im Kontext türkischer Remigration«3 wurden über einen Zeitraum von vier Jahren (2012–2015) die gestalterischen und

räumlichen Merkmale der von Rückkehrern oder Pendelmigranten in der Türkei gebauten Häuser untersucht. Auf insgesamt acht Feld­forschungs­ reisen wurden zwanzig türkische Provinzen besucht, um in der Analyse der Baukultur der Rückwanderer Rückschlüsse auf die Kontinuität und den Wandel in ihren Lebensweisen zu ziehen. Dafür wurden 132 Häuser und Wohnungen in der Türkei – auch in ihren städtebaulichen Kontexten – kartiert, untersucht und dokumentiert und insgesamt 37 Interviews mit Besitzern von 23 Häusern und 14 Wohnungen geführt. Dabei zeichneten sich schnell drei Haupttypen des Rückkehrerhauses ab: das Vorbild-Haus, das Zweiteile-Haus und das Mehrschicht-Haus. Diese werden im Folgenden auf Grundlage ihrer architektonischen Bauelemente, Besonderheiten und Materialien beschrieben und erläutert. Eine These dabei ist, dass Migration nicht allein eine Bewegung von Menschen, sondern auch ihrer Räume bedeutet. Es wurde auch der Frage nachgegangen, inwiefern beim Hausbau eigene Vorstellungen und Ideen umgesetzt werden, die sich sowohl aus der gelebten Zeit im Aufnahme­ land einerseits als auch aus dem Herkunfts­ land andererseits konstituieren. Ebenso wurden Auswirkungen auf das städtebauliche und nachbarschaftliche Umfeld untersucht. Die mit qualitativen Interviews und empirischen Methoden der visuellen Feldforschung erhobenen Daten wurden unter raumtheoretischen und soziologischen Aspekten analysiert. Die vorgefundenen Eigenheime, die alle im Kontext türkischer Remigration und translokaler

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Stefanie Bürkle

Verbindungen und Kulturerfahrungen türkischdeutscher Bauherren als Architektur ohne Architekten entstanden, wurden visuell foto- und videografisch dokumentiert. In den Inter­views wurden die Hypothesen hinterfragt. Auch Häuser von Rück­wanderern aus der Schweiz, Australien, Belgien oder aus den Nieder­landen wurden dokumentiert. Auch diese setzen sich erheblich von ihrem jeweiligen türkischen städte­ baulichen Umfeld ab und bestätigen so die Hypo­these hinsichtlich der Sichtbarkeit und Existenz von Remigra­tions­ architektur, sind aber nicht Bestandteil der weiteren Untersuchung. In der Untersuchung zu den Raum­vor­stel­ lungen und Bauwerken von türkischen Remigranten werden unterschiedliche soziale und räumliche Erfahrungen sichtbar, die sich auf Ankommen und Leben im Aufnahmeland, Besuchen im Herkunfts­ land und aus Erinnerungen an die Heimat vor dem Verlassen zurückführen lassen. Die Erfahrungen in unterschiedlichen sozialen und räumlichen Welten sind einem fortwährenden Wandel ausgesetzt. Sie beeinflussen in unterschiedlichem Ausmaß die Vorstellungen von der Gestalt des Hauses, das als Lebensmittelpunkt ein »subjektives Reich der Identität [als] hauptsächliche[r] Halt des Individuums in der Wirklichkeit«4 bildet. Als umbauter Raum bildet das Haus somit die materielle Grenze zwischen den sich wandelnden Lebenswelten und dem eigenen Selbstverständnis. Beide Raumvorstellungen beeinflussen sich wechselseitig. In der Untersuchung ist der Raum selbst Forschungsgegenstand.

Migration von Räumen Wird der Raum in Bezug zu gesellschaftlichen Prozessen – also zur Migration – gesetzt, kann von einer »Migration von Räumen« gesprochen werden. Der Raum­bil­dungs­prozess selbst wird als eine gestalterische Transformation und Translation von Raum­bildern aus Herkunfts- und Auf­nahme­land verstanden. In einem Prozess der Selbst­klassifikation5

werden von den Remigranten Raumvorstellungen integriert und migriert. »Identität markiert die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem«, wie es C. Bauhardt 2004 ausdrückt.6 Nicht nur Menschen, sondern auch Räume und Bilder wandern.7 Um den wechsel­seitigen Einfluss der beiden Kategorien zu betrachten, wird auf den relationalen Raumbegriff der Geografie und Soziologie8 Bezug genommen. Raum konstituiert sich demnach in der Verbindung aus physisch-materiellen Gegebenheiten und sozialen Handlungen. So ist für den Soziologen und Philosophen Michel de Certeau der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht.9 Die geometrisch festgelegte Straße wird erst durch die Gehenden in einen Raum verwandelt. In ähnlicher Weise beschreibt Martina Löw den Raum »als relationale (An)Ordnung von Körpern, welche unaufhörlich in Bewegung sind, wodurch sich die (An)Ordnungen selbst ständig verändern.«10 Dieser Blickwinkel ermöglicht es, die materiellen Eigenschaften der Orte in ein Verhältnis zu den Möglichkeiten der Nutzung und Vereinnahmung zu setzen. Menschen identifizieren sich in dem Maße mit der Umwelt, wie sie die Entwicklung der eigenen Person, der eigenen Identität fördert.11 In der Gruppe der Remigranten formen baulichgestalterische Faktoren auf Grundlage räumlichästhetischer Erfahrungen im Herkunfts- und Auf­ nahme­land die Identifikation mit der Umwelt. Es wäre verfehlt, von nationalen Identitäten zu sprechen oder eine Identität im Verhältnis zur Herkunfts- und Aufnahmekultur festlegen zu wollen. Nationalstaatliche Grenzen sind nicht mit kulturellen Grenzen deckungsgleich. Die lokale Lebens­situation der Migranten im Herkunftsland und die Lebens­ wirklichkeit im Aufnahmeland scheinen einen relevanteren Einfluss zu haben als ein generalisierendes Kulturverständnis auf der Makro­ebene.12 Andererseits erfordert das Projekt ein Ver­ ständnis der gesellschaftlichen und ökonomischen Verbindungen von Herkunfts- und Auf­nahme­land der Migranten. Hier setzt die Trans­nationalismus­ debatte an: Dabei werden die Zugehörigkeiten

Typologie einer Remigrationsarchitektur

der Migranten nicht mehr in Abhängigkeit eines national verstandenen Gesell­schafts­begriffes gefasst. Vielmehr wird Rückkehr- bzw. Pendel­ migration als Teil eines zirkulären Systems sozialer und wirtschaftlicher Beziehungen jenseits national­staatlicher Grenzen erklärt. Das Projekt folgt der Trans­ nationalismus­ forschung in seiner Prämisse, dass Trans­ migration durch den Bezugs­rahmen der beiden National­staaten – hier Türkei und Deutschland – geprägt ist. So bilden die Lebensräume der Migranten nicht nur eine Extension der Herkunfts­ gemeinden, sondern formen eine eigene Lebensweise.13 Zusätzlich stellt die »kritische Migrations­forschung«14 einen theore­tischen Ansatz bereit, der die Flexibilität und die Kontextualität kultureller Identitäten erklärt. Identität wird hier als dynamische Größe verstanden, die situations­spezifisch verhandelt wird.15 Diese Konzeption bietet einen Bezugs­rahmen für unser Projekt, da sie erklärt, wie Migranten in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, so auch bei der Gestaltung und Nutzung ihres Wohn- und Lebensraums, ihr Verhalten anhand der Rollen­ erwartungen im jeweiligen Kontext ausrichten.16 Im Sinne Anthony Giddens‘ wird Identität als ein dynamisches Geflecht von bewussten und unbewussten Verhaltensweisen ebenso wie als eine Reflexion darüber in einem sozialen Umfeld verstanden.17 Das soziale Umfeld ist lokal verortbar, eben durch Migrations- und Remigration­s­ erfahrungen. Andererseits wirkt eine erweiterte, mediatisierte Umwelt, die sich global vernetzt. Angesichts der großen Mobilität infolge der Globalisierung und extremen Beschleunigung von Kommunikation aufgrund digitaler Vernetzung im virtuellen Raum gewinnt der greifbare »reale« Raum wieder zunehmend an Bedeutung – zum einen als ein Refugium des Individuums für seine Selbstverortung und zum anderen als städtischer Raum zur Identifizierung mit Gesellschaft und Stadt, selbst wenn »mit Hilfe der Internetmedien soziale Räume unabhängig vom physischen Raum entstehen«18. So können »Entortung« und »Verortung« als zwei ineinander verschränkte

Bewegungen verstanden werden, die nicht etwa gegenläufig sind. Vielmehr bedingen sie sich gegenseitig, da der als Verlust des physischen Raums erlebte Prozess neue Raumbezüge schafft,19 die jenseits des realen Herkunftsortes soziale Örtlichkeiten herstellen. Auch im Sinne partikularer Sicherheit scheint Raum als Immobilie im konkreten Austausch von Geld gegen Raum angesichts globaler Finanzkrisen mehr denn je vom Spekulationsobjekt zum Garant für die eigene Existenz zu werden.20 Im Folgenden kann gezeigt werden, dass sich diese Fähigkeiten in vergleichbarer Form, aber mit veränderten Deutungsschemata, auch bei der Gruppe der Remigranten finden lassen. Sichtbar werden die Identitäten durch die Bauwerke der Remigranten in den Herkunftsländern. Um die Identitäten lesbar zu machen, sind die Bauwerke im ersten Schritt genauer einzuordnen. Zunächst sind die Häuser der Remigranten Architektur ohne Architekten. Ein Auswahlkriterium bei der Suche nach Gesprächspartnern war die fehlende Profession für den Bau von Häusern, denn es sollten nicht die Architektur von remigrierten Architekten, sondern von Remigranten selbst entworfene oder sogar selbst gebaute Häuser untersucht werden. Keiner der Gesprächspartner ist daher ein Experte. Er ist kein Architekt, kein Gestalter oder Bauingenieur: »Architecture Without Architects [Hervorhebung im Original] attempts to break down our narrow concepts of the art of building by introducing the unfamiliar world of nonpedigreed architecture.«21 Zur Unterscheidung ist das Untersuchungsfeld ebenfalls abzugrenzen von Architektur, die Migranten im Aufnahmeland bauen und die meist Gestaltungselemente und Raumnutzungen aus dem Herkunftsland adaptieren oder Baukörper von dort in das Aufnahmeland migrieren. Untersuchungsgegenstand sind also nicht expat-towns oder die ethnopolis22 der türkischen Migranten in deutschen Metropolen, sondern jene von Remigranten in der Türkei. Es wird im Folgenden anhand konkreter Fall­ beispiele dargestellt, dass einige Charakteristika

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auch auf die Häuser von Remigranten in der Türkei zutreffen, sodass zum Teil auch hier von expat-towns gesprochen werden kann, nur dass hier ein doppeltes »expat« vorzufinden ist. Die Remigranten können nicht zu der Zeit zurückkehren, in der sie weggegangen sind. Sie haben unterschiedliche Inkorporationsstrategien und Verortungspraxen entwickelt.23 Sie kehren häufig auch nicht an den Ort ihrer Herkunft zurück. Auch in diesem Sinne stellen die Bauwerke Hybride dar. Zum einen tragen sie Eigenschaften einer Architektur von Migranten als eine Transformation von Räumen, zum anderen aber auch können sie als einheimische Architektur der Remigranten im Herkunftsland, also als vernacular architecture begriffen werden. »Vernacular architecture comprises the dwellings and all other buildings of the people. Related to their environmental contexts and available resources, they are customarily owner- or community-built, utilizing traditional technologies. All forms of vernacular architecture are built to meet specific needs, accomodating the value, economies and ways of living of the culture that produce them.«24 Diese sehr allgemeine Definition der vernacular architecture beschreibt den Unter­ suchungs­ gegen­ stand, grenzt ihn aber auch ab. Da die Häuser der Remigranten zwar nicht immer durch den Bauherren persönlich gebaut werden, aber immer in dessen persönlichem Namen und Auftrag durch Unternehmen oder Einzelpersonen vor Ort, trifft diese Eigenschaft nur begrenzt zu und vermittelt mehr die Vorstellung einer tradierten Bauweise unter Nutzung lokaler Ressourcen. In diesem Zusammenhang ist der Untersuchungsgegenstand ebenfalls vom Begriff der informellen Architektur abzugrenzen. Dieser dient vornehmlich als begriffliche Substitution für wertende oder anderweitig attribuierende Bezeichnungen wie Slum, oder im Fall der Türkei dem Gecekondu, und subsummiert einzelne Häuser oder Siedlungsstrukturen, die nicht auf der Basis formaler ökonomischer Beziehungen wie Kauf oder Pacht beruhen. 25 Das

wesentliche Merkmal informeller Architektur stellen die grundlegenden gesellschaftlichen Austauschbeziehungen dar, Rice spricht von »social practices, biological agents, natural entities and political action«26. In diesem Sinne sind die Häuser der Remigranten als formale Architektur zu verstehen. Auch das Merkmal der Nutzung traditioneller Techniken muss daher relativiert oder besser neu gefasst werden, denn statt »traditionell« wäre hier der Terminus »vor Ort üblich« angebracht, um sich nicht allein auf die wenigen Beispiele zu beschränken, die willentlich auf traditionelle, aber lokal nicht mehr übliche Bauweisen des Herkunftslandes zurückgreifen. »Vernacular« steht also weniger für eine allgemeine kulturelle Identität, sondern für einen zeitgenössischen Identitätsbegriff der Verortung, um das Wechselverhältnis von Identität und Architektur genauer zu beschreiben. Das Fehlen eines professionellen, also auch intentionalen Ge­stal­tungs­kon­zepts lässt die Architektur »lesbar« werden, da unterschiedliche Rollenbilder und Raum­ vorstellungen in Umbauten ihren bewussten und unbewussten Ausdruck finden und nicht allein eine repräsentative Funktion, oder wie es Henry Glassie ausdrückt: »We call buildings ›vernacular‹ because they embody values alien to those cherished in the academy.«27 Die Beschreibung einer vernacular architecture erlaubt die Analyse der Bedeutung von äußerer Gestalt und innerer Form, um daraus Aussagen über die Identität des Bauherrn als desjenigen, der sie entwirft, und seiner Beziehung zum sozialen Umfeld abzuleiten. Dabei spielen die offensichtlichen Funktionen und Raumzuweisungen weniger eine Rolle als Bilder und Vorstellungen. In Anlehnung an Amos Rapoports Verständnis28, dass Architektur als Ausdruck kultureller Identität in einem Wechselverhältnis zwischen Ausdruck und Eindruck von Kultur und Architektur steht, kann bei den Bauwerken von Remigranten von einer Wechselbeziehung zwischen (Migrations-) Biografie und umbautem Raum ausgegangen werden, die lesbar ist.

Typologie einer Remigrationsarchitektur

Im deutschen Sprachgebrauch hat sich – aus naheliegenden, hier nicht weiter ausgeführten Gründen – für Bernard Rudofskys Begriff der vernacular architecture nicht die wortwörtliche Übersetzung »Einheimische Architektur« im Gegensatz zu einer »Reinrassigen Architektur« von Architekten, der pedigreed architecture, durchgesetzt. Stattdessen wird von einer »Anonymen Architektur« gesprochen, wenn von Architektur ohne Architekten die Rede ist. Hier wird im Sprachgebrauch das Werkhafte, also das »Fürmich« der Repräsentation betont. 29 In diesem Sinne kann ein Nicht-Architekt auch kein Werk im Sinne eines über sich selbst hinausweisenden Zeichens schaffen, sondern lediglich ein Bauwerk – oder, wie es Julius Posener nennt: ein Gehäuse. Diese Gehäuse sind aber nicht anonym, sondern im höchsten Maße persönlich, individuell und eben sichtbare Gestalt der Identität des Bauherrn. Ganz im Gegenteil ließen sich zahlreiche Bauwerke, die von Architekten für mehr oder weniger persönlich definierbare Auftraggeber geplant wurden, wie Investorengruppen oder Projekt­planer, als anonyme, nicht-persönliche, gesichts­lose Architektur bezeichnen. Das Persönliche der »Anonymen Architektur« beschreibt auch Posener: Sie benutzten dabei die Materialien und Techniken, welche jeweils zur Verfügung standen. Sie entsprechen also genau den gesellschaftlichen Bedingungen Gebrauch, Material, Produktions­weise und noch einer anderen gesellschaftlichen Bedingung: der Stellung des Hausherrn in der Gesellschaft und dem Wunsch, den er hat – oder dem Zwang, der ihn gebietet – diese Stellung in der Gestalt seines Hauses zum Ausdruck zu bringen.30

Statt die Häuser der türkischen Remigranten als »Anonyme Architektur« zu bezeichnen, wird sie hier als eine »Homonyme Architektur« definiert, in der Identität durch Architektur entsteht und sich im Gehäuse das Subjekt verbirgt. Von den jeweiligen Häusern mit Grundstücken oder Wohnungen konnten Aufnahmen sowohl der Innenräume als auch der Außenbereiche wie Garten, Grundstück, Fassade und von den umliegenden Häusern in der Nachbarschaft gemacht werden.

Die Rolle des Hausbaus im Kontext der Rückkehr Immobilienbesitz ist in der Türkei weit verbreitet. Zum Zensus 1990 lebten im ländlichen Raum fast ⁹⁄₁₀ (89,3 %) aller Haushalte im eigenen Haus. In den Städten waren es immerhin noch mehr als die Hälfte (58,9 %) der Haushalte (Mittel aus urban und rural 70,2 %). Zehn Jahre später zum Zensus 2000 waren es auf dem Land noch 86,7 % und in der Stadt wuchs der Anteil derjenigen Haushalte, die in der eigenen Immobilie lebten, um fast einen Prozentpunkt auf 59,8 % (Mittel: 68,3 %). 31 Mit dem Zensus 2011 bestätigt sich diese Tendenz deutlich, im Mittel sinkt der Anteil der Haushalte im eigenen Immobilienbesitz auf 67,3 % und reicht von 59,5 % in Gaziantep bis zu 84,3 % in Ardahan. 32 Dies verweist nicht nur auf die ungebrochene Landflucht in der Türkei, sondern auch auf eine erstarkende bürgerlich-städtische Mittelschicht. Der Immobilienbesitz auf dem Land ist gerade für die türkischen Arbeitsmigranten in Deutschland durchaus üblich und im Lebensalltag der dörflichen Gemeinschaften verwurzelt. Dabei spielt auch der gesellschaftliche Druck eine große Rolle: »Wer in der Türkei Wohneigentum besitzt, wurde als ›gemachter Mann‹ akzeptiert.«33 Sowohl die Wohnsituation (Raumbildung als realisierter Lebensraum) als auch die Wohnwünsche (Raumbilder als projizierter Lebens­raum) werden durch Migrationsprozesse beeinflusst. Wohneigentum spielt bei türkischen Migranten eine große Rolle. Dies wird umso deutlicher, wenn die durchschnittliche Haushaltsgröße in der Türkei zum Zeitraum der Migration nach Deutschland in Betracht gezogen wird. 1965 lebten durchschnittlich 5,67 Personen in einem Haushalt, 1970 waren es 5,69 Personen, 1975 5,78 Personen und 1980 5,25 Personen. 34 Heute sind die Haushaltsgrößen regional sehr unterschiedlich und reichen von 7,6 Personen in Şırnak und 7,2 in Hakkari bis zu 2,2 Personen in Çanakkale oder 2,8 in Balıkesir. Der Durchschnitt

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betrug zum Zensus 2011 3,8 Personen bei 3,5 Räumen. 35 Das eigene Haus zu besitzen ist ein weit verbreiteter Wunsch. Er war es v. a. für die erste Generation damals junger, männlicher Migranten, denen er als zu gebendes Versprechen an die Familie vor der Migration nach Deutschland mitgegeben wurde. Der Aufenthalt eines Arbeits­ migranten in Deutschland in zunächst sehr einfachen Wohnunterkünften ohne Familie verstärkte den Wunsch nach den eigenen vier Wänden. Die im Verhältnis zum Herkunftsland ungewohnten städtebaulichen und sozialräumlichen Kontexte in den industriell geprägten, städtischen Zielorten in Deutschland motivierten im Folgenden, Erspartes in den Hausbau in der Türkei zu investieren. Mit der Idee von der Rückkehr im Kopf wurden Investitionen in Immobilien in der Türkei getätigt. Oft entsteht in diesem Zusammenhang eine Diskrepanz zwischen der Lebensweise und Wohn­ qualität in Deutschland und der Türkei: Erwirtschaftetes Geld wird hauptsächlich in Wohn­ eigentum in der Türkei investiert, während der Lebensstandard in Deutschland gleichzeitig niedrig bleibt.36 Die wachsende Bindung der Migranten an Deutschland bedingt jedoch eine Veränderung des Kauf­interesses: Migranten erwerben verstärkt Eigentum in Deutschland37 und kaufen zunehmend Ferienhäuser in der Türkei. Oftmals sind diese, früher ausschließlich genos­sen­schaftlich finanzierten, sog. »Siteler« (Farb­ tafel V, 277  o.) räumlich organisiert wie gated communities und gleichen damit strukturell den global austausch­ baren touristischen Ferienk­omplexen an der Küste. Der individuelle Gestaltungs­ spielraum der Wohnungs­ käufer beschränkt sich dort auf die Innen­einrichtungen. Unsere Interview­partner berichteten häufig auch von Umbauten. So entfernte Kemal Usta38 aus der Stadt­wohnung in Mersin in einer Site nicht nur eine Wand, um Küche und Wohnzimmer zu einem einzigen Raum zu vergrößern, sondern setzte sogar ein boden­tiefes Fenster ein, um von der Küche aus einen Meerblick zu haben.

Feldforschung Türkei Im Verlauf der Feldforschungen wurden rurale Landschaften bereist, die beständigen Prozessen der Urbanisierung unterworfen sind. Regionale Unterschiede der Baukulturen in Abhängigkeit von zur Verfügung stehenden örtlichen Bau­ materialien waren dabei durchaus erkennbar. An der Schwarzmeerküste mit ihren bewaldeten Gebirgszügen im Hinterland wird bspw. mehr Holz verwendet als an der Mittelmeerküste oder in Zentralanatolien, wo Holz sehr teuer und eher Mangelware ist. In Kappadokien wiederum wird der lokale Stein verbaut, weil andere Baustoffe durch die Transporte zu teuer wären. Von diesen regionalen Unterschieden abgesehen, hat sich in der Türkei eine universelle Baukonstruktion (Farbtafel VI, 277 u.) aus armiertem Betongerüst und Bodenplatten durchgesetzt, die in der Regel vor Ort manuell geschalt und mit Fertigbau- oder Hohlblocksteinen aus Ton oder Zement ausgemauert werden. Etage für Etage entstehen so – von Baufirmen entwickelt oder eigenhändig auf ganz unterschiedlichen Grundstücksgrößen, auf dem kleinen Bauerngrundstück ebenso wie auf denen größerer Projektentwickler gebaut – die immergleichen kubischen Betonstrukturen am Stadtrand, in der Peripherie, auf dem Land, an der Küste und im Gebirge. Ein Immobilienunternehmen aus Antalya beschreibt sehr gut die türkische Bauweise und bietet interessierten Bauherren auf seiner Webseite auf Türkisch, Deutsch und Niederländisch eine bessere Qualität beim Haus- und Villenbau an: »Wir bauen mit europäischem Know-how und der sogenannten deutschen Gründlichkeit, […] und nach türkischen Bauvorschriften.«39 Häufig werden die Häuser (Farbtafel  VII, 278 o.) bereits auf einer Etage bewohnt, während der Bau noch unfertig ist oder aus Finanzgründen stagniert oder gar gewartet wird, bis die nächste Generation eine eigene Wohnung braucht. Soweit das auch aus Südeuropa bekannte Prinzip. Es gibt aber auch Bauprojekte, die sichtbar zielorientiert

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als Gesamtprojekt geplant und an einem Stück umgesetzt werden. Die bauliche Grundstruktur ist der oben beschriebenen sehr ähnlich. Davon unterscheiden sich die von Rückkehrern aus Deutschland, Schweiz, Österreich und Holland gebauten Häuser – gestalterisch und ästhetisch, aber auch strukturell, baulich und materiell sowie durch Größe und Qualität in der Bauausführung, die sie aus ihrer baulichen Umgebung und Nachbarschaft herausragen lässt. Auf diese Architekturen richtet sich der Fokus der visuellen Feldforschung.

Visuelle Feldforschung als Methode Die visuelle Feldforschung bildet eine wichtige methodische Grundlage. Sie ermöglicht zum einen den Zugang zu den Interviewpartnern und wird zum anderen selbst als Methode angewandt. Die erkennbaren Abweichungen vom ortsüblichen Baustil waren ein wichtiges Indiz für die Häuser deutsch-türkischer Rückkehrer und ein Ansatz, mit den Bauherren als möglichen Gesprächspartnern in Kontakt zu kommen. Dies gelang in einigen Fällen direkt oder über Nachbarn. Im Schneeballverfahren40 wurden dann häufig weitere potenzielle Interviewpartner benannt, die ebenfalls aus Deutschland kommen und ein Haus im Ort gebaut hatten. Mit der Methode der visuellen Feldrecherche werden räumliche Daten und mittels Foto- und Videografie statische und bewegte Bilder gesammelt, die im weiteren Forschungsverlauf zu analysieren sind. Diese visuelle Feldforschung bedient sich sowohl soziologischer Methoden wie künstlerischer Praktiken. Im interdisziplinären Team unter meiner Leitung als bildender Künstlerin fand die visuelle Feldrecherche eine spezifische Erweiterung, da hier die bildwissenschaftlichen Raumbeschreibungen und raumsoziologischen Analysen im Zentrum eines künstlerischen Verständ­nisses von Raum als place und space zusammen­fließen. Das Projekt folgt Löw darin, dass

Bilder als symbolische Verdichtungsleistungen Materialität überlagern und als visuelle Argumente Deu­tungs­muster für politische, historische und normative Bedeutungen anbieten, die soziologisch an die Materialität der Raumkonstitution rückgebunden werden müssen.41 Dabei wird durch die visuelle Feld­forschung die Selbstverfasstheit der Personen im und durch den Raum beschrieben und analysiert. Elke Bippus beschreibt künstlerische Forschung als eine Verknüpfung der Wissensproduktion mit der Kritik des Willens zur »Wahrheit« des Wissens, weil die übliche scharfe Trennung zwischen Theorie und Praxis, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Material und Form nur zu oft nicht aufrechterhalten werden könne.42 In diesem Sinne wird künstlerische Forschung hier definiert. Sie nutzt die Methoden der Feldforschung – wie leitfadengestützte Interviews, kognitive Kartierung oder Videografie –, ohne es jedoch auf einen performativen Charakter abzusehen, der häufig mit einer künstlerischen Tätigkeit verbunden wird. Die Prozessorientierung wird als typische Form künstlerischer Forschung betrachtet, wobei nicht die visuelle Feldforschung gemeint ist, sondern der Dialog mit Akteuren in experimentellen Situationen, in Laboren oder Workshops. Künstlerische Forschung nach diesem Ver­ ständnis transferiert das künstlerische Schaffen vom Atelier in die soziale Praxis. Die Akteure werden zu mehr oder weniger souveränen Dialog­ partnern bzw. zu Versuchs­personen im Experiment. Als Form der Wissens­erzeugung wird also in vielen Fällen im Wesentlichen der künstlerische Werk­ begriff verstanden, der Kunst als soziale Praxis erweitert oder ein wissenschaftliches Ergebnis durch künstlerische Ge­stal­tungs­prozesse vermittelt. Das wäre aber keine neue, gleichberechtigte, differente Domäne der Wis­sens­produktion, wie Brandstetter das behauptet.43 Im Gegenteil, die Selbstverfasstheit des sozialen Raums wird damit weder beschrieben noch analysiert – für die visuelle Feldforschung als Wissenserzeugung ist dies jedoch notwendige Voraussetzung, denn »Kunst

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ist selten allein der Repräsentation eines einzigen und einmaligen Sachverhalts verpflichtet«44. Für die Untersuchung setzen die interdisziplinären Teams deshalb die wissenschaftlichen und künstlerischen Ansätze innerhalb ihrer Domänen konsequent ein, um sich gegenseitig zu ergänzen und zu verstärken, statt nur zu behaupten, dass Kunst bestehende Konventionen in der wissenschaftlichen Domäne aufbrechen könne. Beide Domänen werden als Systeme begriffen, die der Wissens­erzeugung dienen, und die auf dem Forschungs­ gebiet der Migration von Räumen den raum­soziologischen Kontext um bildnerischkünstlerische Ansätze erweitern. Im Rahmen dieser sowohl künstlerischen als auch raumsoziologischen Ansätze wird die subjektive Wahrnehmung der Forscher­gruppe möglichst dicht beschrieben, um Raum­eigenschaften genauer zu bestimmen und Typologien zu entwickeln, immer davon ausgehend, dass räumliche Strukturen im und durch Handeln verwirklicht werden, andererseits aber auch das Handeln strukturieren.45 Der Vergleich der heutigen ortsüblichen Architektur und traditionell türkischen Bauweisen46 einerseits und der davon abweichenden, auffallend anderen Erscheinungsformen in Architektur und Garten andererseits erfordert eine eigene Lesart des Raumkontextes, einen künstlerischen Blick, der in der bildnerischen Form des Bauens gesellschaftliche Realitäten und individuelle Geschichten zu lesen vermag. Dabei werden sowohl Beobachtungen als auch räumliche Narrationen und mental maps bzw. eine spezifische Form der Raumdarstellung durch unterstützende Skizzen und Grafiken einbezogen.47 Fotound Videografie als die Instrumente der visuellen Feldforschung werden als künstlerische Medien verwandt, um die Raumvorstellungen in der Türkei subjektiv wiederzugeben, dienen aber auch als Methode zur Untersuchung der Raumbildung von Remigranten im Innen- und Außenraum. Dafür wurden zum einen die Interviewsituationen und zum anderen die gebauten Räume der Remigranten im Innenraum und im städtebaulichen Umfeld von

Garten, Zufahrt und Nachbarschaft mit Video dokumentiert. Die Entscheidung für ein ästhetisches Konzept – die subjektive Kamera –, die den Blick des anwesenden Forschenden repräsentiert und so eine Verbindung zwischen Videoanalyse und Ethnografie darstellt48, wurde ganz bewusst getroffen. Die Kamera dient nicht nur der Dokumentation des Interviewpartners, sondern kreist um ihn und erfasst so die Objekte, Einrichtungsgegenstände und baulichen Elemente im Raum.49 Die Kamera dokumentiert aber auch das städtebauliche Umfeld, so bei solitären Einzelhäusern den Zugang und die Nachbarschaft, bei Ansiedlungen mit mehreren Häusern den stadträumlichen Kontext aus größerer Entfernung.

Typologie Remigrationsarchitektur ist als Gestalt sozialer Erfahrungen homonym. Sie korrespondiert mit unterschiedlichen räumlich-sozialen Erfahrungen, die Vorstellungen über das künftige Leben in der Türkei ausdrücken, Eindrücke von dem Leben in Deutschland, der Architektur und den Innen­ räumen transferieren und Erinnerungen aus der eigenen Kindheit übersetzen. Dabei spielen historische Vorbilder und Hausformen kaum eine Rolle. Übersetzt und mitgenommen werden Vorstellungen und Ideen aus der eigenen Anschauung: der Gegenwart des Lebens in Deutsch­land – eine Art von Musealisierung von Ein­rich­tungs­trends und Objekt­verwendung. So sind in Rück­kehrer­häusern und Wohnungen in der Türkei komplette deutsche Küchen und Wohn­zimmer­ein­rich­tungen inklusive Eichen­schrank­wand, Kachel­tisch und Foto­tapete aus dem Deutschland der 1970er Jahre vorzufinden (Farbtafel VIII, 278 u.). Sie werden aus Gründen der Erinnerung an Deutschland und damit verbunden der eigenen Identitätskonstruktion von den Rückkehrern erhalten und gepflegt. Für die Ausstattung der Häuser wird tendenziell alles in Deutschland Gesehene auch mit Deutschland identifiziert – z. B. wird die allen

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geläufige schwedische Möbelhauskette häufig als typisch deutsch bezeichnet, weil man ihre Möbel zunächst in Deutschland kennengelernt hat. Modernistische Bauelemente, die sich am International Style anlehnen, wie sie mittlerweile beim Eigenheimbau und vor allem bei Fertig­ häusern in Deutschland zu sehen sind, finden ebenso Eingang in die Planung des Traumhauses in der Türkei wie Bilder aus Werbeprospekten oder dem Internet. Daher sind grundsätzlich alle Häuser, die in der Türkei empirisch dokumentiert wurden, Hybrid­formen. Eindeutig deutsche oder eindeutig türkische Häuser waren dabei nicht identifizierbar – wohl auch eine Folge der globalisierten Digitalisierung, die Bilder instantan, überall und jederzeit zur Verfügung stellt. Aber in den hybriden Mischformen aus deutschen und türkischen Baustilen, in den gestalterischen Auswirkungen bei der Nutzung ortsüblicher Materialien oder bei der Interpretation und Anpassung von baulichen Elementen und Funktionen werden die Bezüge bei den Häusern der Remigranten deutlich lesbar. Durch visuelle Feldforschung konnten drei Haupttypen beschrieben und voneinander abgegrenzt werden: 1. Das Vorbild-Haus, das sich in Erscheinung und Gestaltung auf ein geschlossenes Bild bezieht. Dieses bildet die Grundlage für eine konkrete Idee zu Beginn des Baus, der meist am Stück realisiert wird. 2. Das Zweiteile-Haus, das einerseits aus einer deutschen und andererseits aus einer lokal üblichen türkischen Baukultur entstanden ist. Die zwei gleichen Teilen sind deutlich sichtbar voneinander getrennt. 3. Das Mehrschicht-Haus, das über viele Jahre, meist in Eigenarbeit und während der Urlaubszeit des Bauherrn realisiert wurde und dessen Bauprozess sich in unterschiedlichen Baustilen und deutschen Baumaterialien widerspiegelt. Innerhalb der Erhebungsmenge von 116 Rück­ kehrerhäusern waren 56 % Vorbild-Häuser, 35 % Zweiteile-Häuser und 9 % Mehrschicht-Häuser.

Vorbild-Haus Das Vorbild-Haus (Farbtafel IX, 279 o.) wirkt repräsentativ und demonstriert das »AlmancıSein«50 in der äußeren Gestalt. Die Vorbilder aus dem Aufnahmeland sind leicht zu identifizieren, da sich das Vorbild-Haus von der Vorstellung eines Hauses in Deutschland ableitet. Das VorbildHaus und seine architektonische Gestaltung werden anhand konkreter Erinnerungsbilder und Vorstellungen von Deutschland geplant und ohne wesentliche Änderungen meist am Stück umgesetzt. Historische Vorbilder oder Haus­ formen spielen kaum eine Rolle. Das Haus wird durch die Nachahmung erinnerter Vorbilder baulicher Elemente wie Dach, Fassade, Fenster, Balkon, Winter­garten, Eingangsbereich, Vordach, Sockel, Garage oder Keller bestimmt. Bezüglich der Dach­ form gilt das Satteldach als beliebteste Eigen­heim­ dachform in Deutschland. Es wird bei Rückkehrer­ häusern ebenfalls häufig verwendet, neben dem Walmdach mit Gauben, Dachfenstern und einem ausgebauten Dachboden. Sich an die Zeit in Deutschland erinnernd, zählt Çiçek Mutlu im Gespräch mit ihrer 70-jährigen Mutter einige architektonische Merkmale ihres ehemaligen Einfamilienhauses in der kleinen Gemeinde Nordstemmen in Niedersachsen auf: »Was wir hier unheimlich immer vermissen, sind Häuser mit Ziegeln […] Mama, hast du Ziegel [am Haus in der Türkei]? Ja klar, hat sie [ein] Ziegeldach! […] [In der Türkei sind die Dächer] ja so flach, also so [quadratisch]. Was wir wirklich vermissen, sind Häuser mit Dach. Mama, hast du das Dach gemacht? Ja, sie hat’s gemacht! Also, so sieht’s wirklich aus.«

Häufig werden aber nicht nur äußere, sondern auch funktionale Eigenheiten wie Heizung und Dämmung oder Erweiterungen wie Dach­ geschoss­ ausbau und Tiefgarage oder die Verwendung von hochwertigen Baumaterialien wie Dachziegel, Backsteine, Natursteine für den Hausbau in der Türkei übernommen. Woher die Vorbilder im Einzelnen stammen, wurde in vielen Interviews deutlich: Abdullah Çingöz ist ein 26-jähriger Ladenbesitzer, der im Alter von 14

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Jahren mit seinen Eltern aus der Gegend um Düsseldorf in die Türkei zurückging. Sein Vater baute in Deutschland bereits ein Haus. Jetzt entsteht das eigene 700 m² große Traumhaus für ihn und seine Eltern. Er erinnert sich an Deutschland: »Es waren Reihenhäuser, und wir hatten auch eine Wohnung in einer schönen Ecke in der Nähe vom Wald. Da waren auch sehr schöne Villen […] mit großen Zimmern und meistens auch immer zwei oder drei Stockwerken. Und was ich auch sehr schön finde, sind Uoder L-förmige Häuser. Das gibt es in der Türkei überhaupt gar nicht. Also immer viereckige Häuser. Habe viel auf deutschen Internetseiten rumrecherchiert. U-förmige Häuser gefallen mir sehr. Viel Glas, sehr viel Glas!«

Spaziergänge in schönen Wohngegenden Stutt­ garts haben Babur Tütüncü und seine Frau für ihr Haus bei Kayseri inspiriert. Ähnlich wie das außergewöhnliche Haus bei Trabzon, auf das uns Einheimische hinwiesen und das sie als »Turmhaus« oder »Kirchen­haus« bezeichneten. Der Besitzer, der zwar kein Rückkehrer, sondern ein wohlhabender lokaler Fabrikbesitzer war, hatte seine Tochter zum Studium nach Stuttgart geschickt und sie dort mehrfach besucht. Seine mitgebrachten Bau­vorbilder aus Stuttgart konnten von den örtlichen Bauunternehmern nicht in der gewünschten Qualität umgesetzt werden, so wechselte er während des Bauens mehrfach den Architekten. Direkt nach einem Bauplan aus Deutschland entstand 1999–2004 das Haus in Kızılca von Galip Derviş aus Gummersbach, für das er alle Bau­materia­ lien über seine Tochter in Deutschland bestellte und mit einem LKW in die Türkei fahren ließ: »Bauarbeiter hier sind es nicht gewohnt, nach Bauplänen zu bauen. Deshalb, jedesmal, wenn ich wieder her kam, war etwas falsch gebaut und musste wieder eingerissen werden.«

Zweiteile-Haus Das Zweiteile-Haus (Farbtafel X, 279 u.) ist aus zwei in Form und Gestalt unterschiedlichen Segmenten zusammengefügt. Das Zweiteile-Haus vereint in einem Gebäude deutsche und ortsübliche, türkische Bauformen. Die beiden Teile sind gleichwertig in ihrem Anteil an der Gesamtgestalt des

Hauses und stellen deutlich sichtbar eine hybride Kombination aus deutschen und türkischen Gestaltungselementen dar. Von 116 untersuchten Rückkehrerhäusern können 35 % dem Typus des Zweiteile-Hauses zugeordnet werden. Bei den Zweiteile-Häusern wird die durch das »Burada« und »Orada« (Hier und Dort) geprägte Identität des Bauherren in der Konstruktion deutlich. Dort in Deutschland waren die sozialen Erfahrungen als Türke und Fremder durch Ausgrenzung geprägt. Rückgekehrt in die Türkei, führen unterschiedliche Erfahrungen erneut zu einem Gefühl der Ausgegrenztheit, nun jedoch, weil man sich als deutsch erlebt. Dabei spielt für ihn die Herkunft der einzelnen architektonischen Objekte innerhalb der »sozialen Collage« – seien sie »aristokratisch oder volkstümlich, akademisch oder populär«51 – keine große Rolle. Colin Rowe übersieht dabei jedoch den identitätsbildenden Charakter von homonymer, selbstentworfener Architektur und die biografische Bedeutung der collagierten Elemente am Zweiteile-Haus des Bauherrn. Er reflektiert vielmehr den Prozess aus dem Blickwinkel des Gestaltenden. Die Herkunft der collagierten Elemente spielt für das Zweiteile-Haus eine ganz wesentliche Rolle. Während die Baumaterialien, Konstruktions­ anteile wie das Dach, Bauelemente wie Garagen oder das Vorhandensein eines Kellers deutlich auf die deutschen Vorbilder rekurrieren, orientiert sich der oft sehr große Terrassenbereich, der es erlaubt, einen Teil des sozialen Lebens unter freiem Himmel zu verbringen, eher an lokalen Bautraditionen. Die Terrasse im ersten Stockwerk der Häuser oder auch die typische Dachterrasse werden den klimatischen Bedingungen in der Türkei gerecht: So darf in der Türkei eine offene Terrasse als oberstes Stockwerk genehmigungsfrei gebaut werden, wenn sie nur in Holzbauweise oder als Metallkonstruktion realisiert wird. Im Sommer liegt oft die ganze Familie zum Schlafen auf einer solchen Terrasse, wenn es im Haus zu heiß ist. Tagsüber spielt sich im Sommer das Leben größtenteils auf der schattigen großen Terrasse im ersten Stockwerk ab. Beim ZweiteileHaus wird daher oft die deutsche Bauform des

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Daches nur auf einer Seite realisiert und mit den Vorzügen eines Flachdachs als Terrasse kombiniert. Die Gestalt des Hauses ergibt sich als Collage einzelner Elemente am Bau, die jeweils deutschen und ortsüblichen Bautraditionen folgen. Das Zweiteile-Haus kann als eine Zusammenführung beider kultureller Einflüsse interpretiert werden. Mehrschicht-Haus Innerhalb der Erhebungsmenge von 116 Rück­ kehrerhäusern bildet mit 9 % das MehrschichtHaus (Farbtafel XI, 280) die kleinste Gruppe. Am Mehrschicht-Haus ist der über viele Jahre andauernde Bauprozess ablesbar: In Eigenarbeit während des deutschen Jahresurlaubs des Bauherren realisiert, weist ein solcher Bau meist unterschiedliche Stile und eine Kombination von zumeist deutschen, aber auch türkischen Baumaterialien auf. Zum Charakter des Hauses als Prozessgestalt passt, dass das Haus auch nach der Fertigstellung weiterhin als Baustelle betrachtet wird und das Bauen, wenn der Bauherr in Rente gegangen ist, nunmehr als Hobby fortgeführt wird. Es kommt nicht selten vor, dass nach dem eigentlichen Abschluss der Bauarbeiten noch eine weitere Etage hinzugefügt wird oder Räume erweitert werden, ohne dass eine räumliche Notwendigkeit dafür besteht. Jenseits der Prozesshaftigkeit dieses Bautyps ist seine Gestalt vom Charakter des Bauherrn als Autodidakt und Bastler gekennzeichnet. In seinem Buch über die Idee von der »Collage City« stellt Colin Rowe dem begrenzten Denken des architecte ingénieur die von Claude Lévi-Strauss’ »wildem Denken« entlehnte Beschreibung des bricoleurs (Bastlers) entgegen: »Der Bastler ist in der Lage, eine große Anzahl verschiedenartigster Arbeiten auszuführen; doch im Unterschied zum Ingenieur macht er seine Arbeiten nicht davon abhängig, ob ihm die Rohstoffe oder Werkzeuge erreichbar sind, die je nach Projekt geplant oder beschafft werden müssten; die Welt seiner Mittel ist begrenzt, und die Regel seines Spiels besteht immer darin, jederzeit mit dem, was ihm zur Hand ist, auszukommen, d. h. mit einer stets begrenzten Auswahl an Werkzeugen und Materialien, die überdies noch heterogen sind, […] den

Vorrat zu erneuern oder zu bereichern oder ihn mit den Überbleibseln von früheren Konstruktionen oder Destruktionen zu versorgen.«52

Diese Beschreibung trifft auf die Entstehung eines Hauses vom Typus des Mehrschicht-Hauses zu. Dieser Typ ist vom Wachsen geprägt, wobei die Fähigkeiten und das bautechnisch Mögliche bis an die Grenzen des statisch Erlaubten ausgereizt werden. Durch den mitgestaltenden Faktor »Zeit« ist dieser Haustyp Sinnbild für Veränderungen und fortwährende Verbesserungen. Etage für Etage können die Lebensphasen der Remigranten, ihre Lebensgewohnheiten und ihre sich im Laufe der Zeit verändernden Vorstellungen vom Traumhaus wie in Jahresringen abgelesen werden – wie Glassie es beschreibt: »Vernacular is one of the tools we use when we face architectural objects with a wish to crack them open and learn their meanings.«53

Fazit und Ausblick Migration als Potential für urbane Entwicklungen wird in diesem Beitrag aus Sicht des Herkunftslandes betrachtet. Der vielfach ökologische Umgang der Remigranten mit Energie, Baumaterial und Natur kann als ein bottom-up-Wissenstransfer begriffen werden. Die Übersetzungsleistung von Bauwissen und Gestaltung in einen neuen »alten« Kontext zeigt uns, welche Integration in Deutschland stattgefunden hat, gerade wenn die ehemaligen Gastarbeiter dort ein Leben lang bescheiden gelebt und jede Mark gespart haben, um sich so den Traum vom deutschen Eigenheim in der Türkei zu erfüllen. Daraus wiederum können auch neue Erkenntnisse für den deutschen Umgang mit Raum und Migration gewonnen werden. Immobilienbesitz in Deutschland führt zu Interesse und Beteiligung an kommunalen Themen und mehr lokaler Anerkennung und Integration. Migration gehört längst zu unserer globalisierten Welt. Dramatisch anwachsende, weltweite Flüchtlingsbewegungen auf der einen Seite, stark zunehmende Nachfrage nach extrem mobilen und

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flexiblen, international ausgebildeten Fachkräften sowie Tourismus als weltweiter Wirtschaftsfaktor auf der anderen Seite wirken ebenso wie der weitgehende Verlust nationaler Unterschiede zwischen den westlichen Metropolen und die Ent­ortung durch die globale Verfügbarkeit von Internetdiensten. Gerade deswegen sind physische Räume wichtiger denn je für die Konstruktion von Identität.

Migration als Fenster zu begreifen, durch welches Einheimische die Welt sehen können,54 heißt auch, den Blick von Migranten auf uns zu verstehen, denn sie sind Pioniere im Vergleich mit den Daheimgebliebenen: Sie kennen die Reibungen und Widersprüche der Migrationserfahrungen und haben sie nicht nur in ihre Biografien, sondern auch in ihr räumliches In-der Welt-Sein55 integriert.

1 Sauer / Halm 2009, 64. 2 Hämmig 2000. 3 Forschungsprojekt (2012–2016) des Fachgebiets für Bildende Kunst unter der Leitung von Prof. Dr. Stefanie Bürkle, Institut für Architektur, TU Berlin, Dritt­mittel­ finanzierung durch die VolkswagenStiftung. 4 Berger et al. 1973, 73. 5 Bourdieu 1982. 6 Bauhardt 2004, 93. 7 Bürkle 2009, 48. 8 Löw 2001; Massey 2005; Werlen 1997. 9 de Certeau 1988, 218. 10 Löw 2001, 131. 11 Proshansky 1978. 12 Heckmann 1992. 13 Pries 2011. 14 Yildiz / Mattausch 2009. 15 Römhild 2009. 16 Bommes 2003. 17 Giddens 1991. 18 Stegbauer 2002, 344. 19 Stegbauer 2002. 20 Bürkle 2013, 40. 21 Rudofsky 1964, 1. 22 Cairns 2004, 18. 23 Yildiz 2011, 12. 24 Oliver 2006, 30. 25 Dovey 2013. 26 Rice 2015, 99. 27 Glassie 2000, 20.

28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50

51 52 53 54 55

Rapoport 1977, 60. Schoper 2010. Posener 1981, 359. Sarıoğlu Erdoğdu 2010, 100. Turkstat 2013. Günes 2007, 139. Sarıoğlu Erdoğdu 2010, 99. Turkstat 2013. Krumme 2004, 138. Üçok / Kjeldgaard 2006, 434. Alle Namen von Interviewpartnern sind Pseudonyme. Real estate o. J. Akremi 2014, 272. Löw et al. 2008, 354. Bippus 2012, 16. Brandstetter 2013, 65. Kravagna 2010. Löw et al. 2008, 63. Küçükerman 1996. Dangschat 2014, 976–977. Knoblauch 2005. Tuma et al. 2013, 39. In der Türkei gebräuchliche pejorative Bezeichnung für in Deutschland lebende türkeistämmige Menschen, sinngemäß »Deutschländer«. Rowe / Koetter 1997, 211. Lévi-Strauss 1973, 30–31. Glassie 2000, 21. Flusser 2007. Heidegger [1927] 2001, 104.

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Abbildungsnachweis V–VII, X VIII, XI IX

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Migration von Einzelpersönlichkeiten als Experten des Bauens

Conrad Schick Leben und Werk eines deutschen Architekten im Jerusalem des 19. Jahrhunderts

Constanze Röhl

In der zweiten Hälfte des 19. Jhs. begann mit der vermehrten Einwanderung jüdischer Emigranten und der Aufnahme einer verstärkten Missions­ tätigkeit europäischer Institutionen der Landes­ ausbau Palästinas, mit dem wegweisende städtebauliche Entwicklungen in Jerusalem einhergingen. Die sozialen Gegebenheiten in der Region waren zu dieser Zeit durch eine der Situation entsprechende Vielfalt von Akteuren mit unterschiedlichen kulturellen Prägungen und Strategien gekennzeichnet. In diesem Kontext war der deutsch­stämmige Emigrant Conrad Schick einer der bedeutendsten Vermittler zwischen lokalen Gesellschafts­gruppen und Europa. Die vielseitigen Tätigkeiten des Mitte des 19. Jhs. als Missionar nach Jerusalem entsandten Auto­ didakten umfassten sowohl diverse Forschungs­themen zu Archäologie, Kultur und Geschichte des ›Heiligen Landes‹ als auch praktische Aspekte, die ihn in Kontakt mit den relevanten Akteurs­ gruppen vor Ort brachten und zur Etablierung eines weitreichenden Netzes von Kontakten führten. Eng verknüpft mit diesen Aspekten ist sein Wirken im Bereich des Modellbaus, das überregionale Rezeption erfuhr. Insbesondere zeichnet Conrad Schick die Arbeit als Architekt und Stadtplaner aus. Seine Haupttätigkeit verlagerte sich bald nach seiner Ankunft in den Bereich der Betreuung diverser Bauvorhaben innerhalb der Altstadt Jerusalems und in den neu erschlossenen Gebieten sowie auf das Gebiet des Entwurfs und der Umsetzung eigener architektonischer Projekte. Conrad Schick war somit wesentlich in die Stadtentwicklung Jerusalems involviert

und beeinflusste den positiven Verlauf der initialen Phase des Landesausbaus. Seine maßgebliche Prägung der damaligen Entwicklungen verdankte er dabei v. a. einer besonderen Form der gelungenen Kommunikation am Bau, die als Resultat seiner Wertschätzung humanistischer Werte zu betrachten ist. Vor dem geschilderten Hintergrund erschließt die Auseinandersetzung mit dem baulichen Wirken Conrad Schicks ein vielschichtiges Beispiel für Selbstbild und Selbstdarstellung eines zugewanderten Akteurs in seiner Ankunftsgesellschaft.

Forschungsstand Leben und Werk Conrad Schicks wurden bislang unter dem Gesichtspunkt seiner Tätigkeit als Missionar und des Bezugs zur Basler Mission St. Cri­schona sowie im Rahmen allgemeiner Unter­ suchungen zu Deutschen und Europäern im Palästina des 19. Jhs. betrachtet. Hierbei wurde ebenfalls sein Beitrag zur Entwicklung der archäologischen und topographischen Erforschung Jerusa­lems und der Region gewürdigt.1 Eine Studie zu seiner nicht minder bedeutsamen Tätigkeit als Architekt, Stadtplaner und Modellbauer steht allerdings bislang aus. Die Details der einzelnen Schritte seiner Karrie­re als Bauinspektor, Baurat und Architekt sowie deren jeweiliger Bezug zu den unterschiedlichen in Jerusalem tätigen europäischen und ein­ hei­mi­schen Institutionen und deren Bau­vorhaben sind nicht bekannt. Die Hinweise auf durch ihn errichtete Bauten in der allgemeinen Literatur

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Constanze Röhl

sind äußerst disparat. So wird Conrad Schick eine umfassende Bau­tätigkeit im Äthiopischen Quartier in der Jerusa­le­mer Altstadt zugeschrieben, für die aktuell jegliche Belege fehlen. Diese Tatsache kann durchaus als symptomatisch bezüglich des Forschungsstandes gewertet werden. Von den neun gemeinhin mit seinem Namen verbundenen Gebäuden sind derzeit lediglich drei Jerusalemer Projekte tatsächlich als Schicks eigene Werke zuweisbar: sein Wohn­haus Thabor, die Schule Talitha Kumi und das Jesus­hilfe-Hospital. Zu einem durch posthum veröffentlichte autobiographische Notizen Schicks bekannten Auftrag der englisch-kirchlichen Missions­gemeinschaft für ein Schulhaus in Gaza sind aktuell keine weiteren Informationen verfügbar. 2 Gleichermaßen fehlen entsprechende Unterlagen für vier von fünf vermuteten Projekten im Bereich der Stadtplanung. Einzig Conrad Schicks Durchführung der architektonischen Planung des jüdisch-orthodoxen Viertels Me’ah She’arim ist gesichert.3 Allerdings sind in letzterem Fall weder die Details der architektonischen Gestaltung noch der Umfang erhaltener originaler Bau­substanz bekannt. Auch die Rezep­ tions­geschichte seiner Arbeiten wurde bislang nicht näher erforscht. Seine Architektur­modelle sind in zwei Artikeln erfasst.4 Aktuell bekannt sind 18 noch erhaltene Arbeiten. Dieser Stand kann nicht endgültig für Umfang und Ausführung seiner Modelle sein, da Conrad Schick durch seine Arbeit für das House of Industry der London Society for Promoting Christianity Amongst the Jews Zugang zu Arbeits­kräften und Materialien hatte, um auch die Nachfrage eines größeren Käufer­kreises zu bedienen. Er selbst hatte geschildert, wie er für Käufer aus England, Russland und Deutschland auf Bestellung gearbeitet hatte.5 Während somit Indizien für die Involvierung Conrad Schicks in diverse Bauprojekte und zum Umfang seines Lebenswerkes existieren, die zudem in der Betrachtung seines Werdegangs an Plausibilität gewinnen, stehen definitive

Nachweise überwiegend noch aus. Es mangelt daher nach wie vor an einer belastbaren Grund­ lage, die für eine zuverlässige Würdigung erforderlich ist. Conrad Schicks Stellenwert für die Geschichte der Stadtentwicklung Jerusalems in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. wird zwar erkannt, dennoch fehlt bisher ein vollständiges Werkverzeichnis, eine Untersuchung zu Wahl und Herkunft seiner stilistischen Mittel sowie zu möglichen Einflüssen auf seine Arbeit und eine Auf­arbeitung der Re­zep­tions­ge­schichte. Insbesondere besteht hier Forschungs­bedarf im Hinblick auf die kulturgeschichtliche und politische Bedeutung seiner Tätigkeit; sowie die Schnitt­ stelle zwischen Architektur und Archäologie, die in seinen Architektur­modellen archäologischer Stätten thematisiert wird und als Schlüssel­stellung im Verständnis des Schick´schen Gesamt­werks zu sehen ist. Die Analyse der Arbeit Conrad Schicks kann einen Beitrag zur zeitgeschichtlichen Analyse der sozialen Veränderungen und zu europäischen Verhaltens­mustern im Palästina des 19. Jhs. auf lokaler Ebene leisten, welche für die Rolle Europas in Bezug auf den langfristig nachwirkenden sozialen Wandel und die heutigen Verhältnisse in Israel und Palästina äußerst relevant sind.6

Der Strukturwandel im Palästina des 19. Jhs. und sein Gegenwartsbezug Ab der ersten Hälfte des 19. Jhs. trugen europäische Forschungen vor Ort zur Vermehrung des Wissens insbesondere über Geographie, aber auch Geschichte und Ethnographie des ›Heiligen Landes‹ bei und rückten dieses somit verstärkt in den Fokus des europäischen Interesses.7 Begünstigt von den damaligen weltpolitischen Ereignissen konsolidierte sich diese Entwicklung v. a. ab den 1830er Jahren unter ägyptischer Herrschaft, trotz deren kurzer Dauer von lediglich 10 Jahren.8 Die völlige Öffnung der Region gegenüber dem europäischen Ausland stellte hierbei primär eine bewusste Entscheidung zur Stabilisierung der ägyptischen Herrschaft dar,

Conrad Schick

welche bis dato lediglich von französischer Seite offiziell anerkannt worden war, und deren neue, tolerante Haltung v. a. um eine Legitimierung der eigenen Herrschaft bemüht war. Mit den TanzimatReformen wurde diese liberale Politik auch nach der Rückgabe der Oberhoheit an das Osmanische Reich fortgesetzt.9 In der Folge etablierten sich diverse europäische Institutionen mit unterschiedlichen Ziel­ setzungen und Motivationen, vielfach in missionarischem Auftrag, die im Land eine rege Bautätigkeit veranlassten.10 Ihre mannigfaltige architektonische Hinterlassenschaft blieb insbesondere im Stadtbild Jerusalems erhalten, das im 19. Jh. eine umfassende Expansion des Stadtareals erfuhr (Abb. 1). Diese Entwicklung hängt mit der unter der ägyptischen Herrschaft eingeführten Praxis zusammen, der Stadt Jerusalem Sonderrechte zu gewähren, die den Bau und die Renovierung von Kirchen und Synagogen erlaubten, und außerdem Mitgliedern anderer Religionsgemeinschaften dieselben Rechte zu verleihen wie der muslimischen Bevölkerung. In der Folge wurde daher v. a. die Möglichkeit zum Erwerb von Landbesitz außerhalb der Altstadt durch Juden und Christen zu einem Faktor, der wesentlich die stadtplanerische Gestaltung insbesondere in den Bereichen westlich außerhalb der Stadtmauern bestimmte.11 Einhergehend mit einer Verbesserung des Gesundheitssystems und der Einrichtung päda­ gogischer Institutionen zeigt sich diese bauliche Expansion noch heute u. a. in den damals durch europäische Institutionen angelegten Kirchen, Hospitälern und Schulen. Mit den politischen Entwicklungen ging auch ein stetes Anwachsen des jüdischen Bevölkerungsanteils einher.12 Seinen deutlichsten Ausdruck findet dieses in Jerusalem in der Anlage der orthodox geprägten Viertel um den Kernbezirk Me’ah She’arim sowie in diversen weiteren konzertierten Siedlungsprojekten. Für das Jahr 1891 sind allein 23 neue Stadtviertel außerhalb der Stadtmauern belegt.13 Im Fokus lagen des Weiteren Moderni­ sierungen der Infrastruktur, v. a. in den Bereichen Postsystem,

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1  Jerusalem, Phasen des Stadtausbaus (schwarz: bis 1864, dunkelgrau: 1865–1918, hellgrau: 1919–1948).

Wasserversorgung und Straßen­netz, sowie in der Anlage einer Eisenbahn­strecke von Jerusalem nach Jaffa.14 Technologische Neuerungen im Bereich der Infrastruktur wurden allerdings keineswegs von sämtlichen Teilen der Bevölkerung als erstrebenswert begrüßt und führten tendenziell zu einer Separierung innerhalb der Gesellschaft.15 Zwangsläufig bedingten diese baulichen Eingriffe in die Landschaft zudem den Wandel traditionell agrarisch geprägter Subsistenz­weise zu einer stärker industriell geprägten westlichen Wirtschaft. Hiermit einhergehend führte die verstärkte Nachfrage nach Arbeits­kräften in Jerusalem zu überregionalen demographischen Veränderungen und damit auch zu einem Wandel der traditionellen Struktur der ›Großfamilie‹.16 Während somit in der Rückschau der Epoche des 19. Jhs. eine hohe Bedeutung für die nachfolgende Entwicklung Jerusalems zu einer Stadt – als eines im zeitgenössischen, westlichen Sinn des Begriffes verstandenen Phänomens – beizumessen

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ist, initiierten die damaligen Neuerungen in der Region zugleich langfristige soziale Veränderungen, die bis in die Gegenwart nachwirken. Dies gilt auch für die Expansion und städtebauliche Entwicklung Jerusalems, in die Conrad Schick im Rahmen seiner Tätigkeit als Baurat und Architekt involviert war.

Zur Person Conrad Schick Werdegang Conrad Schick (*27. Januar 1822; † 23. Dezember 1901) wurde im württembergischen Bitz bei Ebingen als Sohn des Ortsvorstehers Martin Schick geboren. In seiner Autobiographie berichtet er, dass sein Interesse schon früh eher geistigen Tätigkeiten, so dem Zeichnen von Architektur und v.  a. aber religiösen Themen als einer Mitarbeit und späteren Nachfolge in der elterlichen Landwirtschaft gegolten habe.17 Nach einer Ausbildung zum Schlosser trat er 1844 in die von Christian Friedrich Spittler gegründete Baseler Pilgermission St. Crischona ein und wurde von dort 1846 als Missionar zur Einrichtung eines deutsch-evangelischen Bruderhauses unter der Ägide des Bischofs Samuel Gobat nach Jeru­salem entsandt. Da dieses Projekt nicht dauerhaft etabliert werden konnte, nahm er 1850 auf Anfrage des Missionars J. Nicolayson zunächst eine Stelle als Arbeitsaufseher im House of Industry der London Society for Promoting Christianity Amongst the Jews, heute Evangelical-Anglican Congregation Christ Church an, auf welche die Berufung zum Bauinspektor folgte. Dieser schloss sich die Ernennung zum ›Hon. Baumeister der Municipalität‹ Jerusalems und ›Bauinspektor der deutschen Missionsgesellschaft‹ an. 1869 erhielt er den Titel Königlich-Württembergischer Baurat. Conrad Schick war nicht nur begleitend als Bau­inspektor im Rahmen diverser Projekte, etwa bei der Errichtung der protestantischen Neubauten im Jerusalemer Muristan-Viertel, tätig, sondern entwarf ebenfalls als Architekt eine Reihe von teils heute noch erhaltenen Gebäuden. Neben

seiner Tätigkeit für die evangelische Mission wurde er als Bausachverständiger von jüdischer, russischer, armenischer und türkischer Seite zu Rate gezogen. Auch war er auf dem Gebiet weiterer stadt- und regionalplanerischer Vorhaben gefragt, so als bodenkundlicher Berater für den Bau der Eisenbahnstrecke nach Jaffa und im Bereich der Straßenplanung. Seine Arbeit als Architekt kann nur unter Einbezug seiner weiteren Forschungen zur Gänze gewertet werden. Ganz im Sinn des damaligen Zeitgeistes beschäftigte sich Conrad Schick überdies als »Uni­ versal­ gelehrter« über seine eigentlichen beruflichen Aufgaben hinaus mit unterschiedlichen Forschungs­feldern. Er kartographierte die Umgebung Jerusalems, widmete sich aber v. a. der Archäologie sowie der Ethnographie. Die Vielfältigkeit seiner Tätigkeiten und die Qualität seiner detaillierten, wissenschaftlich fundierten Forschungen machten den Autodidakten augenscheinlich bereits in der Wahrnehmung seiner Zeitgenossen zu einem der größten Kenner des ›Heiligen Landes‹ und der Archäologie Jerusalems. Neben der Betrauung mit Ehrenämtern, die auch von seinem Engagement auf karitativem Gebiet zeugen (u. a. Ehrenpräsident des Deutschen Vereins; Mitglied im Komitee des Syrischen Waisenhauses und des Jerusalemer Aussätzigenasyls, im Lokal­ komitee des Johanniter­ hospizes sowie des Berliner Jerusalem­vereins, Agent des Palestine Exploration Fund, Ehrenmitglied des Deutschen Palästina-Vereins, Bevollmächtigter des Museums für Völker­ kunde in Leipzig) wurden ihm, in Würdigung seiner Verdienste als Forscher, zahlreiche Auszeichnungen verliehen, so etwa 1863 die Medaille für Kunst und Wissenschaft des Württembergischen Königs, 1871 der Preussische Kronen-Orden IV. und III. Klasse und 1896 die Ehrendoktorwürde der Universität Tübingen.18 Forschungen und Publikationen Ab der zweiten Hälfte des 19. Jhs. initiierte die Gründung heute noch existierender For­schungs­ institutionen, u. a. 1865 des Palestine Exploration

Conrad Schick

Fund und 1877 der Gesellschaft Deutscher Verein zur Erforschung Palästinas/Palästina-Verein, die systematische Beschäftigung mit der »biblischen« Geschichte vor Ort und die Phase der ersten archäologischen Untersuchungen in Palästina.19 Explizit führte der Palästina-Verein die Zielsetzung auf, »die wissenschaftliche Erforschung Palästinas nach allen Beziehungen zu fördern und die Teilnahme daran in weiteren Kreisen zu verbreiten«. 20 Hierzu diente u. a. die Herausgabe der Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins (ZDPV), in der Conrad Schick spätestens ab 1877 regelmäßig seine archäologischen Untersuchungen veröffentlichte. Als auf diesem Feld gefragter Experte kann sein Name mit vermutlich mehr als 300 Publikationen in diversen Fachjournalen verbunden werden, darunter die Zeitschriften Neueste Nachrichten aus dem Morgenlande, Österreichische Monatsschrift für den Orient, Petermanns Mittheilungen und Palestine Exploration Fund Quarterly Statement. Bekannt wurde er durch seine Beschäftigung mit der neu entdeckten Siloah­inschrift21 und seine umfassenden Untersuchungen zur Architektur und Archäologie von Grabes­kirche22 und Tempelberg.23 Hierbei erkannte Conrad Schick bereits die Bedeutung topographischer Unter­ suchungen 24 in diesem Kontext. Es ist daher nicht weiter verwun­derlich, dass sein Name zudem durch die beratende Teilnahme an namhaften britischen und amerikanischen Projekten der damaligen Zeit bekannt ist. 25 Seine Wahrnahme des selbst­ gewählten Bildungs­ auftrages der Forscher der damaligen Zeit, das ›Heilige Land‹ in Geschichte und Gegenwart einer europäischen Zielgruppe nahezubringen, zeigt sich auch an der wichtigen Rolle, die die Ethnographie in seinen Publikationen einnahm. Dies wird an einem Aussschnitt des Spektrums der von ihm behandelten Themen deutlich: Bau der Eisenbahn­ strecke nach Jaffa inklusive kartographischem Material,26 Beobachtungen zu städtebaulichen Eingriffen seitens unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen in Jerusalem,27 gesellschaftliche

Veränderungen über den Verlauf von 50 Jahren,28 demographische Entwicklungen,29 Studien zur Entwicklung agrarisch genutzter Flächen außerhalb der Altstadt30 sowie eine äußerst detaillierte Schilderung der allgemeinen städtebaulichen Entwicklungen.31 Eingriffe in ältere Bausubstanz betrachtete er, ebenso wie sozialen Wandel, durchaus hinterfragend und wertete diese auch in seinen Publikationen aus einer kritischen Distanz heraus.32 Anhand seiner Auseinandersetzungen mit komplexen historischen Abläufen wie der Stadtgeschichte Jerusalems und so kontroversen Themen wie der Lokalisierung Golgathas lässt sich wiederum aufzeigen, dass seine Ansichten stets auf aus eigenen Forschungen gewonnenen Fakten beruhten. Kulturgeschichte wurde auf diese Weise von Conrad Schick als gesellschaftsübergreifend identitätsstiftend verstanden und angewendet. Entsprechende Anleihen aus archäologischen und historischen Kontexten finden sich auch in seiner Arbeit als Architekt.

Architekturmodelle Einen komplementären Aspekt zu den einleitend beschriebenen zeitgeschichtlichen Fragen stellt neben der europäischen Selbstdarstellung vor Ort auch die Art der Darstellung Palästinas in Europa dar. Hierzu liefern die 18 erhaltenen Archi­tektur­ modelle von Conrad Schick eine wichtige Quelle. Die Analyse der von ihm für seine Architektur­ modelle gewählten Themen aus dem Bereich des ›Heiligen Landes‹ und seiner Geschichte sowie deren Umsetzung lässt erkennen, auf welche Weise der Emigrant Conrad Schick seine Wahl­ heimat wahrnahm und darüber hinaus einem europäischen Publikum näherbrachte. Seine Modelle, etwa vom Tempelberg in seinen verschiedenen Phasen, der Grabeskirche oder dem Felsendom, waren vorwiegend historischen und archäologischen Themen gewidmet und zeugten von einer umfassenden Auseinandersetzung mit diesen Aspekten. Sie griffen aber auch Fragen der

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Topographie Jerusalems und mit der Darstellung des Christ Church Quarter ebenfalls zeitgenössische architektonische Entwicklungen auf. Conrad Schick selbst verband mit seinen Modellen den Anspruch, in klar nachvollziehbarer Weise sein Fakten­wissen über die Stätten des ›Heiligen Landes‹ einer europäischen Öffentlich­ keit zu vermitteln.33 Dass ihm dies überaus erfolgreich gelang, zeigt sich an der Auftrags­erteilung für zwei Modelle des Tempel­berges im Rahmen der Wiener Welt­ aus­ stellung 1873.34 Auch die fortwährende Erwähnung seiner Modelle in verschiedenen Reise­führern zur Erläuterung spezifischer Fragen der Stadt­geschichte, so 1926 in J. E. Hanauers Walks in and around Jerusalem, belegt dies.35 Die Herstellung von Architekturmodellen zu didaktischen Zwecken war im 19. Jh. weit verbreitet.36 Auch die Themen Topographie, Geschichte und Architektur Jerusalems wurden daher von diversen Modellbauern bzw. Herstellern, u. a. von H. W. Altmüller und Johann Martin Tenz, behandelt.37 Allerdings kommt den Modellen Conrad Schicks durch ihre Detail­ genauigkeit und Maßstabs­treue, ergänzt durch detailliertes Karten­material und Erläuterungen, ein besonderer Stellenwert zu (Farbtafel XII, 281).38 Vielfach ist die zusätzliche Darstellung auf den ersten Blick nicht erkennbarer baulicher Aspekte seinen Modellen zueigen. So lassen sich im Fall des im Deutschen Evangelischen Institut für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes Jerusalem (DEI) ausgestellten Modells die Substruktionen der Grabeskirche durch das Abheben kleiner Modell­elemente dem Publikum erläutern (Farbtafel XIII, 282). Diese zusätzliche Dimension der Information ist der Tatsache zu verdanken, dass Conrad Schick in seiner Tätigkeit als Bausachverständiger und Baurat in vielen Fällen exklusiv Zugang zu für Europäer teils auch bis in die Gegenwart nicht freigegebenen Orten ermöglicht wurde.39 Er konnte so auch die Substruktionen des Haram ash-Sharif, den Felsendom und die al-Aqsa-Moschee erkunden. Noch heute können seine Modelle Antworten auf

spezifische archäologische Fragen liefern. Das lange Nachleben seiner Forschungen belegt auch die enge Anlehnung des im Israel Museum befindlichen Holyland Model of Jerusalem, einer Darstellung der Stadt zur Zeit des zweiten Tempels im Maßstab 1:50, an seine Modelle. Implizit wird hier neben der fachlichen Kompetenz das diplomatische Geschick Conrad Schicks im multikulturellen Umfeld Jerusa­lems deutlich, eine Qualität, welche für die Entfaltung seines Einflusses als wesentlich erachtet werden muss. Seine Sonderstellung beruhte also offensichtlich nicht rein auf seiner beruflichen Qualifikation als Baumeister. Dafür spricht, dass Conrad Schick bei Streitigkeiten bezüglich der Zuständigkeiten unterschiedlicher Glaubens­gemeinschaften in der Jerusalemer Grabes­kirche und der Bethlehemer Geburts­kirche als neutraler Schlichter hinzugezogen wurde. In dieser Eigenschaft stellte er sowohl für den osmanischen Gouverneur Jerusalems Süreyya Pasha als auch für das griechisch-orthodoxe Patriarchat in Bethlehem Modelle zur Dar­ stellung der jeweiligen Besitz­verhältnisse her.40 Ohne die Akzeptanz seiner Person bei sämtlichen in Jerusalem präsenten Glaubens­gemeinschaften wäre ein solcher Status undenkbar gewesen. Die Biographie Conrad Schicks lässt somit erkennen, dass er sich äußerst erfolgreich in die diversen Gemeinschaften der örtlichen multikulturellen Gesellschaft integrierte. Seine gleichzeitige Involvierung in die Unternehmungen verschiedener christlicher wie auch muslimischer und jüdischer Glaubensgemeinschaften im Rahmen seiner beruflichen Aufgaben ist sowohl für die damalige Zeit aber auch vom heutigen Standpunkt aus bemerkenswert. Dies legt nahe, dass Conrad Schick sich selbst frei von ideologisch basierter Positionierung darstellte und bekannt dafür war, Fakten ohne exklusive Solidarisierung mit spezifischen Gesellschafts­gruppen zu kommunizieren. Diese Offenheit für und Anschluss­fähigkeit an kulturell unterschiedlich geprägte Kreise kann sich auch in seiner architektonischen Arbeit mit ihrem Formen­kanon konkret aufzeigen lassen.

Conrad Schick

2  Haus Thabor, Jerusalem. Außenansicht von Süden.

Haus Thabor Auf der Basis von Beobachtungen, die 2016 vor Ort gemacht wurden, lässt sich am Beispiel seines privaten Wohnhauses Thabor in Jerusalem (heute Swedish Theological Institute) der Formen­kanon der Arbeit Conrad Schicks aufzeigen und in einem vorläufigen, dem Stand der Recherchen entsprechenden Ansatz auswerten. Die kompakt wirkende, mit einer Mauer umwehrte Anlage (Abb. 2) kann in die Bereiche des zentralen Hauptgebäudes mit einem westlichen Flügel zur Aufnahme von Wirtschafts­ räumen und einer Kapelle im östlichen Flügel sowie vor und hinter dem Haupthaus befindlichen Hof­be­rei­chen unterteilt werden (Abb. 3). Dabei muss angemerkt werden, dass abgesehen von der durch ihre Gestaltung eindeutigen Kapelle derzeit noch keine Aussagen zur ursprünglichen Nutzung der Räume sowie zu möglichen baulichen Restrukturierungen getroffen werden können. Einzig dem Tagebuch der Tochter Anna Maerker,

geb. Schick, lässt sich bislang entnehmen, dass sich im Obergeschoß Privaträume befanden.41 Auffällig ist, dass die durch das Torhaus vorgegebene lineare Zugangsstruktur der Anlage automatisch die soziale Interaktion kontrolliert.42 Hierbei muss bedacht werden, dass sich Haus Thabor zum Zeitpunkt der Errichtung nicht nur außerhalb der Stadtmauer, sondern auch auf unbebautem Gelände in exponierter Lage befand. Die graduelle Restriktion der Zugänglichkeit des Gebäudekomplexes erlaubte den Bewohnern ein hohes Maß an Kontrolle über die unmittelbare Umgebung.43 Teilweise war die Anlage wohl der ursprünglichen Topographie des durch Conrad Schick erworbenen Grundstücks geschuldet. Der Grundriss des Sockel­geschosses weist die geschilderte Aufteilung in einen Flur mit flankierenden Räumen sowie dahinter liegenden Wirtschafts­ räumen auf, eine Aufteilung, die Conrad Schick für die Schule Talitha Kumi propagierte und die weithin als Neuerung rezipiert wurde.44

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3  Haus Thabor, Grundriss.

4  Ansicht des rückwärtigen Hofbereichs nach Süden.

Während die Strukturierung des Innen­raumes an Bauernhäuser der Schwäbischen Alb erinnert45 und daher eine Reminiszenz an die Herkunft Conrad Schicks darstellt, sind sowohl die Anlage eines dem Gebäude vorgelagerten Innen­hofes als auch der Hofbereich hinter dem Haus einheimischen Traditionen verhaftet, welche spätestens seit der römischen Epoche kontinuierlich bis in die Neuzeit ihre bauliche Umsetzung fanden. Eher ungewöhnlich ist hierbei, dass durch die Lage des eigentlichen Wohngebäudes der Hof in einen Eingangsund einen rückwärtigen Bereich unterteilt und so eine deutliche Abgrenzung zwischen semi-öffentlichem und privatem Raum geschaffen wird (Abb. 4). Die über Treppen zu erreichenden Flach­dächer im

Conrad Schick

vorderen Hofbereich greifen wiederum typisch einheimische Bau­elemente auf (Abb. 5). Kontrastiert werden diese Elemente durch die europäischen Giebel­dächer des Haupthauses sowie des östlichen Neben­gebäudes. Auch die angesichts der klimatischen Bedingungen ungewöhnliche Größe der Fenster entspringt wohl eher europäischen Vorstellungen. Im Inneren des Gebäudes finden sich weitere architektonische Details europäischer Herkunft. Die stiegenartige Holzkonstruktion im rückwärtigen Teil des Gebäudes erinnert an bäuerliche Wohn­bauten (Abb. 6) ebenso wie die für die Region untypische Konstruktion der Balkendecke im östlichen Raum des Ober­geschosses. Im ländlichen

süd­deutschen Kontext ist diese Art der Decken­ konstruktion ein Indikator für die Platzierung des primär im Winter beheizten Raumes in einem ländlichen Wohngebäude.46 Eventuell liegt hier eine ähnliche Raum­nutzung als »Stube« im Ober­geschoss vor,47 welche die notorisch kalten Jerusalemer Winter und überdies das Leben in schlecht beheiz­ baren einheimischen Bauten er­träg­licher zu gestalten versuchte. Mangelnde Vor­kom­men entsprechender Bau­hölzer vor Ort lassen darüber hinaus vermuten, dass die verwendeten Balken importiert wurden. Die Tür- und Fenster­öffnungen sind mit halb­kreis­förmigen Bögen aus gehauenen Steinen überwölbt (Abb. 7), eine weitere Neuerung, die von Conrad Schick selbst beschrieben wird.48

5  Ansicht des vorderen Hofbereichs nach Südwesten.

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6  Haus Thabor, Treppe im Obergeschoss.

Während somit der private Bereich des Hauses Thabor deutlich nach Europa weisende Charakteristika aufweist, kommuniziert die Außen­ gestaltung nicht nur in der Hof­anlage, sondern auch in der Wahl der Bau­ornamentik die Adaption einheimischer Bau­formen. Die Ausführung des Mauer­werks entspricht der in Jerusalem traditionell üblichen Form.49 Die Erker­konstruktion am Torhaus des Haupt­einganges und der Giebel des Ostflügels an der Kapelle evozieren in abgewandelter Form Assoziationen an Details der osmanischen Stadtmauer Jerusalems. Das runde Fenster im zentralen Giebel referenziert eventuell sowohl in Ausführung als auch Positionierung ein für jüdische Bauten typisches Element,50 welches hier ohne den üblichen Zusatz eines zentralen David­sterns ausgeführt wurde. In einer in den privaten Bereich gerichteten Weise werden diese

7  Detail der Türkonstruktion im Untergeschoss.

kulturellen Anspielungen durch die Anlage eines von außen nicht in seiner Funktion erkennbaren Giebels zur Aufnahme der Ka­pel­len­glocke im östlichen Flügel kontrastiert. Pal­metten­akrotere und dorische Friese verleihen der Haupt­fassade dezente klassizistische Details, die nach Europa weisen. Da sich sowohl im Inneren des Gebäudes als auch an der Fassade im rückwärtigen Hof­ bereich Abgüsse von Inschriften aus archäologischen Kontexten befinden, sollte zunächst eine bewusste Anlehnung an die For­schungs­prä­fe­ren­ zen Conrad Schicks nicht zur Gänze ausgeschlossen werden. Die am Erker des Torhauses angebrachte Inschrift Thabor in Kombination mit dem Ver­weis auf Psalm 89,13 nutzt schlussendlich eine Bibel­ stelle, die gleichermaßen in Juden- und Christen­ tum, hierbei auch den griechisch-orthodoxen

Conrad Schick

Glauben adressierend, von Bedeutung ist, als gestalterisches Element. Abschließend ist zu erwähnen, dass weitere kreative Einflüsse aus bis dato nicht erschlossenen Quellen in Betracht gezogen werden müssen. Beispiel­haft hierfür ist die Tatsache, dass bislang die Möglichkeit wichtiger Kontakte zur Gemeinschaft der Templer negiert wurde. Aus dem Tagebuch der Tochter Anna Maerker geht eindeutig hervor, dass diese weitreichend und für Conrad Schick von lokal­ politischer Bedeutung waren.51 Anna Maerkers Tagebuch beschreibt zudem den engen Kontakt zu Holman Hunt, einem der Begründer der präraffelitischen Bewegung und direktem Nachbarn der Familie Schick.52 Dass zwischen beiden ein künstlerischer Austausch bestand, ist zudem kaum von der Hand zu weisen, da Holman Hunt Conrad Schick ein Gemälde mit den Worten »Who is like you among the builders, Schick!« widmete.53

Formenkanon Der architektonische Formenkanon Conrad Schicks wird im Allgemeinen als europäischer Stil unter Nutzung einheimischer Baumethoden verstanden.54 Diese Beschreibung erinnert stark an die architektonische Entwicklung des colonial regionalism, die Verbindung einheimischer mit westlich geprägten Stilelementen als sozio-politisches Instrument im Rahmen architektonischer Gestaltung. Architektur wird in diesem Kontext primär als post­modernes Instrument einer forcierten Iden­titäts­findung, wie sie sich auch in der israelischen Gesellschaft nach dem Sechs­tage­ krieg 1967 vollzog, erfahren.55 Die Anwendung des Formen­kanons des »fremden Orients« wurde dabei im Rahmen eindeutiger Hierarchi­sierung als Abwandlung im jeweils »eigenen« Stil­kanon praktiziert.56 Die gezielt zurückhaltende Wahl gleichrangig eingesetzter Stilmittel unterschiedlichen kulturellen Hintergrundes in der Arbeit Conrad Schicks weist eine eindeutige Abkehr von dieser

Vorgehensweise auf und verweigert auf diese Weise eine Repräsentation des damit einhergehenden Oktroyierens gesellschaftlicher Werte. Die von Conrad Schick für sein Wohnhaus gewählten stilistischen Elemente stammen sowohl aus europäischer als auch lokaler Architektur und stellen eine Kombination von Elementen dar, die etablierten baulichen Traditionen verhaftet sind. Die Details der Fassadenornamentik zur Straßen­ seite reflektieren verstärkt Formen unterschiedlicher historischer Epochen und sozialer Kontexte der Region. Diese simultane Kommunikation mit unterschiedlichen sozialen Bezugs­systemen innerhalb der Jerusalemer Gesellschaft kulminiert in der religiösen Anleihe der Namens­gebung. Eklektizistische Ansätze dieser Art finden sich auch in der Fassadengestaltung zeitnaher Bauten in der Region.57 Die erste Darstellung des von Conrad Schick angewandten Formenkanons muss daher um eine Analyse entsprechender Vergleichs­bauten weiterer Provenienzen ergänzt werden. Als be­mer­kens­wert für die architektonische Gestaltung des Hauses Thabor ist in diesem Kontext allerdings die hierarchisch angelegte, nach innen und außen divergierende Wahl der Stil­mittel festzuhalten. Öffentlicher, semi-öffentlicher, semi-privater und privater Raum gehen mit einer Zunahme von Elementen europäischer Herkunft und gleichzeitiger Abnahme einheimischer einher. Hierbei werden Raumgrenzen deutlich markiert, so dass die referenzierten Kontexte in ihrem Zusammen­spiel nur durch den Zugang zum architektonischen Gesamt­komplex erkennbar werden. Nach außen wird primär die Adaption einheimischer kultureller Werte dargestellt. Diese Art der architektonischen Komposition liegt angesichts der biographischen Entwicklung Conrad Schicks und seiner Akzeptanz seitens der unterschiedlichen Jerusalemer Gemeinschaften nahe. Sie steht im Einklang mit der von ihm in seinen Memoiren beschriebenen Maxime, dass bereits in seiner Jugend für ihn die friedliche Koexistenz unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften selbstverständlich war.58

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Constanze Röhl

Rezeption Vor dem Hintergrund der im vorherigen Abschnitt aufgeführten sozialgeschichtlichen Implikationen des Formenkanons stellt sich nun die Frage nach dessen Rezeption in der jüngeren regionalen Architekturgeschichte. Im Jerusalemer Viertel Gilo ist das Nachleben der Arbeit Conrad Schicks als Stadtplaner präsent (Abb. 8). Das Viertel befindet

8  Gilo, Jerusalem, 1960er Jahre.

sich topographisch gesehen in einer extrem schwierigen geopolitischen Situation im Spannungs­ feld Palästina-Israel.59 Gilo wurde daher unter der Prämisse entworfen, der Entfremdung in einer modernen Stadt mittels unterschiedlich gruppierter Wohneinheiten vorzubeugen, die sich zu Clustern, Vierteln, Nachbarschaften und Mikro­ nachbarschaften zusammenfügen.60 Zur Umsetzung dieses Vorhabens wurde Conrad Schicks Design für Me’ah She’arim adaptiert (Abb. 9).61 Das jüdisch-orthodoxe Viertel wurde sukzessive in den Jahren 1874 bis 1882 im Auftrag einer privaten Baugemeinschaft nördlich der Stadt­ mauer Jerusalems errichtet.62 Die Bebauung des Areals wurde von Conrad Schick in Form schmaler, um einen zentralen Platz mit öffentlichen Gebäuden gruppierter Hauszeilen, sog. Reihen­ häuser entworfen.63 Die zunächst nur an drei Seiten bebaute Anlage war dabei durch die Vorgaben des Me’ah She’arim Ordinance Survey zur Infrastruktur sowie durch Sicherheits­ bestimmungen und die Topographie der angekauften Grundstücke geprägt.64 Der ursprüngliche Entwurf sah ein geschlossenes inneres Areal des Viertels mit lediglich vier mit Eisentoren versehenen Zugängen vor. Dieses Konzept wurde 1915 verworfen. Durch die Reihen­häuser in den Außenbereichen des Viertels blieb das Erscheinungs­bild eines von außen nicht ohne weiteres zugänglichen Viertels gewahrt. Conrad Schick beschreibt diese in der Rückschau als kasernen­artige, jedem Reisenden sogleich auffallende und im Kontrast zu »besseren« Bauten stehende Bauweise.65 Es bleibt also zu untersuchen, in welchem Maße Conrad Schick für die Arbeit an Me’ah She’arim Vorgaben seiner Auftraggeber zu beachten hatte. In diesem Zusammen­ hang ist zu beachten, dass im Gesamtbild der engen Gassen und der asymmetrisch aus der Achse der Tore verschobenen Gebäude mit einer lückenlosen Aneinander­reihung der Fassaden ein gestalterisches Konzept erkennbar ist, welches stark an das osteuropäische jüdische Ghetto erinnert.66 Interessant in Bezug auf sozial­ geschichtliche Aspekte der Arbeit Conrad Schicks ist auch, dass er

Conrad Schick

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die Bau­weise der Reihen­häuser als »billig«, aber in gesundheitlicher Hinsicht große Nachteile aufweisend, beschreibt.67 Seine Kritik betrifft weniger die Ästhetik der Bauten als vielmehr deren mangelnde Konzeption in Bezug auf adäquate Wohn­ver­hält­ nisse, eine Anmerkung, die an den Kontext der frühen Reform­entwicklungen von Arbeiter­siedlungen im europäischen Umfeld erinnert.68

Fazit Wie eingangs beschrieben, stellt Palästina im 19. Jh. das Beispiel einer im Identitätswandel begriffenen Region dar, welche insbesondere durch die Intervention europäischer Staaten geprägt wurde. Dieser Wandel zeigt sich in zwar sukzessiven, aber tiefgreifenden infrastrukturellen und demographischen Veränderungen, deren Folgen bis in die Gegenwart wirken. Am Beispiel der eklatanten städtebaulichen Veränderungen in Jerusalem sind diese Entwicklungen und die Rolle der Einflussnahme durch die europäischen Staaten mit ihren diversen Institutionen und Interessen sowie die hiermit verbundenen Mittel und Motivationen der Selbstdarstellung im Ausland aus heutiger Sicht nachvollziehbar. Die Analyse der Urbanistik Jerusalems in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. ermöglicht so die gezielte Auseinandersetzung mit den Konstruk­ten ›Integration‹ und ›Segregation‹ und ihrer kontext­ abhängig graduell unterschiedlichen Ausprägung. Ausgehend von einem fundiert erarbeiteten Werk­ verzeichnis zur Arbeit Conrad Schicks sollen diese per se primär abstrakten Konzepte in ihrer unmittelbaren Umsetzung detailliert erfasst werden. Bereits die erste Analyse seiner Auswahl stilistischer Elemente erlaubt den Entwurf eines Szenarios, welches mittels Architektur kommunizierte Inhalte und deren Rezipienten rekonstruieren lässt. Architektur wird als Ausdruck impliziter sozialer Normen bzw. als identitätsbildendes Bezugs­system verstanden.69

9  Layout des jüdisch-orthodoxen Viertels Me’ah She’arim.

Haus Thabor belegt, wie mittels der Synthese einheimischer vernakulärer Bauelemente, historischer Reminiszenzen und europäischer Stil­ elemente Architektur die Einfügung in ein kulturell gesehen fremdes soziales Umfeld bewerkstelligen kann, ohne die Solidarität innerhalb der eigenen Gemeinschaft zu unterlaufen. Im Jerusale­ mer Stadtviertel Gilo zeigt sich die gegenwärtige Rezeption dieses Konzeptes. Dass dieses als Anlage architektonischer Kompositionen, die sich mittels symbolischer Gesten vom öffentlichen in den privaten Bereich bewegen, etabliert ist, findet sich ebenfalls in der zeitgenössischen Architektur von Gilead Duvshani, der das Ziel seiner Bauten folgendermaßen definiert: »The aim here is to create unity, between the physical characteristics of the site, the local metaphor and a relevant modernism, causing a synthesis between East and West.«70 Von diesem Ansatz her betrachtet erweist sich deutlich die Zeitlosigkeit der Konzepte Conrad Schicks, die sowohl auf der Ebene einzelner Gebäude als auch im Rahmen der Meta­struktur ›Stadt‹ erfolgreich im multikulturellen Umfeld bestehen.

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1 Carmel 1981; Carmel 1983; Goren 2003; Goren 2011; Lendenmann 2001; Strobel 1988. 2 Schick 1902. 3 Kroyanker 1983. 4 Goren / Rubin 1996; Rubin 2006. 5 Schick 1902. 6 Der vorliegende Artikel stellt die Ergebnisse von Recher­ chen im Jahr 2016 dar. 7 Ben-Arieh 1983. 8 Kark 1984, 385. 9 Kark / Oren-Nordheim 2001, 30. 10 Kark / Oren-Nordheim 2001, 77. 11 Kark / Oren-Nordheim 2001, 76. 12 Ben-Arieh 1984a, 278. 13 Ben-Arieh 1984b, 173. 14 Kark 1998, 532; Ben-Arieh 1984b, 82–100. 15 Kark 1998, 530. 16 Kark / Oren-Nordheim 2001, 261. 17 Einsicht Originaldokument Autobiographie in Besitz W. Trautmann. 18 Zur Biographie s. Carmel 1983; Goren 2011; Lendenmann 2001. 19 Silberman 1998, 14. 20 Goren 2003, 338. 21 Schick 1880. 22 Schick 1885. 23 Schick 1887. 24 Schick 1890. 25 Gibson 2000. 26 Schick 1867. 27 Schick 1895. 28 Schick 1897. 29 Schick 1896b. 30 Schick 1879. 31 Schick 1893; 1894. 32 Schick 1899, 118. 33 Schick 1888, 21. 34 Schick 1873.

Bedal 1999 A. Bedal: Oben Wohnen, unten Wirtschaften, in: Alte Bauernhäuser an Kocher und Jagst, Hohenloher Freiland­ museum Mitteilungen 20 (Schwäbisch Hall 1999). Ben-Arieh 1983 Y. Ben-Arieh: The Rediscovery of the Holy Land in the Nineteenth Century (Jerusalem 1983). Ben-Arieh 1984a Y. Ben-Arieh: Jerusalem in the 19th century. The Old City (New York 1984).

35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70

Hanauer 1926, 62–63. Goren / Rubin 1996, 103. Goren / Rubin 1996, 106; Rubin 2006, 44. Schick 1896a. Lendenmann 2001, 31. Goren / Rubin 1996, 109. Einsicht unpubliziertes Originaldokument in Familien­ besitz. Vgl. Dovey 2001, 22. Vgl. Newman 1996. Schick 1894, 268. Bedal 1999, 37. Kolesch 1967, 230. Bedal 1999, 25. Schick 1894, 268. Vgl. Kroyanker 1983, 39. Vgl. Kroyanker 1983, 72. Unpubliziertes Originaldokument in Familienbesitz. Ben-Arieh 1984b, 335. Meiron, 2006, 73. Kroyanker 1983, 43. Weizmann 2003, 76; Weizman 2007, 26–27. Hort, 2014, 141. Kroyanker 1983, 331. Einsicht Originaldokument Autobiographie in Besitz W. Trautmann. Kallus 2004, 152–155. Duvshani / Frank, 1985, 42. Kroyanker 1983, 56. Ben-Arieh 1984b, 109. Kroyanker 1983, 35. Ben-Arieh 1984b, 111. Schick 1894, 268. Kroyanker 1983, 36. Schick 1894, 268. Vgl. Kirsch 1982. S. bspw. Bourdieu 2005. Duvshani 2008, 9.

Ben-Arieh 1984b Y. Ben-Arieh: Jerusalem in the 19th century. The Emergence of the New City (New York 1984). Bourdieu 2005 P. Bourdieu: Habitus, in: J. Hillier / E. Rooksby (Hg.): Habitus. A Sense of Place (Farnham 2005) 43–49. Carmel 1981 A. Carmel: Christen als Pioniere im Heiligen Land. Ein Beitrag zur Geschichte der Pilgermission und des Wiederaufbaus Palästinas im 19. Jahrhundert (Basel 1981).

Conrad Schick

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Kolesch 1967 H. Kolesch: Das altoberschwäbische Bauernhaus (Tübingen 1967). Kroyanker 1983 D. Kroyanker: Jerusalem Architecture, Periods and Styles: The Jewish Quarters and Public Buildings Outside the Old City Walls, 1860–1914 (Jerusalem 1983). Lendenmann o. J. M. Lendenmann: Conrad Schick – Ein Pionier im Heiligen Land. Unveröffentl. Diplomarbeit, Theologisches Seminar St. Crischona. Meiron 2006 E. Meiron (Hg.): Jerusalem, a walk through time. Bd. 2 (Jerusalem 2006). Newman 1996 O. Newman: Creating defensible space (New York 1996). Rubin 2006 R. Rubin: Relief Models and Maps in the Archives of the Palestine Exploration Fund in London, Palestine Exploration Quarterly 138, 2006, 43–63. Schick 1867 C. Schick: Studien über Straßen- und Eisenbahnanlagen zwischen Jaffa und Jerusalem nebst Beschreibung der Gegend im Norden von Jaffa und der Ruinen von Mar Zacharias, Petermann’s Mittheilungen aus Justus Perthes’ geographischer Anstalt über wichtige neue Erforschungen aus dem Gesamtgebiete der Geographie 13, 1867, 124–132. Schick 1873 C. Schick: Erklärung der Modelle des Haram Es-Scherif und der Sachra Moschee in Jerusalem (Wien 1873). Schick 1879 C. Schick: Landwirtschaftliche Verhältnisse in Palästina. Oesterreichische Monatsschrift für den Orient 5, 1879, 50–52; 96–101; 133–135. Schick 1880 C. Schick: Phoenician Inscription in the Pool of Siloam, Palestine Exploration Fund Quarterly Statement 12, 1880, 238–239. Schick 1885 C. Schick: Die Aechtheit der heiligen Grabeskirche. Neueste Nachrichten aus dem Morgenlande 29, 1885, 70–75. Schick 1887 C. Schick: Beit el-Makdas oder Der alte Tempelplatz zu Jerusalem wie er jetzt ist (Jerusalem 1887). Schick 1888 C. Schick: Jerusalem. Palestine Exploration Fund Quarterly Statement 20, 1888, 20–22. Schick 1890 C. Schick: Rock levels in Jerusalem, Palestine Exploration Fund Quarterly Statement 22, 1890, 21–21. Schick 1893 C. Schick: Die Baugeschichte der Stadt Jerusalem in kurzen Umrissen von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart

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dargestellt, Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 16, 1893, 237–246. Schick 1894 C. Schick: Die Baugeschichte der Stadt Jerusalem in kurzen Umrissen von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart dargestellt, Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 17, 1894, 1–24; 75–88; 165–179; 251–276. Schick 1895 C. Schick: Neubauten in Jerusalem. Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 18, 1895, 31. Schick 1896a C. Schick: Die Stifthütte, der Tempel in Jerusalem und der Tempelplatz der Jetztzeit (Berlin 1896). Schick 1896 C. Schick: Die Einwohnerzahl des Bezirks Jerusalem, Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins 19, 1896, 2120–2127. Schick 1897 C. Schick: Sonst und jetzt. Die Veränderungen in Jerusalem und in dem heiligen Lande in den letzten fünfzig Jahren, Neueste Nachrichten aus dem Morgenlande 41, 1897, 60–69; 93–100; 129–140; 184–194; 211–229. Schick 1899 C. Schick: Preparations made by the Turkish Authorities fro the visit of the German Emperor and Empress to the Holy Land in the autumn of 1898, Palestine Exploration Fund Quarterly Statement 31, 1899, 116–118. Schick 1902 C. Schick: Wie aus einem einfachen Mechaniker im Schwabenland ein königlicher Baurat in Jerusalem geworden ist, Christlicher Volksbote aus Basel 70, 1902, 23–33.

Silberman 1998 N. Silberman: Power, Politics and the Past: The Social Construction of Antiquity in the Holy Land, in: T. E. Levy (Hg.): The Archaeology of Society in the Holy Land (London 1998), 9–20. Strobel 1988 A. Strobel: Conrad Schick, Ein Leben für Jerusalem (Fürth 1988). Weizmann 2003 E. Weizmann: The Politics of Verticality: The West bank as an Architectural Construction, in: K. Biesenbach et. al.: Territories (Berlin 2013) 65–117. Weizmann 2007 E. Weizmann: Hollow Land, Israel’s Architecture of Occupation (London 2007).

Abbildungsnachweis 1 Kark / Oren-Nordheim 2001, 80. 2 https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/ef/ Thabor_House%2C_Jerusalem.jpg, 5.4.2017. 3–7 C. Röhl. 8 Kallus 2004, 137. 9 Ben-Arieh 1984b, 110. Farbtafeln XII u. XIII  DEI Jerusalem.

Johann August Roebling Anything Goes – Brücken in der Neuen Welt

Andreas Kahlow

Als 1855 der Deutsch-Amerikaner John A. Roebling seine über 250 m spannende Niagara Railroad Suspension Bridge in den USA fertigstellte, herrschte im Verein Deutscher Eisenbahnverwaltungen übereinstimmend die Meinung, dass Hänge­ brücken für den Eisenbahn­verkehr ungeeignet seien. Irrten die europäischen Fachleute, und zeigte Roebling mit seinem Husaren­stück der alten Welt im Alleingang, wozu ein freier, schaffender Geist in der Lage war? In gewisser Weise kann man diesen bemerkenswerten Vorgang wohl genauso beschreiben. Da aber Roebling vor seiner Auswanderung 1831 in die USA in Deutschland – an der Berliner Bauakademie – ausgebildet worden war, stellt sich die Frage nach der Ursache derartig divergierender Auffassungen über die Möglichkeiten des Ingenieur­baus Mitte des 19. Jhs. Neben der Tatsache, dass der »gesetzlose« Raum der USA ein »unkontrolliertes« und risikoreiches Herangehen gegenüber dem schon damals deutlich stärker »regulierten« Europa ermöglichte, gibt es auch einige sozial­psychologische und theoriegeschichtliche Sachverhalte, die zur Erklärung herangezogen werden müssen. Der Terminus des »impliziten Wissens« stellt hierbei einen Schlüsselbegriff dar.1

Brückenbau im 19. Jh. Nationale Unterschiede in der Denkweise »Allein was dem reichen Engländer ziemt, der überall das grosse, volle Bewußtsein mit sich herumträgt: ›Ich bin im Besitz des Eisens und ich brauche mich nicht mit der Statik zu plagen‹, passt weniger für die armen Teufel

des Continents; die müssen difteln und probieren […] um ja kein Material zu ver­schleudern […] Vom nationalökonomischen Stand­punkt aus betrachtet schreitet aber der Amerikaner auf der richtigsten Bahn einher; er wendet nie mehr als das absolut Nothwendige auf, oder lieber noch etwas weniger; das Bauwerk könnte vielleicht doch halten.«2

Karl Culmann, der sich mit seinen Berichten über den Bau der hölzernen Brücken in den Verei­nig­ten Staaten von Amerika 1851 einen Namen machte,3 bringt mit dieser drastischen Äußerung nationale Unterschiede in der Bautechnik auf den Punkt. Diese Thematik wurde bereits verschiedentlich unter dem Gesichtspunkt technischer Denkstile behandelt. Ein gutes Bei­spiel ist die Monographie von Eda Kranakis, die in Constructing a Bridge die Unterschiedlichkeit technologischer Communities in Frankreich und den USA thematisiert.4 Ein in ihren Fallstudien genauer behandeltes Gebiet ist der Hängebrückenbau, der am Beispiel der beiden Brückenbauer James Finley und Claude Louis Marie Henri Navier untersucht wird. Eine immer wiederkehrende Fragestellung ist dabei die nach der Rolle der sozialen Bezugs­ gruppe, in der technisches Wissen entsteht und reproduziert wird. Dass unterschiedliche Denkund Arbeitsweisen mit der jeweiligen kommunikativen »Umgebung« zusammenhängen, ist evident. Welche Übertragungen, Anpassungen und neuen Reproduktionsmechanismen von technischem Wissen in und zwischen den Communities auftreten, kann Eda Kranakis mit ihren Fallstudien jedoch nur andeuten, da sie die Formen der Wis­ sens­reproduktion nicht näher untersucht.

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Andreas Kahlow

Der Ingenieur Johann August Röbling – John Augustin Roebling

1  Portrait von Johann August Röbling.

Dass bautechnische Neuerungen mit dem Trans­fer von Ingenieurwissen einhergehen, ist offensichtlich; die Wechselwirkung mit den Umge­bungs­ verhältnissen ist gerade im Ingenieur­wesen sehr komplex. Der Unterschied zum wissenschaftlichen Diskurs besteht vornehmlich darin, dass im Allgemeinen die Praxis und nicht die Theorie im Mittelpunkt steht, dass das Projektieren und Gestalten meist Vorrang vor dem Argumentieren genießt, dass statt systematischer Versuche oft nur zielgerichtete Tests durchgeführt werden. Nicht die Fragen systematischer Erkenntnis, sondern technologische, finanzielle und auch handwerkliche Fragen stehen zunächst im Vordergrund technischen Schaffens. Der Begriff des »impliziten Wissens« beschreibt genau diese Ebene der Bedeutungsbildung, die im Ingenieurwesen eine sehr wichtige Rolle spielt. Erst die diskursive Reproduzierbarkeit führt zur Theoriebildung und damit zur technischen Wissenschaft.

Der Gegenstand der vorliegenden Studie ist die Untersuchung der Arbeitsmethodik des Inge­nieurs Johann August Röbling (1806–1869, Abb. 1) nach seiner Auswanderung 1831 in die USA. Von ihm stammt u.a. der Entwurf der Brooklyn-Brücke in New York (Abb. 2), die von 1869 bis 1884 erbaut wurde und als ein Symbol der Moderne gilt. Anhand der Denk- und Vorgehensweise Röblings wird herausgearbeitet, wie sich seine Arbeits­weise durch die für ihn neuen Kommu­ni­ ka­tions­strukturen, innerhalb derer er in den USA wirkte, veränderte. Dem Umstand, dass außerordentlich viele persönliche Dokumente Roeblings erhalten geblieben sind, ist es zu verdanken, dass die Besonderheiten seines deutschen wie amerikanischen Lebens­abschnitts gut erforscht werden können.5 Johann August Röbling stammte aus Mühl­ hausen in Thüringen. Er besuchte in seiner Heimat­stadt ein Gymnasium, das sich mit der Einrichtung einer Lehrmittelsammlung bereits den mathematisch-physikalischen Fächern geöffnet hatte. Er verließ es 1821 im Alter von 15 Jahren, um an der gerade eröffneten mathematischen Lehranstalt des Dr. Salomon Unger (1789–1870) in Erfurt eine zweijährige Ausbildung zu absolvieren, die auf eine Laufbahn als praktisch tätiger Staatsbeamter, zum Beispiel als Baukondukteur, vorbereitete. Unterrichtet wurden vor allem praktische Geometrie, Zeichnen, angewandte und höhere Mathematik. Mit dieser Ausbildung konnte Röbling im Mai 1823 in Erfurt sein erstes Examen ablegen, die Feldmesserprüfung. Ab 1824 studiert er an der Bauakademie in Berlin.6 Die Berliner Bauakademie war vom Ingenieur und Mathematiker Johann Albert Eytelwein (1764– 1848) nicht nur gegründet, sondern 1824 auch grundlegend reformiert worden. Es wurden mehrere neue Lehrer eingestellt und die ingenieurtechnischen und naturwissenschaftlichen Fächer gestärkt. Die Studenten wurden mit den Fächern

Johann August Roebling

2  Brooklyn Bridge 2004.

Analysis und höhere Geometrie, Statik und Hydrostatik, Naturlehre, Geographie, Chemie und Mineralogie vertraut gemacht. Zudem absolvierten sie die üblichen künstlerischen und baupraktischen Fächer, die zur Architekturausbildung gehörten, wie freies Handzeichnen, architektonisches Zeichnen, Perspektive, allgemeine Baulehre sowie Stadtbaukunst. Neu war das Ingenieurfach Wasser-, Straßen- und Brückenbau. Röbling war einer der wenigen Studenten, die die Ausbildung ohne Schwierigkeiten bewältigten.7 Er hörte zeitweise außerhalb des regulären Lehrprogramms Vorlesungen bei Hegel an der Berliner Universität.8 Sein Interesse galt insbesondere der mathematisch anspruchsvollen, vom französischen Ingenieur und Mathematiker Navier (1785–1836) entwickelten Theorie der Hänge­brücken. Von 1825 bis 1828 arbeitete Röbling als Bau­ kondukteur in Westfalen und reichte mehrfach

selbständig ausgearbeitete Hänge­ brücken­ vorschläge ein; eine Baugenehmigung wurde nicht erteilt. Der Einsturz einer außerhalb Preußens in Nien­burg an der Saale gerade erst errichteten Schräg­ketten­brücke im Dezember 1825 führte bei der preußischen Bauverwaltung zu äußerster Zurück­haltung bei der Genehmigung ähnlicher Projekte. Seinen Plan, das Baumeisterexamen mit einem Hänge­brücken­projekt abzuschließen, konnte Röbling nicht verwirklichen. Zur persönlichen Enttäuschung über Erfolg­ losigkeit seiner Hängebrückenpläne gesellte sich bei Röbling die Unzufriedenheit über die politische Situation. Nach der französischen Julirevolution von 1830 verstärkten sich in Preußen Repression und Willkür. Röbling setzte sich in seiner Heimatstadt Mühlhausen an die Spitze einer »Aus­wanderer­gesellschaft« und verließ Deutschland im Mai 1831. Nach dem Zerfall der zunächst mehrere Dutzend Personen

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umfassenden Auswanderergruppe siedelte sich Röbling mit nur einer Handvoll Gleich­gesinnter in der Nähe von Pittsburgh im US-Staat Pennsylvania an.9 Sein Ziel, zusammen mit seinen Freunden und Bekannten eine Kolonie zu gründen, die auf der Basis sowohl von moderner Landwirtschaft als auch von mit Dampfkraft betriebener Industrie gedeihen sollte, ließ sich unter diesen Verhältnissen nicht umsetzen. Erst nachdem sich Roebling – in der Folge wird die für die Zeit nach seiner Einbürgerung im Jahre 1837 gebräuchliche amerikanische Schreibweise John A. Roebling verwendet – nach den ersten Aufbaujahren aus dem engen, rein deutschsprachigen Kreis der Kolonie Saxonburg und der vorwiegend landwirtschaftlich ausgerichteten Tätigkeit lösen konnte und vielfältige Kontakte in die 25 Meilen entfernte Stadt Pittsburgh, dem damaligen Zentrum der Industrieentwicklung in Pennsylvania, knüpfte, gelang es ihm, in seinem alten Beruf wieder Fuß zu fassen.10 Bei Kanalvermessungsarbeiten lernte er den amerikanischen Ingenieur Charles Schlatter kennen, der ein enger Freund von ihm wurde. Über ihn erhielt er 1839 eine Anstellung für Vermessungsarbeiten für die geplante Ost-WestEisenbahn-Verbindung zwischen Pittsburgh und Harrisburg.11 Es zeigte sich, dass die an der Berliner Bauakademie erworbenen Kenntnisse vor allem in der Vermessungskunde und Hydraulik von außerordentlich hohem Wert waren. Mit hartnäckiger Energie verfolgte Roebling in dieser Zeit zugleich das Ziel, sein Englisch zu verbessern und den deutschen, lokal geprägten Akzent abzulegen.12 Im Jahre 1838 veröffentlichte Roebling seinen ersten Artikel im American Railroad Journal und galt etwa ab dieser Zeit als Experte für Wasser­bau.13 Sein intensives Bemühen um Kontakt­aufnahme nicht nur zu Ingenieuren, sondern auch zur Geschäftswelt von Pittsburgh führte schon um 1840 dazu, dass er als Sachverständiger für den berühmten CrotonRiver-Aquädukt berufen wurde.14 Ein Artikel über französische Draht­ seil­ hänge­ brücken im gleichen Journal, verfasst

vom jungen amerikanischen Ingenieur Charles Ellet (1810–1862), veranlasste Roebling, sich im Februar 1840 an diesen zu wenden und ihm eine Zusammenarbeit bei der Konstruktion einer Draht­ kabel­brücke anzubieten. Die berühmte ColossusBrücke bei Philadelphia war 1838 abgebrannt und musste ersetzt werden.15 Es begann ein zunächst fruchtbarer fachlicher Briefkontakt zwischen beiden. Nach kurzer Zeit trat jedoch ihr Konkurrenz­ verhältnis zueinander in den Vordergrund und die Kontakte kühlten sich ab. Roebling, der in fachlichen und geschäftlichen Kreisen im Vergleich zum Amerikaner Ellet noch relativ unbekannt war, gelang es, mit einem umfangreichen Artikel über Suspension Bridges – wiederum im American Railroad Journal – im Frühjahr 1841 Aufmerksamkeit zu erregen. Dem Drahtkabel wurde hier eine für den Hängebrücken­bau herausragende Stellung eingeräumt. Roebling fasste dabei Erkenntnisse zusammen, die er schon bei der Arbeit an seinen Hängebrückenprojekten in Deutschland gewonnen hatte.16 Ellet, der kurze Zeit in Frankreich an der berühmten Ecole des ponts et chausseés in Paris studiert hatte, befürchtete, dass Roebling ihn beim Bau der Draht­kabel­ brücke übervorteilen könnte und stellte aus diesem Grund den fachlichen Austausch mit ihm ein. Gebaut wurde die neue Colossus-Brücke ohne Roeblings Beteiligung allein nach Ellets Plänen. Sie wurde am 1. Januar 1842 eröffnet.17

Erst Drahtseile – dann Hängebrücken Schon seit Mitte der 1830er Jahre hatte Roebling versucht, Patente auf verschiedene Erfindungen anzumelden, aus denen er Profit zu ziehen hoffte. Neben Verbesserungen von Lokomotiven, dem Entwurf von Dampf­pflügen und Vorschlägen zu hydraulischen Maschinen (er benutzte hierbei auch Ideen seines Lehrers Eytelwein) versuchte er um 1840 das 1834 vom deutschen Bergbau­ inspektor Wilhelm A. J. Albert erfundene Draht­ seil nachzubauen und gleichzeitig zu verbessern.

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Anlass hierfür war ein im Mai 1837 erschienener Bericht von Albert, den das amerikanische Journal des Franklin-Institutes abgedruckt hatte, der wesentliche, aber keineswegs vollständige Informationen lieferte.18 Roebling versuchte, seine aus der Studienzeit stammende Kenntnis französischer Draht­kabel­brücken auszunutzen und entwickelte ein flexibles ummanteltes Kabel. Auf die Anwendung dieses neuartigen Draht­kabel-Seils hoffte Roebling sowohl im Brückenbau als auch im Kanalbau. Da für das Kanalsystem in Pennsylvania viele Schrägseilbahnen (Slipanlagen) für Schiffe nötig waren, lag der Gedanke nahe, von den bisher benutzten Hanfseilen auf Drahtseile überzugehen (Abb. 3). Roebling hatte hier wiederum mit Hilfe seines Freundes Charles Schlatter, der für die Kanalbaugesellschaft tätig war, die Möglichkeit, seine Idee eines Drahtseils auszuprobieren. Von Erfolg gekrönt waren seine Bemühungen jedoch erst, als er durch umfangreiche Versuche die richtige Art von Drahtseilen für den Zweck eines Umlaufens um Seilscheiben fand. Der Versuch, Parallel-Drahtkabel mit weicherem Draht zu »bandagieren« (Wrapping), worauf er ein Patent angemeldet hatte, missglückte. Als laufendes Gut verwendet, lösten sich derartige Kabel schnell auf. Erfolgreich waren nur geschlagene Seile nach dem Verfahren von Albert. Roebling gelang es schließlich unter Einbeziehung seiner Dorfgemeinschaft in Saxonburg, ein derartiges Drahtseil, das sogar noch vorteilhafter konstruiert war, auf einer provisorischen »Seilerbahn« selbst herzustellen. Die dazu entwickelten Vor­richtungen führten wiederum zur Anmeldung eines Patentes und zu einem weiteren Artikel im Railroad Journal im Jahre 1843.19 Erst nachdem Roebling seine Seile erfolgreich herstellen und verkaufen konnte, bot sich ihm 1844 endlich die Chance, eine Hängebrücke zu bauen. Nicht nur sein gerade erst erworbenes Renommee als Ingenieur und Produzent von Drahtseilen brachten ihm dabei Erfolg, sondern ebenso der Umstand, dass der Staat Pennsylvania

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3  Darstellung der Ebene 6 der Allegheny Portage Railroad bei Cresson nach einem Gemälde von George Storm.

verlustreiche Teile der Kanalanlagen aus seiner Verantwortung entließ. So übernahm es die Stadt Pittsburgh, eine in der Stadt gelegene baufällige hölzerne Aquäduktbrücke über den AlleghenyFluss für eine möglichst geringe Summe zum Neubau auszuschreiben. Hier war Roebling bekannt: Ein von ihm vorgebrachter Vorschlag, einen an Drahtseilen aufgehängten Holzkasten (Abb. 4) an die Stelle der alten Brücke zu setzen, stellte sich gegenüber anderen Projekten als die preiswerteste Lösung dar.20 Erbaut hatte Roebling eine Hängebrücke zuvor noch nie. Er hatte die Kanalgesellschaft auch deshalb überzeugt, weil er nicht nur als Ingenieur, sondern auch als ausführender Bauunternehmer auftrat und damit ein hohes finanzielles Risiko übernahm.21 Die sich bei der Baudurchführung bemerkbar machende mangelnde Erfahrung wurde durch überdurchschnittlichen Arbeitseifer, der an Aufopferung grenzte, ausgeglichen. Roebling stellte Arbeiter mit möglichst gediegenen handwerklichen Fähigkeiten ein. Viele der auf der Baustelle Tätigen kamen aus Saxonburg, waren also Landsleute. Ihre speziellen Fähigkeiten aus der Seilherstellung waren für den Erfolg des Unternehmens entscheidend. Sieben Arbeiter verunglückten bei den Arbeiten tödlich.22

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4  Allegheny-Kanalbrücke in Pittsburgh.

Nach dem Erfolg des ersten Bauwerks folgten schnell Aufträge für weitere Kanalaquädukte. 23 Im Jahre 1848 erwarb Roebling in Trenton (New Jersey) ein größeres Gelände und verlagerte seine Drahtseilfabrikation im darauffolgenden Jahr dorthin, um an der Ostküste näher an den großen Abnehmern produzieren zu können. Sämtliche Maschinen für die Produktion konstruierte er selbst. Die Leitung der Fabrik vertraute er nach einer relativ kurzen Einarbeitungszeit Charles Swan, einem seiner besten Vorarbeiter, an.24 Sein Plan ging auf und die Seilproduktion brachte große Gewinne.

Hängebrücken für die Bahn – unterschiedliche Konzepte Um das Jahr 1850 war noch völlig offen, wie der Bau von Großbrücken für die Eisenbahn aussehen sollte. Hängebrücken waren bis dahin in Europa zahlreich gebaut worden. Immer handelte es sich aber um Straßenbrücken. Sie hatten zum Teil erstaunliche Spannweiten und waren sehr kostengünstig zu errichten. Ihre Nachteile bestanden in der relativ geringen Tragfähigkeit und mangelnden Steifigkeit. Zwar wurde um 1850 für die geplanten Eisenbahnübergänge über den

Rhein bei Köln und über die Weichsel bei Dirschau noch diskutiert, ob Hängebrücken nicht wenigstens zum Übersetzen der Eisenbahnwagen – ohne Lokomotiven – dienen könnten.25 Eine bessere Lösung schien sich jedoch mit neuen, sehr steifen eisernen Röhren- und Gitterbrücken anzubahnen, die ohne Abhängungen auskamen. Die sich seit 1845 in Bau befindlichen und 1850 bzw. 1848 fertiggestellten Tube Bridges aus Blech über die Menaistraße bei Bangor und Conway von Stephenson waren von vornherein für den Eisenbahnverkehr konzipiert worden. Sie erreichten Feldlängen bis zu 140 m. In der Ausführung wurde auf die anfänglich vorgesehenen zusätzlichen Hängeketten verzichtet, da sich die Tragfähigkeit der Blechkästen als völlig ausreichend erwies. Die Konstruktion war sehr aufwändig, da Unmengen an Walzblech und Profileisen benötigt wurden. Hinzu kamen umfangreiche Nietarbeiten, die eine große Anzahl qualifizierter Arbeitskräfte erforderlich machten. Außerhalb Großbritanniens waren derartige Konstruktionen zu dieser Zeit allerdings fast unausführbar.26 Als Alternative wurden engmaschige Gitter­ konstruk­tionen aus Ei­sen untersucht (Abb. 5). Die Möglichkeit, eiserne steife Gitterkästen einzusetzen, führte die Diskussion in Europa weg vom Gedanken des Hänge­ brücken­ baus. Nach dem

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5  Versuche über die Tragkraft eiserner Brücken.

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Erfolg der ersten Gitter­brücken 1845 in Irland und 1846 in Deutschland setzte sich neben der Idee der Röhren­brücke die der preiswerteren Gitter­ brücke durch.27 Die Groß­brücken der preußischen Eisen­bahn­strecke von Berlin nach Königsberg über Weichsel und Nogat wurden mit Beginn der 1850er Jahre als Gitter­brücken geplant, ihre Feld­spann­ weiten betrugen bis zu 121 bzw. 93 m.28 Waren die Hängebrücken für den Bahnverkehr damit endgültig aus dem Rennen geworfen? Fast schien es so. Grundsätzlich wurde die Berechen­ barkeit einer Konstruktion als ein hoher Wert angesehen, weil sie eine sichere Ausnutzung des Materials ermöglichte. Auch eine Hängebrücke wäre in diese Kategorie gefallen. Auf Zug beanspruchte

Eisen­drähte oder Ketten nutzten das Material sehr gut aus, allerdings mit der Einschränkung, dass ihre mangelhafte Steifigkeit sie anfällig für Schwingungen z. B. durch die Einwirkung »wandernder Lasten« oder Wind machte. Und hier genau setzte das Misstrauen gegenüber dieser Konstruktion an. Gesteigert wurde es durch zahlreiche Unfälle mit Hänge­brücken, von denen einer im Jahre 1850 großen Einfluss auf die weitere Entwicklung dieses Brücken­t yps in Europa nehmen sollte: der Einsturz der Hänge­brücke von Angers in Frankreich (Abb. 6). Marschierende Soldaten erzeugten Schwingungen, die Material­ beanspruchung erhöhte sich dadurch bedeutend. Die durch die Korro­sion der Draht­kabel an den

6  Einsturz der 1839 eröffneten Hängebrücke von Angers (Spannweite 102 m) am 16. April 1850.

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Einspann­stellen verminderte Trag­fähigkeit reichte nicht mehr aus; das Versagen der Konstruktion hatte 226 Todesopfer zur Folge.29 Fast schien sich die Situation zu wiederholen, die für Roebling Anlass gewesen war, Deutschland zu verlassen: Ein Brückeneinsturz hemmte die weitere Entwicklung des Hängebrückenbaus. Für die Eisenbahnverwaltungen waren die zur Verfügung stehenden Konstruktions­alternativen ein entscheidendes Argument gegen jegliche Hänge­brücken­ pläne. Sicherheit und Berechenbarkeit waren dabei die wichtigsten Aspekte. Viele Eisenbahn­ gesellschaften standen unter staatlicher Aufsicht und forderten nachvollziehbare und damit »ver­ walt­bare« Bau­regularien.30 Die Kommunikation im Ingenieur­ wesen wurde zunehmend davon geprägt, dass Karrieren in den Eisenbahn­ver­wal­ tun­gen wie auch in den Polytechnika vom Grad der Wissen­schaft­lich­keit des Herangehens abhängig gemacht wurden. Der Realisierung großer Projekte jedoch war der unbedingte Drang zur Ver­wissen­ schaft­lichung nicht immer förderlich. Im Jahre 1851 äußerte sich Karl Culmann in seinen berühmten Berichten über den amerikanischen Brückenbau folgendermaßen: …die Gelehrten haben entschieden, daß Kettenbrücken zu Eisenbahnen sich nicht eignen und die Frage ruht jetzt. Unterdessen werden die Amerikaner mit ihren Eisenbahnen am Niagara, am Ohio und am Mississippi ankommen und sogleich auch hinüber fahren.31

Karl Culmann war keinesfalls ein Fachmann, der den praxisorientierten amerikanischen Brücken­ bau unkritisch betrachtet hätte. Er versuchte im Gegenteil eine möglichst genaue Kräfteanalyse der amerikanischen Holzbrücken durchzuführen.32 Interessant ist, wie die Diskussion zur »Berechen­ barkeit« von Konstruktionen in den deutschen Fachzeitschriften ab 1850 schlagartig zunimmt, während sie in den weniger zahlreichen amerikanischen kaum eine Rolle spielt. Immerhin hielt Culmann in dieser Zeit den Bau von EisenbahnHängebrücken in Amerika entgegen der Meinung der »Gelehrten« für aussichtsreich. Wie sollten diese aber zu bauen sein?

Zum Bau der Niagara Brücke: Die Rolle des impliziten Wissens bei Roebling Um ein vertieftes Bild vom Herangehen Roeblings in seiner Ingenieurtätigkeit zu gewinnen, wird im Folgenden der Bau der Niagara-Brücke näher betrachtet.33 Dass Karl Culmanns trockene Feststellung nicht allein als eine ironische Bemerkung zu werten ist, lässt sich daraus schließen, dass in den Jahren seiner Reise (1849 und 1850) einige der erwähnten Vorhaben schon kurz vor ihrer Ausführung standen. Culmann hatte auf seiner Reise die von Charles Ellet gerade erst errichtete WheelingHängebrücke über den Ohio besichtigt. Es war die einzige US-amerikanische Brücke, die ihn wirklich beeindruckte.34 Sie war noch ausschließlich als Straßenbrücke geplant und erbaut worden. Für die Verbindung des Staates New York mit Kanada über den Niagara aber war schon eine Hängebrücke vorgesehen, die auch die Bahnlinien beider Staaten verbinden sollte. Sowohl Roebling als auch Ellet hatten Vorprojekte dazu entwickelt. Im Jahre 1847 hatte dann zunächst Ellet den Bauauftrag erhalten und bis Mai 1849 ein Provisorium errichtet, bei dem an Holztürmen Tragkabel mit einem Fußgängersteg aufgehängt worden waren. Der eigentliche Bau der Eisen­ bahnbrücke sollte anschließend unter Benutzung dieser Hilfskonstruktion erfolgen. Aufgrund finanzieller Streitigkeiten entzogen die Eisen­ bahn­ gesellschaften Ellet 1849 jedoch den Bauauftrag, was Roebling im Jahre 1850 überraschend wieder ins Spiel brachte.35 Noch 1854, kurz vor ihrer Fertigstellung (der Bahnbetrieb begann im März 1855), hielt Robert Stephenson, der berühmte Erbauer der MenaiRöhren­brücke, eine Eisenbahn-Hänge­brücke über den Niagara für ein Ding der Unmöglichkeit und befand sich damit in Übereinstimmung mit der Mehrheit der europäischen Ingenieure. 36 Wie gelang Roebling der Erfolg? Roeblings Chance, im Jahre 1844 in Pittsburgh einen Kanalaquädukt und damit seine erste

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Hängebrücke zu bauen, war zunächst mehr oder weniger einem Zufall zuzuschreiben. Die zu ersetzende Trogbrücke aus Holz war baufällig geworden und musste abgebrochen werden. Dass er die Aufgabe jedoch mit großer Konsequenz und vollem Erfolg löste, ist zum einen seiner umfassenden Planungskompetenz zu verdanken. Ebenso hoch einzuschätzen ist jedoch auch die Facharbeit, die bei der Kabelherstellung vorrangig von Arbeitern aus der Kolonie Saxonburg geleistet wurde.37 Der hohe Anteil des impliziten Wissens, mit dem der Bauprozess verbunden war, machte die An­wesen­ heit Roeblings beim Herstellungsprozess des Seils wie bei den entscheidenden Phasen des Brücken­ baus unbedingt erforderlich. Bei den nachfolgenden gleichartigen Aquäduktbrücken reichte dann die Inspektion der Baustellen aus. Es hatte sich ein Stamm von Handwerkern herausgebildet, auf den er sich voll und ganz verlassen konnte. Das implizite Wissen war zu Erfahrungsroutinen geronnen

7  Niagara Brücke. Die Brücke bestand zunächst aus zwei unabhängigen Teilen. Die obere Fahrbahn wurde von den zwei oberen und die untere von den zwei unteren Tragkabeln abgehängt. Erst später wurden beide Ebenen mit einem Gitterkasten verbunden. Die Last wurde auf 624 Hängeseile und 32 Schrägseile verteilt.

und konnte sicher reproduziert werden. In dieser Zeit – am Ende der 1840er Jahre – widmete sich Roebling in Trenton sehr intensiv der Errichtung seiner Drahtseilfabrik. Beim Bau der gegenüber den Aquädukten völlig andersartigen Niagarabrücke verbrachte Roebling wieder Monate auf der Brückenbaustelle. Die Brücke hatte mit 250 m Länge eine fünfmal größere Spannweite als seine bisher gebauten Brücken. Die Tragkonzeption musste dementsprechend gegenüber den Kanalaqädukten völlig verändert werden. Aquäduktbrücken waren durch ihre kastenartige Konstruktion sehr steif. In seinen ersten Projekten für die Niagara-Brücke hatte Roebling daher ebenso eine Art Holzkasten zur Aussteifung vorgesehen, bald darauf aber eingesehen, dass sich das Gewicht der Brücke dadurch zu sehr erhöhen würde. Seine aus zahlreichen zeichnerischen Varianten schließlich entwickelte Lösung bestand in einer Kombination von zwei übereinander angeordneten Hängebrücken mit einer verbindenden Gitter­konstruktion, die zusammen ein Gesamt­tragwerk bildeten (Abb. 7). Eine derartige Lösung war zuvor noch nie versucht worden. Anhand des sehr schwierigen Vorgangs der Fertigstellung der Brücke, einer Mischung von Konstruktion, Planung der Bau-Zwischenzustände und Experiment, soll Roeblings vom europäischen Kontext völlig abweichende Denk- und Vorgehensweise exemplarisch verdeutlicht werden. Zunächst waren die Tragkabel und die Fahrbahn für die untere Ebene hergestellt worden. Durch eine Teileröffnung der Brücke nur für den Straßenverkehr ergab sich die Möglichkeit, das Ausrecken der Tragkabel, d. h. ihre allmähliche Verlängerung bis zum vollelastischen Zustand abzuwarten und durch Messung zu kontrollieren. Das obere Fahrbahndeck wurde bis zum Januar 1855 fertiggestellt. Diese Ebene nahm zwei gewaltige längs durchlaufende Mittelbalken auf, auf denen die Bahngleise lagen. Der kompliziertere Teil der Aufgabe, nämlich beide Ebenen so zu verbinden, dass die

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Tragkabel der oberen Ebene ebenso viel Last aufnahmen wie die der unteren, bestand im Anpassen der zweiten, oberen Ebene an den »ausgehängten« Zustand der unteren Ebene. Für das Vorrecken der oberen Kabel der EisenbahnEbene war ein gleiches Vorgehen wie unten nicht möglich. Es konnte keine Belastung durch Eisenbahnzüge geben, bevor die Verbindung beider Ebenen hergestellt war. Roebling ließ stattdessen Steinlagen als Gewicht aufbringen, um Lasten zu simulieren. Hierbei musste er die Anteile von bleibender gegenüber elastischer Verformung abschätzen, was auf der Grundlage der Erfahrungen des Verhaltens der unteren Ebene durch wiederholte Messung der Durch­ senkung geschah, aus der jeweils die Wirkung der aktuellen Temperatur herausgerechnet werden musste (Abb. 8). Am 14. Februar 1855 ordnete Roebling dann eine Verbindung beider Fahrbahnen zunächst durch Einschlagen von Keilen, dann durch Verschraubung der Hänge­ bügel an. Damit war die Brücke eine an vier Seilen aufgehängte, durch Gitter­werk versteifte

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Konstruktion (Abb. 9). 38 Im März 1855 passiert die erste Lokomotive die Brücke. Allein das handwerkliche Anpassen der Hän­ ger beim Einbau des Gitterkastens war eine Arbeit, die eine große Erfahrung und beträchtliches Fein­ gefühl der beteiligten Handwerker erforderte, wozu das intuitive Einschätzen des Span­nungs­zustandes der Abhängeseile gehörte, der von Roebling zuvor überschläglich berechnet worden war. In seinem abschließenden Bericht hat Roebling über die Abfolge dieser Arbeiten und auch die dazu gehörigen Messungen nichts berichtet. Die Vermutung, dass er gewisse Details der Bauweise geheim halten wollte, um ein Nachahmen zu erschweren, geht an der Tatsache vorbei, dass Roebling dieses Wissen gar nicht in »wissenschaftlich« reproduzierbarer Weise zur Verfügung stellen konnte. Dies hätte vorausgesetzt, dass sein Wissen als etwas von seiner Person Geschiedenes, als etwas Objektives, vorhanden gewesen wäre. Dies war jedoch nicht der Fall. Es war ein Wissen, das aus Handlungsabfolgen bestand, die ausschließlich durch ihn selbst reproduzierbar waren. Es bezog die

8  Cables Niagara S[uspension] B[ridge], 1852. Umschlag und Details zur Durchsenkung der Fahrbahn.

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9  Details der Gitterbox des endgültigen Entwurfs, 1852.

Arbeitsweise seiner Arbeiter, vielfache Versuche mit unterschiedlichen Drahtsorten, Abschätzung von Fehlergrenzen, Trennung von wesentlichen und unwesentlichen Einflüssen und die Einbeziehung vieler weiterer unwägbarer Einzelfaktoren mit ein. Die zusätzliche Anstrengung, aus diesem hochartifiziellen Herangehen eine möglichst nachvollziehbare technikwissenschaftliche Handlungs­ anweisung oder gar Theorie zu entwickeln, hätte zu bedeutender Mehrarbeit in Hinsicht auf detaillierte Beschreibung und Begründung der In-situExperimente, zu neuen Zeichnungen, zu neuen Versuchsserien usw. geführt. Dies war nicht Roeblings Ziel und konnte es unter den gegebenen Umständen auch nicht sein. Die von ihm erzielten Erkenntnisse waren implizites, persönliches Wissen, dessen Richtigkeit sich letztlich in der von ihm verwirklichten Konstruktion ausdrückte. Wie mit einem Paukenschlag zeigte die Eröff­ nung von Roeblings Niagara-Brücke, dass Eisen­ bahn und Hänge­ brückenbau entgegen aller

Zeit­meinung doch miteinander vereinbar waren. Roeblings Brücke wurde als ein großes Rätsel betrachtet, und man bemühte sich, genaue Unterlagen über die Konstruktion zu erhalten, um sie zu verstehen.39 Sein Herangehen war auch deswegen höchst irritierend, weil es sich bei seinem schwer durch­schau­baren System offensichtlich um eine statisch hochgradig unbestimmte Konstruktion handelte. Damit soll auf eine zweite Besonderheit des Roeblingschen Herangehens eingegangen werden: das »Denken in Holz«.40 In seiner Ausbildung hatte es eine bedeutende Rolle gespielt. Erst 15 Jahre nach seinem Weggang entwickelte sich in Deutschland der Eisenbau, wobei man der englischen Entwicklung folgte. In den USA blieb Holz das vorrangig benutzte Material. Hier kam es bei Roebling zur Übertragung einer Denkweise, die in Europa um 1830 vorherrschend war, aber in den 1850 Jahren »unmodern« wurde, auf amerikanische Verhältnisse.

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Während in Europa steife Blech- und Gitter­ kästen aus Schmiedeeisen die ganze Last eines Eisenbahnzuges aufnahmen und man zunehmend zur statischen Bestimmtheit, d. h. zu einfacheren, aber berechenbaren Systemen überging, verließ sich Roebling auf seine Erfahrungen mit dem elastischen Verhalten von Holz. Dieses war weicher als Eisen und verteilte damit die Lasten besser. Die Fragestellung der meisten Ingenieure dieser Zeit war mit dem Bekanntwerden des Erfolgs seiner Brücken sofort die nach der Tragfähigkeit des Gitterkastens. Roebling dachte anders. Für ihn gab es keinen Ge­samt­kasten, dessen Tragfähigkeit zu ermitteln gewesen wäre. Er verstand seine Nia­garaBrücke von 250 m Spannweite als eine Folge von kleinen Brückenabschnitten zwischen den Auf­ hängepunkten an den Hänge- und den Schräg­ seilen. Der Gitter­ kasten hatte die vorrangige Aufgabe, die Last auf eine bestimmte Anzahl von Aufhänge­punkten zu verteilen (Abb. 10). Dies war eine völlig andere Denkweise als jene, die in Europa um 1855 vorherrschte.41 Die Festlegung, auf wie viele Hänger sich jeweils die Achs­lasten einer schweren Lokomotive oder auch die eines ganzen Zuges verteilen, mag dem Leser seines Abschluss­berichtes heute wie damals etwas hemds­ärmelig vorkommen, da eine genauere Erklärung fehlt. Roebling hatte hierzu Versuche vorgenommen und Abschätzungen getroffen, die sinnvoll und sachgerecht waren. Er hatte sie aber nicht beschrieben, weil in ihnen mehr steckte, als eben zur damaligen Zeit in wenigen Zeilen beschreibbar war und er zu beschreiben für notwendig erachtete.

Roebling als Amerikaner – ein einsamer Held? Wie wurde das Funktionieren der Konstruktion gesichert? War Roebling ein Genie oder hatte er einfach nur Glück? Im Gegensatz zum europäischen Kontext arbeitete Roebling ohne Büro oder

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10  Ausschnitt aus einer historischen Stereoaufnahme der NiagaraBrücke. Das Gitter hat die Aufgabe der Lastverteilung: Die schrägen Spannstangen übergreifen diagonal vier Felder von jeweils 5 ft (ca. 1,5 m) Länge. Eine Einzellast verteilt sich dadurch nach zwei Seiten auf einen Bereich von 2 x 4 x 5 = 40 ft (ca. 12 m). Das Gitter hat durch seine große Länge zwar relativ wenig Biegesteifigkeit, Schwingungen aber dämpft es. Damit war Roebling seiner Zeit weit voraus.

Firma, ja nicht einmal einen Assistenten hatte er. Dies war zum Teil amerikanischen Verhältnissen, aber auch seiner Abneigung geschuldet, sich in seine Planungen hineinreden zu lassen. Eine derartige Arbeits­weise unterschied sich wesentlich vom Vorgehen der zumeist in intensivem fachlichem Aus­tausch stehenden Ingenieure in Europa.42 Natur­gemäß waren vom Mainstream abweichende Lösungen bei einem derartigen höchst individuellen Herangehen zu erwarten. Die Reproduktion der von Roebling gewonnenen Erkenntnisse erfolgte weder durch seine knapp gehaltenen, im Nachhinein veröffentlichten Berichte, noch über direkten ingenieurwissenschaftlichen Austausch, noch über etwaige theoretische Arbeiten. Es war das funktionierende

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Tragwerk selbst, dem Experimente und Arbeits­ erfahrungen Roeblings »eingeprägt« waren. Das In-situ-Experiment mit nachfolgender Variation der Konstruktion – heute im Ingenieur­bau unzulässig – war das entscheidende Erkenntnis­instru­ ment Roeblings. Seine Arbeits­mittel waren darüber hinaus sehr detaillierte Entwurfs- und Bau­ablauf­zeichnungen sowie kleine Notizbücher, mit denen er ständig arbeitete. In ihnen hielt er die wesentlichen Vorgänge der Optimierung einer Konstruktion fest. Die Einträge wurden in der Regel auf der Baustelle verfasst. Eine Übertragung seiner Erfahrungen und eine Außenkontrolle konnten in dieser Weise nicht stattfinden. Anhand dieser Notebooks kontrollierte er während der Bauprozesse die aufgenommenen Messdaten der Brücke, vorrangig Belastung (Gewicht), Temperatur und Durchsenkung. Da es selbst Zeitgenossen oft ein Rätsel war, wie Roebling seine Bauwerke konzipierte, gingen leider auch viele seiner Einsichten wieder verloren. Seine Konstruktionen blieben eine Besonderheit und galten mehr und mehr als Kunstwerk denn als Vorbild für den Ingenieurbau. Erst im letzten Drittel des 19. Jhs., als allmählich das Paradigma eines starren Systems von Kon­struktions­elementen, des statisch bestimmten Fachwerks, verlassen wurde, wagte man sich an die Konstruktion von ausgesteiften Hänge­ brücken.43 Mit der Entwicklung der sog. Theorie II. Ordnung (deflection theory), die die Kräfte infolge der Verformung des Tragwerks mit berücksichtigt, setzte auch die praktische Ent­wick­lung der Hänge­brücken um etwa 1900 in neuer Intensität wieder ein. Die Impulse dafür kamen wiederum aus Europa. Einer der berühmtesten Brückenbauer der USA sollte der Schweizer Othmar H. Ammann (1879–1965) werden. Ammann war Schüler von Wilhelm Ritter, der die Nachfolge von Karl Culmann am Eid­genössischen Polytechnikum Zürich angetreten hatte. Ritter hatte auf dem Gebiet des Hänge­brücken­baus mit den genannten Ansätzen die Entwicklung wesentlich vorangetrieben.

Ammann, der seit 1904 in den USA arbeitete, überschritt mit der berühmten Washington Bridge, die über den Hudson River führte, 1931 erstmals die Spannweite von 1000 m.44 Mit seinem Wirken ist wiederum eine hochkomplexe Geschichte der Übertragung technischen Wissens in einen anderen kulturellen Kontext verknüpft. Er verließ das Konzept des Versteifungsträgers. An dieser Stelle soll er nur deshalb Erwähnung finden, weil mit der zweiten Blüte des Hänge­ brücken­baus in den USA eine Neu­bewertung der Arbeiten Roeblings einherging. Es war der Einsturz der Tacoma-Narrows-Hänge­brücke im Jahre 1940, einer Hänge­brücke ohne Ver­stei­fungs­balken, die für mehrere Jahrzehnte die Rückkehr zum aussteifenden Fach­ werk­ kasten nach dem Vorbild Roeblings zur Folge hatte und gleichzeitig eine Rück­besinnung auf seine Konstruk­tions­weise veranlasste. Aus Roebling, dem Künstler, wurde nun der geniale Konstrukteur, der seine Brücken perfekt gegen Schwingungen abzusichern verstand.45 Erst in den 1960er Jahren, als Unter­suchungen zum An­ström­verhalten von Brücken zu besseren Lösungen führten, wurde über die Ver­stei­fungs­ technik von Roebling hinausgegangen. Die Kombination von Hänge- und Schrägseilen ist ein markantes äußeres Charakteristikum der Roeblingschen Bauweise. Trotz der eindeutigen Vorzüge für die Aussteifung (Abb. 11) hat diese Kombination auch Nachteile. Da sie wegen ihrer konstruktiven wie rechnerischen Schwierigkeiten so gut wie nie kopiert wurde, hat sie ein – ästhetisch reizvolles – Alleinstellungsmerkmal im Hänge­ brücken­bau.

Resümee Roeblings Talente lagen auf mechanischem Gebiet und in der Gabe einer hervorragenden zeichnerischen Umsetzung seiner Ideen.46 Das präzise Arbeiten hatte er in den 1820er Jahren an der Berliner Bauakademie und in seiner Tätigkeit als Baukondukteur in Westfalen erlernt. In den USA

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kamen der Zwang zu völlig eigenständigem Arbeiten und die hart erarbeitete Fähigkeit hinzu, Projektideen in prägnanten Worten auch dem Nichtfachmann verständlich auf Englisch auszudrücken.47 Das starke Bedürfnis, sich in den USA in die gegebenen Verhältnisse hineinzufinden und die positive Einstellung diesen gegenüber verliehen Roebling, der schon in Deutschland Zielstrebigkeit und Eigensinn bewiesen hatte, außerordentliche Energie und eröffneten ihm die Möglichkeit, die mitgebrachten Fähigkeiten nutzbringend einzusetzen. Wesentlich für sein erfolgreiches Wirken war das Vorhandensein einer US-amerikanischen Ingenieurcommunity, die zwar nur über eine geringe Anzahl von Vertretern verfügte, aber einen hohen gesellschaftlichen Stellen­wert genoss und bedeutenden Einfluss hatte. Mit ihren Vertretern auf lokaler Ebene machte Roebling sich nach Möglichkeit persönlich bekannt. Übergeordnete Behörden nahmen kaum Einfluss auf Pro­jekt­ entscheidungen. Wesentlich war es, das Vertrauen der potentiellen Geldgeber zu gewinnen. Um die nötigen Beziehungen aufzubauen, bediente sich Roebling seiner zuvor in Deutschland erworbenen hohen Fachkompetenz, publizierte in den wenigen, aber wichtigen Ingenieur­zeitschriften und

versuchte vor allen Dingen, wirtschaftlich unabhängig zu werden, um nicht nur als verantwortlicher Ingenieur sondern zusätzlich als Bauunternehmer auftreten zu können. Auch hier halfen ihm seine an der Bauakademie erworbenen zeichnerischen Fähigkeiten – oft wurden Einzelheiten bis hin zum Bauablauf dargestellt – das Vertrauen der Geldgeber stark zu befestigen.48 Um eine Reproduktion seines technischen Wissens innerhalb der Ingenieurcommunity be­mühte sich Roebling v. a. auf praktischer Ebene. In seiner praktischen Bau­tätigkeit verließ er sich vornehmlich auf Personen, die seinen Führungs­ anspruch akzeptierten. Oft betraute er Hand­ werker, die er als talentiert erkannte, bei seinen Unternehmungen mit Füh­rungs­aufgaben. Damit war ein gegenseitiges unbedingtes Vertrauen verbunden. Durch den starken Druck, praktisch erfolgreich zu sein, hatten seiner Veröffentlichungen den Charak­ter einer Berichterstattung in der Funktion von Eigen­werbung. Eine Weiter­entwicklung der Theorie als solcher lag Roebling fern. Damit unterschied sich Roeblings Agieren deutlich von dem in Europa üblichen. Während in Europa die staatlichen Behörden und technischen

11  Die Schrägseile der Niagarabrücke tragen deutlich mehr zur Steifigkeit bei als der Gitterkasten. Modellierung mit R-Stab Programm.

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Lehranstalten Ingenieuren eine Karriere als Staatsbeamter oder Professor attraktiv erscheinen ließen, waren die US-amerikanischen Bil­dungs­ einrichtungen in Anzahl und Qualität in der Mitte des 19. Jhs. dazu nicht in der Lage. Das Tätigkeits­ profil von Ingenieuren war vorrangig vom Handeln in wirtschaftlichen Zusammenhängen geprägt. Die Akademisierung blieb gegenüber europäischen Verhältnissen weit zurück. Dank seiner Erfahrungen mit der administrativ durchorganisierten preußischen Bauverwaltung war Roebling in der vorteilhaften Situation, einerseits instruktive Berichte und Analysen erstellen zu können, andererseits hatte er in seinen ersten Berufsjahren schon die Gelegenheit, eigenständig zu arbeiten und Prozesse bis hin zu handwerklichen und experimentellen Details zu verfolgen.49 Hinzulernen musste er, sich dem kurzfristigen und oft einseitig pragmatischen Denken der Auftraggeber zu unterwerfen, geschäftlichen Vorteil als allgegenwärtigen Maßstab ihres Handelns hinzunehmen und im Konfliktfall mehr auf menschliche Integrität und öffentliche Meinung als auf hoheitlichen Eingriff oder administrative Unterstützung zu setzen. Eine der merkwürdigsten Erfahrungen war für Roebling, aus geschlossenen Verträgen ohne weiteres wieder entlassen werden zu können, was umgekehrt auch bedeutete, scheinbar verlorengegangene Projekte durch Meinungsumschwünge wieder zugesprochen zu bekommen.50

Die Art und Weise des Roeblingschen Ar­bei­tens war durch die Produktion und Re­produktion impliziten Wissens gekennzeichnet. Sein höchst individueller Arbeits­stil stand einer Weiter­gabe des in seiner Person akkumulierten Wissens entgegen. Die schwierige Kom­mu­ni­zier­barkeit ermöglichte eine Weitergabe seiner Kenntnisse und Erfahrungen nur an wenige, sehr eng mit ihm verbundene Personen. So hatte lediglich sein Sohn die Fähigkeit, das bei Roeblings Tod 1869 gerade erst begonnene Projekt der Brooklyn Bridge mit einiger Aussicht auf Erfolg weiterzuführen zu können. Die Besonderheit des Lebenswerkes eines der bedeutendsten amerikanischen Ingenieure des 19. Jhs. besteht unter diesem Gesichtspunkt darin, dass er die mitgebrachten Kenntnisse und Fähigkeiten unter den amerikanischen Ver­ hältnissen in einseitiger, höchst produktiver Weise auf den Erfolg technischer Projekte ausrichtete und die bei ihm ebenso angelegte Möglichkeit der Verwissenschaftlichung technischen Wissens weit weniger kultivierte. So lebt Roebling vor allem in seiner materiellen Hinterlassenschaft weiter, zu der man neben seinen wenigen erhaltenen Brücken vor allem seine Maschinen und Erfindungen zur Drahtseilherstellung, seine zahlreichen Patente und letztendlich auch seine Zeichnungen zählen muss. In diesem Punkt gleicht er wie viele andere im 19. Jh. praktisch erfolgreiche Ingenieure eher einem Künstler als einem Wissenschaftler.

1 Der Begriff des impliziten Wissens stammt vom Michael Polanyi, der ihn in den 1960er Jahren entwickelte, um Stufen des menschlichen Erkennens zu identifizieren. Ihn interessierten die Strukturen, die in der Wissenschaft das Entstehen von Bedeutung ermöglichen (Polanyi 1985). Der im Englischen benutzte Begriff des tacit knowledge ist mittlerweile in vielen Betrachtungen über die Eigenart des Entstehens wissenschaftlichen und auch ingenieurtechnischen Wissens benutzt worden. Ohne Bezug auf die vielfältige wissenschaftstheoretische Diskussion wird der Begriff des impliziten Wissens auch bei dem großangelegten Versuch einer »Wissens­geschichte der Architektur«

von Renn et al. 2014 ganz selbstverständlich im Sinne baupraktischen Wissens benutzt (ebd. Bd. 1, 7–52). Zu aktuellen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zur Gruppendynamik in Forschungsgruppen vgl. Schulze / Kahlow 1993; hier wird insbesondere der Prozess des Übergangs von implizitem Wissen zu wissenschaftlich reproduzierbarem Wissen untersucht. 2 Culmann 1866, 527–528. 3 Karl Culmann unternahm 1849/50 im Auftrag des Bayerischen Staates eine Reise nach England und in die USA, um die dortigen Brückensysteme zu studieren. Er entwickelte aus seiner Systematisierung eine

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neue Berechnungsmethodik: die Fachwerktheorie. Vgl. Culmann 1851 und Culmann 1852. Kranakis 1997. Die Angaben zu Roeblings Wirken basieren auf einem DFG-Forschungsprojekt aus den Jahren 2005 bis 2009. Vgl. Güntheroth / Kahlow / Müller 2006, Kahlow 2008 und Güntheroth / Kahlow 2011. Röbling legte sich schon früh eine Spezialbibliothek über Hängebrückenbau zu (vgl. u. a. Navier 1823, Berg 1824). RUT Bound items, JAR, Student book #2, #3 und #4. Für Brückenbau wurde J. F. W. Dietlein berufen, vgl. Dietlein 1830–32. RUT Bound items, JAR, Student book #1a, 1824. Vgl. Güntheroth 2011, 8, 12, 15. Vgl. JAR [1832] 2006, 27, 31. Sayenga 2011, 44–48. Donald Sayenga gibt in diesem Buch erstmals die privaten Aufzeichnungen von Washington A. Roebling kommentiert heraus. Vgl. RUT WAR 1907. Sayenga 2006, 96–97. Sayenga 2011, 48. JAR 1838, vgl. Sayenga 2011, 51. Der (alte) Croton-Aquädukt wurde von 1837–42 erbaut, um Manhattan mit Wasser zu versorgen. John Bloomfield Jervis (1795–1885) hatte ihn in dieser Zeit fertiggestellt, vgl. Sayena 2011, 53. Vgl. Kahlow 2006, 150. JAR 1841. Vgl. Kahlow 2006, 150. Sayenga 2006, 98. Sayenga 2006, 100. JAR 1843. Vgl. Sayenga 2006, 100–104. Das von Roebling angemeldete Patent für ummantelte Tragkabel sollte sich jedoch für den Bau von Hängebrücken kurze Zeit später als außerordentlich nützlich erweisen. Sayenga 2006, 102. Sayenga 2011, 91. Sayenga 2011, 98. RPI Drawer 4 Folder 1 Allegheny River Bridge (1844– 1845). Vgl. Vogel 1971. Sayenga 2011, 99. ABZ Notizblatt 1850, 285. Heinzerling 1870, 215–223. Kahlow 2016, 11. Heinzerling 1870, 216–222, 268–277. Prade 1989, 118–119. Culmann weist mit drastischen Worten auf ein anderes Sicherheitsdenken in den USA hin: Da die »mittlere Verkehrsbelastung in Amerika viel geringer ist als in Europa« wird eine Brücke einer sehr schweren Belastung wie »mit Menschen voll gedrängt zu werden […] nie ausgesetzt sein; und wenn es ja die eine oder andere trifft, dann mag sie in Gottes Namen zusammenbrechen oder stehen bleiben, wie es ihr und ihm beliebt. Bricht sie zusammen, dann werden die Amerikaner dies sehr möglich finden, und wie in so vielen anderen Fällen sagen, ›it went down‹ (sie kam herunter); bleibt sie aber stehen, dann wird gar nichts gesagt.« Culmann 1852, 210.

31 Culmann 1852, 214. 32 Dabei kommt er zum Schluss, dass ein völliges Erfassen der Kräfte bei hochgradig statisch unbestimmten Systemen nicht möglich ist. Als Alternative wird der Übergang zu einfacher strukturierten Fachwerkkonstruktionen und eine Theorie für ihre Berechnung vorgeschlagen. 33 Kahlow 2008 und Güntheroth / Kahlow 2011. 34 Culmann 1852, 208. 35 Sayenga 2011, 150; Steinman 1972, 163–165. 36 Sayenga 2011, 153, Steinman 1972, 167. 37 Sayenga 2011, 91. 38 Kahlow 2011, 157. Die Durchsenkung in der Mitte betrug unter einer Verkehrslast von 47 t theoretisch etwa 1,386 ft (ca. 42 cm), real wurden wegen der Steifheit der Kon­ struk­tion aber nur 5½ in. (ca. 14 cm) gemessen. Vgl. JAR 1855, 9. 39 Köstlin/Schurz 1859, 173; Sammlung 1860, 58–62. 40 Culmann weist darauf hin, dass in den USA um 1850 im Gegensatz zu Europa das Holz ein universelles Baumaterial war, mit dem insbesondere im Brückenbau eine ganz eigene Entwicklung verbunden ist. Die steiferen Konstruktionen aus Walzeisen, die ab Mitte der 1840er Jahre in Europa zum Einsatz kamen, erforderten eine genauere Erfassung des Kraftzustandes – mithin eine genauere Berechnung. Besonders problematisch sei ihr im Gegensatz zu Holz unangekündigtes plötzliches Versagen. Vgl. Culmann 1852, 190. 41 Die meisten amerikanischen Ingenieure, die Culmann traf, befürworteten die Möglichkeit, Hängebrücken für Eisenbahnzwecke zu erbauen, und meinten, ein Gitter wirke lastverteilend, trage aber nichts zur Steifigkeit der Konstruktion bei. Ellet bezweifelte den Beitrag eines Gitterkastens zur Steifigkeit einer Gitterbrücke grundsätzlich und wollte diese allein durch ein großes Gewicht der Fahrbahn erreichen. Roebling sah die Lastverteilung ebenso als Aufgabe des Gitterkastens an, nutzte aber sämtliche Möglichkeiten, die Brücke ohne zusätzliches Gewicht auszusteifen. Er erreichte eine höchstmögliche Steifigkeit seiner Hängebrücken durch Schrägseile und Gitterkästen, auch wenn er letztere nicht rechnerisch mitansetzte. Vgl. Culmann 1852, 214. 42 »Die amerikanischen Ingenieure sind noch viel zu sehr praktisch […] als daß sie sich um ihre tüchtigen Männer bekümmern könnten; jeder Praktiker stellt sich selbst am höchsten, sieht tief auf alle herunter, die er nicht beurtheilen kann, und würdigt sie keiner Aufmerksamkeit.« Culmann 1851, 74. 43 Ritter 1877. 44 Stüssi 1974, 11; 25–46. 45 Der amerikanische Ingenieur David Barnard Steinman, als Kind mit seinen Eltern aus Russland in die USA eingewandert, trug mit seinen Arbeit im Hängebrückenbau zu einer Neubewertung von Roebling bei, dessen eigenartige Konstruktionen man zwischenzeitlich eher ästhetischen Motiven als Tragwerksgründen zuordnete, vgl. Petrosky 1996, 360–361; 388.

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Andreas Kahlow

46 W. A. Roebling spricht von Tatendrang und Selbst­ver­ trauen als charakteristischen Eigenschaften seines Vaters. Alle Kon­struktions- und Zeichenarbeiten nahm er ohne Assistenten vor und produzierte bis zum Finden optimaler Lösungen zahllose Varianten, vgl. Sayenga 2011, 149–150. 47 Interessant ist der Hinweis von W. A. Roebling, dass sein Vater im Englischen kurz und präzise schrieb, im Deutschen jedoch lang und umständlich formulierte, vgl. Sayenga, 145. 48 Sayenga 2011, 109–110. 49 Seine ersten berufspraktischen Jahre als Baukondukteur hatte Röbling in Westfalen absolviert. Der hier wirkende Oberpräsident Vincke förderte das private Unternehmertum, Röbling profitierte davon durch einen Auftrag von Friedrich Harkort in Wetter an der Ruhr zum Bau einer Hängebrücke. Leider wurde das Vorhaben nicht ausgeführt, vgl. Güntheroth 2006, 19–20.

50 Für die Philadelphia-Fairmont-Brücke hatte der ortsansässige Unternehmer Andrew Young zunächst den Zuschlag für das Projekt erhalten und Roebling als Ingenieur engagiert. Der Vertrag wurde kurzerhand aufgekündigt und der Bau Roeblings Konkurrenten Charles Ellet übertragen, vgl. Steinman 1972, 59. Im Falle der Niagara-Brücke entledigten sich umgekehrt die Geldgeber Charles Ellets, mit dem sich ein Streit um temporäre Brückenzolleinnahmen entwickelt hatte, und Roebling trat in den Vertrag ein. Auf diese Weise hatte Roebling überhaupt erst die Möglichkeit erhalten, sein eigentümliches und sensationelles Bauwerk auszuführen, das ihn nur wenig später weltberühmt machen sollte, vgl. Sayenga 2011, 150–151. Bei der Kentucky-Bahnbrücke, Roeblings letztem großen Hängebrückenprojekt vor dem Beginn der Arbeiten an der Brooklyn Bridge, ging den Investoren durch Diebstahl so viel Geld verloren, dass ein Konkurs die Fertigstellung des Bauwerks unterband, vgl. Sayenga 2011, 158–159.

Abkürzungen und Archive

Sekundärliteratur

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Vogel 1971 R. M. Vogel: Roebling’s Delaware & Hudson Canal Aqueducts (Washington 1971).

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Abbildungsnachweis 1 2 3 4

JAR 1869, Frontispiz. Foto: Kahlow 2004. Sayenga 2001, 22. Kahlow 2006, 154 bzw. RPI Drawer 4 Folder 1 Allegh. River 1844–1845. 5 Prüsmann 1851, 303. 6 Prade 1989, 119. 7 aus: Das neue Buch der Erfindungen, Gewerbe und Industrien: Rundschau aus allen Gebieten der gewerblichen Technik / Hg. in Verbindung mit C[arl] Birnbaum, Bd. 1, 7. Aufl. (Leipzig, Berlin 1876), 316. Kahlow 2011, 156– 157 und 158–159. Vgl. RPI Box 10 Folder 15 WAR 1880). 8 links Kahlow 2011, 152 8 rechts Kahlow 2011, 171 bzw. RPI Box 16 #113. 9 Kahlow 2011, 164 entspricht RPI Oversized Drawer 4 Folder 7. 10 Smithsonian Institution, National Museum of American History, Behring Center, Photographic History Collection, Image No. AFS 148. http://www.luminous-lint.com/__ phv_app.php?/v/_LOCATION_Niagara_Falls_01/. 11 Kahlow 2011, 172.

Guastavino Tile Vaults The Long Migration of a Building Technique

Santiago Huerta

The history of construction is a history of migrations. Entirely new inventions and discoveries occur very rarely. Historically the diffusion of inventions involved travel or migration across several countries. The cross-fertilisation of different cultures gave rise to improvements and, eventually, new inventions. This is particularly true when the invention consists not of a single artefact but of a complex set of procedures, as is often the case for construction. This paper outlines the migration of an invention, the tile vault, from its origin, somewhere in the Mediterranean basin, probably in the south of Spain during the Islamic period between the 8th and 11th centuries, to its subsequent diffusion throughout Spain, France and Italy in the 18th and 19th centuries. Eventually tile vaulting reached

North America in the 1880s thanks to the ingenuity, passion, and determination of one man: Rafael Guastavino. In America the Guastavino Company built many thousands of vaults up until the Second World War. In Europe tile vaulting experienced a «rebirth» in Spain after the Civil War of 1936–39 in the reconstruction of devastated regions. To a much lesser extent tile vaults were used in France in the 1940s, and in Germany, in Munich, where the Firma Rank employed tile vaults both in restoration and new building from 1945 to 1970. Since around 2000 tile vaults have also enjoyed a revival among some architects and engineers designing lightweight structures with low embodied energy in Europe and Africa. The migration of tile vaulting, then, spans over 1000 years and three continents.

1  Construction of tile vaults without centering. Left: Barrel vault: the movable timber frame is not a centering but a template to guide the masons; right: Dome: the geometry is controlled by a rod attached to a fixed point.

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Santiago Huerta

Principles of Tile Vaulting

Vaults without Centering

Tile vaults, also known as Catalan or timbrel vaults, consist typically of two shells of fired bricks set flat, the first shell forming the intrados of the vault. The first shell is built without a centering («on the air»), employing minimum scaffolding to support the masons and some lightweight auxiliary structures to guide the masons when creating the form of the shell (fig. 1). The mortar for the first shell is gypsum mortar (plaster of Paris), which sets very quickly and bonds the individual bricks until they form self-supported arches or rings. The tiles for the inner vault must be ceramic or fired brick since gypsum mortar adheres poorly to earth bricks. The second layer is then built on top of the first, staggering the joints between tiles. The first shell acts as a centering for the second, for which the mortar need not be gypsum; traditionally it was lime mortar and, since the last quarter the 19th century, cement mortar. If, however, the second layer was set using gypsum mortar (or a quick setting cement mortar), the masons could work from above, supported by the vault itself just a few hours after the completion of an arched part (in a barrel vault) or of a ring (in a dome). The very thin vaults, typically of two shells of flat bricks or 100 mm, are very light and their construction is fast and economical.

Pitched Brick Vaulting Tile vaults are a particular type of a much older technique. Vaulting without centering was invented somewhere in the Middle East (Egypt, Mesopotamia, the Caucasus) around 2000 BC, some 1500 years after the invention of the arch and dome.1 These vaults were constructed by setting the bricks not with radial joints as in a typical voussoir arch, which needs centering, but against an inclined, sometimes nearly vertical, plane. First a wall was built and then the individual earth bricks were «stuck» to it until they complete a self-supporting arch. This arch acts as support for the next layer of bricks (fig. 2 left). The mortar employed was clay mud or bitumen. The technique was well suited to build barrel vaults (fig. 2 middle), but a method was also developed that enabled vaults to be built over rectangular rooms (fig. 2 right). These methods migrated and diffused throughout the Mediterranean basin and are still in use in some parts of the Middle East and North Africa. This technique, called «pitched brick vaulting» in some books, eventually migrated from East Asia to North Africa and Europe. The Sassanians used it to build the great vault of the palace of Ctesiphon in modern Iraq sometime between 200

2  Pitched (i.e. inclined) brick vaulting. Left: Typical small barrel vault; middle: Vaults of the granaries of the Ramesseum, Egypt, 12th century BC; right: Building a vault on a rectangular plan in North Africa c. 1950.

Guastavino Tile Vaults

and 500 AD. The Byzantines fully exploited the possibilities of the system between around 350 and 1000. In medieval Europe it was sometimes used to build the webs of Gothic vaults and it was used systematically in late-Gothic churches in Northern Germany. In Spain pitched brick vaults spread widely from the 16th century and became typical in Extremadura. These various methods of «closing» vaults were directly translated to tile vaulting. Ceramic Hollow Tubes One type of vaulting derived from pitched brick vaulting was the so-called tubi fittili vaulting using hollow ceramic tubes, which can be traced back to the third century BC in Sicily.2 Hollow tubes are used instead of bricks, and gypsum mortar instead of clay mud. It is appropriate to devote some space to this type of vaulting because, as we shall see, it

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could be considered as a necessary step towards the invention of tile vaulting. For the first time the exceptional properties of gypsum mortar with ceramics or fired bricks were fully exploited. This technique has been extensively researched by Sebastian Storz, who has reconstructed some vaults using ceramic tubes made in the same manner as original ones.3 The placing of the hollow tubes follows the same patterns typical of vaulting without centering, constructing successive arches until the vault is closed (fig. 3). These vaults were used extensively in Roman North Africa (particularly in Tunisia) after the second century AC as a permanent centering for concrete vaults. From North Africa they spread throughout Europe and the Byzantine Empire.4 Later they were used to build vaults with only the tubi fittili,5 for example, the dome of San Vitale in Ravenna, completed in 547.

3  Vaults built with hollow tubes in Tunisia. Left: Reconstruction of a barrel vault in Chemtou; middle: Placement of the tubes; right: Reconstruction of a groined vault in Bulla Regia.

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4  Roman use of bricks set flat to ease the construction and economy of the formwork. Left: A tile vault stabilised by filling the haunches with masonry; middle: Tiles supported on timber centering; right: Conjecture for building «on the air».

Flat Tiles in Roman Construction Auguste Choisy was the first author to give a systematic exposition of Roman vaulting techniques.6 He drew attention to the use of brick «armatures» or brick ribs for shells as a means of facilitating construction and reducing the cost of timber scaffolding for the construction of concrete vaults. It is interesting in this context to note his description of the use of bricks (bipedales) set flat on the timber centering to reduce the quantity of timber (fig. 4 middle). Crucially he argued that this device could not only produce a «formwork» for the concrete but that it could act also as a true armature, as long as the haunches were filled to a certain height (similar to the tas-de-charge in a Gothic vault), enabling it to support not only its own weight but also the weight of the concrete until its final setting (fig. 4 left). During his stay in Italy Choisy witnessed the construction of tile vaults («volte alla volterrana» or «volte a foglio») and he explained the process of constructing these armatures without centering in his Histoire de l’Architecture7 (fig. 4 right). Choisy’s inferences about Roman construction have been accepted by some writers on the origin of tile vaulting. However Lancaster has denied this possibility, remarking that no traces of mortar have been found on the edges of the bipedales of existing Roman armatures, that there are traces of the support of the centering, and that in any case the weight of the bipedales (25 kg each) would have been too great for the binding strength of the mortar.8

Conjectures on the Origin of Tile Vaulting. The Earliest Known Tile Vault: 12th Century Spain Arthur Koestler in his Act of Creation argued that any discovery or invention occurs when two different «matrices of thought» combine in the mind of the inventor.9 One plausible conjecture is that somewhere in the Mediterranean countries that formed part of the Roman empire, the idea of using gypsum mortar, already used in hollow tube vaults, combined with the idea of setting small fired bricks flat, already used for Roman concrete vaults, to originate a completely new art of vaulting – tile vaulting using gypsum mortar in at least one layer of tiles. Until recently the oldest examples of tile vaults were considered to have been constructed in Valencia around 1400, a view based on explicit mention of this type of vault in a written document.10 In this early example, tile vaults were used to form the webs between the stone ribs in Gothic cross vaults. The next mention of tile vaults was in Spanish documents about a century later. Another plausible conjecture about the origin of tile vaults is that the invention occurred within the long Islamic tradition of using gypsum mortar and brick for a variety of purposes, from the purely decorative to the fabrication of building elements. A discovery by the Spanish architect and archaeologist Antonio Almagro in 2000 supports this conjecture and has extraordinary importance.

Guastavino Tile Vaults

He found the remains of a tile-vault staircase in an Islamic house in the village of Siyasa (Murcia, Spain) dating from the 12th century.11 This find locates tile vaulting in a location that witnessed the cross-fertilisation of several different cultures: Visigothic, Roman, Islamic and Christian, and places the origin of tile vaulting 200 years earlier than previously known examples.

Tile Vaulting in the 16th to 19th Centuries Tile vaults were frequently used in Spain from the 16th century.12 However the spread of this technique is very difficult to trace and the mechanism by which tile vaulting was diffused through Spain still needs further research. Since all brick vaults, including tile vaults, were plastered after their construction (even some stone vaults were painted), the only way to know the true nature of the vault (radial joints, pitched or tile vaults) is to inspect the extrados of the vault. Even then, sometimes the surface has been covered by a layer of lime mortar, which makes it impossible to know

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the internal construction. The architectural treatise by Fray Lorenzo de San Nicolás13 fully explains the techniques for constructing all types of roof and floor vaults – barrel vaults, groined vaults, cross vaults, and domes – and also the use of vaults to construct staircases. This provides definite proof of the widespread use of tile vaulting in Spain c. 1600. Tile vaults continued to be built throughout Spain during the 18th and 19th centuries. In the French Roussillon, near Catalonia, tile vaults were also built, as this region then belonged to Spain. They aroused the interest of a French nobleman, the Count d’Espie, who eventually published the first book on tile vaults.14 Espie called them voûtes plates (flat vaults), and he emphasised their fireproof qualities, their lightness and economy, and also, he claimed, their monolithic nature and lack of lateral thrust (this last characteristic is not true) (fig. 5 left). This combination of advantages attracted the attention of many builders and architects, and the book was translated into English (1756), German (1760), and Spanish (1768). The content of the book was also incorporated into the two

5  Left: Tile vault roof; right: Construction of a tile vault for the floor of a building.

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Rafael Guastavino and the migration of tile vaulting to North America

6  Batlló Factory, Barcelona (1868–75). Main hall 102.5 x 70 m.

most important architectural handbooks of the late 18th and early 19th centuries: the sixth volume of the Cours d’Architecture by Blondel and Patte from 1777 (fig. 5 right) and L’Art de Bâtir by Rondelet from 1802, which contained a summary of the material in Blondel / Patte. Rondelet’s treatise had an enormous influence on all European building manuals throughout the 19th century. In this way a modest vernacular method of vaulting entered the great architectural manuals of the 19th century. In Spain, ironically, it was «the French theory» that was taught in the universities in the second half of the 19th century. Nevertheless some Spanish building manuals did continue to explain the traditional technique of tile vaulting. Remarkable for the detail in the exposition of the procedures is the treatise of the Valencian architect Manuel Fornés y Gurrea from 1841. In Italy tile vaulting was probably also widely used during the 17th and 18th centuries, under the Spanish influence. However robust studies are lacking. In the second half of the 19th century the technique is described in several Italian architectural manuals15 and there were also descriptions by several architects or engineers visiting Italy – Choisy has already been cited, and the German builder Wild wrote a paper describing their construction.16 A recent paper has studied the diffusion of tile vaults in Sicily.17

The migration of building techniques is rarely associated with a single person. This is, however, the case with Rafael Guastavino. Before giving a brief description of his activity as vault builder a succinct review of the literature on him should be given. Guastavino’s particular contribution was rediscovered in the 1960s by George R. Collins (1917– 1993), a professor at Columbia University who miraculously rescued the Guastavino Archives when Guastavino Co. closed in 1962 and then wrote a seminal paper in 1968, The Transfer of Thin Masonry Vaulting from Spain to America. Collins saved the memory of the work of Guastavino from oblivion. Guastavino’s work received further attention in the 1990s when an important exhibition was organised in New York.18 Then, in 1999, the APT Bulletin published a special issue on the preservation of Guastavino’s vaults,19 including a collection of all his patents. In 2001 the first book on Guastavino (multi-authored) was published on the occasion of a major exhibition held in Madrid.20 As well as numerous contributions about Guastavino, the book published for the first time a large number of the original drawings and photographs from Guastavino Co., which are essential to understanding his construction genius. More recently John Ochsendorf published a comprehensive monograph on Rafael Guastavino and his tile vaults, with a full list of his works.21 In the last two decades, interest in Guastavino has grown exponentially and there is insufficient space here to mention even a selection of the publications.22 Rafael Guastavino Moreno (1842–1908) was born in Valencia. In 1861 he went to Barcelona to study to become a maestro de obras (master builder). During these years at the School of Masters he became fascinated with the possibilities of using tile vaulting in architecture. Later, in his book of 1892, he described his «illumination» when visiting the grotto of the Monasterio de Piedra:

Guastavino Tile Vaults

Here, in that ‹Monasterio de Piedra›, I saw a grotto of immense grandeur, one of the most sublime and extraordinary works of nature (…) The thought entered my mind, while in this immense room, viewing this fall of water, that this entire colossal space was covered by a single piece, forming a solid mass of walls, foundation and roof, and was constructed with no centres or scaffolding, and especially, without the necessity of carrying pieces of heavy stone, and heavy girders or heavy centres ; all being made of particles set one over the other, as nature had laid them (…) This grotto is really a colossal specimen of cohesive construction. Why had we not built using this system?23

This was his leitmotiv for the rest of his life. In other parts of his book he shows his surprise at the lack of attention given to tile vaults by his professors «notwithstanding the fact that they were constantly walking over floors constructed on this system»24. Before finishing his studies in 1872, he became involved in the design and construction of many projects. Probably his first design was for his own house in 1866. Quoting again from his book: «I tried the first experiment on myself, as a physician might try his own medicine, carrying out my ideas by building a construction four stories in height, with practically no beams, using clay and cement»25. But his most important work

from this era was the Batlló Factory, an enormous textile factory in Barcelona where Guastavino displayed his mastery as a builder. The construction lasted seven years (1869–1875) and established his reputation. All the floors were supported by tile vaults and the image of the main hall is like a manifesto (fig. 6). During the next twelve years he showed enormous activity, building apartment houses, factories, warehouses, and theatres. The theatre in Vilassar de Dalt (1880) deserves particular mention (fig. 7). The auditorium was covered by a dome of 17 m span, a rise of 3 m, and a thickness of only 5 cm (a single shell of flat bricks, plastered in the inside and covered by a layer of cement on the extrados); the shell was reinforced by radial ribs formed by a layer of flat bricks, with a thickness of 10 cm. The surface is a segment of a sphere with a radius of 13.5 m and the ratio of radius to thickness is 270, compared with that for a hen’s egg of 100: it was an extraordinarily thin dome. In 1876 Guastavino presented some architectural designs for the Centennial Exposition in Philadelphia and received a medal of merit for them. Probably at this time he made up his mind to emigrate to America: «The success attained

7  La Massa Theatre, Vilassar de Dalt, Catalonia (1880–81).

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there [Philadelphia Centennial Exhibition], and the great Chicago fire, which made an impression on all European minds, convinced me that this country was the proper place for the development of the Cohesive System»26. Eventually in 1881 he emigrated from Barcelona to the United States with his youngest son Rafael (III) (1872–1950). His work in Barcelona left a deep impression on Catalan architects and builders; according to Collins «his buildings were studied by classes of the School of Architecture»27. Guastavino spent his first five years in the US studying American construction methods and materials. He was convinced of the exceptional importance of working with good tiles (which he said didn’t exist then) and good cements. He talked with architects and builders and published some decorative works in journals. In 1883 he constructed two fireproof apartment houses and in the next year, a club and a synagogue. In 1886 he competed for the design of the Arion Club in New York. He failed to win but got the contract to build the floor vaults. Figure 8 shows a plan of one of the floors and a section of one of the vaults. According to Wight, Guastavino considered the thickness excessive (five layers of tiles) but adopted

8  One of the floors of the Arion Club constructed by Guastavino in 1886–87.

it «to insure confidence in what was regarded by all but himself as an experiment»28. The barrel vaults span more than 5 m and are supported on deep beams of wrought iron. The hidden iron ties carry the arch thrust at the perimeter and would have allowed each barrel vault to be constructed independently – a system pioneered in the 1790s in England using cast-iron beams, brick arches, and wrought iron ties. It was a powerful demonstration of his art as a builder and subsequently he was often consulted by architects. It must be kept in mind that, before Guastavino, most of the vaults and domes in American buildings were false vaults of lath and plaster suspended from hidden timber trussed roofs. In other buildings by Guastavino, some elements were completely original and their equilibrium and stability seemed impossible: such was the case with the tile-masonry stairs (fig. 9). The opportunity to build authentic masonry vaults at a moderate price must have exerted a singular attraction to architects. However he had to convince American architects and engineers, as well as the local authorities, of the feasibility and safety of his tile vaults. Guastavino was very well aware of this, and between 1885 and 1895 developed his business with frenetic activity on several fronts. W. Blodgett, who worked closely with Guastavino after 1889, portrayed him as a very energetic and industrious man, something which surprised him as Guastavino was a Spaniard: Contrary to the general impression as to the Spanish character, I found him an extraordinarily alert and active man, both physically and mentally; in fact, I never met a quicker man in all my experience; a very hard worker day and night himself, he demanded the same kind of service from those associated with him – always industrious and never idling. 29

In 1885 Guastavino presented his first patents on tile vaulting for floors and stairs to protect the techniques he had developed. Two years later, in 1887, he began a series of tests at Fairbank’s Scale Company. The results were published in his book and became the reference source for his

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9  Tile masonry stairs designed by Guastavino, during construction. Left: Public Library in Providence (undated); right: Grand stairway in St. Joseph’s seminary (1892).

subsequent work, underlying his confidence that he could give clear specifications for his arches and vaults. In 1889 he established his Guastavino Fireproof Construction Company and began his collaboration with McKim, Mead and White for the construction of the vaults of the Boston Public Library. There he left the binding of the bricks apparent, using it as a motive of decoration. This was the first time in the history of tile vaulting that the joints had been exposed – traditionally they had always been plastered after completion.

At this time Guastavino also made his first tests on tile arches and vaults during their construction to demonstrate that they would sustain the service loads with adequate safety.30 These were generally small arches. Around 1900 he made some more impressive load tests and also in situ tests to demonstrate the safety of certain elements. The images provided powerful proof of the enormous strength of Guastavino’s tile vaults (fig. 10). It was also important for Guastavino to receive academic recognition. In 1889 he delivered a

10  Load tests made by Guastavino. Left: On a specimen vault (1901); right: In situ test of a helical staircase.

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lecture before the Society of Arts at the MIT, and the following year he gave another to the Thursday Club. Both lectures were published in the American Architect and Building News (1889, 1890), a journal of wide circulation. By 1891 the company already had offices in New York, Boston, Providence, Chicago, and Milwaukee.31 In 1892 he published his book Essay on the Theory and History of Cohesive Construction, Applied Especially to the Timbrel Vault32. This book is of great importance to understanding the work of Rafael Guastavino. The ceaseless activity that Guastavino devoted to diffusing his works should also be mentioned. He took excellent photographs of his works, both during construction and when finished, and these were distributed as advertising leaflets to journals, architects, and builders. From 1906 they were published in Sweet’s Indexed Catalogue of Building

Construction, the main catalogue in the field of building in the United States (fig. 11). Guastavino’s activity never relaxed. Fortunately, from the mid-1890s he was joined in the firm by his equally industrious son, Rafael Guastavino Jr. who became, like his father, a true master of vaulting and kept the company functioning smoothly after his father’s death in 1908 until his retirement in 1943. The company continued to prosper until its closure in 1962. Guastavino designed and constructed vaults of extraordinary variety in both form and size, and worked with the best American architects to help them realise their historicaleclectic designs. The power of the tile technique was perhaps best demonstrated by the provisional roof of the crossing of the Cathedral of St. John the Divine in New York. By 1909 the construction of

11  Examples of Guastavino’s advertisements included in journals and catalogues or printed separately as leaflets. Left: Domes built by Guastavino Co.; right: Construction of a tile dome.

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12  Provisional tile dome over the crossing of St. John the Divine, New York, 1910. Left: Construction of the pendentives; middle: The half-completed dome; right: The completed dome.

the ciborium over the massive granite arches had almost stopped and it was necessary to cover the space with a temporary roof. Rafael Guastavino Jr. proposed a thin tile dome, a segment of a sphere of 41 m diameter, cut and supported on four perimeter arches spanning 29 m between interior faces of arches. The construction was completed entirely without the use of interior scaffolding, the masons working on top of the temporary dome itself as work progressed. Eventually the dome was closed in only fifteen weeks (fig. 12).33 The conventional appearance of the domes and vaults, however, hid many highly ingenious solutions for establishing equilibrium in which Guastavino combined the masonry tile elements, working in compression, with iron elements working in tension or, sometimes, in bending. The different solutions that appear in his construction drawings34 reveal a great variety of ingenious techniques, including combinations of iron rings, hidden flying buttresses of masonry, variation of thicknesses, and inclined masonry piers, all of which remain hidden from view. Perhaps the most original contribution of Guastavino to the art of building was the combination of masonry with wrought iron. His reflections about this topic are mainly contained in

his third book published in 1904, The Function of Masonry in Modern Architectural Structures. Masonry must work in compression and iron is needed to resist the outward thrusts of arches and vaults. Furthermore the masonry provides cover, which protects the iron from fire and corrosion. Guastavino considered iron as an auxiliary material; the primary construction is of masonry, which also conveys the aesthetic meaning: «(...) the masonry is the main support and constitutes the real construction. The iron is used mainly to increase the tension conditions of the masonry (...) in order that the masonry shall have the same strength for tension as it has for pressure»35. He saw this combination of masonry (tile masonry) with iron as a fundamental step in the development of architecture. He called this new type of construction «organic»: «[This style of construction], which we shall call organic, (...) is a combination of the permanent and perishable materials; the combined construction of materials proper for pressure with materials proper for tension. In a word, the combination of masonry and iron, or iron and masonry, according to the relative proportion between both elements, is the latest typical style of construction invented by man»36. Guastavino considered that the aesthetic value

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13  Construction of the stable for H. Gould (‹Castlegould›) at Sands Point. Top left: Longitudinal section; bottom left: Exterior view; right: Interior views showing hollow tile arches and tile vaults.

resides in the masonry, «which constructs and protects, over the iron which acts as an auxiliary and reinforces»37. Finally he expresses his criticism of iron: «the iron in construction cannot be, never will be, noble, as it has to be covered, painted or protected.»38 Examples of the ingenious and masterly combination of tile masonry and wrought iron are found throughout Guastavino’s work. However, as the masonry hides and protects the iron, these various equilibrium solutions can only be appreciated by studying the original construction drawings, which are now kept in the Avery Library. Many of these drawings have been published in the books cited above and the interested reader will find material there for study and reflection, and even find inspiration for structural design today. One of the most interesting structures designed by Guastavino, which shows great ingenuity in

combining tiles and iron, is hidden in what appears to be a neo-medieval castle – the stables of the Howard Gould residence at Sands Point. The intermediate storey is a free space of 120 m by 15 m. Guastavino designed a spatial structure of hollow tile arches, inclined hollow piers, and tile vaults. Parts of the vaults are suspended by iron hangers from great arches above. A system of iron ties carries the horizontal thrusts (fig. 13).

Vaulting in Post-War Europe: Spain, France, and Germany Spain After the Spanish Civil War (1936–39) the government of General Franco began an extensive plan of reconstruction and restoration under the supervision of the General Direction of Devastated Regions administered directly from the Ministry

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of the Government. There was a great scarcity of building materials, particularly steel. This lead to a «rebirth» (it had in fact never disappeared) of tile vaulting, which began to be used on a great scale, not only in the restoration of collapsed masonry monuments but also in new buildings. The architect Luis Moya Blanco (1904–90) was one of the favourite architects of the Franco «regime». He designed and built numerous public and religious buildings, including universities, seminaries, and churches. In many of these buildings he used tile vaults profusely, inventing and developing new forms with the help of the technical architect Manuel Casas who was a master of tile-vaulting technique. In 1947 the Ministry of the Government published Moya Blanco’s book Bóvedas Tabicadas, which later became the key reference work for tile-vault construction. Of particular note was his revival of the use of parallel crossarch vaults following the Spanish Islamic models in Córdoba (fig. 14). This vault pattern received a warm reception from the ecclesiastical authorities and Moya employed it many times. He continued to build tile vaults until the end of the 1960s. Another important document from the 1950s was written by Ángel Truñó, architect and professor in the School of Architecture in Barcelona. He

prepared the manuscript for a book explaining in great detail the methods of tile vault construction in Barcelona. The manuscript of the book was studied by the first time by Gulli and Mocchi in the 1990s,39 but remained unpublished until 2004.40 The extent of tile vault construction used in reconstruction and restoration during this period still needs further research. France In France tile vaulting continued to be used during the 19th century. Historical studies of tile vaulting in this period are lacking and the main evidence is found in reports of load tests on tile vaults, which have been studied by Esther Redondo.41 The first tests by Capitaine D’Olivier42 had an experimental research bias, trying to ascertain the lateral thrust of tile vaults (which Espie had erroneously claimed was absent). A second series of tests were undertaken by the engineer Fontaine43, in which large-scale vaults were tested up to failure. Tests of such magnitude were not made in an isolated manner and most probably were carried out with the intention of developing vaults for fireproof floors in factories. A system of building tile vaults was also patented in France at the end of the 19th century, the

14  Construction of Islamic-style cross-arch vaults in the Museum of America in Madrid c. 1945.

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and advantages of tile vaulting,46 and in a second article in the following year he published his designs for the two buildings constructed entirely of masonry and tile vaults.47 Later, in discussions on the use of traditional methods in building, he recommended tile vaulting.48

15  Construction of a cross-vault for a church using the «Système Fabre».

«Système Fabre» patented by A. Fabre in 1896. Cunha describes the system and its application in the construction of the dome of the Petit Palais at the 1900 Exposition Universelle in Paris.44 This dome has a span of 24 m and has two shells, the first of which is a tile vault built without centering. It appears that the system was widely used, especially for the construction of church vaults. Cunha included an illustration of the process for constructing a brick vault for a neo-Gothic church (fig. 15). According to Abraham «Maison Fabre (…) has been used to build thousands of vaults made of bricks only 4 cm in thickness»45 – that is, tile vaults with only one shell. Comprehensive research to establish the origins and diffusion of the System Fabre in France still needs to be undertaken. Another episode in this story concerns the French architect Pol Abraham (1891–1966). Abraham is well-known to construction historians for his book on Viollet-le-Duc from 1934. He was also a practising architect and became interested in tile vaulting at the beginning of World War II. For the design of two buildings for the Chambre d’Apprentissage in Aubressy, he realised that it would be impossible to use reinforced concrete and steel due to the scarcity of these materials in war conditions; so he decided to use tile vaults. He delivered a lecture in 1941 about the history

Germany Tile vaults were used also in Germany in reconstruction works after World War II, namely in the city of Munich and its surroundings. There two persons met: an architect, Carl Sattler (1877–1966), and a builder, Max Rank (1900–75), then director of the company Gebr. Rank & Co KG49. Both shared a fascination for this building technique. Carl Sattler was born in Florence and studied architecture in Dresden. Between 1898 and 1906 he worked in Florence where he designed some villas. During the construction of a villa in Forte (1906) he met a certain Francesco Tognocci, a master mason who introduced him to tile vault construction. In his diaries he reveals the deep impression that this technique made on him, especially its economy and rapid construction. After 1906 he established himself in Munich, but maintained his interest in tile vaulting and made frequent trips to Italy.50 At the beginning of the war in the 1940s, he advocated tile vaulting as an alternative to timber or steel construction in two papers.51 A revised version of his 1941 paper was included in a book about brick vaults by F. Hess, Professor at the ETH in Zürich.52 Max Rank belonged to the third generation of the Rank family of builders (Gebrüder Rank) in Munich. The Rank family had connections with Spain and Max Rank, his father Joseph, and his uncle Ludwig payed frequent visits to Spain. There the tile vaulting technique fascinated them for its economy and speed. In one of his trips Max Rank acquired the recently published book by Luis Moya Blanco53 and visited some of his works, then under construction. The fascinating history of the Rank family has recently been published by Paul Basiner,54 the last active member

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of the Rank family. My friend Dirk Bühler, a former curator in the Deutsches Museum, knowing my interest in tile vaulting kindly gave me a copy of Basiner’s book and invited me to deliver a lecture in Munich.55 Two papers about tile vaulting in Germany are now published.56 Sattler the architect and Rank the builder collaborated in 1947 in the reconstruction of the Landeszentralbank in Munich where they used tile vaults extensively. After this the Gebr. Rank company used tile vaulting in numerous works of reconstruction and also in some new buildings. This activity of the company has been described in detail by Franz Wimmer, with numerous photographs, in the book by Basiner.57 However not all the material has been published and I was fortunate to have access to the Archive Basiner, thanks to the intervention of Dr. Bühler and the kindness of Herr Basiner. Figure 16 reproduces some photos of the construction of one of the tile vaults of Landesbank, by courtesy of Paul Basiner.

Conclusion Tile vaulting is a rational, economic and, fast technique of building. It evolved within the tradition of vaults constructed without centering, «on the

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air», which originated in the Middle East some 4.000 years ago. The first known example of a tile vault was in Spain and is dated to the 12th century. From c. 1500 tile vaults were used frequently in Spain. From Spain they spread to the Roussillon and France. In the 19th century use of the technique is documented in Spain, France, and Italy, although the full story of its diffusion is still to be researched; it was probably much more widespread than has been supposed. A singular episode occurred at the end of the 19th century. A visionary Spanish architect, Rafael Guastavino, set himself the task of developing tile vaulting to establish a new level of perfection in architectural design. After some important work in Catalonia, he emigrated in the 1880s to the United States to pursue his dream. His passionate work and construction genius made possible the task of transferring and improving a whole building technique from Spain to America in less than a decade. From the 1890s his company constructed thousands of tile vaults, of every type and size, for many of the most important architects in the United States. The work of Guastavino (and his son who continued with the company) was the inspiration for several Catalan architects around 1900, including Gaudí, Jujol, and Martinell. It also encouraged some

16  Tile vault during construction in the Landesbank, Munich 1947.

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Spanish architects to revive the use of tile vaults in the works of reconstruction after the Spanish Civil War. Finally the technique experienced another unexpected migration, this time from Spain to Germany, when the Gebr. Rank company began to employ tile vaults in Munich, for reconstruction and new buildings, after the Second World War.

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Baitimova 2008; Besenval 1984; El-Naggar 1999. Wilson 1992. Storz 1994. Choisy 1883. Lancaster 2015. Choisy 1873. Choisy 1899. Lancaster 2009. Koestler 1964. Araguas 2003. Almagro 2001. Marías 1991. San Nicolás 1639. Espie 1754. For example Cavalieri San-Bertolo 1831. Wild 1856. Fatta et al. 2016. Parks / Neumann 1996. APT 1999. Huerta 2001. Ochsendorf 2010. The reader is referred to in the bibliographies in Huerta 2001 and Ochsendorf 2010. Guastavino ²1893, 12–13. Guastavino ²1893, 42. Guastavino ²1893, 15. The house was completed 6 years later. Guastavino ²1893, 17. Collins 1968, 191. Wight 1901, 185. Brickbuilder 1908, 41.

Today a small (but growing) number of masons, architects and engineers are involved in resuscitating the technique, applying it in restoration and in new buildings as an alternative to conventional structures of steel or reinforced concrete, or as an economic, rational and sustainable way of building for some countries in Europe, Africa and America.

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Ochsendorf 2010. Collins 1968. The 1893 edition cited in this paper was mainly a reprint. Ochsendorf 2010. Many of those drawing are reproduced in Huerta 2001 and Ochsendorf 2010. Guastavino 1904, 77–78. Guastavino 1904, 89. Guastavino 1904, 89. Guastavino 1904, 89. Gulli / Mocchi 1995. Truñó 2004. Redondo 2013. D’Olivier 1837. Fontaine 1865. Cunha 1900 (Les voûtes sans cintres: 70–74.). «(…) la Maison Fabre (...) a executé des milliers de voûtes d’églises en briques de quatre centimetres d’épaisseur seulement». Abraham 1941, 40. Abraham 1941. Abraham 1942. Abraham 1945. «Rank Brothers». Scherer 2007. Sattler 1940; Sattler 1941. Sattler 1948. Moya Blanco 1947. Basiner 2012. Huerta 2015. Bühler 2017; Huerta 2017. Basiner 2012, 356–383.

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T. J. Gueritte und Karl W. Mautner, oder: Wie Emigranten den Spannbeton nach Großbritannien brachten

Roland May

»Over the centuries, Britain has profited immeasurably from the skills and vitality brought to these islands by immigrants from all over the world.«1 David Cameron, 2005

Großbritannien kann mit Recht für sich in Anspruch nehmen, eine, wenn nicht die Geburtsstätte des modernen Bauwesens zu sein. Mit Wagemut und Einfallsreichtum wurden hier seit dem 18. Jh. neue Techniken und Werkstoffe dem Bauen dienstbar gemacht. Vorangetrieben wurde die Entwicklung von der gerade erst entstehenden Profession der Bauingenieure. Bis weit ins 19. Jh. hinein setzten die britischen civil engineers die Maßstäbe für fortschrittliches Bauen. Aus aller Welt reiste man auf die Insel, um die aktuellsten Entwicklungen vor Ort zu studieren. Gleichzeitig implementierten zahlreiche britische Bauingenieure in den kontinentaleuropäischen Ländern die neuesten Bautechniken und -materialien. Eine Grundlage dieses Erfolgs war die Tech­ nikerausbildung on the job. Genau diese wurde aber zum Problem, als sich das Bauwesen ab Mitte des 19. Jhs. zunehmend verwissenschaftlichte. Während das Bauingenieurwesen auf dem Kontinent nachhaltig von einem stetig dichter werdenden Netz polytechnischer Hochschulen profitierte, gab es noch zu Beginn der 1930er Jahre in Großbritannien nicht einmal eine Handvoll vergleichbarer Einrichtungen. So wandelte sich der ehemalige technologische Vorsprung des Vereinigten Königreichs sukzessive

in einen Rückstand um, und die Entwicklung einer Schlüsseltechnologie wie dem Stahlbetonbau basierte im Großbritannien der ersten Hälfte des 20. Jhs. nach Mike Chrimes umfassend auf Wissen, das über »foreign born engineers, or enterprising contractors« importiert wurde.2 Großbritannien war seit dem 19. Jh. regelmäßig das Ziel von Einwanderern. Dies hat sich in einer umfangreichen und vielgestaltigen Migrationsforschung niedergeschla­ gen. 3 Unter den mit dem Bauwesen im Zusammen­ hang stehenden Immigranten wurde insbesondere den zwischen 1933 und 1939 nach Groß­ britannien geflüchteten Architekten besondere Aufmerksamkeit zuteil.4 Kaum Beachtung fand hingegen die Berufsgruppe der Bauingenieure. Selbst in Wolfgang Mocks grundlegenden Arbeiten zur Emigration deutschsprachiger Ingenieure nach Großbritannien während der NS-Zeit spielen sie nur eine unbedeutende Neben­rolle.5 Generell werden Bauingenieure sowohl in der technikgeschichtlichen als auch der bauhistorischen Forschung gerne übersehen. In bautechnikgeschichtlichen Arbeiten wiederum hat man sich bislang lediglich vereinzelt mit dem Phänomen der Emigration auseinandergesetzt. Im folgenden Beitrag soll daher am Beispiel der nach Großbritannien emigrierten Alfred Tony Jules Guéritte (1875–1964) und Karl Walter Mautner (1881–1949) aufgezeigt werden, welch starke Impulse von Bauingenieuren auf das Bauwesen in ihren neuen Heimatländern ausgehen konnten.

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1  Tony Jules Guéritte, um 1921.

2  Royal Liver Building, Liverpool, 1908–11 (Ing. L.G. Mouchel & Partners Ltd.).

T. J. Gueritte – Erfinder, Unternehmer und Netzwerker Unter den herausragenden Vertretern der »generation of largely forgotten engineers who worked for specialist companies before the Second World War« nannte Chrimes den hierzulande nahezu unbekannten Guéritte (Abb. 1) an erster Stelle.6 Der 1875 in Blois geborene Sohn eines Schuh­fabrikanten studierte von 1894 bis 1897 Bau­ingenieur­wesen an der prestigeträchtigen Pariser École Centrale des Arts et Manufactures. Nach dem Militär­dienst heuerte er im gerade gegründeten Pariser Büro des StahlbetonPioniers François Henne­ bique (1842–1921) an. Rasch stieg er dort zum Leiter der Abteilung auf, in der die Planungen von Lizenz­nehmern außerhalb Frankreichs geprüft wurden. In diesem Zeitraum ernannte Hennebique den in Großbritannien ansässigen Franzosen Louis Gustave Mouchel (1852–1908) zu seinem dortigen General Agent.7 Mouchel, der sich wie Hennebique auf die Tätigkeit als consulting engineer beschränkte

und für die Umsetzung auf Unterlizenznehmer setzte, benötigte für sein Unternehmen qualifizierte Ingenieure. Neben manchen Kollegen aus Hennebiques Büro wechselte so auch Guéritte Ende 1899 nach Großbritannien. Schon bald übernahm der im Vereinigten Königreich als T. J. Gueritte8 firmierende Ingenieur die Leitung von Mouchels Northern District Office und verwandelte Schottland und Nordengland zügig in ein »stronghold of ferro-concrete construction«.9 1907 wurde das Unternehmen in die L.   G. Mouchel & Partners Ltd. umgewandelt. Gemein­ sam mit John Stuart Ellis de Vesian (1865–1934) trat Guéritte in die Geschäftsführung der sich stürmisch entwickelnden Firma ein. Diese verantwortete bis zum Ende des Ersten Weltkriegs rund ⁴⁄₅ aller britischen Stahl­betonbrücken10 und war auch im Stahl­beton-Skelett­bau sehr erfolgreich. Mit dem nahezu 100 m hohen Royal Liver Building in Liverpool (1908–11) konnte man direkt nach dem Ableben des Firmen­gründers sogar ein weltweit beachtetes Ausrufe­zeichen setzen (Abb. 2).

T.J. Gueritte und Karl W. Mautner, oder: Wie Emigranten den Spannbeton nach Großbritannien brachten.

3  Kühlturme des Kraftwerks Hams Hall, 1928/29 (Ing. L.G. Mouchel & Partners Ltd.).

In der Zwischenkriegszeit verlor die Firma ihre marktbeherrschende Stellung, blieb aber eine treibende Kraft im britischen Stahlbetonbau. Auf dem Gebiet des Kühlturmbaus, wo Guéritte die in den Niederlanden entwickelte Idee hyperbolischer Stahlbetonkonstruktionen weiterführte (Abb. 3), wurde Mouchel sogar zum inter­ nationalen Vorreiter. Nach anfänglichen Auseinandersetzungen um die Schutzrechte erwarb Guéritte seinerseits insgesamt 16 britische Patente, auf deren Grundlage die Firma Mouchel bis Mitte der 1960er Jahre weltweit rund 600 Kühltürme konzipierte.11 Seinem Heimatland blieb Guéritte über seine ganze Karriere eng verbunden. Unter anderem beriet er das französische Wirtschaftsministerium und war Präsident der französischen Handels­ kammer in London. 1919 gründete er eine britische Sektion der Société des Ingénieurs Civils de France und knüpfte in der Folge Kontakte zu einflussreichen Bauingenieuren wie Eugène Freyssinet (1879– 1962), in dessen Pont Albert-Louppe (1926–30)

er wenig bescheiden die jüngere Schwester der von Mouchel verantworteten Royal Tweed Bridge (1925–28) ausmachte.12 Guéritte war begeistert von einer verfeinerten Methode zur Erhöhung der Druckfestigkeit von Beton durch Rüttelmaschinen, die Freyssinet für die Ausführung seiner epochalen Brücke entwickelt hatte.13 Seine Firma rief daraufhin das spezialisierte Bauunternehmen Vibrated Concrete Construction Co. Ltd. (VCC) ins Leben,14 außerdem gründete der mit Guéritte befreundete französische Unternehmer Marcel Semet (1882– 1957) mit der Concrete Vibration Ltd. 1935 eine Vertriebsfirma für Rüttelgeräte.15 Im folgenden Jahr lud Guéritte Freyssinet zu einem Vortrag nach London ein. Weil der ›Vater des Spannbetons‹ des Englischen nicht mächtig war, besorgte Guéritte die Übersetzung der Rede und trug sie am 19. März 1936 persönlich vor.16 Der Vortrag, für den Guéritte die bis heute übliche Bezeichnung prestressed concrete entwickelte,17 gilt als Startpunkt der Auseinandersetzung mit dem Thema der Vorspannung in Großbritannien.

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Mouchel wurde nun Lizenznehmer für Freyssinets britische Patente. An den Bau einer ersten Spann­ beton-Konstruktion wagte man sich aber noch nicht heran. Wie rund 40 Jahre zuvor suchte man im Ausland nach Expertise für das von nur wenigen Fachleuten beherrschte Gebiet. Fündig wurde man schließlich im Deutschen Reich, denn dort gab es einen führenden Kenner, der dringend das Land verlassen wollte: Karl Walter Mautner (Abb. 4).

Karl W. Mautner – Aufstieg, Absturz und ein Neubeginn Im Gegensatz zu Guéritte sind zu Mautner bereits mehrere biografische Studien erschienen. Gerade die deutschen Beiträge schweigen sich aber über sein umfangreiches Wirken in Großbritannien aus. Ernst-Ulrich Reuther gab 1995 noch an, über Mautners »Tätigkeit in England […] nichts in Erfahrung« gebracht zu haben.18 Gut zwanzig Jahre später beschränkten sich Delf Slotta und Alexander Kierdorf auf wenige Zeilen.19 Hierbei stützten sie sich allein auf die dreisprachige

4  Karl W. Mautner, um 1930.

Publikation Der Spannbeton und Europa aus dem Jahr 2000, in der Jupp Grote und Bernard Marrey Mautners herausragende Rolle beim Transfer Freyssinet’scher Ideen nach Deutschland als auch nach Großbritannien herausgearbeitet hatten.20 1881 im unweit von Linz gelegenen Enns als Sohn eines jüdischen Eisenbahningenieurs geboren, begann Mautner 1898 ein Studium als Lehramtskandidat an der Universität Wien, studierte bald schon aber auch Bauingenieurwesen an der TH Wien. Ab 1904 war er dort unter anderem beim Professor für Brückenbau Johann Emil Brik (1842–1925) als Assistent tätig. Nach seiner Promotion im Jahr 1906 ging er zur Düsseldorfer Massivbaufirma Carl Brandt, wo er sich rasch als Fachmann für den noch jungen Stahlbetonbau etablierte (Abb. 5) und bis zum technischen Leiter aufstieg. 1915 wechselte er als technischer Direktor zur Düsseldorfer Niederlassung der Wayss & Freytag AG und stieg 1928 schließlich zum Vorstandsmitglied in der Frankfurter Zentrale der bedeutenden Bauunternehmung auf. Diese Funktion behielt er nach der 1932 erfolgten Insolvenz auch in der Nachfolgefirma Neue Baugesellschaft Wayss & Freytag AG bei.

5  Orpheum-Theater, Bochum, 1907/08 (Arch. Paul Engler, Ing. Bauunternehmung Carl Brandt).

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Parallel zu seiner praktischen Tätigkeit habilitierte sich Mautner 1912 an der TH Aachen für das Fach Eisenbetonbau und unterrichtete dort in der Folge als Privatdozent. 1926 zeichnete ihn die Hochschule mit dem Titel eines Ehrendoktors aus und ernannte ihn zum Honorarprofessor mit Lehrauftrag für Eisenbetonbauten im Berg- und Hüttenbau, insbesondere im Bergsenkungsgebiet. Trotz frühzeitiger Konversion zum Katholi­ zismus fiel Mautners Stellung als Wirt­schafts­ führer und Hochschullehrer dem Rassen­wahn der Nationalsozialisten zum Opfer. Eine bereits 1933 erfolgte Beurlaubung an der TH Aachen wurde zwar wieder aufgehoben, die Erste Verordnung des Reichs­bürgergesetzes führte Ende 1935 jedoch zu seiner endgültigen Entlassung. Seinen Posten bei Wayss & Freytag hatte Mautner bereits Ende 1933 ›freiwillig‹ räumen müssen. Diese prekäre Situation blieb nicht unbemerkt. Schon 1933 brachte der ebenfalls entlassene Dresdener Physikprofessor Harry Dember (1882–1943) Mautner neben Kálman Hajnal-Kónyi (1898–1973) als Professor für das im Aufbau stehende Technion in Haifa in Vorschlag.21 Im folgenden Jahr rückte Mautner ins Blickfeld des

amerikanischen Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars22 und 1936 tauchte sein Name auf der List of Displaced German Scholars des Londoner Academic Assistance Councils auf.23 Mittels Beraterverträgen seiner alten Firma konnte Mautner sich aber in Frankfurt am Main zunächst als freier Ingenieur etablieren. Sogar Auslandsreisen waren ihm möglich, etwa im Zusammenhang mit einem Kühlwasserkanal des Dubliner Pigeon House-Elektrizitätswerks (1934– 36) oder dem 1937 begonnenen Maastunnel in Rotterdam. Mautners Hauptaugenmerk galt aber dem Spann­beton. Wohl auf seine persönliche Initia­ tive hin war Wayss & Freytag bereits 1932 zu Freyssinets Lizenz­nehmer in Deutschland geworden. 24 Ausgehend von ersten Versuchs­trägern im Jahr 1933 über Versuchs­reihen in Frankfurt und Dresden (1935–38) bis hin zur ersten Spann­ beton­brücke nach System Freyssinet über die Reichs­autobahn bei Oelde (1938, Abb. 6) war Mautner in alle Pionier­arbeiten von Wayss & Freytag eingebunden. Meist hielt er sich fern des Rampen­lichts. Im erst 1935 entschiedenen Verfahren um die Anerkennung von Freyssinets

6  Autobahnüberführung »Weg Hesseler«, Oelde, 1938 (Ing. Neue Baugesellschaft Wayss & Freytag AG).

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Vorspannungspatent vertrat er aber den französischen Ingenieur vor dem Patentgericht,25 und noch Ende 1936 stellte er persönlich in Berlin auf dem Zweiten Internationalen Kongress für Brückenbau und Hochbau erste Ergebnisse vor.26 Mautners erstaunliche Karriere in jenen Jahren wurde nicht zuletzt durch sein gutes Verhältnis zu vielen seiner alten Kollegen ermöglicht. 27 Zusätzlich vermeintlich geschützt durch die Ehe mit seiner ›arischen‹ Frau, harrte Mautner so trotz stetig zunehmender Repressionen in Deutschland aus. Die Hoffnung, den unseligen Nazi-Spuk irgendwie aussitzen zu können, zerstörten die Massenverhaftungen im Rahmen der No­vem­ber­ pogrome 1938. Mautner wurde in das Konzentra­ tions­lager Buchenwald verbracht, wo die jüdischen Häftlinge mit unbeschreiblicher Brutalität behandelt und unmissverständlich zur Ausreise aufgefordert wurden.28 Als gebrochener Mann kehrte er Mitte Dezember nach Hause zurück.29 Guéritte, der Mautner eventuell schon länger im Blick hatte,30 soll sich nun persönlich beim British Home Office für dessen Aufnahme in Großbritannien eingesetzt haben.31 In die anscheinend via Rotterdam durchgeführte und für die Firma Mouchel offenbar recht kostspielige Fluchtaktion waren vermutlich auch noch Semet, Archibald Kirkwood Dodds (1885–1968)

7  Werbeanzeige der Vibrated Concrete Construction Co. Ltd., 1940.

und diverse Geheimdienste involviert. 32 Wohl deshalb konnte Mautner den größten Teil seines Vermögens und auch wertvolle Unterlagen von Wayss & Freytag mitführen, als er gerade noch rechtzeitig vor Kriegsausbruch im Sommer 1939 mit seiner Ehefrau nach Großbritannien ausreiste.

Erste Spannbeton-Projekte in Großbritannien Am 16. August 1939 gründete Guéritte mit seinen Mouchel-Vorstandskollegen Kirkwood Dodds und Walter R. Howard (1891–1988) die Pre-Stressed Concrete Co. Ltd. (PCC).33 Chefingenieur der weltweit ersten einzig dem Entwurf von Spann­beton­ konstruktionen gewidmeten Firma wurde Mautner. Seinen Sitz nahm das Unternehmen in der Palmer Street 14 in Westminster, wo bereits die VCC, die Concrete Vibration Ltd. sowie die Londoner Filiale der eng mit Freyssinet verbundenen französischen Bauunternehmung Sainrapt & Brice ansässig waren. Letztere entsandte im September 1939 Robert Shama (1916–1980) als Stell­vertreter Mautners zur PCC. Shama zufolge hatte man anfangs »to fight almost everybody to introduce prestressed concrete«. 34 Der Krieg eröffnete der stahl­sparen­den Technik jedoch rasch Chancen zur Bewährung. Auf der Basis von Planungen der PCC konnte die VCC (Abb. 7) bereits ab Dezember 1939 in großem Maßstab vorgespannte Träger für den Ausbau der Monkton Farleigh Mine zu einem Militär­depot einsetzen. Als bereits 1265 Träger eingebaut waren, sorgte ein Fehler im Bau­ablauf allerdings für einen Teil­einsturz und den Abbruch der Arbeiten. 35 Unterdessen hatte die PCC vom Ministry of War Transport, das seinen Bestand an Not­ brücken­trägern aufstocken wollte, aber schon den nächsten Großauftrag erhalten. Wie beim vorigen Projekt sollten auch hier die vorgespannten Drähte nach Freyssinets ursprünglicher Idee direkt in den Beton eingegossen werden, diesmal allerdings – ähnlich wie beim System Hoyer

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8  Bruchversuch an einem Spannbetonträger für Notbrücken in Southall, 28.5.1940.

– ohne Endverankerung. Nachdem erste Versuche an einem Träger mit bündig abgeschnittenen Drähten befriedigend verlaufen waren (Abb. 8), produzierte man auf einem Gelände der L. M. S. Railway Co. Ltd. in Newton Heath in mehreren, teils über 300 m langen Reihen von Spannbetten zwischen 15 und 50 ft. (rd. 4,5–15 m) lange Träger für insgesamt 40 Brücken. Abgesehen von lediglich zwei Ausnahmen (Abb. 9) fanden die Notträger allerdings erst nach dem Krieg Verwendung, und ein ebenfalls im Frühjahr 1940 entwickelter Entwurf für die Westgate Bridge in Gloucester wurde ganz fallengelassen. Dennoch bereitete Guéritte für den 25. Juni 1940 einen Vortrag zu den ersten britischen Spannbeton-Projekten vor. Wegen des katastrophalen Kriegsverlaufs musste er zwar

abgesagt werden, wurde aber, versehen mit einem Appendix von Mautner, in schriftlicher Form verbreitet.36 In diesen kritischen Tagen wurden die Büros in der Palmer Street zu einer Keimzelle für die Gründung der Gesellschaft Les Français de Grande-Bretagne,37 die als zivile Ergänzung zu Charles de Gaulles Forces françaises libre die Exil-Franzosen in Großbritannien vertreten sollte.38 Obwohl Guéritte deren Präsidentschaft übernahm, fand er noch die Zeit, Mitte August 1940 Patent­ anträge für verbesserte Spannpressen sowie ein neues Ver­anke­rungs­system einzureichen.39 Zwei Wochen später folgte ein weiterer Antrag von Kirkwood Dodds mit der PCC.40 Die Vorschläge bezeugen eine intime Kenntnis von Freyssinets nur wenige Tage vor Kriegsausbruch in

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9  Eisenbahnüberführungen mit Notbrückenträgern in Newton-le-Willows (links) und Sinderby (rechts), um 1942 (Ing. Pre-Stressed Concrete Co. Ltd.).

10  Flugzeughangar, Karachi, 1942/43 (Ing. J. C. Gammon Ltd., L. G. Mouchel & Partners Ltd. u. Pre-Stressed Concrete Co. Ltd.).

Frankreich eingereichtem Patent­antrag zur nachträglichen Vor­spannung, bei der Drahtbündel mit einem Hüll­element umgeben und erst gegen den erhärtenden Beton angespannt werden sollten.41 Den in Großbritannien tätigen Ingenieuren wurde deshalb kürzlich Plagiierung unter böswilliger Ausnutzung der chaotischen Kriegsumstände unterstellt.42 Guéritte hatte allerdings 1941 in seinem letzten großen Beitrag zur Vorspannung den Sachverhalt bereits implizit geklärt: Weil Freyssinets komplexe Druckwasserpressen unter den Kriegsbedingungen nicht zu organisieren waren, habe man notgedrungen Alternativen entwickelt.43 Der abgerissene Kontakt zu Freyssinet beeinflusste auch Mautners wohl spektakulärstes

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11  Übersichtszeichnung zur Spanndrahtanordnung in einem Schalen-Randträger, 1942 (Mautner und Pre-Stressed Concrete Co. Ltd.).

Pro­jekt in jenen Jahren. Im Frühjahr 1940 hatte E. P. Nicolaides (1907?–1958), Ingenieur der J. C. Gammon Ltd. in Bombay, ein Stahlbeton-Tonnen­ schalen­dach für Panzergaragen entworfen.44 Kurz darauf erwarb seine Firma von der PCC eine Unter­ lizenz für das Freyssinet-System, woraufhin das Projekt gemeinsam überarbeitet wurde. Unter der Bau­leitung des als Resident Engineer zur J. C. Gammon Ltd. entsandten Shama entstanden dann bis 1941 im indischen Meerut die weltweit ersten Ton­nen­scha­len mit vorgespannten Randträgern. Nach Grote und Marrey kamen hier wohl erstmals die von Freyssinet kurz zuvor patentierten Beton-Anker­körper sowie parabelförmig geführte Draht­bündel zum Einsatz.45 Da vor Kriegsbeginn lediglich ein Satz von Freyssinets hydraulischen Pressen nach Britisch-Indien gelangt war, kopierte man kurzerhand die eigentlich patentgeschützten Apparate.46 Dasselbe Team errichtete 1942/43 noch einen Flugzeughangar in Karachi (Abb. 10). Dessen 130 ft. (rd. 40 m) weit spannende Tonnenschalen

ruhten an der Frontseite auf zwei ebenfalls vorgespannten Trägern, die Toröffnungen von 190 ft. (rd. 58 m) ermöglichten. Unklar ist, ob Mautner eventuell erst jetzt der Gedanke kam, die Draht­ bündel stärker über den Querschnitt zu verteilen, um ein Beulen der schlanken Träger in den nicht vorgespannten Bereichen auszuschließen. Sein hierzu gemeinsam mit der PCC erstellter Patent­ antrag (Abb. 11) wurde jedenfalls erst Anfang Mai 1942 eingereicht.

Spannbeton im und nach dem Krieg Im Vergleich zu den Projekten im fernen Bri­ tisch-Indien gestalteten sich die Arbeiten von Mautner und seinem Team für das kriegsgeplagte Großbritannien weniger spektakulär. Zudem verlor die Zusammenarbeit der bereits 1940 an den Mouchel-Hauptsitz in der Victoria Street 36–38 verlegten PCC mit der Partnerfirma VCC, die ebenso wie die Concrete Vibration Ltd.

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in die Caxton Street 2 wechselte, zunehmend an Bedeutung. Die Projekte der Jahre um 1942 – etwa die Entwicklung und Produktion großer Mengen vor­gespannter Eisenbahn­schwellen (Abb. 12) sowie ein vorgespannter Drucktunnel für die Erweiterung der Ribble Generating Station in Preston – scheinen alle mit anderen Partnern umgesetzt worden zu sein. Zu beiden Themen­ komplexen reichte Mautner mit der PCC parallel Patent­anträge ein.47 Ein weiterer Patentantrag zu vorgespannten Platten,48 von Marc Sanabra Loewe als erster »modern post-tensioned floor« bezeichnet,49 demonstriert die Breite seiner Tätigkeit in diesen Jahren. Gleichzeitig repräsentierte Mautner, der zunächst noch im Schatten von Guéritte und Kirkwood Dodds gestanden hatte, nun auch öffentlich die PCC und verantwortete mehrere Artikel sowie zahlreiche Diskussionsbeiträge in

den Proceedings der verschiedenen Ingenieurs­ vereini­gungen. Deren seinerzeit wohl weltweit einmalig vielschichtigen Debatten rund um die Vor­spannung profitierten nicht zuletzt von den Beiträgen weiterer Emigranten. Als ernstzunehmender Kontrahent Mautners profilierte sich hierbei insbesondere Paul Abeles (1897–1977). Wie Mautner in Österreich geboren, propagierte Abeles die Idee der partiellen Vorspannung seines Landsmanns Fritz Emperger (1862–1942).50 Freyssinet wollte mit außerordentlich stark vorgespannten Eisen die im Stahlbeton übliche Bildung von Rissen durch Biegezugspannungen völlig vermeiden. Weil sich der Stahlverbrauch mit verringerter Anspannung deutlich reduzieren ließ, nahm Abeles diese hingegen in Kauf. Guéritte und insbesondere Mautner als »devotee of the Freyssinet system«51 traten dieser Idee entschieden entgegen.52 In der Folge entwickelte sich ein über Jahre

12  Produktion von vorgespannten Eisenbahnschwellen in gereihten Spannbetten, 1943.

T.J. Gueritte und Karl W. Mautner, oder: Wie Emigranten den Spannbeton nach Großbritannien brachten.

mit großer Schärfe geführter Schlagabtausch, in dem ausgerechnet zwei Vertriebene ihren britischen Kollegen eine Kostprobe deutscher Dis­kus­ sions­kultur darboten.53 Über weitere Aktivitäten von Mautner und Guéritte in den letzten Kriegsjahren ist kaum etwas bekannt. Guéritte scheint sich 1944 aus gesundheitlichen Gründen aus dem Berufsleben zurückgezogen zu haben,54 während Mautner im Gegenzug zunehmend auch für Mouchel tätig wurde. Eventuell war er so an der Entwicklung der Stahlbeton-Schwimmkörper für die Mulberry Harbours beteiligt, die den Nachschub der Alliierten in den ersten Tagen nach der Invasion sicher­stellen sollten. Mit Kriegsende ergab sich endlich die Perspektive, Spannbeton im großen Maßstab auch für zivile Bauaufgaben einzusetzen. Noch vor Ende der Kampf­handlungen reichten Mautner

und die PCC im April 1945 Patentanträge für vorgespannte Schei­ ben- und Stabbogenbrücken ein.55 Bald darauf entwickelte man auf Grundlage des Konzepts der Not­brücken­träger die erste vorgespannte Eisen­bahn­brücke Großbritanniens. Der 1946 bei Wigan errichtete Adam Viaduct wies allerdings lediglich Spannweiten von rund 9 m auf. 1947/48 entwickelte die PCC gemeinsam mit Mouchel die Nunn’s Bridge bei Fishtoft als erste Brücke Großbritanniens in vorgespanntem Ortbeton (Abb. 13). Obwohl ihre Träger immerhin schon rund 24 m weit spannten, wurde die abgelegene Brücke weitgehend von ungeschulten Arbeitern und ohne Mitwirkung einer Baufirma erstellt.56 Im gleichen Zeitraum übersiedelte die PCC in die Victoria Street 131 und war so wieder räumlich von Mouchel getrennt. Mautner blieb aber weiterhin auch für die Mutterfirma aktiv

13  Nunn’s Bridge, Fishtoft, 1948 (Ing. L.G. Mouchel & Partners Ltd. und Pre-Stressed Concrete Co. Ltd.).

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14  Konzept einer vorgespannten Rahmenkonstruktion (Mautner und Pre-Stressed Concrete Co. Ltd.).

T.J. Gueritte und Karl W. Mautner, oder: Wie Emigranten den Spannbeton nach Großbritannien brachten.

und trat sogar gelegentlich als ihr Repräsentant auf, als vom alten Führungstrio nach dem Austritt Howards im Jahr 1948 nur mehr Kirkwood Dodds verblieben war. Beim Entwurf von Kaimauern für Edinburgh und Trinidad57 erschloss Mautner der Vorspannung mit Caissons oder Gründungspfählen ebenso neue Anwendungsfelder wie in einem bereits 1946 von der Structural and Mechanical Development Engineers Ltd. (SMD) gemeinsam mit der Building Research Station gestarteten Projekt zur Vor­ fertigung von Mehrfamilienhäusern. Vermutlich vermittelt über den ehemaligen MouchelIngenieur Joseph Bak (1905–mind. 1960), steuerte Mautner ein System aus vorgefertigten Stützen und Trägern bei, die auf der Baustelle unter An­wendung von Vorspannung zu Rahmen verbunden werden sollten.58 Ob das Anfang 1947 paten­tierte Verfahren (Abb. 14) jemals praktische Anwendung fand, ist ungewiss. Im folgenden Jahr setzte die SMD bei Büro­bauten für die British Overseas Airways Corporation (heute British Airways) in Brentford jedenfalls nur vorgefertigte Stützen mit Vorspannung ein.59 Mit Mautners britischem ›SpannbetonMono­pol‹ war es nun ohnehin vorbei. Beratende Ingenieure wie Charles W. Glover (1891–mind. 1973) oder die auf Basis der Patente Gustave Magnels (1889–1959) arbeitende Stressed Concrete Design Ltd. drangen ebenso auf dieses Gebiet vor wie der unterdessen bei British Railways angestellte Paul Abeles, der 1948 die ersten Brücken mit partieller Vorspannung umsetzen konnte. Mautner selbst kehrte in diesem Jahr dafür auf die internationale Bühne zurück, u. a. Ende Juni beim Internationalen Kongress für Bodenmechanik in Rotterdam60 und im September 1948 auf der IABSE-Tagung in Lüttich61. Danach wurde es still um ihn. Im Februar 1949 verstarb er im 68. Lebensjahr in London unter bislang unbekannten Umständen. Der sechs Jahre ältere Guéritte überlebte Mautner um beinahe 15 Jahre. Hochbetagt verschied er Ende Januar 1964 in seinem Winter­domizil an der französischen Mittelmeerküste.

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Immigration und Innovation Die Beispiele Guérittes und Mautners bestätigen eindrucksvoll die Aussage, »that migrants have often acted as agents of innovation«.62 Ihre unterschiedlichen Lebenswege deuten dabei zugleich die Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten an, die sich hinter dem Wort ›Emigrant‹ verbirgt (Abb. 15). Guéritte wechselte als ›Wirtschaftsmigrant‹ über den Kanal. Er »knew how to make good friends«63 und war rasch bestens vernetzt. Maß­ geblich bestimmte er über vier Jahrzehnte die Geschicke einer der bedeutendsten Baufirmen Großbritanniens und setzte sich zugleich stets für Pflege und Ausbau der Bindungen zwischen seinem Heimat­land und seiner Wahl­heimat ein. Trotz seiner Schwer­hörigkeit war er auch auf zahlreichen kulturellen Gebieten aktiv, war Vorkämpfer des Esperanto oder förderte zeit­ genössische Musik. Seine Frau Madeleine (1881–1948) propagierte moderne Er­zie­hungs­me­tho­den und stand in engem Austausch mit französischen Intellektuellen. Auch Mautner war ursprünglich ein ›Wirt­ schafts­ migrant‹, als er 1906 von Wien nach

15  Wege in die Emigration von T. J. Gueritte (grau) und Karl W. Mautner (schwarz).

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Düssel­dorf wechselte. Ebenso wie Guéritte blieb er trotz des Aufstiegs zu einem der wichtigsten Wirtschaftsführer der Bauindustrie jener Jahre der Praxis eng verbunden. Ohne diese Basis wären seine Tätigkeiten als Berater von Wayss & Freytag ab 1933 sowie für die PCC ab 1939 nicht möglich gewesen. Nach Großbritannien flüchtete Mautner erst mit knapp 60 Jahren, konnte sich aber in professioneller Hinsicht in seinem Aufnahmeland rasch integrieren. Zeitweilig galt Mautners Name dort sogar gleichsam als Synonym für den Spannbeton.64 Dass er »would have probably become a successful material anyway«, hat Chris Burgoyne zu Recht angemerkt.65 Der Prozess seiner Einführung in Großbritannien wurde aber maßgeblich durch den Wissensvorsprung der Migranten Guéritte und Mautner beschleunigt. Außerhalb des Vereinigten Königreichs ist diese Pioniertat der beiden Ingenieure bis heute praktisch unbekannt. Kann dies bei Guéritte

16  Kálman Hajnal-Kónyi, um 1970, und Paul Abeles, um 1975.

primär damit erklärt werden, dass er nahezu seine ganze Karriere außerhalb Frankreichs verbrachte, liegt der Fall bei Mautner etwas anders. Dessen vor 1939 erworbene Verdienste finden sich nämlich durchaus im bautechnikgeschichtlichen Kanon jenes Landes wieder, das ihn demütigte, quälte und vertrieb. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass Mautner trotz der Annahme der britischen Staatsbürgerschaft und dem Vorsatz, nie wieder deutschen oder österreichischen Boden zu betreten,66 nach Kriegsende wieder vereinzelte Kontakte nach Deutschland hatte.67 Dennoch blieb dort das Interesse an seiner erzwungenen ›zweiten Karriere‹ bis heute sehr überschaubar. Mautner ist damit beileibe kein Einzelfall. Neben den genannten Kálman Hajnal-Kónyi und Paul Abeles (Abb. 16) warten noch zahlreiche weitere vor dem NS-Terror geflohene Bauingenieure darauf, dass ihre Leidensgeschichten sowie ihre teils hochkarätigen Beiträge nach ihrer Flucht hierzulande endlich angemessen gewürdigt werden.

T.J. Gueritte und Karl W. Mautner, oder: Wie Emigranten den Spannbeton nach Großbritannien brachten.

1 David Cameron, zit. von Lord Bassam of Brighton (John Steven Bassam) während einer Debatte im House of Lords am 30.1.2006 (Hansard 2005/06, Sp. 5). 2 Chrimes 2001a, 155. 3 Einen Überblick vermitteln Panayi 2010 und Brown 2012. 4 Zuletzt Schätzke 2013. 5 Zusammenfassend Mock 1986. 6 Chrimes 2001b, 241–242. 7 Vgl. Cusack 1981. 8 Zu Guérittes Nachnamen finden sich zwei verschiedene Schreibweisen. Sein Geburtsname lautete Guéritte (mit accent aigu), in Großbritannien wurde der Akzent jedoch weggelassen. In diesem Beitrag wird im Regelfall die ursprüngliche Schreibweise verwendet, mit folgenden Ausnahmen: bei der Wiedergabe von Literaturverweisen aus der britischen Zeit sowie bei der Verwendung der Namensform »T. J. Gueritte«, da diese von Guéritte erst in Großbritannien kultiviert wurde und somit den Charakter eines Eigennamens hat. 9 The Society of Engineers 1922, 5. 10 Chrimes 2001b, 215. 11 Damjakob / Tummers 2004, 18. 12 Ferro-Concrete 1931. 13 Vgl. Gueritte 1935. 14 Das genaue Gründungsdatum der Firma ließ sich bislang nicht eruieren, lag aber auf jeden Fall vor Juli 1937 (The Electrical Review 1937). 15 Concrete and Constructional Engineering 1935. 16 Freyssinet 1936. 17 The Society of Engineers 1950, V. 18 Reuther et al. 1995, 226. 19 Slotta / Kierdorf 2016, 61. 20 Grote / Marrey 2000. 21 Sadmon 1994, 235. 22 New York Public Library Archives & Manuscripts, MssCol 922, box 94, folder 21. 23 Displaced German Scholars 1993, 38. 24 Karl W. Mautner in The Structural Engineer 1946, 665. 25 Mautner 1947, 98. 26 Mautner 1938, 191. 27 Grote / Marrey 2000, 26. 28 Zur Situation der Frankfurter Juden in diesem Zusammen­ hang s. insb. Wippermann 1986 und Stein 1999. 29 Grote / Marrey 2000, 38. 30 Mautner wurde 1936 auf der List of Displaced German Scholars als Spezialist für »Ferro-Concrete« aufgeführt (Displaced German Scholars 1993, 38). Dieser Terminus aus der Frühzeit des Stahlbetons wurde in den 1930er Jahren fast nur noch von der Firma Mouchel verwendet (vgl. hierzu Collins 1959). 31 The Society of Engineers 1950, V.

32 Vgl. hierzu die leicht voneinander abweichenden Erzählungen in The Society of Engineers 1964, Concrete 1968 sowie Grote / Marrey 2000, 40. 33 Concrete and Constructional Engineering 1939. 34 Shama 1980. 35 Walley 2004. 36 Gueritte / Mautner 1940. 37 Revue de la France Libre 1960. 38 S. hierzu Atkin 2003. 39 Brit. Patent Nr. 541 437 (13.8.1940/ 26.11.1941); brit. Patent Nr. 543 249 (13.8.1940/16.2.1942). 40 Brit. Patent Nr. 541 160 (27.8.1940/14.11.1941). 41 Franz. Patent Nr. 926 505 (26.8.1939/3.10.1947). 42 Sanabra-Loewe / Capellà-Llovera 2014, 112. Die Autoren bezeichneten Guéritte dabei fälschlich als vor den deutschen Besatzern nach Großbritannien geflohenen Ingenieur und waren sich auch nicht seiner Verbindungen zu Freyssinet und zur PCC bewusst. 43 Gueritte 1941, 92. 44 Concrete Quarterly 1951, 26. 45 Grote / Marrey 2000, 92 (die Autoren verweisen hierbei allerdings fälschlich auf die erst in Karachi eingesetzten weitgespannten Torträger). 46 Nicolaides / Banerjee 1954, 245. 47 Drucktunnel: brit. Patent 573 833 (1.12.1943/7.12.1945); Eisenbahnschwellen: brit. Patente 554 970 (6.10.1942/ 27.7.1943), 560 521 (12.2.1943/6.4.1944), 565 829 (22.9.1943/ 29.11.1944) und 571 901 (30.12.1943/ 13.09.1945). 48 Brit. Patent 556 570 (28.8.1942/11.10.1943). 49 Sanabra-Loewe 2016, 388. 50 Abeles 1940. 51 Walley 2001, 193. 52 Mautner 1941. 53 Vgl. Bennett 1984, 104–106. 54 The Society of Engineers 1950, V. 55 Brit. Patente Nr. 628 951 (11.4.1945/8.9.1949) und 653 829 (11.4.1945/23.5.1951). 56 Mautner 1949a, 11. 57 Hammond 1950, 60. 58 Mautner 1949b. 59 The Architects‘ Journal 1948. 60 Mautner 1948. 61 Mautner 1949b. 62 Manz et al. 2007, 13. 63 Charles Marius Jean Roch, 1958, nach Cusack 1981, 303. 64 John Mason in The Structural Engineer 1946, 668. 65 Burgoyne 2005, 22. 66 Mautner brach allerdings mit diesem Vorsatz für einen Besuch seiner Töchter, die er seinerzeit in Deutschland zurück­gelassen hatte (Grote / Marrey 2000, 94). 67 Mautner 1947, 99.

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Modernetransfer als Sinnstiftung Die »Internationale Méditerranée« als Gegenbewegung zum International Style

Bernd Nicolai

Unter dem Schlagwort der Méditerranée entstand um 1930 eine Diskussion über die zukünftige Richtung der modernen Architektur, die den »esprit gréco-latin« bzw. das »Mittelmeer und die neue Architektur« als alternatives Modell jenseits eines orthodoxen Funktionalismus beschwor. Die Académie Européenne Mediterranée, eine Initiative von Hendrik Wijdeveld und Erich Mendelsohn, diente als Plattform für solch eine alternative Moderne.1 Auf der anderen Seite verfolgte Le Corbusier ähnliche Prinzipien und entwickelte eine eigene Konzeption regionalistischer Architektur. Diese war eng mit der Idealvorstellung des mediterranen Hauses verbunden und ist nicht von den kulturellen Debatten im Rahmen der konservativen Moderne Frankreichs mit Bezug auf das französische Kolonialreich in Nord- und Westafrika zu trennen.2 Um 1932 wurde eine dritte Facette deutlich: Die katalanischen Avantgarde-Architekten, wie José Lluis Sert und Torre Clave, die in engem Kontakt zu Le Corbusier und der CIAM-Organisation standen, entdeckten die Balearen und speziell Ibiza als einen Ort der Architektur »ohne Stile«, der Ausgangspunkt für künftiges Bauen sein sollte.3 (Abb. 1) Vergleichbar ist die Situation im faschistischen Italien, einem weiteren geographischen Eckpunkt, wo u. a. Gio Ponti und Luigi Consenza zusammen mit dem österreichischen Emigranten Bernard Rudofsky das mediterrane ländliche Haus im Allgemeinen als Grundlage neuer Sied­lungs­ konzepte entdeckten.4 Schließlich markiert parallel dazu das Jahr 1933 mit der Machtübernahme der National­sozialisten

und generell dem Triumph der totalitären Regime auch für diese Debatte die wichtige historische Zäsur, in deren Folge viele prominente mitländer teleuropäische Architekten ihre Heimat­ Deutschland, Österreich und die Tschechoslowakei verlassen mussten, um Flüchtlinge bzw. Immi­ granten in der Türkei, im Britischen Mandats­ gebiet von Palästina, in Frankreich, Spanien, Italien und Ägypten zu werden.5 Viele dieser Architekten zweifelten – verstärkt durch die neuen Eindrücke, die Emigration und Exil mit sich brachten – an den großen Erfolgen des funktionalistischen Neuen Bauens vor 1933 aufgrund seiner Normativität, seines Formalismus und seines Mangels an Kreativität. Schon 1932 hatte Erich Mendelsohn in diesem Zusammenhang vom schöpferischen »Sinn der Krise« gesprochen.6 Diese Architekten entwickelten in den 1930er Jahren neue, auf einer Méditerranée gegründete Konzeptionen, indem sie einen Regionalismus verfochten, der, reflektiert oder nicht, einen Beitrag zu einer modernen Architektur unter Einbeziehung von Tradition bzw. des Genius Loci leisten sollte.

Vom Diskurs um eine Mediterranée zum New Regionalism Im Folgenden sollen die unterschiedlichen Aus­ gangs­lagen und die ideologischen Prämissen aufgezeigt werden, unter denen der Diskurs um eine Méditerranée geführt wurde, und wie es schließlich zu einem das Mittelmeer umspannenden New Regionalism kam, der bis heute nachwirkt.

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Bernd Nicolai

1  Auf Ibiza existieren keine »historischen Stile«...

Bemerkenswert ist zunächst, dass das Mittel­ meer nicht nur als konkreter Ort betrachtet wurde und wird, sondern in der Künstler- und Archi­ tek­ten­wahrnehmung seit der frühen Neuzeit, vermehrt seit der Aufklärung, immer auch als

Sehnsuchtsland mit utopischem Charakter gesehen wurde, wie etwa die Rekonstruktionen der Plinius-Villen von Karl Friedrich Schinkel zeigen.7 Fernand Braudel prägte den beachtenswerten Satz:

Modernetransfer als Sinnstiftung

Die mittelmeerische Bühne kreiert eine Sphäre, komponiert aus ganz disparaten Elementen, die erst in unserer Imagination ein kohärentes Bild bilden, ähnlich wie in einer Versuchs­anordnung, wo Unterschiedliches vermischt und dann zu einer neuen Einheit verwoben wird.8

Wenn wir also über Méditerranée sprechen, müssen wir auch immer über den projektiven Charakter und die damit verbundene Form der Kultur­aneignung, speziell in einem damals vorhandenen kolonialen Umfeld, sprechen. In ihrem Buch Modern Architecture and the Mediterranean betonen Jean-François Lejeune und Michelangelo Sabatino eine historische Allianz anglo-amerikanischer, britischer und deutschsprachiger Architekturhistoriker (wie Russel Hitchcock, Pevsner, Giedion, Banham) mit dem Ziel, das Neue Bauen bzw. den International Style als normatives, rationalistisches nord-europäisches Modell unter Ausschluss des Mittelmeerraums zu verankern. Vergleichsweise unkritisch folgen Lejeune und Sabatino mit einer vorgeblich anglo-germanisch dominierten Achse Pevsners historischem Entwicklungsmodell von Pioneers of Modern Design from W. Morris to W. Gropius, 1936 im englischen Exil geschrieben.9 Damit perpetuieren sie das Klischee eines alten Nord-Süd-Gegensatzes, der sich unter dem Schlagwort Kultur vs. Civilisation aus dem deutsch-französischen Kulturkampf der napoleonischen und nach-napoleonischen Zeit entwickelt hatte, und der im frühen 20. Jh. bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs zur Machtfrage wurde.10 Historisch setzte sich diese Linie bis zum Zweiten Weltkrieg fort, wird aber immer wieder auch durch engen Austausch der Avantgarden konterkariert. 1933 beschwört Le Corbusier unter dem Titel »Evoquons l’Acropole«11 den »esprit gréco-latin«, um auszurufen: Das Schicksal hat es gewollt: Die angelsächsischen Völker haben sich auf den Pfad der Mechanisierung begeben, sie sind verkettet mit diesem engstirnigen, inhumanen und verantwortungslosen Schicksal. Östlich des Rheins haben die germanischen Völker ein gigantisches Vorhaben aus ungezügeltem Impuls

heraus vorangetrieben, ein Unternehmen, das jegliches menschliche Maß sprengt. Meine feste Überzeugung ist es, dass mit den mediterranen Ländern die Erlösung kommen wird: eine Auswahl aus der Fülle der Dinge, die zur modernen Zeit gehören, eine Auswahl, die den menschlichen Maßstab respektiert.

Und im Juni 1933 entwirft Corbusier als Sympathi­ sant der antiparlamentarischen, neo-syndikalistischen Bewegung in Frankreich ein rasse­gebundenes dreigeteiltes Europa, unter Ausschluss des Briti­ schen Empires: eine östliche Föderation=​UdSSR=​ Russland=​Slawen, eine Zentral-Föderation=​Mittel­ europa=Germanisch und eine Greco-Lateinische Föderation, genannt »Quadrialateral«12, mit den vier Eckpunkten Paris, Rom, Algiers und Barcelona unter Auslassung der östlichen Länder des Mittelmeeres wie Griechenland und der Türkei oder der britisch dominierten Gebiete von Palästina und Ägypten. Wenn wir allerdings die zeitgleichen Beiträge Erich Mendelsohns betrachten – er sah das Mittel­ meer als »Vater der internationalen Stil­kunde«, die zu übersehen man gerne den Schultzes aus Naumburg überlassen könne13 – und die lange Tradition seit den Schriften Winckelmanns in Betracht ziehen, dann wird deutlich, dass dieser Nord-Süd-Gegensatz auch aus ideologischen Gründen forciert wurde. Neben dem kulturpolitischen Primats­anspruch hatte dies auch mit Dominanz und Wirkungs­grad der verschiedenen Architektur­avantgarden innerhalb der CIAM zu tun. Corbusier und Sert bezogen dabei eindeutig Stellung gegen die vor 1933 einflussreiche deutsche CIAM-Sektion. Es ist festzuhalten, dass noch in den 1930er Jahren ein, auch besonders von Frankreich forciertes, politisches Interesse an der Betonung einer rein südlich determinierten Méditerranée bestand, obwohl sich die realen Verhältnisse anders entwickelten. Insbesondere die Interessen des Britischen Empires im östlichen Mittelmeerraum, die zunehmende Bedeutung der zionistischen Einwanderung in Palästina, die Rolle der faschistischen Diktaturen in Italien, Spanien und indirekt NS-Deutschland mit seiner Emigrationswelle verschoben auch

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kulturell diese Gegensätze. Die Académie Européenne Méditerranée ist aufgrund ihrer gesamt­ europä­ischen Ausrichtung ein gutes Beispiel dafür, wie komplex sich die Dinge entwickelten. Es kann also keine Rede davon sein, dass nur die Anrainer­ länder des Mittelmeeres in diese Debatte verstrickt waren bzw. die cisaplinen Protagonisten sich ablehnend verhielten. Eines der eher zufälligen Resultate der SüdAllianz nach Le Corbu­sier, allerdings unter Ein­ schluss der Niederlande und der Schweiz, kann im 4. CIAM-Kongress an Bord der Patris II von Marseille nach Athen gesehen werden, wo – paradoxer­weise – die funktionelle Stadt auf dem Mittelmeer debattiert wurde. Die Ergebnisse sollten Jahre später als Charta von Athen Berühmt­heit erlangen. Der Kongress war ursprünglich in Moskau geplant, kam aber aufgrund der Stalinisierung der Kultur­debatte dort nicht zustande. Gleichzeitig verhinderten es die politischen Verhältnisse in Deutschland, Österreich und in der Sowjetunion, dass deren CIAM-Vertreter teilnahmen, weil ihre Organisationen verboten wurden oder die Be­we­gungs­frei­heit extrem eingeschränkt war. Simone Hain hat es pointiert ausgedrückt: Es fiel also der in der CIAM damals dringend gewünschte Dialog mit den ›Eliten politischer Veränderung‹ buchstäblich ins Wasser. Es brannte längst auf dem Kontinent und ein kleines Häuflein Weltverbesserer trieb, politisch heimatlos geworden, auf einem Schiff über das Mittelmeer.14

Zu den anderen Paradoxien dieser Debatte zählt, dass Corbusier vor 1933 in Moskau das CentrosojusGebäude errichten konnte und mit großem Aufwand am Wettbewerb zum Palast der Sowjets teilnahm. Zudem entwickelte er Mega­strukturen für den modernen Städtebau wie den Plan Obus für Algier. Er war also mit der Konzeption einer großstädtischen Architektur beschäftigt und der Frage nach einem zeitgemäßen Re­prä­sen­ta­tions­bau, mit durchaus Sympathien für die sowjetische Diktatur, als die Ablehnung der modernen Entwürfe in der Sowjetunion und die Rückkehr zu einer neo-historistischen Architektur seine Hinwendung zur

landschaftsgebundenen Architektur des Südens beschleunigte.15 Eine vergleichbare Entwicklung ist bei Erich Mendelsohn und Bruno Taut festzustellen, die wesentlich an der Großstadtarchitektur des Neuen Bauens beteiligt waren und in den frühen 1930er Jahren, verstärkt nach 1933, über die Konzeptionen ihrer Architektur reflektierten. Auch hier ist ein Schwenk zu einem »kritischen Regionalismus« – nach der Begriffsbildung von Kenneth Frampton – vollzogen, wobei das kritische Potential weiter unten noch zu diskutieren ist. Mendelsohn und Taut waren keine Einzelfälle; ebenso waren Architekten wie Adolf Rading, Harry Rosenthal, Walter Segal, Max Cetto u. a. oder auch Ernst Egli und Bernard Rudofsky aus Österreich sowie Theodor Wijdeveld und Serge Chermayeff aus Holland und England in diese Debatte um eine neue regionalistische Architektur involviert. Ein Ausgangspunkt war dabei die Konfrontation mit den mittelmeerischen oder auch südamerikanischen Ländern durch die Emigration.16 Während Corbusier also ideologisch die Südwest-Allianz der Méditerranée (Frankreich-Katalonien-Nordafrika) stark machte, entstanden zur selben Zeit andere Netzwerke und Verbindungen unterschiedlichster Gruppierungen, deren Zusammensetzung und Interaktion sich zwar immer wieder änderte, die aber eine Nord-Süd übergreifende Form der Méditerranée und die Entwicklung des Regionalismus als Teil der Moderne vorantrieben. Die Möglichkeiten und Grenzen dieses Prozesses gilt es auszuloten.

Die Académie Européenne Méditerranée (AEM) als transnationales Projekt Einen anderen Ansatz im Hinblick auf die Médi­ terranée wählte Erich Mendelsohn, der 1931–33 zusammen mit Theodor Wijdeveld als Initiator und Gründer und dem Maler Amedée Ozenfant eine Académie Européenne Méditerranée in Cavalière am Cap Négré bei St. Tropez aufbaute. Dieses

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transnationale Projekt war von vorneherein als »internationale Arbeitsgemeinschaft«17 konzipiert (Farbtafel XIV, 283), als alternatives Bauhaus mit einem Schuss Taliesin sozusagen, der Atelier­ gemein­schaft von Frank Lloyd Wright. Sie entstand in Zeiten des sich radikalisierenden Nationalismus und Totalitarismus in Deutschland, Österreich und Italien. Mendelsohn, der im März 1933 aus Deutschland fliehen musste, war hin- und hergerissen zwischen dem Nachhall der großstädtischen Tätigkeit in Berlin und dem Wunsch, ein stärker kontemplatives Leben an der Côte d’Azur zu gestalten.18 Wijdeveld and Mendelsohn vertraten eine ziemlich optimistische und romantische Sichtweise auf die Méditerranée. Mendelsohn beschrieb den Unter­schied zur nordalpinen Kultur in farbigen Gegen­sätzen: »Das Mittelmeer beruhigt und ist schöpfe­risch, der Norden strengt sich an und arbeitet. Das Mittelmeer lebt, der Norden verteidigt sich.«19 Wijdeveld und Mendelsohn konnten aufgrund ihrer weitreichenden internationalen Bezie­hungen eine Reihe von namhaften Künstlern für das Projekt gewinnen, u. a. Eric Gill, Paul Hindemith und Serge Chermayeff. Wijdeveld schrieb: »Let me start by pointing out that our Académie is not a school with old-fashioned teaching methods. We are embarking on a new era in the training of young artists.«20 Im Gegensatz zur deutschsprachig dominierten Techno-Utopia des Architekten und Theoretikers Hermann Sörgel von Atlantropa brachte die Akademie Künstler aus den unterschiedlichsten Bereichen und verschiedensten europäischen Ländern zusammen.21 Damit wurden so unterschiedliche Traditionen wie die französisch-romanische, für die Ozenfant stand, mit der deutsch-jüdischen Tradition, die Mendelsohn vertrat, und dem bürgerlich-liberalen Geist Hollands durch Wjideveld verbunden. Mendelsohn war in der schwierigen Lage, im Februar 1933 vor dem NS-Terror am Tag nach dem Reichstagsbrand aus Deutschland geflohen zu sein und nun als Emigrant neue Aufgaben und

2  Erich Mendelsohn, Bibliothek Salman Schocken, Jerusalem, 1934–36, Südfassade.

Aufträge suchen zu müssen. Zunächst begeistert vom Akademieprojekt, ging er nach einem kurzen Aufenthalt in Amsterdam bei Wijdeveld im Sommer 1933 nach Cavalière, arbeitete für das Projekt, kam aber im Herbst 1933 besuchshalber nach London und sah die Möglichkeit, dort ein Büro zusammen mit Serge Chermayeff aufzubauen.22 Gleichzeitig begann sein Engagement in Palästina, wo er in Jerusalem die Villa und Bibliothek für Salman Schocken (Abb. 2) und die Villa Weitzman in Rehovoth bauen konnte und schließlich kurz darauf den Auftrag für das Hadassah Hospital in Jerusalem bekam. So erlahmte sein Interesse am Akademieprojekt, und als ein Feuer die vorläufigen Bauten und das schön bewachsene Gelände zerstörten, endete Ende

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3  Hendrikus Theodorus Wijdeveld, Entwurf für die Akademiehäuser in Cavalière, 1933.

1933 das Projekt, und er konzentrierte sich nun ganz auf seine Arbeiten in England und Palästina.23 Die Akademie jedoch gab den Anstoß, sich neu mit der Kultur des Mittelmeeres auseinanderzusetzen, architektonisch mit Rückgriffen auf klassische Raumtypen, gleichzeitig sich einer rationalistischen bis monumentalen kubischen Formgebung zuwendend, unter teilweiser Verwendung von Hausteinfassaden. Diese

4  Dimitris Pikionis, Delphi Centre, 1934.

Versuche einer Ost-West-Synthese unter bewusster Überwindung der Prinzipien des International Style waren, trotz der Kritik von Julius Posener, für Mendelsohn absolut folgerichtig und zeigten seine Vorstellung von einer transformierten Moderne, die stärker an den Genius Loci gebunden war und andere Ausdrucksqualitäten hatte. 24 Wijdeveld hingegen entwickelte sich in seinen Entwürfen für den Akademiekomplex (Abb. 3) von einem holländischen Modernismus Dudokscher Prägung zu einem dezidiert regionalistischen Entwurf, der gewisse Gemeinsamkeiten mit Dimitris Pikionis Projekt für Delphi in Griechenland (Abb. 4) hatte. 25 Mendelsohn konzipierte seine Architektursprache in Bezug auf das klassische Griechenland, das er mehrmals, auch zusammen mit Wijdeveld, besucht hatte. Griechenland war ihm Katalysator und Transformator für eine eigene neue Architektur, basierend auf archetypischen Elementen: »Nach langer Wanderung hat die Architektur zu den Elementen des Raums, d. h. zur kubischen Gestaltung zurückgefunden.«26 Schlussendlich betrachtete er Cavalière und die neue Méditerranée als Sprungbrett für die ersehnte Rückkehr in die alte Heimat, in das Heilige Land Palästina. 27 Mendelsohn stellte sich ein neues Rupen­ horn, sein eigenes berühmtes Berliner Haus, auf der Spitze von Cavalière vor, eine Vision, die mit dem Auftrag der Villa Weizmanns, des Natur­ wissen­ schaftlers und Präsidenten des Zionistischen Weltbundes, in Rehovoth in Erfüllung gehen sollte, das aber auch als eine spezifische Architektur unter den Bedingungen von Emigration und Exil gelesen werden muss (Abb. 5). 28 Hier entwickelte Mendelsohn eine an klassischen Prinzipien ausgerichtete Moderne, die die eigene Entwurfs­praxis mit einer bewussten Verwendung archetypischer Element verband. In dieser Hinsicht stand das Projekt der Académie Européenne Mediterranée für eine weite Spannbreite zwischen regionalistischen Konzepten wie bei Wijdeveld und einer klassisch orientierten archetypischen Architektur wie bei Mendelsohn.

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Die Méditerranée als integraler Bestandteil der modernen Architekturbewegung? Abschließend bleibt die Frage, inwieweit der mediterrane Regionalismus als integraler Teil der modernen Architekturbewegung gesehen werden muss. Der komplexe Ansatz dieser Architektur mit seinem reichen Formen­ kanon wurde in den 1980er Jahren von Kenneth Frampton als »critical regionalism« wieder aufgegriffen.29 Die Problematik einer modernen, ortsund klima­ bezogenen Architektur wurde von Bruno Taut bereits 1929 in seinem einflussreichen Buch Die Neue Baukunst thematisiert.30 1938 zog er mit seinem Buch Architekturlehre (Mimar bilgisi) in Istanbul ein Fazit aus der Gesamtdebatte aus der Sicht des Exilierten. Hier entwickelte er das Gegen­ konzept zu einer internationalistischen Universal­architektur, eine andere Form der ›Welt­architektur‹, die auf Variation und regionaler Differenz aufbaute, aber durch das gemeinsame Prinzip einer ›Baukultur‹ verbunden war und eine Synthese zwischen Tradition und moderner Baukunst anstrebte.31 Esra Akçan hat diesen Prozess unter dem Begriff ›Übersetzung‹ in einem weiteren Kontext gefasst.32 Als Manifest errichtete Taut seine eigene Villa in Ortaköy am Bosporos als »neues Dahlewitz« und »Taubenschlag des bald 900-jährigen Noah«, wie er sich ausdrückte, um einen Beitrag zum regionalen Bauen in der Türkei zu leisten (Abb. 6).33 Tauts Schlüsselwort ›Bauen‹ berührte die praktische Seite der Architektur und war gegen isoliert-theoretische Konstrukte, die sog. Papier- und Stil-Architektur, gerichtet. Mit Bauen war auch die Herausbildung einer neuen regionalen Baukultur gemeint, wie es damals in der sich modernisierenden Türkei unter Kemal Atatürk ein dringendes Thema war, aber auch eine künstlerische Haltung, die mit den Debatten in der Bildenden Kunst zu vergleichen ist, einer Baukunst, die auf Einfachheit und zeitlosen Grundsätzen beruhen sollte, mit Verweis auf klassische oder vor-klassische Arche­ typen. Dies waren Positionen, wie sie auch Künstler

5  Erich Mendelsohn, Villa Weizmann, 1934–36, Rehovoth.

6  Bruno Taut, Haus Ortaköy, 1937/38 Istanbul-Bebek, Skizze aus der Erinnerung von Tauts Mitarbeiter Franz Hillinger um 1965.

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with their courtyard, a genuine balance of simple bodies.«36 Zusammen mit Le Corbusier wollte Sert, wie oben aufgezeigt, ein Gegengewicht zum germanischen Norden mit dem in seinen Augen zu rationalistischen und leblosen Funktionalismus bilden: Mediterranean architecture therefore possesses […] a number of constants, which are repeated throughout the Mediterranean countries. Egypt, the Greek archipelago, Italy, Spain, Mallorca, Ibiza etc., all countries deriving from the same civilization whose elementary buildings present similar types, resting on strictly rational function. 37

7  Raoul Haussmann, Skizzenblätter Ibiza.

wie Picasso, Ozenfant, Raoul Haussmann auf den Balearen, aber letztlich auch Le Corbusier vertraten. Haussmann und Le Corbusier entwickelten im mittelmeerischen Kontext Bildformeln, die in Beziehung zu architektonischen Entwürfen standen (Abb. 7). Dies bedingte eine Aneignung der Méditerranée unter quasi kolonialen Vorzeichen, die ein neues Gesamtkunstwerk formen sollte.34 Innerhalb der katalanischen Avantgarde­ bewegungen mit ihrem Sprachrohr Gatepac, der katalanischen CIAM-Sektion, bekräftigte Sert in enger Anlehnung an Le Corbusier einen neuen Regionalismus mit Verweis auf die archetypische Baukunst Ibizas – »en Ibiza no existen los ›estilos historiquos‹«35 (Abb. 1) –, einer Architektur ohne Stile. Dort sah er »latiness and construction on human scale, rational and logical, minimal houses

Ein Blick auf sein Wochenendhaus in Garraf zusammen mit Torres Claves (Abb. 8) und Harry Rosenthals Haus in Tamari, Israel (Abb. 9), scheint Serts Statement zu bestätigen, aber formale Analogien können nicht über unterschiedliche formale und diskursive Konzeptionen innerhalb der Méditerranée hinwegtäuschen.38 Es stellt sich die Frage nach der Beschaffenheit des Konzepts Méditerranée. Ist das Mittelmeer das Schlachtfeld verschiedener Kulturen, die Trennlinie zwischen europäischer und arabischer

8  José Luis Sert, Torres Claves, Wochenendhaus Garraf, 1932–34.

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Kultur? Oder ist es das verbindende Element, das alle Länder entlang seiner Küsten vereint, mit beschworenen Wurzeln in der antiken römischen und arabischen Kultur, wobei die nachfolgenden Jahrhunderte mit diversen kulturellen Einflüssen und Setzungen wie die byzantinischen, maghrebinischen, osmanischen, spanischen oder italienischen alle als ein Kaleidoskop gleichermaßen bedeutend sind, wie es David Abulafia in The Great Sea jüngst nachgezeichnet hat?39 Die mediterrane Architektur oszillierte in den 1930er und 1940er Jahren zwischen einer regionalistischen Moderne, einem »modern vernacular«, und einem konzeptionellen Regionalismus, der kulturkritische Züge trug. Es war in der Tat eine alternative Seite der modernen Bewegung, die durch ihre transatlantische Verschiebung in Richtung USA und deren kulturelle Vormachtstellung nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Siegeszug als International Style antreten sollte. Doch auf dessen Höhepunkt in den 1950er Jahren wurde das Paradigma einer universalen regionalen Vielfalt erneut aktuell. Positionen wie die von Le Corbusier und Sert wurden jenseits ihrer mediterranen Wurzeln vor allem in Südamerika und Indien wirksam. Der plastisch ausgerichtete Brutalismus von Le Corbusier in Chandigarh und von Louis Kahn in Dhaka setzte neue architektonische Maßstäbe. Dies führte in der Folge zu einer kulturpolitischen Debatte im Lichte der aufkommenden Postmoderne um kulturelle Identität im Zeitalter des Postkolonialismus und später im Zeitalter der Globalisierung.40 Kenneth Frampton definierte in seinem grundlegenden Aufsatz ›Critical Regionalism‹ folgendermaßen: The fundamental strategy of Critical Regionalism is to mediate the impact of universal civilization with elements derived indirectly from the peculiarities of a particular place. It is clear from the above that Critical Regionalism depends upon maintaining a high level of critical self-consciousness. It may find its governing inspiration in such things as the range and quality of the local light, or in a tectonic derived from a peculiar structural mode, or in the topography of a given site.41

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Indem Frampton ein Gegensatzpaar zwischen einem universalen zivilisatorischen Anspruch und einem damit zu verbindenden getrennten Regionalen konstruierte, setzte er sich unter postkolonialem Blickwinkel der Kritik aus. So sieht Anthony D. King hier die Gefahr eines »intellektuellen Imperialismus«, der von einem festen topografischen Standpunkt der Autorität (Nordamerika) die Vielfalt der Identitäten unter dem Banner des Internationalismus zu nivellieren versucht.42 Für den hier aufgezeigten Kontext ist das insofern relevant, als mit der Méditerranée schon in den 1930er Jahren unter dem Blickwinkel des Kolonialismus von unterschiedlichen Protagonisten wie Le Corbusier, Sert, Taut oder Mendelsohn ein Konstrukt entwickelt wurde, das Ibiza, Capri oder Delphi als kulturelle und ästhetische Konstrukte propagierte, ohne auf die realen Bedingungen dieser Orte einzugehen. Méditerranée wurde damit zu einer Folie, die als Pendant zur Großstadtarchitektur der industriellen Moderne Europas und Nordamerikas gelesen werden muss und nicht als ihr exkludierender Gegensatz.

9  Harry Rosenthal, Haus Tamari, Pardess Hanna, 1933–38.

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Grundlegend Heinze-Greenberg 2010. Lejeune / Sabatino 2010, 6. Sert [1934] 1997. Bocco Guarneri 2010, 175–179. Nicolai 2003. Mendelsohn [1932] 1986. Philipp ²2010. Zit. n. Medina Warmburg, 358. Lejeune / Sabatino 2010, 1–12; vgl. Pevsner 1936. Lüddemann 2010, 44–47. Le Corbusier 1933; vgl. Vigato 2013, 34–35. Lejeune / Sabatino 2010, 6. Heinze-Greenberg 1998, 214. Hain 1993, 51; Hilpert 1984. McLeod 1980; Nicolai 2014. Cohen 2012, 273–285; Nicolai 2003; daneben wurde Regionalismus in der Türkei oder in Palästina durch Sedad Eldem, Seyfi Arkan oder Leo Krakauer diskutiert, ebenso wie in Kalifornien, s. a. Mumford 1941. Wijdeveld 1931, mit dem berühmten Frontcover, auch auf Niederländisch, Französisch und Englisch erschienen. Heinze-Greenberg 2002, 463–464. Heinze-Greenberg 2010, 182. Eine detaillierte Geschichte des Projekts in Cavalière geben Herbert / Richter 2008, 110–120 sowie HeinzeGreenberg 2002. Sörgel 1932; s. a. Voigt ²2007.

22 Heinze-Greenberg 2002, 464. 23 Zu den Bauten im britischen Mandatsgebiet Palästina: Heinze-Mühleib 1986, bes. 89–150, 201–235; vgl. Zevi 1999, 234–243, 246–254; Heinze-Greenberg 1998, 245–275. 24 Vgl. Heinze-Greenberg 1998, 241–252; Nicolai 1998, 105; vgl. Nicolai 2015, 109–110. 25 Heinze-Greenberg 2002, 465–469; Teocharopoulou 2010, 113–116, Pl. 34, 36. 26 Mendelsohn [1932] 2000, 124. 27 Beyer 1937, 135. 28 Heinze-Greenberg 1998, 245–252. 29 Frampton 1983, 16–30. 30 Taut [1929] 1979, 23; vgl. Speidel 2009, 163. 31 Speidel 2009, 165; Nicolai 1998, 137–139. 32 Akçan 2010. 33 Vgl. Nicolai 2018; Doğramaci 2018. 34 Granell Trias 1997, 132; Göckede 2006. 35 AC 1932, 30; vgl. Medina-Warmburg 2005, 360–361. 36 Rovira 2005, 32, über Garraf 77–79. 37 Rovira 2005, 68. 38 Rovira 2005, 77–79 (Haus Garraf); zu Rosenthal: Claus 2006, 158–159, s. a. 167–168 zur nationalen bzw. regionalistischen Bautradition. 39 Abulafia 2013. 40 Eggener 2007, bes. 397–399, 406. 41 Frampton 1983, 21. 42 King 1996, 71; Eggener 2007, 406–407.

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Zevi 1999 B. Zevi: Erich Mendelsohn, the complete works (Basel, Boston, Berlin 1999).

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Abbildungsnachweis 1 AC 1932, zit. in Medina-Warmburg 2005, 360. 2, 5  Foto: Bernd Nicolai. 3 Wijdeveld Archiv, NAI, Rotterdam. 4 Lejeune / Sabatino 2010, Pl. 36. 6 Nicolai 1998, 150. 7 Pizza 1997, 132. 8 Pizza 1997, 108. 9 Claus 2006, 158. Farbtafel XIV  Hendrik Theodorus Wijdeveld, Eine Inter­natio­ nale Arbeitsgemeinschaft, Santpoort 1931, Exemplar, Kunst­bibliothek SMB Berlin.

Migration von Technologien durch Wanderungsbewegungen ganzer Gruppen von Experten des Bauens

Migrative Bewegungen spätmittelalterlicher Steinmetze und Werkmeister

Alexandra Druzynski v. Boetticher

Ein Phänomen des spätmittelalterlichen Bau­ wesens war die Organisation der an großen kirchlichen Baustellen tätigen Handwerker in Bauhütten. Diese Bauhütten, die als Institutionen in der Zeit um 1200 entstanden,1 waren zwar mit der Errichtung eines konkreten Bauwerks befasst, bildeten aber gleichzeitig ein überregionales Netzwerk, das einen regen Austausch von Technologien und Arbeitskräften umfasste. Wohl genau dieser Austausch und die permanente Bewegung der in den Bauhütten organisierten Bauhandwerker ermöglichten in Europa die Entstehung eines internationalen Stils – der Spätgotik. Dieser Stil setzte sich zusammen aus gemeinsamen Formen, Details und bautechnischen Lösungen, die allerdings stets neu kombiniert und weiterentwickelt wurden, aus regio­ nalen Einflüssen, die die örtliche Bautradition widerspiegelten sowie den Vorstellungen der Auftraggeber, die durch die gewählte Architektur­ sprache eigene Ziele verfolgten. Dies geschah, obwohl Mitteleuropa, auf das sich die folgende Be­trachtung fokussiert, in jener Zeit politisch ein recht kleingliedriges Gebilde war, bestehend aus Fürsten­tümern, Königreichen, vor allem aber aus Einfluss­sphären, Bündnissen und Sprachgrenzen. Wie Gerhard Fouquet in seinem Aufsatz »Kaufleute auf Reisen – Sprachliche Verständigung im Europa des 14. und 15. Jahrhunderts« betont, waren gerade die Sprachgrenzen die eigentlichen Fremdheitsgrenzen, über die sich die mittelalterlichen Menschen definierten; dies galt bereits für Dialekte. 2 Über diese vermeintliche Klein­teilig­keit erstreckte sich eine eigene Ebene

der Architektur, auf der die Bauleute großräumig und grenzüberschreitend agierten. Es scheint ein Charakteristikum dieser Berufsgruppe zu sein, dass ihre Mitglieder offenbar sehr häufig die Baustellen wechselten und sich dabei über große Distanzen bewegten. Allen voran waren es die Werk­meister 3, die an vielen Orten teilweise auch gleichzeitig tätig waren.

Tätigkeitsradius der Werkmeisterfamilie Parler Auf der Karte in Abbildung 1 sind die Orte dargestellt, an denen die in den Schriftquellen fassbaren Mitglieder der Familie Parler, der bekanntesten Werkmeisterdynastie des Mittelalters über vier Generationen, zwischen um 1330 und der Mitte des 15. Jhs. tätig waren, in den meisten Fällen in leitenden Positionen. Die zentrale Person war in dieser Familie Peter Parler, der Werkmeister des Veitsdoms in Prag, der durch seine innovative Architektur die Spätgotik entscheidend geprägt hat. Über die auf der Karte sichtbare weiträumige Vernetzung, die jedoch noch um Maschen aus Verschwägerungsverhältnissen und Meister-Schüler-Verbindungen verdichtet gedacht werden muss, konnte sich die neu entwickelte Formensprache schnell verbreiten.4 Ein sehr anschaulicher, zeichnerischer Beleg für diesen Austausches ist ein Riss aus der zweiten Hälfte des 14. Jhs., auf dessen Vorderseite ein Schnitt durch den Chor des Veitsdomes in Prag und auf der Rückseite der Grundriss des Freiburger

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1  Wirkungsstätten der Familie Parler zwischen um 1330 und Mitte des 15. Jhs.

Münsterchores dargestellt ist. Zu dieser Zeit leitete Peter Parler die Bauhütte in Prag, sein Bruder Johann die in Freiburg.5

Mobilität der Steinmetze Die Verbreitung der architektonischen Formen und Konzepte erfolgte jedoch nicht nur durch die leitenden und damit entwerfenden Werk­ meister, sondern auch durch die Mobilität der Steinmetze allgemein, die von Groß­baustelle zu Groß­baustelle zogen, Erfahrungen, aber auch Inspiration suchend. So gehörten gerade die unter den Parlers im Bau befindlichen Kirchen zu eben solchen Großbaustellen mit einer

enormen Anziehungskraft für die wandernden Bauleute.6 Dass der Aspekt des Erlangens beruflicher Er­ fahrungen durch das Bereisen gerade aktueller Groß­baustellen den Steinmetzen selbst wichtig war, belegt die Verpflichtung zum Absolvieren einer Wander­ schaft als Teil der Ausbildung. Auf dem 1459 abgehaltenen Bauhütten­tag in Regensburg, bei dem die Werk­ meister und die führenden Gesellen der wichtigsten Bauhütten zusammengekommen waren, wurde die Ordnung der Stein­metz­bruderschaft festgeschrieben. Unter anderem wurde darin die Ausbildung der Steinmetze geregelt und festgelegt, dass ein Geselle, der seine Lehre abgeschlossen hatte und Parlier werden wollte, mindesten ein Jahr auf Wanderschaft zu gehen

Migrative Bewegungen spätmittelalterlicher Steinmetze und Werkmeister

hatte und ohne diese nicht beschäftigt werden sollte.7 Auf Wanderschaft schulte der Geselle sein Können weiter, lernte aber ebenfalls neues Arbeitsmaterial, unbekannte Formen und innovative Techniken kennen. Die Mobilität der Steinmetze wurde begünstigt durch die gerade genannte gemeinsame Struktur der Bruderschaften, in denen die Bauhütten überregional zusammengeschlossen waren. So waren die Bauhütten im süddeutschen Raum, entlang des Rheins bis Köln, in Thüringen, Sachsen, der Schweiz, Österreich und Ungarn in einer Bruderschaft organisiert, der die Straßburger Hütte vorstand.8 Es waren ihre Mitglieder, die sich 1459 in Regensburg trafen. In dieser großräumigen Organisation bestand ein gravierender Unterschied zu anderen Handwerkergruppen sowie zu nicht an kirchlichen Baustellen tätigen Steinmetzen, die zwar ihrerseits in Zünften organisiert waren, die aber vorrangig auf innerstädtischer Ebene agierten, während die Bauhütten aus diesem städtischen Zunftsystem herausgelöst waren. So gehörte zu der Gesellenausbildung anderer Handwerksberufe ebenfalls eine Wanderschaft, die Bewegungsradien dieser Berufs­gruppen waren aber deutlich kleiner, als die der Steinmetze. Durch die engen Kontakte der Bauhütten untereinander und die Regelung, dass man auch, sofern es auf der Baustelle keine Arbeit gab, den wandernden Gesellen wenigsten einen Tag und eine Nacht zu versorgen hatte, war es den Steinmetzgesellen also möglich, über weite Strecken zu ziehen.9 Die Rechnungen des Prager Dombaus aus der zweiten Hälfte des 14. Jhs., in denen hinter vielen Namen der Steinmetze die Herkunftsangaben stehen, belegen, dass die Gesellen auf dieser Baustelle aus Süddeutschland, Sachsen, Preußen, Österreich, Ungarn, Polen und Brabant kamen.10 Die Wanderbewegungen der Steinmetze waren keineswegs auf das Gebiet beschränkt, in dem die Hütten zu einer Bruderschaft zusammengeschlossen waren; in ganz Europa sind deutsche Steinmetze in den Schriftquellen nachweisbar.11 Barbara Schock-Werner benutzt in diesem

Zusammenhang den sehr treffenden Ausdruck der »Internationalisierung des Bauhüttenwesens«.12 Anhand der erhaltenen, mit Namen versehenen Lohnlisten der Bauhütten lässt sich eine weitere, die Struktur der Belegschaft betreffende Erkenntnis gewinnen, dass nämlich ein Teil der Beschäftigten ständig wechselte, während gleichzeitig ein gewisser Stamm von Steinmetzen über lange Jahre und Jahrzehnte dem Betrieb verbunden blieb.13 Am Beispiel der Baurechnungen der englischen Vale Royal Abbey aus der Zeit von 1278 bis 1280 zeigt Günther Binding auch auf, dass das großräumige Einzugsgebiet der Arbeitskräfte tatsächlich vor allem ein Charakteristikum der Steinmetze war. Dort waren nur 5–10 % der 131 Steinmetze Einheimische, während der Rest aus weiter entfernten Regionen kam, bei den 41 Zimmerleuten und 30 Schmieden waren es dagegen 50 % Einheimische und bei den insgesamt 486 Hilfsarbeitern sogar 85–95 %.14

Steinmetze am Berner Münster Das Phänomen der Stammbelegschaft und der wechselnden Bauhüttenmitglieder lässt sich auch an den Bauten selbst ablesen, ist also ebenfalls an Bauwerken möglich, zu deren Errichtung sich keine Rechnungsbücher erhalten haben und damit weder die Ermittlung der Belegzahlen noch die namentliche Zuordnung konkreter Personen möglich scheint. Im Rahmen eines seit 2014 laufenden Projekts zur Erforschung des Berner Münsters15 wird unter anderem der Versuch unternommen, einzelne Steinmetze am Bau zu identifizieren und deren, wenn auch namenlosen, Anteil am Bau zu ergründen. Das spätgotische Berner Münster ist ab 1421 nach Entwürfen und unter der Leitung Matthäus Ensingers entstanden und gehörte zu einer der größeren Baustellen jener Zeit (s. Abb. 2). Die Berner Bauhütte war auf dem Regensburger Bauhüttentag zur Oberhütte für das Gebiet der Eidgenossen bestimmt worden.16 Wie an den Natursteinbauten jener Zeit allgemein

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2  Berner Münster, Südansicht des heutigen Zustands mit dem 1893 vollendeten Westturm.

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üblich, sind am Münster viele der Steinquader mit Steinmetzzeichen signiert worden. So besteht eine der Aufgaben innerhalb des Projekts darin, auch an diesem Bau zu belegen, dass die Zeichen personengebundene Signaturen der Steinmetze sind. Dies ist überall dort möglich, wo die Steinoberflächen nicht die typischen Bearbeitungsspuren aufweisen, sondern sehr individuelle Ausprägungen, die als eine Art Handschrift eines Steinmetzes betrachtet werden können. Mehrfach lässt sich am Berner Münster beobachten, dass alle erkennbar individuell und damit vom gleichen Handwerker bearbeiteten Quader jeweils das gleiche Steinmetzzeichen tragen.17 Anhand der insgesamt an der Kirche sehr zahlreich auftretenden Steinmetzzeichen kann recht zuverlässig auch die Verweildauer der Steinmetze auf der Baustelle rekonstruiert werden. Unter den etwa 680 Steinmetzen, die bislang für die etwa 100jährige mittelalterliche Bauzeit identifizieren werden konnten,18 zählt beispielsweise der

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aufgrund der Form seines Zeichens »W« genannte Steinmetz (ID 10.275) zu den am längsten tätigen und fleißigsten. Er arbeitete in den Jahren um 1430/35 am Chorpolygon sowie an der Entstehung des südlichen Langchores und der vier Pfeiler des Mittelschiffs, die in den 1440er Jahren errichtet wurden (s. Abb. 3). Interessanterweise finden sich die ersten sechs von ihm geschlagenen Steine im Chorpolygon in einer Höhenlage zwischen 6 und 7,50 m verbaut, darüber kommt sein Steinmetzzeichen nicht vor. Als das 22 m hohe Chorpolygon wie auch Teile der Südmauer der Kirche fertig waren, begann man mit der Errichtung des südlichen Langchors. In diesen zwei Jochen taucht das Steinmetzzeichen in großer Zahl wieder auf, und zwar in der gesamten Höhe der Mauern wie auch auf den an diesen Bereich angrenzenden vier südlichen Mittelschiffpfeilern samt ihren Arkadenbögen. Es scheint also, dass Steinmetz »W« während der Vollendung des Polygons und des Baus der östlichen Joche der Südmauer nicht

3  Grundriss des Berner Münsters, grau unterlegt die Mauerpartien, an denen Steinmetz »w« beteiligt war. Hellgrau: vor seiner vermuteten Wanderschaft, dunkelgrau: nach seiner Rückkehr.

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in der Bauhütte tätig war. War er möglicherweise auf Wanderschaft und kehrte dann nach Bern zurück? Bei der Betrachtung der Innenwände des Berner Chores19 ist ferner festzustellen, dass 51,5 % der hier vorkommenden Steinmetzzeichen maximal nur ein- bis dreimal vorkommen; sie tauchen am gesamten Kirchenbau nirgendwo mehr auf. Selbst unter Berücksichtigung der nicht signierten Steine, die im Chorhaus immerhin etwa 85 % des Bau­materials ausmachen und deren Herstellung von den gerade an der Bauhütte tätigen Stein­ metzen erfolgt sein muss, ist offensichtlich, dass diese Steinmetze nur kurz auf der Baustelle beschäftigt waren. Auffällig ist hierbei, dass sie keineswegs nur einfache Wand­quader schlugen, sondern auch anspruchsvolle Details wie Konsolen und Baldachine schufen. Als ein weiteres Beispiel soll noch der Steinmetz mit der Identifikations­ nummer 11.326 angeführt werden, der immerhin sieben Steine behauen hat und damit aus der oben angeführten Statistik der Kurzzeit­beschäftigten herausfällt. Seine Steine sind aber alle in einem kleinen Mauer­bereich von nicht ganz 6 m² oberhalb des Priester­dreisitzes vermauert. Danach taucht auch sein Steinmetz­zeichen nicht wieder auf. Anscheinend war auch dieser Steinmetz nur kurz in der Bauhütte tätig. Vielleicht besuchte er auf seiner Wander­schaft die Berner Baustelle und zog nach der Herstellung der Quader, die etwas mehr als einen Monat gedauert haben dürfte,20 wieder weiter. Auch an anderen großen Kirchenbauten, bei denen im Rahmen bauforscherischer Unter­ suchungen Steinmetzzeichen systematisch aufgenommen, den einzelnen Bauphasen zugeordnet und ausgewertet wurden, zeigt sich ein vergleich­ bares Bild. So ist beispielsweise auf Grundlage der Steinmetz­zeichen auch die Verweil­dauer der Steinmetze an der Regensburger Dom­baustelle für die Zeit von ca. 1275 bis 1440 ermittelt worden. Dabei wurde festgestellt, dass 56 % der Steinmetze weniger als 5 Jahre in der Bauhütte tätig waren. 21

Wanderschaft als Teil der Werkmeisterausbildung Über die Phänomene der Wanderschaft als Abschluss der Steinmetzlehre und der berufsbedingten Mobilität ausgelernter Steinmetze sind wir also aus den Schriftquellen sowie den Befunden an den Bauten informiert. Die konkreten Routen der einzelnen Steinmetze kennen wir dagegen nur in Ausnahmefällen. Über die Wanderschaft des Berner Werkmeisters Matthäus Ensinger beispielsweise ist nur Vages bekannt. Man vermutet, er besuchte Wien und Passau.22 Versuche, weitere von ihm gesehene Orte allein aufgrund stilistischer Vergleiche zu bestimmen, bleiben leider stets spekulativ. Ein genaueres Bild erhält man dagegen von den Meistern, die während ihrer Reisen Skiz­zen­bücher führten. Doch Beispiele hierfür sind sehr selten. Mit Skizzen­büchern sind hier Zusammenstellungen von Architektur­plastiken, Gewölbe- und Grundriss­ formen, Maßwerken, aber auch Bau­maschinen und ähnlichem gemeint. Sie müssen aber von den in der Forschung meist Muster­bücher genannten Exemplaren unterschieden werden, die eine nicht immer einzelpersonen-, sondern auch werkstatt­ gebundene Sammlung von Formen darstellen, an denen sich die sie benutzenden Künstler bei ihrer Arbeit orientieren konnten. In den Musterbüchern sind weniger architektonische Formen dargestellt, sondern meist menschliche und tierische Figuren sowie Ornament­formen und Figuren­alphabete.23 Durch die vielen enthaltenen Zeichnungen geben die Skizzen­bücher sehr plakativ Auskunft über das Gesehene, aber auch darüber, welche bautechnischen Fragen die Werk­meister abseits der reinen Formen­lehre beschäftigten. Ein besonders aussagekräftiges Beispiel für ein Skizzenbuch, das offensichtlich im Zusammenhang mit eigenen Reisen steht, ist das Buch von Hans Hammer.24 Er wurde in Straßburg ausgebildet und war zwischen 1476/77 und 1481 auf Wanderschaft, also deutlich länger als das mindestens vorgesehene Jahr. In dieser Zeit besuchte

Migrative Bewegungen spätmittelalterlicher Steinmetze und Werkmeister

er die gerade im Bau befindlichen Großkirchen in Konstanz, Wien, Erfurt, Prag, Mainz, Oppenheim, Köln und wahrscheinlich Košice (Kaschau); auf jeden Fall hielt er sich in Ungarn auf. Ein Jahr nach seiner Rückkehr übernahm er die Stelle des Parliers, also des stellvertretenden Werkmeisters, am Straßburger Münster.25 Von 1485 bis 1490 und nochmals von 1512 bis zu seinem Tod 1519 war er Werkmeister in Straßburg.26 In seinem Buch finden sich Skizzen von Gewölbeformen, Steinprofilen, Bögen, Kreuzblumen und Maßwerkbrüstungen, also gestalterischen Elementen. Dabei ist zu erkennen, dass Hammer zum einen konkrete Vorbilder abzeichnete, dann aber häufig gleich auch Varianten entwickelte. So zum Beispiel bei den insgesamt 28 Figurationen für ein quadratisches Gewölbefeld, die im Skizzenbuch auf drei aufeinanderfolgenden Seiten gezeichnet wurden; bei zwei von ihnen notierte Hammer es seien Gewölbe in Erfurt.27 Besonders Wendeltreppen scheinen ihn stark beschäftigt zu haben, denn hierzu sind etliche Studien vorhanden, darunter einige eher fantastische Exemplare. Gerade an der Elisabethkirche in Košice, in der heutigen Slowakei, dem entferntesten Ort auf Hammers Wanderschaft, findet sich am südlichen Querhaus eine recht ausgefallene Treppenanlage, bei der sich zwei Treppenspindeln gegeneinander drehen und alle 360° zusammenkommen. Ein großer Teil der Zeichnungen im Skizzenbuch beschäftigt sich aber mit der Technisierung der Baustelle. Hans Hammer zeichnete Hebemaschinen, Kräne, Winden, Umlenkrollen, Leitern, Nivelliergeräte, Winkelmessgeräte, aber auch Sonnenuhren. Darüber hinaus schrieb er Erkenntnisse zum Bau von Zisternen, der Herstellung von Fundamenten, dem Anrühren von Estrich auf und sammelte Rezepte zum Härten von Steinen.28 Am Ende des Buchs befindet sich auf zwei Seiten eine Zusammenstellung von ungarischdeutschen Vokabeln. 29 Interessant ist, dass sich in der Liste, mit Ausnahme der Wörter: ›Stein‹, ›Steinmetz‹, ›Großstein‹ und ›Kleinstein‹ keine berufsbezogenen Begriffe finden. Fast die

gesamte Liste besteht aus Alltagsvokabeln, die die Bereiche Essen, Trinken, Kleidung, Tiere, Krankheit, Glaube, Geld oder Körperteile betreffen: Wörter wie ›Wein‹, ›Brot‹, ›Mantel‹, ›Pferd‹, ›niesen‹, ›gut‹, ›böse‹, ›Hand‹, ›Fuß‹ usw. Was lässt sich daraus ableiten? Erfolgte die Kommunikation innerhalb der Bauhütte nicht auf Ungarisch? Dabei muss man davon ausgehen, dass sicherlich ein Teil der Belegschaft Einheimische waren. Das wiederum führt zu der allgemeinen Frage, wie man auf den über Sprachgrenzen hinweg liegenden Baustellen kommunizierte? An dieser Stelle sei nochmals Gerhard Fouquet angeführt, der die sprachliche Verständigung der Fernkaufleute im 14. und 15. Jh. untersuchte. Die Kaufleute sind mit den Steinmetzen dahingehend vergleichbar, da auch sie berufsbedingt über große Entfernungen und Sprachgrenzen hinweg unterwegs waren. Fouquet zeigt auf, dass die Kaufleute vorrangig innerhalb von Handelsnetzen agierten, die zwar nicht immer aus Landsleuten, aber stets aus Personen einer gleichen sozialen Gruppe bestanden, die damit einen vergleichbaren Bildungsstand besaßen.30 Ist dies mit der Vernetzung unter den Bauleuten vergleichbar? Zur Ausbildung der jungen Kaufleute gehörte das Erlernen einer oder mehrerer Handelssprachen, die im Spätmittelalter Latein, Niederdeutsch, Italienisch und Französisch waren.31 Welche Sprachen hätten aber bei den Bauleuten eine vergleichbare Funktion haben können? Und wäre ihr Erlernen womöglich nur für diejenigen notwendig gewesen, die später leitende Positionen übernehmen wollten? Beispielsweise sind hier die Mitglieder der Familie Parler zu nennen, bei denen bereits die familiäre Zugehörigkeit als berufliche Eignung galt – so wurde Peter Parler mit nur 23 Jahren als Werkmeister an die Dombaustelle nach Prag berufen.32

Werkmeister Matthäus Ensinger Auch die Berufung Matthäus Ensingers nach Bern steht in direkter Verbindung zum Schaffen seines

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4  Wirkungsstätten der Familie Ensinger zwischen 1391 und 1493.

Vaters Ulrich von Ensingen. So heißt es in der Berner Stadtchronik: Darumb gen starssburg gesant wart nach meister matheo, des werkmeisters sun von strassburg, der kam gen berne und wart bestellet und verdinget zu einem werkmeister. 33

Die Familie Ensinger ist in der architekturgeschichtlichen Bedeutung mit den Parlers vergleichbar. Ihre Mitglieder sind als Steinmetze und Werkmeister in vier Generationen, zwischen 1391 und 1493, in den Schriftquellen fassbar und werden mit einigen der großen spätmittelalterlichen Sakralbauten in Verbindung gebracht.34 Auf der Karte in Abbildung 4 ist zu erkennen, dass ihre Mitglieder, im Gegensatz zu den Parlers, in einem geographisch deutlich kleineren Raum tätig

waren. Während sich die Parlers allerdings, soweit man es den Schriftquellen entnehmen kann, vor allem auf Baustellen an ein bis zwei Orten konzentrierten und damit über längere Zeiträume dort beschäftigt blieben, wechselten die Ensingers häufiger die Stadt und waren als Werkmeister an mehreren, häufig weit voneinander entfernten Bauten gleichzeitig tätig. So betreute Ulrich von Ensingen, auf den die Familie zurückgeführt wird, während seiner Zeit als Straßburger Werkmeister parallel den Bau der Esslinger Frauenkirche, des Ulmer Münsters und den Wiederaufbau des abgebrannten Frauenklosters in Pforzheim.35 Allgemein wird angenommen, dass es den Werkmeistern durch das Aufkommen der Baurisse ab 1220 möglich wurde, den Baustellen zeitweise

Migrative Bewegungen spätmittelalterlicher Steinmetze und Werkmeister

5  Berner Münster, südliches Westportal. Darstellung eines Mitglieds der Familie Ensinger (rechts), wahrscheinlich Matthäus.

fern zu bleiben. Durch die Zeichnungen waren ihre Ideen und Anweisungen fixiert und auch während ihrer Abwesenheit von den Parlieren als ihren Stellvertretern ausführbar. Erst durch diesen Umstand war es ihnen möglich, mehrere Baustellen gleichzeitig zu führen. Zugleich bedeutet es auch, dass die Werkmeister nicht mehr vorrangig selbst körperlich arbeiteten, sondern sich auf die planerischen Aspekte sowie die künstlerische Überwachung ihrer Bauwerke konzentrierten. Dies führte wiederum zu ihrem sozialen Aufstieg.36 Zu der Gruppe der Werkmeister, die mehrere Baustellen gleichzeitig betreuten und einen recht hohen sozialen Status erlangten, gehörte Matthäus Ensinger, der bereits genannte Erbauer des Berner Münsters (s. Abb. 5). Er wurde wohl auf

der Baustelle seines Vaters Ulrich am Straßburger Münster ausgebildet und 1420 nach Bern berufen. Von dort aus betreute er neben der Baustelle in Bern den Bau der Esslinger Frauenkirche, den er nach dem Tod seines Vaters 1419 übernommen hatte (s. Abb. 6).37 1434/35 entwarf er für Herzog Amadeus VIII. von Savoyen die Kirche NotreDame de Ripaille am Genfer See, deren Baustelle er bis zur Einstellung der Arbeiten 1446 betreute.38 Für die Kollegiatskirche in Neuchâtel und die Leonhardkirche in Basel schuf er während seiner Berner Tätigkeit Skulpturen, auch war er bereits 1425 an der Burg Oberhofen am Thunersee tätig.39 1446 übernahm Ensinger die Leitung der Ulmer Bauhütte,40 von dort aus betreute er die Baustellen in Bern und Esslingen weiter, wenn

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6  Wirkungsstätten Matthäus Ensingers während seines Berufslebens um 1420 bis 1463.

auch, durch äußere Bedingungen beeinflusst, mit schwankender Intensität. 1457 kam der Bau der Stadtpfarrkirche in Landsberg hinzu, deren Entwurf von Ensinger stammt. Obwohl es sich hierbei um einen Backsteinbau handelt, orientiert sich sein Grundriss unverkennbar an dem des Berner Münsters.41 Wie intensiv sich Ensinger diesem Bau widmete, muss jedoch vorerst offen bleiben. Aus der noch nicht abgeschlossenen Auswertung der Rechnungsbücher des Ulmer Münsters weiß man allerdings, dass er mehrfach von Ulm aus nach Landsberg reiste. Aus den Rechnungsbüchern geht ebenfalls hervor, dass Ensinger die Baustelle des Konstanzer Münsters wiederholt besuchte; die Leitung dieser Bauhütte übernahm 1453 sein Sohn Vincenz.42 Der Wechsel Matthäus Ensingers von Bern nach Ulm war wohl dem höheren Stellenwert der Ulmer Baustelle geschuldet und sicherlich auch

der Tatsache, dass er dort am Bau des West­turms mitwirken konnte; immerhin waren die Ensingers durch ihre Tätigkeit an den Türmen in Straßburg, Basel, Esslingen, Bern und Ulm, ausgewiesene Turm­bauer.43 Im Ansehen darüber lag nur noch die Haupt­bau­hütte am Straßburger Münster – um ihre Leitung bemühte sich Matthäus tatsächlich und vertrat diese Stelle während einer Vakanz 1449–51. Die endgültige Berufung als Werkmeister scheiterte dann aber an Ensingers Forderung, die Baustelle in Ulm weiterhin betreuen zu dürfen, der der Straßburger Rat nicht zustimmen wollte.44 Den Werk­meistern war es nämlich grundsätzlich untersagt, andere Baustellen zu übernehmen. Nur mit ausdrücklicher Erlaubnis der Räte waren Ausnahmen gestattet, weswegen die Werkmeister bereits bei Vertragsabschluss solche zu erwirken versuchten.45

Migrative Bewegungen spätmittelalterlicher Steinmetze und Werkmeister

Abschließend lässt sich resümieren, dass für das mittelalterliche Bauwesen und allen voran für die dort tätigen Bauleute unsere heutige Vorstellung von wenig durchlässigen politischen Grenzen nicht galt. Sie agierten überregional und grenzüberschreitend, was die Entstehung einer gesamt­

europäischen Architektur ermöglichte. Wie Barbara Schock-Werner sehr treffend formulierte: »Für das Phänomen der Formverwandtschaften über weite Entfernungen ist die Mobilität der Werkleute Voraussetzung. Die europäische Architektur ist durch alle Jahrhunderte von Migration geprägt.«46

1 Schock-Werner 2009a, 189–190. 2 Fouquet 2006, 465. 3 Zur Begriffsklärung: ›Werkmeister‹ oder magister operis wird in den mittelalterlichen Schriftquellen derjenige genannt, den wir heute als leitenden Architekten bezeichnen würden und der die künstlerische und technische Oberleitung eines Bauprojekts innehatte (Gesamtentwurf, Ausführungsplanung, technische Durchführung). Mit dem heute oft synonym benutzten Begriff ›Baumeister‹ wurden dagegen im Mittelalter meist Vertreter des Bauherren bezeichnet, die in seinem Auftrag die finanziellen Belange regelten. Hierzu u.a. Binding 1993, 236; Schock-Werner 2009b, 118. 4 Kurmann 2006, 539–548. 5 Böker et al. 2013, 87. 6 Grundsätzliches zur Anziehungskraft von innovativen Großbaustellen vgl. Schock-Werner 2009a, 189. 7 §75 der Regensburger Bruderschaftsordnung, hier nach: Binding 1993, 119. 8 Binding 1993, 108. 9 Schock-Werner 2009b, 118. 10 Binding 1993, 284. 11 Schock-Werner 2009a, 192. 12 Schock-Werner 2009b, 118. 13 Vgl. Binding 1993, 269–281 mit einigen konkreten Beispielen. 14 Binding 1993, 285. 15 Ein Kooperationsprojekt des Instituts für Kunstgeschichte der Universität Bern (Prof. Bernd Nicolai) und der Berner Münster-Stiftung, finanziert durch den Schweizerischen Nationalfonds und die Burgergemeinde Bern. 16 §46 der Regensburger Bruderschaftsordnung, hier Binding 1993, 116. 17 Druzynski v. Boetticher / Völkle 2017, 37–38. 18 Grundlage ist die bereits seit vielen Jahren von der Bauhütte des Berner Münsters während Restaurierungsund Reinigungsarbeiten erfolgende Dokumentation, unter anderem die der Steinmetzzeichen. 19 Nur im Chorhaus des Berner Münsters sind bislang die Steinmetzzeichen vollständig aufgenommen worden, in den anderen Bereich des Kirchenbaus sind die Zeichen nur dort erfasst, wo Reinigungsarbeiten stattgefunden

haben, bzw. dort, wo sie ohne Gerüste dokumentiert werden können. Die Berechnung der Dauer beruht auf der Annahme, dass für die Herstellung eines etwa 75 x 40 x 40 cm großen Steinquaders 25 bis 35 Stunden, also 3 bis 4 Arbeitstage, benötigt werden. Für diese Einschätzung danke ich Peter Völkle, Steinmetz und Leiter der Münsterbauhütte Bern. Fuchs 2013, 423–424. Böker et al. 2013, 152. Jenni 1978, 139. Im Bestand der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Signatur: Cod. Guelf. 114.1 Extrav.; Digitalisat unter: http://diglib.hab.de/mss/114-1-extrav/start.htm. Brehm 2013, 104–105. Böker et al. 2013, 154–155. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Signatur: Cod. Guelf. 114.1 Extrav., fol. 26r–27r. Brehm 2013, 105. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Signatur: Cod. Guelf. 114.1 Extrav., fol. 34r–34v. Fouquet 2006, 473–474; 479. Fouquet 2006, 473. Binding 1993, 244. Mojon 1967, 2. Binding 1993, 248–253. Binding 1993, 250. Schock-Werner 2009a, 190. Mojon 1967, 4–5. Mojon 1967, 8–9. Mojon 1967, 5–8. Mojon 1967, 11. Roppel 1990/91, 15–16. Die freundlichen Informationen verdankt die Autorin Dr. Anne-Christine Brehm, die zurzeit die Ulmer Rech­ nungs­bücher auswertet. Ihre Untersuchung wird in Kürze unter dem Titel »Netzwerk Gotik. Das Ulmer Münster im Zentrum von Architektur- und Bautechnik­transfer« publiziert. Kurmann 2006, 545. Mojon 1967, 12–13. Mojon 1967, 4; Schock-Werner 1978a, 62. Schock-Werner 1994, 83.

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Alexandra Druzynski v. Boetticher

Binding 1993 G. Binding: Baubetrieb im Mittelalter (Darmstadt 1993).

Stadtpfarrkirche, in: Landsberger Geschichtsblätter, 89./90. Jg., 1990/91, 14–19.

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Abbildungsnachweis 1 Grundlage: Schock-Werner 1978b, 7–11; Binding 1993, 242–246. Grafik: A. Druzynski v. Boetticher. 2, 3 Plan: Wolfgang Fischer Photogrammetrie / © Berner Münster­stiftung. 4 Grundlage: Mojon 1967, 1–29; Binding 1993, 248–253. Grafik: A. Druzynski v. Boetticher. 5 Foto: A. Druzynski v. Boetticher 2016. 6 Grafik: A. Druzynski v. Boetticher.

Wissens- und Technologietransfer zwischen Sachsen und Russland im 18. Jahrhundert auf dem Gebiet des Montanwesens

Friedrich Naumann

Die naturhistorische Evolution der menschlichen Gesellschaft ist untrennbar mit der Erschließung mineralischer Rohstoffe verbunden. Anfangs wurden diese in nahezu unveränderter Form verwendet – man denke an den Faustkeil, hergestellt aus natürlichem Feuerstein, an Tongefäße oder Lehmziegel. Im heutigen Hightech-Zeitalter nutzen wir das Vermögen, aus mineralischen Rohstoffen hochkomplexe Substanzen und Strukturen zu erzeugen. Natürliche Gegebenheiten spielten in diesem Prozess insofern eine Rolle, als mineralische Roh­ stoffe auf der Erde nicht gleich verteilt, sondern lediglich in Abhängigkeit von den geologischen Bedingungen zu finden sind. Ihre Gewinnung war zunächst eher dem Zufall geschuldet; erst später halfen entwickelte Technik und spezifische Wissen­ schaft, also das Vermögen, Rohstoffe zu suchen, zu verarbeiten und daraus Werkzeuge und Gebrauchs­ gegenstände herzustellen. In Zentraleuropa führte im Mittelalter der Abbau von Silber-, Kupfer-, Eisen-, Blei- und Zinn­ erzen wie auch von Stein­salz zu einer ersten Blüte des Berg- und Hütten­wesens. Dass Sachsen hierbei eine führende Rolle zukam, war der Tatsache geschuldet, dass mit der Entdeckung der ersten Silber­erz­lager­stätten im Jahre 1168 im späteren Freiberg sowie weiterer Lager­stätten im mittleren Erzgebirge (Schnee­berg, St. Marienberg, St. Anna­berg, St. Joachimsthal) an der Wende zum 15. Jh. eine viele Jahrhunderte währende Berg­ bau­tätigkeit einsetzte, die in Europa ihresgleichen suchte. Dem großen Gelehrten Georgius Agricola (1494–1555) ist es zu danken, das Wichtigste darüber in seinem Hauptwerk De re metallica libri XII

(Basel 1556, Abb. 1) wie auch in den Arbeiten zur Mineralogie und Lager­stätten­kunde beschrieben zu haben, was ihn zum Begründer der Montan­ wissenschaften erhob.1 Dem Ausland – in diesem Falle Russland – blieb diese Entwicklung nicht verborgen, so dass es sich anbot, die sächsische Bergbaukunst ins Visier zu nehmen und auf diesem Wege eigene entwicklungsbedingte Rückstände zu kompensieren.

1  Georgius Agricola: De re metallica libri XII (1556).

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Europäisierung und Import von »Kunsterfarnen« Russland war zu Beginn der Neuzeit vom westlichen Einfluss noch weitestgehend isoliert. Die vorherrschende byzantinische Kultur und die russische Orthodoxie beförderten eher Mystisches und Wundergläubigkeit, gleichermaßen konservierte die jahrhundertlange Mongolenherrschaft die gesellschaftliche Isolation und unterdrückte Freiheit und Souveränität des Geistes. Die Hinwendung zu weltlichem Denken und zu rationaler, naturwissenschaftlicher Weltbetrachtung, im Morgenrot der Renaissance von vielen Ländern willkommen geheißen, hatte somit kaum eine Chance. Dauerhaft wollten sich die russischen Herrscher jedoch dem europäischen Einfluss nicht entziehen und öffneten ihr Land deshalb schrittweise für jene, die Ansehen und Macht zu befördern versprachen. Kompetente Fachleute aller Couleur waren deshalb gern gesehene Gäste. Ivan III. (1462–1509) machte bereits den Anfang und warb Ärzte, Kunsthandwerker, Geschütz­meister, Artilleristen, Papiermacher, Buch­drucker, Glocken­ gießer und Techniker aller Art an. Unter Zar Michail Fjodorowitsch Romanow (1596–1645) gerieten auch Bergbau und Metallverarbeitung ins Blickfeld, zumal höfischer Prunk wie auch Landesverteidigung bislang fast nur mit Rohstoffimporten zu befriedigen waren. Sachsen, das durch seinen scheinbar unermesslichen Silberreichtum weltweit Beachtung fand, schien dafür auserwählt. Der Zar bemühte sich deshalb am sächsischen Hofe um die erforderliche Unterstützung, und so tauchen vereinzelt an verschiedenen Orten des russischen Reiches bereits Namen von sächsischen Bergleuten, Erzschmelzern, Glasmachern »und dergleichen Kunsterfarnen« auf; unklar bleibt jedoch, welchen Weg sie dahin nahmen. Sie stießen auf bescheidene Erfahrungen im Be­ trieb von Bauernschmieden, in denen man Kupfer- und Eisenerze in kleinen Öfen verarbeitete, um daraus einfache Gerätschaften zu fertigen. Ähnlich primitiv wurden sedimentäre

Seifenmineralien, z. B. Gold und Platin, gewonnen. Noch fand man solcherart Lagerstätten eher zufällig, und Gewinnungs­technologien waren nahezu unbekannt, so dass Unterstützung dringend schien.

Aufklärung und Aufbruch unter Zar Peter I. Mit dem Regierungsantritt von Zar Peter I. (dem Großen, 1672–1725) im Jahre 1689 begann der Eintritt Russlands in die europäische Politik. Auf der Agenda des gigantischen Reformwerkes, das zum Aufstieg des Zarenreiches zu einer europäischen Großmacht führte und unter Katharina II. (1729–1796) seine Konsolidierung erfuhr, standen nicht nur die Etablierung großzügiger Verwaltungsstrukturen, sondern auch eine intensive geologische Erkundung und die bergmännische Erschließung des Landes. In Sachen Bildung war Peter I. weitestgehend den Reformvorschlägen Gottfried Wilhelm Leibniz‘ (1646–1716) gefolgt, der sich über Jahrzehnte mühte, seinen Russlandplänen Gestalt zu verleihen. Obwohl er das Land zunächst als barbarisch und ohne Interesse für den europäischen Kulturkreis ansah, schien er dessen gewaltige Zukunftskräfte geahnt zu haben. So wurde er keinesfalls müde, den russischen Zaren von der Nützlichkeit seiner Ideen zu überzeugen; denn es war ihm »lieber, bey den Russen viel Guthes auszurichten als bey den Teutschen oder andern Europäern wenig […] denn meine Neigung und Lust geht aufs gemeine Beste«.2 Durch Hebung der Landwirtschaft, des Berg­ baus, des Handwerks, durch Anlage von Kanälen, Verkehrswegen und Austrocknung von Sumpf­ gebieten sollte dem Land alles Fehlende gegeben werden. Und nicht nur dies: Russland sollte auch ein Mittler sein zwischen West und Ost und sich im schöpferischen Geben und Nehmen zur vollen Entfaltung aller seiner Möglichkeiten steigern. Neben den zahlreichen Russland­ denkschriften aus Leibniz‘ Feder erwiesen sich die persönlichen Begegnungen mit dem Zaren im Jahr

Technologietransfer zwischen Sachsen und Rußland auf dem Gebiet des Montanwesens

1711 in Torgau sowie 1712 in Karlsbad, Teplitz und Dresden, schließlich letztmals 1716 in Pyrmont, als überaus nützlich, so dass die Empfehlung, für Russland ein »ansehnliches, wohl autorisiertes Kollegium zu fundieren«, das die Leitung der Schulen, Künste und Wissen­schaften übernehmen sollte, bald Gestalt annahm. Bereits 1718, also zwei Jahre nach Leibniz‘ Tod, entschloss sich Peter I. im Rahmen einer Resolution, in St. Petersburg eine Akademie zu errichten. Und in einem weiteren Ukas hieß es: »Jetzt sind aber unter den Russen solche ausfindig zu machen, die gelehrt sind und Neigung dazu haben«, d. h. in die Akademie berufen werden können. So war Peter I. bereits auf seiner Hollandreise im Jahre 1697 werbend tätig und konnte dringend benötigte Fachleute akquirieren und auf diesem Wege 600 Spezialisten gewinnen. Diese verstanden sich allerdings vor allem auf Schiffsbau, Kriegsführung, Verwaltung und Handwerk. Fach­ kräfte des Montanwesens befanden sich nicht darunter. Um diesem Mangel abzuhelfen, konnte der Weg nur zu jenem Hightech-Standort führen, der bereits über fünf Jahrhunderte erfolgreich die Gewinnung und Verarbeitung mineralischer Rohstoffe betrieb und deshalb über das erforderliche Knowhow verfügte: das sächsische Erz­ gebirge. Im Ergebnis machten sich bald zahlreiche »Kunsterfarne« auf den Weg in das noch unbekannte Moskowien.

»Kunstgerechter« Bergbau und Anwerbung sächsischer Bergleute Vielleicht ist diese Entscheidung besser zu verstehen, wenn man sich verdeutlicht, dass der Zugang zu den Schätzen der Erde kein gewöhnlicher ist; denn »kunstgerechter« Bergbau zeigt sich als ein gewaltiger Komplex technologischer und logistischer Prozesse, zu bewältigen zwischen Suche und Erkundung mineralischer Rohstoffe und dem Vorliegen des Endproduktes. Die Wege dahin sind vielfältig und kompliziert, zumal sich die meisten

Erze aus einer Vielzahl von Mineralien in unterschiedlichsten Modifikationen zusammensetzen, deren Aufbereitung und Verhüttung noch heute eine besondere Herausforderung darstellen. Im Freiberger Revier konnten beispielsweise über 300 unterschiedliche Mineralienspezies nachgewiesen werden. Umfangreiches Erfahrungswissen bei gleichzeitiger Spezialisierung, geprägt vom heuristischen trial and error, waren also unabdingbar, wenngleich man im 19. Jh. endlich auch auf wissenschaftliche Grundlagen zurückgreifen konnte. Neben der Weitergabe von geronnenem Er­fah­ rungs­wissen von Generation zu Generation spielten auch Wissens- und Technologietransfer eine wesentliche Rolle und erwiesen sich als probate Mittel, Erfahrungen und Erkenntnisse auszutauschen. Dass sich der montanistische Standort Sachsen – in den Augen der Altvorderen ein »geseg­ ne­ter Garten des Herrn« und die »Schatz-Grube Deutsch­lands« – hierfür hervorragend anbot, resultierte vor allem in dem über Jahrhunderte entwickelten »kunst­gerechten« Bergbau (Farbtafel XV, 284). Nachdem sich die ersten Schritte zunächst auf vergleichbar niedrigem Niveau bewegten und die Spezialisierung zum ausgebildeten Geologen, Bergmann, Probierer, Markscheider, Wettersteiger, Abtreiber, Aufbereiter, Hüttenmann und Metallurgen noch auf sich warten ließ, brachte das 18. Jh. einen entscheidenden Durchbruch. Denn hier begann sich der bis dahin angehäufte Wissens- und Erfahrungsschatz zu eigenständigen Wissenschaftsdisziplinen zu formieren und die damit verbundene Institutionalisierung Gestalt anzunehmen – man denke nur an die 1765 erfolgte Gründung der Bergakademie Freiberg, in Russland gefolgt von der nach Freiberger Vorbild errichteten ersten Bergbau-Lehranstalt (Горное училище) beim Berg-Kollegium Russlands in St. Petersburg – die heutige St. Petersburger Bergbauuniversität »Gornyj« (Санкт Петербургский Горный университет). Die Entwicklung der Beziehungen zwischen Sachsen und Russland wurde allein schon dadurch begünstigt, dass Friedrich August I. von Sachsen

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(genannt August der Starke, 1670–1733) ab 1697 zugleich König von Polen-Litauen (als August II.) in Personalunion war; Russland und Sachsen waren somit Nachbarn. Erstmals nutzte Zar Peter I. 1698 die Rückreise von Holland via Wien nach Russland, um mit seiner »Großen Gesandtschaft« in der Residenzstadt Dresden Station zu machen. Für den »Groß Czaar aus Muscau« präsentierte sich der Glanz des Dresdner Hofes unübersehbar als ein Ergebnis des »Silbernen Bodens«. Gegenstand der Verhandlungen mit Kurfürst Friedrich August I. waren nicht nur die gemeinsame Kriegsführung gegen den schwedischen König Karl XII. (1682–1718) und der beabsichtigte Bündnisvertrag, sondern auch die Frage, ob Sachsen Hilfe bezüglich eines soliden Aufbaus des russischen Berg- und Hüttenwesens geben könne. So erging bereits am 4. Februar 1699 an die Kurfürstlichen Räte ein Befehl zu einer »Specifikation«, in der das Ansinnen des »Mosco­ wittischen Czaars Majestät und Liebden« zum Ausdruck gebracht wurde, »freundbrüderliche gewisse Handwercksleute« nach Moskau zu senden. Im Einzelnen bedeutete dies, vermittelst des Oberbergamtes und anderer Ämter Erkundigungen ein(zu)ziehen, ob dergleichen Personen und Leute, so sich hierzu gebrauchen laßen und in Czaarische Dienste zu gehen sich entschlüßen möchten, anzutreffen

seien.3 Weiter hieß es: Ihre Czaaristische Majestät bitten Ihre Königliche Majestät aus wohlgeneigter bürgerlicher Affection, daß Ihre aus dero Churfürstenthum Sachßen nachspecificierte Handwercksleute möchten überlaßen werden. Die Uncosten für deren Herauskunfft aus Sachßen bis an die Moßkowittische Grenze wollen Ihre Czaarische Majestät sogleich auf deren Schatz erstatten laßen.4

In diesem Sinne wurden nicht nur Spezialisten, sondern auch deren Einsatz als Lehrende vor Ort erwünscht, um in einem überschaubaren Zeitraum eine eigene Ausbildung realisieren zu können. Die entsprechenden Interessenten waren bald gefunden, und schließlich erklärten sich zwölf Männer bereit, in russische Dienste zu treten. Ihre

Forderung lautete: 3.100 Taler Jahresgehalt und ein Handgeld von 424 Talern.5 1711 weilte Peter I. erneut in Sachsen, um der Hochzeit seines Sohnes, des Zarewitsch Aleksej Petrowitsch, mit Prinzessin Charlotte Christiane Sophie von Braunschweig-Wolfenbüttel im prachtvollen Renaissance-Schloss Hartenfels bei Torgau beizuwohnen. Verständlicherweise führte ihn sein Weg erneut an den Dresdner Hof und anschließend in die Bergstadt Freiberg, das Zentrum des erzgebirgischen Montanwesens, um hier an einigen metallurgischen Experimenten teilzunehmen. Außerdem besuchte er die Hütte Hals­brücke sowie die Grube König August Erbstolln zu Niederschöna. Schließlich fuhr er zur Saigerhütte Grünthal bei Olbernhau, dem für jene Zeit modernsten Werk für die Verarbeitung von silber­haltigen Kupfererzen. Ein letztes Mal besuchte Peter I. Dresden im Jahre 1712, und möglicherweise bat er hier wiederum um Unterstützung.

Russland im »Berggeschrey« Ein Bild von den ersten Immigranten vermittelt der österreichische Bergbau- und VerhüttungsFachmann Benedikt Franz Johann Hermann (1755– 1815). Zu den »Versuchen im Bergbau in diesem Reiche« schreibt er: Sie erhielten die Freyheit, Eisenerze aufzusuchen und zu schmelzen, mit der Bedingung, das letztere den Russen zu lehren. Im Jahr 1628 soll ein Tatar dem Woiwoden von Turinsk Eisenerze an dem Flusse Niza (in der itzigen permigen Statth.) angezeigt haben, worauf eine Eisenhütte angelegt worden, welche lange die einzige in Sibirien war […] Zu diesem Zeitpunkt waren auch nur einige Eisenhütten bei Moskau und Tula im Gange, die nur eine geringe Quantität Eisen ausbrachten.

Über die Folgezeit spricht er jedoch voller Erstaunen, wie ansehnlich (der Bergbau) seit dieser Zeit geworden ist […] Der allerstärkste Bergbau ist dermal im uralischen, im altaischen und nertschinskischen Erzgebirge. Minder wichtig sind einige Eisen und Kupferbergwerke im olonezischen Gebirge, und in einigen andern Gegenden des Reichs. In dem uralischen Gebirge sind

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Gold- und die allerwichtigsten Eisen- und Kupfergruben im ganzen Reiche. In dem altaischen Gebirge sind die reichsten Gold- und Silber-, dann gold- und silberhältige Bley-, Kupfer- und einige Eisengruben; im nertschinskischen Gebirge aber sind sehr reiche gold- und silberhaltige Bleygruben […] Etwas besser sind die sibirischen Mineralien durch einen Deutschen, namens Blüher, bekannt geworden, den Peter I. zu diesem Ende nach Sibirien schickte. Dieser Kaiser hat auch schon im Jahre 1718 ein Bergkollegium in Petersburg angeordnet, und zu eben dieser Zeit den General (nachherigen Generallieutenant) Hennin nach Deutschland geschickt, um von dem Zustand der dortigen Bergwerke die genauesten Erkundigungen einzuziehen, von den Maschinen Zeichnungen und Modelle mitzubringen und Bergverständige anzuwerben.6

1712 schlug erwähnter Blüher auch vor, ein Berg­ kollegium einzurichten, um auf diesem Wege eine für Berg- und Hüttenwesen zuständige neue Instanz zu etablieren, nachdem man den »Berg­ werks­prikaz« als oberste russische Bergbehörde ein Jahr zuvor aufgelöst hatte. Gleichwohl sollte damit der Weg für die Einrichtung eines zentralen chemischen Laboratoriums, den Import von Instrumenten für die Suche und Erkundung von Erzlagerstätten sowie für die Gewinnung weiterer ausländischer Spezialisten geebnet werden. Auch zur Arbeits­kräfte­frage, zu jener Zeit noch durch die sog. »Überschreibung« von Bauern gelöst, bezog er Position und sprach die Empfehlung aus, möglichst freie Lohnarbeiter einzusetzen. Viele der immigrierten Spezialisten gelangten in die Dienste der russischen Unter­nehmer­familie Demidow, die zahlreiche Bergwerke und metall­ verarbeitende Betriebe im Ural, im Altai und in Zentral-Russland besaß und unter deren Ägide viele neue Lagerstätten entdeckt wurden. So fand man 1725 im kolywanischen Gebirge reiche Kupfer­erz­ vorkommen und errichtete die ersten Kup­fer­hütten (Farb­tafel XVI, 285 o.). Hierzu Hermann: Akymfi Demidow erhielt von den tschudischen Schürfen im kolywanischen Gebirge 1725 Nachricht, und ließ die Sache durch deutsche Bergleute, die er bey seinen Werken im Ural hatte, untersuchen, welche reiche Kupfererzanbrüche fanden. Er legte also 1727 am Kolywansee ein Hüttenwerk an.7

Neben den Silberfunden – 1748 auch in Smeino­ gorsk (Schlangenberg) – entdeckte man schließlich auf der Bären-Insel im Weißen Meer wie auch im Altai Goldvorkommen. Der Kolywan-Woskressensker Bergbaudistrikt, in dem auch Vorkommen von Zink und Blei entdeckt wurden, entwickelte sich bald zum wichtigsten Zentrum der russischen Edelmetallproduktion. Da die Erze in zunehmendem Maße im Tiefbau gefördert wurden, was zu weitreichenden Konsequenzen hinsichtlich des Abbaus, der Gruben­sicherheit, der Wasserhaltung, der Wetter­führung und der Schacht­ förderung führte, spielte die langjährige Erfahrung der sächsischen Bergleute eine große Rolle und bildete somit eine wesentliche Ergänzung für den soliden Stamm hochqualifizierter Berg­ingenieure und Meister aus den ehemaligen Demidowschen Betrieben wie auch aus den Kabinetts­unternehmen Olonez, Jekaterinburg und Nertschinsk.

Montanistische Bildung mit sächsischer Hilfe Da die Inanspruchnahme ausländischer Hilfe keine Dauerlösung sein konnte, maß man dem Aufbau eines eigenen ingenieurtechnischen Personal­ stamms erhebliche Bedeutung bei. Entsprechende kaiserliche Erlasse (erstmals 1747) richteten sich zunächst auf den Aufbau eines entsprechenden Bildungswesens, z. B. die Gründung spezieller Berg­ schulen. Deren Angebot bestand aus einer soliden deutsch und russisch vermittelten Grund­lagen­aus­ bildung, für die man zunächst Kirchen­diener einsetzte. 1753 öffnete in Barnaul eine Arithmetik­ schule ihre Pforten, 1761 in Smeinogorsk eine Schule für die Sprachausbildung, weitere folgten in Pawlowsk und Barnaul. Zu den Unterrichts­fächern zählten Lesen, Schreiben, Deutsch, Arithmetik, Chemie, Zeichnen und Religion sowie Fertigkeiten in der »praktischen Erkennung von Erzen«. Für den Aufbau des Bildungswesens engagierte sich in besonderem Maße der aus Dresden stammende Hanns Michael Renovantz (1744–1798). Als Absolvent der Bergakademie Freiberg trat er

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1772 als »Berg-Probirer« in russische Dienste. Sein außer­ordentliches Engagement, für das er mannigfaltige Auszeichnungen erfuhr, kam insbesondere der fachlichen Ausgestaltung der St. Petersburger Bergbau-Lehranstalt zugute (Abb. 2). 1779 schlug er vor, eine deutsche Spezialschule für Kinder der Bergoffiziere und Fachleute der Betriebe zu gründen. Zwei Jahre danach existierten bereits sechs Bergschulen, an denen 800 Schüler unterrichtet werden konnten. Das von Renovantz für die Ausbildung eingerichtete Erzkabinett umfaßte 2.300 Mineralstufen, zusammengetragen aus vielen russischen Lagerstätten und jeweils in Deutsch und Russisch beschrieben. Ein anderer Weg zur Ausbildung bestand darin, den Kern des Bergingenieurkorps aus Absolventen der 1755

2  Das von Renovantz verfasste Buch Mineralogischgeographische und andere vermischte Nachrichten von den Altai­schen Gebürgen Russisch Kayserlichen Antheils (Reval 1788).

gegründeten Moskauer Staatsuniversität sowie aus Kadetten zu rekrutieren. Für die Berufssausbildung der Adelssprosse – in der Regel avancierten sie nach dem Examen zu Oberoffizieren – wurden wiederum Deutsche verpflichtet. Gleichermaßen konnten auf diesem Wege neueste Erkenntnisse auf den Gebieten Geologie, Mineralogie, Chemie, Physik, Bergbaukunde und Metallurgie vermittelt werden. Der Transfer von Technologien und wissenschaftlichen Erkenntnissen aus der hochentwickelten Bergbau­region Sachsen in den Altai erwies sich somit als eine wesentliche Voraussetzung für den wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung der Kolywan-Woskresensker Montanregion.8 Nicht zuletzt sei angemerkt, dass sich die ausländischen Fachleute, begünstigt durch die zu Beginn des 18. Jhs. vollzogenen wirtschaftlichen und sozialen Reformen, auch unter das Reglement des Staates begeben konnten. Dabei sicherte man ihnen Glaubensfreiheit zu und garantierte, dass sie nach drei bis vier Jahren in ihre Heimat zurückkehren konnten. Gegebenenfalls übernahm man sie sogar ins Beamtenverhältnis und vereidigte sie auf die Monarchie. Neben ihrer Arbeitspflicht war auch die Ausbildung der russischen Arbeiter eine der Haupt­bedingungen des Vertrages. Dafür erhielten die ausländischen Fachkräfte sogar das doppelte Gehalt gegenüber den russischen Bergarbeitern, oft auch eine Extrabelohnung.

Leitung und Verwaltung des Bergbaus Ein für das Funktionieren eines überregionalen Montan­wesens zentrales Problem war der Aufbau einer leistungsfähigen Bergverwaltung. Peter I. schuf bereits 1700 in Moskau ein Verwaltungs­ amt für Erz­ angelegenheiten, das 1715 nach Peters­burg verlegt wurde. Aus ihm ging 1719 das Berg­kollegium hervor, dem die Verwaltung von Berg­wesen und Artillerie unterstand. Mit seinem Tod 1725 wurde das Bergwesen seiner schöpferischen Führung beraubt, denn Kaiserin

Technologietransfer zwischen Sachsen und Rußland auf dem Gebiet des Montanwesens

Anna annullierte 1734 das Kollegialprinzip und ersetzte es durch ein ihr direkt unterstelltes Generalbergdirektorium. Im Unterschied zur petrinischen Zeit, wo führende Ver­wal­tungs­funktionen im Land stets mit Russen besetzt wurden, kamen dafür nun auch Ausländer in Betracht. Um die Funktion mit hoher Kompetenz auszufüllen, wandte man sich auf diplo­matischem Wege an Sachsen und bat »geziemend« um »eine distinguierte Person, welche die gehörige Wissenschaften und Qualitäten hätte, die Ober­direktion von denen Bergwerken in Ihro Kaiserlichen Majestät Lande zu führen«. Im vorab versicherte man diese und die ausgewählten Bergleute gänzlich »einer raisonablen und billigen Konvenienz und Ihro Kaiserlichen Majestät Gnade und Protektion«.9 Der sächsische Kurfürst entschied sich daraufhin für den erfahrenen Oberberghauptmann Curt Alexander von Schönberg (1703–1761) und ließ ihn 1736 mit einem großen Gefolge nach St. Petersburg reisen, um hier im Dienst der Zarin sein Amt als Leiter der neuen Obersten Bergverwaltung anzutreten. Von Schönberg schuf zunächst eine neue Berg­ rechtsgrundlage und erwirkte 1739 den Erlass eines neuen »Bergreglements« – in weiten Teilen dem Freiberger Bergrecht ähnelnd. Sein bis 1745 währender Aufenthalt blieb allerdings nicht konfliktlos und führte ihn in arge Bedrängnis, da er seine einflussreiche Position zu persönlicher Bereicherung in unvorstellbarem Umfang zu nutzen gewusst hatte. Zudem wurde seine Stellung durch einen gewaltigen Schuldenberg erschüttert. Eine vorübergehende Inhaftierung löste das Problem allerdings nicht, beendete aber seinen Dienst­vertrag und damit dieses pikante Kapitel sächsisch-russischer Beziehungen, zumal er mittellos wieder in seine Heimat zurückgeschickt wurde.10

Russische Stipendiaten in Sachsen Der Transfer von Erfahrungen aus einem halben Jahrtausend sächsischen Montanwesens nach

Russland gedieh gleichermaßen auf dem Gebiet der Wissenschaft. »Man muß sich mühen, den Staatsruhm auf dem Wege über die Kunst und die Wissenschaft zu suchen«,11 hatte das Credo Peters I. gelautet. Mit der Einrichtung eines Observatoriums, eines Laboratoriums der experimentellen Wissenschaften, einer wissenschaftlichen Bibliothek, der berühmten Kunstkammer sowie der Gründung der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften nahm es feste Gestalt an und garantierte, dass Russland an die europäische Gelehrten­welt und deren hohen Stand von Wissenschaft und Bildung angebunden wurde. Unter den zahlreichen Gelehrten befanden sich allerdings keinerlei Fachleute des Montanwesens, so dass man sich veranlasst sah, entsprechende Kandidaten nach Sachsen zu delegieren, wo sie das erforderliche Rüstzeug erwerben sollten. Bereits im Jahre 1706 hatte man einige Auserwählte nach Freiberg geschickt. 1736 benannte man schließlich drei hoffnungsvolle Kandidaten, die speziell für das Berg- und Hüttenfach ausgebildet werden sollten: Gustav Ulrich Raiser (1718–1762), Dmitrij Ivanowič Vinogradov (1720–1758) und Michail Vasil’evič Lomonosov (1711–1765, Farbtafel XVII, 285 u.). Ihr Weg führte sie zunächst an die Marburger Universität, wo sie unter die Obhut von Christian Wolff (1679–1754) gelangten. Wolff, 1723 von der Universität Halle vertrieben, galt als einer der wichtigsten Philosophen der Aufklärung zwischen Leibniz und Immanuel Kant (1724–1804). Als Berater und Ehrenmitglied der St. Petersburger Akademie übernahm er deshalb auch die Ausbildung der drei Studiosi in Mathematik, Mechanik, Physik, Logik, Metaphysik sowie Latein und Deutsch. Was die Marburger Universität allerdings nicht zu leisten vermochte, die Akademie jedoch forderte, war eine auf das Berg- und Hüttenwesen gerichtete Spezialausbildung. Die drei wechselten deshalb 1739 in die Bergstadt Freiberg. Hier wirkte der berühmte Bergrat Johann Friedrich Henckel (1678–1744), der sich durch zahlreiche Veröffentlichungen zur chemischen Metallurgie12 in die vorderste Front der deutschen

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Gelehrten eingereiht hatte.13 Henckel hatte 1733 im Auftrag des Oberbergamtes Freiberg ein Laboratorium für den chemisch-metallurgischen Unterricht errichtet, das sich bald zu einer hochkarätigen Bildungsstätte entwickeln sollte. Hier hielt er Vorträge, bestimmte mit seinen Schülern Mineralien und Gesteine und lehrte praktische Chemie und Hüttenkunde, Probier­kunde, Bergbau­kunde, Markscheiden und Aufbereitung. Die Wirkung dieses berühmten »Gasthauses vor gelehrte Bergleute« reichte bis nach Amerika, China, Ungarn, Schweden, Norwegen und in die Schweiz. Auch befuhren die Kandidaten »in Begleitung tüchtiger Männer« die Gruben. Hier absolvierte der hochbegabte Lomonosov ein umfangreiches Ausbildungsprogramm und erwarb die wichtigsten Grundlagen der genannten Fachgebiete. Dass er letztendlich seine montanistische Ausbildung abrupt beendete und nach einem knappen Jahr im Zorn gegenüber Henckel von Freiberg wegging, ist insofern tragisch, als dieser später seinem Musterschüler vorbehaltlos »ein gutes ingenium und profectus in dem studio metallico« bescheinigte.14 1741 traf Lomonosov wieder in seiner russischen Heimat ein und erhielt zunächst den Auftrag, den systematischen Mineralien-Katalog der Kaiserlichen Kunstkammer fertigzustellen und die Mineralien neu zu ordnen. Mit der Aufnahme als Adjunkt in die Akademie, vor allem jedoch mit der 1745 erfolgten Berufung zum Professor für Chemie, verbesserten sich schließlich die Bedingungen für seine wissenschaftliche Karriere. So folgten neben literarischen und historischen Arbeiten vor allem solche zur Chemie, zum Berg- und Hüttenwesen sowie zur Physik, gefolgt von Aufträgen zur Begutachtung von Erzen, Salzen und Glimmern, aber auch von Perlmuscheln und diversen maschinentechnischen Einrichtungen. Seine Erkenntnisfortschritte dokumentierte er in ausgewählten Dissertationen – z. B. zum Thema De tincturis metallorum (Über Metallglanz) oder Meditationes physico-chimicae de convenientia argenti et mercurii (Physikalisch-chemische

Gedanken über das Verhältnis von Silber zu Quecksilber). Bemerkenswert sind vor allem 4.000 exakt dokumentierte Versuche zur Herstellung von Smalten15 wie auch von Porzellan, die er ab 1749 in seinem Laboratorium auf der Vasil‘ev-Insel vornahm, das damit zum ersten wissenschaftlichen Silikat-Laboratorium Russlands avancierte. Die bis zu seinem Lebensende währenden Arbeiten zum Montanwesen nahm er bereits 1742 auf, wobei er vor allem die einschlägigen Fachbücher rezipierte. Im Ergebnis vermochte er nicht nur den Stand der geologischen, geochemischen und hüttentechnischen Erkenntnisse, sondern auch deren Phänomene zu deuten. So hielt er 1757 – zunächst in russischer Sprache – eine Rede über die Entstehung der Metalle durch Erdbeben (Слово о рождении металлов от трясения земли), sie wurde später auch in lateinischer Sprache veröffentlicht.16 Sein Hauptwerk wurde 1761 fertiggestellt und erschien schließlich 1763 unter dem Titel Первые основания металлургии или рудных дел (Anfangsgründe des Berg- und Hüttenwesens). Als wahrer Bestseller der frühen montan­ wissenschaftlichen Literatur zeugt das Werk von einem außerordentlich hohen theoretischen Niveau. Da sich der noch in Entwicklung befindliche russische Bergbau bislang lediglich auf praktisch gewonnenes Erfahrungswissen stützen konnte, erlangte das Dargelegte erhebliche Bedeutung für das Montanwesen, umfasste es doch zugleich alle wichtigen Fragen der Suche und Erkundung, der Errichtung und des Ausbaus von Schächten und Stollen, der Förderung, Wasserhaltung, Wetterführung und Vermessung der Grubenfelder. Den Zugang zu relevanter Fachliteratur hatte Lomonosov bereits in Freiberg erhalten, nun fanden sich die wichtigsten Werke europäischer Gelehrter auch in seiner Bibliothek.17 Bevorzugt orientierte er sich jedoch an Agricolas Hauptwerk De re metallica libri XII, das ihm in einer lateinischen Ausgabe von 1657 zur Verfügung stand.18 Ausgewählte Passagen, zudem zahlreiche der

Technologietransfer zwischen Sachsen und Rußland auf dem Gebiet des Montanwesens

insgesamt 43 Abbildungen, wurden inhaltlich nahezu identisch übernommen. Wie beim originalen Vorbild kennzeichnete Lomonosov die wichtigen Teile mit Buchstaben und erläuterte sie im Text, nahm auch Ergänzungen oder Änderungen sowie dem technischen Fortschritt geschuldete Umzeichnungen vor (Abb. 3). Lomonosov stand durchaus auf der Höhe der Zeit, indem er die technologischen Fortschritte genau verfolgte. Auch andere Vorbilder wurden bemüht, z. B. Georg Engelhard(t) von Löhneiß (1552–1622), sein ehemaliger Lehrer August Beyer sowie die Aula Subterranea des berühmten »Bergk- und Müntz-Meisters im Königreich Böhmen« Lazarus Ercker (um 1528–1594). Auf diesem Wege gelangten die in Freiberg erworbenen Kenntnisse wie auch das in der europäischen Literatur zusammengefasste Fachwissen auf direktem Wege in das Russische Reich und befruchteten so das gesamte Berg- und Hüttenwesen. Auf Initiative von Kaiserin Katharina II., die auch für eine Verbreitung der Anfangsgründe im ganzen Reich sorgte, erschien schließlich im Dezember 1763 eine gedruckte Benachrichtigung über die in Ausarbeitung befindliche Mineralogie Rußlands, in der dazu aufgefordert wurde, für das allgemeine Wissen und zur Vermehrung des Berg- und Hüttenwesens im ganzen russischen Reich eine Beschreibung der Erze und anderer Mineralien, welche in sämtlichen russischen Gruben gefunden werden, zu verfassen, um daraus ein Gesamtsystem der Mineralogie Rußlands zusammenzustellen und – vor allem durch physikalische und chemische Begründung – die Regeln und Kennzeichen für das Aufsuchen von Erzlagern viel exakter, als sie heute bekannt sind, zu bestimmen.19

Mit Unterstützung der Akademie wie auch der örtlichen Bergbaubehörden sollten auf diesem Wege Erzproben und relevante Daten aus 120 Bergbauunternehmungen erfasst, nach St. Petersburg zur Untersuchung übersandt werden und deren Ergebnisse schließlich in ein Ökonomisches Lexikon russischer Produkte einfließen. Leider verhinderte der frühe Tod Lomonosovs die endgültige Fertigstellung dieses Werkes, das

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3  Kehrrad zum Wasserheben aus Agricolas De re metallica libri XII – links das Original, rechts die Kopie von Lomonosov mit den gleichen Fehlern: Die Befestigung der Welle ist unzureichend, das umlaufende Seil nicht wechselseitig angeordnet. Es kann so also nicht funktionieren.

ob seiner Neuartigkeit in Europa seinesgleichen gesucht hätte. Geblieben sind jedoch Lomonosovs fundamentale Arbeiten zum Montanwesen, mit denen er seinen Kollegen James Hutton (1729– 1797) und Charles Lyell (1797–1875) in entscheidenden theoretischen Erkenntnissen deutlich voraus war und damit die Begründung der geologischen Wissenschaften in Russland einleitete.20

Schlussbemerkungen Nichts ist seltener, als einen hervorragenden Deutschen in seinem Lande zu sehen; alle gehen fort, um sich im Auslande auszuzeichnen. Die Mittelmäßigen bleiben zurück, vom Schuster bis zum Philosophen. 21

Man ist durchaus geneigt, dem Worte Goethes Glauben zu schenken, zumal deutsche Fachleute am Ende des 18. Jhs. 22,2 % des ingenieurtechnischen Personals in Russland stellten; in diesem Sinne dürften unter den 450.000 Beschäftigten auch jene zu finden sein, die sich im russischen Montanwesen zu verdingen wussten.

256

Friedrich Naumann

Unumstritten ist die Rolle Sachsens in diesem Prozess des Wissens- und Technologietransfers, wobei sowohl den zahlreichen Migranten als auch den in Sachsen ausgebildeten Fachkräften – im Zeitraum von 1772 bis 1835 hielten sich bspw. 801 Russen an der Freiberger Bergakademie zu speziellen Studien auf, etwa 11 % aller inskribierten Studenten – eine besondere Rolle zukommt. Zu denken ist endlich auch an zahlreiche Fachleute, die späterhin für Russland tätig und in vielfältiger Weise hilfreich waren: der Freiberger Professor Carl Bernhard von Cotta (1808–1878), der Spezialist für Ganglagerstätten Carl Hermann Müller (1823–1907), der Mineraloge Friedrich August Breithaupt (1791–1873) und viele andere. Schließlich muss noch auf die Verbindung zwischen dem berühmten russischen Gelehrten Dmitrij I. Mendeleev (1834–1907) – im Jahre 1867 zum Professor für Chemie an der Universität St. Petersburg ernannt – und dem Freiberger Chemiker und Professor für Chemie Clemens A. Winkler (1838–1904) hingewiesen werden. Winkler, verdient auch um die technologische Verbesserung des Schwefelsäurekontaktverfahrens, glückte 1886 die Entdeckung des bis dahin unbekannten Elementes Germanium (Ge) im Mineral Argyrodit. Damit konnte nicht nur die Existenz eines von Mendeleev vorausgesagten Elementes – er nannte es Ekasilizium –, sondern auch die Richtigkeit des Periodensystems der Elemente bestätigt werden. Es bietet sich abschließend an, nochmals Lomonosov zu zitieren, der diesen einflussreichen Prozess wie folgt zusammenfasst:

1 Naumann 2018a. 2 Guerrier 1873, 2. 3 Sächsisches Hauptstaatsarchiv (SHSA) Dresden, SpezialRescripte Nr. 3, Kammerkopial 1710, Bl. 467, 1718, Bl. 74b. 4 Ebd. 5 Ebd.

Der weise Monarch hielt es unbedingt für notwendig, für

seine großen Vorhaben Kenntnisse jeder Art in unserem

Vaterlande zu verbreiten und die Zahl der Leute, die der hohen Wissenschaft kundig waren, ebenso wie die der

Künstler und Handwerker, zu mehren. […] Denn mehr als einmal durchflog er […] die europäischen Staaten und ver-

anlaßte [...] eine große Menge seiner Untertranen dazu,

ihr Vaterland zeitweilig zu verlassen und sich durch eigene Erfahrung davon zu überzeugen, welch großer Nutzen

dem einzelnen Menschen und dem ganzen Staat aus inte-

ressanten Reisen durch fremde Länder erwächst. Die weiten Tore des großen russischen Landes öffneten sich: Da

ergoß sich über die Grenzen und über die Häfen […] bald

ein ununterbrochener Strom der Söhne Rußlands, welche die Heimat verließen, um Kenntnisse in den verschiedens-

ten Wissenschaften und Künsten zu erwerben, und bald

auch ein Strom von Ausländern, die nach Rußland kamen

und verschiedene Künste, Bücher und Instrumente mit-

brachten. Da wurden der mathematischen und physikalischen Wissenschaft, die man früher zur Zauberei und

Hexerei gerechnet hatte, die aber jetzt bereits in Purpur gekleidet und mit Lorbeer umkränzt auf ihren Königsthron erhoben worden sind, in der geheiligten Person Peters andachtsvolle Verehrungen entgegengebracht […]

Wie viele notwendigen Dinge, die früher mühevoll

und mit hohen Kosten aus fernen Ländern nach Rußland eingeführt wurden, werden jetzt im Innern des Reiches

hergestellt, so daß nicht nur unser Bedarf gedeckt, sondern mit den Überschüssen auch noch andere Länder versorgt werden können. […]

Dank der Aufklärung, die Peter uns brachte, ist der

Vorwurf, (daß das Land in seinem Erdinnern weder

Edelmetalle zur Prägung von Münzen noch das notwendige Eisen zur Herstellung von Waffen berge), haltlos geworden: Eröffnet wurde das Innere der Berge durch

Peters kräftige und fleißige Hand. Aus ihnen ergießt

sich der Strom der Metalle. Sein Überfluß verbreitet sich nicht nur im Innern unseres Vaterlandes, auch an andere Völker werden nun Metalle […] abgegeben. 22

6 7 8 9

Hermann 1790, 315. Hermann 1790, 319. Gerber 1999, 283–299. Archiv der TU Bergakademie Freiberg, 9508/308, Bl. 10, Abschrift des Briefes von A. Ostermann v. 28. September 1734.

Technologietransfer zwischen Sachsen und Rußland auf dem Gebiet des Montanwesens

10 Ausführlich dazu: Species Facti. Der in Rußland in unglückliche Umstände geratene Oberberghauptmann von Schoemberg. In: Sächsisches Hauptstaatsarchiv, 10025 Geheimes Konsilium, Loc. 05184/16. In diesem Papier wird Schönberg fälschlicherweise stets »Schoemberg« genannt. 11 Zit. in: Buberl / Dückershoff 2003, 28. 12 Henckel 1725. 13 Herrmann 1962. 14 Kunik 1865. 15 Smalte ist ein tief gefärbtes Pulver auf der Basis eines Kaliumsilikatglases, hergestellt aus Quarz (SiO₂) und Pottasche (K₂CO₃), die tief kornblumenblaue Farbe entsteht durch Beigabe von Kobaltglanz, Erdkobalt oder Kobaltblüte.

16 Lomonosov 1757. 17 Die Lomonossowsche Bibliothek, zusammengestellt 1871 von Anton Semjonowitsch Budilowitsch (Антон Семёнович Будилович). Archiv Naumann. 18 Das ca. 700 Seiten umfassende Werk enthält alle montanistischen Schriften Agricolas sowie ein umfassendes Glossar mit 3830 deutsch-lateinischen Fachbegriffen. 19 Morosow 1954, 405. 20 Naumann 2016. 21 Johann Wolfgang Goethe im Gespräch mit seinem Freund Frédéric Jacob Soret am 14.2.1830. Zit. in Borchmeyer 2017, Anm. 35. 22 Aus der »Lobrede auf den Herrscher Kaiser Peter den Großen glorreichen Andenkens, gehalten 26. April 1755.« Zit. in: Lomonossow 1961, Bd. 2, 44.

Amburger 1968 E. Amburger: Die Anwerbung ausländischer Fachkräfte für die Wirtschaft Russlands vom 15. bis ins 19. Jahrhundert (Wiesbaden 1968).

Herrmann 1962 W. Herrmann: Bergrat Henckel. Ein Wegbereiter der Berg­ akademie. Freiberger Forschungshefte D 37 (Berlin 1962).

Borchmeyer 2017 D. Borchmeyer: Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst (Berlin 2017). Bubert / Dückershoff 2003 B. Buberl / M. Dückershoff (Hg.): Palast des Wissens. Die Kunstund Wunderkammer Zar Peters des Großen. Bd. 1 (München, Dortmund 2003). Fleischhauer 1986 I. Fleischhauer: Die Deutschen im Zarenreich (Stuttgart 1986). Gerber 1999 O. Gerber: Deutsche Fachleute in den Kabinettsunternehmen des Altai im 18. Jahrhundert, in: B. Messner / A. Eisfeld: Der Beitrag der Deutschbalten und der städtischen Russland­ deutschen zur Modernisierung und Europäisierung des Russischen Reiches (Köln 1999) 283–299. Guerrier 1873 W. I. Guerrier: Leibniz in seinen Beziehungen zu Russland und Peter dem Großen (St. Petersburg, Leipzig 1873). Grau 1960 C. Grau: Russisch-sächsische Beziehungen auf dem Gebiet des Berg- und Hüttenwesens in der ersten Hälfte des 18. Jh., Jahrbuch für Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas 4 (1960), 302–330. Henckel 1725 J. F. Henckel: Pyritologia oder Kies-Historie (Leipzig 1725). Hermann 1790 B. F. H. Hermann: Statistische Schilderung von Russland in Rücksicht auf Bevölkerung, Landesbeschaffenheit, Natur­ produkte, Landwirtschaft, Bergbau, Manufakturen und Handel (St. Petersburg, Leipzig 1790).

Hoffmann 2015 P. Hoffmann: Lomonosov-Studien. Aufsätze aus fünf Jahrzehn­ ten (Berlin 2015). Kunik 1865 A. A. Куник: Сборник материалов для истории Импера­ торской Академии наук в XVIII веке. Том 1 (СПб. 1865) [A. A. Kunik: Material­samm­lung für die Geschichte der Kaiser­ lichen Akademie der Wissen­schaften im 18. Jahrhundert. Bd. 1 (St. Petersburg 1865)]. Lomonosov 1757 M. V. Lomonosov: Oratio de generatione metallorum a terrae motu (St. Petersburg 1757). Lomonossow 1961 M. Lomonossow: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden (Berlin 1961). Morosow 1954 A. Morosow: M. W. Lomonossow 1711–1765 (Berlin 1954). Naumann 2016 F. Naumann: Michail Vasil‘evic Lomonosovs Beitrag zur Herausbildung der geologischen Wissenschaften in Russland, ACAMONTA-Sonderbeilage, Zeitschrift für Freunde und Förderer der TU Bergakademie Freiberg, 13 (2016). Naumann 2017 F. Naumann (Hg.): Michail Vasil’evic Lomonosov: Schriften zur Geologie und zum Berg- und Hüttenwesen (1742–1765) (Berlin, Boston 2017). Naumann 2018a F. Naumann: Georgius Agricola – Ein Riese an Denkkraft, Leiden­schaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehr­ samkeit (Chemnitz 2018).

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Friedrich Naumann

Naumann 2018b F. Naumann: Sächsische Bergbaukunst auf dem Weg nach Russland, ACAMONTA-Sonderbeilage, Zeitschrift für Freunde und Förderer der TU Bergakademie Freiberg, 25 (2018). Richter 1946 L. Richter: Leibniz und sein Russlandbild (Berlin 1946). Schippan 2012 M. Schippan: Die Aufklärung in Russland im 18. Jahrhundert (Wiesbaden 2012).

Abbildungsnachweis Sämtliche Abbildungen inklusive der Farbtafeln XV–XVII entstammen dem Archiv des Autors.

Europäische Wasserbau-Ingenieure im 18. und 19. Jahrhundert Wanderungen und Wissenszirkulation

Christoph Bernhardt

Die Vermittlung von Techniken und Fertigkeiten des Bauens zwischen verschiedenen Gesell­ schaften erfolgt jeweils zeitgebunden auf sehr unterschiedlichen, sich ständig wandelnden Wegen.1 Im späten 18. und frühen 19. Jh. zählten z. B. die Migration von Bauarbeitern, aber auch politisch erzwungene Emigrationen und Bil­ dungs­reisen von Architekten und Ingenieuren zu wichtigen Formen der grenzüberschreitenden Vermittlung von Bauwissen.2 Parallel dazu gewannen als »neue Medien« zunehmend voluminöse Hand­bücher sowie die ersten Fachzeitschriften an Bedeutung.3 Damit ist bereits angedeutet, dass eine integrierte Betrachtung der Zirkulation von Personen, Informationen und auch Dingen sowie deren Zusammen- und Wechselspiel, wie sie die neuere kulturgeographische Forschung vorschlägt,4 auch für historische Untersuchungen sinnvoll und nötig ist. Nur so lässt sich der Wandel in den Formen des überregionalen Transfers von baukulturellem Wissen angemessen erklären, bei denen sich z. B. wiederholt Migrations­muster von Personen mit dem Aufkommen neuer Medien der Wissens­übertragung, z. B. über Bücher oder heute das Internet, veränderten. Der vorliegende Aufsatz diskutiert solche Fragen am Fallbeispiel der Wanderungen von Wasserbau-Ingenieuren im Europa des späten 18. und des 19. Jhs. und des damit verbundenen Wandels in den Formen ihres Wissensaustauschs. Es geht hier also um bildungs- bzw. beruflich motivierte Wanderungen einzelner Experten, und damit im Regelfall nicht um armuts-, verfolgungsoder gewalt­induzierte und somit erzwungene

Migrationen.5 Bei diesen Wanderungen handelte es sich teilweise um kürzere Reisen, aber vielfach auch um mehrjährige Aufenthalte. Von besonderer Bedeutung ist, dass der hier untersuchte Zeitraum die Gründungs­periode moderner Nationalstaaten umfasste und vom Aufstieg wissenschaftlicher Argumente im Wasserbau – jedenfalls nach dem Selbstverständnis der zeitgenössischen Akteure – geprägt war. Vor diesem Hintergrund waren die Berufspraxen, Migrationsformen und die grenzüberschreitende Kommunikation von Ingenieuren stark vom Aufbau einzelstaatlicher Infrastruktur­ verwaltungen als wichtigem Teil der National­ staats­bildung und von internationalen Debatten über hydraulisch-mathematische Fragen geprägt.

Ein transnationales Großbauprojekt als Innovationslabor: Die Begradigung des Oberrheins im 19. Jh. Die von 1817 bis 1876 durchgeführte Begradigung des Oberrheins, mit der der Fluss zwischen Basel und Worms um 81 km verkürzt wurde, war ein Innovations­labor des europäischen Wasser- und Landschaftsbaus, das sich sehr gut zum Studium grundlegender Mechanismen von Migration und Wissens­zirkulation in ihrer Bedeutung für den Wandel der Baukultur im Übergang zum Industrie­ zeitalter eignet. Im Zentrum des Projektes stand die Fassung des in zahllose Arme gespaltenen und mäandrierenden Flusses in einem einheitlichen, 200–300 m breiten Flussbett mit einem

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Christoph Bernhardt

leicht geschwungenen Verlauf. Begonnen mit den Kernzielen der Hochwasserprävention und Land­ gewinnung, löste seine Durchführung zahlreiche Prozesse einer rechtlichen, mentalen und sozialen Modernisierung aus, wie z. B. die Abschaffung der Flussbaufron, die Begründung der späteren TH Karlsruhe sowie Reformen im Steuerund Entschädigungsrecht. Sie addierten sich in dem zwischen 1803 und 1815 neu gebildeten Großherzog­tum Baden zu einem grundlegenden Prozess der »inneren Staatsbildung«.6 Besonders aufschlussreich für die hier interessierenden Zusammenhänge zwischen Migration, Wissenszirkulation und Baukultur sind der grenzüberschreitende Zuschnitt des Projektes sowie die Mobilitäts­muster und Netzwerke der direkt und mittelbar beteiligten Ingenieure. So waren Frankreich und Bayern unmittelbar in die Planung und Ausführung involviert, Preußen und andere Anlieger­ staaten nahmen nachdrücklich zu Risiken Stellung, so dass es auch zu diplomatischen Verwicklungen kam. Da ein Projekt dieser Größe besonders große wasserbautechnische Heraus­forderungen aufwarf und Chancen bot, erregte es mit einer gewissen Folgerichtigkeit die Aufmerksamkeit der führenden europäischen Ingenieure der Zeit und stimulierte technische Innovationen und Netzwerkbildungen.

Wanderschaft und Wissenszirkulation um 1800: Der Ingenieur Johann Gottfried Tulla (1770–1828) Der zentrale, seit dem 19. Jh. und bis heute im deutschen Südwesten geradezu mythisch überhöhte Protagonist des angesprochenen Projektes der Oberrhein-Begradigung war der Wasser­ bau-Ingenieur Johann Gottfried Tulla (1770–1828, Abb. 1). Sein Aufstieg vom Ingenieur-Eleven zum Direktor des badischen Wasser- und Straßenbaus und seine Wanderungen im Deutschen Reich bzw. Bund sowie im Ausland waren aufs engste verbunden mit dem Aufbau einer staatlichen

Infrastruktur­ verwaltung in der ehemaligen Markgrafschaft Baden, die 1806 zum Großherzog­ tum erhoben wurde. Tulla trat nach einer Ausbildung als »Geometer« 1790 in den badischen Staatsdienst ein und wurde zunächst auf eine Studienreise zu führenden Fachleuten im In- und Ausland geschickt, so unter anderem zum Salinen­inspektor Langsdorff in Gerabronn, zum Wasser­bau­direktor Wiebeking in Düsseldorf (1794) und weiter nach Norwegen, Holland sowie nach Hamburg zum dortigen Wasserbaudirektor Woltmann (Farbtafel XVIII, 286).7 Im Zuge dessen kristallisierte sich erst nach und nach eine zunehmende Konzentration auf den Wasserbau heraus, die sich z. B. in Studien mit Wiebeking auf der Rhein­ strecke im Herzogtum Berg und Cleve sowie bei Woltmann in Hamburg niederschlug. Ein solcher Ausbildungs­gang gilt in der Forschung als typisch für die große Bedeutung der Auslandsreisen in der Ausbildung von Wasserbau-Ingenieuren,8 insbesondere in der Zeit vor der Gründung der Ingenieurs- und Technischen Hochschulen. Wie

1  Portrait des badischen Ingenieurs Johann Gottfried Tulla (1770–1828).

Europäische Wasserbau-Ingenieure im 18. und 19. Jahrhundert

unten näher ausgeführt werden wird, dienten die Reisen nicht nur explizit der Rezeption erprobter und neuer Techniken – über die dem Landesherrn nach der Rückkehr penibel Bericht zu erstatten war9 –, sondern förderten auch die Netzwerkbildung. Von besonderer Bedeutung für die spätere Rolle Tullas als Motor der Begradigung des Oberrheins war zudem eine Reihe von Reisen, die ihn zunächst zu Studienzwecken und später zu Verhandlungen nach Paris führte, wo er unter anderem die neueren Konzepte führender Forscher der berühmten Ingenieur-Hochschule École Polytechnique aus der Nähe kennenlernte. Dazu zählte etwa die Géométrie descriptive des Mathematikers Gaspard Monge, die zu dieser Zeit zu einem von den führenden europäischen Ingenieuren favorisierten Leitkonzept der wissenschaftlichen Begründung des Wasserbaus aufstieg.10 Bei Reinhard Woltmann, einem der oben genannten Gastgeber Tullas und führenden Protagonisten des Wasserbaus im Übergang vom 18. zum 19. Jh. in Deutschland, zeigen sich die gleichen drei großen, mit verschiedenen Mobilitäts­ mustern verbundenen Karriereschritte. Auch hier folgten auf die Phase einer beruflichen Erst­ausbil­ dung unter staatlicher Aufsicht zunächst ausgedehnte Studienreisen und dann eine dauerhafte Anstellung in herausgehobener Position im Staats­dienst. Woltmann führten seine Studien­ reisen unter anderem nach Göttingen, Frankfurt a. M., Paris, London und in die Niederlande, ehe er 1814 die Leitung des gesamten Wasserbaus in Hamburg übernahm.11

Migrations- und Karrieremuster von Ingenieuren um 1800 Ganz allgemein wiesen die Karrieren von Personen, die in leitenden Positionen des Wasserbaus tätig waren, vor 1815 eine deutlich größere Mobilität auf als in den Jahrzehnten danach, und zwar sowohl beruflich-disziplinär als auch geographisch. Dies lässt sich etwa am Beispiel des international

bekannten Wasserbauexperten Karl Christian von Langsdorf (1757–1834) zeigen, einem engen Mitstreiter Tullas bei den badischen Wasserbau­ behörden. Langsdorf war von der Grundausbildung her Mathematiker, ein im Wasserbau nicht seltener Fall, wie das Beispiel des berühmten, im 18. Jh. bei der Trockenlegung des Oderbruchs sowie u.a. in St. Petersburg tätigen Mathematikers Leonhard Euler zeigt.12 Langsdorf gelangte, nach Tätigkeiten als Privatdozent an der Universität Gießen (1781), Rentmeister und Landrichter in Mülheim an der Ruhr sowie Salinen­inspektor in Gerabronn (ab 1784), auf eine Professur für Maschinenkunde an der Universität Erlangen. 1804 wechselte er ins litauische Wilna, um schließlich ab 1806 dauerhaft eine Professur für Mathematik an der Universität Heidelberg zu übernehmen (Farbtafel XIX, 287).13 Langsdorfs Laufbahn steht beispielhaft für die große fachliche und räumliche Flexibilität, mit der sich insbesondere Akademiker in der Frühen Neuzeit zwischen den noch kleinen universitären Lehr­ anstalten verschiedener Länder bewegten. Sie verweist auch auf den in längerfristiger historischer Perspektive stark schwankenden Grad transnationaler Mobilität und Vernetzung im akademischen Feld, wie ihn etwa kürzlich der maßstabsetzende Wissenschaftsatlas der Universität Heidelberg dokumentiert hat.14 Andere Segmente im Berufsfeld »Wasserbau«, die weniger akademisch und stärker anwendungsnah geprägt waren, wiesen vor 1800 zeitweise eine ähnliche hohe Mobilität mit allerdings charakteristischen Abweichungen auf. Dies betraf vor allem die praktisch in der Planung und Durchführung von Wasserbauprojekten tätigen Ingenieure. Bei ihnen vollzog sich in dem hier näher betrachteten Zeitraum ein Wandel vom älteren Typus des ähnlich wie Langsdorf befristet engagierten, hochmobilen Experten zum Staatsdiener auf Lebenszeit. Dieser Wandel lässt sich exemplarisch am Fall des prominenten bayerischen WasserbauIngenieurs Carl Friedrich Wiebeking und seines Sohnes demonstrieren. Ihre verwandtschaftliche Beziehung spiegelt auch das in der Frühen Neuzeit

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Christoph Bernhardt

weit verbreitete Muster stark personengebundener beruflicher Qualifizierungen im Rahmen familiärer oder enger Lehrer-Schüler-Verhältnisse. Dies lässt sich etwa an der Weitergabe des Berufes in Ingenieurs-Dynastien, wie denen der Dyckerhoffs in Baden oder der Bernoullis in Basel, die für die Entwicklung der Hydraulik bedeutende Forscher hervorbrachte, ablesen.15 Carl Friedrich Wiebeking d. Ä. (1762–1842) begann seine Karriere als Landvermesser – der neben der Mathematik zweiten typischen Grund­ aus­bil­dung für spätere Wasserbau-Ingenieure – und wirkte in seiner Jugend zunächst 1779 am Karten­werk des Grafen Schmettau in MecklenburgStrelitz mit. Aus dieser Erstausbil­dung als Land­ vermesser gingen weitere Karten­projekte hervor, mit denen er unter anderem das Großherzogtum Sachsen-Weimar und die Netze-Distrikte dokumentierte, sowie noch im fortgeschrittenen Alter Vorschläge zur Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe bei Rom (s. Farbtafel XIX, 287).16 Von 1788 bis 1790 war Wiebeking in Düsseldorf als Wasserbaumeister des Großherzogtums Berg und danach als großherzoglich hessischer Steuerrat in Darmstadt tätig, als der er auch für die Aufsicht über die dortigen Vorhaben zur Rheinbegradigung zuständig war. Es folgte eine dreijährige Tätigkeit als Kaiserlich-Königlicher Hofrat für Bau­ angelegen­ heiten in Wien, ehe Wiebeking 1805 als Geheimer Finanzreferendar die Leitung des gesamten bayerischen Wasser-, Brücken- und Straßenwesens übernahm, die er bis 1817 innehatte.17 Auch wenn die überlieferten Angaben zu weiteren Einzelheiten seiner Biographie spärlich sind, zeigen eine Publikation über Maßnahmen zum Schutz St. Petersburgs vor Überschwemmungen (1833) und diverse Gutachten zu Hafenbauten, u. a. in Venedig, Triest und Nieuwendiep (Holland), dass er insbesondere in den zahlreichen Ländern der k.u.k. Monarchie sowie als externer Gutachter viel im Ausland unterwegs war.18 Seit dem Eintritt in den bayerischen Staatsdienst konzentrierte sich sein Wirken auf den Infrastrukturausbau in Bayern.

Dass über den jüngeren Wiebeking deutlich weniger bekannt ist als über den renommierten und publizistisch überaus aktiven Vater, ist zwar primär auf den frühen Tod des Sohnes zurück zu führen, spiegelt aber auch den Wandel von Karriere- und Mobilitätsmustern im Schatten des Aufbaus staatlicher Infrastrukturverwaltungen. Wiebeking d. J. war zunächst als »Kreisbaurath« in der bayerischen Verwaltung tätig, als der er u. a. den Ausbau des Hafens in Lindau am Bodensee sowie den Bau diverser Brücken, so z. B. in München, leitete. Vermutlich wurde er dabei von seinem Vater gefördert bzw. bei den genannten Bauten sogar direkt angeleitet, wie zumindest der missgünstige Kritiker und Nachfolger des älteren Wiebeking, Heinrich Freiherr von Pechheim, behauptete.19 Ein wichtiger Karriereschritt des Sohnes innerhalb der bayerischen Wasserbauverwaltung erfolgte erst kurz nach dem Rücktritt des Vaters, der im Gefolge des Ausscheidens von Maximilian von Montgelas‘ als bayerischem Staatsminister 1817 ebenfalls seine Ämter niederlegte. Im Sommer 1818 wurde Wiebeking d. J. zum Direktor des Wasser- und Straßenbaus in der bayerischen Rheinprovinz ernannt und war als solcher federführend an der Durch­führung der Rheinkorrektion beteiligt.20 In solchen Leitungspositionen auf der Ebene einer Provinzverwaltung war der Wirkungskreis von Ingenieuren wie Wiebeking d.J. gegenüber dem der reisenden Experten des 18. Jhs. – wie etwa seines Vaters – einerseits räumlich stark eingeschränkt. Andererseits wirkten sie als Agenten einer fortschreitenden Professionalisierung der Baukultur und »inneren Staatsbildung«, die innerhalb weniger Jahrzehnte zu einer flächendeckenden staatlichen Regulierung, Vereinheitlichung und Disziplinierung der bis dahin dominierenden, wild wuchernden semiprofessionellen lokalen Baupraktiken führten. Der damit verbundene Rollenwechsel für die Ingenieure ließe sich über das Fallbeispiel des jüngeren Wiebekings hinaus an zahlreichen anderen Biographien auch und gerade preußischer Wasserbauer, wie z. B. Gotthilf Hagens, zeigen.21

Europäische Wasserbau-Ingenieure im 18. und 19. Jahrhundert

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Mobilitätsmuster im Zeichen transnationaler »Verwissenschaftlichung« und Technikdiffusion im Wasserbau Mit dem Blick auf die komplexen Vorgänge der beginnenden »Verwissenschaftlichung« des Wasser­ baus um 1800 lassen sich die engen Zusammenhänge von personaler Mobilität und Wissens­zirkulation differenzierter beleuchten. Gute Fallbeispiele bieten dazu die Verbreitung des sog. »Woltmann-Flügels«, eines 1790 erstmals vorgestellten Instruments zur Bestimmung von Fließgeschwindigkeiten, sowie der mathematischhydraulischen »Chezy-Formel«. Letztere wurde im gleichen Zeitraum und in engem Zusammenhang mit dem Woltmann-Flügel als die zentrale Formel zur Abflussbestimmung international intensiv diskutiert. Die Verbreitung des Instruments einerseits und die Rezeption der Formel andererseits bildeten beide um 1800 wesentliche Bausteine bei der Projektierung großer Fluss­bau­ vorhaben in Mitteleuropa, wie der Begradigung des Oberrheins. Hier zeigen sich die engen Zusammenhänge und Wechselwirkungen von personaler und dinglicher Mobilität mit medien­ vermittelter Wissenszirkulation. Der Woltmann-Flügel funktionierte, verkürzt gesagt, analog zum Prinzip der Windmühle und ermittelte aus der Zahl der Umdrehungen eines mit Flügeln versehenen Rades im Wasser pro Zeiteinheit den ortsspezifischen Wasserdruck. Auf diesem Wege ließ sich die Geschwindigkeit des Wassers in dem jeweils untersuchten Flussabschnitt messen (s. Abb. 2). Die Ergebnisse von mit dem Woltmann-Flügel durchgeführten Messreihen bildeten eine der Grundlagen der Chezy-Formel, die der Berechnung von Abflussmengen diente (s. Abb. 3). Letztere war eine für den Wasserbau fundamental bedeutsame Größe. Obwohl der Woltmann-Flügel in der Fachwelt relativ rasch und einhellig als deutlicher Fortschritt gegenüber älteren Messverfahren, etwa mit schwimmenden Stäben, anerkannt wurde, dauerte es doch mehrere Jahrzehnte, bis er sich

2  Der »Woltmann-Flügel« zur Messung von Wassergeschwindigkeiten.

als Standard-Instrument zur Berechnung von Fließgeschwindigkeiten durchgesetzt hatte. Am Beispiel des badischen Ingenieurs Tulla und der von ihm geleiteten Wasserbaubehörden lassen sich einige charakteristische Muster seiner Ausbreitung skizzieren. Tulla hatte das Instrument zunächst bei seinem Besuch seines Schöpfers Woltmann in Ritzenbüttel 1794 durch persönlichen Augenschein kennengelernt. 1801 ließ er sich ein Exemplar nachbauen und schrieb 1803 die allgemeine Verwendung des Instruments in der badischen Wasserbauverwaltung in einer Anweisung an das Ingenieurs-Department vor. 1807 setzte er es bei Abflussmessungen an dem Schweizerischen Fluss Linth, für dessen Korrektur er zu Rate gezogen wurde, persönlich ein. Um 1830 galt das Instrument zwar in der preußischen und der französischen Wasserbauverwaltung als weithin bekannt, doch

3  Die »Chezy-Formel«.

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waren die badischen Distrikt-Ingenieure auf regionaler Ebene erst 1821 flächendeckend damit ausgestattet worden.22 Diese wenigen Beobachtungen deuten darauf hin, dass technische Innovationen wie der Woltmann-Flügel zwar unter den gut miteinander vernetzten führenden Wasserbau-Ingenieuren Europas relativ schnell bekannt wurden, jedoch im vorindustriellen Zeitalter erst im Verlauf einiger Jahrzehnte auch auf regionaler und lokaler Ebene in größerem Umfang zum Einsatz kamen. Die sog. Chezy-Formel (s. Abb. 3) war erstmals von dem französischen Ingenieur Dubuat 1779 zur mathematischen Beschreibung des Zusammen­ hangs von Fließgeschwindigkeit, Gefälle, Rauheit und hydraulischem Radius aufgestellt worden. Sie fand schnell Aufnahme in die zahlreichen Handbücher, die zu dieser Zeit eine mediale und wissenschaftliche »Sattelzeit« des Übergangs zum – dem Anspruch seiner Protagonisten nach – »wissenschaftlichen« Wasserbau einläuteten. Zu diesen Handbüchern gehörten etwa Woltmanns Beyträge zur hydraulischen Architektur (4 Bde., 1791/99), Wiebekings 1798 gemeinsam mit Kröncke erstmals publizierte Allgemeine Wasserbaukunst, Johann Adalbert Eytelweins Praktische Anweisung zur Wasserbaukunst (4 Bde., 1802/08) sowie später Gotthilf Hagens Beschreibung neuer Wasserbau­ werke (1826).23 Die wesentliche kultur- und fach­ geschichtliche Funktion dieser Handbücher und der Chezy-Formel als einem ihrer Kristallisations­ punkte bestand in der Bildung und Festigung eines europaweiten Netzwerkes von Ingenieuren, das entschieden für die Etablierung eines theoriegeleiteten, mathematisch-hydrologisch basierten Wasser­baus stritt und sich gegenseitig mit Gut­ achten und Stellungnahmen auch und gerade gegen Angriffe in der Öffentlichkeit und aus den Ver­waltungen in Schutz nahm. Als Protagonisten der Debatte um die Chezy-Formel traten um 1800 etwa die Ingenieure Krayenhoff (Niederlande), Girard und Prony (Frankreich) sowie in Deutschland neben Woltmann vor allem Eytelwein hervor, dessen Fassung der Formel »von der Fachwelt offenbar sofort übernommen« wurde.24 Ganz generell

gilt Eytelwein, Mitbegründer der Bauakademie in Berlin und bis 1830 Direktor der preußischen Oberbau­deputation, als Protagonist der in dieser Zeit einsetzenden Verwissenschaftlichung des Bauwesens in Preußen, die sich um 1800 weit über den Wasserbau hinaus auch z. B. für den Hochbau anbahnte.25 Festzuhalten bleibt, dass die Praxis großer Fluss­bau­projekte noch längere Zeit nicht streng nach wissenschaftlichen Prinzipien erfolgte, sondern von ganz anderen Einflüssen und Zwängen bestimmt wurde und vorrangig erfahrungsgeleitet erfolgte, sei es, weil Zeitdruck oder Geldmangel genaue Berechnungen nicht zuließen, weil protestierende Anwohner die Messanlagen zerstörten, oder weil die erhobenen Messungen aus anderen Gründen unvollständig oder fehlerbehaftet blieben.26 Im Ergebnis lässt sich feststellen, dass eine Einbeziehung der Zirkulation von materialen Dingen wie dem Woltmann-Flügel und abstraktem Wissen wie der Chezy-Formel die Beobachtungen zur Migration der Ingenieure wesentlich erweitert: Während die räumliche Diffusion des WoltmannFlügels nach den hier ausgewerteten Quellen offensichtlich relativ eng an die Studienreisen junger Ingenieure und damit an praktisch-sinnliches Lernen und Erfahrungswissen gebunden war, erfolgte die Verbreitung der Chezy-Formel vorrangig über Handbücher und verwandte Medien sowie in Lehranstalten und damit in geringerer Abhängigkeit von personaler Mobilität. Personale Migrationen einerseits und die Zirkulation von Dingen und Wissen andererseits standen dabei nicht in Konkurrenz, sondern ergänzten einander komplementär. Im Kontext des institutionellen Schließungsprozesses, in dem die Einzelstaaten des Deutschen Bundes seit den frühen 1820er Jahren landeseigene ingenieurwissenschaftliche Schulen als Vorläufer der späteren Technischen Hochschulen errichteten und die einzelstaatlichen Bauverwaltungen ausbauten, nahm dabei die personale Mobilität von Ingenieuren allerdings eher ab. Spiegelbildlich dazu wuchs jedenfalls mittelfristig die Bedeutung medialer Wissens­vermittlung

4  Die Niederwasserregulierung des Oberrheins bei Fort Louis (um 1906).

Europäische Wasserbau-Ingenieure im 18. und 19. Jahrhundert 265

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auf die Baukultur, wie die Zirkulation der ChezyFormel über die genannten Handbücher und Zeitschriften anzeigt.

Das Projekt der Oberrhein-Regulierung (1906–1913) Ein gutes halbes Jahrhundert nach den bis hierhin analysierten Vorgängen und noch vor Abschluss des Begradigungsprojektes am Oberrhein setzte im Jahr 1876 im Gebiet zwischen Mannheim, Straßburg und Basel eine lebhafte, von Vertretern der Städte und Anliegerstaaten sowie Lobbyisten der aufstrebenden Dampfschifffahrt öffentlich geführte Debatte um ein weiteres Großprojekt an dem gleichen Flussabschnitt ein. Im Kern ging es darum, nach der durch die Begradigung kurzfristig verbesserten Hochwasserprävention und Gewinnung von Ackerland mittels der Trocken­ legung von Überschwemmungsflächen nunmehr die Schiffbarkeit zu verbessern. Diese war von der Technik der Durchschneidung von Mäandern eher beeinträchtigt worden, die folglich seit Mitte des 19. Jhs. zunehmend umstritten war und ab den 1870er Jahren vom Konzept der sog. »Nieder­ wasser­regulierung« im bestehenden Flussbett abgelöst wurde. Nach jahrzehntelangen konfliktreichen Auseinandersetzungen wurde schließlich zunächst die ca. 85 km lange Strecke zwischen Sondernheim nördlich von Mannheim und Straßburg dieser Niederwasserregulierung unterzogen, mit der eine gleichmäßigere Wasser­ führung erreicht werden sollte (Abb. 4).27 Im Ergebnis des Projekts, das schließlich zwischen 1906 und 1913 realisiert wurde, konnte nunmehr auch Straßburg von der Großschifffahrt erreicht werden. Dadurch erfuhr nicht nur die zu dieser Zeit unter deutscher Verwaltung stehende elsässische Stadt, sondern die gesamte Region bis hinauf nach Basel einen mächtigen Industrialisierungsschub. Auch dieses Projekt besaß einen großen Zuschnitt und stellte neue wasserbauliche Herausforderungen, die es zum

Kristallisationspunkt und Innovationslabor für die Entwicklung neuer Techniken und deren Zirkulation über Migrationen und medial vermitteltem Wissenstransfer zwischen den beteiligten Ingenieuren werden ließ. Wie bereits im frühen 19. Jh. beförderte es seit den 1870er Jahren auch den Aufstieg einer neuen Generation von Wasserbau-Ingenieuren mit eigenen, zeitspezifischen Karrieremustern und – in der einschlägigen Fachliteratur gebührend gewürdigten – Protagonisten.

Max Honsell – Protagonist der Wasserbaumoderne Die gesellschaftliche Dynamik im Aufbruch zur Wasserbaumoderne im Zeichen der Großschifffahrt seit den 1850er Jahren spiegelt sich exemplarisch in der Laufbahn des Direktors der badischen Wasser- und Straßenbauverwaltung und späteren badischen Finanzministers Max Honsell (1843– 1910).28 Auf ein Bauingenieurs-Studium am 1825 in Karlsruhe gegründeten Polytechnikum, das inzwischen viel stärker verschult und zugleich ortsgebundener erfolgte als das seines Vorgängers Tulla, folgte 1864 der Eintritt in die badische Wasser- und Straßenbauverwaltung. Dort wirkte Honsell noch bei zwei der letzten Projekte der Rheinkorrektion mit, nämlich dem Altriper Durchstich 1865 sowie dem Friesenheimer Durch­ stich im Gebiet von Mannheim. Honsells Reisen, u. a. nach Holland sowie zu dem führenden französischen Wasserbaufachmann Fargue an der Garonne, erfolgten erst nach seinem Eintritt in die Staats­verwaltung und waren daher eher Studienals Bildungsreisen. Honsell machte Fargue auch früh in Deutschland bekannt, indem er 1871 einen seiner Aufsätze bearbeitete und mit einer Einleitung versehen in der Allgemeinen Bauzeitung publizierte. Sein Werdegang zeigt, dass zu dieser Zeit die zunehmende einzelstaatliche Formierung von Verwaltungen, Hochschulen und damit

Europäische Wasserbau-Ingenieure im 18. und 19. Jahrhundert

auch Karrieren eine intensive internationale Kommunikation und Kooperation noch nicht ausschloss, sondern im Gegenteil die Reputation der beteiligten Ingenieure steigern konnte. Dies schlug sich auch und gerade in Anfragen zur Begut­ achtung ausländischer Projekte und wasserbaulicher Probleme nieder, für die Honsell unter anderem nach St. Gallen (1872) und Szegedin (Ungarn) gerufen wurde. Gerade für die Projekte an internationalen Flüssen wie etwa am Rhein waren entsprechende (Sprach-) Kenntnisse und Fähigkeiten besonders hilfreich, zumal für Leitungs­personen wie den 1899 zum Direktor der Wasser- und Straßenbaudirektion sowie 1906 zum badischen Finanzminister beförderten Ingenieur Honsell. Als »system builder« trieb er nicht zuletzt auch die Institutionalisierung des Wasser­baus weiter voran, so v. a. mit der Begründung der modernen Hydrographie in Form eines Centralbureau für Meteorologie und Hydrographie sowie dem Aufbau der akademisch-wasserbaulichen Forschung an der TH Karlsruhe.29

Wasserbautechniken im transnationalen Wissenstransfer des späten 19. Jhs. Wie oben angedeutet markierte die Nieder­ wasser­regulierung eine Abkehr von der zuvor in großem Maßstab betriebenen »Korrektion« bzw.

Begradigung und bildete zugleich eine alternative Wasser­bau­technik in Abgrenzung zu verschiedenen Kanalisierungs­ projekten. Die Kernidee bestand darin, im bestehenden Flussbett die Strömung mit Hilfe von Quer­buhnen und flankierenden Maßnahmen zu konzentrieren, sodass sie störende Kies­bänke abschwemmte und ein auch in Nieder­wasser­zeiten tieferes und besser schiffbares Fahr­wasser ausbildete (Abb. 5).30 Diese Technik war keinesfalls neu, sondern lässt sich als Paradebeispiel eines internationalen Wissens­transfers zwischen französischen, preußischen und badischen Ingenieuren bis zurück ins späte 18. Jh. verfolgen. Das Kernstück der Buhnentechnik bildeten Faschinen, Bündel von Weichholz mit einem Durchmesser von ca. 30 cm und einer Länge zwischen 1,50 und 4,50 m. Sie wurden, oft in Verbindung mit Steinladungen, als quer zur Abflussrichtung angelegte Bauwerke in den Fluss eingebracht. Zur Gewinnung und Verbauung der im Flussbau zu Hunderttausenden verwandten Faschinen wurden unzählige eigentums- und forstrechtliche Bestimmungen erlassen und zahllose Arbeiter mit unterschiedlichen Qualifikations­niveaus beschäftigt. Die intensiven Diskussionen der Wasserbauingenieure um dieses Universalinstrument der vorindustriellen Baukultur, seine grenzüberschreitende Weiter­ entwicklung – etwa zwischen französischen und deutschen Fachleuten – und Adaption sowie seine

5  Die Technik der Querbuhnen im Flussbau.

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Christoph Bernhardt

Verwendung bis ins 20. Jh. hinein bedürften einer eigenen, umfangreicheren Darstellung.31 Honsell hatte die Regulierungsmethode der Querbuhnen zuerst in Frankreich näher kennengelernt, wo er, wie oben angemerkt, 1869 die maßstabsetzenden Arbeiten von Fargue an der Garonne vor Ort studiert hatte.32 Etwa zur gleichen Zeit führte in den 1870er Jahren der preußische Strombaudirektor Nobiling eine ähnliche Niederwasserregulierung mittels des Einbaus von Querbuhnen am Rhein oberhalb von Koblenz durch. Fargues‘ renommierter Landsmann und Kollege Girardon wiederum hatte eine Mission nach Preußen unternommen und Elemente der an den preußischen Flüssen praktizierten Regulierungstechnik mit Hilfe von epis noyes transversaux (Querbuhnen) übernommen. Auch der französische Inspecteur Jaquet, General der französischen Wasserbaubehörde Ponts et Chaussées, bekannte sich nach einer Studienreise an Niederrhein, Elbe, Oder und Wesel in den Jahren 1879/80 zur Rezeption der »preußischen Technik«, die mit Erfolg an der Rhone eingesetzt worden sei. Nicht zuletzt verwies Honsell selbst ebenfalls auf das Vorbild der preußischen Arbeiten für sein Projekt.33 In längerfristiger Perspektive lässt sich die Geschichte dieser Technik bis in die 1780er Jahre zurückverfolgen. Um diese Zeit sei sie von den Direktoren des preußischen Rheinwasserbaus im Herzogtum Kleve beim Flussbau oberhalb von Emmerich entwickelt und in der Folgezeit als »preußische Methode« des Flussbaus bekannt geworden, so Bräuler.34 Zusammengenommen vollzog sich hier also ein langfristiger, komplexer Prozess von transnationaler Wissens- und Technikzirkulation innerhalb Europas, bei der die Kernidee der »Querbuhne« ihren Weg im Wesentlichen von Preußen über Frankreich nach Baden nahm. Die weiterhin wichtige Rolle der Augenscheinnahme vor Ort in den genannten

Beispielen der 1860er und 1870er Jahre deutet darauf hin, dass die führenden Ingenieure im späten 19. Jh. bestimmte Techniken zwar zunächst über die Literatur wahrnehmen, vor ihrer Übernahme jedoch weiterhin persönlich vor Ort studierten.

Schluss Im Ergebnis der hier präsentierten Fallbeispiele und Überlegungen sind drei zentrale Schluss­ folgerungen festzuhalten: Erstens lassen sich im 18. und 19. Jh. eine Vielzahl von Migrations­ formen mit jeweils eigenen Mobilitäts­mustern und Transferpraxen im europäischen Bauwesen beobachten. Hier wurde der besondere Fall einer überregional vernetzten Expertengruppe – der führenden Wasserbauingenieure – näher betrachtet. Andere große soziale Gruppen jener Zeit, wie z. B. die in den zeitgenössischen Großprojekten zu tausenden beschäftigen migrantischen »Erd­arbeiter«, übermittelten ebenfalls baukulturell wichtige Praxen und Kenntnisse, insbesondere eines erfahrungs­ geleiteten Wasserbaus.35 Zweitens bedarf es zum vertieften Verständnis der Migrations­muster der Ingenieure multikausaler Erklärungen, für die der Wandel von Karrierewegen und medial vermitteltem Wissenstransfer und deren Wechsel­beziehungen von besonderer Bedeutung sind. Drittens schließlich zeigte sich, dass die Internationalisierung der Baukultur in längerfristiger Perspektive keineswegs ein linearer Prozess zunehmender Verflechtung war, sondern nach 1815 zwischenzeitlich durchaus stagnierte. Sie wurde abgelöst vom Primat einer eher nach innen gerichteten Politik der Expertenausbildung, baukulturellen Disziplinierung und bürokratischen Durchdringung innerhalb von Einzelstaaten, die im frühen 20. Jh. zunehmend in eine nationalistische Polarisierung auch in der Baukultur mündete.

Europäische Wasserbau-Ingenieure im 18. und 19. Jahrhundert

1 Der Beitrag basiert auf Forschungen, deren Ergebnisse in Bernhardt 2016 ausführlicher dargestellt sind. Ich danke den Gutachtern für wichtige Hinweise. 2 Vgl. zur Geschichte der Profession: Nerdinger 2012. 3 Als Fachzeitschriften erlangten seit 1831 z. B. die französischen Annales des ponts et chaussees und ab 1836 die Allgemeine Bauzeitung rasch Bedeutung. Zu einigen der wichtigsten Handbücher des Wasserbaus vgl. u. S. 264. 4 Vgl. Johler / Matter / Zinn-Thomas 2011. 5 Vgl. zur Migrationsforschung und -geschichte Bade 2000; Hillmann 2016. 6 Vgl. Bernhardt 2016, 58–60, Bernhardt 2000. 7 Cassinone / Spieß 1929, 2–5; Bär 1870, 125–127; Zier 1970. 8 Vgl. Scholl 1978, 146–147. 9 Ausführlich dazu Valdenaire 1929. 10 Bernhardt 2016, 85. 11 Vgl. zur Biographie Woltmanns Joachim 1898. 12 Vgl. Speiser 1959. 13 Vgl. Folkerts 1982. 14 Meusburger 2011. 15 Bernhardt 2016, 118; Ilgauds / Schlote 2017. 16 Günter 1910. 17 Ebd. 18 Zu den Beziehungen und Arbeiten Wiebekings mit Partnern in Russland vgl. Fedorov 2005, zu einigen seiner

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19

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weiteren Projekte in den Ländern der k.u. k.-Monarchie Hilz 2004. Von Pechheim 1832, 47 urteilte u. a.: »Von allem, was Wiebe­king an den Flüssen Bayerns gebaut hat, ist nicht der zehnte Theil übrig oder brauchbar«. Das Vorangegangene nach Bernhardt 2016, 141–142 sowie Ingenieurportrait Carl Friedrich von Wiebeking 2004. Vgl. Schröder 1966, 472. Das Vorangegangene nach Bernhardt 2016, 90–95. Ebd., 91. Vischer 2000, 4–5. Vgl. Strecke 2000, 30–32. Bernhardt 2016, 96–97. Ebd., 305–308. Ausführlich zur Biographie Honsells: Fuchs 1912. Das Vorstehende nach ebd., 4ff; Wittmann 1949, 15; Bernhardt 2016, 334–337. Vgl. Eckoldt 1998, 55. Ausführlich dazu Bernhardt 2016, 236–238. Vgl. Schneider 1966, 42 u. 52–54; Haelling 1930, 89. Das Vorstehende nach Descombe 1981, 356; Wittmann 1948, 29; Honsell 1890, 21. Bräuler 1926, 51–52. Vgl. für den Wasserbau: Bär 1870, 168–169; für den Parallel­fall des Eisenbahnbaus: Wortmann 1972.

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Christoph Bernhardt

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Abbildungsnachweis 1 Stadtarchiv Karlsruhe 8/PBS III 1880. 2 Stiftung historische Museen Hamburg (https://commons. wikimedia.org/wiki/File:Hamburg_Museum_1935,135. jpg. (CC BY 3.0 DE) 15.8.2018). 3 G. Hagen: Beschreibung neuerer Wasserbauwerke (Königs­berg 1841) 21. 4 Generallandesarchiv Karlsruhe, H/Rheinstrom 85. 5 Descombes 1981, 360. Farbtafeln XVIII, XIX  Eigene Ausarbeitung (Kartengrundlage: Meyers Handlexikon, 6. Aufl. Leipzig 1913, Bd. 1).

Farbtafeln

Farbtafeln

273

A

N 1

2

I

+96.16

Eingang

4

3

5

7

6

8

9

+ 96

II

Theater

Bodenniveau

III

+92.90

Eingang Eingang

Schnitt A-A' + 91,5

vorklassisches Straßenniveau

IV

Felsboden

+85.09 +84.46

V

Eingang? VI

1 2

VII

3 VIII

4 Bodenniveau

IX

+92.90

+8

65 +88.28

B

B'

vorklassisches Straßenniveau

B

Felsboden

6

A

gegrabene Fläche in Thrasyllou -Str. 16

X

Schnitt B-B'

ausgegrabene Fläche in Thrasyllou-Str. 16

7

Mauerwerk mit Mörtel + 85,5

8

0

10

9

20

Aktites-Stein

10

11

hymettischer Marmor

12

13

Tripoden-Straße

30

40

14

Konglomerat

15

weicher Porosstein + 83,5

50

M.

I  Athen, Odeion. Erhaltene Baureste und Rekonstruktionsplan.

+85.09 +84.46

Farbtafeln

274

N Eingang

+96.16

Bodenniveau

vorklassisches Straßenniveau

Schnitt A-A'

Felsboden

Bodenniveau

+92.90

+85.09 +84.46

+92.90

6 +88.28

vorklassisches Straßenniveau Felsboden

e in

Schnitt B-B' Mauerwerk mit Mörtel Aktites-Stein hymettischer Marmor Konglomerat weicher Porosstein

0

10

20

30

II  Athen, Odeion. Schnittzeichnungen A–A und B–B.

40

50

M.

+85.09 +84.46

Farbtafeln

275

III  3D-Rekonstruktionsversuch der Terrasse des Odeion in Verhältnis zum choregischen Monument Nr. 6. Oben: Ansicht von Südwesten, unten: Ansicht von Süden.

276

Farbtafeln

IV  Richard Barlett, Bird’s eye view of Armagh, c. AD 1601.

Farbtafeln

277

V  Site, türkische Mittelmeerküste bei Side.

VI  Ortsüblicher Rohbau, Dikili.

278

Farbtafeln

VII  Ortsüblicher Hausbau, Side.

VIII  Wohnzimmer von Kasım Yazar bei Kayseri.

Farbtafeln

279

IX  Vorbild-Haus von Birol Yıldırım, bei Bartın, Schwarzmeerküste.

X  Zweiteile-Haus bei Tarsus.

280

Farbtafeln

XI  Mehrschicht-Haus von Kasım Yazar bei Kayseri.

XII  Topographisches Modell Jerusalems.

Farbtafeln 281

XIII  Modell der Grabeskirche.

282 Farbtafeln

Farbtafeln

283

XIV  Académie Europénne Méditerranée, Titelcover, 1931.

284

Farbtafeln

XV  Ausschnitt aus dem dreiteiligen Gemälde von Hans Hesse auf dem Bergaltar in der St. Annen-Kirche in Annaberg-Buchholz/Erzg. von 1522 mit der Darstellung der wichtigsten bergmännischen Tätigkeiten.

Farbtafeln

XVI  Modell der Barnauler Kupferhütte; das hinter (за) dem Werk angestaute Wasser (вода́) führte zur Bildung des Wortes заво́д (Werk).

XVII  Michail Vasil‘evič Lomonosov. Kopie von Georg Caspar Prenner nach einem Porträt von L. S. Miropolsky (1787).

285

286

Farbtafeln

XVIII  Reisen des Ingenieurs J. G. Tulla zwischen 1792 und 1807/8 (Auswahl).

Farbtafeln

287

XIX  Wanderungen der Ingenieure K. C. Langsdorff (pink) und C. F. Wiebeking (blau) 1779–1806 (Auswahl).