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German Pages 442 [464] Year 2014
Interaktion - Organisation Gesellschaft revisited Anwendungen, Erweiterungen, Alternativen Sonderheft der Zeitschrift für Soziologie Herausgegeben von Bettina Heintz und Hartmann Tyrell
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Lucius & Lucius · Stuttgart 2015
Zeitschrift für Soziologie Die Zeitschrift wird herausgegeben von der Universität Bielefeld, Fakultät f ü r Soziologie. Die Fakultät beruft auf Zeit das in seiner Tätigkeit unabhängige Herausgebergremium und den Beirat. Herausgeber:
T h o m a s Hinz, Konstanz Kai-Olaf Maiwald, Osnabrück Jörg Rössel, Zürich H e n d r i k Vollmer, Bielefeld Theresa Wobbe, Potsdam
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Anschriften der Herausgeber des Sonderheftes Professor Dr. Bettina Heintz Universität Luzern Kultur- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, Soziologisches Seminar Frohburgstrasse 3 C H - 6 0 0 2 Luzern E-mail: [email protected]
Professor Dr. H a r t m a n n Tyrell Universität Bielefeld Fakultät f ü r Soziologie Universitätsstraße 25 D-33615 Bielefeld E-mail: [email protected]
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de a b r u f b a r ISBN 978-3-8282-0605-2 © Lucius 8c Lucius Verlagsgesellschaft m b H Stuttgart 2015 Gerokstraße 51 · D-70184 Stuttgart www.luciusverlag.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere f ü r Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindung: BELTZ Bad Langensalza G m b H , Bad Langensalza
Zeitschrift für Soziologie „Interaktion - Organisation - Gesellschaft revisited. Anwendungen, Erweiterungen, Alternativen"
Sonderheft
Inhalt/Contents V
Vorwort
Bettina Heintz Hartmann Tyrell
IX
Einleitung
Bettina Heintz Hartmann Tyrell
Ausgangspunkt 3
Editorische Anmerkungen zu Niklas Luhmanns Manuskript „Ebenen der Systembildung - Ebenendifferenzierung"
Johannes F.K. Schmidt
6
Ebenen der Systembildung - Ebenendifferenzierung (unveröffentlichtes Manuskript 1975)
Niklas Luhmann
Ebenenunterscheidung in der (kritischen) Diskussion Thomas Schwinn
43
Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Eine Alternative zu Mikro-Makro?
65
Gruppen, Organisationen, Familien und Bewegungen Zur Soziologie mitgliedschaftsbasierter Systeme zwischen Interaktion und Gesellschaft
Stefan Kühl
Parasiten sozialer Systeme
Wolfgang Ludwig Schneider
Interaction, Organization, Society. An Alternative to Micro-Macro?
Groups, Organizations, Families, and Movements. The Sociology of Membership-Based Systems between Interaction and Society
86
Parasites of Social Systems
109
Intersituativität. Teleinteraktionen und Koaktivitäten jenseits von Mikro und Makro
Stefan Hirschauer
Intersituativity. Tele-Interaction and Coactivity beyond Micro and Macro
134
Interaktion-Organisation-Gesellschaft: Probleme von Ebenendifferenzierungen aus der Sicht der Theorie rationaler Wahl bei James S. Coleman
Jens Greve
Interaction, Organization, Society. Problems of the Differentiation of Levels in the Rational Choice Theory of James S. Coleman
Historische Perspektiven 153
„Im umgekehrten Verhältnis". Zur Entdeckung der Ebenendifferenzierung in der bürgerlichen Gesellschaft'
Michael Kauppert Hartmann Tyrell
"In Inverse Proportion." O n the Discovery of Level Differentiation in the "Civil Society"
178
Der Raum der Interaktion. Räumlichkeit und Koordination mit Abwesenden in der frühneuzeitlichen Vergesellschaftung unter Anwesenden Space in Face-to-Face Society. How to Coordinate with Those Absent in Pre-modern Interaction
Rudolf Schlögl
IV 201
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. III-IV Der „erlaubte Konflikt" im Gerichtsverfahren. Zur AusdifFerenzierung einer Interaktionsepisode in den englischen Hochverratsprozessen der Frühen Neuzeit
André
Krischer
Licit Conflicts in the Legal Process. On the Emergence of an Episode of Interaction in the Early Modern English Treason Trials
Interaktion, Organisation - und We/ígesellschaft 229
Die Unverzichtbarkeit von Anwesenheit. Zur weltgesellschaftlichen Bedeutung globaler Interaktionssysteme
Bettina
Heintz
Tobias
Werron
Personal Encounters. The Indispensability of Face-to-Face Interaction at the Global Level
251
Gleichzeitigkeit unter Abwesenden Zu GlobalisierungsefFekten elektrischer Telekommunikationstechnologien Simultaneity across Distance. On Globaliration Effects of Telecommunication Technologies
271
Soziale Ordnungsbildung durch Kollektivität: Luhmanns
Bettina
Mahlert
Martin
Petzke
.Ebenenunterscheidung' und die moderne Weltgesellschaft Self-help Groups as Mediators of Social Inclusion. Luhmanns "Ebenenunterscheidung
294
and Modern World Society
Religion im Schema von Interaktion, Organisation und Weltgesellschaft. Der Fall des pfingstlich-evangelikalen Christentums Religion in the Theoretical Schema of Interaction, Organization, and World Society. The Case of Evangelical Christianity
Die Ebenenunterscheidung im empirischen Test 321
„Metaphysik der Anwesenheit". Zur Universalitätsfähigkeit soziologischer InteraktionsbegrifFe
Christian
Meyer
"Metaphysics of Presence." How Universal Are Sociological Concepts of Interaction?
346
Kopräsenz und Körperlichkeit im Sport: Zum Verhältnis von face-to-face-Interaktion und sozialer Praxis am Beispiel des Fußballspiels
Marion
Müller
Thomas
Scheffer
Presence and Corporeality in Sports: The Relationship between Face-to-Face Interaction and Social Practice while Playing Soccer
369
Die Arbeit an den Positionen - Zur Mikrofundierung von Politik in Abgeordnetenbüros des Deutschen Bundestages The Work on Positions - The Micro-Foundation of politics in MPs' offices of the German Bundestag
390
408
F i n a n z k o m m u n i k a t i o n als Praxis ö k o n o m i s c h e n Darstellens Financial Communication as a Practice of Economic Representation
Herbert Kalthoff Sonia Köllner
Stress und soziale Differenzierung
Hendrik
Vollmer
Stress and Social Differentiation
425
Verschränkung
und Deformation
als zwei Seiten einer Medaille:
Zu Funktion und Schicksal der „Eingliederungsvereinbarung" in der Jobcenter-Interaktion Interconnection and Distortion as Two Sides of the Same Coin. On the Function and Fate of the "Jobseeker's Agreement" in Job Center Interactions
443
Alphabetisches Verzeichnis der Autorinnen und Autoren des Sonderheftes
Christine
Weinbach
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft, 2014, S. V - V l l
Vorwort Für die drei Begriffe ,Interaktion', Organisation' und .Gesellschaft' wird man bis in die Mitte der 1970er Jahre sagen dürfen: Sie standen der seinerzeitigen Soziologie in keinem engeren oder besonderen Zusammenhang; sie verwiesen nicht aufeinander, taten es auch (nach Art von .Gesellschaft' und .Individuum') in einem Gegensatzsinne nicht, waren also weder verwandt noch verschwägert. So dürfte es in Soziologenohren zunächst befremdlich geklungen haben, dass Niklas Luhmann im Jahre 1975 gerade diese drei in einem Vortragstext - und zwar schon in dessen Titel und programmatisch gemeint - assoziiert und zusammengeführt hat.1 Was die Befremdlichkeit noch forciert haben könnte, war der Umstand, dass Luhmann die (moderne) Gesellschaft konsequent als .Weltgesellschaft' verstanden wissen wollte.2 Die Herausstellung und Verknüpfung der drei Begriffe - teils im Sinne eines typologischen Nebeneinanders, teils im Sinne einer hierarchischen Ebenenunterscheidung, damit auch eines .Ineinanders', teils auf evolutionäre Differenzierung hin - ist in der Folgezeit in der deutschen Soziologie nicht ohne Echo geblieben, und man könnte etwas Verwunderliches daran finden, dass dem kurzen Vortragstext, ohne Fußnoten und frei von Literaturhinweisen, sein soziologischer Kommunikationserfolg gleichwohl beschieden war. Allerdings muss, sieht man genauer hin, von einer durchaus ambivalenten Rezeption die Rede sein. Schon innerhalb der soziologischen Systemtheorie zählt die Typologie zwar zum festen Begriffshaushalt, und keine Gesamtdarstellung der Theorie lässt .Interaktion / Organisation / Gesellschaft' aus. Es geschieht dies aber mehr als Pflicht denn als Kür, denn in die Kernzone der Theorieentwicklung gehörte die Trias schon seit den 1980er Jahren eher nicht mehr. Und was die soziologische Breitenwirkung über die Systemtheorie hinaus angeht, so hat das Begriffsterzett zwar in den Sprachgebrauch vieler Soziologen als (bisweilen noch angereichertes) soziologisches Ordnungsvokabular Eingang gefunden; auch ist es im Sinne von Ebenendifferenzierung nicht selten mit einer Mikro/Meso/Makro-Unterscheidung zusammengeführt worden. Aufs Ganze gesehen aber kommt man nicht umhin, diese Rezeption recht oberflächlich und wenig systematisch zu nennen. Und so ist der Bedarf für eine grundlegende, breiter ansetzende und kritische Neubefassung mit der Luhmann'schen Typologie und dem, was aus ihr geworden ist, unübersehbar. Das hier publizierte Sonderheft der Zeitschrift für Soziologie will diesem Bedarf genügen. Sein Anliegen ist dabei nicht nur eines von Auf- und Weiterverarbeitung oder differenzierendem Ausbau, sondern auch das, das Luhmann'sche Theoriestück mit dem Dissens zu konfrontieren, den andere soziologische Theorieprogramme derzeit artikulieren und zu dem sich aktuell auch die empirische Forschung teilweise veranlasst sieht. Aber auch dem interdisziplinären Gesichtspunkt will das Sonderheft Rechnung tragen, denn zumal in der Geschichtswissenschaft hat Luhmanns Ebenenunterscheidung ein nicht geringfügiges Echo erfahren. Der Band würdigt dieses nun leider nicht in dem größeren Umfang, wie ihn sich die Herausgeber ursprünglich gewünscht hatten; umso dankbarer sind sie für die beiden Beiträge von Historikerhand, die der Band enthält.
Publiziert hat L u h m a n n den Text zuerst in: Marlis Gerhardt (Hrsg.), Die Zukunft der Philosophie. München: List 1975, S. 85-107, dann als EröfFnungstext in: Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1975, S. 9 - 2 0 ; vgl. dort dann auch die drei unmittelbar folgenden Aufsätze. Den Dreiklang von .Interaktion / Organisation / Gesellschaft' vernimmt man zuvor schon in einigen Aufsätzen des Jahres 1972, so in den Schlussüberlegungen von Niklas Luhmann, Einfache Sozialsysteme, in: Zeitschrift für Soziologie 1, 1972, S. 5 1 - 6 5 (62 f.), also im ersten Heft des ersten Jahrgangs dieser Zeitschrift; vgl. weiterhin Niklas Luhmann, Überlegungen zum Verhältnis von Gesellschaftssystemen und Organisationssystemen, in: Kommunikation und Gesellschaft. Möglichkeiten und Grenzen von Kommunikation und Marketing in einer sich wandelnden Gesellschaft. Karlsruhe: Verlag Nadolski 1972, S. 143-149; vor allem ders., Die Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen, in: Jakobus Wössner (Hrsg.), Religion im Umbruch. Soziologische Beiträge zur Situation von Religion und Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft. Stuttgart: Enke 1972, S. 2 4 5 - 2 8 5 . 1
D a s ist dadurch noch unterstrichen, dass in Soziologische Aufklärung 2, a . a . O . , S. 51—71, der Aufsatz, der — im Gefolge von „Einfache Sozialsysteme" und „Allgemeine Theorie organisierter Sozialsysteme" — für .Gesellschaft' einzustehen hatte, der (zuerst 1971 publizierte) Aufsatz „Die Weltgesellschaft" war. 2
VI
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. V-Vll
Im Hinblick auf die Anfange von „Interaktion, Organisation, Gesellschaft" bleibt noch etwas nachzutragen: etwas, das man wohl eine rückblickende Überraschung nennen darf. L u h m a n n s triadische Botschaft ist nämlich, was k a u m bekannt ist, zuerst als Radiovonrag gesendet und bekannt gemacht worden: im Süddeutschen R u n d f u n k a m 2 5 . 2 . 1 9 7 4 , leicht modifiziert und von einem professionellen Sprecher verlesen. 3 D a s mag für sich genommen vielleicht nicht sonderlich aufregend sein, wird es aber wohl, wenn m a n auf die Folgen blickt. Denn auf dem Hegel-Kongress des Jahres 1975 gab es eine Auseinandersetzung mit der Luhmann'schen Sache, die ausdrücklich und vorrangig auf den Radiovortrag Bezug nahm. Es war der Sozialphilosoph Klaus Hartmann, der in seinem Kongressbeitrag „Interaktion, Organisation, Gesellschaft" nicht nur erwähnte, sondern die Typologie als .soziologische Neuerung' und theoretischen Zugewinn nachdrücklich begrüßte. Detailliert wurde das neue Theoriestück vorgestellt und der sozialphilosophischen Aufmerksamkeit lebhaft anempfohlen. 4 Deutlich auch wurde von H a r t m a n n registriert, dass die Trias herausführt aus den Bindungen, die die Bauweise der Systemtheorie von Talcott Parsons vorgegeben hatte. 5 M a n darf wohl sagen: eine euphorische Aufmerksamkeit wie hier ist „Interaktion, Organisation, Gesellschaft", auch nachdem der Luhmann'sche Vortragstext dann kurze Zeit später publiziert war, nicht mehr zuteil geworden. H a r t m a n n seinerseits nahm in seinem Stuttgarter Vortrag allerdings auch Bezug auf das „1. Kapitel" eines (bislang unpublizierten) größeren Luhmann'schen Manuskripts zur Gesellschaftstheorie, das vom Juni 1973 datiert und ebenfalls mit „Interaktion, Organisation, Gesellschaft" überschrieben ist. In L u h m a n n s gesellschaftstheoretischem Großvorhaben war seinerzeit, wie m a n sieht, die Thematik, die a m A n f a n g stehen sollte, die von „Interaktion, Organisation, Gesellschaft". D a s galt mit Einschränkungen auch noch für den neuerlichen gesellschaftstheoretischen Anlauf, den L u h m a n n im Jahre 1975 unternahm. Der einschlägige „Teil" des Vorhabens bestand nun aus zwei zusammengehörigen Kapiteln, von denen das erste den Titel „Ebenen der Systembildung" trägt; das zweite ist mit „Ebenendifferenzierung" überschrieben. Die beiden Kapitel stellen die breiteste Befassung L u h m a n n s mit dem Theoriestück dar, dem das vorliegende Sonderheft seine Thematik und seine maßgeblichen Fragestellungen verdankt. D a s große Textstück „Ebenen der Systembildung - Ebenendifferenzierung" wird in diesem Sonderheft erstmals abgedruckt und publik gemacht. 6 Es hat allen Autorinnen und Autoren des Bandes vorgelegen. D e m Erscheinen dieses Bandes ist im Jahre 2011 ein Workshop vorausgegangen, der im Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld stattfand und für den es darauf ankam, innersoziologisch heterogene Positionen ebenso zu Wort und zum Z u g e kommen zu lassen wie der Interdisziplinarität Rechnung zu tragen. Die intensiven und höchst kontroversen Diskussionen, die sich damals ergaben, zeigten, welch lebhafte intellektuelle Feuer sich an der Thematik von „Interaktion / Organisation / Gesellschaft" soziologisch entzünden lassen. Und so sahen sich die Herausgeber dieses Bandes nachhaltig ermutigt, die Luhmann'sche Typologie und Ebenenunterscheidung nun auch in einer größeren Publikation der kritischen Inspektion durch die Soziologie des aktuellen Jahrzehnts zu unterziehen, dies in theoretischer wie empirischer Hinsicht. Die seinerzeitigen Herausgeber der Zeitschrifi fur Soziologie luden dazu ein, dies in der Form eines zweiten Sonderhefts der Zeitschrift zu tun. Die Unterzeichneten haben diese Einladung dankbar an- und aufge-
3 Der intensiven Sammeltätigkeit und Großzügigkeit von Klaus Dammann, Bielefeld, ist es zu danken, dass der Vortrag den Herausgebern dieses Bandes hörbar gemacht wurde. 4 Vgl. Klaus Hartmann, Gesellschaft und Staat. Eine Konfrontation von systemtheoretischer Soziologie und kategorialer Sozialphilosophie, in: Dieter Henrich (Hrsg.), Stuttgarter Hegel-Kongress 1975: Ist systematische Philosophie möglich? Bonn: Bouvier 1977, S. 465—486. Hartmann hielt seinen Vortrag im Kolloquium VIII („Gesellschaftstheorie und Philosophie") des Kongresses, das von Niklas Luhmann geleitet wurde. Da es hier um eine Diskussion wesentlich unter Philosophen ging, erbat der Vorsitzende (und Soziologe) einleitend für die thematisch mitbetrofFene Soziologie „das Maß an Schonung, das man Abwesenden schuldet." 5 Bei Hartmann, ebd.: S. 474, heißt es: „Luhmann bestreitet also einen streng hierarchischen Aufbau von System, Subsystem, Subsystem wie bei Parsons." 6 Die Herausgeber sind Johannes F. K. Schmidt für seine sorgfaltig-editorische Arbeit zu großem Dank verpflichtet und verweisen für das Nähere auf seine dem Luhmann'schen Text vorangestellten ,editorischen Anmerkungen (in diesem Band: S. 3 ff.). Es darf noch nachgetragen werden, dass sich im Kapitel „Ebenendifferenzierung" eine ausdrückliche Bezugnahme Luhmanns auf Klaus Hartmann und den Hegel-Kongress von 1975 findet (in diesem Band: S. 22, Anm. 44).
Bettina Heintz & Hartmann Tyrell : Vorwort
VII
nommen, und sie haben nun ihrerseits eine Reihe von Teilnehmern des Workshops, aber auch verschiedene andere Kolleginnen und Kollegen zur Mitarbeit an dem neuen Sonderheft eingeladen. Einige von den Teilnehmern des Workshops haben ihre Beiträge sehr zügig geliefert. Ihnen ist bis zur Fertigstellung des Bandes nicht wenig an Geduld und Wartezeit zugemutet worden, und die Herausgeber sehen Anlass, für das die Zuversicht nicht aufgebende Ertragen davon recht herzlich zu danken. Zu danken ist an dieser Stelle auch dem Kreis der Herausgeber der ZfS, die schon den Workshop unterstützt haben und deren wohlwollender Blick dann das Entstehen des Bandes begleitet hat. Für dieses Entstehen galten die ZfS-üblichen Konditionen. Das heißt nicht zuletzt, dass sich - mit der natürlichen Ausnahme von Niklas Luhmanns „Ebenen der Systembildung - Ebenendifferenzierung" - alle Beiträge des Sonderhefts dem ZfS-üblichen anonymen Begutachtungsverfahren zu unterziehen hatten. Der vorliegende Band wäre nicht ohne die erhebliche Unterstützung, die ihm von dritter Seite zuteil geworden ist, zustande gekommen. Zu danken ist hier zuerst dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft für seine beträchtliche Beteiligung an der Erbringung des unvermeidlichen Druckkostenzuschusses, und der Dank gilt hier zugleich Frau Ulrike Garus aus dem Rektorat der Universität Bielefeld für ihr so engagiertes Helfen und Vermitteln. Zu danken ist aber auch der Westfälisch-Lippischen Universitätsgesellschaft für ihre großzügig gewährte Unterstützung und desgleichen - und gleich doppelt - dem Institut für Weltgesellschaft der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld; das IW hat schon den erwähnten Workshop gefördert und zuletzt dann auch die Publikation des Sonderhefts. Auch das Dekanat der Fakultät für Soziologie hat nicht geringe Verdienste um das Zustandekommen des Sonderhefts. Danken möchten die Herausgeber nicht zuletzt Herrn Dr. Wulf D. von Lucius, dem Verleger, für die neuerlich gute Zusammenarbeit. Und Dank zu sagen ist schließlich Frau Claudia Rupp auf der Verlagsseite in Stuttgart, die den Weg des Sonderhefts in den Druck mit großer Ruhe und Energie begleitet hat. Hartmann Tyrell hat persönlichen Anlass, noch zweierlei anzufügen. Für sein vorzügliches Lektorieren und für vielerlei weitere Kooperation im Zusammenhang mit der Entstehung des vorliegenden Bandes möchte er Klaus Dey, Bielefeld, danken und sagt dies bewusst in den gleichen Worten, die er schon im Vorwort des Sonderhefts Weltgesellschaft von 2005 gewählt hat. Ein besonderes, ein Freundesanliegen ist es ihm, an einen Autor zu erinnern, der am Workshop von 2011 lebhaft beteiligt war, der ganz auf die Mitarbeit am Sonderheft eingestellt war und der dem Band sein beträchtliches evolutionstheoretisches Interesse zugute kommen lassen wollte: an Klaus Gilgenmann, Osnabrück, der völlig unerwartet nach kurzer Krankheit am 29. Juli 2012 verstorben ist. Sein Beitrag - „Am Anfang war die Differenz. Evolutionstheoretische Aspekte der Ebenenunterscheidung in Luhmanns Theorie sozialer Systeme" - lag in einem ersten Entwurf vor. Der Beitrag hat nicht mehr zu Ende geführt werden können; der Entwurf aber war auf der Homepage seines Fachbereichs an der Osnabrücker Universität über seinen Tod hinaus lange Zeit noch zugänglich; leider ist er inzwischen gelöscht worden. Die kostbaren Erinnerungen an Klaus Gilgenmann aber, die die, die ihm nahe standen, mit ihm in Verbindung halten, wird man nicht löschen können. Luzern und Bielefeld im November 2014
Bettina Heintz, Hartmann Tyrell
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft, 2014, S. IX-XVII
Einleitung Bettina Heintz Universität Luzern, Kultur- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, Soziologisches Seminar, Frohburgstrasse 3, 6002 Luzern, Schweiz [email protected]
Hartmann Tyrell Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld, Postfach 100131, 33501 Bielefeld, Germany. [email protected]
Ausgangspunkt der in diesem Band versammelten Beiträge ist die von Niklas Luhmann in den frühen 1970er Jahren vorgeschlagene „Systemtypologie": die Unterscheidung von Interaktion, Organisation und (Welt)Gesellschaft als drei gleichwertigen Typen von Sozialsystemen. Dieser gemeinsame Bezugspunkt ist durch einen hier erstmalig publizierten Text von Luhmann aus dem Jahr 1975 repräsentiert, der allen Autorinnen und Autoren vorgelegen hat. Die Luhmann'sche Ebenentrias ist der Ausgangspunkt, der Band ist aber nicht darauf beschränkt. Alle Beiträge setzen sich zwar mit ihr auseinander, sie tun dies aber auf verschiedene Weise und mit unterschiedlicher Akzentuierung, und sie gelangen zu teilweise abweichenden Antworten bis hin zu alternativen Ordnungsmodellen. Eine zweite Klammer, die den Band zusammenhält, ist deshalb die allgemeinere Frage, wie sich das weite Feld des Sozialen in seiner Vielgestaltigkeit soziologisch ordnen und aufeinander beziehen lässt. Die Soziologie hat seit ihren Anfängen versucht, die Vielfalt des Sozialen typologisch zu sortieren und die so gewonnenen Ordnungskategorien nach deren Erklärungsrelevanz zu gewichten. Sie hat das auf verschiedene Weise getan und ist doch oft bei Dualen gelandet: bei der Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, persönlichen und unpersönlichen Beziehungen, Individuum und Gesellschaft oder allgemeiner bei „Mikro" vs. „Makro". Mit seiner Unterscheidung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft hat sich Luhmann von den damaligen Ordnungsvorschlägen seines Faches abgrenzt. An die Stelle des Duals setzt er eine Dreierunterscheidung, und anstatt eines der drei Systeme als das primäre zu betrachten, geht er von Koexistenz aus. Interaktion, Organisation und Gesellschaft sind für ihn drei gleichwertige Bereiche des Sozialen und die mit ihnen assoziierten Theorien - Interaktions-,
Organisations- und (Welt-)Gesellschaftstheorie sind folglich ñzríz'íz/perspekriven, denen die gleiche explanative Dignität zukommt: Eine anspruchsvolle Erklärung des Sozialen erfordert ihre Kombination (Luhmann, in diesem Band: 7).
Luhmanns Systemtypologie: Diskontinuitäten Luhmanns Ebenenunterscheidung schließt zwar an den Diskussionskontext der Soziologie der Jahre vor und um 1970 an, sie bricht jedoch in verschiedener Hinsicht mit der Tradition. Vier Bruchstellen wollen wir im Folgenden kurz beschreiben. Interaktion statt Handlung. Die erste Revision betrifft die klassische Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft. An die Stelle des Individuums bzw. des individuellen Handelns setzt Luhmann Interaktion. Das „Individuum" ist bei ihm nicht mehr ein Element des Sozialen, sondern wird radikal aus ihm entfernt und seit „Soziale Systeme" (1984) dem „psychischen System" zugeordnet. Mit seiner Entscheidung, Interaktion als Grundbegriff in seine Typologie aufzunehmen, schließt Luhmann an eine paradigmatische Verschiebung an, die sich seit den späten 1960er Jahren anzukündigen beginnt: an die Auflösung des „orthodoxen Konsensus", der während drei Jahrzehnten durch Talcott Parsons und den Strukturfunktionalismus dominiert war, und an das Aufkommen bzw. die Wiederentdeckung von Theorien, die schon bald mit dem Etikett „interprétatives Paradigma" belegt wurden: die Sozialphänomenologie von Alfred Schütz, die Ethnomethodologie von Harold Garfinkel, die GofFmansche Interaktionstheorie und der symbolische Interaktionismus im Anschluss an George H. Mead.
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. IX—XVII
„Ebenen" und „Typen". Einzig die Rede von „Ebenen" - so auch im Titel des hier publizierten Textes von Luhmann - , lässt sich noch als Konzession an das herkömmliche Mikro/Makro-Denken lesen. Aber auch hier ist der Bruch präsenter als die Tradition. Luhmann spricht zwar gelegentlich von einer „unteren" und einer „oberen" Ebene und weckt damit Assoziationen an Asymmetrie und Hierarchie, aber Interaktion, Organisation und Gesellschaft werden von ihm nicht in ein Ableitungsverhältnis gesetzt, sondern als drei autonome und gleichwertige System typen verstanden. Auch die anfängliche Bezeichnung des Interaktionssystems als „einfach" (Luhmann 1972) oder als „elementar" (Luhmann, in diesem Band: 7) wird mit der Zeit fallen gelassen. Die drei Systemtypen sind zwar ineinander verschachtelt (s. unten) und zeichnen sich durch unterschiedliche Komplexität aus, aber die Tatsache, dass die Gesellschaft eine höhere Komplexität aufweist als die beiden anderen Sozialsysteme, impliziert nicht, dass ihr und der mit ihr assoziierten Theorie auch eine höhere Wertigkeit zukommt. Verschachtelung und Differenzierung. Luhmann konzipiert das Verhältnis zwischen den drei Systemtypen als irreduzible und gleichzeitig inklusive Hierarchie. „Jede Gesellschaft schließt eine Vielzahl von Interaktionen und gegebenenfalls eine Vielzahl von Organisationen ein. (...) Auch Organisationen und Interaktionen sind insofern gesellschaftliche Systeme, die Gesellschaft hört nicht etwa an ihren Grenzen auf" (Luhmann 1977: 277). Trotz dieser Inklusivität bleibt die Eigengesetzlichkeit der Systemtypen aber erhalten: die drei Systemtypen setzen sich zwar wechselseitig voraus, sie sind jedoch nicht aufeinander zurückführbar. Mit der Betonung der Autonomie und Gleichwertigkeit der drei Systemtypen grenzt sich Luhmann einerseits von der Mikro/Makro-Debatte ab, die je nach Theorielager die eine oder andere Seite privilegiert, aber auch vom Parsons'schen Prinzip, das Soziale als ineinander verschachtelte russische Puppe zu begreifen. Man dürfe sich den Gesamtaufbau der Gesellschaft „nicht nach Art des Systems chinesischer Kästchen vorstellen oder nach Art einer transitiven Hierarchie mit eindeutiger Zuordnung jedes Teilsystems zu einem und nur einem größeren System" (Luhmann, in diesem Band: 38). Statt auf Integration und transitive Ordnung setzt Luhmann auf Inklusivität und Differenzierung. Es geht nicht um Integration, etwa über gemeinsame Werte und Normen, sondern um Dissoziation, nicht um Einbettung, sondern, wenn man so will, um „disembedding". Luhmann will
nicht die Teile unter die Einheitsperspektive eines Ganzen bringen, sondern im Gegenteil Unvereinbarkeit und Divergenz hervorheben. Alle drei Systemtypen stehen für sich und funktionieren nach ihren eigenen Gesetzen. Das umfassende System gibt zwar die „strukturellen Prämissen" vor (Luhmann 1975: 22), das „eingeschlossene" System wird dadurch aber nicht determiniert. Historisierung statt Invarianz. Die Unterscheidung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft, also soziale Differenzierung, ist für Luhmann keine historische Konstante, sondern das Ergebnis eines sich über Jahrhunderte hinziehenden Ausdifferenzierungsprozesses, in dessen Verlauf sich die Ebenen gegeneinander verselbständigt haben und Organisation als neuer, „moderner" Systemtypus hinzu getreten ist. Die Historisierung der Systemdifferenzierung beinhaltet mehr als das bloß deskriptive Postulat einer zunehmenden Entkopplung von Interaktion und Gesellschaft und der Entstehung von (formaler) Organisation als einem eigenen Systemtypus. Ihre Pointe liegt darin, dass sie soziale Differenzierung und gesellschaftliche Differenzierung in ein wechselseitiges Steigerungsverhältnis setzt: Prozesse funktionaler Differenzierung (auf der Ebene von Rollen, Verfahren und institutionellen Komplexen) sind ein Anstoß für die Entkopplung von Interaktion und Gesellschaft und werden umgekehrt durch diese vorangetrieben. Hartmann Tyrell (2006) spricht deshalb von den „zweierlei Differenzierungen". Während die Unterscheidung von Interaktion und Gesellschaft noch mit der soziologischen Tradition kompatibel war (wenn auch nicht für Handlungstheoretiker), stellt die Einführung von Organisation als eigenständigem Systemtypus einen offenkundigen Einschnitt dar. Sie richtete sich einerseits gegen die Tendenz, die moderne Gesellschaft als Organisationsgesellschaft zu begreifen, und andererseits gegen einen absoluten, „totalisierenden" Gesellschaftsbegriff, wie er zu dieser Zeit besonders in Deutschland populär war. Anstatt die Moderne in Termini einer unentrinnbaren „Vergesellschaftung" zu begreifen, die sich alles andere unterwirft, bestand Luhmann darauf, auch die Gesellschaftstheorie „in ihre Schranken" zu verweisen: „Sie betrifft zwar das umfassende Ganze, muss aber erkennen, dass es niemals möglich ist, das Ganze ganz zu erforschen" (Luhmann 1975: 10). Luhmanns Typologie hatte den Vorteil, dass sie auf Konkordanz hin angelegt war und den unterschiedlichen Lagern eine Art schweizerische „Zauberformel" anbot. Denn aus der Annahme der Irreduzi-
Bettina Heintz & Hartmann Tyrell: Einleitung bilität der drei Systemebenen ließ sich folgern, dass keine Forschungsrichtung und auch kein Theorietypus einen Alleinvertretungsanspruch hat. Diese salomonische Lösung war vermutlich ein wesentlicher Grund dafür, weshalb die Ebenenunterscheidung relativ breit rezipiert wurde, allerdings eher auf der Ebene des „talks" und weniger auf der Ebene der soziologischen „action", der Forschung. Damit ließ sich leben, und wenn Kritik auftauchte, bezog sie sich weniger auf die Typologie selbst, sondern eher auf den Systembegriff oder auf die Annahme, dass Kommunikation und nicht Handlung die Basiseinheit des Sozialen bildet. Zum vergleichsweise freundlichen Umgang mit der Ebenentrias mochte auch beigetragen haben, dass sie forschungspragmatisch und nicht bloß theorietechnisch motiviert war. Sie hatte den Anspruch, den „drei wichtigsten Schwerpunkten soziologischer Forschung" Rechnung zu tragen: der Interaktionstheorie und der Theorie der symbolisch vermittelter Interaktion, der Organisationstheorie und der derzeit noch schwach ausgearbeiteten (Welt-)Gesellschaftstheorie (Luhmann 1975: 10). Aus diesem Grund war mit der Ebenentypologie auch kein Vollständigkeitsanspruch verknüpft. Aus Luhmanns Sicht waren auch weitere Systemtypen denkbar, vorausgesetzt, es ließen sich Prinzipien der Selbstselektion und Grenzziehung angeben, die die Autonomie des jeweiligen Systemtypus sichern. Seit den späten 1970er Jahren wurden eine Reihe von Kandidaten vorgeschlagen, die jedoch nicht auf die gleiche Resonanz stießen wie die ursprüngliche Trias: Gruppen (Neidhardt 1979; Tyrell 1983), Netzwerke (Bommes/Tacke 2 0 0 6 ) und von Luhmann selbst Protestbewegungen (Luhmann 1997: 847 ff.). Alle drei Vorschläge verstanden sich als Ergänzungen immanenter Art: das Grundprinzip der Typologie selbst wurde nicht infrage gestellt. Die Beiträge in diesem Band belegen, dass dies nicht mehr uneingeschränkt gilt. Luhmanns Kompromissformel scheint brüchig geworden zu sein. Zur Disposition steht nicht nur die Auswahl der Systemtypen, sondern die Gesamtarchitektur der Typologie und ihre differenzierungstheoretische Ausrichtung. Dafür mag es verschiedene Gründe geben. Ein möglicher Grund liegt darin, dass die Soziologie heute mit sozialen Phänomenen und sozialen „Arten" konfrontiert ist, die es vor vierzig Jahren noch nicht gab oder die in den damaligen Begriffsrastern keinen Platz hatten. Vor vierzig Jahren gab es noch kein Internet, keine Telekommunikation und keine Software-Agenten, Netzwerke wurden nicht systema-
XI tisch beobachtet und die Grenze zwischen Sozialem und Technischem war noch intakt. Gemeinsam ist vielen dieser neuen - oder neu entdeckten - Erscheinungen, dass sie teilweise weder Systemcharakter haben noch sich problemlos in Luhmanns Typologie fugen. Mit dem Aufschwung kulturwissenschaftlicher und poststrukturalistischer Ansätze wurden zudem neue Begriffe in die Soziologie eingeführt, die nicht nur den Grundbegriffen der Typologie Konkurrenz machen, sondern auch mit einem differenzierungstheoretischen Denken (welcher Provenienz auch immer) kaum mehr kompatibel sind: der Praxisbegriff verdrängt den Interaktionsbegriff und anstatt das soziale Geschehen differenzierungstheoretisch zu ordnen, wird die Überschreitung und Durchlässigkeit von Grenzen betont und in Begriffen wie „Transdifferenz", „Hybridität" und „boundary crossing" beschrieben. Grund genug, vierzig Jahre nach dem Erscheinen von Luhmanns ersten Texten zu fragen, wie es die (deutsche) Soziologie heute mit der Systemtypologie hält: Interaktion - Organisation - Gesellschaft revisited. Wird die Ebenentrias und ihre Architektonik weitergeführt oder wird sie grundsätzlich infrage gestellt und wodurch soll sie ersetzt werden? Was sieht man, wenn man die Ebenentrias als Heuristik nutzt? Und wo stößt sie auf Grenzen, wenn man sie einer empirischen Prüfung unterzieht, und wie sehen diese Grenzen aus? Wird die Dreierunterscheidung für ausreichend gehalten oder muss sie ergänzt werden? Und wie steht es mit den Grundbegriffen selbst? Werden die Definitionen, die Luhmann ihnen zugrunde gelegt hatte, weiterhin akzeptiert oder zeichnet sich ein neues Verständnis von Interaktion oder Organisation oder Gesellschaft ab?
Ebenendifferenzierung revisited: Übersicht über die Beiträge dieses Bandes Den Auftakt des Bandes macht ein Manuskript von Niklas Luhmann aus dem Jahr 1975, das hier erstmalig publiziert wird. Es stammt aus einem frühen, sehr umfangreichen Textentwurf zu seiner Gesellschaftstheorie, die erst 1997 als „Gesellschaft der Gesellschaft" veröffentlicht wurde (Luhmann 1997). Dem Text ist eine editorische Notiz von Johannes Schmidt vorangestellt, die das Manuskript werkhistorisch verortet. Die anschließenden Beiträge sind in vier Teile geordnet, die wir nachfolgend kurz vorstellen.
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I. Ebenenunterscheidung
in der (kritischen) Diskus-
sion. Im ersten Teil des Bandes wird die Systemtypologie einer theoretischen Prüfung unterzogen und mit Alternativen konfrontiert. Die Beiträge beleuchten, kritisieren oder erweitern die Ebenendifferenzierung aus unterschiedlichen Perspektiven. Sie verstehen sich teilweise als eine Fortführung der Gedanken von Luhmann, teilweise aber auch als Absage an Luhmanns Grundbegrifflichkeit und seine Ebenenarchitektur generell. Thomas Schwinn argumentiert von einer handlungstheoretischen Position aus und stellt nicht nur den Luhmann'schen Gesellschaftsbegriff infrage, sondern bezweifelt auch den praktischen Wert der Ebenentrias für die empirische Forschung und ihren Nutzen für das Verständnis vormoderner Gesellschaften. Ein weiterer Vorwurf, den er an die Ebenenunterscheidung richtet, betrifft die Starrheit des Dreierschemas, die es schwierig mache, andere soziale Gebilde einzuordnen. Diesen Vorwurf nimmt Stefan Kühl in seinem Beitrag in gewisser Weise auf. Er schlägt vor, auf der „mittleren" Systemebene, auf der Luhmann Organisationen platziert hatte, mehrere Systeme zu unterscheiden, neben Organisationen auch Gruppen, Familien und Bewegungen. Alle verfügen zwar über Mitgliedschaftsrollen, aber sie handhaben Mitgliedschaft auf unterschiedliche Weise. Der Aufsatz
von Wolfgang Ludwig Schneider hat alle drei Ebenen im Blick. Ausgangspunkt ist Michel Serres' Figur des „Parasiten", die von Schneider an die Systemtheorie angeschlossen und theoretisch generalisiert wird. Schneider nutzt das Konzept des Parasiten als Sonde, um auf allen drei Systemebenen strukturanaloge „Störungen" in Form von konfligierenden Kommunikationserwartungen zu identifizieren. Der Beitrag untersucht, unter welchen Bedingungen sich an diesen Strukturstellen „Parasiten" ansiedeln, etwa in Gestalt von Konfliktsystemen oder korruptiven Netzwerken, und welche Folgen sie für die Systemdifferenzierung haben. Aus einer ganz anderen Richtung argumentiert der Beitrag von Stefan Hirschauer. Sein Bezugspunkt sind neuere, vorwiegend mikrosoziologische Theorieansätze, die das Problem der Inter-Situationalität ins Zentrum rücken und damit die Frage, wie und worüber sich konkrete Einzelsituationen zu größeren Gebilden verbinden. Mit ihrer Fokussierung auf Konnektivität (statt auf Differenzierung) präsentieren „intersituationistische" Ansätze eine Theorieperspektive, die nicht nur in deutlichem Gegensatz zu Luhmanns Denken steht, sondern auch die konventionelle Mikro/Makro-Dichotomie unterläuft. Den ersten Teil
beschließt ein Beitrag von Jens Greve, der die Ebe-
nenunterscheidung zu James Colemans Theorie der rationalen Wahl in Beziehung setzt. Indem er die beiden Theorien ineinander spiegelt, lässt er auf beiden Seiten Einseitigkeiten und Unzulänglichkeiten erkennen.
II. Historische Perspektiven. Thomas Schwinn bezweifelt in seinem Beitrag den analytischen Wert der Ebenenunterscheidung für das Verständnis vormoderner Gesellschaften. Die im zweiten Teil versammelten Beiträge machen deutlich, dass der Vorwurf in dieser Form nicht zu halten ist. Es waren in jüngster Zeit vor allem Historikerinnen und Historiker der Frühen Neuzeit, die in materialreichen Studien nachgewiesen haben, wie fruchtbar es ist, den Ubergang zur Moderne als Ineinandergreifen von funktionaler und Ebenendifferenzierung zu begreifen (Hengerer 2007; Schlögl 2008, 2014; Stollberg-Rilinger/Krischer 2010). In diesem Band sind diese Studien durch die Beiträge von Rudolf Schlögl und André Krischer repräsentiert. Ausgehend von der Annahme, dass Raum und Zeit irreduzible Größen sind, untersucht Rudolf Schlögl ihr Verhältnis am Beispiel der frühmodernen Gesellschaft. Unter der Bedingung einer Vergesellschaftung unter Anwesenden, wie sie für die frühmoderne Gesellschaft typisch war, kam dem Raum eine zentrale Rolle als Interdependenzunterbrecher zu. Der Beitrag macht deutlich, wie sehr funktionale und soziale Differenzierung miteinander verschränkt sind und in welchem Ausmaß beide Differenzierungsprozesse auf die Separierungsleistung von Raumgrenzen angewiesen waren. Auch der Beitrag von André Krischer befasst sich mit Differenzierungsprozessen in interaktionsnah gebauten Gesellschaften. Sein Beispiel ist die Herausbildung des modernen Gerichtsverfahrens und die damit einhergehende „Zähmung" der Interaktion vor Gericht. Der Aufsatz veranschaulicht am Beispiel englischer Hochverratsprozesse vom Spätmittelalter bis 1800, wie sich die Transformation von einem das gesamte Verfahren absorbierenden Streit in eine „erlaubte" und zeitlich begrenzte Konfliktepisode vollzog. Der Beitrag geht der Frage nach, auf welche Weise der Gestaltwandel der Gerichtsinteraktion mit der Ausdifferenzierung des Rechtssystems zusammenhing und weshalb im Rechtssystem nicht auf organisiertes Entscheiden umgestellt, sondern an interaktionsförmigen Verfahren festgehalten wurde. Eingeleitet wird dieser zweite Teil durch einen Beitrag von Michael Kauppert und Hartmann Tyrell, in dem sie zeigen, dass Luhmanns Typologie in die alteuropäische Selbstreflexion des Gesellschaftssystems eingebettet ist. Während es die
Bettina Heintz & Hartmann Tyrell: Einleitung
maßgeblich durch Aristoteles bestimmte Tradition der politischen Definition von Gesellschaft ist, der Luhmann das inklusive Moment einer Differenzierung des Sozialen nach Ebenen entlehne, sei es das im 18. Jahrhundert einsetzende Nachdenken über Gesellschaft, dem Luhmann wiederum die Vorstellung abgewinne, dass soziale Systeme durch gesellschaftliche Evolution auf verschiedene Ebenen auseinandergezogen werden und zueinander in einem umgekehrten Verhältnis stehen. III. Interaktion, Organisation — und Weltgesellschafi. Bereits in seinen frühen Aufsätzen zur Systemtypologie hat Luhmann Gesellschaft als „Wf/igesellschaft" verstanden, dies aber nicht weiter ausgeführt. Die Beiträge des dritten Teils untersuchen, welche theoretischen und empirischen Folgen es hat, wenn man die Ebenenunterscheidung konsequent in einem weltgesellschaftstheoretischen Rahmen verortet. Bettina Heintz setzt bei der Interaktion an und argumentiert, dass die Kommunikation unter Anwesenden ein unverzichtbarer Mechanismus globaler Strukturbildung ist. Der Aufsatz zeigt am Beispiel von UN-Weltkonferenzen und der Erarbeitung von UN-Konventionen, wie eine interaktionstheoretische Erweiterung der Weltgesellschaftstheorie aussehen könnte. Demgegenüber steht im Beitrag von Tobias Werron die Kommunikation unter Abwesenden im Vordergrund. Der Fokus liegt auf der durch Telekommunikationstechnologien (von der Télégraphié bis hin zu elektronischen Technologien) ermöglichten „Fernsynchronisation" und ihrem Vermögen, Gleichzeitigkeit trotz fehlender Gleichörtlichkeit herzustellen. Der Beitrag argumentiert, dass die durch Telekommunikation möglich gemachte Trennung und Rekombination unterschiedlicher Formen von Gleichzeitigkeit seit Mitte des 19. Jahrhunderts neuartige Globalisierungsdynamiken freigesetzt habe. Bettina Mahlert zeigt am Beispiel von Selbsthilfekollektiven (Sparzirkeln, Schwesternschaften und Migrantenassoziationen), dass der Luhmann'sche KompaktbegrifF der „Organisation" nicht ausreicht, um diesen sozialen Gebilden Rechnung zu tragen. Sie greift damit ein Problem auf, das bereits im Beitrag von Stefan Kühl thematisiert wurde, stellt es aber in einen weltgesellschaftlichen Kontext. Den Abschluss macht ein Beitrag von Martin Petzke, der am Beispiel der Weltmission des pfingstlich-evangelikalen Christentums darlegt, wie sich das Ineinandergreifen von funktionaler und sozialer Differenzierung auf der Ebene der Weltgesellschaft konzeptualisieren lässt.
XIII IV. Die Ebenenunterscheidung im empirischen Test. Im vierten Teil wird die Ebenenunterscheidung einer empirischen Prüfung unterzogen. Die Beiträge zeigen anhand verschiedener Fallstudien, welchen heuristischen Wert die Ebenentrias hat und wo sie auf Grenzen stößt. Den Auftakt macht ein Beitrag von Christan Meyer, der anhand kulturvergleichender und mediensoziologischer Forschungen die kulturelle Partikularität des klassischen Interaktionsbegriffs aufzeigt und dafür plädiert, ihn von seiner Fixierung auf sehendes Wahrnehmen zu lösen sowie um Varianten zu erweitern, in denen es keine eindeutigen Kommunikationsadressen gibt. Die generelle Anwendbarkeit des Interaktionsbegriffs wird auch von Marion Müller infrage gestellt. Anhand ethnographischer Beobachtungen aus dem Bereich des Profifußballs demonstriert sie den heuristischen Wert, aber auch die Grenzen eines interaktionstheoretischen Zugangs und vergleicht ihn mit praxistheoretischen Ansätzen. Auf der Basis einer mikrosoziologischen Analyse des sozialen und sportlichen Geschehens auf dem Fußballplatz belegt der Beitrag, dass beide Perspektiven nur bestimmte Aspekte zu erfassen vermögen und es sich deshalb anbietet, sie als komplementäre Sichtweisen zu begreifen, anstatt sie gegeneinander auszuspielen. Auch der Beitrag von Thomas Scheffer prüft Luhmanns Ebenenunterscheidung aus einer praxistheoretischen Perspektive. Dies geschieht anhand einer ethnographischen Fallstudie zur Erarbeitung politischer Sachpositionen in Abgeordnetenbüros des Deutschen Bundestages. Der Beitrag schließt in gewissem Sinne an Luhmanns „operative" Fassung der Systemtheorie an, lässt es dabei aber nicht bewenden, sondern stellt im Einzelnen dar, welchen ständigen interaktiven und organisatorischen Aufwand die Herstellung von Sachpositionen und Entscheidungen erfordert. Damit leuchtet der Beitrag eine Realität aus, die gewissermaßen „unterhalb" funktionsspezifischer Kommunikation liegt. Es geht um die Rekonstruktion des komplexen Fabrikationsprozesses, der am Ende - vielleicht - zu einer politischen Entscheidung führt. Der Beitrag von Herbert Kalthoff und Sonja Köllner geht von einer ähnlichen theoretischen Perspektive aus, exemplifiziert sie aber am Beispiel der Entwicklung eines Finanzproduktes und der Risikobewertung von Investitionen. Ähnlich wie der Aufsatz von Thomas Scheffer interessiert sich der Beitrag für jene sozialen Prozesse, die der Kommunikationsebene vorgelagert sind, auf der die Systemtheorie ihre „Letztelemente" verortet. Er untersucht, wie diese Letztelemente, in diesem Fall Zahlungsund Entscheidungskommunikationen, hergestellt
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und dargestellt werden, und plädiert dafür, nicht die Trennung, sondern die Überschneidungen und Verknüpfungen der Systemebenen in den Mittelpunkt zu stellen. Ein ähnliches Vorhaben verfolgt auch Hendrik Vollmer. Auch er legt den Fokus auf die Situativität des Handelns und die Verschränkung der Systemebenen. Am Beispiel der Stressentstehung und Stressbewältigung in Organisationen zeigt der Beitrag, dass Interaktionsteilnehmer je nach Situation auf (formale) Organisationserwartungen oder auf (informale) Interaktionsregeln rekurrieren und in ihren Orientierungen ständig zwischen diesen beiden Ebenen wechseln. Im praktischen Vollzug der Stressbewältigung kollabieren die Ebenen - das Soziale wird, wie es Bruno Latour (2007) formulierte, „flach". Auch im Beitrag von Christine Weinbach geht es um die Verschränkung von funktionalen und organisatorischen Ordnungsvorgaben und deren Aktualisierung im interaktiven Verlauf. Die empirische Basis ist eine Konversationsanalyse von Beratungsgesprächen in einer örtlichen Arbeitsagentur. Im Gegensatz zu Hendrik Vollmer argumentiert sie jedoch nicht für eine „Ebenerdigkeit" (Vollmer in diesem Band) des Sozialen, sondern hält die Ebenendifferenzierung intakt und untersucht, wie die gesetzliche Vorgabe der „Eingliederungsvereinbarung" verhandelt und im Verlaufe des Gesprächs in eine personal zurechenbare Verhaltenserwartung transformiert wird.
Diskussionslinien Insgesamt dokumentieren die in diesem Band gesammelten Beiträge, dass es auch heute noch lohnenswert ist, sich mit Luhmanns Ebenentrias auseinanderzusetzen. Auch wenn unter den Autorinnen und Autoren keine Einmütigkeit über deren Tragfähigkeit besteht, belegt der Band doch, dass die Systemtypologie nach wie vor eine fruchtbare Inspirationsquelle ist, sei es für weiterführende Präzisierungen und Differenzierungen, sei es als Ausgangspunkt für neue Ordnungsvorschläge. Einige Autorinnen und Autoren nutzen sie als Leitlinie für ihre theoretischen Überlegungen oder empirischen Analysen und belegen auf diese Weise, dass die Systemtypologie ein leistungsfähiges Denkwerkzeug geblieben ist, mit dem sich empirisch Anderes und auch Neues sehen lässt. Anderen Autoren und Autorinnen dient sie als eine Art Negativfolie, von der sie sich abgrenzen und zu der sie alternative Ordnungsvorschläge formulieren. Beide Positionen sind gleichermaßen weiterführend, insbesondere auch in
ihrer Zusammenschau. Denn sie belegen nicht nur die Produktivität des Ebenenmodells, sondern geben in ihrer Gegensätzlichkeit auch Aufschluss über aktuelle Theorieentwicklungen und Debatten in der Soziologie. Drei Debatten, die sich aus den Beiträgen ablesen lassen, möchten wir zum Abschluss noch kurz ansprechen. Differenzierung oder Vermischung? Luhmanns Systemtypologie beruht auf der Annahme, dass sich Interaktion, Organisation und Gesellschaft unzweideutig voneinander unterscheiden und sich die meisten sozialen Systeme einem der drei Systemtypen zuordnen lassen, jedenfalls in der modernen Gesellschaft, so wie sie Luhmann vor Augen hatte. Während einige Autorinnen und Autoren an dieser Unzweideutigkeitsannahme festhalten und höchstens die Vollständigkeit der Typologie infrage stellen, kritisieren andere die Ebenendifferenzierung als Ausdruck einer Art systemtheoretischen Reinigungswut: Anstatt Ambivalentes, Hybrides und Transversales zuzulassen, ordne sie die soziale Wirklichkeit in vordefinierte Begriffskästchen ein und tendiere dazu, diese als Realentitäten zu begreifen. Die Forderung, dem „Dazwischen" mehr Raum zu geben, verweist auf die gegenwärtige Konjunktur kultursoziologischer Ansätze. Trotz ihrer Heterogenität teilen diese eine Reihe von Prämissen: die Hervorhebung der Bedeutung von Materialität und Medialität, eine Präferenz für Praxis anstelle von Handlung (oder Kommunikation) und ein Faible für das Grenzüberschreitende, das Ambigue und Vermischte. Diese theoretische Präferenzordnung bringt kulturwissenschaftliche Ansätze in eine deutliche Gegenposition zu Luhmanns radikal differenzierungstheoretischem Denken, zumindest auf den ersten Blick. Wo Kulturwissenschaftler Permeabilität und „Transdifferenz" sehen, eine Begrifflichkeit, die für Systemtheoretiker ein „no go" ist, sieht Luhmann Differenz und Entkopplung. Das Gewicht, das Luhmann Unterschieden und Interdependenzunterbrechungen bemisst, wird in seiner "Theorie sozialer Differenzierung besonders deutlich. Mit der These, dass die drei Systemtypen autonom sind und nach je eigenen Gesetzen funktionieren, wendet er sich nicht nur gegen Versuche, das Soziale unter eine Einheitsperspektive zu bringen (vgl. S. X) sondern, gleichsam antizipatorisch, auch gegen den Trend, die Überschreitung und Durchlässigkeit von Grenzen in den Mittelpunkt zu stellen. Insofern sind die Meinungsunterschiede, die sich in diesem Band an der Ebenentrias entzünden, auch Ausdruck einer
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tieferliegenden Differenz, die insbesondere den Status der Differenzierungstheorie betrifft. Allerdings ist die Diagnose einer grundlegenden paradigmatischen Differenz partiell auch zu relativieren, denn auf den zweiten Blick lassen sich auch Ubereinstimmungen erkennen, die in der Rezeption gerne untergehen. Luhmann geht zwar von Systemgrenzen und Entkopplung aus und benennt allgemeine Prinzipien der jeweiligen Grenzziehung, aber diese Grenzen stehen nicht ein für allemal fest, sondern müssen permanent erzeugt und stabilisiert werden. Wer zu einem Interaktionssystem gehört, kann sich im Prinzip von Minute zu Minute ändern. Dasselbe, wenn auch mit längeren Fristen, gilt auch für Organisation und Gesellschaft. Spätestens seit der sog. „autopoietischen Wende" definiert Luhmann diese Grenzen explizit als Kommunikationsgrenzen und begreift Kommunikationen als zeitfixierte „Operationen", als kurzlebige Ereignisse, die wieder verschwinden, sobald sie eingetreten sind. O b sich Kommunikationen dauerhaft zu rekursiven Zusammenhängen verketten und dadurch stabile Grenzbildungen ermöglichen, ist deshalb zunächst einmal eine offene Frage. Es sind Zusatzbedingungen erforderlich, die gegeben sein können oder auch nicht. Organisationen können sich auflösen und in einzelne Interaktionssysteme zerfallen, funktionale Differenzierung kann, wie historische Beispiele belegen, auch rückgängig gemacht werden, und die Tatsache, dass es heute nur eine Weltgesellschaft gibt, ist historisch kontingent. Die Systemtheorie neigt zwar dazu, die Existenz von Grenzen zu unterstellen, und hat sich mit dem konkreten „boundary making (Lamont/ Molnar 2002) - und erst recht mit dem „boundary «»making" (Hirschauer 2014) — empirisch nur wenig befasst, das ändert aber nichts daran, dass in dieser Hinsicht Anschlusspunkte bestehen und die Differenz vielleicht doch nicht so groß ist, wie von beiden Seiten deklariert.
Ebenenunterscheidung oder „Ebenerdigkeit" des Sozialen? Luhmann hat wahlweise von „Systemdifferenzierung" oder von „Ebenenunterscheidung" gesprochen. Diese terminologische Uneindeutigkeit suggeriert, dass es sich bei der „Ebenenunterscheidung" um eine hierarchische Ordnung handelt, ähnlich wie bei der Mikro/Makro-Differenz: Gesellschaft ist „oben", Interaktion „unten" und Organisation „in der Mitte", und das Untere ist durch das Obere bestimmt. Entgegen dieser Begrifflichkeit steht für Luhmann aber die Eigengesetzlichkeit der drei
XV Systemtypen im Zentrum, der Unterschied liegt in ihrem Komplexitätsgrad. Während einige Autoren und Autorinnen Luhmann folgen und höchstens monieren, dass das zahlenmäßig „Kleine" in seiner gesellschaftlichen Bedeutung keineswegs „klein" sein muss, interpretieren andere die Ebenentrias als ein hierarchisches Verhältnis und setzen ihr die Auffassung einer „Ebenerdigkeit" des Sozialen entgegen. Der theoretische Bezugspunkt ist Bruno Latours Akteur-Netzwerktheorie und seine Losung, dass „das Soziale flach zu halten" sei (Latour 2007: 2 8 6 ff.). In Verbindung mit praxistheoretischen Ansätzen stellt die Akteur-Netzwerktheorie in den letzten Jahren eine breit rezipierte Alternative zu Positionen dar, die in der Soziologie gewöhnlich unter dem Begriff „Mikro/Makro-Debatte" oder „Emergenz und Reduktion" verhandelt werden (Heintz 2004). Mehrere Beiträge in diesem Band grenzen sich explizit von dieser Tradition ab, der sie auch Luhmanns Ebenentrias zurechnen. Der empirische Ausgangspunkt ist die Situativität des Handelns und die Leitfrage ist die, auf welche Weise sich Situationen zu größeren, aber dennoch „flachen" Gebilden vernetzen und wie die Handelnden selbst in solchen „eingebetteten" Situationen mit unterschiedlichen Systemerwartungen umgehen. Aus dieser Perspektive gerät die Ebenenunterscheidung doppelt unter Kritik. Zum einen wird ihr entgegengehalten, dass der entscheidende Punkt nicht die Unterscheidung, sondern die Verknüpfung sei: Konnektivität statt Differenzierung. Zum andern wird argumentiert, dass die Unterscheidung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft erst (und nur) durch ihren praktischen Vollzug im alltäglichen Handeln zur Geltung gebracht werde - und folglich auch eingezogen werden kann. Auch hier wäre zu fragen, ob die beiden Sichtweisen tatsächlich so gegensätzlich sind, wie von ihren Verfechtern behauptet. Aus Sicht der systemtheoretischen Autoren wäre den an Bruno Latour und der Praxistheorie geschulten Vertretern zweierlei entgegenzuhalten. Zum einen: Luhmann spricht zwar von „Ebenen" und gelegentlich auch von „oben" und „unten", entscheidend ist aber, dass er die drei Systemtypen als eigenständige Gebilde begreift und sie in ein horizontales - und damit, wenn man so will: in ein „ebenerdiges" - Verhältnis setzt. „Ebenerdig" insofern, als alle drei Systeme ihr Eigenrecht haben und sie nicht aufeinander zurückführbar sind. Zum anderen: im Gegensatz zur gesellschaftlichen Differenzierung begreift Luhmann soziale Differenzierung als ein inklusives Verhältnis: Interaktion und Organisation sind in der
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Gesellschaft enthalten, und umgekehrt vollzieht sich Gesellschaft in jeder Interaktion und jeder Organisation (vgl. S. X). Auch für Luhmann kommt alles gleichzeitig zum Ausdruck, nur ist damit nicht Entdifferenzierung impliziert: Gleichzeitiger Vollzug und Aufrechterhaltung der Systemgrenzen schließen sich nicht aus. Umgekehrt wäre der Systemtheorie entgegenzuhalten, dass die von ihr reklamierte Operativität oft nur behauptet, aber empirisch nicht ausgeführt wird, und sie damit selbst zu den genannten Vorwürfen beiträgt. Dieser Eindruck wird auch dadurch verstärkt, dass die Theorie funktionaler Differenzierung ihre sog. „Letztelemente" — Zahlungen, Publikationen, politische Entscheidungen auf einer hohen Aggregationsebene verortet und den Prozessen, die diesen Letztelementen vorgelagert sind und zu deren Konstitution beitragen, kaum Beachtung schenkt. Wie die Beiträge in Teil IV deutlich machen, sind es aber gerade diese vorgelagerten Prozesse, für die sich mikrosoziologische und praxistheoretische Autorinnen und Autoren besonders interessieren. Insofern läge genau an dieser Stelle ein weiterer Berührungspunkt und auch ein Potential für Arbeitsteilung «»^Kooperation. Interaktion versus Telekommunikation? Eine dritte Debatte, die sich aus den Beiträgen herauslesen lässt, betrifft den Begriff der Interaktion und damit einen Grundpfeiler der Typologie. Während der von Luhmann verwendete Organisationsbegriff und seine Definition von Gesellschaft kaum in Frage gestellt werden, wird der Interaktionsbegriff auffallend kontrovers diskutiert. Zur Disposition steht nicht nur die klassische Bindung von Interaktion an Kopräsenz, zur Disposition steht auch sein Universalitätsanspruch und seine Brauchbarkeit als kleinste Einheit. Entsprechend breit sind die Alternativen, die in den Beiträgen erörtert werden. Einige Beiträge plädieren dafür, den Interaktions- durch den Praxisbegriff zu ersetzen oder mindestens zu ergänzen, andere halten zwar am Interaktionsbegriff fest, kritisieren aber seine (implizite) Fokussierung auf sehendes Wahrnehmen sowie die Luhmann'sche Annahme eindeutiger Systemgrenzen, und eine dritte Gruppe argumentiert für eine Ablösung des Interaktionsbegriffs vom Kriterium der Gleichörtlichkeit. Luhmann hatte sich in seiner Definition eng an die Goffman'schen Vorgaben gehalten und Interaktion über wechselseitige reflexive Wahrnehmung unter der Bedingung von Kopräsenz definiert: „Interaktionssysteme entstehen, sobald mehrere Personen gemeinsam anwesend sind und
einander erkennen. Konstitutionsbedingung ist das Erscheinen im wechselseitigen Wahrnehmungsfeld" (Luhmann, in diesem Band: 7). Während einige Autoren und Autorinnen am klassischen Interaktionsbegriff festhalten, plädieren andere dafür, angesichts der Verfügbarkeit von Telekommunikation Interaktivität nur noch an reflexiver Ko-Temporalität festzumachen: Gleichzeitigkeit und eine über Medien sichtbar gemachte wechselseitige Bezugnahme reiche aus, um Interaktionsverhältnisse entstehen zu lassen. Diese Verallgemeinerung untergräbt das Fundament des klassischen Interaktionsbegriffs und damit auch die Luhmann'sche Typologie. Denn für Goffman wie auch für Luhmann ergab sich die Besonderheit von Interaktion aus der sinnlichen Komplexität der Reflexivitätsverhältnisse: der wechselseitigen Wahrnehmung der Wahrnehmung des Anderen auf die eigene Wahrnehmung und auf die gemeinsam wahrgenommene Außenwelt. Entfällt diese Wahrnehmungskonstellation, lösen sich auch die Strukturbesonderheiten auf, über die Luhmann Interaktionssysteme von Organisation und Gesellschaft abgrenzte. Die lebhafte Diskussion um den Interaktionsbegriff zeigt exemplarisch, dass Luhmanns Systemtypologie nicht für die Ewigkeit gebaut ist - und auch nicht gebaut sein wollte. Sie hatte den Anspruch, an die damaligen Forschungsschwerpunkte anzuschließen und sie unter Rückgriff auf die Systemtheorie auf einem abstrakteren Niveau zu rekonstruieren und zueinander in Beziehung zu setzen. Während Luhmanns Verständnis von „Gesellschaft" als „Weltgesellschaft" damals noch befremdlich war, ist der Begriff heute breit verankert, innerhalb der Soziologie wie außerhalb. Ganz anders beim Interaktionsbegriff. Vor vierzig Jahren wurde Goffmans Interaktionsbegriff noch fraglos akzeptiert, heute hat er diese Selbstverständlichkeit verloren. Nur der Organisationsbegriff blieb einigermaßen stabil, auch wenn ihm mit dem Netzwerkbegriff eine teils alternative, teils komplementäre Perspektive zur Seite gestellt wurde. Luhmann hat die Systemdifferenzierung das Auseinanderziehen der drei Systemebenen — als eine evolutionäre Errungenschaft betrachtet und sie insofern mit einem historischen Index versehen. Die in diesem Band versammelten Aufsätze belegen, dass einige theoretische und empirische Prämissen, die Luhmann vor vierzig Jahren als gegeben annehmen konnte, heute nicht (mehr) einmütig geteilt werden. Es sind andere Forschungsschwerpunkte und neue Theorieperspektiven hinzugekommen, mit denen sich nicht nur die Systemtypologie, son-
Bettina Heintz & Hartmann Tyrell: Einleitung d e m das Fach insgesamt auseinanderzusetzen hat. Die Beiträge belegen in ihrer Zusammenschau, dass weder Radikaldistanzierung noch starres Festhalten an Luhmanns Ordnungsvorschlag eine sonderlich produktive Lösung ist. Die Überhöhung der eigenen Position m a g zwar gewisse Distinktionsgewinne einbringen, verpasst aber potentielle Anschlussmöglichkeiten. Insofern ist Luhmanns auf den ersten Blick paradoxe Idee, den Z u s a m m e n h a n g des Faches durch Gewährung von Systemautonomie und Beschränkung theoretischer Allmachtsansprüche zu sichern, nach wie vor bedenkenswert. Der Band will dazu animieren, diese Idee zu nutzen und sie an veränderte Theorie- und Forschungskonstellationen anzupassen.
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Ausgangspunkt
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft, 2014, S. 3-5
Editorische Anmerkungen zu Niklas Luhmanns Manuskript „Ebenen der Systembiidung - Ebenendifferenzierung" Johannes F. K. Schmidt Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld, PF 100 131, 33501 Bielefeld [email protected]
Editorische Vorbemerkungen Niklas Luhmann hat das Projekt einer Gesellschaftstheorie, das 1997 mit der Publikation „Die Gesellschaft der Gesellschaft" abgeschlossen wurde, bekanntlich schon seit seiner Berufung an die Universität Bielefeld im Jahr 1968 betrieben (s. Luhmann 1997, 11 f.). In seinem wissenschaftlichen Nachlass findet man eine Vielzahl umfangreicher Textentwürfe, die vier verschiedenen Anläufen zu einer entsprechenden Publikation zugeordnet werden können, welche in den Jahren 1965-68, 197275, 1983-90 und 1989-90 entstanden sind. 1 Der Vergleich der verschiedenen Versionen der Gesellschaftstheorie macht dabei deutlich, dass trotz der Veränderungen der grundlegenden Sozialtheorie seit den 1960er Jahren die prinzipielle Konzeption der Gesellschaftstheorie in Form der Kombination einer Kommunikations-, Evolutions- und Differenzierungstheorie sowie einem abschließenden Kapitel zur Selbstthematisierung der Gesellschaft durchgehalten worden ist. Das Manuskript aus den 1970er Jahren unterscheidet sich allerdings in einer Hinsicht deutlich von den übrigen Entwürfen. In seiner umfangreichsten Fassung 2 stehen nämlich am Beginn zwei Texte, die sich so in den späteren Versionen der Gesellschaftstheorie nicht mehr finden. Der Einstieg erfolgt über einen mit „Soziale Systeme" überschriebenen „Teil 1", der zwei Kapitel mit insgesamt 135 Manuskriptseiten umfasst. Im ersten Kapitel werden Grundbegriffe einer allgemeinen Sys-
1 Von diesen Texten ist allein das letzte, das sog. ,San Foca'-Manuskript in einer revidierten und ins Italienische übertragenen Fassung (1992) veröffentlicht worden. 2 Es liegen im Nachlass zwei Fassungen dieser Version der Gesellschaftstheorie vor, die zwischen 1972 und 1975 entstanden sein dürften: Ein 720 Seiten umfassendes, durchpaginiertes, aus 5 Kapiteln bestehendes Manuskript sowie eine deutlich umfangreichere Fassung, die aus insgesamt 7 Teilen mit nahezu 1000 Seiten besteht.
temtheorie vorgestellt, die die Bedingungen der Systembildung präzisieren. Behandelt werden hier u. a. die systemtheoretischen Grundbegriffe Komplexität, Prozeß und Struktur, System und Umwelt sowie Interpénétration. Im zweiten Kapitel werden dann auf einer bereits konkreteren Ebene die Grundzüge einer Theorie sozialer Systeme entwickelt; hier finden sich Abschnitte u.a. zum Sinn-, Kontingenz- und Handlungsbegriff, zur Differenzierung von Wert, Programm, Rolle, Person, zur Moral und zur Generalisierung von Verhaltenserwartungen, zur Abgrenzung von der Umwelt, zum Kommunikations-, Konflikt- und Reflexivitätsbegriff. Schon diese Aufzählung macht deutlich, dass es sich bei diesem Text ganz offensichtlich u m den Kern dessen handelt, was Luhmann 1984 in der eigenständigen Publikation über soziale Systeme ausarbeiten wird und in der schließlich publizierten Fassung der Gesellschaftstheorie auch deshalb als dessen „Einleitungskapitel" (1997, 11) bezeichnet. Während diese Überlegungen also im Rahmen der weiteren Theorieentwicklung zwar aus der eigentlichen Gesellschaftstheorie ausgelagert, aber dabei noch ausgebaut und prominent platziert wurden, gilt dies nicht für den mit „Teil 2" überschriebenen, 81 Manuskriptseiten umfassenden Text mit dem Titel „Ebenen der Systembildung — Ebenendifferenzierung", der hier erstmals abgedruckt wird. 3 In dieser Abteilung wird gezeigt, dass die im ersten Teil identifizierten Probleme zur Ausbildung unterschiedlicher Typen sozialer Systeme führen, so dass deren Behandlung noch vor der eigentlichen Gesellschaftstheorie erfolgen muss, da sich diese dann auf einen spezifischen Fall von Systembildung konzentriert. Deshalb dienen beide Teile zusammen, so formuliert 3
Das Manuskript wird hier bis auf die Streichung einiger Querverweise auf andere Kapitel der Gesellschaftstheorie so abgedruckt, wie es im Nachlass vorliegt. Im Folgenden genannte Seitenzahlen ohne Jahresnennung beziehen sich auf den Abdruck dieses Textes.
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es Luhmann am Beginn des ersten Teils, „der gestuften Einführung in das Thema: Gesellschaftstheorie" (1975a, 3), indem sie eine zunehmende Konkretisierung der Analyseebene vornehmen: von einer allgemeinen Systemtheorie über eine Theorie sozialer Systeme hin zur Gesellschaftstheorie. Die Überlegungen zur Unterscheidung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft (wie die Theorie sozialer Systeme) als eine Art Vorrede zur Gesellschaftstheorie zu konzipieren, da sie „in einen höher abstrahierten Bezugsrahmen gehören" (1975a, 3), hat Luhmann in den folgenden Versionen dann aber nicht mehr aufrechterhalten. Vielmehr hat er die unterschiedlichen Möglichkeiten der Systembildung später nur noch als einen Unterpunkt des Differenzierungskapitels der Gesellschaftstheorie selbst behandelt (s. 1997, 812 ff., 826 ff.).4 Mit dieser eindeutig nachgelagerten Erörterung ging eine deutlich verminderte gesellschaftstheoretische Aufmerksamkeit für die Ebenendifferenz der Systembildung selbst einher - sowohl im Rahmen der allgemeinen Gesellschaftstheorie (1997) wie auch in seiner Ausarbeitung für die verschiedenen Funktionssysteme seit 1988. Dass dies in den Frühwerken Luhmanns aus den 1960er Jahren, also noch vor dem ersten Entwurf einer Gesellschaftstheorie, noch anders war und man dort mit einer gewissen Berechtigung von einer Gleichrangigkeit beider Differenzierungskonzepte sprechen konnte, hat bereits Hartmann Tyrell (2006) herausgestellt. Ende der 1960er Jahre kam es dann zunächst zu einer verstärkten Aufmerksamkeit für das Theorem der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, bis Mitte der 1970er Jahre folgte eine vertiefte Beschäftigung mit dem Konzept der sozialen Differenzierung. Niedergeschlagen hat sich letzteres in einer Reihe von Beiträgen, an prominentester Stelle in einem die Systemtypologie bereits im Titel führenden Aufsatz von 1975. Allerdings argumentiert dieser auf einen Vortrag zurückge-
In dem die später publizierte Gesellschaftstheorie einleitenden Kapitel „Gesellschaft als soziales System" (1997, 16 f.) findet sich zur Ebenendifferenzierung nur eine rudimentäre Anmerkung im Abschnitt „Gesellschaft als umfassendes System" (78-91 (80)). Daneben gibt es eine teilweise Intergration dieses Theoriestücks in die „Soziale Systeme" (1984, 551-592). Dort wird von Luhmann allerdings betont, dass aufgrund der Selbstbeschränkung auf eine allgemeine Theorie sozialer Systeme keine gesellschaftstheoretische Behandlung der Systemdifferenzierung vorgenommen werden kann (552); so bleibt auch der Systemtyp Organisation ganz außer Betracht, da er keine gesellschaftliche Universalie darstellt (Fn. 1 auf S. 551).
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hende Text (1975b) äußerst kompakt und deutet die Analysemöglichkeiten, die der Theorie zu diesem Zeitpunkt bereits zur Verfügung gestanden haben, häufig nur an. Dies zeigt das hier abgedruckte Manuskript, das ungefähr zum gleichen Zeitraum entstanden sein dürfte. Auf der Basis der für die frühe Luhmannsche Theorie konstitutiven kontingenz- und komplexitätstheoretischen System/Umwelt-Perspektive behandelt der Text nach einer kurzen Einleitung zur Unterscheidung von (interner) Systemdifferenzierung und Systemebenenunterscheidung in seinem ersten Teil zunächst die Fragen zur Spezifik der Ausdifferenzierung der verschiedenen Systemtypen. Dabei skizzieren die einzelnen Abschnitte auf nahezu programmatische Weise das jeweilige theoretische Konzept und die damit verknüpften Forschungsfragen: Interaktion als Wahrnehmung und verbale Kommunikation unter Anwesenden kombinierendes, themenbasiertes Sozialsystem (7 ff.), Organisation als verhaltenserwartungsbezogener, über Mitgliedschaft ausdifferenzierter Sozialzusammenhang (11 ff.), Gesellschaft als Sinnhorizont und Operationsraum alles Sozialen (15 ff.). Allerdings wird bereits in diesen, den einzelnen Systemtypen gewidmeten Abschnitten deutlich, dass schon bei der analytischen Unterscheidung eine die Systemebenen strikt voneinander isolierende Behandlung nur schlecht möglich ist. Noch offensichtlicher wird dieser Sachverhalt in den folgenden evolutions- und gesellschaftstheoretischen Beobachtungen zur empirischen Differenzierung der verschiedenen Systemebenen, die u. a. die wechselseitige Bedingtheit der verschiedenen Systembildungsebenen herausarbeiten (17 ff.). Konkret wird dabei an den Beispielen der Konfliktsteigerung (24 ff.), der Generalisierung der Moral (28 ff.) und der Emergenz sozialer Bewegungen (32 ff.) demonstriert, dass die Differenzierung der Systembildungsebenen und die Formen der gesellschaftlichen Differenzierung nicht unabhängig voneinander zu denken sind. Entsprechend muss, so die Schlussfolgerung Luhmanns, die theoretische Aufmerksamkeit gerade auch auf die Interdependenzverhältnisse der verschiedenen Systemebenen gerichtet werden (34 ff.), wobei der zugrundeliegende, insbesondere auf die Komplexitätsdifferenz von System und Umwelt gerichtete Ansatz es erlaubt, die konkreten Abhängigkeitsverhältnisse der Systemebenen herauszuarbeiten, wie Luhmann am Beispiel von Wirtschaft und Politik demonstriert. Vor diesem Hintergrund überrascht dann allerdings die das Manuskript abschließende Feststellung, aus Praktikabilitätsgründen müsse eine
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Johannes F.K. Schmidt: Analyse der Gesellschaft primär auf die Ebene der gesellschaftlichen Teilsysteme beschränkt werden und m a n könne allenfalls „an konkret abgegrenzten Gegenständen Gesellschaftstheorie, Organisationstheorie und Interaktionstheorie aufeinander beziehen" (39). D a m i t ist eine Selbstlimitierung der Gesellschaftstheorie vorgegeben, die in den Folgejahren zu einer deutlichen Vernachlässigung der Ebenendifferenz und zu einer im Vergleich zum Frühwerk soziologisch manchmal steril wirkenden Beschreibung der modernen Gesellschaft und ihrer Funktionssysteme geführt hat. Diese Entwicklung kann auf die in dem vorliegenden Manuskript dargelegte, aber theoretisch nur unzulänglich begründete Entscheidung zurückgeführt werden, die Gesellschaftstheorie primär auf die,oberste' Systemebene zu beschränken — eine Entscheidung, die aus forschungspraktischen wie erkenntnistheoretischen Gründen naheliegen mag, die aber aufgrund der Annahme, dass „die Komplexität der modernen Gesellschaft nicht nur aus der bloßen Zahl, Verschiedenartigkeit und Interdependenz ihrer Teilsysteme resultiert, sondern zusätzlich durch die gleichzeitige Verwendung verschiedenartiger Prinizipien der Systembildung erreicht und erhalten wird" (36), soziologisch nicht wirklich überzeugt. Der das Manuskript einleitende (7) wie abschließende Hinweis darauf, dass „daneben" (39), also unabhängig von der Gesellschaftstheorie, auch noch Spezialtheorien für Interaktion und Organisation entwickelt werden müssten, veranschaulicht das Problem, in das sich die Luhmannsche Theorie hier begibt: Die Tatsache, dass die entsprechenden Spezialtheorien auf die „allgemeinen Eigenarten von Organisationen oder von Interaktionen, die sich nicht aus dem gesellschaftlichen Funktionskomplex ergeben, sondern aus dem besonderen Systembildungsprinzip" (39), abstellen müssen, führt ja nicht zwingend zum Umkehrschluss, dass eine entsprechende Spezialtheorie der Gesellschaft von solchen Überlegungen freigehalten werden muss — insbesondere dann nicht, wenn gleichzeitig herausgestellt wird, dass „die Gesellschaft das umfassende Sozialsystem ist, das alle anderen Sozialsysteme als Teilsysteme einschließt." (38). Vielmehr legt die Luhmannsche Feststellung, dass zwischen einer analytischen Unterscheidung der Ebenen der Systembildung und der faktisch sich etablierenden Ebenendifferenz als Folge gesellschaftlicher Evolution unterschieden werden müsse (17), es eigentlich nahe, Überlegungen zu Interaktion und Organisation dann in die gesellschaftstheoretische Beschreibung
zu integrieren, wenn sie entsprechende Erklärungsleistungen für die Analyse der Gesellschaft erbringen. Genau dies zeigt das vorliegende Manuskript in vielfacher Weise. Zwar weisen auch die späteren gesellschaftstheoretischen Publikationen durchaus entsprechende Beobachtungen auf, allerdings findet L u h m a n n dort nach der ,autopoietischen Wende' nicht mehr zu der theoretisch kontrollierten Form der Relationierung der verschiedenen Systemebenen zurück, die das System / Umwelt-Konzept mit dem Fokus auf die Frage der Komplexitätsreduktion in den 1970er Jahre möglich gemacht hat.
Literatur Luhmann, Niklas (1975a): Soziale Systeme. Gesellschaftstheorie, Teil 1. Bielefeld, Ms. Luhmann, Niklas (1975b): Interaktion, Organisation, Gesellschaft. S. 9 - 2 0 in: Ders., Soziologische Aufklärung 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. Opladen: Westdt. Verlag, 9 - 2 0 . Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, N i k l a s / D e Giorgi, Raffaele (1992): Teoria della società. Milano: Franco Angeli. Tyrell, Hartmann (2006): Zweierlei Differenzierung im Frühwerk Niklas Luhmanns. Soziale Systeme 12: 294-310.
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
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Ebenen der Systembildung - Ebenendifferenzierung (unveröffentlichtes Manuskript 1975) Niklas Luhmann
1. Ebenen der Systembildung Die Frage, ob die Gesellschaft ein soziales System sei oder ob sie es nicht sei, war vielleicht zu radikal und zu undifferenziert gestellt worden. Verbunden mit der Annahme, daß die Gesellschaft das umfassende System sei, das alle anderen in sich begreife und global reguliere, zielte sie auf eine Totalität - auf eine notwendige Totalität mit einer gewissen Indifferenz gegen das Detail, gegen Abweichungen, gegen Änderungen. Dem entsprach die Vorstellung einer ethisch-normativen Vorbestimmung des menschlichen Zusammenlebens, nicht jedoch ein Systembegriff, der heutigen Ansprüchen an wissenschaftliche Verwendungsfähigkeit genügen würde. Ein gewisses Korrektiv gegen solche Totalisierung lag immer schon in der Einsicht, daß die Gesellschaft nur als differenziertes System existieren könne. Damit konnte, wenn auch in logisch fragwürdiger Weise, dem Umstände Rechnung getragen werden, daß die Teile des Ganzen immer auch ihre besonderen Merkmale aufweisen und gerade durch das Zusammenspiel ihrer Besonderheiten sich zum Ganzen ergänzen. In der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts wurde dieses Moment verstärkt und unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsteilung ausgebaut. Es wurde nicht nur als Merkmal des Gesellschaftssystems schlechthin, sondern darüber hinaus noch als evolutionär sich verstärkendes Merkmal gesehen. Die Gesellschaft wurde, mit anderen Worten, als ein soziales System gesehen, das ein in ihm angelegtes Differenzierungsschema zunehmend entfaltet und darin seine Entwicklung hat.1 Dieser Begriffsansatz mußte angesichts einer Gesellschaft,
die sich faktisch zunehmend differenzierte und dabei die Strukturlast zunehmend auf Teilsysteme für Politik, Wirtschaft, Wissenschaft usw. abwälzte, die Gesellschaftstheorie aushöhlen:2 Die Gesellschaftstheorie konnte sich darauf beschränken, die Vorteilhaftigkeit eines Differenzierungsschemas und einen Zusammenhang von Differenzierung und Integration (oder: Differenzierung und Generalisierung) zu postulieren. Die andere Möglichkeit war, das Differenzierungsprinzip polemisch zu rekonstruieren, es in Formalisierung alteuropäischer Schichtungs- und Herrschaftschaftsstrukturen als „Klassenherrschaft" zu sehen, nicht seine Vorteilhaftigkeit, sondern seine Nachteilhaftigkeit zu betonen und die Gesellschaftstheorie im Dienste von Kritik, wenn nicht Revolution zu instrumentalisieren. Innerhalb der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft kann zwischen diesen beiden gegenläufigen Reaktionen auf das Problem der Differenzierung nicht entschieden werden.3 Es ist bei der gegebenen Komplexität und Differenziertheit des Gesellschaftssystems sicher nicht sinnvoll, hinter diesen Diskussionsstand zurückzufallen und wieder konkretere, voraussetzungsreichere, moralhaltige Annahmen über die Gesamtgesellschaft einzuführen. Das könnte nur kontrafaktisch, also normativ geschehen. Eher wird man die Gesellschaftstheorie von dem Anspruch auf Gesamtbehandlung der sozialen Phänomene entlasten müssen, und zwar noch mehr, als dies durch das Differenzierungskonzept schon geschehen ist. Dessen Leistung muß nicht unterboten, sondern überboten werden, will man eine adäquate Theorie für höchstkomplexe Gesellschaften formulieren. A l s systemtheoretisches Gesetz findet m a n diesen Bef u n d formuliert bei Charles A c k e r m a n / Talcott Parsons, The Concept of „Social System" as a Theoretical Device, in: G o r d o n J. DiRenzo (Hrsg.), Concepts, Theory, and Explanation in the Behavioral Science, N e w York 1 9 6 6 , S. 1 9 - 4 0 (36 ff.). 2
Vgl. z. B. Herbert Spencer, The Principles of Sociology, Bd. I, 3. Aufl., London/Edinburgh 1885, Bd. II, London Edinburgh 1893; Emile Durkheim, D e la division du travail social, Paris 1893. Auch die Theorie des allgemeinen Handlungssystems von Talcott Parsons behandelt das soziale System der Gesellschaft noch primär unter dem Gesichtspunkt der Differenzierung in Teilsysteme, die als Differenzierung dann Interchange-Beziehungen, Generalisierung von Tauschmedien, Kriterien usw. erforderlich macht. 1
Z u anderen Aspekten dieser „Krisis" der Theorie der bürglichen Gesellschaft vgl. Niklas Luhmann, SelbstThematisierungen des Gesellschaftssystems, Zeitschrift f ü r Soziologie 2 (1973), 2 1 - 4 6 . 3
Niklas Luhmann: Ebenen der Systembildung - Ebenendifferenzierung
Um diesen Erfordernissen Rechnung zu tragen, greifen wir auf die Überlegungen zur allgemeinen Theorie sozialer Systeme (Teil l) 4 zurück und fragen vor jeder Überlegung zur Systemdifferenzierung nach unterschiedlichen Ebenen der Systembildung. Es gibt eine Mehrzahl typmäßig unterscheidbarer Möglichkeiten, das allgemeine Problem der Ausdifferenzierung eines Sozialsystems zu lösen, das wir im vorigen Kapitel behandelt haben. Wir unterscheiden Interaktion als einfache Sozialsysteme unter Anwesenden, Organisation und Gesellschaft. In allen drei Fällen werden die Probleme der strukturellen Rekonstruktion von Kontingenz und der Regelung des Komplexitätsgefälles zur Umwelt auf verschiedene Weise gelöst. Erst in bezug auf soziale Systeme, die auf einer dieser Ebenen mit ihren spezifischen Merkmalen gebildet sind, kann man in einem zweiten Schritt der Analyse sinnvoll nach Differenzierung fragen. Durch die zusätzliche Einführung dieser Unterscheidung von Ebenen der Systembildung wird das theoretische Instrumentarium im Vergleich zur klassischen Gesellschaftstheorie reichhaltiger, aber auch komplexer. Man muß jetzt innerhalb der Gesellschaft nicht nur nach gesellschaftlichen Teilsystemen und Teilsystemen von Teilsystemen fragen, sondern auch nach andersartigen Ebenen der Systembildung, also nach andersartigen Systemtypen, denen besondere Systeme mit Teilsystemen entsprechen. Der eine Gesichtspunkt ist auf den anderen nicht zurückführbar. Die Teilsysteme der Gesellschaft haben, trotz funktionaler Spezifikation, immer noch gesamtgesellschaftliche Relevanz. Sie bilden sich im Hinblick auf Probleme von universeller, die gesamte Gesellschaft durchziehender Bedeutung. Dies gilt nicht, zumindest nicht in unmittelbarem Sinne, für Interaktionssysteme und Organisationssysteme. Die Unterscheidung dieser beiden Gesichtspunkte: Ebenen der Systembildung und Systemdifferenzierung, ermöglicht es erst, kompliziertere Analysen anzusetzen - zum Beispiel nach der unterschiedlichen Affinität gesellschaftlicher Teilsysteme für Organisation zu fragen oder nach den Möglichkeiten, die Differenzierung des Gesellschaftssystems durch Bildung von Interaktionssystemen zu überbrücken. Schon hier wird erkennbar, daß die Integration des gesellschaftlichen Handelns keineswegs nur von gesamtgesellschaftlich funktionsfähigen, notwendigerweise hochabstrakten Symbolen abhängt, sondern auch im Rekurs auf andere Möglichkeiten der Systembildung liegen kann, die zum Gesellschafts-
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Siehe die editorischen Anmerkungen, S. 3 f.
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system und seinen Teilsystemen in einem komplizierten, evolutionär variablen Verhältnis wechselseitiger Ermöglichung und Interferenz, wechselseitiger Abhängigkeit und Unabhängigkeit stehen. Bevor wir solche Zusammenhänge klären können, müssen wir genauer angeben, worin diese Ebenen der Systembildung sich unterscheiden. Das kann im Rahmen einer Gesellschaftstheorie, die auf eine dieser Ebenen zugeschnitten ist, allerdings nur sehr kursorisch geschehen. Ausgearbeitet wird im folgenden dann nur eine Theorie für Systeme, die sich als gesamtgesellschaftliche bilden. Die Ausarbeitung einer entsprechenden Interaktionstheorie und einer entsprechenden Organisationstheorie muß späteren Publikationen vorbehalten bleiben.5 1.1 Interaktionssysteme Interaktionssysteme entstehen, sobald mehrere Personen gemeinsam anwesend sind und einander erkennen. Konstitutionsbedingung ist das Erscheinen im wechselseitigen Wahrnehmungsfeld mit der Maßgabe, daß Ego wahrnimmt, daß Alter ihn wahrnimmt und umgekehrt. Dann ist kaum zu vermeiden, daß über das Erkennen fremder Selektionen auch das eigene Verhalten als selektiv begriffen wird; mit der Evidenz wahrnehmbarer Personenunterschiede entstehen Zurechnungen, über Zurechnungen konstituieren sich Handlungen in einer Weise, die vom Kontext der durch Anwesenheit definierten und umgrenzten Situation getragen wird und von ihm abhängig bleibt. Anwesenheit ist das Prinzip der Selbstselektion von Systemen elementarer Interaktionen. Sie erzwingt Reduktion auf zurechenbares Handeln. Man kann in Gegenwart anderer nicht - oder nur in ganz besonderen Situationen, etwa als Kranker - handlungslos dahindösen. Selbst reines Erleben, etwa aufmerksames Betrachten des anderen, wird zur Handlung. Wie in keinem anderen Typ sozialer Systeme steht man in der elementaren Interaktion unter Handlungszwang.6 Siehe einstweilen für Interaktion Niklas Luhmann, Einfache Sozialsysteme, Zeitschrift für Soziologie 1 (1972), S. 51-65, und für Organisation ders., Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964. 6 D a s hat auch gesellschaftstheoretisch weittragende Bedeutung - etwa für die Diskussion des Problems der „Öffentlichkeit". Im Postulat der Öffentlichkeit wird der Handlungszwang elementarer Interaktionen von Angesicht zu Angesicht und die dafür spezifische Verantwortlichkeit auf das Gesellschaftssystem übertragen mit 5
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In Interaktionssystemen wird nämlich durch die Bedingung der Anwesenheit und die entsprechende Vermutung wechselseitiger Aufmerksamkeit Verhalten als Kommunikation interpretiert. Das soll nicht heißen, daß außerhalb von Interaktionssystemen keine Kommunikation möglich sei. Aber die Bildung von Interaktionssystemen forciert diesen Prozeßtyp der Kommunikation. (Wir werden noch sehen, daß Entsprechendes für Organisation und Entscheidung gilt). In Interaktionssystemen wird mehr zur Kommunikation, als es den spezifischen Mitteilungsintentionen der Beteiligten entspricht. Selbst Nichtkommunikation wird zur Kommunikation der Absicht, nicht kommunizieren zu wollen; Schweigen kann Provokation, kann Zustimmung, kann Unfähigkeit kommunizieren je nach Struktur und Vorgeschichte des Interaktionssystems. Jeder Teilnehmer fühlt diese eigene Ausstrahlung, diese Multiplikation von Wirkungen, dieses Wachsen oder auch Auseinanderfließen in eine Fülle von beabsichtigten und unbeabsichtigten Äußerungen und reagiert darauf durch den Versuch, so viel wie möglich davon zu kontrollieren und in konsistente oder doch vertretbare Verhaltenszusammenhänge einzufangen. Darauf beruhen ferner die Probleme, die im Sozialsystem der Interaktion auftreten und durch Strukturen dieses Systems zu lösen (also nicht nur: von den Personen zu verkraften) sind. In die Sprache des Komplexitätsbegriffs zurückübersetzt, mit dem wir unsere Überlegungen eingeleitet hatten, 7 heißt dies: Element des Interaktionssystems ist das unter Anwesenden als Einheit erlebte Kommunikationsereignis, also die Verhaltensselektion, die eine Information übermittelt. Die Struktur des Sozialsystems garantiert eine relationale Beziehung zwischen solchen Ereignissen und delegiert dadurch das, was im System Kommunikationswert gewinnt. Das kann sowohl durch Anschließbarkeit an das gerade dominierende Thema geschehen, also auch durch Merkmale einer überrollenden Dringlichkeit, die eine Themenunterbrechung oder einen mehr oder weniger abrupten Themenwechsel ermöglichen. Beide Formen der Selektion sind nicht beliebig und schließen zahllose denkbare Kommunikationsimpulse sowie eine Vielzahl von psychisch bedingten Kommunikationsbereitschaften und Anwartschaften aus dem Bereich des sozial Realisierbaren aus.
bewußter Verwischung des Unterschieds dieser Ebenen der Systembildung. Interaktionen sind per definitionem öffentlich, Gesellschaften können es nicht sein. 7 Siehe die editorischen Anmerkungen, S. 3.
Mit dieser Forcierung von Kommunikation durch Anwesenheit hängt eine weitere Besonderheit von Interaktionssystemen zusammen. In der Interaktion unter Anwesenden spielt die an sich asoziale Wahrnehmung eine den Kommunikationsprozeß mittragende Rolle. Sie zwingt zum Handeln - auch wenn man nicht angesprochen wird. Sie ermöglicht und ergänzt verbale Kommunikation, und sie hat im Vergleich zur verbalen Kommunikation spezifische Vorteile, die deren Schwächen ausgleichen. Sie ist schnell, bezieht sich nicht notwendig (aber möglicherweise) auf ein gemeinsames Thema, und sie ist nicht so leicht wie das Sprechen rechenschaftspflichtig zu machen. Jede verbale Äußerung ist im Wahrnehmungshorizont der sozialen Situation daher zwangsläufig selektives Ereignis. Diese Kombination von Wahrnehmung und verbaler Kommunikation gibt einen Reichtum an unmittelbarer Information über den Partner an die Hand, der in den Dienst sozialer Reflexivität und wechselseitiger Erwartungserwartung gestellt werden kann. In keinem Typ sozialer Systeme können die Erfahrung und die Antizipation der Selektivität des anderen so dicht, so lebendig, so ergiebig sein wie in der Interaktion von Angesicht zu Angesicht.8 Umso weniger braucht man für die Fortsetzung der unmittelbaren Interaktion eine Reflexion auf Einheit, Sinn und Zweck des Systems. Das Interaktionssystem ist durch Sinngehalte identifizierbar, die zugleich Komplementarität des Erwartens symbolisieren: Tausch, Kampf, Wette, Warteschlange, Gruß usw.9 Interaktionssysteme sind mithin - im Unterschied zu Gesellschaftssystemen - Sozialsysteme par excellence. Sie haben ihren Funktionsschwerpunkt in der Sozialdimension, können Hochleistungen in reflexiver sozialer Abstimmung der Selektivität des Erlebens und Handelns erreichen, sind aber zugleich wegen dieser Spezialisierung weniger geeignet, auch zeitliche Ordnungsgarantien und sachliche Strukturierungsleistungen zu erbringen. Dank der hohen Komplexität der auf Wahrnehmung und Handlung beruhenden Interaktionsprozesse kann das Prinzip der Anwesenheit benutzt werden, um sich selbst zu definieren. Das Konstitu-
8 Vgl. dazu Alfred Schütz, Der sinnhafte A u f b a u der sozialen Welt: Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, W i e n 1932, S. 192ff., der von einem „Maximum der Symptomfülle" (193) spricht. 9 So Herbert Blumer, Psychological Import of the Human Group in: Muzafer Sherif/M.D. Wilson (Hrsg.), Group Relation at the Crossroads, New York 1953, S. 1 8 5 - 2 0 2 (195).
Niklas Luhmann: Ebenen der Systembildung - Ebenendifferenzierung
tionsprinzip der Systembildung dient dann zugleich der Grenzziehung und der selektiven Reduktion. Mit der selbstselektiven Systembildung unter Anwesenden wird zugleich entschieden, daß nicht alles Anwesende als anwesend zu behandeln ist. Die entsprechenden Bestimmungen laufen ein, ohne daß dazu Reflexion, also Identitätsbewußtsein auf der Ebene des Interaktionssystems, erforderlich wäre. Es gibt Gegenstände und Ereignisse, die, obwohl sichtbar, als nicht zum System gehörig behandelt werden können. Selbst Personen können auftreten, die im System als Umwelt oder gar als Nichtpersonen behandelt werden - etwa Diener, die bedienen; Fensterputzer, die während der Sitzung die Fenster putzen; Passanten, die vorübergehen, während man sich mit einem Bekannten unterhält. Die Anstrengung solcher Definition ist dem System in bezeichnender Weise anzumerken, etwa als Disziplinierung gegen Ablenkung, als verstohlene Unaufmerksamkeit. Anwesenheit ist, mit anderen Worten, ein selbstreferentielles Systembildungsprinzip, das die Grundlagen seiner eigenen Definition liefert.10 Diesen evidenten Vorzügen stehen Nachteile gegenüber, die auf dem gleichen Prinzip der Anwesenheit beruhen. Die Systemgrenzen sind als bloße Grenzen der Anwesenheit und des Wahrnehmungsraumes nur roh und wenig „sinnvoll" festgelegt." Sie geben nur wenig Anhaltspunkte für die selektive Behandlung von Umweltereignissen - es sei denn im unmittelbar-gemeinsamen Aufmerksamkeitsraum des Systems: so bei den Gegenständen gemeinsamer Arbeit, gegenüber neu hinzutretenden Personen oder bei anderen unübersehbaren Auffälligkeiten. Daher bleibt die Umwelt für das einzelne Interakti10 Eine Theorie, die diesen Sachverhalt so beschreibt, ist nicht deswegen fehlerhaft, weil sie die Selbstreferenz in ihre eigene Begrifflichkeit übernimmt. Sie bringt vielmehr gerade darin ihren Realitätsbezug zum Ausdruck. Es wäre ein leichtes, diese oft „Tautologie" genannte Begriffsbildung durch Distinktionen oder Ebenenunterscheidungen zu vermeiden. D a s mag nötig werden, wenn der Übergang zu strikt logischen Operationen die Eliminierung von Selbstreferenz erzwingt. D a s aber sollte ein in der Theorieentwicklung kontrollierbarer Schritt sein und als Verlust an Realitätsbezügen gebucht werden. In der Realität konstituieren Systeme sich bereits auf dieser elementaren Ebene selbstreferentiell.
Z u Komplikationen, Ausschnitt-Techniken und kunstvoller Manipulation von Regeln der Relevanz und Irrelevanz innerhalb des Wahrnehmungsraums, aber außerhalb des Systems, siehe Erving Goffman, Behavior in Public Places: Notes on the Social Organization of Gatherings, N e w York / L o n d o n 1963. 11
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onssystem ein Horizont von unbestimmter und unbestimmbarer Kontingenz - eine Quelle möglicher Überraschungen, die jenseits des Wahrnehmbaren lauern.12 Dies hängt zusammen mit dem äußerst geringen Potential für gemeinsame Informationsverarbeitung, dem geringen Abstraktions- und Kontrollvermögen solcher Systeme. An differenziertere Grenzen und komplexer angelegte Informationsfilter könnten intern gar keine Prozesse anschließen; also werden sie nicht entwickelt. Als Struktur elementarer Interaktionen dient im wesentlichen das jeweils gemeinsame Thema der Interaktion - der Gegenstand, zu dem die Beteiligten nacheinander verschiedene Beiträge beisteuern und der dadurch den Zusammenhang ihrer Selektionsleistungen herstellt. Zwar bildet nicht notwendig jede Interaktion gemeinsame Themen, aber alle anspruchsvolleren Formen menschlichen Interagierens sind darauf angewiesen, daß die Beteiligten ihre Aufmerksamkeit „konzentrieren" und einem gemeinsamen Mittelpunkt zuwenden.13 Dessen Entwicklung bildet dann zugleich den selektiven Prozeß des Systems. Systemgeschichte ist und bleibt auf dieser Ebene Themengeschichte. Durch Orientierung an einem Thema gewinnen Interaktionssysteme ihre innere Komplexität - nämlich jene strukturierte Komplexität, die das unter Anwesenden an sich mögliche Kommunizieren auf wenige, übersehbare, für die Beteiligten bestimmbare Formen reduziert. Genau darauf beruht die eigentümliche Spannung, in die ein Sinnkomplex gerät, wenn er als Thema in Interaktionssystemen figuriert: Er evoziert Beiträge, ermöglicht sie, wird aber durch sie auch gefährdet und unter Änderungsdruck gesetzt. Themen, wie etwa Schachspiel, können trotz sehr scharfer Reduktion eine sehr hohe Zahl möglicher Beiträge zulassen. Und immer ist es nicht eine Art immanente Qualität, sondern die Relation zwischen Reduktion und Ermöglichung, die ein Thema „interessant" macht. Diese Komplexitätsrelation muß ihrerseits auf der Ebene der Interaktionssysteme angebbaren Anforderungen genügen. Sie muß „interaktionsfahig" sein, muß zum Beispiel fast pausenlos Beiträge inspirie-
12 Dies wird freilich anders in Gesellschaften, die Ordnung anders als auf der Basis von Interaktionssystemen garantieren und ihren Interaktionssystemen daher eine strukturierte Umwelt vorgeben können. 13 Zur Besonderheit von „focused interactions" vgl. Erving Goffman, Encounters: Two Studies in the Sociology of Interaction, Indianapolis 1961.
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ren können. 14 Das kann in gewissem Umfange, aber nie vollständig, auch durch eine Art zentralisierte Betriebsverantwortung (zum Beispiel: Rolle des Gastgebers, Rolle des Lehrers) gewährleistet werden. An die Stelle oder neben die thematische Zentrierung tritt damit die rollenmäßige Zentrierung des Interaktionssystems, also die Steigerung der Systemkomplexität durch Rollendifferenzierung. In jedem Falle gibt es untere und obere Schwellen adäquater Systemkomplexität. Themen und Rollendifferenzen sind demnach intern benutzte Reduktionen, die jedoch kaum ohne Kontakt mit der Umwelt gefunden und akzeptiert werden können. Mögliche Themen und erwartbare Rollen stehen zumeist schon fest, bevor die Interaktion beginnt. Man muß sich an einer Interaktionstypik schon orientieren können, wenn man anfängt; sonst würde der Reduktions- und Strukturbildungsprozeß zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Wie bereits im Komplexitätsbegriff impliziert, ist es die Komplexitätsdifferenz zur Umwelt, die die interne Relation von Reduktion und Ermöglichung strukturiert. Ein System hat Struktur nur dadurch, daß es geringere Komplexität hat als die Umwelt. Insofern bleibt die interne Komplexität abhängig vom Umweltkontext, in dem die Partner zur Interaktion kommen, indem sie diese (und nicht eine andere) unter möglichen Typen wählen. Darüber hinaus gibt es aber auch im Interaktionssystem selbst Ansätze zur Festigung von Erwartungsstrukturen, wenn die Interaktion länger dauert. Man kann, muß aber auch, mehr als bei anderen Systemtypen ein gemeinsames Gedächtnis voraussetzen, in dem die unmittelbar vorangegangene Systemgeschichte festgehalten wird; Vorformen von Rollendifferenzierung bilden sich aus, zum Beispiel auf Grund von Unterschieden der Dominanz oder der Schönheit oder anderer situationsrelevanter Eigenschaften einzelner Anwesender. Auf all das ist jedoch kein Verlaß. Die nächsten Schritte werden mehr durch das gesteuert, was einzelne Teilnehmer wollen, oder durch das, was unmittelbar vorausging, als durch eine soziale Struktur. 14 Die prekäre Lage, in die Interaktionen durch Pausieren des Kommunikationsflusses geraten, ist allgemein bekannt, aber k a u m je wissenschaftlich beachtet worden. Ein Beispiel: Sherri Cavan, Liquor License: A n Ethnography of Bar Behavior, Chicago 1966, passim, insb. S. 56 f. Die Gefahr ist, d a ß Pausen als das Ende des Systems interpretiert werden. M a n kann generell vermuten, daß Interaktionssysteme umso weniger Pausen vertragen können, je geringer oder je unbestimmter ihre Komplexität ist.
Unter solchen Umständen ist die Flüchtigkeit des Bestandes solcher Interaktionssysteme das Normale und Sinnvolle. Das soziale Leben besteht zwar für jeden Einzelnen aus einer Kette von Teilnahmen an Interaktion. Alles soziale Handeln muß faktisch durch dieses Nadelöhr hindurch und wird durch die Eigengesetzlichkeit der Interaktionssysteme deformiert. Gleichwohl kann die Erfüllung gesellschaftlicher Funktionen nicht von dem Bestand einzelner Interaktionssysteme abhängig gemacht werden. Auch unter evolutionstheoretischen Gesichtspunkten ist es wichtig, daß Interaktionssysteme - ähnlich wie auf ihrer Ebene systematisch gut integrierte Moleküle - massenhaft vorkommende Bagatellen sind. Nur so kann das Gesellschaftssystem gleichzeitig auf sie angewiesen und gegen sie indifferent sein. Nur so kann in der gesellschaftlichen Evolution, um es paradox zu formulieren, der Zufall eine Chance erhalten. Nur so ist eine Selektion prominenter Interaktionen möglich, die ihre Funktionsgarantie als Interaktion mitbringen, weil sie selbst Systeme sind. Allerdings ist der Zusammenhang von Gesellschaftssystem und Interaktionssystemen als eine Variable zu sehen, deren Ausformung vom Stande der Evolution des Gesellschaftssystems abhängt. Beziehungen zwischen den Ebenen Gesellschaft und Interaktion lassen sich in doppelter Hinsicht erfassen. Einerseits entwickeln Interaktionssysteme selbst Abstraktionstendenzen in dem Maße, als sie beim Auseinandergehen nicht beendet, sondern nur unterbrochen und nach zwischenzeitlichen anderen Tätigkeiten der Beteiligten wieder aufgenommen werden. Dann müssen besondere Vorkehrungen für die Anschließbarkeit weiteren Handelns getroffen werden, die sich nicht mehr unmittelbar aus der Situation ergibt; man muß Sinn und Zweck, Ort und Zeit, eventuell auch Ernsthaftigkeit des Fortsetzungswillens und Teilnehmer eines Wiedersehens klären und muß für eine hinreichende Identifizierbarkeit des Systems sorgen. Erst intermittierende Systeme scheinen ein Interesse an der Festlegung abstrakterer Verhaltensregeln zu entwickeln. 15 Tendenzen zur Selbstabstraktion des Systems entstehen mithin aus dem Erfordernis der Zeitüberbrükkung, des Festhaltens von Identität trotz zwischenzeitlich anderer Engagements. Und aus gleichem Grunde kommt es auch in der Sozialdimension
15 Eine gute Illustration bietet die von Louis A. Zürcher, Jr., The „Friendly" Poker Game: A Study of an Ephemeral Role, Social Forces 49 (1970), S. 173-186 untersuchte Kartenspielerrunde.
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- trotz aller Hochleistungen sozialer Reflexivität erst durch die Zeitdauer zu zusätzlichen Problemen, nämlich solchen der Teilnahmemotivation. Zum anderen sind und bleiben Interaktionssysteme auf gesellschaftliche Strukturvorgaben angewiesen.16 Man tritt mit immer schon vordefinierten Eigenschaften in eine Situation ein - ist z. B. Pfarrer, der einen Krankenbesuch macht - und macht ihre Anerkennung zur Voraussetzung für die Aufnahme der Beziehung. Die Einleitungsphase des Interaktionssystems dient zumeist der Klärung dieser Vorgaben.17 Auf ihrer Basis kann ein Interaktionssystem einen Grad an Spezifikation gewinnen, den es aus eigener Kraft wegen der sehr geringen Strukturbildungskapazität elementarer Interaktion nie realisieren könnte. Das relative Gewicht von Intermittieren mit Ansätzen zur Selbstabstraktion auf der einen Seite und gesellschaftlichen Strukturvorgaben auf der anderen wird von Gesellschaft zu Gesellschaft sehr unterschiedlichverteilt sein. Primitive Gesellschaften konstituieren sich primär in der Form der Verflechtung intermittierender Interaktionssysteme und bleiben deshalb weitgehend an deren Merkmale, Kapazitätsschranken, Umweltverhältnisse gebunden. Das läßt sich unter anderem an den für sie typischen Formen der Religiosität deutlich ablesen. Ein höherer Entwicklungsstand der Gesellschaft ist nur zu erreichen, wenn die Gesellschaft über Strukturvorgaben — zum Beispiel durch gesellschaftsweite Schichtendifferenzierung, durch Rollendifferenzierung, durch Spezifikation von Zwecksystemen - einen höheren Grad an Spezifikation und Differenzierung von Interaktionssystemen erreicht. Eine weitere immense Ausdehnung dieser Möglichkeit von Strukturvorgaben für Interaktion wird erreicht, wenn und soweit sich zwischen das Gesellschaftssystem und die Systeme elementarer Interaktion eine evolutionär neuartige Ebene der Systembildung dazwischenschiebt, nämlich die Ebene der Organisation.
16 Von solchen Strukturvorgaben, die im System selbst als Verhaltensprämissen operativ werden, zu unterscheiden ist die allgemeine Prämisse einer gesellschaftlich geordneten Umwelt der Interaktion. 17 Oft in extrem abgekürzter Form, zum Beispiel beim Antreten einer Taxifahrt nach den Beobachtungen von James M . Hensel, Trust and the C a b Driver, in: Marcello Truzzi (Hrsg.), Sociology and Everyday Life, Englewood Gliffs N . J . 1968, S. 138-158.
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1.2 Organisierte Sozialsysteme Während Interaktion und Gesellschaft universelle Systembildungen sind, die sich notwendig konstituieren, wenn immer Menschen sich begegnen, handelt es sich bei Organisationen um einen Systemtyp, der unter stark restriktiven Bedingungen um besonderer Leistungen willen eingerichtet wird. Nur ein Teil des gesellschaftlichen und interaktioneilen Handelns verläuft daher innerhalb organisierter Sozialsysteme. Der Anteil variiert von Gesellschaft zu Gesellschaft; sein Ausmaß in der modernen Gesellschaft ist ohne historische Parallelen. Der Grund dieses Erfolgs liegt im Prinzip der Systembildung, das hier zum Zuge kommt. Es genügt nicht, dieses Prinzip mit einem der Handlungstheorie entnommenen Begriff als Ausrichtung an Zielen zu beschreiben.18 Auch Interaktionen können mehr oder weniger zielorientiert ablaufen. Entscheidend neuartig ist an Organisationen die Art, in der sie ihr Umweltverhältnis regeln.19 Ein organisiertes Sozialsystem entsteht, wenn Verhaltenserwartungen und Mitgliedschaften als disponibel behandelt und zueinander in Beziehung gesetzt werden. In diesem Systembildungsprinzip sind mithin zwei Formen der Kontingenz vorausgesetzt; in zweifacher Weise wird Seiendes mit Blick auf die Möglichkeit seines Nichtseins modalisiert. Organisationen beruhen nicht auf natürlicher Sittlichkeit, sondern das Verhalten in ihnen wird durch Erwartungen reguliert, die man befolgen oder nichtbefolgen kann. Außerdem wird die Mitgliedschaft kontingent gesetzt: Man kann Mitglied sein oder nicht sein, eintreten und austreten. Die Mitgliedschaft wird als eine Be-
18 Diese Auffassung herrscht in der betriebswirtschaftlichen Organisationstheorie und ist von dort in die Organisationssoziologie übernommen worden. Vgl. z. B. Amitai Etzioni, Soziologie der Organisationen, München 1967, S. 12; Renate Mayntz/Rolf Ziegler, Soziologie der Organisation, Handbuch der empirischen Sozialforschung Bd. II, Stuttgart 1969, S. 4 4 4 - 5 1 3 (468). 15 Diese Auffassung kann als die heute herrschende bezeichnet werden. Vgl. z.B. Paul R. Lawrence/Jay W. Lorsch, Organization und Environment: Managing Differentiation and Integration, Boston 1967, mit Rückblick auf die ältere Literatur. Ferner und für neuere Hinweise Dieter Grunow/Friedhart Hegner, Überlegungen zur System-Umwelt-Problematik anhand der Analyse des Verhältnisses zwischen Organisation und Publikum, Zeitschrift für Soziologie 1 (1972), S. 2 0 9 - 2 2 4 ; Ray Jurkovich, A Core Typology of Organizational Environments, Administrative Science Quarterly 19 (1974), S. 3 8 0 - 3 9 4 .
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ziehung einer Person zu einer Rolle begriffen. 20 Die Nichtmitglieder im Rekrutierungsfeld der Organisation sind mögliche Mitglieder, die Mitglieder sind mögliche Nichtmitglieder. Diese beiden Kontingenzen der Erwartungen und der Mitgliedschaften lassen sich als Relationen begreifen und zueinander in Beziehung setzen. Organisierte Sozialsysteme bilden ihre Struktur mithin in der Form der Relationierung von Relationen. Diese Relationierung erfolgt in der Form wechselseitiger Konditionierung. Die Erwartungen, die im System gelten, werden benutzt, um die Bedingungen für Erwerb und Verlust der Mitgliedschaft zu fixieren. Umgekehrt gelten diese Erwartungen nur rollenspezifisch, das heißt nur, wenn und solange eine Mitgliedschaftsrolle übernommen wird. Diese Möglichkeit der Konditionierung von Mitgliedschaft und Erwartungsanerkennung kann dann zu künstlichen Kombinationen von Vorteilen und Nachteilen, von Rechten und Pflichten benutzt werden. Auf diese Weise können Verhaltenserwartungen mit Mitgliedschaften verknüpft werden. Die Öffnung der Alternative, drinnen oder draußen zu sein, sowohl für die Personen als auch, in bezug auf sie, für das organisierte Sozialsystem, erschließt den Zugang zu neuartigen kombinatorischen Strukturen und Strategien.21 Gerade die Tatsache, daß auf Grund dieser bei gegenläufigen Interessen gemeinsamen Alternative alles als selektiv erscheint, zeichnet Organisationssysteme aus und macht sie zum Beispiel abhängig von gesamtgesellschaftlich bedingten Schwankungen des Interesses bzw. der Kosten für Mitgliedschaft bzw. Nichtmitgliedschaft der Mitglieder und der Nichtmitglieder. Gerade die Mobilität von Eintritt und Austritt, die bloße Möglichkeit des Eintretens und Austretens bzw. des Rekrutierens und Entlassens, tritt dann in den Dienst der Festigung von mehr oder weniger unwahrscheinlichen Systemstrukturen. Organisationen „modalisieren" alle in ihnen ablaufenden Interaktionen durch die gemeinsame Voraussetzung, daß im Falle offener Ablehnung die Beendigung der Mitgliedschaft möglich ist.
2 0 Diese Prämisse kann auch mit dem Begriff der „achieved role" im Gegensatz zu „ascribed role" gekennzeichnet werden. 21 Siehe hierzu besonders Albert O. Hirschman, Exit, Voice and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organizations, and States, Cambridge Mass. 1970, ferner die daran anschließende Diskussion mit Beiträgen von Hirschman und Stein Rokkan in: Social Science Information 13 (1974), Heft 1, S. 7 - 2 6 und 39-53.
Im Vergleich zu Systemen elementarer Interaktion lassen sich sowohl die hochgetriebenen Voraussetzungen als auch die Vorteile dieser organisatorischen Lösung des Problems der Systembildung verdeutlichen. An die Stelle von Anwesenheit tritt Mitgliedschaft als Prinzip der Ausdifferenzierung und der Konstitution von Grenzen. Das System ist in seiner Funktionsfahigkeit nicht an die simultane Präsenz der Beteiligten und nicht an den engen Spielraum ihrer gemeinsamen Aufmerksamkeit gebunden; es kann wachsen, kann an Komplexität zunehmen bis eigene Schranken dieses Systemtyps, etwa Schranken der Koordinationsfahigkeit, wirksam werden. Dazu kommt (und dazu ist erforderlich), daß die doppelte Kontingenz der elementaren Interaktion überformt wird durch ein abstrakteres Prinzip doppelter Kontingenz, das die Bedingungen selektiver Akkordierung betrifft. Wie bereits skizziert, werden die Regeln abgestimmter Interaktion - man bedenke das Wagnis! - kontingent gesetzt und auf eine ebenfalls kontingente Mitgliedschaft bezogen. Wiederum entsteht, auf abstrakterer Ebene, eine doppelkontingente Relation, die ihrerseits im System als nichtkontingent behandelt wird: eine nichtkontingente Verknüpfimg kontingenter Sachverhalte. Die Relation der Interaktion wird nochmals relationiert, auf Doppelkontingenz wird nochmals Doppelkontingenz angewandt, bevor man Nichtnegierbarkeit fixiert. Der Vorteil liegt im größeren Reichtum kombinatorischer Möglichkeiten und in der Ermöglichung von Strukturänderungen. Die Erhöhung der Kontingenz im System erlaubt es, eine in größerem Umfange kontingente Umwelt anzuerkennen und sich ihr anzupassen. Sie kann außerdem benutzt werden, um organisierte Sozialsysteme gegeneinander zu differenzieren und zu spezifizieren, bis schließlich in der Gesellschaft durch Organisation eine durch Organisation nicht mehr kontrollierbare Vielfalt entsteht. Dann fragt man nach den „limits to growth". Die vielleicht wichtigste Errungenschaft organisierter Sozialsysteme bezieht sich auf Systemdifferenzierungen. Im Unterschied zu Interaktionssystemen ermöglicht Organisation die Kooperation mit Nichtanwesenden. Es können Teilsysteme gebildet werden, die jeweils voraussetzen und ausnutzen können, daß andere Teilsysteme vorher, gleichzeitig oder nachher komplementäre Leistungen erbringen. Im Unterschied zu gesellschaftlicher Differenzierung hat organisatorische Differenzierung die wichtige Eigenschaft, selbstkompensatorische Funktionen übernehmen zu können. Sie kann Leistungsbereitschaften so spezifisch und so genau einregulieren, daß sie auch
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auf Folgeprobleme der Systemdifferenzierung selbst gerichtet werden können. Es können, mit anderen Worten, im Rahmen von Organisationssystemen besondere Teilsysteme gebildet werden, die Konflikte zwischen den übrigen Teilsystemen entscheiden oder auf andere Weise Störungen beseitigen, die das System bei notwendigen Änderungen koordinieren, die Außenbeziehungen zentral verwalten bzw. Ressourcen beschaffen und verteilen und anderes mehr. Sehr oft handelt es sich dabei um Teilfunktionen, die hierarchisch übergeordneten Teilsystemen zugewiesen werden; aber keineswegs alle Selbstkompensierungen setzen ein hierarchisch geordnetes Machtgefalle voraus. Selbstkompensation über Zusatzdifferenzierung setzt die durch Wachstum und Differenzierung entstandene historische Problemlage als Gegebenheit voraus. Sie befaßt neue Organisationseinheiten mit diesen Problemen, um sie einer Lösung oder zumindest laufender Behandlung zuzuführen; sie erreicht aber nicht und strebt auch nicht an, die Gründe für die Entstehung der Probleme zu beseitigen. Wenn bloße Anbaumöglichkeiten genutzt werden, kommt es also zu neuartigen Prozessen des Wachstums, die auf rationale Problemlösungsstrategien zurückgehen, gute Absichten und gute Gründe für sich mobilisieren und doch die im Effekt entstehende Systemkomplexität nicht begründen und nicht kontrollieren können. Weitere Besonderheiten organisierter Sozialsysteme ergeben sich aus der Art, wie sie die für sie spezifischen Prozesse auffassen und strukturieren. So wie in der Interaktion Verhalten als Kommunikation wird in der Organisation Verhalten als Entscheidung thematisiert. Die Elemente, aus denen Organisationssysteme bestehen und die sie durch selektive Relationierung zu konsistenten Mustern verknüpfen, sind demnach Entscheidungen. Auch dies heißt selbstverständlich nicht, daß außerhalb von Organisationen kein Entscheiden vorkommt. Aber der jeweilige Systemtyp forciert den jeweiligen Prozeßtyp. In Organisationen wird mehr zur Entscheidung, als es einem natürlichen Verhaltensverlauf entsprechen würde, und ein entsprechendes Begleitbewußtsein wird nachentwickelt. Wie weit dies Thematisieren von Verhalten als Entscheiden wirklich durchgreift und zur bewußten Kontrolle von Alternativen führt, können wir offen lassen. Jedenfalls ist das die Perspektive, unter der das Organisationssystem die auf dieser Ebene der Systembildung typischen Strukturen konstituiert. Organisationsstrukturen werden als Entscheidungsprämissen in Geltung gesetzt. Sie
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ermöglichen neuartige Formen des Entscheidens, vor allem reflexive Entscheidungsprozesse, nämlich Entscheidungen über die Frage, ob entschieden oder nicht entschieden werden soll, sowie Planung im Sinne von Entscheidungen über Entscheidungsprämissen, das heißt Entscheidungen über die Organisationsstrukturen selbst. Die Konsequenzen für Theorie und Technik der Strukturvariation auszuarbeiten, muß der Organisationstheorie überlassen bleiben. In unserem Zusammenhang ist vor allem von Bedeutung, daß die Mitgliedschaftsrolle formuliert werden kann als Stelle (Position), in der (änderbare) Aufgaben sich in nahezu beliebiger Spezifikation verknüpfen lassen mit (änderbaren) Anforderungen an Fähigkeiten und Leistungen von (wechselnden) Personen und mit (änderbaren) Kommunikationsmustern. All diese Änderungen müssen und können auf einer Steuerungsebene der Organisation laufend koordiniert werden. Dadurch erreicht die Strukturbildung des Organisationssystems eine in Interaktionssystemen unerreichbare Kontingenz und Komplexität, weicht also in systemtheoretisch zentralen Hinsichten ab von dem, was in der Interaktion sinnvoll und möglich ist - und dies, obwohl Organisationen aus Interaktionen bestehen. In den drei zentralen Hinsichten, in Bezug auf Programme, in Bezug auf Personal und in Bezug auf die Organisation der Kommunikationsmöglichkeiten, setzen organisierte Sozialsysteme ihre Struktur als Restriktion von Normalitätsbedingungen elementarer Interaktion. Interaktionssysteme besitzen eine arrangierfähige Situationsmoral, die auch dazu benutzt werdet kann, Normen mit Konsens zu unterlaufen. Programme des Organisationssystems fixieren dagegen (zumindest bis auf offiziellen Widerruf) die Bedingungen der Richtigkeit des Entscheidens und stellen sie damit unabhängig vom Entscheidungsprozeß sicher. Interaktionssysteme behandeln die Anwesenden als durch Präsenz engagierte, empfindliche, konkrete Personen, deren Willen zur Verhandlung steht. Für Organisationssysteme ist die Person ein Satz von Entscheidungsprämissen, der im System im Rahmen einer Karriere von Position zu Position bewegt werden kann mit absehbaren Konsequenzen für Effizienz und Effektivität der Leistung. Interaktionssysteme ordnen ihre Kommunikation als „all channel net": Im Prinzip kann jeder mit jedem jederzeit reden, nur eben nicht alle auf einmal. Das Kommunikationsnetz der Organisation strukturiert sich als Einschränkung dieser Bedingung und besitzt darin seine komplexe Leistungsfähigkeit. Auf
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der Variabilität von Programmen, Personaleinsatz und organisierter Kommunikation, die im Konzept der „Stelle" zusammengefaßt und integriert wird, beruht die Leistungs- und Anpassungsfähigkeit organisierter Sozialsysteme, und genau dies erfordert eine Umkehrung dessen, was auf der Ebene elementarer Interaktion gilt. 2 2 Nach diesen Vorklärungen läßt sich zeigen, daß und wie über Organisationssysteme Komplexität im relationalen Sinne aufgebaut und reduziert wird. Die Ausdifferenzierung dieses Systemtyps eröffnet zunächst, analytisch gesehen, einen Freiraum unbestimmter Komplexität zur Kombination disponiblen Mitgliederverhaltens. Jedes Verhalten, zu dem motiviert werden könnte, ist auf dieser Ebene der Betrachtung „Element" des Systems. D u r c h das selektive Ausdefinieren der Stellen mittels Programmierung, personaler Besetzung und organisatorischer Verknüpfung wird jenes unbestimmte Netz von möglichen Relationierungen dann reduziert auf ein erwartbares Format. Diese Reduktion muß ihrerseits mit der Umwelt „ausgehandelt" worden — zum Beispiel mit verfügbaren Ausbildungen und Eintrittbereitschaften auf dem Sektor des Personals, mit erreichbaren Inputs, Informationen, Materialien und mit Absatzbedingungen auf dem Sektor der Programmierung, mit Wartefähigkeit der U m welt auf dem Sektor organisatorischer Verknüpfung. Nicht jede Strukturentscheidung, die von den abstrakten Prämissen einer organisatorischen Stellenordnung her möglich wäre, wird von der Umwelt akzeptiert oder ist ihr gegenüber sinnvoll. U n d zu all dem kommt das Geschichte-geworden-Sein des Organisationssystems selbst mit der Folge, daß die abstrakte Kombinatorik nie zur Realität wird, sondern immer nur punktuell in der Form der Möglichkeit, Vorhandenes zu ändern, sich präsentiert. 2 3 22 Daß diese Gegenüberstellung in der Praxis wieder vermittelt werden muß, da Organisation erst über Interaktion zum Handeln kommt, liegt auf der Hand. Sicher kann dies aber nur unter Erhaltung der Differenz geschehen - und nicht dadurch, daß man die Eigenarten der Interaktion mit Schlagworten wie „human relations", „Emanzipation", „Demokratisierung" der Organisation aufdrängt. Eine Gesellschaft, die die Lebensführung von organisierten Sozialsystemen abhängig macht, wird sich solche Kontrastprimitivität nur in sehr begrenztem Umfange leisten können. 23 Auf dieses Problem der Reaktivierung latenter, durch Geschichte verschenkter Potentiale bezieht Philip Selznick, Leadership in Administration: A Sociological Interpretation, Evanston, Ill./White Plains N.Y. 1957, die Funktion der Führung.
Für eine Gesellschaftstheorie ist neben dem Komplexitätsgewinn durch Organisation vor allem wichtig, daß über Organisation die Handlungsfähigkeit sozialer Systeme begründet werden kann, indem man unter die Mitgliedschaftsregeln aufnimmt, daß ein Teil für das Ganze zu handeln befugt ist. Durchweg sind organisierte Sozialsysteme denn auch Kollektive im oben definierten Sinne, was m a n weder von Interaktionssystemen noch von Gesellschaften ohne weiteres sagen kann. Organisationen können, mit anderen Worten, durch Handeln einzelner Stellen und das brauchen gar nicht einmal Führungsstellen zu sein - Selektionen treffen, die dem System als ganzem, und das heißt allen Mitgliedern, zugerechnet werden. Sie können diesen Effekt unabhängig machen von den besonderen Biographien, Motiven und besonderen Beziehungen der jeweils handelnden Personen und ihn der Umwelt gegenüber abstrakt gewährleisten. Sie können in diesem Sinne bindend entscheiden, sich selbst verpflichten, vertreten werden, ohne alle an allem zu beteiligen. D a s ist eine unabdingbare Voraussetzung der Bewegungsund Anpassungsfähigkeit komplexer, differenzierter Systeme in einer komplexen Gesellschaft. Schließlich unterscheiden organisierte Sozialsysteme, da sie über explizit erfaßte Kontingenzrelationen im Verhältnis zur Umwelt überhaupt erst konstituiert werden, sich von anderen Sozialsystemen durch zwangsläufige Grenzschärfe und selbstreferentielle Strukturbildung. Es ist durchweg klar oder zumindest klärbar, welche Mitgliedschaftsbedingungen m a n beim Eintritt in eine Organisation akzeptiert; und es ist festgelegt, welche Stellen zur Organisation gehören und welches Handeln demzufolge „im Dienst" oder in A u s f ü h r u n g einer zugewiesenen Arbeit erfolgt und welches nicht. Diese Klarheit beruht darauf, daß die Organisation ihre Identität und ihre Differenz zur Umwelt kennt. 2 4 Organisation nimmt also, was notwendige Selbstbezüglichkeit angeht, den Platz ein, den in der Theorie Hegels das Recht innehatte — aber natürlich ohne dessen gesellschaftsweite Universalität. Der späteste und voraussetzungsreichste Typus sozialer Systeme wird mit diesen Eigenschaften zugleich ihr Prototyp. Dabei ist jedoch weder Grenzschärfe noch Selbstbezüglichkeit eine Garantie für Rationalität. Garantiert ist auf diese Weise nur die Möglichkeit, eine eigene 24 Theodore Caplow, Principles of Organization, New York 1964, S. 1 definiert sogar: „an organization is a social system that has an unequivocal collective identity, an exact roster of members, a program of activity, and procedures for replacing members."
Niklas Luhmann: Ebenen der Systembildung- Ebenendifferenzierung selbstselektive Systemgeschichte zu haben, die im Verhältnis zur Umwelt diskontinuierlich verlaufen kann und deshalb keineswegs ein ausgewogenes Verhältnis zu späteren Umwelten garantiert. 1.3 Gesellschaftssysteme Gesellschaft ist das jeweils umfassende Sozialsystem aller kommunikativ füreinander erreichbaren Erlebnisse und Handlungen. Sie entsteht mit der Konstitution von Sinn, nämlich dadurch, daß jeder Sinngehalt auf mögliche Auffassungen und Anschlußselektionen fremden Erlebens und Handelns verweist (und nur dadurch Sinn ist).25 Gesellschaft ist daher in transzendentaltheoretischer Sprache das Sozialapriori genannt worden. 26 Sie ist der stets apperzipierte Sozialhorizont aller Kommunikation, der die aktuellen und die möglichen Teilnehmer zusammenschließt. Sie setzt die jeweils Anwesenden der Orientierung an möglichen Kommunikationen Nichtanwesender aus (die zu ignorieren oder zu umgehen oder abzuweisen man sich natürlich entschließen kann - aber eben auch entschließen muß). Die Gesellschaft ist mithin nicht an Anwesenheit gebunden. Sie expandiert automatisch in dem Maße, als Kommunikationsmöglichkeiten in Sicht kommen. Sie regelt dabei zugleich die Bedingungen der Möglichkeit von Kommunikation, also die Bedingungen ihrer eigenen Expansion. Für die Konstitution und Umgrenzung des Gesellschaftssystems ist mithin ausschlaggebend, daß in allen Interaktionssystemen mögliche andere Kommunikationen mit in Betracht gezogen und mit den laufenden Kommunikationen integriert werden; und dies in einer Weise, die nicht voraussetzt, daß über diese anderen Kommunikationen in der Interaktion aktuell kommuniziert wird, daß sie also zum Thema gemacht werden. Der das Gesellschaftssystem bestimmende Prozeßbegriff ist daher die sinnhafte Verarbeitung sozial möglicher, sei es aktueller, sei es „bloß möglicher" Kommunikationen. Der Konstitutionsraum der Gesellschaft ist die Modalität, ihre Prozeßform der Umgang mit Modalitäten, und 25
Vgl. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Husserliana Bd. I, Den Haag 1950, S. 137ÍF. Siehe auch René Toulemont, L'essence de la société selon Husserl, Paris 1962; Michael Theunissen, Der Andere: Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1965. 26 Siehe Max Adler, Das Rätsel der Gesellschaft: Zur erkenntnis-kritischen Grundlegung der Sozialwissenschaften, Wien 1936.
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zwar speziell mit denen, die auf soziale Bedingungen zurückgehen. Auch das Gesellschaftssystem forciert diesen seinen spezifischen Prozeßtyp. Es forciert nicht Kommunikativität und Kommunikationskontrolle im eigenen Verhalten und nicht ein unnormal hohes Entscheidungsbewußtsein; das leisten Interaktionssysteme und Organisationssysteme in der Gesellschaft. Ausgebaut wird über Gesellschaftsbildung vielmehr jenes Inbetrachtziehen anderer Möglichkeiten: früheren oder späteren aktuellen oder bloß möglichen Verhaltens der eigenen Person oder anderer Personen. D a ß und in welchen Formen dies Inbetrachtziehen möglich ist und wie es praktisch aufgedrängt wird, das hängt von den Strukturen des Gesellschaftssystems ab und variiert mit gesellschaftlicher Evolution. Im Unterschied zu Interaktionssystemen und Organisationssystemen beruhen Gesellschaftssysteme deshalb auf unsicheren Grenzen und auf unsicherer Ubereinstimmung in der Wahrnehmung von Grenzen. Ihr Systembildungsprinzip ist die bloße Möglichkeit, daß jemand selbst oder kommunikativ erreichbare andere mit anderen kommunizieren. Die aktuale Existenz einer Gesellschaft ist mithin die Wirklichkeit von Möglichkeiten, ja von Möglichkeiten in mehrfacher Modalisierung (Möglichkeiten von Möglichkeiten). Will man dieser Tatsache auf der Ebene wissenschaftlicher Erkenntnis Rechnung tragen, muß man mit dem Gesellschaftsbegriff auch die Probleme der Modaltheorie übernehmen; muß man vor allem akzeptieren, daß Möglichkeitsaussagen hochgradig unbestimmt sind und nur durch Relativierung auf Bedingungen der Möglichkeit präzisierbar sind. Diese Bedingungen der Möglichkeit von Kommunikationen müssen ihrerseits als gesellschaftliche Fakten erforscht worden. Es kann sein, daß sich schon hier nur minimale Übereinstimmungen ergeben und daß selbst in gefestigt und monolithisch erscheinenden Gesellschaften wie im klassischen China wandernde Mönche, reisende Kaufleute, Generäle und landansässige Bauern Kommunikationsmöglichkeiten kaum unter gleichen Gesichtspunkten abschätzen. Ebenso wie die Bedingungen der Möglichkeit können auch die Anforderungen an die Sicherheit des Möglichen und die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens divergieren. Gleichwohl treffen die durch mehr oder weniger fernliegende andere Möglichkeiten gesteuerten Selektionen der Einzelnen im gesellschaftlichen Leben laufend aufeinander, da sie mit bestimmen, was in Interaktionen geschieht. Gerade wenn man nun damit rechnen muß, daß realistische Mög-
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lichkeitsprojektionen der Teilnehmer inhaltlich und in der Bezugsweise ihrer Modalisierung divergieren, kann ihre Koordination, kann die selektive Akkordierung der Selektionen nicht mehr allein dem jeweiligen Interaktionssystem überlassen bleiben. Die Systembildung auf der Ebene der Gesellschaft hat deshalb eine in Interaktionssystemen nicht erfüllbare Funktion. Sie ermöglicht erst Interaktionen durch eine gewisse Vorwegkoordination der anderen Möglichkeiten und Möglichkeitseinschätzungen, die die Partner in jeweilige Interaktionen einbringen. Die Gesellschaft hat nicht nur ihre Realität, sie hat auch ihr Problem in einer Koordination des Möglichen. Und sie benutzt dafür eine eigene System / UmweltDifferenzierung. Sie kann zum Beispiel politische (territoriale) Grenzen ziehen und die Vermutung institutionalisieren, daß Kommunikationsmöglichkeiten mit anderen Partnern innerhalb dieser Grenzen gesellschaftlich und interaktionell relevant sein können, darüber hinausreichende Kommunikationsmöglichkeiten dagegen gleichsam Privatsache des Einzelnen sind. Nach dieser Auffassung kann die Gesellschaft nicht als eine bloße Summe aller Interaktionssysteme begriffen werden und auch nicht als Gesamtheit der (externen) Beziehungen zwischen Interaktionssystemen. Ihr umfassender Charakter ist als Einheit einer Menge nicht zureichend beschrieben, vor allem nicht in seinem dynamisch-expansiven Grundzug. Ebenso wenig genügt die klassische Interpretation der Umfassendheit durch den politischen Begriff der Autarkie, der auf Selbstbestimmung abstellte. 27 Die Gesellschaft hat ihre Einheit vielmehr als Sonderhorizont sinnhaften Erlebens und Handelns, und sie hat ihre Umfassendheit darin, d a ß dieser Sonderhorizont f ü r sinnhaftes Erleben und Handeln konstitutiv ist. Wenn alles Erleben und Handeln Gesellschaft konstituiert und also in der Reflexion Gesellschaft immer schon vorfindet, gibt es keinen externen Standpunkt,
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F ü r die Schwierigkeiten, in die ein f u n k t i o n a l i s t i s c h e r u n d systemtheoretischer A n s a t z gerät, der a m A u t a r k i e begriff als D e f i n i t i o n s m e r k m a l der Gesellschaft festhält, bildet die G e s e l l s c h a f t s t h e o r i e von T a l c o t t Parsons ein Beispiel. Vgl. Societies: E v o l u t i o n a r y a n d C o m p a r a t i v e Perspectives, E n g l e w o o d Cliffs N . J . 1966, S. 9 f f . m i t der A b s c h w ä c h u n g , d a ß es n u r u m d e n relativ h ö c h s t e n G r a d a n Selbstgenügsamkeit u n t e r d e n sozialen Systemen gehe. Ä h n l i c h a u c h E d w a r d Shils, Society a n d Societies: T h e Macro-Sociological View, in: T a l c o t t Parsons (Hrsg.), A m e r i c a n Sociology: Perspectives, Problems, M e t h o d s , N e w Y o r k / L o n d o n 1968, S. 2 8 7 - 3 0 3 .
den man der Gesellschaft gegenüber einnehmen könnte. Gesellschaft m u ß dann als eine selbstsubstitutive Ordnung begriffen werden. Sie kann nicht durch etwas anderes, sondern nur durch sich selbst ersetzt, das heißt nur entwickelt werden. In der Gesellschaftstheorie kann diesem selbstsubstitutiven Charakter durch die A n n a h m e von Unnegierbarkeiten Rechnung getragen werden - alteuropäisch zum Beispiel durch die Vorstellung der Realperfektion (realitas sive perfectio) der Gesellschaft, neuzeitlich durch Nachfolgebegriffe wie Entwicklung oder Reflexion oder schließlich selbstreferentielle (dialektische) Negation. D a m i t ist noch nicht geklärt, ob und in welchem Sinne Gesellschaft als ein System begriffen werden kann, das sich auf einer besonderen Ebene der Systembildung konstituiert. Wir sehen Systembildung als Variable an und behandeln das Problem der Grenzsetzung als Problem der Stabilisierung eines Komplexitätsgefalles. Der Sonderhorizont des Sozialen, die allgemeine Verweisung auf das k o m m u nikativ erreichbare Miterleben anderer ist zunächst keine Systemgrenze. Die Gesellschaft differenziert sich aus in dem Maße, als dieser Sozialhorizont zur Grenze wird. Zur Umwelt wird d a n n alles, was nicht Kommunikation ist: der physische, der organische und der psychische Systemaufbau. Personale Systeme rechnen daher zur Umwelt des Gesellschaftssystems. 28 Das erfordert eine De-Sozialisation der Umwelt. 2 9 N u r so kann die Grenze zwischen Sozialem und Nichtsozialem stabil gehalten werden in dem Sinne, daß sie auch beim Überschreiten dieselbe bleibt und nicht wie ein Erlebnishorizont sich im Voranschreiten verschiebt. Eine ausführlichere Behandlung der Ausdifferenzierung der Gesellschaft als eines Handlungssystems verschieben wir auf das 4. Kapitel. 30 Hier kommt
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E i n e sehr u m s t r i t t e n e These. D e r G e g e n e i n w a n d lautet, d a ß personale Systeme o h n e Gesellschaft gar n i c h t m ö g lich sind. Aber das gilt a u c h f ü r g r o ß e Bereiche der physischen u n d o r g a n i s c h e n U m w e l t : f ü r s c h m u t z i g e Flüsse u n d saubere S t r a ß e n , K ü h e u n d Schafe usw. N i e m a n d w i r d all d a s z u m System der Gesellschaft r e c h n e n . Interd e p e n d e n r ist kein ausreichendes A r g u m e n t f ü r I n k l u sion. 29
Dieser Begriff bei T h o m a s L u c k m a n n , O n t h e B o u n daries of t h e Social W o r l d , in: M a u r i c e N a t a n s o n (Hrsg.), P h e n o m e n o l o g y a n d Social Reality: Essays in M e m o r y of A l f r e d Schutz, D e n H a a g 1970, S. 7 3 - 1 0 0 . 30
A n m . des Herausgebers: B e i d e r B e n e n n u n g d e r v e r s c h i e d e n e n Teile der Gesellschaftstheorie v e r f ä h r t L u h m a n n n i c h t i m m e r einheitlich. W ä h r e n d die o. g. M a n u s k r i p t e
Niklas Luhmann: Ebenen der Systembildung - Ebenendifferenzierung
es zunächst nur auf den Vergleich mit den anderen Ebenen der Systembildung an. Im Falle des Gesellschaftssystems dient weder Anwesenheit noch disponible Mitgliedschaft als Prinzip der Systembildung; vielmehr dienen die Grenzen des Gesellschaftssystems der Transformation unbestimmt bleibender anderer Möglichkeiten im kommunikablen Sinn, an dem man ablesen kann, „wer dahintersteht". Das Gesellschaftssystem leistet - in allen uns bekannten historischen Formationen zunächst in religiöser Form die Uberführung unbestimmter in bestimmte oder doch bestimmbare Kontingenz, eine Leistung, die vorausgesetzt werden muß, wenn man sich zu Interaktionen oder Organisationen zusammenfindet. Sie garantiert damit nicht nur eine geordnete Umwelt aller übrigen Sozialsysteme und nicht nur die Möglichkeit eines Wechseins zwischen den Systemen, sondern zugleich auch das, was wir oben ihre „Regenerationsfähigkeit" genannt hatten. Die Regenerationsfähigkeit der Sozialsysteme ist im selbstsubstitutiven Charakter der Gesellschaft verankert. Mit diesen Eigenschaften ist die Gesellschaft das jeweils komplexeste aller sozialen Systeme. Oder anders formuliert: Das jeweils komplexeste aller sozialen Systeme übernimmt für die anderen die Funktion von Gesellschaft, die Funktion der Weltkonstitution und der Garantie einer sozial schon strukturierten (gesellschafts-)internen Umwelt. Die Möglichkeitsebene dieses Systems ist die aller möglichen Kommunikationen. Sie korreliert mit der Welt als dem letztumfassenden Sinnhorizont. Die reduktive Struktur dieses Systems hatte bis in die neuere Zeit immer ein Fundament, das als Religion begriffen wurde. Sie wird jedenfalls auch durch das Differenzierungsschema und die Systemgeschichte des Gesellschaftssystems erfüllt. Im Laufe der gesellschaftlichen Evolution nimmt die Komplexität möglicher Kommunikationen zu. Damit wird die Unmöglichkeit des Möglichen bewußt: Man kann
zur allgemeinen Theorie sowie zur Ebenendifferenzierung als „Teil 1" bzw. „Teil 2 " bezeichnet werden, werden die folgenden Manuskripte zu Evolution, Kommunikationsmedien (diese beiden Abschnitte werden in der später veröffentlichten Version der Gesellschaftstheorie in umgekehrter Reihung publiziert werden), Gesellschaft und Reflexion mehrheitlich als „Kapitel", manchmal aber auch als „Teile" bezeichnet. Die Nummerierung verläuft für diese Manuskripte dabei von 2 bis 5 (bzw. II bis V), d. h. die Teile 1 und 2 sind in dieser Nummerierung als das erste Kapitel der Gesellschaftstheorie zu verstehen — in den späteren Versionen steht hier dann das Kapitel zum Gesellschaftsbegriff.
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gar nicht so kommunizieren, wie man könnte. Darauf reagiert die Gesellschaft mit dem Bewußtsein der Notwendigkeit kontingenter Reduktionen. Diese Entwicklung, die Mögliches als unmöglich und Notwendiges als kontingent entlarvt, sprengt die Prämissen der alteuropäische Modaltheorie, die possibile /impossibile und necessarium / contingens durch einfache Negation zu trennen gewohnt war. An die Stelle tritt relationierende soziologische Reflexion, und zwar nicht als unabhängige Betrachtung des Gegenstandes Gesellschaft, die ebensogut auch unterbleiben könnte, sondern als Reflexionsmoment des Gesellschaftssystems selbst. Wird auf diese Weise die Kontingenz reduktiver Strukturen — sei es Religion, Systemgeschichte, Differenzierungsschematik - bewußt, öffnet sich die Zukunft für andere Möglichkeiten. Deren Bestimmung erfordert wiederum Relationierungen, und zwar solche, die die Komplexität des Gesellschaftssystems mit der seiner Umwelt verbinden. Mit diesen Anforderungen findet sich die Gesellschaftstheorie heute konfrontiert. Eben dadurch wird ein relational gebauter Komplexitätsbegriff erforderlich, der Limitationalität begründet mit der These, daß auch Beliebiges, für sich selbst Unbestimmbares, sich nicht beliebig verknüpfen läßt. Diese Überlegung macht die Gesellschaftstheorie, obwohl nur Teiltheorie der Systemtheorie, zu dem Ort, an dem ein solches Fundierungsversprechen im Detail eingelöst werden muß.
2.
Ebenendifferenzierung
Wir haben drei Ebenen der Systembildung zunächst analytisch unterschieden und einander gegenübergestellt. Jetzt wird uns die Frage beschäftigen, wie eine solche Ebenendifferenz faktisch erreicht werden kann. Selbstverständlich gibt es diese Differenzierung nicht a priori in der Form frei schwebender logischer oder natürlicher Möglichkeiten, die aller Systembildung vorausgehen. Sie wird in der Gesellschaft selbst erzeugt dadurch, daß unter angebbaren Bedingungen Systembildungen bestimmten Typs Erfolgschancen haben. Wenn diese These zutrifft, dann müßten sich Zusammenhänge zwischen gesellschaftlicher Evolution und Ebenendifferenzierung nachweisen lassen. Das ist in der Tat der Fall, Ebenendifferenzierung ist ein Produkt, ist eine Errungenschaft gesellschaftlicher Evolution, wie wir im ersten Unterabschnitt zeigen wollen. Außerdem müßten die Bedingungen der
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Möglichkeit u n d der E r h a l t u n g von Ebenendifferenzierung sich aus d e m gesellschaftlichen Systemaufbau erklären lassen. W i r wollen dies im zweiten U n terabschnitt a m Verhältnis von Untersystembildung zu Ebenendifferenzierung zu belegen versuchen u n d tragen d a m i t zugleich der Kritik R e c h n u n g , die wir gegen eine Gesellschaftstheorie formuliert hatten, die allein mit d e m Konzept z u n e h m e n d e r Systemdifferenzierung a u s z u k o m m e n versucht. M i t der Erö r t e r u n g einiger systemtheoretischer Konsequenzen schließen wir dieses Kapitel ab.
2.1 Evolutionäre Aspekte Alle uns b e k a n n t e n Gesellschaften differenzieren zumindest in einfachster Form Interaktionssystem e u n d Gesellschaftssystem. Diese Differenz setzt Sprache voraus u n d stellt sich mit der Evolution von Sprache wohl zwangsläufig ein. D u r c h Sprache läßt sich der gemeinsame W a h r n e h m u n g s h o r i z o n t Anwesender transzendieren, u n d dies nicht n u r in der individuellen E r i n n e r u n g u n d E r w a r t u n g der Einzelnen, sondern im sozialen Prozeß. Es wird über Nichtanwesendes oder Nichtanwesende gesprochen: über räumlich u n d / o d e r zeitlich entfernte Ereignisse. 31 D a d u r c h differenziert sich das System der Anwesenden von d e m Gesamtsystem der Anwesenden u n d Abwesenden, wobei das Gesamtsystem zunächst noch ganz im Bereich der f ü r jeden Teiln e h m e r naheliegenden, praktisch erreichbaren, alltäglichen Interaktionen liegt. Die Differenzierung erfordert zugleich, d a ß jedes Interaktionssystem sich d u r c h seine Thematik, sofern sie Abwesendes impliziert, in das Gesamtsystem integriert. W i r werden im nächsten Teil noch ausführlich begründen, d a ß n u r das Sozialsystem der Gesellschaft die komplexen Voraussetzungen f ü r Evolution realisieren k a n n . Soziokulturelle Evolution bezieht sich daher i m m e r auf diese Systemreferenz, verändert zunächst u n d direkt n u r die S t r u k t u r e n des G e sellschaftssystems u n d n u r über dieses die umweltmäßigen B e d i n g u n g e n f ü r Interaktion. Langfristig gesehen m u ß eine solche Einseitigkeit Differenzierungswirkungen auslösen. D a h e r hat im Laufe der gesellschaftlichen Evolution die Differenzierung von Ebenen der Systembildung z u g e n o m m e n . Die
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Die evolutionäre Diskontinuität dieser „time-binding"Funktion von Sprache betont James E. Goggin, An Evolutionary Analysis and Theoretical Account of the Discontinuous Nature of Human Language, The Journal of Communication 23 (1973), S. 169-186.
ältesten f ü r uns erkennbaren Gesellschaftssysteme 3 2 h a t t e n sich als A b s t a m m u n g s - , L e b e n s f ü h r u n g s u n d später Siedlungsgemeinschaften auf der Basis intermittierend-verflochtener Interaktionssysteme einfachster A r t gebildet. Ein M o m e n t von O r g a n i sation d ü r f t e ebenfalls präsent gewesen sein in d e m Sinne, d a ß der Z u g a n g zu gemeinsamen U n t e r n e h m u n g e n auch f ü r Stammesmitglieder nicht beliebig offen stand, sondern von der E r f ü l l u n g gewisser Bedingungen abhing. 3 3 Auch die M e c h a n i s m e n kollektiver Verantwortlichkeit setzen die Möglichkeit voraus, Mitglieder auszustoßen, enthalten also ein organisationsartiges Element. Bei einem so geringen Grade der Differenzierung k ö n n e n aber die Systemtypen nicht in selbständiger A u s p r ä g u n g erwartet werden; sie vermischen ihre Eigenarten, färben aufeinander ab. Es gibt zwar Gesellschaft im Sinne der Relevanz des Erlebens u n d H a n d e l n s von Nichtanwesenden, aber deren Relevanz reduziert sie auf mögliche Anwesenheit - auf H i l f e oder Störung in der Interaktion. Es gibt regulierte Z u g a n g s b e d i n g u n g e n zur Interaktion - etwa Regeln der Beuteverteilung, die a n e r k a n n t werden müssen, aber sie dienen nicht d e m A u f b a u komplexer, langkettiger Interaktionszusammenhänge, sondern sie dienen direkt der selektiven A k k o r d i e r u n g . Die A u ß e n grenzen des Gesellschaftssystems lassen sich infolgedessen von denen der Interaktionssysteme nicht trennen. 3 4 Sie werden n u r situationsweise (also: in32
Wir meinen hier und im Folgenden im Zusammenhang von evolutionstheoretischen Erörterungen immer die historisch ältesten Gesellschaftssysteme. Die zeitgenössischen Restbestände primitiver Gesellschaften können eine Erkenntnishilfe sein, können aber den Prozeß der gesellschaftlichen Evolution, der an ihnen vorübergegangen ist, nicht erklären. 33 Mit den ausgearbeiteten Weberschen Kriterien rationaler Organisation dürfte diese Einmischung organisatorischer Elemente in Interaktion und Gesellschaft nicht zureichend zu erfassen sein. Die Weberschen Kategorien verwendet für eine Aufarbeitung ethnologischen Materials Stanley H. Udy, The Organisation of Work, New Haven Conn. 1959; ders., Preindustriai Forms of Organized Work, in: Wilbert E. Moore/Arnold S. Feldman (Hrsg.), Labor Commitment and Social Change in Developing Areas, New York 1960, S. 78-91. 34 Zur prekären „unboundedness" primitiver Gesellschaftssysteme als Entwicklungshindernis und zur Errungenschaft der Festigung territorialer Grenzen vgl. Parsons, Societies a.a.O., S. 37f., 42f.; Morton H. Fried, The Evolution of Political Society: An Essay in Political Anthropology, New York 1967, S. 94 ff. Auf Grund neuerer Forschungen kann man allerdings nicht mehr von einem Nacheinander von primitiven Verwandtschafts-
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teraktionsabhängig) aktualisiert - ebenso wie Stammesnamen, Mythen, Zusammengehörigkeitsgefühle über engste Gruppierungen hinaus - und sind daher auch wissenschaftlich schwer identifizierbar. 35 Sie leisten keine De-Sozialisation und Versachlichung der Umwelt. Die Zeithorizonte sind so kurz wie das in der Interaktion aktivierbare gemeinsame Gedächtnis. Im wesentlichen ist die Zeit Gegenwart, bestimmt durch die soziale Simultaneität der Interaktion. 3 6 So fehlt der Zeitraum für die Bildung langer, heterogener Ketten von Interaktionssystemen durch Organisation oder Gesellschaft. Jenseits des Interaktionsraums mit seinen übersehbaren sachlichen, zeitlichen und sozialen Strukturen beginnt eine mythische Umwelt ohne deutliche zeitliche und räumliche Beziehung zur Gesellschaft. 3 7 Die mythi-
gesellschaften und archaischen Territorialgesellschaften ausgehen, sondern eher von einem Nebeneinander mit unterschiedlichen Entwicklungschancen. 35 Vgl. die Analyse des Begriffs „tribe" im Hinblick auf sein Gegenstandskorrelat bei Fried a. a. O., S. 154 ff.; siehe auch ders., O n the Concepts of „Tribe" and „Tribal Society", Transactions of the N e w York Academy of Sciences, Series II, 28 (1966), S. 527-540; Raoul Naroll, O n Ethnic Unit Classification, Current Anthropology 5 (1964), 2 8 3 - 2 9 1 ; Fredrik Barth (Hrsg.), Ethnic Groups and Boundaries: The Social Organization of Culture Difference, Bergen / Oslo / London 1969 zur sozialen Definition ethnischer Grenzen. 3 6 Einen Vergleich mit Zeitvorstellungen späterer Hochkulturen unter diesem Gesichtspunkt schlägt Marian W. Smith, Different Cultural Concepts of Past, Present, and Future: A Study of Ego Extension, Psychiatry 15 (1952), S. 3 9 5 - 4 0 0 , vor.
Zur Differenz von Interaktionsgeschichte und mythischer (unstrukturierter, mit der Gegenwart nicht kontinuierlich verknüpfter) Zeit in einfachen Gesellschaften vgl. etwa Ian Cunnison, History on the Luapula: An Essay on the Historical Notions of a Central African Tribe, Cape Town / London / New York 1951; Paul Bohannan, Concepts of Time A m o n g the Tiv of Nigeria, Southwestern Journal of Anthropology 9 (1953), S. 251-262; Nicholas J. Gubser, The Nunamiut Eskimos: Hunters of Caribou, N e w H a v e n / L o n d o n 1965, S. 18 ff.; John Middleton, The Lugbara of Uganda, N e w York 1965, S. 18 ff.; Charles Hudson, Folk History and Ethnohistory, Etnohistory 13 (1966), S. 5 2 - 7 0 (56 ff.); Ernst Jenni, Das Wort „öläm" im Alten Testament, Berlin 1953. Im Übergang zur Hochkultur setzt sich dagegen — bei aller Fortsetzung des Denkens in zwei Zeitebenen bis zur Neuzeit hin — ein Interesse durch, größere Zeitstrecken kontinuierlich mit Gegenwart zu verknüpfen — ein Interesse, das nicht mehr als ein solches elementarer Interaktionssysteme erklärt werden kann. Vgl. dazu etwa Silvio Accame, La concezione del tempo nell' età arcaica, Rivista di filologia e di 37
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sehe Umwelt wird durch Erzählung in das System eingeführt, aber nicht durch selektiv kontrollierende Grenzen mit ihm verbunden. Der Mythos dient als bloße Interpretation dessen, was als Ereignis unbestimmbar bleibt. Diese Ausgangslage in kleinen, wenig komplexen Sozialsystemen, in denen es ansatzweise schon möglich, für die normale Lebensführung aber nicht nötig ist, zwischen Interaktionssystem und Gesellschaftssystem zu unterscheiden, erklärt die besondere Stellung der Familie (oder, ökonomisch gesprochen, des Haushaltes) im Prozesse der gesellschaftlichen Differenzierung. Die Familie bildet für ihre eigene Lebensweise also zunächst gar keine Systemreferenz aus, die sich vom Modus der Interaktion unterscheiden und eine besondere Funktionszuweisung tragen könnte. Es genügt nicht, diese Ausgangslage (und damit die Familie) als „funktional diffus" zu charakterisieren, wie es häufig geschieht; 38 denn das ist eine nur negative, aus der Erwartung funktionaler Differenzierung stammende, gegenbegriffliche Charakterisierung. Nicht die Funktionsverschmelzung, sondern die interaktive Struktur von Gesellschaftlichkeit prägt den Anfang. Daraus hatte sich auf eine gleichsam natürliche Weise ergeben, daß immer der Haushalt, personal vertreten durch den Hausvater, die kleinste Einheit des Gesellschaftssystems war. Erst die neueste Zeit, erst die revolutionäre bürgerliche Gesellschaft verfiel auf die Idee, diese Stellung der kleinsten, für das Gesellschaftssystem nicht weiter auflösbaren Einheit dem Menschen als Menschen zuzuweisen, womit die Familie unter die Funktionssysteme einrangiert wurde als eines unter anderen, an denen Individuen in jeweils einigen ihrer gesellschaftlichen Rollen teilnehmen können. An diesem Endpunkt der bisherigen Entwicklung wird daher konsequent und über alle Funktionssysteme hinweg zwischen der funktional differenzierten Gesellschaft und den Interaktionssystemen differenziert. Die neu entdeckte Subjektivität des individuellen Menschen ist die Formel, in deren Namen diese Revolution sich politisch, ökonomisch und pädagogisch etabliert. Aber wir greifen vor. Schon der Ubergang von der Archaik zur Hochkultur hatte jene gesellschaftlichinteraktive Ausgangslage in wesentlichen Hinsichistruzione classica η. s. 39 (1961), S. 3 5 9 - 3 9 4 ; François Chátelet, La naissance de l'histoire: La formation de la pensée historienne en Grèce, Paris 1962, insb. S. 28ff. 3 8 Vgl. etwa Talcott Parsons, Introduction to Part Two, in: Talcott Parsons/Edward Shils/Kaspar D. Naegele/ Jessi R. Pitts (Hrsg.), Theories of Society, Glencoe 111. 1961, Bd. I, S. 2 3 9 - 2 6 4 .
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ten verändert und zwar auf Grund von Veränderungen im Gesellschaftssystem. Mit den Anfängen der Hochkultur expandiert der Bereich möglicher Kommunikation und ist - hier dürfte der Entwicklung der Schrift die auslösende Bedeutung zukommen 39 - nicht mehr auf Anwesenheit, also nicht mehr auf die Bildung von Interaktionssystemen angewiesen. Jetzt werden neue Freiheiten gegenüber Kommunikationen möglich und damit zugleich neuartige Zusatzeinrichtungen zur Sprache, die wir unter dem Titel Kommunikationsmedien ausführlich behandeln werden. Gesellschaftssystem und Interaktionssysteme können deutlicher unterschieden werden. Die evolutionsträchtigen Gesellschaftssysteme werden größer, komplexer und verstärken spätarchaische Ansätze zur funktionalen Differenzierung von Teilsystemen. Innerhalb ihrer militärischen, politisch-administrativen, religiösen und ökomischen Bereiche entstehen Ansätze zur Organisation komplexerer Organisationseinheiten. Sie sind weit davon entfernt, das oben skizzierte Prinzip der Kontingenz von Rekrutierung und Regelbildung und der Rationalisierung dieses Zusammenhanges zu verwirklichen; sie bleiben in der Rekrutierung mehr oder weniger an die Schichtenstruktur, in der Programmierung an die kosmisch-moralische Weltprojektion der Gesamtgesellschaft und in der Organisation der Kommunikation ans Zeremoniell gebunden. 40 Dies gilt vor allem für Organisationen " Vgl. Jack Goody/ Ian Watt, The Consequences of Literacy, Comparative Studies in Society and History 5 (1963), S. 304—345; Jack Goody, Evolution and Communication: The Domestication of the Savage Mind, The British Journal of Sociology 24 (1973), S. 1-12. 40 Ein gutes Beispiel bietet die Stadt- und Palast-Organisation in China und in Südostasien. Vgl. dazu Sybille van de Sprenkel, Legal Institutions in Manchu China: A Sociological Analysis, London 1962, S. 28 ff. (45); André Leroi-Gourhan, Le Geste et la Parole, Bd. II, Paris 1965, S. 159 ff.; Paul Wheatloy, The Pivot of the Four Quarters: A Preliminary Inquiry into the Origins and Character of the Ancient Chinese City, Edinburgh 1971; Fred W. Riggs, Thailand: The Modernization of a Bureaucratic Polity, Honolulu 1966; Robert Heine-Geldern, Conceptions of State and Kingship in Southeast Asia, in: S.N. Eisenstadt (Hrsg.), Political Sociology: A Reader, New York/ London 1971, S. 169-177 (zum auch sonst nachweisbaren Zusammenhang von Weltsymbolisierung und Hausbau vgl. Marcel Griaule, L'image du monde au Sudan, Journal de la Société des Africanistes 19 (1949), S. 81-87). Bemerkenswert für den chinesischen Kulturkreis ist, daß relativ hohe Freiheiten der Personalrekrutierung und Personalbewegung im Sinne einer Unabhängkeit von schichtenmäßiger Determination - dazu z. B. E. A. Kracke, Jr., Ci-
im Bereich des evolutionär führenden politischen Teilsystems der Gesellschaft. Immerhin distanziert das Dazwischentreten von Organisation zusammen mit einer ausgeprägten SchichtendifFerenzierung die Ebene der Gesellschaft und die Ebene der Interaktionssysteme so stark, daß die Gesellschaft sich unabhängig von den Restriktionen des Systemtyps Interaktion entwickeln kann. Andererseits bleibt das Gesellschaftssystem noch so „interaktionsnah" konstituiert, daß man sich eine moralische Integration der Gesellschaft, das heißt eine Integration durch Kommunikation der Bedingungen wechselseitiger menschlicher Achtung, in stark generalisierter Form noch vorstellen und schichtenspezifisch wohl auch erreichen kann. Wenn Interaktion und Gesellschaft in dieser Weise auseinandertreten, kommt es zu einem Bedarf für Symbole, die die Einheit des Getrennten manifestieren. Für diese Funktion bilden sich zum Beispiel im Mittelalter die Begriffe der Repräsentation und der Partizipation aus.41 Beide zielen auf ausgezeichnete
vil Service in Early Sung China - 960-1067, Cambridge Mass. 1953; Robert M . Marsh, The Mandarins: The Circulation of Elites in China 1600-1900, New York 1961; Ping-Tillo, The Ladder of Success in Imperial China, New York/London 1962, kompensiert werden durch um so stärkere Bindungen in kosmologischer literarisch-traditionaler, juristischer und zeremonieller Hinsicht, also auf den Sektor Programmierung und Organisation der Kommunikation. Die Komplexität dieser Bürokratie führt dann mangels ausreichender Differenzierung von Organisation und Gesellschaft zur Konservierung der vorhandenen Struktur. Vgl. dazu James T. C. Liu, Sung Roots of Chinese Political Conservativism: The Administrative Problems, Journal of Asian Studies 26 (1967), S. 457-463. Relativ hohe Rationalität allein auf dem Gebiet der Personalselektion ist kein ausreichender Innovationsfaktor. Eine volle Freigabe von Personalpolitik, Programmpolitik und Organisationspolitik für eine rationale wechselseitige Determination auf der Organisationsebene findet sich in den älteren Hochkulturen nirgends. 41 Begriffsgeschichtliche Analysen zu diesen beiden zentraler Konzepten sind zumindest entweder mehr organisationsgeschichtlich (z. B. parlamentsgeschichtlich) oder mehr geistesgeschichtlich-intuitiv angelegt; sie müßten mit moderneren, gesellschaftstheoretischen Mitteln wiederholt werden. Vgl. zu Repräsentation: Carl Schmitt, Verfassungslehre, München / Leipzig 1928, S. 206 ff; Gerhard Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert. 2. Aufl. Berlin 1960; Hans J. Wolff, Organschaft und Juristische Person, Bd. 2, Berlin 1934, S. 16-91, neu gedruckt in Heinz Rausch (Hrsg.), Zur Theorie und Geschichte der Repräsentation und Repräsentativverfassung, Darmstadt
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Interaktionen, in denen das Ganze, das als Ganzes unmöglich anwesend sein, dennoch zur Erscheinung gebracht werden kann. Die Begriffe können mehr existentiell und statisch oder mehr prozeßmäßig und dynamisch interpretiert werden, sie können eine Seinsweise oder eine Handlungsweise ausdrükken. Diese Ambivalenz erleichtert ihre Überführung in die politischen Organisationsformen der bürgerlichen Gesellschaft, und ihre Deformierung zu Legitimationsbegriffen eines gesellschaftlichen Subsystems; sie übernehmen die Funktion der Legitimierung (oder auch: der Kritik der Legitimation) organisierten politischen Entscheidens. Durchbrüche zu größerer gesellschaftsstruktureller Autonomie der Organisationsebene finden sich auf Grund von Sonderbedingungen einmalig im Religionssystem des frühen Christentums mit einer Koppelung von Eintritt/Austritt und Glaubensbekenntnis 42 und dann wieder im Bereich des Wirtschaftssystems der europäischen Neuzeit, dessen
1968, S. 116-208; Christoph Müller, Das imperative und frei Mandat: Überlegungen zur Lehre von der Repräsentation des Volkes, Leiden 1966; Eberhard Schmitt, Repräsentation und Revolution: Eine Untersuchung zur Genesis und Praxis parlamentarischer Repräsentation auf der Herrschaftsspraxis des Ancien Regime, München 1969; Hasso Hoffmann, Repräsentation: Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1974 und zum Verlust der Repräsentativität des Staates Ernst Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft: Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, München 1971. Z u Partizipation gibt es kaum historisch reflektierte Literatur. Vgl. aber Cornelio Fabro, La nozione metafisica di partecipazione secondo San Tommaso d' Aquino, 2. Aufl. Turin 1950; ders., Participation et causalité selon S. Thomas d A q u i n , Louvain/Paris 1961, insb. S. 509ff; Otthein Rammstedt, Partizipation und Demokratie, Zeitschrift für Politik 17 (1970), S. 343-357. Diese ausgeprägte Affinität eines gesellschaftlichen Teilsystems für Religion zur Organisation konnte in Gesellschaften mit relativ geringer Ebenendifferenzierung hingenommen werden und wurde im übrigen in der Ekklesiologie eher verdunkelt als erhellt. Sie wird problematisch in dem Maße, als in der Neuzeit Gesellschaftssysteme und Organisationssysteme sich immer schärfer voneinander abheben und man immer deutlicher erfährt, wie wenig auf der Ebene von Organisation gesamtgesellschaftliche Funktionen erfüllt werden können. Vgl. dazu Niklas Luhmann, Die Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen, in: Jakobus Wössner (Hrsg.), Religion im Umbruch: Soziologische Beiträge zur Situation von Religion und Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft, Stuttgart 1972, S. 2 4 5 - 2 8 5 . 42
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Großmärkte, dessen Geldmechanismus und dessen technische Entwicklung der Organisation ganz neuartige Chancen eröffnen. 43 In der bürgerlichen Gesellschaft - vor allem im Jahrhundert der Freiheit und der Organisation 4 4 - schiebt sich die Organisation in nahezu allen Funktionsbereichen der Gesellschaft zwischen das Gesellschaftssystem und seine Interaktionssysteme. Die Diskrepanzen der Systemanforderungen nehmen zu und finden zum Beispiel Ausdruck in einer Negativwertung des literarischen Topos „Bürokratie". 45 Je spezifischer nun der Organisationsmechanismus ausgebildet und in Anspruch genommen wird, desto deutlicher wird zugleich, daß er auf nichtorganisierbare Grundlagen angewiesen ist; namentlich auf Mobilität und Disponibilität der kognitiven und motivationalen Strukturen möglicher Mitglieder und auf weitere Umweltvoraussetzungen, die die Spezifikation der Zwecke tragen. In beiden Hinsichten setzt jedes einzelne Organisationssystem Kontingenzen voraus, die es nicht selbst geschaffen hat, etwa: Mobilität von Ressourcen, Substitutionsmöglichkeiten, Spezifikation von Interessen. Ebenso verstärkt aber auch die Tatsache, daß überhaupt Organisationen gebildet werden, diese Kontingenz und Komplexität der Umwelt, die weitere Organisationsbildungen ermöglicht. So wie der benötigte Sauerstoff erst durch die organische Evolution, so wird auch die benötigte Komplexität der Gesellschaft erst durch Organisationsbildung erzeugt. Organisation wird damit eine nicht (oder nur in der Form von Katastrophen) reversible Errungenschaft - dies aber in der Form der Interdependenzen von Organisationssystemen und gesellschaftlicher Umwelt, und nicht in der Weise, daß die Gesellschaft selbst oder die wichtigsten ihrer Funktionsbereiche allmählich und
Z u m Zusammenhang mit einer stärkeren funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems Neil J. Smelser, Social Change in the Industrial Revolution: An Application of Theory to the Lancashire Cotton Industry 1 7 7 0 1840, London 1959.
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Nach dem Buchtitel von Bertrand Russell, Freiheit und Organisation: 1814-1914, Dt. Übers. Berlin 1948. 4 5 Einer der Ausgangspunkte war die Behandlung der Bürokratien von Hochkulturen unter dem Gesichtspunkt des Despotismus und Verfall bei Adam Ferguson, Essay on the history of civil society, 1767 (Dt. Übers., Abhandlungen über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Jena 1904). Vgl. als nachträgliche Würdigungen Alvin Gouldner, Metaphysic; Pathos and the Theory of Bureaucracy, American Political Science Review 49 (1955), S. 4 9 6 - 5 0 7 ; Shmuel N . Eisenstadt, Bureaucracy and Bureaucratization, Current Sociology 7 (1958), S. 9 9 - 1 6 4 . 44
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unwiderruflich die Form eines organisierten Sozialsystems annehmen. Zugleich mit dieser wachsenden Relevanz der Organisationsbildung wirkt sich aus, daß das Gesellschaftssystem selbst nun primär nach Funktionen differenziert ist. Erst die Funktionssysteme vermitteln der Gesellschaft den Zugang zum Organisationsmechanismus. Funktionen sind aber in sehr verschiedenem Ausmaß und nur unter jeweils mehr oder weniger einschneidenden Reduktionen organisationsfähig. Das besagt, daß die Relevanz von Organisation für die Gesellschaft von Funktionsbereich zu Funktionsbereich variiert und damit den Einzelfunktionen des Gesellschaftssystems sehr unterschiedliche Ausbau-Chancen zuspielt. Organisation wirkt damit diskriminierend auf die gesamtgesellschaftlichen Chancen der einzelnen Funktionen, so wie umgekehrt die Funktionen Organisationsmöglichkeiten selektieren - und dies deshalb, weil die Systemdifferenzierung des Gesellschaftssystems nicht identisch ist mit der Differenzierung von Systembildungsebenen im Gesellschaftssystem. 46 Die den Erdball überspannende Weltgesellschaft, die im Zuge der Selbstrealisierung des „bürgerlichen" Gesellschaftssystems entstanden ist, erreicht schließlich ein Ausmaß an Differenzierung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft, das historisch ohne Parallelen ist und Folgen von unübersehbarer Tragweite haben kann. Nachdem alles menschliche Erleben und Handeln kommunikativ füreinander erreichbar geworden ist, kann es nur noch ein welteinheitliches Gesellschaftssystem geben. Damit setzt die Nichtidentität von Gesellschaft und Organisation sich definitiv durch. Während in politisch konstituierten Territorialgesellschaften älteren Typs immer noch Verbannungen, Emigrationen und Immigrationen möglich waren, deren „natürlicher" und naturrechtlicher Rahmen nur unter Gattungs-, nicht unter Systemgesichtspunkten begriffen wurde, muß heute jede mögliche Interaktion innerhalb der Weltgesellschaft vollzogen werden. Eintritt und Austritt ist auf Gesellschaftsebene nicht mehr möglich und kann daher auch nicht, wie für Organisationen typisch, normativ konditioniert 46
Klaus H a r t m a n n , Gesellschaft a n d Staat — Eine Konfrontation von systemtheoretischer Soziologie u n d kategorialer Sozialphilosophie, Referat auf dem Stuttgarter Hegel-Kongreß 1975 [abgedruckt in: Dieter Henrich (Hrsg.), Ist systematische Philosophie möglich? Stuttgarter Hegel-Kongreß 1975, Bonn 1977, S. 4 6 5 - 4 8 6 ] , verwendet diese Komplikationen zu einer Kritik der Theorie, die sie formuliert.
werden. Uneins damit ist die Weltgesellschaft in Bezug auf Größe, Vielfältigkeit und Interdependenzen bei zunehmender Weite des Zeithorizontes und hochgeschraubten, nicht mehr schichtenmäßig regulierbaren Konsensanforderungen über alles organisierbare Format hinausgewachsen. Alle Hochleistungen auf dem Gebiet der Organisation und alle theoretischen und praktischen Entwicklungen auf dem Gebiet der Rationalisierungstechnik machen dies nur umso deutlicher. Weniger denn je zuvor ist es in der heutigen Weltgesellschaft möglich, das Gesellschaftssystem unter dem Gesichtspunkt organisierter Handlungsfähigkeit zu begreifen. Erst recht haben die Eigenarten elementarer Interaktion unter Anwesenden ihren Richtwert für Gesellschaft und Organisation verloren. Die Komplexität der Gesellschaft ist so groß, daß nahezu alle Interaktionssysteme innerhalb des Gesellschaftssystems für jeden Einzelnen unzugänglich sind. Die Undurchschaubarkeit der Gesellschaft prägt die Bewußtseinslage unserer Zeit, 47 und weder im Sinne von Förderung noch im Sinne von Bedrohung kann Gesellschaft auf die Interaktionen bezogen werden, in denen man laufend lebt. Unter diesen Umständen ist nicht mehr nur simultane Anwesenheit aller - etwa auf öffentlichen Plätzen - ausgeschlossen, sondern auch die Integration der Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt möglicher Anwesenheit — sei es in der Form von Anwesenheitsketten, sei es in der Form der Anwesenheit von Repräsentanten - wird unmöglich. Selbst die kommunikative Verknüpfung der einzelnen ausdifferenzierten Funktionssysteme überfordert die Möglichkeiten der Systembildung auf der Interaktionsebene - so sehr gerade hierin immer wieder Hoffnungen gesetzt werden. 48 Gesellschaftsstrukturell bedingte Probleme lassen sich nicht mehr ohne weiteres auf der Interaktionsebene lösen. Gesellschaftliche Relevanzen nehmen die Form funktionaler Interdependenzen / Independenzen und struktureller Kompatibilitäten / Inkompatibilitäten an, die sich interaktionsspezifisch nicht mehr ausdrük-
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Vgl. dazu etwa N o r b e r t Elias, Was ist Soziologie?, M ü n c h e n 1970, S. 7 3 f. 48 So z u m Beispiel f ü r das Verhältnis von Politik u n d Verwaltung Niklas L u h m a n n , Politische Planung: Aufsätze zur Soziologie von Politik u n d Verwaltung, O p l a d e n 1971, S. 81 ff. oder f ü r die Beziehung der Wissenschaft zu Wissensanwendern Karl-Martin Bolte, Wissenschaft u n d Praxis — Möglichkeiten ihres Verhältnisses zueinander, Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- u n d Berufsforschung 4,4 (1971), S. 3 5 6 - 3 6 5 .
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ken und daher auch nicht mehr direkt normieren lassen. Die Gesellschaft läßt sich daher auch weder als Summe von Interaktionen noch als ein Grundbestand an Normen für Interaktionen adäquat begreifen, geschweige denn planen. Dadurch, daß Organisationssysteme sich einschieben zwischen das Gesellschaftssystem und die Interaktionssysteme, entsteht ein bedeutsamer Unterschied in den Möglichkeiten der Interaktion. Es gibt dann „freie" und organisationsabhängige Interaktionssysteme. In den ersteren kann das Interaktionssystem über die Teilnahme disponieren, kann Teilnehmer rekrutieren oder abweisen, in dem letzteren dagegen nicht, da jeder, der in die Organisation eintritt, nach Maßgabe ihrer Regeln auch zur Teilnahme an Interaktionen verpflichtet ist, ob ihm die Partner nun passen oder nicht. Diese Unterscheidung führt dazu, daß interaktionelles Raffinement, Einfühlungsvermögen, Verhaltensgeschick und Selbstdarstellung unter sehr heterogene Perfektionsbedingungen gesetzt sind und in sehr verschiedene Richtungen gesteigert werden können. Nahezu unvermeidlich muß dann auch die Einzelpersönlichkeit wählen, ob sie mehr in der Liebe oder mehr in der Karriere den Horizont ihrer Selbstverwirklichung sieht. Auf Grund dieser in der Evolution des Gesellschaftssystems erreichten Lage können Gesellschaft, Organisation und Interaktion sich schärfer unterscheiden als je zuvor. Sie können durch unterschiedliche Systemtypik je spezifische Funktionen übernehmen. So kann das Raffinement von interaktionspezifischer sozialer Reflexivität, etwa im Rahmen von Intimitätsbeziehungen, ins Ungewöhnliche gesteigert werden, 49 wenn die Interaktion nicht mehr mit gesellschaftlich durchgehenden Normalitätserwartungen belastet ist. Das gleiche gilt für Steigerungen in entgegengesetzte Richtung: für Motive, die nur bei extremer Flüchtigkeit, Unpersönlichkeit und Folgenlosigkeit der Begegnung in Anspruch genommen werden können. Im Bereich von Organisationen läßt die Spezifikation des Verhaltens sich 49
M i t entsprechenden Risiken! Siehe dazu Sasha R. Weitm a n , Intimacies: Notes Toward a Theory of Social Inclusion and Exclusion, Europäisches Archiv für Soziologie 11 (1970), S. 3 4 8 - 3 6 7 . Vgl. auch Majorie F. L o w e n t h a l / C l a y ton Havel, Interaction and Adaptation: Intimacy as a Critical Variable, American Sociological Review 33 (1968), S. 20—30; Barry Schwartz, The Social Psychology of Privacy, The American Journal of Sociology 7 3 (1968), S. 741-752; H a n n s Wienold, Kontakt, E i n f ü h l u n g u n d Attraktion: Z u r Entwicklung von Paarbeziehungen, Stuttgart 1972.
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immens steigern, wenn auf andere gesellschaftliche Rollen des Handelnden keine Rücksicht genommen werden muß. Und die Gesamtgesellschaft kann zu äußerster Komplexität gesteigert werden, wenn sie nicht auf durch Organisation oder Interaktion vermittelte Reduktionen angewiesen ist. Jede Ebene der Systembildung leistet dann das ihre, und entsprechend verschärfen sich die Probleme der Vermittlung zwischen den Ebenen: Das organisatorisch Mögliche ist in der Interaktion nicht mehr durchzusetzen, wird durch Interaktionssysteme unterlaufen und zum Entgleisen gebracht. 50 Das gesellschaftlich Mögliche ist weder mögliches Ziel, noch Formel, noch Reflexionsbestimmung für Organisationen; es kann auf der Ebene von Profit, Wahlerfolg, wissenschaftlicher Anerkennung usw. nicht angemessen ausgedrückt werden. Vor allem an Organisationssystemen lassen sich Konsequenzen dieser Freisetzung und typmäßigen Spezifikation durch den Vergleich mit historischen Bürokratien belegen. Diese unterlagen in allen drei Hinsichten der Binnenstrukturierung gesellschaftlichen Einschränkungen bzw. Voraussetzungen: (1) Die Personalrekrutierung und -Verwendung war schichtenspezifisch vorgezeichnet; (2) die Programmierung war kosmologisch gebunden; (3) die Organisation der Kommunikationsbahnen und der Kompetenzen war zeremoniell limitiert. Und all dies war durch kulturelle Selbstverständlichkeiten gehalten, die auch außerhalb der Organisationen galten.51 Dem entsprach eine letztlich religiöse Beschränkung der Vorstellungen über mögliche Variation und (in Europa) eine lediglich juristische (vor allem kirchenrechtliche) Thematisierung des Amtsbegriffs. 52 50
In der Organisationssoziologie ist vor allem dieses Problem gesehen u n d als Unterschied von formaler u n d informaler Organisation diskutiert worden. 51 Im einzelnen bieten diese Bürokratien ein sehr vielgestaltiges, hier nicht referierbares Bild. Einer der H a u p t u n terscheidungsfaktoren ist das A u s m a ß der Eingliederung in den Haushalt des Herrschers bzw., als Alternative dazu, der Abhängigkeit von den höheren Schichten der Gesellschaft. 52
Die terminologischen Konturen verschwimmen im Mittelalter bei einer Vielzahl von Begriffen (munus, functio, professio, vocatio, m a n d a t u m , officium, beneficium, jurisdictio, dignitas) u n d greifen in die allgemeine Lehre der gesellschaftlichen Berufe u n d Stände über. Das primär juristische Interesse an der Klärung von Streitfragen f ü h r t jedenfalls nicht zu einer planungstechnisch brauchbaren Begrifflichkeit; es m ü n d e t schließlich in der generellen Unterscheidung von Planstelle u n d konkreter Aufgabe oder Position. In dieser modernen, in der Staatsorganisation
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Auch w e n n einige dieser Umweltbindungen, so namentlich die schichtendifferente R e k r u t i e r u n g des Personals, 5 3 nach wie vor festzustellen sind, haben sie, soweit sie überleben, ihre Legtimierbarkeit als Beschränkungen des Möglichen verloren. Statt dessen strukturiert eine Organsation sich selbst d u r c h die Geschichte der Festlegung ihrer Entscheidungsprämissen, durch Besetzung von Stellen f ü r b e s t i m m t e A u f g a b e n m i t b e s t i m m t e n Personen in b e s t i m m t e n organisatorischen Z u o r d n u n g e n . Das bedeutet n u n aber keineswegs, d a ß die so freigesetzten Organisationssysteme sich auf den von M a x Weber idealtypisch gezeichneten Linien bewegen in R i c h t u n g auf höchste Rationalität, Lenkbarkeit u n d Umstellfähigkeit. I m Gegenteil: Sie verstrickten sich in Bindungen, die u m so fester sitzen, als es die der eigenen Systemgeschichte sind, die m a n interaktioneil nicht wieder auflösen k a n n . Die strukturell vorgesehene Kontingenz der Mitgliedschaftsregeln u n d Stellen bleibt im M o d u s der Geschichte, im M o d u s der Reformbedürftigkeit, im M o d u s des U n b e h a gens erhalten; sie wird auf der Ebene stellenmäßig fixierter Entscheidungsprämissen nicht mehr oder n u r noch unter größten Schwierigkeiten aktuell verfügbar. 54 N e u g r ü n d u n g e n haben zwar freie Bahn, aber n e h m e n mit anderen Prämissen den gleichen W e g
entwickelten Form ist der Stellenbegriff auch noch nicht planungstechnisch instruktiv gefaßt (weil er keine Regel für die Variation von Entscheidungsprämissen formuliert), aber er hat jedenfalls die erforderliche Abstraktion. 53 Kaum dagegen noch die Schichtenabhängigkeit der Personalbewegungen innerhalb der Organisation. Siehe z.B. Niklas Luhmann/Renate Mayntz, Personal im öffentlichen Dienst: Eintritt und Karrieren, Baden-Baden 1973, S. 140; Gerald Bernbaum, Headmasters and Schools: Some Preliminary Findings, The Sociological Review 21 (1973). S. 463-484. Eine gewisse Differenz zwischen Schichtenabhängigkeit der Rekrutierung und geringerer Schichtenabhängigkeit der Aufstiegschancen findet man im übrigen bereits in älteren Bürokratien; vgl. Robert M. Marsh, The Mandarins: The Circulation of Elite in China 1600-1900, Glencoe III. 1961, S. 187 f. Zur abnehmenden Schichtabhängigkeit der Rekrutierung selbst auch Maurice A. Garnier, Changing Recruitment Patterns and Organizational Ideology: The Case of a British Military Academy, Administrative Science Quarterly 17 (1972), S. 499-507. 54
Vgl. dazu Überlegungen zu einem Rhythmus von Routinephasen und Krisen mit Änderungsmöglichkeiten bei Michel Crozier, Le phénomène bureaucratique, Paris 1906 S. 259 f., 291 ff., 360 f.; Mauk Mulder et al., An Organization in Crisis and Non-crisis Situations, Human Relations 24 (1971), S. 19-41.
historischer Konkretisierung. 5 5 O f t wird deshalb ein Rückgriff auf die primäre Kontingenzrelation, auf die Mitgliedschaftsbedingungen, erforderlich sein, u m personelle u n d programmatische Prämissen der Organisationspraxis zugleich ändern zu k ö n n e n . D a Systembildung als M e c h a n i s m u s der Erzeugung von Komplexität angesehen werden k a n n , d ü r f t e die Komplexität der Gesellschaft wesentlich davon abhängen, welche Möglichkeiten der Systembildung in der Gesellschaft eröffnet werden. M i t stärkerer Differenzierung der Systembildungsebenen n e h m e n diese Möglichkeiten zu. W i r behaupten m i t h i n einen Z u s a m m e n h a n g zwischen z u n e h m e n d e r Differenzier u n g der Systembildungsebenen u n d z u n e h m e n d e r Komplexität der Gesellschaft. I m geschichtlichen Rückblick läßt Evolution sich d e m n a c h unter anderem beschreiben als wachsende Distanzierung jener drei Ebenen der Systembildung. Als Theorie sind solche Aussagen deshalb möglich, weil die heutige Gesellschaftsordnung es ermöglicht, die Unterschiede dieser Ebenen zu erkennen. Erst vom E n d e her gesehen, gewinnt die Geschichte diese besondere S t r u k t u r . Aber d a m i t allein sind weder Einsichten über die B e d i n g u n g e n von Evolution gewonnen noch Klarheit darüber, welche Probleme ein so stark auseinandergezogener Systemaufbau mit sich bringt u n d wie sie gelöst werden können, da ja doch alle Systemarten aus d e m gleichen Material, aus den gleichen H a n d l u n g e n gebildet sind. W i r benötigen f ü n f weitere Unterabschnitte, u m unsere Überleg u n g e n zur Verortung des Gesellschaftssystems im G e s a m t a u f b a u sozialer Systeme a b z u r u n d e n , u n d k ö n n e n erst d a n a c h die weiteren Untersuchungen speziell auf das Gesellschaftssystem einschränken.
2.2 Konfliktpotentiale Die Bedeutung evolutionärer Ebenendifferenzierung läßt sich konkreter vorführen an H a n d eines Sonderproblems, nämlich der Steigerung der Konfliktsträchtigkeit u n d Konfliktsfähigkeit in komplexen Gesellschaften. W i r greifen d a f ü r auf die unter 1,9 [Soziale Systeme] skizzierte Konfliktskonzeption zurück. 5 6 55
Siehe hierzu das von Hubert Raupach/Bruno W. Reimann, Hochschulreform durch Neugründungen? Zu Struktur und Wandel der Universitäten Bochum, Regensburg/Bielefeld/Bonn 1974, über „Reformuniversitäten" ausgebreitete Material. 56 Anm. des Herausgebers: Ausgangspunkt Luhmanns ist dort die Annahme, dass Kommunikation nur bei nichtidentischer Selektivität zustandekommt und deshalb unterschiedliche Selektionsakte verbindet. Vor diesem Hin-
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Die Rückkommunikation der Weigerung, Selektionsofferten zu übernehmen (und das nennen wir Konflikt), stößt in Systemen der Interaktion unter Anwesenden auf besondere Schwierigkeiten. Sie ist hier aus strukturellen Gründen besonders prekär nämlich deshalb, weil diese Systeme zu thematischer Konzentration neigen, also jeweils nur ein Leitthema traktieren können. Wird der Konflikt zum Thema gemacht, strukturiert das Gesamtsystem sich entsprechend um. Es entsteht Streit mit mehr oder weniger scharfer Limitation dessen, was dann im System noch möglich ist. Interaktionssysteme können offene Konflikte schlecht nebenherlaufen lassen, dazu sind sie nicht komplex genug. Sie haben nur die Wahl, Konflikte zu vermeiden oder Konflikte zu sein. Interaktionsnah strukturierte Gesellschaften finden sich den entsprechenden Beschränkungen ausgesetzt. Sie stehen kontinuierlich vor der Alternative der Konfliktunterdrückung oder des gewaltnahen Ausbruchs von Streit. Darauf sind ihre pressionsreichen Schlichtungsverfahren abgestellt.57 Entsprechend verbreitet ist latente Feindseligkeit, die jedoch in der Anonymität verbleibt und den offenen Streit scheut. Solche Lebensgemeinschaften archaischen oder dörflichen Typs können deshalb nur primitive Formen der Differenzierung entwickeln, die einerseits in der Konfliktunterdrückung effektiv sind und andererseits gegen Gewaltakte und Sezessionen relativ immun; das sind Formen der segmentären Differenzierung nach Häusern, Geschlechtern, Wohngemeinschaften und Formen der askriptiven Differenzierung nach Geschlechts- und Altersrollen.58 Alle weitere Entwick-
tergrund will er von Konflikt nur d a n n sprechen, w e n n die Reproduktion von Selektionsleistungen verweigert u n d diese Verweigerung selbst z u m Gegenstand der Kommunikation gemacht wird. 57 Vgl. z. B. R. F. Barton, Ifugao Law, University of California Publications in American Archaeology and E t h n o logy 15 (1919), S. 1 - 1 8 6 . Auch in den Dörfern entwikkelterer Gesellschaftssysteme findet m a n entsprechende Mechanismen der Konfliktunterdrückung, weil auch hier die Interaktion unter Anwesenden dominiert. Vgl. dazu Ronald Frankenberg, Village on the Border, London 1957; Asen Balikei, Quarrels in a Balkan Village, American Anthropologist 67 (1965), S. 1456-1469 (1466 f.); Elliott Leyton, Conscious Models and Dispute Regulation in an Ulster Village, M a n 1 (1966), S. 5 3 4 - 5 4 2 . 58 Ein bemerkenswertes Detail zur Geschlechtsrollendifferenzierung: Balikei a . a . O . S. 1466 berichtet aus der zadruga (Großfamilienhaushalt) des Balkans, d a ß die Frauen die Konflikte, die sie untereinander haben, ihren E h e m ä n n e r n verschweigen, weil andernfalls eine zu explosive Entwicklung zu befürchten ist.
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lung setzt eine Steigerung des Konfliktpotentials voraus in der Doppelform der Möglichkeit, Konflikte durch Rückkommunikation von Verweigerungen zu erzeugen und Konflikte zu ertragen. In dem Maße, als Kommunikation vermehrt und thematisch stärker differenziert wird, wachsen auch die Möglichkeiten der Negation und damit die Möglichkeiten des Konflikts. Besonders im Zuge der Entwicklung funktionaler Systemdifferenzierung müssen Ablehnungspotentiale gestärkt werden, weil anders die Autonomie und Rationalisierbarkeit von Funktionsbereichen nicht gesichert werden kann. Diese brauchen eine Art „Grenzschutz", um Interferenzen abwehren zu können. Nur so kann die Gesellschaft an Größe und Komplexität zunehmen. Die Lösung dieses Wachstumsproblems liegt in einer stärkeren Differenzierung von Interaktionssystemen und Gesellschaftssystem, so daß die Gesellschaft vom Konfliktsmodus der Interaktion nicht mehr so unmittelbar abhängig ist. Die Differenzierung hat in mehreren Hinsichten Vorteile und kann deshalb auf verschiedenen äquifinalen Wegen allmählich entwickelt werden. Sie ermöglicht eine stärkere Unabhängigkeit der Gesellschaft vom Abbruch einzelner Interaktionsketten als einer Form der Konfliktlösung. Sie ermöglicht die Einrichtung besonderer Interaktionssysteme, die auf die Behandlung von Streitfällen spezialisiert sind, und im Anschluß daran die Ausdifferenzierung eines Rechtssystems. Und sie ermöglicht neue Formen der Aktualisierung von Konflikten ohne unmittelbare Interaktion zum Beispiel anonyme oder technisch-einseitige Kommunikation von Kritik oder spezialisiertes innovatives Handeln unter bewußter Ablehnung von Traditionsmustern. All das ist mit Ansätzen zur Differenzierung von Interaktion und Gesellschaft auch in den einfachsten Gesellschaften schon rudimentär vorhanden; schließlich gehen auch sie nicht in der unmittelbaren Interaktion unter Anwesenden auf. Der Ausbau solcher Ansätze ist jedoch nur möglich, wenn das Gesellschaftssystem so komplex geworden ist, daß es nicht mehr mit den Grenzen der möglichen Interaktionen des Einzelnen zusammenfällt. Im großen und ganzen kann man sagen, daß steigende Konfliktfähigkeit über Verstärkung von Negationspotentialen erreicht wird. Sie ist insofern das genaue Gegenstück zu dem Gesamtkomplex, den wir in Teil III [der Gesellschaftstheorie] unter dem Titel „symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien" erörtern werden. Bei den Medien geht es um Ubertragungserleichterungen, bei Konflikten um Ablehnungserleichterungen. Beide Verstärkungen
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n e h m e n im Laufe der gesellschaftlichen Evolution zu, was, da sie gegenläufig gebaut sind, komplizierte Verzahnungen erfordert. In beiden Fällen impliziert die E n t w i c k l u n g eine stärkere Differenzierung von Interaktionsebene u n d Gesellschaftsebene - nicht zuletzt deshalb, weil das jetzt erforderliche K o m binationsniveau von A n n a h m e - u n d Ablehnungerleichterungen nicht auf der Ebene der Interaktion gesichert werden k a n n . Die Verstärkung der Möglichkeit, allem Interaktionsdruck z u m Trotz Selektionszumutungen abzulehnen, ist ein sehr allgemeines Erfordernis z u n e h m e n d e r Differenzierung u n d rationaler Selektion in z u n e h m e n d spezialisierten Teilbereichen der Gesellschaft. M a n m u ß Verhaltenszumutungen ablehnen können, will m a n sich im Hinblick auf spezifische F u n k t i o n e n rational verhalten. Unerläßliche Grundvoraussetzung h i e r f ü r ist Rechtsschutz u n d Rechtssicherheit, u n d dies f ü r mehr oder weniger willkürlich formbare Positionen. 5 9 Unter d e m Schutze des Rechts k a n n m a n ablehnen, k a n n m a n sich Folgekonflikten stellen, weil die wichtigsten Sanktionsmechanismen der anderen Seite, namentlich physische Gewalt, ausgeschaltet sind. Allerdings h ä n g t es von zahlreichen weiteren Bed i n g u n g e n ab, ob rechtlich gestützte Konfliktbereitschaft faktisch ausgenutzt wird. 6 0 Das Recht allein setzt keinen A u t o m a t i s m u s in G a n g , der gesellschaftliche Differenzierung a u f b a u t . Es m u ß in der Regel die Möglichkeit h i n z u k o m m e n , interaktionelle Beziehungen auch faktisch beenden zu können, u m diffusen, vom Recht nicht erfaßbaren Sanktionen ausweichen zu k ö n n e n . I m übrigen gibt es natürlich bereichsspezifische Voraussetzungen weiterer Art, etwa f ü r die Möglichkeit, anerkannte Wahrheiten zu bestreiten, oder f ü r die Möglichkeit, aller N o t anderer u n d allem Abgabedruck z u m Trotz Kapitalien zu sammeln. Ungeachtet all dieser Probleme, die Genesis u n d Realisierungsausmaß betreffen, produziert allein schon die Tatsache, d a ß Konfliktfähigkeit über N e gationsmöglichkeiten erhöht wird, Folgestrukturen, die eigene Konsequenzen haben. Wer hungert, hat 59 Damit hängt die Bedeutung der Vertragsfreiheit zusammen. 60 Vgl. hierzu Stewart Macaulay, Law and the Balance of Power, The Automobile Manufacturers and Their Dealers, New York 1966; Pyong-Choom Rahm, The Korean Political Tradition and Law, Seoul 1967; Volkmar Gessner, Recht und Konflikt: Eine soziologische Untersuchung privatrechtlicher Konflikte in Mexiko, Ms. Bielefeld [Druck: Tübingen 1976],
nichts davon, d a ß die Gesellschaft sein Negationspotential steigert. Ablehnungspotentiale begünstigen jeweils diejenigen, die in der besseren Position sind: die Eigentümer im Verhältnis zu den Nichteigentümern, die gefragten H a n d w e r k e r u n d Künstler im Verhältnis zu denen, die sich erst b e k a n n t m a chen müssen, die schönen Frauen im Verhältnis zu den weniger schönen. A u f diese Weise werden bestehende Differenzen, Ungleichheiten, Abweichungen verstärkt. Langfristig gesehen unterstützt d a m i t die Steigerung der Konfliktfähigkeit den A u f b a u von Schichtungsstrukturen. Bei hoher Konfliktsträchtigkeit dieses Typs, die zugleich interaktioneil g e h e m m t u n d / oder in die Kanäle rechtlich regulierter Verfahren abgeleitet wird, k a n n es zu typischen Folgeerscheinungen k o m m e n , die eine Tendenz zeigen, sich moralisch auszudrücken. Ablehnbare Z u m u t u n g e n werden d a n n auf der Interaktionsebene moralisch modalisiert mit der M e t a - Z u m u t u n g , Z u m u t u n g e n nicht abzulehnen. D a r ü b e r hinaus läßt sich vor allem seit d e m 19. J a h r h u n d e r t beobachten, wie vor diesem H i n t e r g r u n d gegenstrukturell konstruierte Themenkomplexe moralfähig werden: E n t f r e m d u n g , Kritik als Diskussion, D e m o k r a t i e als Partizipation sind Beispiele d a f ü r . Kein Zufall auch, d a ß der Welt-Konflikt d a n n als Klassenkonflikt gesehen u n d moralisch wie sentimental ausgebeutet wird. Innerhalb moralischer H a l t u n g e n dieses Typs k a n n der F u n k t i o n s z u s a m m e n h a n g , der eine Steigerung von Negationspotentialen erforderte, thematisch nicht reproduziert werden. Geschichtlich gesehen, hängen solche Remoralisierungen sich mit Direktw e r t u n g e n an Folgeprobleme sehr komplexer Strukturentwicklungen an u n d tendieren dazu, diese in Frage zu stellen, o h n e sie ersetzen zu k ö n n e n . Vor diesen Remoralisierungen k a n n das Recht allein nicht schützen, d e n n es löst sie ja gerade aus. Ein spezieller d a r a u f bezogenes Systemmodell ist das der Konkurrenz. K o n k u r r e n z hat drei zusamm e n h ä n g e n d e F u n k t i o n e n , die sich n u r in größeren, letztlich nur in f u n k t i o n a l differenzierten Gesellschaftsordnungen voll realisieren lassen. K o n k u r renz kompliziert (1) eine Konfliktslage dadurch, d a ß sie die divergierenden Interessen auf einen dritten Partner h i n lenkt, mit d e m in der Interaktion nicht Konflikt, sondern gerade Einvernehmen gesucht werden muß: 6 1 Jeder Produzent versucht f ü r sich, seine Waren auf d e m M a r k t zu verkaufen; jede po-
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Peter M. Blau/W. Richard Scott, Formal Organizations: A Comparative Approach, San Francisco 1962, S. 217 fF.
Niklas Luhmann: Ebenen der Systembildung - Ebenendifferenzierung litische Partei versucht für sich, Wählerstimmen zu gewinnen; jeder Student versucht für sich, im „concours" eine möglichst gute Platzziffer zu erreichen; jeder Arbeitswillige versucht f ü r sich, eine Anstellung und im System dann eine bessere Position zu erreichen. Diese Komplikation und Umleitung der Interessenverwirklichung ermöglicht es (2), Konkur-
renz als solche moralisch zu bewerten und sowohl zur Regulierung als auch zur Rechtfertigung des Verhaltens zu verwenden: W a s in der Konkurrenz erreicht worden ist, erscheint eben dadurch als verdienter, berechtigter Besitz. 62 Beides zusammen, Komplikation und Moralisierung der Konkurrenz als solcher, ermöglicht es (3), die Interaktionen zwischen den Opponenten entweder überhaupt einzusparen oder von Konflikten zu entlasten. Sie brauchen sich wechselseitig nicht zu negieren. 63 Was mit all dem nicht garantiert werden kann, ist: höhere Leistung, höhere Rationalität des Verhaltens, höhere Innovationsbereitschaft. 64 Erst recht kann Konkurrenz nicht im Sinne des ökonomischen Liberalismus oder im Sinne des Sozialdarwinismus die fortschrittliche Entwicklung des Gesellschaftssystems gewährleisten. So hochgespannte Erwartun-
charakterisieren diesen Komplexitätsgewinn als Differenzierung von Konkurrenz- und Tauschverhältnissen. 62 Zur ideologischen Benutzung dieses Arguments als Rollenrechtfertigung siehe etwa Francis X. Sutton / Seymour E. Harris / Carl Kaysen / James Tobin, The American Business Creed, Cambridge Mass. 1956, insb. S. 364, 366 ff. 63 Viel gerühmt werden die in Systemen mit fairer Konkurrenz trotzdem noch möglichen „guten persönlichen Beziehungen". Siehe nur Seymour M. Lipset/Martin Α. Trow/James S. Coleman, Union Democracy: The Internal Politics of the International Typographical Union, Glencoe 111. 1956, S. 284 ff. 64 Diese Einsicht scheint sich allmählich gegenüber allzu diffusen Hoffnungen auf die Vorteile von Konkurrenzsystemen durchzusetzen. Vgl. z. B. L. Keith Miller / Robert L. Hamblin, Interdependence, Differential Rewarding, and Productivity, American Sociological Review 28 (1963), S. 768-778; Theodore J. Lowi, Toward Functionalism in Political Science: The Case of Innovation in Party Systems, American Political Science Review 57 (1963), S. 570-583. Für das Wissenschaftssystem wird ein Zusammenhang von Konkurrenz und Innovation vielfach vermutet: siehe Joseph Ben-David, The Scientist's Role in Society: A Comparative Study, Englewoods N.J. 1971, z.B. S. 123; Warren O. Hagstrom, Competition in Science, American Sociological Review 39 (1975), S. 1-18 (16). Aber hierfür fehlen noch empirisch überzeugende Beweise. Außerdem ist das Wissenschaftssystem in unserem Zusammenhang weniger wichtig, weil hier Konkurrenz sich nicht zur Vermeidung direkter Konflikte entwickelt hat.
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gen haben zu Enttäuschungen geführt und belasten heute das Prinzip. In Wirklichkeit ist Konkurrenz, ähnlich wie Recht, eine Komplementäreinrichtung, die ausgebaut worden kann, wenn die Gesellschaft in stärkerem Maße Ablehnungspotentiale und damit Konflikte zulassen muß. Und sie erreicht dieses Ziel der Entlastung des Gesellschaftssystems von konfliktsträchtigen Interaktionen nur unter zwei Bedingungen: wenn (1) die Ebene der Interaktionssysteme bereits ausreichend differenziert sind, so daß über Konkurrenz auch die Beziehung der Partner geordnet werden kann, die nicht in Interaktion treten; und wenn (2) das Gesellschaftssystem bereits in erheblichem Umfange funktional differenziert ist, so daß der Kontext, in dem man konkurriert, Interaktionen in anderen Hinsichten nicht ausschließt. 65 In gewissem Sinne gleicht das Konkurrenzprinzip noch, mutatis mutandis, älteren Formen der Konfliktrepression - in sofern nämlich, als es latente, zurückgestaute Feindseligkeit hinterlassen kann, die den offenen Streit scheut, aber gleichwohl Ausdrucks- und Wirkungsbahnen sucht. Ein Konkurrenzsystem ist daher vermutlich auf eine erhebliche Erfolgschance angewiesen. 66 Akkumulieren sich Mißerfolge für zu viele Beteiligte, wird ihnen die Interaktionsenthaltung nicht mehr einleuchten, die das Konkurrenzsystem von ihnen verlangt. Konkurrenz hat mit all dem sehr spezifische Funktionsbedingungen, wird also kaum die einzige Form sein, in der die Gesellschaft steigende Konfliktswahrscheinlichkeiten abzufangen sucht.
Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die in umgekehrter Perspektive gewonnenen Ergebnisse von John C. Vahlke / Heinz Eulau / William Buchanan / LeRoy C. Ferguson, The Legislative System: Explorations in Legislative Behavior, New York/ London 1962, S. 95 ff., daß in stärker an Konkurrenz orientierten politischen Systemen auf der Ebene der Einzelstaaten in den USA die Abgeordneten der Parlamente in höherem Maße spezifisch politische Karrieren aufweisen und in geringerem Maße auf Forderungen von außen angewiesen sind und in geringerem Umfange persönliche Ziele verfolgen. 65
„Konkurrenz kann nur in Systemen getrieben werden, in denen ein Uberfluß von Ressourcen herrscht", formuliert Otthein Rammstedt, Konkurrenz: Zur Genesis einer sich universal-wissenschaftlich gebenden Formel, Ms. 1974, S. 72 [in gekürzter Fassung abgedruckt in: (o. Hrsg.), Politische Psychologie. Wien: Verlag P. Scheyer 1974, S. 217-248 (244)]. Hier hat im übrigen auch der Anomie-Begriff von Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, Glencoe III. 1957, S. 131-194, seine Wurzeln. 66
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Ein weiterer Gesichtspunkt bringt uns zu unserem Hauptthema, zur Differenzierung der Ebenen f ü r Systembildung zurück. In der neuzeitlichen Gesellschaft schieben sich in weitem Umfange zwischen Gesellschaftssystem und Interaktionssystemen organisierte Sozialsysteme ein. Deren Modus der Konfliktserzeugung und Konfliktsbehandlung ist besonders effektiv. Ein deutliches Sympton dieser Steigerungsleistung ist die f ü r Organisationen typische Mitgliederpflicht, intern erzeugten Dissens nach außen hin zu verbergen. 67 Organisationssysteme unterwerfen alle Mitglieder einem Modus der hierarchischen Konfliktsbehandlung und -entscheidung, dessen Anerkennung sie zur Mitgliedschaftsbedingung machen. Die Entscheidbarkeit von Konflikten wird damit vom Recht unabhängig gemacht, nur eine formale rechtliche Legitimation der Möglichkeit, Organisationen zu bilden, ist erforderlich. Darin liegt erneut eine immense Steigerung des Konfliktpotentials der Gesellschaft. Auch die Differenzierung und Komplementarisierung von (erleichterten) Ablehnungsmöglichkeiten und (erleichterten) Einwirkungsmöglichkeiten wiederholt sich auf der Ebene organisierter Sozialsysteme in einer für sie typischen Weise. 68 Die Schranken dieses Mechanismus liegen in seinen Bezügen zu den anderen Ebenen der Systembildung: Auch innerhalb von Organisationen gibt es wiederum interaktionelle Gesetzlichkeiten, die die Artikulation von Ablehnung unterdrücken oder kanalisieren; 69 nicht jeder Konflikt eignet sich für eine Behandlung auf dem Dienstweg. Auf der anderen Seite zur Gesellschaft hin können Bedingungen der Mitgliedschaft in Organisationen nicht völlig beliebig definiert werden, sondern müssen mit den strukturellen Erfordernissen der gesellschaftlichen Funktionssysteme für Politik, Wirtschaft, Erziehung, Recht, Forschung, Kriegführung usw. kompatibel sein.
Diesen Feststellungen über größere Konflikttoleranz hochkomplexer Gesellschaften widerspricht nicht die Beobachtung, daß diese Gesellschaften von bestimmten Konflikten bzw. von der Vermeidung bestimmter Konfliktarten (zum Beispiel Kriege) verstärkt abhängig werden. Interaktionelle Konflikte gewinnen mithin in Organisationssystemen und in Gesellschaften eine selektive Relevanz, wobei die Gesichtspunkte der Selektion sich aus den strukturellen Erfordernissen der höheren Systemebenen ergeben. Aus der Masse möglicher und täglich vorkommender Konflikte können dann einige selektiv unterdrückt, andere für eine organisations- oder gesellschaftspolitische Karriere auserwählt werden, während die meisten für die höheren Systemebenen belanglos und folgenlos bleiben. Analysen dieser Art können hier nicht vertieft werden. Es m u ß uns genügen, ihre Möglichkeit anzudeuten und festzuhalten, daß Gesellschaften mit ausgeprägter Ebenendifferenzierung verschiedene Formen der Erleichterung und H e m m u n g des Konfliktsausdrucks nebeneinander einrichten können. Sie werden damit relativ unabhängig von den Restriktionen einzelner Ebenen, dafür abhängig von deren Interdependenzen. Eine weitere prinzipielle Frage ist daher, wie die Zusammenhänge der ebenenspezifisch gebildeten Systeme und die Ubergänge von der einen zur anderen Ebene geregelt werden.
2.3 Generalisierung der Moral Die Geschichte der Moral kann auf der Ebene der moralischen Ideen verfolgt und nachvollzogen werden - etwa als Übergang vom archaischen zum politischen Ethos. 70 Bei einer solchen Betrachtungsweise bleibt jedoch die Beziehung zu den simultan ablaufenden Prozessen gesellschaftsstrukturellen Wandels äußerlich. Greift man statt dessen auf die in Teil I [Soziale Systeme] skizzierte genetisch-funktionale Theorie der Moral zurück, 71 gewinnt man die Mög-
67
Siehe dazu die Beobachtungen von Harold E. Dale, The Higher Civil Service of Great Britain, London 1941, S. 86ff., 105 f., 141, 170 f. u . ö . 68 Vgl. hierzu Albert O . H i r s c h m a n , Exit, Voice, and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organizations, and States, Cambridge Mass. 1970. ® Dazu sehr anschaulich Rue Bucher, Social Process and Power in a Medical School, in: Mayer N . Zald (Hrsg.), Power in Organizations, Nashville T e n n . 1970, S. 3 - 4 8 . Vgl. auch T o m Burns, Micropolitics: Mechanisms of Institutional Change, Administrative Science Quarterly 6 (1961), S. 257-281; überwiegend behandelt die sehr reichhaltige Forschung über Konflikte in Organisationen m e h r deren strukturelle Ursachen.
70
Vgl. Joachim Ritter, Metaphysik u n d Politik: Studien zu Aristoteles u n d Hegel, F r a n k f u r t 1969, insb. S. 106 ff., 133 ff. 71 A n m . des Herausgebers: Moral bezieht L u h m a n n dort auf die Funktion, die Interpénétration personaler in soziale Systeme in sozialer Hinsicht zu ermöglichen, d. h. mit Rücksicht auf die von den beteiligten K o m m u n i k a t i o n s partnern vorgenommenen doppelkontingenten Selektivitäten. Für Ego u n d Alter in einem K o m m u n i k a t i o n s p r o zess stellt sich die Frage, wie die Beteiligten je f ü r sich ihre wechselnde Position von Ego u n d Alter integrieren. Dabei ist jeder gehalten, die Selektivität des anderen in die
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Niklas Luhmann: Ebenen der Systembildung - Ebenendifferenzierung lichkeit, von einer Ideengeschichte in eine Problem-
türlich weiß, wer gibt oder e m p f ä n g t , was d a m i t
geschichte überzuleiten und diese zur gesellschaftli-
ausgelöst wird, u n d k a n n es sich konkret a m Partner
chen E n t w i c k l u n g in B e z i e h u n g zu setzen.
veranschaulichen.
W e n n M o r a l K o m m u n i k a t i o n oder M e t a k o m m u n i kation über B e d i n g u n g e n wechselseitiger A c h t u n g betrifft, u n d w e n n sie A c h t u n g s e r w e i s e
letztlich
d a v o n a b h ä n g i g m a c h t , ob es den Partnern gelingt, die Perspektive des anderen in die eigene situativ f u n g i e r e n d e Identität einzubauen u n d seine Erwart u n g e n mitzuerwarten, d a n n m u ß f ü r F o r m u n d E n t w i c k l u n g der M o r a l von B e d e u t u n g sein, welche Interaktionskonstellationen
eine G e s e l l s c h a f t vor-
sieht. S o l a n g e die G e s e l l s c h a f t nichts weiter ist als die Reihe der f ü r Teilnehmer sich ergebenden Interaktionen, entsteht kein besonderes Problem. D i e A c h t u n g wird nur in der Interaktion selbst erwiesen oder entzogen, u n d die Partner wissen w a r u m . B e z u g s p e r s o n e n sind die Interaktionspartner selbst oder Partner, die zwar i m M o m e n t abwesend sind, mit denen m a n aber d e m n ä c h s t in Interaktion treten wird, die m a n kennt u n d Wiedersehen wird. D i e
D i e s e A u s g a n g s l a g e ändert sich in d e m M a ß e , als Interaktionssysteme u n d G e s e l l s c h a f t s s y s t e m e sich differenzieren u n d sich nach je eigenen Gesichtsp u n k t e n strukturieren. D a n n wird, wie m a n o f t formuliert hat, f ü r d a s G e s e l l s c h a f t s s y s t e m
eine
generalisierte M o r a l erforderlich. 7 4 N a c h unserem theoretischen M o d e l l m ü ß t e ein doppelter A n s t o ß zu Generalisierungen zu erwarten sein, u n d ermöglicht eine schichtenmäßige
das
Differenzierung
auch des M o r a l - C o d e s der G e s e l l s c h a f t : Einerseits m u ß E g o in Betracht ziehen, d a ß Alter in einem komplexen N e t z von Interaktionen steht, die f ü r E g o nur teilweise zugänglich sind. Alter braucht daher eine Identität, die er m i t n e h m e n k a n n , w e n n er mit anderen interagiert. D e n n seine anderen Partner werden ihn fragen, wie er sich E g o gegenüber verhalten hat. A n d e r s formuliert: Alter ist in der
M e c h a n i s m e n des Erwerbs besonderer A c h t u n g sind sehr konkret institutionalisiert, sie laufen über Reputation f ü r besondere Taten oder über Vorleistung u n d D a n k b a r k e i t . Moralisiert wird eine relativ direkte Reziprozität, 7 2 nicht zuletzt mit der F u n k t i o n des zeitlichen Ausgleichs von B e d ü r f n i s s e n . 7 3 N a -
eigene Identitätsformel einzubauen. Über die Intergration der wechselseitig verschränkten Perspektiven kann aber nur in vereinfachter Form kommuniziert werden. Der Ausdruck von und die Kommunikation über die Bedingungen wechselseitiger Achtung dienen dabei als Indikator für den akzeptierten Einbau des Ego als Alter und als Alter Ego in die Sichtweise und Selbstidentifikation seines Alter; das Gelingen perspektivisch integrierter Kommunikation wird dann mit Achtung entgolten. Zu einem entsprechenden Moralbegriff vgl. auch Niklas Luhmann, Soziologie der Moral, in: Niklas Luhmann/Stephan H. Pförtner (Hrsg.), Theorietechnik und Moral. Frankfurt a . M . 1978, S. 8-116 (S. 46ff.). Vgl. z. B. Marcel Mauss, Die Gabe: Über Formen und Funktionen des Tausches in archaischen Gesellschaften, dt. Übers., Frankfurt 1968; Bronislaw Malinowski, Sitte und Verbrechen bei den Naturvölkern, dt. Übers. Wien o.J. S. 28 ff; Claude Lévi-Strauss, Les structures élémentaire de la parante, Paris 1949 insbs. S. 78 ff. ; Marshall D. Sahlins, On the Sociology of Primitive Exchange, in: Michael Banton (Hrsg.), The Relevance of Models for Social Anthropology, London 1965, S. 139-236. Aus der strukturellen Relevanz dieses Prinzips der Reziprozität kann natürlich nicht auf adäquate Formuliertheit in einem Moral-Code archaischer Gesellschaften geschlossen werden. 72
Dazu und zugleich als Analyse des Wandels gesellschaftsstruktureller Kontexte einer moralischen Idee 73
Niklas Luhmann, Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen, in: Hans-Uwe Otto / Siegfried Schneider (Hrsg.), Berlin 1973, S. 21-43. In den moralischen Problemen der Identitätszumutung im unerbetenen Schenken vgl. ferner Barry Schwartz, The Social Psychology of the Gift, The American Journal of Sociology 73 (1967), S. 1-11. Einen Überblick über die viel diskutierten Implikationen und Konsequenzen eines nicht mehr durch Interaktionsmöglichkeiten gedeckten Gesellschaftssystems vermittelt Clyde Kluckhohn, The Moral Order in the Expanding Society, in: Carl H. Kraeling/Robert M. Adams (Hrsg.), City Invincible, Chicago 1960, S. 391-404. Als typische Äußerungen zum allgemeinen soziologischen Bedingungszusammenhang von Differenzierung und Generalisierung vgl. ferner Talcott Parsons, Durkheim's Contribution to the Theory of Integration of Social Systems, in: Kurt H. Wolff (Hrsg.), Emile Durkheim 18581917, Columbus Ohio 1960, S. 118-153; ders., Some Considerations on the Theory of Social Change, Rural Sociology 26 (1961), S. 219-239; Shmuel N. Eisenstadt, Social Change, Differentiation and Evolution, American Sociological Review 29 (1964), S. 375-386. Inzwischen mehren sich allerdings die Stimmen, die vor einer Überschätzung der faktischen Vereinheitlichung und Relevanz solcher Generalisierungen warnen. Vgl. z.B. Barbara E. Ward, Varieties of the Conscious Model: The Fishermen of South China, in: The Relevance of Models for Social Anthropology, London 1965, S. 113-137, oder (im Sinne von „Herrschaftskritik") Stanley Diamond, The Rule of Law Versus the Order of Custom, in: Robert P. Wolff (Hrsg.), The Rule of Law, New York 1971, S. 115-144; ferner manche Beiträge in Reinhard Bendix (Hrsg.), State and Society, Boston 1968. 74
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Formulierung seines Verhaltensprinzips d u r c h eine Mehrheit von Bezugsgruppen getragen, die i h m möglicherweise verschiedenartiges Verhalten abverlangen oder i h m gar verschiedenartige Achtungsbed i n g u n g e n aufoktroyieren. U n d obwohl Alter stets n u r sektoral engagiert wird, k a n n er psychisch nicht völlig zerlegt werden, u n d auch die sozialen Relevanzen überschneiden sich, d e n n in Interaktionssystemen k a n n das frühere bzw. spätere Verhalten der Anwesenden Abwesenden gegenüber abgefragt, thematisiert u n d in Pflicht g e n o m m e n werden. Diese G e s a m t s t r u k t u r limitiert die Möglichkeiten, Ego/Alter-Integrationen u n d A c h t u n g s b e d i n g u n g e n interaktionsspezifisch zu h a n d h a b e n . Ego m u ß das berücksichtigen, w e n n er die Identitätsformel Alters moralisch qualifizieren u n d Achtungserweise von ihr abhängig machen will. Das aber heißt: Ego m u ß Partner Alters in Betracht ziehen, die f ü r ihn möglicherweise nie Interaktionspartner werden können, die er nicht kennt u n d nicht einschätzen k a n n .
dierung moralischer Gesichtspunkte vor allem durch neuartige Synthesen von Moral u n d Religion. 7 6 W e n n beide Seiten einer Interaktionsbeziehung in der Definition ihrer Achtungsansprüche u n d Achtungsbereitschaften von (je verschiedenen) Abwesenden abhängen, deren simultane Präsenz nicht m e h r herstellbar ist, liegt es nahe, dies Prinzip der Abwesenheit zu generalisieren. D e r „generalized other" ist u n d bleibt abwesend. Er k a n n daher auch n u r relativ unspezifisch binden. D a s impliziert neue Formen der Freiheit u n d der B i n d u n g i h m gegenüber. Seine Moral läßt sich binär codieren mit der Folge, d a ß Verstöße gegen A c h t u n g s b e d i n g u n g e n als „abweichendes Verhalten" klassifiziert u n d behandelt werden können. 7 7 Sie wird in den Sozialbeziehungen der täglichen Interaktion n u r noch erfüllt oder nichterfüllt, m a n k a n n sie nicht spontan variieren. M a n ist in der Formulierung u n d K o m m u nikation von Achtungsinteressen abhängiger u n d unabhängiger zugleich.
Andererseits findet Ego sich selbst in der gleichen Situation. Er m u ß die Art, wie er Alter achtet oder mißachtet, in Situationen vertreten können, in denen Alter abwesend ist. Er k a n n sich nicht in die Perspektive eines b e s t i m m t e n Alter einschleichen, w e n n andere i h m das verübeln, k a n n nicht Liebe u n d Konsens suchen, w o F ü h r u n g u n d H ä r t e von i h m verlangt wird. Beide Seiten sind nicht m e h r frei, sich der selbstselektiven Geschichte ihres jeweiligen Interaktionssystems einfach hinzugeben, sondern müssen auf je verschiedene Abwesende Rücksicht n e h m e n u n d wissen das voneinander. Für die d a m i t sich a n b a h n e n d e Problemlage gibt es eine Mehrzahl recht verschiedenartiger Lösungen. Eine von ihnen liegt in der Sklaverei, mit der das Problem moralisch qualifizierbarer A c h t u n g institutionell wegfingiert wird. ( M a n k a n n darin natürlich auch eine E x t r e m f o r m abstrakter moralischer Generalisierung sehen, u n d die Ubergänge zur Sklaverei sind ja auch unscharf.) Eine andere Lösung bietet eine Freigabe der Pflege idiosynkratischer Achtungsinteressen in Zweierbeziehungen, wie sie in archaischen Gesellschaften mehr oder weniger verpönt waren, 7 5 eine Lizenz zur moralisch folgenlosen folie à deux, die später zu einem Sonder-Code f ü r passionierte Liebe u n d E h e g r ü n d u n g aufgewertet wird. Die größte Breiten- u n d D a u e r w i r k u n g erreicht jedoch ein dritter Ausweg: die Generalisierung u n d binäre C o -
M i t Z u n a h m e der G r ö ß e u n d Komplexität des gesellschaftlich erreichbaren H a n d e l n s treten d e m n a c h die auf Interaktion unter Anwesenden gegründeten Formen der moralischen K o m m u n i k a t i o n u n d sozialen Kontrolle zurück. Sie lassen jetzt R a u m f ü r Schichtungsdifferenzen, f ü r politisch-administrative Rollenkomplexe u n d f ü r Recht, f ü r Sinngehalte also, die n u n ihrerseits moralisiert werden müssen. Die Moralvorstellungen werden generalisiert u n d vertextet. N e b e n die „kleinen Traditionen" der Volkskultur tritt d a n n die „Große Tradition" der kanonisierten Moral. Diese erreicht gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen eine gewisse Eigenständigkeit, die auf internen Nichtbeliebigkeiten beruht. Z u den Problemen, die gelöst werden müssen, gehört die s i n n h a f t e Vermittlung von Differenzierung, Generalisierung u n d Respezifikation, die relationale Auflösung des H a n d e l n s d u r c h Differenzierung von Intention u n d Verhalten, die Freistellung des m o ralischen Urteils von allzu direkter Abhängigkeit von Erfolg u n d Mißerfolg, die Interpretation von Kontingenz, die Differenzierung kanonisierter u n d
75
Vgl. Shmuel N. Eisenstadt, Ritualized Personal Relations, Man 96 (1956), S. 90-95; Kenelm O.L. Burridge, Friendship in Tangu, Oceania 27 (1957), S. 177-189.
76
Dies ist übrigens ein wichtiges Beispiel dafür, daß auch Entdifferenzierungen, nämlich Verschmelzungen früher getrennter Funktionsbereiche, wichtige Funktionen in der gesellschaftlichen Evolution erfüllen, wenn sie auf einer höheren Ebene der Systemintegration neue Problemlösungsmittel aktivieren. 77 Wie stark selbst die „akademische Soziologie" mit ihrem Devianzbegriff diese Auffassung noch teilt, zeigt Alvin W. Gouldner, The Coming Crisis of Western Sociology, London 1971, S. 425 ff.
Niklas Luhmann: Ebenen der Systembildung - Ebenendifferenzierung
exegetischer Texte als Mechanismus der Verbindung von Konstanz und Elastizität, die Schulenbildung im Rahmen eines gemeinsamen Lehrgebäudes - und all dies in die Gesellschaft integrierenden und doch interaktioneil ausspielbaren, achtungsbezogenen Begriffen. Ein Vorstellungssyndrom, das dies leistet, ist nicht in beliebiger Form möglich und gewinnt, wenn aufgebaut, eben dadurch jene Autonomie, Unnachgiebigkeit und Eigengeschichtlichkeit, die nicht auf jede Veränderung in anderen Funktionsbereichen der Gesellschaft reagiert. Die „Große Tradition" der kanonisierten Moral erleichtert, externalisiert sozusagen die Kommunikation über Achtung und Moral, erweitert damit aber auch die Konfliktmöglichkeiten einer solchen Kommunikation. Moralisierte Themen können sich jetzt gegenüber dem Interaktionssystem, seiner Geschichte, seiner jeweiligen Lage verselbständigen. Sie werden nicht mehr nur benutzt, wenn es akut darum geht, die eigene Perspektive in die Ego-AlterFormel des anderen einzuklinken, sondern ihre Benutzung hat zur Folge, daß ein solches Problem erst entsteht und den Fluß der Interaktion stört. Moral wird selbstprovokativ. Jemand nennt seinen eigenen Vorschlag „demokratisch" oder den eines anderen „undemokratisch" - und schon ist die Situation moralisch polarisiert, ohne daß dies vom Hauptthema her erforderlich wäre. Andererseits nehmen im gleichen Zuge auch die Möglichkeiten des Ausweichens vor solchen Konflikten zu. So bieten sich in einer stärker differenzierten Gesellschaft mehr und verschiedenartigere Möglichkeiten der Partner-, Interaktions- und Rollenwahl. Motivationsprobleme können dann zusätzlich auch durch Rekrutierung recht motivierter Partner gelöst werden und nicht nur durch interaktionell forcierten Mißachtungsdruck. Es ergeben sich neuartige Chancen für bewußte Selbstthematisierung, biographische (also nicht nur organische!) Individualisierung und Systematisierung der Einzelpersönlichkeit 78 und damit wiederum neuartige Bedingungen für die Weiterentwicklung einer So z.B. Emile Durkheim, D e la division du travail social, Paris 1893, 7. Aufl. 1960, S. 336ff., 398 ff; Hans G e r t h / C . Wright Mills, Character and Social Structure: The Psychology of Social Institutions, New York 1953, S. 100 ff; Talcott Parsons, The Position of Identity in the General Theory of Action, in: Chad Gordon / Kenneth J. Gergen (Hrsg.), The Self in Social Interaction, Bd. I, New York usw. 1968, S. 11-23. Vgl. auch Dorothy Lee, Notes on the Conception of Self among the Wintu Indians, Explorations 3 (1951), S. 4 9 - 5 8 . 78
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damit kompatiblen, internalisationsfáhigen Kultur und Moral - etwa für den Komplex „Scham und Schuld". Die Generalisierung der Moral gleitet also nicht über die Köpfe der Beteiligten hinweg. Sie bezieht sich gerade auf deren Individualität in einer Weise, die den Bezug auf andere Individuen mit der Doppelmöglichkeit des Guten und Bösen zum Angelpunkt des individuellen Schicksals werden läßt. Trotz dieses Bezugs auf Individuen und individuelles Handeln behalten generalisierte moralische Symbole diejenigen Eigenschaften bei, auf denen ihre Funktion im Kommunikationsprozeß beruht. Sie dienen als Kürzel für Ego/Alter-Integration und als Substitut für soziale Exploration. Die Tugendlisten und die Grundbegriffe einer theoretisch aufbereiteten Moral moralisieren durch Implikation und Unterstellung. Ist zum Beispiel von Vernunft die Rede, so wird vorausgesetzt, daß man vernünftig und nicht unvernünftig sein sollte; aber diese Voraussetzung selbst wird nicht zum Thema gemacht. Die Struktur komplexer Sätze bietet reichlich Möglichkeiten, in Beiworten oder Nebensinnen Moralität unterzubringen, ohne dies mittels der Satzaussage selbst zu beleuchten. Dieser implikative Gehalt wird als Basis der Moral benutzt und mitgeneralisiert. Insofern dient die Moraltheorie zugleich als eine Art Sperre gegen die Analyse der Intersubjektivität und der doppelten Kontingenz sozialer Beziehungen. Man kann vermuten, daß genau an diesem Punkte Grenzen der Plausibilität und der Institutionalisierbarkeit überschritten werden, wenn die Gesellschaft mit Hilfe von Organisation globale Dimensionen erreicht. Dann wird das, was als Konsens dort Abwesenden unterstellbar ist, trivial und außerdem als Unterstellung manipulierbar. Eine wachsende Personalisierung und Pluralisierung nicht nur der moralischen Bewertungen, sondern auch der Standards für Moral läßt sich beobachten - zumindest in industrialisierten Regionen, die den Ausdruck moralischer Uberzeugungen nicht beschränken. 79 Ebenso deutlich nehmen innerhalb der Moraltheorien die „besserwisserischen" Komponenten zu, man denke an Nietzsche, und ebenso die Tendenzen, gerade das Abweichen als Abweichen zu moralisieren, um die binäre Struktur des moralischen Code in Frage zu stellen. Eine solche Entwicklung dürfte die unbefangene Kommunikation moralischer Uberzeugungen
Vgl. dazu Margaret J. Zube, Changing Concepts of Morality 1948-69, Social Forces 50 (1972), S. 3 8 5 - 3 9 3 , auf Grund einer Inhaltsanalyse von Frauenzeitschriften in den USA. 79
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erschweren. Moral ist und bleibt jedoch auf laufende Kommunikation der Bedingungen wechselseitiger Achtung angewiesen; sie kann nicht einfach als Wert internalisiert oder durch Sozialisationsprozesse sichergestellt werden. Die damit entstehende Situation ist noch nicht zu überblicken. Einige Anzeichen sprechen für mehrstufige Problemlösungen im Sinne von hochdivergenten Gruppenmoralen, die durch Trivialkonsens und organisierte Entscheidungsprozesse integriert werden.
stimulieren können; sie müssen heute vor allem über Massenmedien verbreitbar sein, so daß jedermann auch Unbekannten gegenüber die Bekanntheit des Themas und die Bekanntheit der Lage unterstellen kann und darüber gar nicht mehr kommuniziert werden braucht, so daß Situationen mit unterstelltem Konsens und mit dem „Ziehen der Konsequenzen" eröffnet werden können. Dies gilt beispielsweise f ü r Streiks oder für politische Demonstrationen, in denen man „aus Anlaß von ..." eine bereits vorher bekannte Front aktualisiert.
2.4 Soziale Bewegungen
Nicht zum kollektiven Verhalten und damit auch nicht zum Bereich der sozialen Bewegungen rechnen wir organisatorisch voll durchprogrammierte Kollektivaktionen selbst bei noch so massenhaftem Aufwand, etwa Sportfeste, Staatsparaden und dergleichen. In solchen Fällen ist die gesellschaftliche Relevanz der Interaktion durch Organisation gebrochen und vermittelt. Die Interaktion sucht nicht mehr als Interaktionssystem gesellschaftliche Relevanz, sondern nur noch als expressives Moment organisierter Prozesse, in denen nicht zuletzt gerade die Einheit von Organisation und Interaktion, das „Klappen" des planmäßigen Ablaufs, mitdargestellt wird. Die Erklärung solchen Geschehens m u ß in jedem Falle über die Erklärung leistungsfähiger Organisation erfolgen.
Die drei bisher erörterten Thesen (1) einer evolutionär zunehmenden Differenzierung der Systembildungsebenen Gesellschaft, Organisation und Interaktion, (2) einer Steigerung von Konfliktpotentialen über Ablehnungsmöglichkeiten und (3) einer Generalisierung der Moral geben uns Anhaltspunkte für eine Theorie sozialer Bewegungen oder, wie man auch sagt, kollektiven Verhaltens. 80 Der Begriff soziale Bewegung soll hier auf kollektives Verhalten bezogen bleiben, weil er sonst seine Abgrenzbarkeit verliert. Als kollektives Verhalten bezeichnet man Massenaktionen, politische Demonstrationen, öffentliche Versammlungen, Umzüge mit einem faktisch nicht limitierten Zugang für Interessenten und Entwicklungstendenzen, die sich aus der Logik der Interaktion ergeben und den Beobachtern oft als „spontan" oder als „irrational" erscheinen. Von sozialen Bewegungen wollen wir nicht bei jedem Prozeß der Verbreitung und Diffusion von Meinungen oder Verhaltensweisen sprechen - nicht bei vegetarischer Ernährung, bei der Mode, blue jeans zu tragen, oder bei zunehmender Publizität von Pornographie - , sondern nur dann, wenn die Bewegung mit Bewußtsein, wenn nicht aller so doch einiger Teilnehmer zu kollektivem Verhalten tendiert. Dadurch wird soziale Bewegung zum Begriff f ü r intermittierendes kollektives Verhalten. Dieses mag gleichwohl spontan ablaufen oder als spontan inszeniert sein; es wird durch die Zusammenfassung zu einer sozialen Bewegung unter abstraktere Sinnbestimmungen gezwungen, an denen es seine Einheit, seine Fortsetzbarkeit in anderen Situationen, seine eigene Tradition wahrnehmen kann. Solche Themen müssen bestimmte Eigenschaften haben, durch die sie in kollektiven Interaktionen leben und diese
80 Für einen Überblick über aktuelle Forschungen siehe Walter R. H e i n z / P e t e r Schöber (Hrsg.), Theorien kollektiven Verhaltens, 2 Bde., D a r m s t a d t / N e u w i e d 1973.
Soziale Bewegungen sind dagegen ein besonderer Systemtyp. Sie lassen sich charakterisieren als Versuche, durch Interaktionssysteme vom Typ kollektiven Verhaltens etwas zu erreichen, was in der gegebenen Lage des Gesellschaftssystems durch Interaktion gar nicht mehr erreichbar ist. Die Ausgangslage besteht in einer bereits beträchtlichen Divergenz von gesellschaftsstrukturell bedingten Problemen auf der einen Seite und Gestaltungsmöglichkeiten in Interaktionssystemen. Z u m Beispiel mag ein System mit starker sozialer Schichtung zu extrem ungleicher Verteilung der Güter führen, ein System mit politisch fundierter Justiz zu überrechtlicher Despotie, ein System mit rational geführter Wirtschaft zur Verödung der Almen oder der Altstädte, ein System, das höhere Ausbildung ausgiebig belohnt und zugleich langwierig macht, zu einer beträchtlichen Altersverzögerung des Berufseintritts und der anerkannten persönlichen Selbständigkeit. Solche Probleme liegen nicht auf der Strukturebene von Interaktionssystemen und können auch durch Interaktion nicht gelöst werden. Gleichwohl können sie, situativ zugespitzt, kollektives Verhalten auslösen und damit Anlaß geben für das Entstehen sozialer Bewegungen wie Streikwellen, Meutereien, Häuserbesetzungen,
Niklas Luhmann: Ebenen der Systembildung - Ebenendifferenzierung
Demonstrationen gegen Tariferhöhungen, Sturmlaufen gegen ein politisches Regime. In ihrer eigenen Systematizität und Interaktionstypik sind solche Bewegungen unfähig, das sie auslösende Problem selbst zu lösen; sie können es nur für sich selbst und für andere sichtbar machen. Gerade diese strukturelle Verspätung, diese Unfähigkeit zur Problemlösung mag der Bewegung eine gewisse Dauer und Verstärkung sichern; gerade wenn sich nichts ändert, wenn sich nichts bessert, liegt es für sie nahe, die Interaktion, ihr einziges Mittel, zu intensivieren: mehr Teilnahme anzuziehen und gewaltsamere Formen des Verhaltens zu suchen. Das Problem wird dann stärker handlungsbezogen definiert, es kommt zu einer externalen Zurechnung des eigenen Misserfolgs auf mögliche Opfer kollektiver Aktion, es kann zu einer „Teleologisierung der Krise" kommen.81 Die Differenz der Systembildungsebenen Gesellschaft und Interaktion setzt sich in Dynamik um. Ist das Phänomen sozialer Bewegungen nach Entstehung und Dynamik durch Differenzierung der Systembildungsebenen bedingt, so verstärkt der Eindruck eines solchen Zusammenhangs sich noch, wenn man zwei flankierende Bedingungen beachtet: Soziale Bewegungen worden einmal dadurch begünstigt, daß komplexer werdende Gesellschaften ihre Konfliktspotentiale steigern müssen. Wir setzen Konflikte dabei im Sinne des oben definierten Begriffs als Interaktionsgeschehen voraus; eben darauf beruht ihre Bedeutung für die Auslösung kollektiven Verhaltens in sozialen Bewegungen.82 Steigerung des Konfliktpotentials ist allerdings eine nur indirekt begünstigende Bedingung. Die Begünstigung besteht
So a m Beispiel der Wiedertäufer Otthein R a m m s t e d t . Sekte u n d soziale Bewegung: Soziologische Analyse der Täufer in Münster (1534 / 35), Köln / Opladen 1966, S. 48 ff. Der von R a m m s t e d t analysierte Fall ist auch deshalb besonders interessant, weil er zeigt, wie Endzeit-Erwartungen (hier: Chiliasmus) die Kluft zwischen Gesellschaftssystemen u n d Interaktionssystem verringern: für die nur noch kurze Weile irdischen Lebens konnte die Bewegung der Täufer ihre eigenen Interaktionsformen als die Gesellschaft selbst setzen. Auch säkularisierte soziale Bewegungen machen sich mit Vorstellungen M u t , die über Verkürzung der Zeithorizonte die Distanz zur Gesellschaft verringern - so mit Vorstellungen wie: die Zeit sei reif für eine Revolution, die Gesellschaft nähere sich u n a u f h a l t s a m einer Krise. 81
H ä u f i g wird viel abstrakter auf objektive und empfundene Benachteiligungen, relative Deprivation, sozialen Abstieg und dergleichen abgestellt. Dies mögen Vorbedingungen für die Aussortierung derjenigen Konflikte sein, die kollektives Verhalten auslösen können. 82
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nicht darin, daß soziale Bewegungen als Form des Konfliktverhaltens - zum Beispiel als „friedliche Demonstrationen" - zugelassen werden; sie besteht vielmehr darin, daß Konfliktfähigkeiten in der Form von Ablehnungspotentialen gesteigert worden. Die soziale Bewegung richtet sich dann gegen die berechtigte Ablehnung ihrer Ziele gegen „orthodoxe" Brandmarkung ihrer Vorstellungen als „Häresie" und „Fanatismus"83, gegen berechtigte Ablehnung von Lohnerhöhungen, gegen berechtigte Maßnahmen der Regierung, gegen berechtigte Zugangssperren durch Eigentümer usw. Ihr Bezugspunkt ist: daß die Konfliktfahigkeit durch Negationspotentiale auf der anderen Seite erhöht worden ist. Sie muß deshalb eine gewisse Bagatellschwelle überfluten können, um dem berechtigten Nein in der Konfrontation standhalten zu können. Sie muß die Konfliktfähigkeit der anderen Seite kompensieren können. Das geschieht nicht selten durch Moral. Insofern kann auch die zweite Folge zunehmender Ebenendifferenzierung, die Generalisierung von Moralen, in den Dienst sozialer Bewegungen treten. Die Begriffe einer generalisierten Moral, etwa das Postulat der Gleichheit und Gerechtigkeit, können immer gegen die Gesellschaft gewandt werden, die sie praktiziert. Als Moral sind sie außerdem in der Interaktion nicht zu bestreiten. Sie eignen sich mit all dem, die Distanz zwischen Gesellschaft und Interaktion verkürzt zu reproduzieren und zu begründen, warum man sich in der Gesellschaft gegen sie wenden muß. Dies Erfordernis eines „system of generalized beliefs" wird in der einschlägigen Literatur vielfach betont;84 aber man muß es zunächst auf der Ebene sozialer Kommunikation ansiedeln; wie weit dem psychische Realitäten des Uberzeugtseins entsprechen, ist eine ganz andere Frage. Mit all dem sind nur einige Rahmenbedingungen der, um mit Smelser85 zu formulieren, „structural conductiveness" genannt, die zu sozialen Bewegungen führen kann. Wir brechen damit ab, denn unser Interesse geht nur dahin, die Anschließbarkeit einer Spezialtheorie sozialer Bewegungen aufzuweisen.
83 Genau dies entspricht übrigens der Begriffsgeschichte von „fanatisch, Fanatismus". Vgl. den entsprechenden Artikel von Robert Spaemann im Historischen Wörterbuch der Philosophie Bd. 2, Basel / Stuttgart 1972, Sp. 9 0 4 - 9 0 8 . 84 M i t dieser Formulierung zum Beispiel bei Josph R. Gusfiel, Social Movements: The Study, International Encyclopedia of the Social Sciences, N e w York 1968, Bd. 14, S. 4 4 5 - 4 5 2 (446). 85 Siehe Neil J. Smelser, Theory of Collective Behavior, London 1962, S. 15, 3 8 3 f.
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I m einzelnen hätte eine solche Theorie noch weitere Vorbedingungen auf der Ebene des Interaktionssystems zu benennen (etwa: Gelegenheit zu hinreichend offenen Z u s a m m e n k ü n f t e n ; Zeitverhältnisse, wie sie f ü r Interaktion typisch sind, nämlich Z w a n g zu Kontinuität u n d Tempo; thematische Fokussierung mit Aufmerksamkeitskonzentration u n d entsprechendem Rückstau von Aktivitäten, die f ü r Führungsdispositionen oder Signale d a n n verfügbar werden; hinreichende Rollentrennung bzw. Rekrutierung aus Teilnehmern, denen wenig andere Rollen zur V e r f ü g u n g stehen). U n d selbst mit solchen Zusatzbedingungen hätte m a n noch keine erklärungskräftige Theorie in der H a n d , aber i m m e r h i n ein hinreichend durchstrukturiertes Konzept, so d a ß m a n die Frage anschließen könnte, welches die Variablen f ü r historische Ereignisse sind, die unter solchen Bedingungen diskriminieren.
2.5 Interdependenzen und Übergänge Gesellschaft, Organisation u n d Interaktion unterscheiden sich d u r c h die nach d e m Systembildungsprinzip mögliche Komplexität. Die Vermittlung von einer Ebene zur anderen wird d a d u r c h ermöglicht, d a ß in Systemen des jeweils komplexeren Typs Teilsysteme von geringerer Komplexität gebildet werden. Die Organisationsfähigkeit der Gesellschaft h ä n g t m i t h i n ab von der Möglichkeit, Gesellschaft in Teilsystemen zu differenzieren. O h n e Differenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme von geringerer Komplexität, etwa Systeme f ü r W i r t s c h a f t oder f ü r Politik, f ü r Erziehung oder f ü r K r i e g s f ü h r u n g , gäbe es keine Eigenständigkeit von Organisationen. Ebenso h ä n g t auch die relative Distanzierung von Organisationsebene u n d Interaktionsebene davon ab, d a ß Organisationssysteme Teilsysteme ausdifferenzieren - etwa in der Form von Behörden, Abteilungen, Referaten, Industriewerken u n d Werksabteilungen, Schulen, lokalen Büros usw. N u r mittels einer Technik der Systemdifferenzierung k a n n die Komplexitätsdifferenz zwischen Gesellschaft u n d Organisationssystemen u n d Interaktionssystemen so gesteigert werden, d a ß die drei Ebenen in ihrer spezifischen Eigenart ausgeprägt werden u n d doch zueinander vermittelt werden können. D u r c h Teilsystembildung auf der Ebene der Gesellschaft k a n n eine sehr komplexe Gesellschaft aufgebaut u n d können zugleich in den Teilsystemen B e d i n g u n g e n höherer Affinität f ü r Organisation geschaffen werden. Dasselbe gilt f ü r das Verhältnis von Organisation u n d Interaktion.
Diese Einsicht ist nur zu gewinnen, w e n n m a n zwischen Ebenendifferenzierung u n d Systemdifferenzierung sorgfältig unterscheidet. W ä h r e n d es bei der Ebenendifferenzierung u m die E n t w i c k l u n g u n d sim u l t a n e Verwendung verschiedenartiger Prinzipien der Systembildung in der Gesellschaft geht, betrifft Systemdifferenzierung die Ausdifferenzierung von Teilsystemen innerhalb einzelner Systeme. W i r werden auf die Theorie der Systemdifferenzierung f ü r den Sonderfall der Gesellschaft im Kapitel I V [der Gesellschaftstheorie] ausführlicher z u r ü c k k o m m e n . Hier sei zunächst n u r gesagt, d a ß es sich u m die W i e d e r h o l u n g des Systembildungsvorganges innerhalb von Systemen handelt, also u m Reflexivität der Systembildung im Sinne von A n w e n d u n g auf sich selbst. D u r c h Ausdifferenzierung von Teilsystemen werden innerhalb von Systemen w i e d e r u m Diskontinuitäten geschaffen im Sinne von Differenzen zwischen System u n d Umwelt. Die Vorteile der Systembildung werden in verkleinertem Format n o c h m a l s gewonnen. D u r c h diesen Prozeß der R e d u k t i o n von Komplexität k ö n n e n die Voraussetzungen f ü r den Ü b e r g a n g zu einem andersartigen Systembildungsprinzip geschaffen werden, also die Voraussetzungen f ü r Organisation innerhalb der Gesellschaft u n d die Voraussetzung f ü r Interaktion innerhalb von Organisationen bzw. innerhalb der Gesellschaft. Weil diese A n n ä h e r u n g auf erneuter Differenzier u n g zwischen System u n d Umwelt beruht, hat sie einen Doppelaspekt: Sie schafft einerseits Problemstellungen kleineren Formats, die in Teilsystemen bzw. Teilsystemen von Teilsystemen schließlich den S p r u n g zu einem anderen Prinzip der Systembildung ermöglichen. Sie schafft andererseits Voraussetzungen d a f ü r in der Form einer schon domestizierten, geordneten, in relevanten Hinsichten voraussehbaren systeminternen Umwelt der Teilsysteme - etwa in der Form funktionsfähiger M ä r k t e oder in der Form von zur Kooperation verpflichteten anderen Abteilungen des gleichen Organisationssystems. Beides z u s a m m e n macht jene Simultaneität heterogen gebildeter Systeme im gleichen H a n d l u n g s f e l d faktisch möglich - wenngleich nicht o h n e S p a n n u n gen, D y s f u n k t i o n e n u n d wechselseitigen Abstriche an dem, was rein gesellschaftlich, rein organisatorisch, rein interaktionell an sich möglich wäre. Einige Beispiele aus d e m Bereich gesellschaftlicher Differenzierung sollen dazu beitragen, diesen abstrakt formulierten G e d a n k e n g a n g zu erläutern. D a s gegenwärtige Gesellschaftssystem ist so komplex u n d ist unter so abstrakten Gesichtspunkten differenziert, d a ß keiner der zentralen gesellschaftlichen
Niklas Luhmann: Ebenen der Systembildung - Ebenendifferenzierung
Funktionsbereiche als Einheit organisationsfähig ist. Aus im einzelnen sehr verschiedenen Gründen ist keines der primären gesellschaftlichen Teilsysteme als Organisation konstituiert. Erst durch nochmalige Differenzierung innerhalb funktionsspezifischer gesellschaftlicher Teilsysteme kommt es zu organisationsfähigen Größenordnungen. Am deutlichsten ist das am Falle der Wirtschaft zu erkennen. Die Ausdifferenzierung eines hinreichend großräumigen Wirtschaftssystems mit Distanzierung von primär religiösen, politischen oder familiären Interessen ist eine wichtige, allein aber nicht ausreichende Voraussetzung für den Aufbau von spezifisch ökonomischen Organisationen. Sie ermöglicht zum Beispiel eine hinreichende Mobilisierung von Ressourcen für die Verwendung nach Maßgabe ökonomischer Kalkulation und eine hinreichende Mobilität der Arbeitskräfte, wie der Motivationsmechanismus von Organisationen sie voraussetzt. Hinzu kommt die interne Differenzierung des Wirtschaftssystems unter den Gesichtspunkten von Produktion, Markt und Konsum, die gewährleistet, daß hinreichend spezifizierbare Produktionsaufgaben in organisationsfähigen Größenordnungen gestellt werden können und zugleich eine systeminterne Umwelt voraussetzen können, deren Kontingenz so weit vorstrukturiert ist, daß rationale Organisations- und Entscheidungstechniken angesetzt werden können. Ahnlich ist es im Falle von Politik. Unter dem Gesichtspunkt von Politik ist das ehemals die Gesellschaft definierende Moment der Sicherung kollektiver Handlungsfähigkeit und der Herstellung bindender Entscheidungen ausdifferenziert und einem Teilsystem der Gesellschaft übertragen worden. Dabei wurde unter „government" bzw. unter „Staat" der Versuch verstanden, dieses Teilsystem als Einheit zu organisieren. Wie wir schon für den Fall des Religionssystems und der Kirche notiert hatten, 86 wird der Versuch, schon auf der ersten Stufe gesellschaftlicher Primärdifferenzierung Organisation zu bilden, in dem Maße problematisch, als die Gesellschaft komplexer wird und durch stärkeres Auseinanderziehen von Ebenen der Systembildung an Leistungsfähigkeit gewinnen könnte. Wie die Kirche ist auch der Staat als Organisationseinheit mit Anspruch auf ein gesamtgesellschaftliches Funktionsmonopol unglaubwürdig geworden. Faktisch hat sich demgegenüber eine Innendifferenzierung des politischen Systems in Politik und Verwaltung durchgesetzt, 87 86
Vgl. oben S. 21, A n m . 42. Hierzu näher Niklas L u h m a n n , Politische Planung: Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung, 87
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die im Bereich der Politik den Parteien und Interessenorganisationen, im Bereich der Verwaltung den Staats- und Kommunalorganen je unterschiedliche Organisationsmöglichkeiten gibt. Politik und Verwaltung bleiben komplementär aufeinander verwiesen und intensiv voneinander abhängig; ihre Leistungsfähigkeit beruht aber gerade darauf, daß sie nicht durch ein einheitliches Organisationssystem koordiniert werden. Eine Organisationsbildung, die die für sie typischen Chancen der Rationalisierung und Detailregulierung des Verhaltens ausnutzt, ist bei einem hohen gesellschaftlichen Anspruchsniveau in bezug auf Politik erst auf einer dritten Stufe gesellschaftlicher Differenzierung möglich. Ausreichende Eigenkomplexität und, damit zusammenhängend, die Möglichkeit, ihre spezifische Funktion als gesamtgesellschaftliche zu erfüllen, gewinnen die Teilsysteme für Wirtschaft und für Politik (und das gleiche könnte man für den Fall der Wissenschaft und der Religion ausführen) nur durch eigene weitere Differenzierung und nur dadurch, daß sie auf organisatorische Vereinheitlichung zur Koordination ihrer Teilsysteme verzichten. Sie müßten nämlich andernfalls Mitgliedschaften konditionieren und regulieren und entsprechend Mitglieder nicht aufnehmen bzw. abstoßen können - eine Art der Kontingenzregulierung, die in einem Gesellschaftssystem, das im Prinzip keine Nichtmitglieder mehr kennt, mit einem Anspruch auf ein gesamtgesellschaftliches Funktionsmonopol nie zu vereinbaren ist.88 Wir können dieses Problem schärfer beleuchten, wenn wir die formale Unterscheidung mehrerer Stufen der Differenzierung des Gesellschaftssystems durch eine inhaltliche ergänzen. Wir hatten oben die Gesellschaft als eine selbstsubstitutive Ordnung charakterisiert, und diese Charakterisierung muß auch auf die notwendigen gesellschaftlichen Funktionen ausgedehnt werden. Recht zum Beispiel kann nur durch anderes Recht ersetzt worden - nicht
Opladen 1971, insb. S. 66ff., 165ff. Hier liegen im übrigen wichtige Gründe, neben einem an sich vorherrschenden Schema funktionaler Differenzierung der Gesellschaft zugleich eine segmentare Differenzierung beizubehalten — so eine Mehrheit gleicher Territorialstaaten als politischer Systeme oder eine Mehrheit unterschiedlicher, aber funktional äquivalenter Religionen der Weltgesellschaft. Die einfache Segmentierung spezifischer Funktionen ermöglicht noch eine Differenzierung von Mitgliedern und Nichtmitgliedern — allerdings nur in einer altertümlichen Weise mit so geringer Mobilität, daß sie als Motivationsmechanismus der Organisation nicht effektiv genutzt werden kann. 88
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 6 - 3 9
durch besseres Wirtschaften, bessere Erziehung, bessere Politik. Es liegt nahe, einen gleichsam natürlichen Übergang von der Gesellschaftsebene zur Organisationsebene dort anzunehmen, wo die Einheit der Funktionserfüllung durch ein selbstsubstitutives Subsystem aufhört und daher auch der Anschlußzwang bei Veränderungen aufhört. Selbstverständlich kann auch das Amtsgericht in X oder die Schule in Y nicht ersatzlos aufgehoben werden, selbstverständlich können bei einem bestimmten Stande technischer und ökonomischer Entwicklung Glühbirnenfabriken nur durch Glühbirnenfabriken ersetzt werden. Der Anschlußzwang ist hier aber kein automatischer mehr und er beruht nicht auf dem Organisationssystem selbst; es wird nicht notwendig durch sich selbst ersetzt. Organisationssysteme, die gleichwohl — etwa unter dem Anspruch, der Staat zu sein oder die Kirche zu sein - dazu tendieren, gesamtgesellschaftliche Funktionen zu monopolisieren und eine selbstsubstitutive Ordnung im Rahmen von Organisation zu errichten, geraten deshalb in einer Gesellschaftsordnung mit starker EbenendifFerenzierung in kennzeichnende Schwierigkeiten. Sie sehen sich nicht nur Motivations·, sondern auch Legitimationsproblemen gegenüber. Sie können den Motivationsmechanismus der Organisation nicht ausnutzen, weil sie nicht über Mitgliedschaften disponieren können, und sie können den Anforderungen einer selbstsubstitutiven Ordnung nicht genügen, weil sie sich in einer rapide sich ändernden Gesellschaft nicht rasch genug anpassen können. Damit soll nicht behauptet worden, daß die gesellschaftliche Entwicklung ein Ende dessen erzwingt, was man sich unter Staat und Kirche vorgestellt hatte. Aber die Krise dieser Organisationsformen ist eines der Symptome dafür, daß die Ebene der Gesellschaftsbildung und die Ebene der Organisationsbildung weiter auseinanderliegen als je zuvor. Selbstverständlich gibt es neben den weitläufigen, durch Differenzierung des Gesellschaftssystems und Differenzierung von Organisationssystemen vermittelten Beziehungen zwischen Globalgesellschaft und Interaktion nach wie vor auch direktere Zusammenhänge, so besonders im Bereich des Familienlebens und persönlicher Freundschaftsverhältnisse, in Uberresten einer schichtenspezifischen Geselligkeit und in den flüchtigen und doch erwartungssicher regulierten unpersönlichen Kontakten des öffentlichen Verkehrs. Hier beruht die Simultaneität von Gesellschaft und Interaktion nicht auf Zwischensystemen, sondern vornehmlich auf Regeln der Irrelevanz, nämlich des Ausschaltens gesellschaftlicher Bezüge aus der Inter-
aktion. Dies kann auf doppelte Weise erreicht werden: durch Personalisierung der Interaktion im Sinne einer vertieften, individuell-persönlichen Bindung der Beteiligten ungeachtet Herkommen, Vermögen, Konfession usw.; oder gerade gegenteilig durch vollständige Unpersönlichkeit der Beziehung, die es gleichgültig werden läßt, wer der andere über seine momentane Interaktionsbereitschaft hinaus ist. Beide Lösungen sind, obwohl konträr gebildet, funktional äquivalent. Sie setzen beide Freiheit der Rekrutierung zur Interaktion, das heißt gesellschaftsstrukturelle Zufälligkeit der Kontakte voraus. Die Erfüllung dieser Voraussetzungen von Irrelevanzregeln setzt ihrerseits wiederum voraus, daß zentrale gesellschaftliche Funktionsbereiche durch Systemdifferenzierung und Organisation versorgt sind. Damit ist zugleich die heutige Problematik des Postulats der Partizipation scharf beleuchtet. Partizipation soll eine für jedermann zugängliche und gesellschaftlich relevante Interaktion sein. Wenn aber Regeln der gesellschaftlichen Irrelevanz notwendig sind, um unvermittelte gesellschaftliche Interaktion zu ermöglichen, zielt das Postulat der Partizipation auf die Negation der Bedingungen seiner Möglichkeit. Nicht zufällig assoziiert es dann die Zielvorstellung der Emanzipation und den Trägerbegriff des Subjekts und die formulierte Absicht einer Kritik der Gesellschaft. Ein solches Programm scheint geradezu darauf angelegt zu sein, seine Effekte unabsichtlich in die Welt zu setzen. Und es muß diese Unverantwortlichkeit wollen, wenn es sich selbst reflektiert.
2.6 Systemtheoretische Folgerungen Stellt man Voraussetzungen, Implikationen und Ergebnisse der vorangegangenen Überlegungen zusammen, dann ergeben sich einige Fragen an das systemtheoretische Instrumentarium, mit denen wir im folgenden arbeiten wollen. Wir haben zumindest skizzenhaft zu zeigen versucht, daß die Komplexität der heutigen Gesellschaft nicht nur aus der bloßen Zahl, Verschiedenartigkeit und Interdependenz ihrer Teilsysteme resultiert, sondern zusätzlich durch die gleichzeitige Verwendung verschiedenartiger Prinzipien der Systembildung erreicht und erhalten wird. Je weiter diese Ebenen auseinandergezogen werden, desto weniger limitieren die auf ihnen gebildeten Systemtypen sich wechselseitig, und desto komplexer kann die Gesellschaft werden, weil sie ihr Potential zu unterschiedlicher Systembildung besser ausschöpfen kann. Die EbenendifFerenzierung selbst ist aber wiederum ein gesellschaftliches Phänomen, ein
Niklas Luhmann: Ebenen der Systembildung - Ebenendifferenzierung
Produkt gesellschaftlicher Evolution, also gar nicht unabhängig von sich selbst denkbar. Der Prozeß der gesellschaftlichen Evolution ist demnach ein Prozeß der Selbsterzeugung von Komplexität - das kann man sagen, ohne damit viel begriffen zu haben. Eine alte Frage stellt sich jetzt komplizierter. Die alteuropäische Gesellschaftslehre hatte sich bereits in das Problem verstrickt, wie ein System (eine koinonia, communitas, societas) unter anderen, nämlich die politische societas civilis, zugleich das umfassende und autarke sein könne. Sie hatte dieses Problem durch Hinweis auf die Vorteilhaftigkeit des Gutes, das mit politisch-integrierter Lebensführung erreichbar sei, zu lösen versucht und darauf die Existenz und Legitimation hierarchischer Herrschaft gegründet. 8 9 D e m lag eine Steigerungslogik der Perfektion zu Grunde, die im ens perfectissimum als einer nicht mehr steigerbaren Perfektion abschloß. D a m i t war gesagt, daß der vornehmste, beste, perfekteste Teil des Ganzen das Ganze sei. D a s Ganze mußte so als eine Menge erscheinen, die sich selbst qua Perfektion als Teil enthielt. M a n kann diese Logik kritisieren und nach Typendifferenzierung oder Meta-Ebenen verlangen. M a n kann die Ideologie analysieren, die die Herrschaft der majores partes gestützt hat. Beides zu Recht, aber wie reagiert die Gesellschaftstheorie auf den ohnehin evidenten Zusammenbruch diese Logik der Perfektion? Wenn die Logik der Perfektion zusammengebrochen ist und nicht erneuert werden kann, läßt die Gesellschaftstheorie sich nicht länger auf die Voraussetzung des Primats eines Teilsystems gründen und als Theorie der politischen (zivilen) oder als Theorie der wirtschaftlichen (bürgerlichen) Gesellschaft aus formulieren. Weder Frieden und Gerechtigkeit noch wirtschaftlicher Fortschritt sind als Teilsystemziele ohne weiteres die Perfektion der Gesellschaft. M a n muß die Bedingungen der Kompossibilität der Erfüllung aller Funktionen in Betracht ziehen. D a s besondere „Kolorit" der Gesellschaftstheorie kann demnach nicht aus den Eigentümlichkeiten eines ihrer Teilsysteme gewonnen werden, weder aus den spezifischen Abstraktionschancen noch aus den Konkretisierungen, die sich aus solchen Blickbegrenzungen ergeben. Deshalb versuchen wir, mit einer Unterscheidung von Ebenen der Systembildung
einen abstrakteren theoretischen Ausgangspunkt zu gewinnen. Zugleich kann damit verdeutlicht werden, daß die Gesellschaft als das umfassende Sozialsystem zwar in besonderer, einzigartiger Weise gebildet wird, daß sie aber deswegen nicht als das herrlichste Sozialsystem angesehen werden kann, noch einen angebbaren Wertvorrang vor anderen Sozialsystemen genießt, vielmehr auch alle mögliche Schlechtigkeit - vor allem alle Disjunktionen von gut/böse, rechtmäßig/rechtswidrig, wahr /unwahr, schön / häßlich - selbst konstituiert. Erst relativ auf einzelne ebenenspezifisch gebildete Sozialsysteme kann sinnvoll von Systemdifferenzierung gesprochen werden. Dies ist eine erste Relativierung des klassischen Denkschemas vom Ganzen und seinen Teilen. Zwei weitere kommen hinzu: eine Relativierung im Hinblick auf die Differenz von System und Umwelt und eine Relativierung im Hinblick auf die Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit. Nicht nur Einzelteile des Systems erfüllen spezifische Funktionen, sondern auch die Differenzierung als solche hat eine erkennbare Funktion für die Erhaltung und Entwicklung eines Systems in einer übermäßig komplexen Umwelt. Je höher die innere Differenzierung und damit die Eigenkomplexität des Systems, desto komplexer kann die Umwelt sein, auf die ein System sich einstellen kann. Dies ist heute Gemeingut sehr verschiedener Varianten von Systemtheorie. 9 0 Die Differenzierung des Ganzen in Teile wird mithin im Hinblick auf eine Funktion als Variable gesehen. Weniger beachtet wird, daß in sinnkonstituierenden Systemen, also namentlich in Gesellschaftssystemen, mit einer Differenzierung von Kommunikationsebenen des Wirklichen und des bloß Möglichen zusätzliche Komplikationen auftreten. Für Wirkliches gilt, daß ein Teil, der im Ganzen enthalten ist, immer weniger ist als das Ganze, denn es gibt noch andere Teile neben ihm. Darüber ist die Logik gestolpert beim Problem der Menge, von der gilt, daß sie sich selbst als Teil enthält. Meint man dagegen nicht Wirkliches, sondern Mögliches (ungeachtet der Frage, ob es auch wirklich ist oder nicht), kann dieses Verhältnis sich umkehren. Die Möglichkeiten eines Teiles können, Selbstverständlich ist damit nicht behauptet, daß Differenzierung der einzig-mögliche Erhaltungsmechanismus in einer immer komplexer werdenden Welt sei, so daß kraft natürlicher Auslese alle Systeme immer stärker differenziert werden müßten. Das Gegenteil trifft ganz offensichtlich zu. Es gibt funktionale Äquivalente für Differenziertheit, zum Beispiel Indifferenz oder massenhafte Reproduktion.
90
89 Vgl. die Einleitungssätze der Politik des Aristoteles, hinführend auf „diejenige Gemeinschaft, welche die herrlichste (kyriotaté) von allen ist und (!) alle anderen in sich enthält: die Stadt genannte politische Gemeinschaft" (1252 a 5-7).
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wenn man von seinen konkreten Existenzbedingungen im System abstrahiert, reicher sein als die Möglichkeiten des Ganzen. Was alles wäre zum Beispiel pädagogisch möglich, müßte man nicht ökonomische, zeitliche, politische, familiäre, rechtliche Rücksichten nehmen? Je nachdem, ob der Ansatz von Bedingungen der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit in der isolierten Perspektive eines Teilsystems oder im Gesamtsystem gesehen wird, sind der Möglichkeitsraum und damit die Selektivität des Erlebens und Handelns unterschiedlich groß. Für Möglichkeiten kann mithin gelten, daß das Ganze weniger ist als die Summe seiner Teile, weil es zusätzliche, restriktive Bedingungen der Kompossibilität des für Teilsysteme Möglichen auferlegt. Systemdifferenzierung ermöglicht, mit anderen Worten, die Konstitution von Teilsystemperspektiven, die abstraktere Bedingungen der Möglichkeiten im System verankern und sich dann nur negativ durch wechselseitige Limitation koordinieren lassen. Die Zusammenfassung zum Gesamtsystem, das in einer gegebenen Umwelt lebensfähig ist, erfolgt dann im Wege der Reduktion selbsterzeugter Komplexität. Ubersetzt man diese abstrakten Überlegungen in die Sprache von Erwartungen und Enttäuschungen, sieht man sofort, was sie für die Gesellschaftstheorie bedeuten. 91 Akzeptiert man diese Kritik der einfachen Rede vom Ganzen und seinen Teilen, dann ergeben sich Hinweise und Ansprüche für den Aufbau einer begrifflich komplexer angesetzten Gesellschaftstheorie. Sie wird Annahmen über die besondere Ebene der Systembildung spezifizieren müssen, auf der sich Gesellschaftssysteme konstituieren. Dabei wird sie sowohl das besondere Umweltverhältnis des Gesellschaftssystems als auch die für das Gesellschaftssystem typische Art der Konstitution und Restriktion von Möglichkeiten des Erlebens und Handelns ausarbeiten müssen. Trotz dieser Präzisierungen und gerade mit ihrer Hilfe kann man daran festhalten, daß die Gesellschaft das umfassende Sozialsystem ist, das alle anderen Sozialsysteme als Teilsysteme einschließt. Diese Überlegungen beziehen sich, das sei im Vorgriff a u f spätere Erörterungen vorsorglich angemerkt, a u f die sozialen Systeme selbst, also a u f den Bereich, den die Soziologie als G e g e n s t a n d vorfindet. D i e Abstraktion von Möglichkeiten ist ein gesellschaftliches F a k t u m , nicht erst eine Leistung der Erkenntnis. D a ß die Gesellschaftstheorie ihrerseits noch mehr Möglichkeiten konzipieren kann, als sie in ihrem G e g e n s t a n d vorkonstituiert findet, liegt a u f der H a n d . Aber sie k a n n dies faktisch wiederum nur als Teil des gesellschaftlichen Teilsystems Wissenschaft.
Allerdings darf man sich den Gesamtaufbau nicht nach der Art eines Systems chinesischer Kästchen vorstellen oder nach Art einer transitiven Hierarchie mit eindeutiger Zuordnung jedes Teilsystems zu einem und nur einem größeren System. 92 Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist weitaus komplexer, und sie kann deshalb komplexer sein, weil sie eine Mehrheit von Prinzipien der Systembildung nebeneinander verwendet. Sie kann, von gesamtgesellschaftlichen Funktionsbereichen wie Religion, Wirtschaft, Politik, Familienleben ausgehend, gesellschaftliche Teilsysteme bilden, diese erneut differenzieren usw., ohne alle Interaktionen oder alle Organisationen diesen primären oder sekundären Teilsystemen zuordnen zu müssen. Es gibt Organisationen mit mehrfacher Zuordnung - man denke an die politischen, wirtschaftlichen und sogar bildungsmäßigerzieherischen Funktionen von Gewerkschaften, und erst recht gibt es Interaktionen, die sich den zentralen gesellschaftlichen Funktionssystemen überhaupt nicht oder nicht eindeutig zuordnen lassen. Und nur weil diese Möglichkeit besteht, kann das Gesellschaftssystem überhaupt eine überaus künstliche und abstrakte funktionale Differenzierung institutionalisieren. Sie braucht nicht die gesamte Lebensführung in dieses Korsett zu zwingen. Nur in älteren segmentär differenzierten Gesellschaftssystemen mit geringerer Ebenendifferenzierung findet man relativ starre gesamtgesellschaftliche Hierarchien. Eine funktionale Differenzierung erzeugt aus sich selbst heraus eine größere Autonomie der Systembildung unterhalb der Gesellschaftsebene und damit hinreichende Elastizität. In dem Maße, als funktionale Differenzierung zur zentralen Gesellschaftsstruktur wird, muß auch die Möglichkeit von Systembildungen geschaffen werden, die zwischen funktional spezifizierten Systemen vermitteln. Mit den Vorteilen einer eindeutigen Zuordnung zu spezifischen systembildenden Funktionen wachsen auch die Vorteile der Unbestimmtheit der Zuordnung, die man mit Hilfe des Ubergangs zu anderen Ebenen der Systembildung erreichen kann.
91
D i e Problematik eines derart rigiden S y s t e m a u f b a u s läßt sich a m analytischen Modell der Parsons'schen Theorie des Aktionssystems ablesen. Parsons wendet ein einfaches Vier-Funktionen-Schema der SystemdifFerenzierung repetitiv a u f Subsysteme u n d Subsubsysteme an. In dem M a ß e der Verkleinerung u n d Vervielfältigung der Systemreferenzen u n d des Anwachsens der vom Modell postulierten Zwischensystembeziehungen geht dabei auch die Plausibilität der Interpretation verloren. 92
Niklas Luhmann: Ebenen der Systembildung - Ebenendifferenzierung
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Organisationen und Interaktionen sind und bleiben,
der Interaktionssysteme ausgearbeitet werden; denn
bei aller Lockerheit der Zuordnung, gesellschaft-
es gibt allgemeine Eigenarten von Organisation oder
liche Teilsysteme allein schon deshalb, weil sie ih-
von Interaktion, die sich nicht aus dem gesellschaft-
rer Struktur nach a u f Ordnungsvorgaben
durch
lichen Funktionskomplex ergeben, sondern aus dem
die Gesellschaft und a u f Möglichkeiten der K o m -
besonderen Systembildungsprinzip. Schließlich sind
munikation mit einer erwartbaren Umwelt ange-
auch Forschungen möglich, die an konkret abge-
wiesen sind. Würden sie als Organisation oder als
grenzten Gegenständen Gesellschaftstheorie, Orga-
Interaktionssystem aus der Gesellschaft emigrieren,
nisationstheorie und Interaktionstheorie aufeinan-
dann würden sie - Beispiele aus der neuzeitlichen
der beziehen. 9 4
Besiedlung Nordamerikas drängen sich a u f -
zur
Gesellschaft werden. Trotz dieses Zusammenhanges aller Ebenen der Systembildung wird es zweckmäßig sein, die Gesellschaftstheorie im engeren Sinne auf diejenigen Teilsysteme zu beschränken, die gesamtgesellschaftlich relevante Funktionen erfüllen. Eine solche Selektion aus der Gesamtheit der sozialen Phänomene ist unerläßlich, denn: „while it is possible to study a total society, it is not possible to study a total society totally". 9 3 Daneben müßte dann eine Theorie organisierter Sozialsysteme und eine Theorie
93
I m folgenden werden wir uns auf die allgemeinsten Gundzüge einer Gesellschaftstheorie beschränken. Dabei werden das Differenzierungsprinzip und der Ansatz für die Teilsystembildung eine wichtige Rolle spielen. W i r werden jedoch nicht einmal für die primären Teilsysteme der Gesellschaft einen hinreichend ausgearbeiteten Theorieansansatz liefern können, geschweige denn für andere Teilsysteme. Die Grenze der Betrachtung wird spätestens dort gezogen werden, wo man nicht mehr sinnvoll von einer selbstsubstitiven Ordnung sprechen kann.
Ithiel de Sola Pool, Computer Simulations o f Total S o -
cieties, in: Samuel Z . Klausner (Hrsg.), The Study o f Total
94
Societies, Garden City N.Y. 1967, S. 4 5 - 6 5 (45).
timation durch Verfahren, N e u w i e d / B e r l i n 1969.
Als einen solchen Versuch siehe Niklas L u h m a n n , Legi-
Ebenenunterscheidung in der (kritischen) Diskussion
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft, 2014, S. 4 3 - 6 4
Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Eine Alternative zu Mikro-Makro? Interaction, Organization, Society. An Alternative to Micro-Macro? Thomas Schwinn Universität Heidelberg, Max-Weber-Institut für Soziologie, ßergheimerstr. 58, 69115 Heidelberg [email protected] M. Rainer Lapsius (1928-2014) zum Andenken Zusammenfassung: Luhmann übernimmt die drei Ebenen aus den Schwerpunkten der zeitgenössischen soziologischen Forschung und setzt sie in ein bestimmtes Verhältnis zueinander. Weder in der breiteren Diskussion um die MikroMakro-Problematik findet sein Vorschlag Gehör noch wird er in der weiteren Entwicklung der Systemtheorie ausgearbeitet. Das hat mit Schwächen und Widersprüchen der drei Systemtypen zu tun, die im vorliegenden Aufsatz entfaltet werden. Der GesellschaftsbegrifF trägt eine besondere Erklärungslast in der Trias. Er ist in verschiedenen Varianten anzutreffen, die nicht kompatibel sind (2). Die evolutionäre These eines Auseinandertretens der drei Systemebenen in der funktional differenzierten Gesellschaft lässt ihren analytischen Wert für alle vormodernen und für alle nicht vollständig differenzierten modernen Gesellschaftstypen als bescheiden erscheinen (3). Der Entwicklung der immanenten Widersprüche zuvor folgt im vierten Abschnitt die Kritik von einem anderen Paradigma aus, der Handlungstheorie. Ihr wird von der Systemtheorie die Kompetenz auf makrostrukturellem Felde abgesprochen. Hierzu gibt es überzeugende Gegenargumente und empirische Studien, die einer Abkopplung der MakroZusammenhänge von Interaktionen widersprechen (4). In der systemtheoretischen Diskussion werden in der Folge weitere Ebenen und Typen vorgeschlagen, aber nur zögerlich ins Standardrepertoire übernommen. Das lässt sich mit konzeptionellen Problemen der Handhabung multipler Systemebenen und -typen verständlich machen (5). Schlagworte: Interaktion, Organisation, Gesellschaft, Mikro-Makro, funktionale Differenzierung Summary: Luhmann adopts the three levels of interaction, organization, and society from the focal points of contemporary sociological research and puts them in a certain relationship to each other. However, his proposal is disregarded both in the debate on the micro-macro problem and in the further development of systems theory. This is due to the weaknesses and contradictions of the three types of systems, as is revealed in this contribution. The concept of society is of particular importance for the trio interaction, organization, society. Yet it is defined and used in various, incompatible forms (2). The evolutionary thesis of a differentiation of the three system levels in modern society has, as a consequence, the disadvantage that its analytical value for pre-modern societies and incompletely differentiated types of modern society is rather weak (3). The development of the inherent contradictions of the systems approach mentioned before is followed by a critical view derived from a different paradigm, the theory of action. The systems theory denies the competence of the latter in the macro-structural field. Yet there are compelling counter-arguments and empirical studies that speak against a decoupling of macro-structures from interactions (4). In the systems theory debate further levels and types are proposed, but only reluctantly accepted in the standard repertoire. This is a result of conceptual problems in the treatment of multiple system levels and types (5). Keywords: Interaction; Organization; Society; Micro-Macro; Functional Differentiation.
1. Warum drei Ebenen und warum gerade diese drei? Der Aufsatz „Interaktion, Organisation, Gesellschaft" aus d e m Jahre 1975 möchte keine erschöpfende Typologie sozialer Systeme präsentieren. Es sind „drei Anwendungsfalle der Systemtheorie" ( L u h m a n n 1982a [1975]: 10), u n d es wird ofFengelassen, ob es weitere gibt. L u h m a n n beansprucht kein Copyright auf die
einzelnen Ebenen. Sie sind in verschiedenen Ansätzen u n d Forschungskontexten der Zeit präsent. Die Organisationssoziologie war bereits in den 1960er Jahren eine relativ gut ausgebaute spezielle Soziologie, u n d L u h m a n n hat hierzu 1964 eine umfangreiche Arbeit vorgelegt. D o r t finden sich auch Hinweise zur H e r k u n f t von Interaktion. „Das Eigenrecht von sozialen Situationen macht es sinnvoll, sie im Anschluß an G o f f m a n als Systeme besonderer Art zu untersu-
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 43-64
chen, die eigenen Entwicklungsbedingungen gehorchen [...]" (Luhmann 1964: 297). Vom symbolischen Interaktionismus und von Erving Goffman, auf den er in der frühen Organisationsstudie ausgiebig rekurriert, werden interaktive Phänomene schwerpunktmäßig bearbeitet. Für „Gesellschaft" schließlich dürfte·Talcott Parsons die Herkunftsadresse sein, bei dem er Anfang der 1960er Jahre studierte.' Theoriegeschichtlich werden die drei Ebenen aus verschiedenen Arbeitskontexten der zeitgenössischen Soziologie2 zusammengetragen, und Luhmann hat den theoriesystematischen Anspruch, sie integrieren zu können. Es „lassen sich Interaktionssysteme, Organisationssysteme und Gesellschaftssysteme unterscheiden. Diesem Unterschied entsprechen die derzeit wichtigsten Schwerpunkte soziologischer Forschung: die Theorie des Interaktionsverhaltens oder der symbolisch vermittelten Interaktion, die Organisationstheorie und die allerdings noch schwach entwickelten Ansätze zu einer Theorie der Gesellschaft. Die Systemtheorie relativiert und integriert diese verschiedenen Forschungszweige der Soziologie mit der Folge, daß es nicht mehr möglich ist, eine dieser Systemperspektiven absolut zu setzen" (Luhmannn 1982a [1975]: 10). Hier ist bereits ein Anspruch erkennbar, der ein knappes Jahrzehnt später (Luhmann 1984a) explizit und deutlicher formuliert wird: eine fachuniversale Theorie anbieten zu können, mit der die verschiedenen Paradigmen des Faches integriert werden könnten. Das Unternehmen „Interaktion, Organisation, Gesellschaft" stellt einen Versuch dar, verschiedene Schulen des Faches zusammenführen und einbinden zu können - eine Art erste kleine „Supertheorie" zu entwickeln. Man denke nur an die Konflikte zwischen symbolisch-interaktionistischen und phänomenologischen Ansätzen einerseits und Parsons' Funktionalismus und Makrosoziologie andererseits in den 1950er bis 1970er Jahren. Die Ebenentrias hat also auch eine grundlagentheoretische Dimension. Im Rückblick, so muss man feststellen, war dieser erste Anlauf nicht sonderlich erfolgreich. Weder wird das Integrationsangebot bei den Schulen selbst angenommen - die Mikro-Makro-Debatten laufen weitgehend daran vorbei — noch findet der Anlauf von 1975 in der späteren Systemtheorie eine weitere Ausarbeitung. Es ist zu vermuten, dass die Gründe für das Scheitern der ersten „kleinen Supertheorie" in den Defiziten und Schwächen der drei Ebenen 1
Vgl. das Vorwort zu L u h m a n n 1964, S. 5. Die Soziologie der 1950er u n d 1960er Jahre d ü r f t e für die H e r k u n f t der drei Typen relevant sein u n d nicht die Klassiker des 19. u n d beginnenden 20. Jahrhunderts. 2
und ihrer Verhältnisbestimmung zu suchen sind. Dem möchte ich im Folgenden auf zweierlei Weise nachgehen. Zunächst werden die immanenten Widersprüche des systemtheoretischen Ebenenmodells entfaltet. Daraufliegt der Schwerpunkt des Artikels. In einem zweiten Anlauf werden die Probleme von einem anderen Paradigma — der Akteurtheorie - aus interpretiert, und es soll angedeutet werden, welche alternativen Konzeptualisierungen sich anbieten. Die Ebenenunterscheidung wird von Seiten des Gesellschaftssystems thematisiert. Die Ausarbeitung einer Gesellschaftstheorie war für Luhmann das primäre Ziel seiner akademischen Karriere. 3 Sie hat nicht nur einen werkgeschichtlichen, sondern auch einen systematischen Primat gegenüber den anderen beiden Ebenen. Zugleich stellen sich hier die größten Probleme. Der Gesellschaftsbegriff konfundiert Grundlagen- und Ebenenfragen, und er ist in vier Varianten anzutreffen, die nicht kompatibel sind (2). Die drei Systemebenen sollen nicht nur eine synchronstrukturelle, sondern auch eine diachrone Analyseperspektive liefern. Ihre Trennung entfaltet sich aber erst in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft voll, so dass der analytische Wert der Trias für alle anderen Gesellschaftstypen begrenzt ist (3). Im vierten Abschnitt (4) wird die Thematik kritisch von der Handlungstheorie aus beleuchtet. Abschließend werden einige Überlegungen dazu angestellt, warum die Systemtheorie nur sehr zögerlich mit der Aufnahme neuer Systemtypen verfährt (5).
2. Konzeptionelle Probleme der Gesellschaftsebene Der Gesellschaftsbegriff konfundiert Grundlagenund Ebenenfragen. Nach Luhmanns Vorgaben (1997: 79 f.) ist die Theorie sozialer Systeme der Theorie des Gesellschaftssystems als eines Sonderfalls sozialer Systeme vorgeschaltet. Die Grundlagentheorie soll die Besonderheit sozialer Systeme ganz allgemein bestimmen, unabhängig von bestimmten Systemtypen. Die spezifische Operation zur Bildung sozialer Systeme ist Kommunikation. Zugleich wird aber auch das Gesellschaftssystem in besonderer Weise durch den Kommunikationsbegriff ausgezeichnet, etwa wenn
3
„Bei meiner A u f n a h m e in die 1969 gegründete Fakultät f ü r Soziologie der Universität Bielefeld fand ich mich konfrontiert mit der Aufforderung, Forschungsprojekte zu benennen, an denen ich arbeite. Mein Projekt lautete damals u n d seitdem: Theorie der Gesellschaft [...]" (Luhm a n n 1997: 11).
Thomas Schwinn: Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Eine Alternative zu Mikro-Makro? festgestellt wird, dass Gesellschaftsgrenzen „die Grenzen möglicher und sinnvoller Kommunikation" sind (Luhmann 1982a: 11). Auf die Grundfrage der Soziologie, „Wie ist soziale Ordnung möglich?", erhält man von der Systemtheorie eine paradoxe und zirkuläre Antwort: Die Theorie sozialer Systeme klärt die Bedingung der Möglichkeit jedweder Ordnungs-, d.h. Systembildung, und ein spezifischer Systemtyp, Gesellschaft, ist zugleich die Bedingung der Möglichkeit von sozialer Systembildung generell. „Gesellschaft ist 1. sowohl der Titel für die Einheit der Gesamtheit des Sozialen und bezieht sich in diesem Verständnis, weil über ,Kommunikation als deren ,basic unit' expliziert, auf die Ebene einer allgemeinen Theorie sozialer Systeme, wie auch 2. der Begriff eines bestimmten sozialen Systemtyps. Wenn man es paradox, um nicht zu sagen: widersprüchlich formulieren möchte, dann müsste man sagen: Gesellschaft' ist (wie Organisation und Interaktion) ein Fall von Gesellschaft" (Göbel 2006: 318). Die Gesellschaft ist das umfassende soziale System, das alle anderen sozialen Systeme in sich einschließt (Luhmann 1997: 78). Die Gleichumfänglichkeit von Gesellschaft und Sozialem führt zur offensichtlichen Widersprüchlichkeit, dass ein Systemtyp unter mehreren zugleich das Ganze benennt.
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eigenständigen Wissenschaftsdisziplin Soziologie aufgebürdet. 2. Gesellschaft als Beobachtungs- und Wahrnehmungskategorie stellt Integration vom normativen auf den kognitiven Modus um. Die Perspektiven und selektiven Horizonte der Teilsysteme müssen sich so weit treffen, dass sie in ihrer gesellschaftlichen Relationiertheit sichtbar werden. 3. Gesellschaft als Ordnungskategorie wird über die Differenzierungstheorie gefasst. 4. Gesellschaft wird schließlich als eigenständige Ebene von Interaktion und Organisation abgegrenzt. Diese unterschiedlichen Bestimmungen von Gesellschaft stehen in einem ungeklärten bzw. widersprüchlichen Verhältnis zueinander. a. Variierende Vergesellschaftungsprozesse
Der Gesellschaftsbegriff ist in der neueren Systemtheorie in vier Varianten anzutreffen: 1. Gesellschaft als Kommunikation dient der Abgrenzung gegenüber nichtsozialen Phänomenbereichen. Damit werden ihr Begründungslasten für die Existenzberechtigung der
Mit Kommunikation (1.), Beobachtung (2.) und Ordnung (3.) sind heterogene Vergesellschaftungsprozesse angesprochen.5 Von Kommunikation über Beobachtung und Wahrnehmung hin zur Ordnungsbildung vollzieht sich eine zunehmende Spezifizierung und Konkretisierung von Vergesellschaftung. Bloße Kommunikation ist ein Bezugnehmen, ohne dass damit schon etwas wechselseitig festgelegt, geregelt oder geordnet würde. Beobachtungs- und Wahrnehmungsprozesse, die die Systemtheorie im Blick hat, sind schon gerichteter. Die Einpassung eines Teilsystems in seine Umwelt mit anderen Teilsystemen wird durch Beobachtung und Reflexion geleistet (Luhmann 1984a: 617 ff.). Dies bietet die Chance der Fremderkenntnis sozialer Systeme im Sinne des Transparentwerdens, des Verstehens fremder Systemoperationen. Erst auf der Ordnungsebene erreichen Vergesellschaftungsprozesse aber eine Spezifik, die die Amorphität der vorhergehenden Stufen in institutionalisierte Regeln überführt. So macht es für den Begriff der Weltgesellschaft einen enormen Unterschied, ob etwa über Menschenrechtsverletzungen lediglich kommuniziert und sie beobachtet werden oder ob über die rechtliche Regelung konkreter Eingriffsmöglichkeiten eine internationale Interventionsordnung etabliert wird. Luhmann und die ihm folgenden Autoren bestimmen den Gesellschaftsbegriff zum einen über Kommunikation und zum anderen über die Ordnungsform funktionaler Differenzierung. Kommunikation und Ordnung bezeichnen aber unterschiedliche Eigenschaften. Kommunikation ist eine sehr einfache Form von Sozialität. Ordnung ist dagegen eine höherstufige Ebene.
Nach Thomas Kuhn sind Paradoxien und Widersprüche Ursachen für die D y n a m i k wissenschaftlicher Paradigmen, d. h. letzten Endes ihre Bruchstellen.
Die Nummerierung in Klammern bezieht sich auf die in dem vorausgegangenen Abschnitt unterschiedenen vier Varianten von Gesellschaft.
Die These der Inklusivität, das Gesellschaftssystem als umfassendes Sozialsystem, und die These der Irreduzibilität der verschiedenen Arten von Sozialsystemen sind nicht vereinbar. Die Inklusivitätsthese ist nur zu halten, wenn man das Gesellschaftliche so allgemein formuliert, „Grenzen möglicher Kommunikation", dass zugleich seine Ebenenspezifik verloren geht. Betont man dagegen die Eigenart der gesellschaftlichen Systemebene, büßt sie ihre Inklusivität ein. Aus diesem Dilemma weist die Systemtheorie keinen Ausweg - möchte sie auch nicht. Luhmann (1997: 80) hebt in diesem Zusammenhang auf „die paradoxe Fundierung der Gesamttheorie" ab. Das muss man und das sollte man nicht als überzeugende Antwort akzeptieren. Paradoxien sind Hinweise auf Theoriedefizite.4 Den Widerspruch werde ich in der Folge detaillierter entfalten.
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Diese unterschiedlichen Qualitäten und Ordnungsgrade des Sozialen unter dem Gesellschaftsbegriff zu subsumieren, ist nicht sehr hilfreich und geht mit einem Verlust an analytischer Präzision einher. Wenn man Kommunikation als Grundbegriff allen Sozialen ansetzt, muss man die verschiedenen Systemtypen durch unterschiedliche Kommunikationsarten oder -formen qualifizieren. Was wären aber spezifisch „gesellschaftliche Kommunikationen", die nicht zugleich interaktive oder organisationstypische oder durch diese vermittelt sind? Das Theorem der Inklusivität läuft darauf hinaus, dass gesellschaftliche Kommunikation nicht an den anderen beiden Arten vorbei verlaufen kann. „Eine vollständige Trennung der Ebenen ist natürlich nicht möglich, da alles soziale Handeln in der Gesellschaft stattfindet und letztlich nur in der Form von Interaktion möglich ist" (Luhmann 1982a: 14 f.; vgl. a. Luhmann 1984a: 588 f.; Göbel 2006: 319). Die Problematik von inklusiver und exklusiver Beziehung der drei Systemebenen lässt sich auch am Verhältnis von Interaktion und Organisation verfolgen. Auch in Organisationen wird interagiert, zugleich soll aber auch deren Eigengesetzlichkeit erhalten bleiben. Interaktionen in Organisationen sind nicht gänzlich auf deren formalen Rahmen reduzierbar. In der frühen organisationssoziologischen Studie arbeitet Luhmann (1964) mit der Unterscheidung von formalen Erwartungs- und faktischen Kontaktstrukturen. Die formalen regeln nur einen Teil des Organisationsgeschehens und müssen mit den informalen Interaktionen in eine Beziehung gebracht werden, so dass die Systemprobleme gelöst werden (Luhmann 1964: 276, 332f., 372, 380). Die Frage drängt sich auf, von welchem System hier die Rede ist. Es ist weder rein Organisation noch Interaktion. Der formalisierte Rahmen muss durch ein Räderwerk von Transmissionen in konkrete Situationen und Interaktionen übersetzt werden, um ihm einen brauchbaren Sinn zu geben. Das Netz der formalen Organisation ist zu weitmaschig, um in der Reproduktion gelingen zu können. Die formale Organisation ist stets nur eine Teilordnung des sozialen Systems (Luhmann 1964: 332, 296f., 301 f.). Das vollständige System „Organisation" ist eine Kombination aus formalem Rahmen und unzähligen Interaktionen, deren Eigendynamik durch erstere nicht vollständig zähmbar, nicht restlos in formalisiertes Verhalten auflösbar ist. Die Organisation ist geradezu auf die Eigenlogik der Interaktionen angewiesen (faktische Kontaktstrukturen), um die Lücken der formalen Erwartungsstrukturen zu überbrücken.
Natürlich sind bestimmte Aspekte des Interaktionsgeschehens nur zu verstehen, wenn man weiß, dass sie in einer bestimmten Organisation stattfinden. Insofern ist der formale Rahmen die Bedingung der Möglichkeit vieler Interaktionen im Organisationskontext - auch beim Flirten am Arbeitsplatz, aus dem ja viele Ehen und Partnerschaften hervorgehen. Für diese macht das System-Umwelt-Modell der Ebenen noch einigermaßen Sinn. Was ist aber mit den unzähligen interaktiven Kontakten, die sich nicht eindeutig nach organisationswichtigen, -tauglichen, -indifferenten oder -störenden Aspekten sortieren und verschiedenen Systemebenen zuteilen lassen. Beim Smalltalk der Arbeitskollegen während eines Kaffees gehen diese Momente eine schwer entwirrbare Verknüpfung ein. Von der späteren Systemtheorie erhält man hier die Antwort, dass nicht die interaktiven Handlungen in ihrer vollen Komplexität systemrelevant seien, sondern nur bestimmte kommunikative Anschlüsse. Durch Konstitution von oben wählt das Organisationssystem die für es tauglichen aus. Die Vielfalt und Komplexität von Interaktionen, die in Organisationen stattfinden, sind nur eine komplexe Umwelt von Möglichkeiten und Restriktionen für eine darauf aufsitzende Systemebene. Man wüsste natürlich gerne, wie es das System anstellt, aus dem Gemisch von Kaffeetrinken, Klatsch verbreiten, Informationen austauschen, Witze erzählen etc. das Passende herauszufiltern und zu einem ordnungs-, i. e. systemfähigen Zusammenhang zusammenzufügen. Sind die interaktionstypischen Momente wirklich nur eine umweltliche Trägersubstanz für andersartige Systembildungsprozesse? Oder gehören sie nicht vielmehr konstitutiv dazu? Nach der autopoietischen Wende werden die Systemebenen radikal auseinandergerissen. „Inzwischen mehren sich Anzeichnen dafür, dass der Begriff der informalen Organisation und mit ihm der Gruppenbegriff durch eine Theorie der Interaktionssysteme ersetzt wird. [...] Das Problem ist dann, daß sich in Organisationssystemen Systeme eines anderen Typs bilden und den Einfluss auf die Entscheidungen mehr oder weniger usurpieren" (Luhmann 2000: 25). In der frühen organisationssoziologischen Studie kommt der Mischungscharakter besser zur Geltung. Dort lässt sich das faktische Organisationsgeschehen nicht nur mit dem Systemtyp „Organisation" fassen, da es eben auch interaktionell ordnungsfähig gemacht werden muss. „Auch die größten Sozialsysteme bestehen aus Handlungenin-Situationen" (Luhmann 1964: 301).
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Die Systemtheorie handelt sich das Dilemma von Inklusivität und Irreduzibilität ein, da sie allen Ebenen Selbstordnungsfähigkeiten zuschreibt. Parsons hat das daraus resultierende Problem der Verhältnisbestimmung multipler Ordnungsniveaus durch die mehrstufige Verschachtelung des AGIL-Schemas und seine kybernetische Interpretation „gelöst". Luhmann ersetzt beides durch das AutopoiesisKonzept. Dieses erzeugt aber mehr das traditionelle Ordnungsproblem, als dass es eine Lösung dafür anbietet, weil es den Aspekt irreduzibler, nicht aufeinander abgestimmter systemischer Abläufe extrem steigert. Es fehlt das „missing link", das die verschiedenen Ebenen über die System-Umwelt-Differenzen hinweg so in ein Verhältnis zueinander bringt, dass das faktische Ordnungsgeschehen als Mischtypus (Inklusivität) begreifbar wird. Stichwehs Interpretation (1995: 403), dass die Strukturwahlen im einen Systemtypus Restriktionen für die möglichen Strukturwahlen in dem anderen Systemtyp nach sich ziehen, kann in einer handlungstheoretischen Perspektive sinnvoll umgesetzt werden: Die Ubersetzungsinstanzen sind die Handlungssubjekte, und mit dem Badewannenmodell soziologischer Erklärung können die Ubersetzungsprozesse zwischen verschiedenen Strukturniveaus analytisch gefasst werden. Wie dies systemtheoretisch zu modellieren ist, bleibt unklar. b. Widersprüchliche Einheitsbegriffe Die verschiedenen Fassungen von Gesellschaft sind nicht nur heterogen, sondern auch widersprüchlich. Die Bestimmung von Gesellschaftsgrenzen als Kommunikationsgrenzen (1.) und das Einheitsverständnis über die funktionale Differenzierungsform (3.) sind nicht ineinander überführbar. Die funktionsspezifischen Primärsysteme sind nicht die einzigen Systeme bzw. Differenzierungen innerhalb des Gesellschaftssystems. Funktionale Differenzierung ist nicht als Dekomposition einer gesellschaftlichen Menge von Kommunikationen zu verstehen, sondern als Ausdifferenzierung innerhalb dieser Menge (Luhmann 1986: 89; Luhmann 1997: 812 ff.). Daher gibt es in jedem Gesellschaftssystem auch teilsystemisch nicht zuordenbare Kommunikationen (Luhmann 1986: 75). Es finden ständig Ausdifferenzierungen statt, ohne jeden Bezug auf die Primärsysteme. Letztere „schwimmen auf einem Meer ständig neu gebildeter und wieder aufgelöster Kleinsysteme. Keine gesellschaftliche Teilsystembildung, keine Form gesellschaftlicher Systemdifferenzierung kann alle Bildung sozialer Systeme so dominieren,
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dass sie ausschließlich innerhalb der Primärsysteme des Gesellschaftssystems stattfindet" (Luhmann 1997: 812). Dann kann aber die Einheit der Gesellschaft nicht in der funktionalen Differenzierungsform ihren Ausdruck finden, sie würde eine Menge anderer sozialer Phänomene nicht berücksichtigen, die aber auch zur Gesellschaft gehören. Alles, was an neuartiger Kommunikation hinzukommt, lässt Gesellschaft wachsen. Alles, was Kommunikation ist, ist Gesellschaft. Selbst wenn Kommunikationen die funktionalen Primärstrukturen in Frage stellen oder nichts zu deren Erhaltung beitragen, muss diese Indifferenz oder Negation noch als Ausdruck der Einheit des Gesellschaftssystem verstanden werden, denn diese Einheit ist nichts anderes als die selbstreferentielle Geschlossenheit von Kommunikationen (Luhmann 1984a: 555 f.). Diese widersprüchliche Fassung des Gesellschaftsbegriffs lässt sich am Verhältnis von Gesellschaft und Interaktionssystemen (4.) als einem wichtigen Typus von solch frei gebildeten Sozialsystemen veranschaulichen (Luhmann 1984a: 553, 566 f., 575 ff.; Luhmann 1997: 812 ff.). Die moderne Gesellschaft erlaubt, gemessen an den primären Teilsystemen, eine große Redundanz unkontrollierter, „freier" Interaktionen. Viele können in weitgehender Indifferenz zur funktionalen Differenzierung bestehen. Strukturellen Anschlusswert an das Aggregat Gesellschaft gewinnen sie dann, wenn sie Strukturbildungen anbahnen, die sich im Gesellschaftssystem bewähren (Luhmann 1984a: 575). Die frei gebildeten Interaktionssysteme sind gleichsam das vorgesellschaftliche Experimentierfeld, aus dem die Gesellschaft auswählt. Hier kommt jener Gesellschaftsbegriff zum Zuge, dessen Einheit sich über die funktionale Differenzierungsform definiert (3.). Uber diese setzt Gesellschaft die Struktur- und Selektionsbedingungen für einzelne Interaktionen. Dieser enge Gesellschaftsbegriff kollidiert aber mit dem weiteren, in dem alles, was in Interaktionen kommuniziert wird, auch zur Gesellschaft gehört (1.). „Die Gesellschaft ist jedoch ihrerseits Resultat von Interaktionen. Sie ist keine Instanz, die unabhängig von dem, was sie selegiert, eingerichtet ist" (Luhmann 1984a: 588 f.). In dieser Fassung können zwar die Teilsysteme Restriktionen für frei gebildete Interaktionssysteme setzen und ihren institutionellen Anschlusswert bestimmen, nicht aber „die Gesellschaft". Sie bleibt indifferent gegenüber funktionalen, funktionsindifferenten oder gar dysfunktionalen Interaktionen. Alles ist Kommunikation und damit Gesellschaft. Der Aussagewert dieses Gesellschaftsbegriffs ist aber völlig belanglos.
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Er gibt keinerlei Auskunft über das Verhältnis der Teilsysteme zu den „frei" gebildeten Interaktionssystemen. Die Gesellschaft ist hier ein bloßer Summenbegriff oder Sammelname: Gesellschaft ist das, was geschieht, und das, was an Kommunikation übrig bleibt. Die Entscheidungen fallen dann in und durch die einzelnen Teilsysteme, nicht aber durch „Gesellschaft". Nimmt man die funktionale Differenzierungsform als Einheit (3.), müssen Dekomposition und Konstitution ineinander überführt werden: Gesellschaft ist die nicht wegzudenkende Bezugs- und Einheitsadresse der funktionalen Teilsysteme. Nimmt man die kommunikative Einheit (1.), ist dies nicht möglich. In der Konstitution der Teilsysteme wird nicht zugleich das Ganze „zusammengesetzt", und in der Dekomposition des kommunikativen Ganzen stößt man auf mehr als bloß die differenzierten Teilsysteme, eben die freien Interaktionssysteme. Damit verlieren aber die Teilsysteme ihren funktionalen Bezugspunkt „Gesellschaft". Die beiden Einheitsbegriffe gehen nicht zusammen. Aus dieser widersprüchlichen BegrifFslage weist Luhmann keinen Ausweg. Wie so oft scheint er an der Auflösung von Paradoxien auch kein Interesse zu haben. „Die Interaktion vollzieht somit Gesellschaft dadurch, daß sie von der Notwendigkeit, Gesellschaft zu sein, entlastet wird" (Luhmann 1984a: 553). In seiner Funktion als Grundlagenbegriff muss der Gesellschaftsbegriff auch als Interaktion fassbar sein; in seiner Funktion als spezieller Systemtyp kann er das nicht. c. Starker und schwacher Gesellschaftsbegriff In Luhmanns Werk gibt es zweierlei Arten von Differenzierung, die sehr ungleich entwickelt sind (Tyrell 2008: 57 f.). Die funktionale Differenzierung (3.) ist dominant und wird über die Gesellschaftstheorie ausgearbeitet. Die Ebenendifferenzierung in Interaktion, Organisation und Gesellschaft (4.), die über die allgemeine Theorie sozialer Systeme zu entfalten wäre, führt dagegen ein eher stiefmütterliches Dasein. Der entsprechend titulierte Aufsatz aus dem Jahre 1975 (Luhmann 1982a) hat eine Ausarbeitung im Umfang der funktionalen Differenzierung nie erfahren. Das hat Gründe, so ist zu vermuten, die mit den Widersprüchen des Gesellschaftsbegriffs zu tun haben. Die zunehmende Entwicklung der Theorie funktionaler Differenzierung, insbesondere in der autopoietischen Phase, entwertet das Verständnis von Gesellschaft als einer eigenständigen und ausgeprägten Aggregatebene (4). Diese unterstellt einen starken Gesellschaftsbegriff. „Die Beziehungen
zwischen den Teilsystemen haben eine Form, wenn das Gesamtsystem festlegt, wie sie geordnet sind" (Luhmann 1997: 610). Hier wird die Rolle des Gesellschaftssystems als die einer selbstaktiven Ebene betont. Eine Rolle, die es gemäß der Theorie funktionaler Differenzierung nicht haben kann. Mit der Übertragung des System-Umwelt-Modells auch auf die binnengesellschaftlichen Verhältnisse wird den autopoietisch operierenden Teilsystemen eine Eigendynamik zugestanden, die nicht mehr durch eine übergreifende und eigenständig operierende Ebene Gesellschaft gezügelt wird. Mit den Funktions- und Teilsystemen wird eine weitere Ebene eingezogen, die nicht mit den anderen drei Typen fassbar ist (Greve 2006: 25). Die selektiven Beobachtungsund Wahrnehmungsperspektiven der Teilsysteme werden gegenüber der holistischen Denkfigur „Gesellschaft" aufgewertet (2.). Dafür ist nur noch ein schwaches Gesellschaftsverständnis vonnöten. „Das aber heißt, dass das Gesamtsystem sich nicht mehr durch operative Kontrolle, sondern nur noch über strukturelle Auswirkungen ihrer Differenzierungsform auf die Teilsysteme zur Geltung bringen kann" (Luhmann 1997: 42 f.). Die selbstaktive, .operative Kontrolle' geht verloren, und das Ebenenverständnis (4.) wird in funktionale Differenzierung (3.) aufgelöst. Folglich muss man die Gesellschaftsebene gegenüber Interaktion und Organisation nicht durch einen weiteren und eigenständigen theoretischen Aufwand ausarbeiten. Auch in der Ebenentrias wechselt der Gesellschaftsbegriff zwischen einer starken und einer schwachen Variante. In Bezug auf die Außengrenzen des Gesellschaftssystems muss man von einer „starken Autopoiesis" sprechen. Die Selbstreferenz Kommunikation (1.) gegenüber der natürlichen Umwelt ist ausgeprägt, insofern die Indifferenz und Ignoranz der sozialen Systeme gegenüber etwa ökologischen Belangen eine sehr weitgehende ist (Luhmann 1986: 35 ff.). Gegenüber Interaktion und Organisation muss es sich bei gesellschaftlicher Selbstreproduktion um eine andere Art, eine „schwache Autopoiesis", handeln. Weder muss in dieser ein eigener Typus von basalen Operationen hervorgebracht und abgegrenzt werden: Kommunikation ist für alle drei sozialen Systeme konstitutiv, noch kann sich das Gesellschaftssystem gegenüber Interaktion und Organisation die gleiche Indifferenz und Ignoranz erlauben wie gegenüber der natürlichen Umwelt. Die Gesellschaft ist nicht nur selbstselektiv, sondern seine Selektivität muss zugleich die der anderen Sozialsysteme ermöglichen (Luhmann 1970: 143 f.; Luhmann 1982a: 19; Göbel
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2006: 320 f.). Sie ist Bedingung der Möglichkeit von sozialer Ordnungsbildung auf allen weiteren Ebenen. Der Gesellschaftsbegriff ist an zwei Problemfronten aufgestellt, und seine jeweiligen Aufgaben verlangen Unterschiedliches von ihm. Die starke Autopoiesis erfüllt grundlagentheoretische Aufgaben, insofern es hier um eine Theorie sozialer Systeme ganz allgemein geht; die schwache Autopoiesis hat dagegen nur die Reproduktion eines Typus sozialer Systeme zu klären. Und dabei muss sie die der anderen beiden Sozialsysteme mit im Blick haben. Das wird aber nicht mit dem operativen, sondern nur mit dem strukturellen Verständnis von Gesellschaft gelingen. Das Gesamtsystem wird nicht unmittelbar auf die Ebenen der Organisation und Interaktion durchgreifen können. Diese operative Fähigkeit hat Gesellschaft, wie gesehen, schon nicht mehr für die Koordination der funktional differenzierten Teilsysteme. Wenn sie sich hier auf die strukturellen Auswirkungen der Differenzierungsform auf die Teilsysteme reduziert, muss der schwache strukturelle Gesellschaftsbegriff auch für das Verhältnis zu den anderen beiden Typen von Sozialsystemen in Anschlag gebracht werden. Gesellschaft wird von einem System in eine Struktur überführt, verliert also seinen Systemstatus (Luhmann 1979: 17; Luhmann 1984a: 52). Systeme aktivieren sich selbst, Strukturen müssen aktiviert werden. Die Systemtheorie manövriert sich also in folgendes Dilemma: Der Gesellschaftsbegriff muss zwei Arten von Autopoiesis tragen, und in der schwachen Variante lässt er sich als System nicht mehr fassen. d. Ist ein schwacher Gesellschaftsbegriff haltbar?
Die Idee eines gesellschaftlichen Gesamtsystems, das über operative Kontrolle die Beziehungen zwischen den Teilsystemen festlegt, hat nach Jahrzehnten der Kritik an holistischem und funktionalistischem Denken an Überzeugungskraft verloren. Lässt sich wenigstens die abgespeckte Version eines schwachen, strukturellen Gesellschaftsbegriffs halten? Auch hier sind Zweifel angebracht. Diese erhärten sich, wenn man sich genauer anschaut, wie diese wechselseitige Relationierung und Einregulierung der Teilsysteme vonstatten geht. Es geht hier also um die Beziehung von Teilsystem und Gesellschaftssystem als je eigene Systemebenen. Luhmann (1997: 757) unterscheidet drei Relationierungsmodi oder Systemreferenzen: die Beobachtung des Gesamtsystems, dem das Teilsystem angehört (Funktion), die Beobachtung anderer Teilsysteme (Leistung) und die Beobachtung des eigenen Systems (Reflexion). Angesichts des Perspektiven· und Horizont Verständnisses (2.) ist die Funk-
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tionsbeziehung auf das gesellschaftliche Gesamtsystem schwer zu realisieren. Die je eigenen Perspektiven der Teilsysteme führen zu einem Polykontexturalismus und Polyperspektivismus, die nicht vorgängig durch eine starke, operativ wirkende Gesellschaft (4.) in einer integrierten Einheit gehalten werden oder in eine solche münden. Das schwache, strukturelle Gesellschaftsverständnis kann kein Dekompositions-, sondern muss ein Konstitutionsmodell unterstellen. In Analogie zum Intersubjektivitätsparadigma (Habermas 1985: 426 ff.) befinden sich die Teilsysteme auf dem beschwerlichen Weg der Abstimmung ihrer Teiloperationen. Die Einpassung eines Systems in seine Umwelt mit anderen autopoietischen Systemen wird durch Reflexion geleistet (Luhmann 1984a: 617 ff; Willke 1992: 72 ff; Willke 1987: 262 ff). Ein System muss seine Einwirkungen auf die Umwelt an den Rückwirkungen auf es selbst kontrollieren (Luhmann 1984a: 642). Luhmann nimmt die Möglichkeit der Fremderkenntnis sozialer Systeme im Sinne des Transparentwerdens, des Verstehens fremder Systemoperationen durch Reflexion an: sich selbst als adäquate Umwelt anderer Systeme begreifen lernen und die daraus folgenden Restriktionen und Abstimmungszwänge in das eigene Operieren einbauen. Reflexion garantiert auf diese Weise eine reziproke Selbstbeschränkung der Möglichkeiten von Systemen im Hinblick auf die (Über-) Lebensnotwendigkeiten anderer Systeme. Diese Konstitutionsperspektive liegt auf der Linie des klassischen Hobbes'schen Ordnungsproblems (Habermas 1992: 420 ff). War es dort die Frage, wie aus dem Zusammentreffen egozentrischer Perspektiven selbstinteressiert handelnder Individuen eine Ordnung hervorgehen kann, welche die einzelnen Akteure zur Berücksichtigung der Interessen der anderen anhält, so muss die Systemtheorie die Ordnung aus der kognitiven Abstimmung der Teilsystemperspektiven erklären. In diesem Konstitutionsprozess des Ein- und Anpassens der Teilsysteme wird aber kein Gesamtsystem erreicht bzw. vorausgesetzt, wie es das Ebenenverständnis unterstellt. Das Autopoiesiskonzept hat alle Brücken, die zu einer gemeinsamen Verständigung führen, abgebrochen. Die Teilsysteme basieren auf Spezialsemantiken oder -codes, die ihre Kognitionen präformieren. Es gibt kein gesamtgesellschaftliches Medium oder Subsystem für die Wahrnehmung der Teilsysteminterdependenzen. „Die Reflexionsspirale der gegenseitigen Beobachtung fremder Selbstbeobachtungen führt aus dem Zirkel von je eigener Fremd- und Selbstbeobachtung nicht heraus; sie durchdringt nicht das Dunkel wechselseitiger Intransparenz" (Habermas 1992: 421).
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In der Relationierung der Teilsysteme ist das Gesamtsystem der Gesellschaft keine Reflexionsadresse (Martens 1997: 285 f.). Es wird in die Reflexion nicht einbezogen, weil es nur die anderen Teilsysteme als zu berücksichtigende gibt und m a n sich daher nicht wegen der „Gesellschaft" als solcher beschränkt; und auch gar nicht beschränken kann, da keine Bezüge zur Gesellschaft als einer Einheit oder Instanz vorliegen. „In this case reflection occurs only on the level of subsystems because only subsystems are observed and acted on in the environment of other subsystems. The unity of the entire society as the unity of the totality of all system-environment differences within the system slips from view" (Luhm a n n 1990: 419). L u h m a n n stellt also selbst fest, dass die Funktionsbeziehung zum Gesellschaftssystem spezifikationsschwach, genauer: nicht existent ist. Die Teilsysteme sind in der Beziehung zur Gesellschaft „autonom, weil sie hier sozusagen Richter in eigener Sache sind" (Luhmann 1984b: 317). Es ist nicht ersichtlich, was die Referenz auf Gesellschaft zu den Systemoperationen beiträgt, sie gibt keine Informationen und ist insofern ein „Leerkorrelat" f ü r Selbstreferenz (Luhm a n n & Schorr 1979: 36; L u h m a n n 1997: 609). Erst in der Leistungsbeziehung ergeben sich in der Umwelt eines Systems adressierbare und handlungsfähige Einheiten, an denen sich ein Teilsystem lernend und adaptiv ausrichten kann. N u r über diese bekommt es überhaupt Informationen, was in der innergesellschaftlichen Umwelt von ihm verlangt wird: Bedarfslagen, Normen, Gewohnheiten etc. ( L u h m a n n 1984b: 317; L u h m a n n 1997: 609 f.). Aber auch Leistung als Beziehung zwischen Teilsystemen ist noch zu allgemein gefasst. Funktionssysteme als solche können nicht mit ihrer Umwelt kommunizieren (Luhmann 1997: 607 f., 842 f.). Weder Wissenschaft noch Wirtschaft, weder Politik noch Familie können als Einheit nach außen in Kontakt treten. Die einzigen Sozialsysteme, die mit Systemen ihrer Umwelt kommunizieren können, sind Organisationen. U m Funktionssysteme mit externer Kommunikationsfähigkeit auszustatten, müssen sie Organisationen bilden. N u r auf dieser Ebene vermag L u h m a n n Intersystembeziehungen einen analytisch fassbaren Wert zu geben. Er leitet schließlich auch die Funktionsbeziehungen und den „Mechanismus, über den die D y n a m i k der gesellschaftlichen Integration geleitet wird", aus den organisierten Leistungsbeziehungen zwischen den Systemen ab (Luhm a n n 1997: 759). „Es ist sinnvoll zu vermuten [...], daß in funktional differenzierten Gesellschaften der
Spezifikationsbedarf in den Leistungsbeziehungen ansetzt und daß von dort aus Funktion und Reflexion unter Kompatibilitätsdruck gesetzt werden. Diese Vermutung liegt deshalb nahe, weil in funktional differenzierten Gesellschaften Teilsysteme, die Leistungen erwarten bzw. abgeben, ihre Interessen durch Organisationen und Sprecher artikulieren können, während die Repräsentanz der Gesamtgesellschaft [...] sich auflöst. [...] All das berechtigt nicht, unsere Gesellschaft strukturell [...] durch das Vorherrschen des Leistungsprinzips zu charakterisieren. Wir sagen genau und nur: daß alle zirkulär angelegten Systemreferenzen ihre selbstreferentielle Unbestimmbarkeit überwinden und respezifiziert werden müssen: daß Respezifikationen des einen Bereichs Folgen haben f ü r Respezifikationsmöglichkeiten des anderen u n d daß in den Leistungsbeziehungen die Respezifikationen am leichtesten und am raschesten vollzogen werden können, weil hier die innergesellschaftliche Umwelt komplementäre Sprecher einsetzt, während für Funktionsorientierung und Reflexion in der Umwelt sozusagen die Partner fehlen. Das bedeutet D o m i n a n z allenfalls in dem Sinne: daß diejenigen Personen oder Gesichtspunkte normalerweise im Vorteil sind, die ihre Ziele am wirksamsten operationalisieren können" (Luhm a n n & Schorr 1979: 41 f.; Hervorhebungen von T. S.). N u r über die Organisationsdimension wird der Prozess des sich Abarbeitens der Teilsysteme aneinander fassbar. Die Systemebene Gesellschaft löst sich damit aber auf. Die Beziehungen zwischen den differenzierten Ordnungen kulminieren nirgends in einem Punkt oder einer Ebene, die m a n als Gesellschaft einführen müsste. 6
6 N u n wird selbst von Kritikern der Systemtheorie (Greve 2008) u n d den beiden Gutachtern einer ersten Fassung des vorliegenden Artikels die Notwendigkeit der Gesellschaftsebene eingeklagt. Funktionale Differenzierung sei eine Grundcharakterisierung von Gesellschaft, die den Einzelsystemen folgenreiche Limitationen auferlege. Pointiert betont es ein Gutachter: „Der Primat f u n k t i o n a ler Differenzierung meint als S t r u k t u r nicht zuletzt auch die gesellschaftliche Deplausibilisierung durchgreifender Hierarchien. Eine solche Ordnungsvorgabe lässt sich indessen schwerlich einem Funktionssystem zurechnen u n d ist offensichtlich d e m konzertierten Wirken der Funktionssysteme vorgeordnet." Wie ist dieses „vorgeordnet" zu verstehen? Historisch wohl nicht so, dass das Gesellschaftssystem vorausgeht u n d sich d a n n seine Teile passend schafft. Das käme dem starken, operativ wirksamen Gesellschaftsbegriff gleich, den L u h m a n n selbst ablehnt. Vielmehr, so muss m a n a n n e h m e n , entsteht die S t r u k t u r des Gesellschaftssystems historisch-genetisch „von un-
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3. Versuche, die drei Systemebenen historisch-genetisch zu lesen 3.1 Am Anfang nur Gesellschaft? Die Ebenentrias hat auch eine historisch-genetische Seite: Die drei Systemtypen u n d ihr Verhältnis zueinander werden als evolutionär variabel begriffen. Auch hier stößt m a n auf i m m a n e n t e Widersprüche der systemtheoretischen Interpretationen. Es wird a n g e n o m m e n , dass die drei Ebenen sich im Laufe der gesellschaftlichen Evolution t r e n n e n ( L u h m a n n 1987; L u h m a n n 1997: 835; Kieserling 2 0 0 4 : 215 ff; H e i n t z 2007: 3 4 4 f . ; Tyrell & Petzke 2 0 0 8 : 456). Zwischen der A r t der gesellschaftlichen Differenzierung u n d der Ebenendifferenzierung wird ein Z u s a m m e n h a n g hergestellt. Erst mit der m o d e r n e n Form f u n k t i o n a l e r Differenzierung habe m a n eine durchgehende T r e n n u n g von Interaktion, O r g a n i sation u n d Gesellschaft. Die vormodernen Gesellschaftstypen von Segmentation u n d Stratifikation k ö n n e n d a n n nicht in einem präzisen Sinne mit den drei Ebenen analysiert werden. M i t Mischungsverhältnissen oder Hybridvarianten, die kategorial nicht sauber fassbar sind, muss m a n rechnen. Es k o m m t zu Begriffszwittern wie „Anwesenheitsgesellschaft" (Schlögl 2 0 0 4 , 2008; Stollberg-Rilinger 2008), mit der versucht wird, das vormoderne Europa zu charakterisieren. A u f unklare Weise zieht dieser Ausd r u c k die Ebenen z u s a m m e n : Anwesenheit, das C h a r a k t e r i s t i k u m von Interaktionssystemen, soll auch das Gesellschaftssystem auszeichnen. W e n n sich die Begriffstrias erst mit der historisch spätesten
ten", setzt dann aber, wenn sie einmal existent ist, den Funktionssystemen gewisse Limitationen. Das Grenzen setzen wird von Luhmann strukturell und nicht systemisch verstanden. Das Gesamtsystem bringt „sich nicht mehr durch operative Kontrolle, sondern nur noch über strukturelle Auswirkungen ihrer Differenzierungsform auf die Teilsysteme zur Geltung" (Luhmann 1997: 42 f.). Die Ebenen stehen nicht in einem System-Umwelt-Verhältnis, sondern ihre Beziehung wird adäquat durch Giddens' Dualitätstheorem erfasst. Die umfassendere Struktur ist ein Konstellationsprodukt der „Teilsysteme", und diese werden wiederum durch die Konstellation mitgeprägt. Ein System kann die „Gesellschaft" damit nicht mehr sein, eine Struktur oder Konstellation sehr wohl. Die „Gesellschaft" oder die Makrokonstellation ist der Ordnungsebene der „Teilsysteme" nicht operativ nach dem System-Umwelt-Modell vorgeordnet, sondern strukturell nach dem Dualitätstheorem in Beziehung gesetzt. Zur Kritik einer handlungstheoretischen Verteidigung des Gesellschaftsbegriffs vgl. Schwinn 2011.
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Differenzierungsform entfaltet, b ü ß t sie im evolutionären Rücklauf ihr analytisches Potential ein, da die Ebenen fusionieren u n d klare Kontrastebenen fehlen. Der „Begriff der Ebene impliziert, dass es andere Ebenen gibt" ( L u h m a n n 1997: 80). Für das Verhältnis von Gesellschaft u n d Interaktion will L u h m a n n an b e s t i m m t e n anderen Werkstellen die evolutionäre These f ü r nicht gültig erachten. Die Unterscheidung von Gesellschaft u n d Interaktion sei kein Entwicklungsprodukt, sondern f ü r alle evolutionären Phasen typisch ( L u h m a n n 1984a: 575; L u h m a n n 1997: 478, 817, 827; L u h m a n n 2005: 2 8 0 f.). „Die Differenz von Gesellschaft u n d Interaktion ist eine ursprüngliche, nicht zu vermeidende S t r u k t u r der Gesellschaft selbst" ( L u h m a n n 1997: 817). Es gibt keine Differenzierung des Gesellschaftssystems o h n e die Ebenendifferenzierung der Interaktion. Beides muss als gleich ursprünglich angesetzt werden. Segmente u n d Strata sind Subsysteme der Gesellschaft genauso wie die f u n k t i o nalen Teilsysteme, u n d in allen drei Fällen k a n n diese makrosoziale O r d n u n g s f o r m nicht nach d e m Modell der Anwesenheit begriffen werden. Auch bei segmentärer Differenzierung zerschneidet die Unterscheidung a n w e s e n d / a b w e s e n d räumlich u n d zeitlich die Gesellschaft ( L u h m a n n 2005: 2 8 0 f.) u n d sprengt insofern die Integrationsleistungen von Interaktionssystemen. Gleiches gilt f ü r Stratifikation. Die Subsysteme der Segmente u n d Strata können nicht qua Interaktion konstituiert u n d reproduziert werden. Anwesenheit genügt d a f ü r nicht, weil die Angehörigen anderer Clans nicht dauerpräsent sind u n d m a n mit den Angehörigen anderer Stände keinen Kontakt, sprich: Interaktionen, hat. N a c h L u h m a n n handelt es sich bei Interaktion u n d Gesellschaft u m Universalphänomene, Organisationen sind dagegen eine späte evolutionäre Errungenschaft, die ein relativ hohes gesellschaftliches Entwicklungsniveau voraussetzen ( L u h m a n n 1997: 827, 840; L u h m a n n 2 0 0 0 : 380). Diese evolutionäre These hat theoriesystematische Konsequenzen. W e n n Interaktion u n d Gesellschaft als gleich ursprüngliche anzusetzen sind, Organisation aber nicht, behält die Theorie der Gesellschaft ihre sozialtheoretische Bed e u t u n g f ü r letztere, verliert sie aber f ü r Interaktion. Z u r Erinnerung: Gesellschaft hat den ambivalenten Begriffsstatus, sowohl die Einheit der Gesamtheit des Sozialen zu bezeichnen u n d d a m i t eine allgemeine Theorie sozialer Systeme zu bieten als auch f ü r ein bestimmtes soziales System reserviert zu sein. W e n n schon f ü r die evolutionär einfachsten Sozialverhältnisse gilt, dass es keine Gesellschaft o h n e den Kon-
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trastbegriff der Interaktion gibt, kann die Theorie der Gesellschaft nicht für das Soziale insgesamt sprechen. D e n n dann müsste die Interaktion aus der Gesellschaft hervorgehen, wie dies für die Organisation festgestellt wird: A m Anfang wäre nur Gesellschaft. Die Autopoiesis der Gesellschaft ist die Bedingung der Möglichkeit der Autopoiesis der anderen beiden Systemtypen. Dieser Begründungszusammenhang kann aber nicht zutreffen, wenn die Ebene der Gesellschaft ohne die Ebene der Interaktion ursprünglich nicht gedacht werden kann. Die ihm zugedachte Begründungslast vermag der Gesellschaftsbegriff auch historisch-genetisch nicht zu tragen. W e n n das Auseinandertreten der drei Ebenen von Interaktion, Organisation und Gesellschaft ein spätes Evolutionsprodukt ist, fehlen dem Vergleich der drei Formen gesellschaftlicher Differenzierung (3.) die für jeden Vergleich erforderliche Bestimmung und Auszeichnung der Gemeinsamkeit der Fälle, nämlich des Gesellschaftlichen als eigenständiger Ordnungsebene (4.). Das Gesellschaftliche wandelt sich mit der Differenzierungsform (3.), und damit ist nicht mehr klar, was verglichen wird. Nicht nur der analytische Wert der Systemebenen, sondern auch die grundlagentheoretische Unterscheidung von System und Umwelt, mit der das Subjekt aus der sozialen Welt vertrieben wird, kommt in Bedrängnis. Sie konkurriert mit der differenzierungstheoretischen Lesart, die das Subjekt erst in der letzten Stufe, der funktionalen Differenzierung, in die Umwelt verweist. „Wenn die Gesellschaft von Stratifikation zu funktionaler Differenzierung übergeht, m u ß sie auch auf die demographischen Korrelate ihres internen Differenzierungsmusters verzichten. Sie kann dann die Menschen, die zur Kommunikation beitragen, nicht mehr auf ihre Teilsysteme aufteilen, wie es im Schema der Stratifikation oder bei Z e n t r u m / Peripherie-Differenzierungen noch möglich gewesen war. M a n kann nicht Menschen den Funktionssystemen derart zuordnen, daß jeder von ihnen nur einem System angehört, also nur am Recht, aber nicht an der Wirtschaft, nur an der Politik, aber nicht am Erziehungssystem teilnimmt. Das f ü h r t letztlich zur Konsequenz, daß man nicht mehr behaupten kann, die Gesellschaft bestehe aus Menschen; denn die Menschen lassen sich offensichtlich in keinem Teilsystem der Gesellschaft, also nirgendwo in der Gesellschaft mehr unterbringen [...]. Die Konsequenz ist, daß die Menschen dann als Umwelt des Gesellschaftssystems begriffen werden müssen (wie wir es von Anfang an getan haben) und daß auch das letzte Band, das ein .matching'
von System und Umwelt zu garantieren schien, gerissen ist" (Luhmann 1997: 744). Aber L u h m a n n beeilt sich, in einer Fußnote hinzuzufügen, dass dies schon immer so war, „weil die Gesellschaft ja immer schon nur aus Kommunikationen bestanden hatte und sich nur in ihrer Selbstbeschreibung darüber täuschen konnte, ja täuschen mußte, weil die älteren Differenzierungsformen darauf angewiesen waren, den Menschen feste Plätze ,in' der Gesellschaft zuzuweisen" (Luhmann 1997: 744 f., A n m . 293). N u r über diese wenig überzeugende ideologiekritische W e n d u n g versucht sich L u h m a n n aus der Zwangslage zu befreien. Rudolf Stichweh ist hier eindeutiger und koppelt die Grundlagen- an die Differenzierungstheorie. Für ihn verdankt sich die kommunikationstheoretische Wende zur Autopoiesis einem „Strukturumbruch des Sozialen [...], der die Bedingungen dafür ändert, was als eine ,angemessene' sozialwissenschaftliche Theorie in Frage kommt" (Stichweh 2005: 8). Mit der „Kommunikationsbasierung moderner Sozialsysteme" als „ein Moment evolutionärer Neuheit" (Stichweh 2005: 134) bricht der Systemtheorie die autopoietische Grundlagentheorie für die vormodernen Gesellschaftsphasen und -typen weg. Insbesondere f ü r den segmentären Typ neigen die systemtheoretischen Autoren zu einer Interpretation, die Gesellschaft in Interaktion aufgehen lässt. „Für segmentäre Gesellschaften wird man vermuten können, daß noch die Einheit der Gesellschaft selbst kaum anders denn als Interaktionszusammenhang realisierbar war" (Kieserling 1999: 223; vgl. a. Holzer 2011: 53 f.). Unter diesen Bedingungen spricht einiges für die subjektive Repräsentanz von „Gesellschaft" und gegen die Autopoiesis des Sozialen. In einfachen, tribalen Gesellschaften sind die Interaktionen durch Reziprozitätsvorstellungen verspannt. Die Orientierung reicht über die situative Anwesenheit von Interagierenden hinaus, weil in der momentan aktuellen Interaktion sichergestellt werden muss, „worum es sich in der nächsten und übernächsten u n d überübernächsten Interaktion handeln soll" ( L u h m a n n 1980: 158; vgl. a. L u h m a n n 2005: 281). Die zeitlich und räumlich ausgreifenden Reziprozitätsvorstellungen übergreifen zwar die Grenzen der Situation, sie überfordern aber nicht die Gedächtnisfähigkeit des menschlichen Bewusstseins. Die Orientierungsleistungen und Speicherkapazitäten des menschlichen Bewusstseins reichen aus, die zeitlichen Vor- und Rückläufe, die räumlichen Ausdehnungen und das noch geringe Komplexitätsniveau abzudecken. Die Ebenendifferenzierung von Gesell-
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schaft und Interaktion ist nicht universell. Je weiter m a n in der sozialen Evolution zurückschreitet, desto mehr verliert sie ihre analytische Bedeutung.
1982a: 19). Die weitgehende Interdependenz von allem mit allem n i m m t mit dem Komplexitätsgrad der Gesellschaft ab und gibt R a u m für verschiedene Typen der Systembildung.
3.2 Ein Modell und viele empirische Fälle
Diese Modelllogik der funktionalen Differenzierung beschreibt freilich nur einen Fall, der vom Kontrast stratifikatorisch vs. funktional differenziert lebt. U m sie empirisch tauglich zu machen, muss sie verfeinert und durch Vergleiche die Variationsmöglichkeiten entwickelt werden. Der Zugriff der Makrostruktur auf das Interaktionsgeschehen ist eine variable Größe. So tritt neben die funktionale Differenzierung nach wie vor soziale Ungleichheit als eine M a k r o struktur in modernen Gesellschaften, die zu verstärkten Interdependenzen führt (Schwinn 2007). Die interaktiven Möglichkeiten werden an die kurze Leine der Makrostruktur gebunden. Empirisch gut untersucht sind die Auswirkungen des Schicht- und Bildungshintergrundes auf Partner- und Freundschaftswahlen, das politische Verhalten, Freizeitkontakte, Konsumpraktiken, Kindererziehungsstile etc. Soziale Ungleichheit schränkt eine weitergehende situative Eigenlogik ein und reproduziert sich makrostrukturell durch interaktive Interdependenzen. Die Bestimmung der Gesellschaftsebene mit funktionaler Differenzierung ist unvollständig und unterkomplex.
Die A n n a h m e der evolutionären Gleichursprünglichkeit der beiden Systemebenen widerspricht jener, die Interaktionssysteme als das Produkt einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsstufe, der funktionalen Differenzierung, ansieht. Ein Interaktionssystem ist zweckfreie Geselligkeit, die sich in Anwesenheit der beteiligten Personen vollzieht. L u h m a n n (1982b) spricht auch von einfachen Sozialsystemen. Sie sind durch ihre weitgehende makrostrukturelle Irrelevanz charakterisiert. Gespräche in der Supermarktschlange oder während einer Zugfahrt bleiben in der Regel punktuelle, verkapselte Beziehungsepisoden ohne Struktureffekte. Historisch rekonstruiert L u h m a n n (1980) diesen Typus über die Oberschichtenkommunikation der Neuzeit. Angesichts der sich durchsetzenden funktionalen Differenzierung wird die stratifikatorische Bedeutung des Adels funktionslos und die Oberschichtenkommunikation wird „auf Leerlauf geschaltet" (Luhmann 1980: 120). Interaktion wird zu einer Art müßiger Geselligkeit und ist durch einen fehlenden Gesellschafts-, will sagen: Funktionsbezug charakterisiert. Voraussetzung für die Freisetzung des eigenständigen Systembildungsmodus Interaktion ist eine bestimmte Gesellschaftsstruktur. Funktionale Differenzierung bewirkt eine Vervielfältigung der Rollen einer Person, die untereinander nicht mehr durch das Gesellschaftssystem in ihrem Zusammenhang geordnet werden. Solange bei segmentärer und stratifikatorischer Differenzierung die Person durch wenige Rollen und durch ein festes Rollenset beschrieben ist, kann in jeder Interaktionssituation nicht davon abgesehen werden, was die Person sonst noch ist. Die Makrostruktur hat Zugriff auf jede Mikrosituation. Zwischen einem Adligen und einem Bauern, die sich in einer Situation wiederfinden, kann sich keine eigenständige Interaktionsdynamik wie heute in der Supermarktschlange oder im Zugabteil abspielen, weil sie in umfassender Weise durch den gesellschaftsstrukturell definierten Rollenzusammenhang gehalten und zurückgehalten werden. Die Makrostruktur lässt ein freies Spiel der Mikrostruktur kaum zu. Die Bewegungsfreiheit der Interaktionssysteme in der modernen Gesellschaft beruht auf unvollständiger Koordination des umfassenden Systems ( L u h m a n n
Weiterhin muss das Verhältnis der Ordnungsebenen länder- und kulturvergleichend erweitert werden. Die Tauglichkeit einer Begriffssprache bemisst sich auch daran, inwieweit sie historische und gesellschaftliche Variationen zu greifen vermag. Mouzelis (1992: 125 f., A n m . 5) weist auf das Schlangestehen hin, das etwa bei Goffman ein Paradefall für ein Interaktionssystem ist. Er wirft ihm hier ein „rather ethnocentric, Anglo-Saxon view of queueing" vor: alle außersituativen Merkmale der Akteure spielen beim Anstellen keine Rolle: das Geschlecht, der Beruf, die Schichtzugehörigkeit, die physische Stärke etc. Diese Neutralisierung des Makrokontextes beim Schlangestehen gibt es in vielen anderen Ländern nicht. Beim Anstellen und Zugang etwa zu öffentlichen Verkehrmitteln verschaffen sich sozialer Status, Geschlecht, physische Stärke ihre Geltung. Nach Misheva (1993: 188 f.) engen totalitäre Regime den Spielraum für Interaktionssysteme weitgehend ein. Die abwesende Instanz der Macht kann situativ nicht ausgeblendet werden, sondern ist ständig präsent und muss bei allem, was man sagt und tut, berücksichtigt, ins Kalkül gezogen werden. Die im öffentlichen wie privaten R a u m allgegenwärtigen Porträts und Statuen von Machthabern und sons-
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tige Möglichkeiten von Massenkommunikationsmedien, überall das „Gesicht der Macht" präsent zu halten, machen die Teilnahme jener, die zwar physisch nicht anwesend, aber ständig im Bewusstsein präsent sind, unmittelbar deutlich. „These two types of interaction systems resolve the issue of personal presence in different ways. In the totalitarian interaction system, personal presence is not the boundary formation principle, as it is in Luhmann's interaction system. Nor are the boundaries of totalitarian interaction systems defined as clearly as are those of non-totalitarian interaction system. For example, the former systems need not include all people who are present, nor do they necessarily exclude all who are absent. This gives rise to a very strange sociological phenomenon in which social systems are turned upside down and the system of interaction exhibits the distinctive features of the system of society. This makes it possible to conceive of the totalitarian interaction system as a substitute for the system of society insofar as it is capable of coordination among or with those who are absent. Another way to look at this phenomenon is to compare totalitarian society with a kind of primitive society in which the systems of interaction, organization and society cannot be clearly distinguished from each other and, as such, are structurally similar to the interaction system" (Misheva 1993: 188). Mouzelis (1992) bezweifelt, dass es überhaupt eine Interaktionsordnung sui generis unabhängig von der Makroordnung geben könne. M a n muss präzisieren: Es gibt sie nur in einem einzigen Fall, bei vollständiger funktionaler Differenzierung, was die analytischen Einsatzmöglichkeiten natürlich erheblich einschränkt.
3.3 Medien, Differenzierung und Systemebenen Die evolutionär sich entfaltende Ebenenunterscheidung wird von einer Medientheorie mitgetragen. Gesellschaft oder Makroordnungen können von einer gewissen Komplexitätsstufe an nicht mehr als Interaktionssequenz oder als Interaktionszusammenhang begriffen werden (Luhmann 1980: 158; Kieserling 1999: 229 f.; Schlögl 2004: 193 f.; Schlögl 2008: 166). Das gilt allenfalls noch f ü r einfache Gesellschaften. „Abnehmende Interaktionsdichte ist mit abnehmender sozialer Relevanz, fehlende Interaktion mit sozialer Irrelevanz identisch, und daher lassen sich Systemgrenzen nicht unabhängig von Interaktionsverdichtungen ziehen" (Kieserling 1999: 224). Mit der Z u n a h m e von Größe und Komplexität sozialer Zusammenhänge versagt der
anwesenheits- und interaktionsbasierte Modus der Vergesellschaftung. Die eingeschränkte Erinnerungsleistung individueller Gedächtnisse setzt der Möglichkeit, O r d n u n g als Interaktionskette auszubilden, enge Grenzen: zeitlich, räumlich und sachlich. Medienbasierte Kommunikation befreit von diesen Begrenzungen und ermöglicht Gesellschaft als interaktionsfreie Kommunikation zu denken. Die Gedächtnisbildung wird vom menschlichen Bewusstsein entkoppelt und erlaubt damit ausgreifende Ordnungsbildungen in allen drei Dimensionen. Den Medien wird zugetraut, die Systemebenen auseinanderziehen zu können. Insbesondere sollen sie die Interaktionsentlastung von Gesellschaft tragen. Gleichzeitig wird aber auch das Strukturprinzip der funktionalen Differenzierung dafür verantwortlich gemacht. In welchem Verhältnis stehen beide zueinander? Die Medien werden in ihrer Fähigkeit tendenziell überschätzt, den Vergesellschaftungsmodus von ,anwesend' auf .abwesend' umstellen zu können. Vorausgehen müssen strukturelle Veränderungen, d. h. Differenzierungsprozesse, die die Menschen in ein distanziertes Verhältnis zueinander setzen. Der ehemalige Sippengenosse, mit dem man in einem dichten Verpflichtungsnetzwerk stand, wird durch die anlaufende kapitalistische Ökonomie zu einem Marktteilnehmer, demgegenüber man in einem distanzierten, nur einen Aspekt berücksichtigenden Verhältnis steht. Der Begriff „Distanz" meint in der Medientheorie vor allem die räumliche Distanz, die durch Medien geschaffen wie überbrückt werden kann. Ihr vorausgehen muss aber die durch das neue Differenzierungsmuster geschaffene soziale Distanz. Für ökonomische Verwertungschancen spielt es keine Rolle mehr, mit welcher Person man es zu tun hat und an welchem O r t sie sich befindet. Gleiches gilt für wissenschaftliche Wahrheitssuche. An diesen Distanzierungen können die Medien ansetzen und sie forcieren, sie schaffen sie aber nicht. „Vielmehr wird die (im physikalischen Sinne) distanzüberbrückende Funktion von Medienkommunikation erst dann relevant, wenn sozialstrukturelle und kulturelle Veränderungen eine sozial distanzierte Kommunikation bereits eingeführt haben. Kommunikationstechnologien unterstützen diese Veränderungen praktisch und führen sie weiter fort, sind jedoch nicht der Auslöser dieser Entwicklung" ( H a h n 2009: 359). Die Zusammenhänge und die Rolle der Medien dabei lassen sich durch historische und kulturelle Vergleiche präzisieren. In China waren die technischen Bedingungen der Medienentwicklung, Buchdruck
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und Papierherstellung, lange vor den europäischen Anfängen vorhanden (Mitterauer 2004: 235 ff.). Schriftgebrauch blieb dort aber eine elitäre Angelegenheit und durchdrang nicht die Gesellschaft. Das Medium hatte keine Vergesellschaftungseffekte wie in Europa. Ein wesentlicher Hinderungsfaktor dürfte dabei die durch Sippennetzwerke geprägte soziale Struktur gewesen sein. Es gab keine Nachfrage nach diesem Medium. „Die .printing revolution' in Europa kann also nur erklärt werden, wenn man die enorme Nachfrage nach Gedrucktem versteht, die damals in Europa gegeben war. Die Nachfragesituation führt über die materiellen und technischen Faktoren hinaus zu den ideellen Voraussetzungen für die Erfindung des Buchdrucks im ausgehenden Mittelalter" (Mitterauer 2004: 263). Interessante Vergleichsfälle sind der islamisch und der orthodoxchristlich geprägte Kulturraum. In beiden setzt sich der Buchdruck nicht durch, er geht über die Grenzen der Westkirche nicht hinaus. Mitterauer erklärt dies vor allem mit der Sakralisierung der Schrift im Islam, die nur eine handschriftliche Kalligraphie erlaubte. Die besondere Heiligkeit des geoffenbarten Buches, des Korans, blockierte die Vervielfältigung über den Buchdruck, der einer Profanierung gleichgekommen wäre. So blieb der islamische Großraum bis ins 18. Jahrhundert ohne Druckerei, mit Ausnahme einiger weniger religiöser Minderheiten. Im christlich-orthodoxen Kulturraum hatte die Bilderverehrung in Gestalt der Ikone eine vergleichbare Wirkung. Die Religionspraxis des Hörens trat gegenüber der des Schauens zurück. Das Predigtwesen konnte daher, anders als in der Westkirche, keine zentrale Position gewinnen und hemmte die Entwicklung einer Wort- und Schriftkultur. „Wie die besondere Heiligkeit von Büchern konnte auch die besondere Heiligkeit von Bildern dabei hinderlich sein. Die Situation im islamischen Raum scheint insofern mit der in der Ostkirche vergleichbar. Die besondere Sakralisierung des Korans in Sprache und Schrift blockierte Jahrhunderte hindurch die Übernahme des Buchdrucks in dieser Region. In der Ostkirche hingegen stand die besondere Sakralität der Ikone der Entwicklung neuer graphischer Verfahren zur Vervielfältigung von Bildern entgegen, wie sie in der Westkirche dem Buchdruck vorausgingen und ihn verbreiteten" (Mitterauer 2004: 244). Nicht nur kulturelle, sondern auch strukturelle Bedingungen können Vergesellschaftungseffekte von Medien bremsen oder blockieren. Das eröffnet ein Blick in die sozialistischen Gesellschaften. Dort war der volle Satz an modernen Medientechnologien
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vorhanden, gleichwohl wird ihre soziale Struktur als „Nischengesellschaft" beschrieben (Teckenberg 1989; Srubar 1991; Adler 1992; Diewald 1995). Der soziale Verkehr wurde nicht durch abstrakte und differenzierte institutionelle Prinzipien gelenkt, sondern war in hohem Maße durch Face-to-faceKontakte geprägt. Viele Konsumgüter und Dienstleistungen waren nicht über den Markt und über entsprechende Kaufkraft zu bekommen, sondern nur über persönliche Kontakte. Diese eröffneten auch den Zugang zu Bildung, Berufspositionen oder Wohnungen. 7 Trotz Medienpräsenz reproduzierte sich diese Ordnungsform vor allem über Anwesenheit, durch dauerhafte Kontaktpflege. Mit der Unterscheidung von Interaktion, Organisation, Gesellschaft ist sie schwerlich zu fassen. Die „Gesellschaft" setzt keinen Systemtyp „Interaktion" frei, der nach seiner eigenen Logik funktioniert, sondern erstere ist vielmehr ein Interaktionszusammenhang. Makrostrukturelle Einrichtungen, wie die Partei, Wirtschaftsorganisationen, Universitäten, werden ihrer eigenständigen strukturierenden Wirkungen zunehmend beraubt, von interaktioneilen Kontaktverbindungen über- und durchwuchert. In den sozialistischen Gesellschaften in ihrer Endphase entwickelte sich das „Gesellschaftliche" zur bloßen Fassade. Die makrostrukturellen Zusammenhänge dünnen sich aus bzw. lösen sich auf, und es dominieren interaktionell geprägte Nischen oder Segmente. Die „Gesellschaft" zerfällt in ein „Inselmeer von Netzwerken" und darüber hinausgehende Ordnungs- und Orientierungshorizonte erodieren, werden wegen ihrer Nichtkalkulierbarkeit als „sozialer Dschungel" wahrgenommen (Srubar 1991: 424). Hier drehen sich die Verhältnisse um: Nicht Gesellschaft setzt die Bedingungen für die Entfaltung der unteren Systemebenen, sondern Interaktionszusammenhänge stecken den Rahmen für das makrostrukturell noch Mögliche ab.
4.
Alternative Zugänge
4.1 Unterschiedliche Ausgangspositionen der Theorien Nach der immanenten Rekonstruktion von Problemen der Ebenenunterscheidung soll nun diese von handlungstheoretischer Seite aus in den Blick genommen werden. Die ordnungstheoretischen 7 Dies gilt in gleichem M a ß e für viele Länder der Dritten Welt (Holzer 2006).
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Konzeptionen sind abhängig von den jeweiligen grundlagentheoretischen Weichenstellungen. System-Umwelt und Handeinder-Situation sind die beiden Grundoptionen. Diese Unterscheidung hält sich über alle Ordnungsebenen hindurch. Das Verhältnis der drei Ebenen wird nach der System-UmweltUnterscheidung durchdekliniert. Handlungstheoretisch müssen alle Ordnungsphänomene mittels des Akteur-Situation-Modells erklärt werden. Makrogesetze oder Eigenlogiken der Makroebene unabhängig von dem, was Akteure tun oder denken, kann es daher nicht geben. 8 Das Handlungssubjekt ist das Scharnier zwischen allen Aggregatstufen. Die dem Subjekt analogen Selbstorganisationsfahigkeiten des Systems sind dagegen auf allen Ebenen anzutreffen. Die Mikro-Makro-Unterscheidung hat daher handlungs- und systemtheoretisch eine unterschiedliche Bedeutung. Für erstere ist damit eine Anweisung für die gültige Erklärung sozialer Phänomene gegeben, die etwa in den drei Logiken ihren Ausdruck findet. Systemtheoretisch resultiert aus ihr keine explanative Privilegierung einer Seite, sondern sie dient lediglich dazu, mögliche Systemebenen zu unterscheiden. Das Subjekt steht dem Interaktionssystem genauso äußerlich gegenüber wie dem Gesellschaftssystem. Es gibt daher nicht drei Logiken, die auf alle Ebenen anzuwenden sind, sondern so viele Logiken, wie es Systemebenen gibt. Mit jeder neuen Systemebene handelt man sich ein neues Erklärungsproblem ein, das aus vorhergehenden nicht ableitbar ist. Das mag 8
Der Begriff der „Ebene" hat daher handlungs- und systemtheoretisch eine unterschiedliche Bedeutung. Für eine Handlungstheorie, die die Substanzialisierung von Kollektivphänomenen zu vermeiden sucht, kann der Ebenen-Begriff nur einen analytischen Wert haben - m a n wechselt aber nicht zwischen sozialontologischen Ebenen. Webers „Soziologische Grundbegriffe" oder das Badewannenmodell halten dies fest. Bei L u h m a n n ist das EbenenVerständnis dagegen sozialontologisch geprägt. „Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass es Systeme gibt. Sie beginnen also nicht mit einem erkenntnistheoretischen Zweifel. Sie beziehen auch nicht die Rückzugsoption einer .lediglich analytischen Relevanz' der Systemtheorie. Erst recht soll die Engstinterpretation der Systemtheorie als eine bloße Methode der Wirklichkeitsanalyse vermieden werden. [...] Der Systembegriff bezeichnet also etwas, was wirklich ein System ist ..." (Luhmann 1984a: 30). Dieses substanzialistische Verständnis setzt die drei Typen sozialer Systeme in ein exklusives Verhältnis zueinander, das freilich konkurriert mit der These der Inklusivität. Auch Gesellschaft ist ohne Interaktion nicht möglich (Luhmann 1984a: 566). Zur systemtheoretischen Schwierigkeit, „Globalität" und „Lokalität" konsistent als Ebenen zu fassen und zu verknüpfen vgl. Schwinn 2012.
die Zurückhaltung bei der Einführung und Etablierung weiterer Systemtypen verständlich machen. Systemtheoretisches Denken ist nicht zuletzt aus einer Kritik der Handlungstheorie motiviert. Gesellschaft sei „für Interaktion unzugänglich geworden" (Luhmann 1984a: 585). Die meisten Handlungstheorien sind sehr interaktionsnah gebaut, und mit dem Übergang von anwesend zu abwesend ist der interaktive Modus für die Reproduktion von Makroordnungen überfordert, und man muss auf eine andere Systemebene umschalten. Nach Alfred Schütz ist in der Tat die Face-to-face-Situation ein Grundmodell des Sozialen, von dem her der Aufbau der sozialen Welt in Kategorien zunehmender Anonymität und korrespondierender Typisierung konzipiert wird. Bei Simmel (1983: 15; Tyrell & Petzke 2008: 460) und in der Netzwerktheorie ist die Gesellschaft nach dem Mikro- und Interaktionsgeschehen modelliert. Die Makrostrukturen werden als Kette gedacht, auch bei Norbert Elias, der von den länger werdenden Handlungsketten im Zivilisationsprozess spricht. Die Systemtheorie sieht diese Ketten ab einer gewissen Länge und Komplexität gleichsam reißen und ersetzt sie durch einen anderen Ordnungs- bzw. Systemmodus. In der Soziologie Max Webers ist die Interaktion nicht der Ausgangspunkt und das basale Modell des Sozialen. Komplexere Ordnungsformen werden nicht als nahtlose Kette aneinander anschließender interaktiver Beziehungen verstanden. Zwar ist die Unterscheidung anwesend-abwesend in Webers Begrifflichkeit identifizierbar, sie ist aber nicht modellleitend. „Soziales Handeln (einschließlich des Unterlassens oder Duldens) kann orientiert werden am vergangenen, gegenwärtigen oder für künftig erwarteten Verhalten anderer. [...] Die .anderen können Einzelne und Bekannte oder unbestimmt Viele und ganz Unbekannte sein (,Geld l z.B. bedeutet ein Tauschgut, welches der Handelnde beim Tausch deshalb annimmt, weil er sein Handeln an der Erwartung orientiert, daß sehr zahlreiche aber unbekannte und unbestimmt viele Andere es ihrerseits künftig in Tausch zu nehmen bereit sein werden" (Weber 1980: 11; vgl. a. Weber 1982: 458). Weber hat die Adressierbarkeit im Fokus, die aber nicht interaktiv eingeschränkt wird. Die subjektiven Repräsentanzen der Ordnungen überspannen alle Ebenen. Komplexere Ordnungsformen werden nicht als durchgehender interaktiver Beziehungsfaden begriffen, bei dem der Ordnungswert wie in einem Staffellauf direkt und nahtlos von einem Beziehungsglied an den nächsten Adressaten überge-
Thomas Schwinn: Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Eine Alternative zu Mikro-Makro? ben werden muss. Am Geld erläutert Weber, dass die geglaubte Gültigkeit und Annahmebereitschaft unbestimmt vieler Anderer ordnungsbildend wirkt. Makro und Mikro sind nicht zu eigenen (System-) Ebenen reifiziert, sondern durch eine Grundbegrifflichkeit zusammengehalten. Ein Akteur, der in einer Situation (Mikro) Geld ausgibt oder annimmt, hat implizit oder explizit die Vorstellung von einem Makro, d. h. einer geltenden Währungsordnung im Kopf; konkret: dass es unbestimmt viele annehmen werden. Das Gelten einer O r d n u n g ist nicht als interaktiver Konstitutionsprozess gedacht. Die als geltend vorgestellte Ordnung ist vielmehr die Voraussetzung für Interaktionen als Ordnungsepisoden oder situative Realisierungen einer Ordnung. Die subjektive Repräsentanz von Makroordnungen bedeutet auch nicht, dass diese subjektivistisch reduziert werden. Die Begriffsgenealogie in den Soziologischen Grundbegriffen-, beginnend mit dem subjektiv gemeinten Sinn, darf nicht so missverstanden werden, als würde von monadenhaften Einzelexistenzen ausgegangen, die dann in einem mühsamen Prozess des Aufbaus interaktiver Intersubjektivität die Makroordnungen als Beziehungsnetz spinnen. Wie bei Luhmann die Interaktion in den Kontext der Gesellschaft eingelassen ist, ist auch das soziale Handeln bei Weber makrostrukturell gerahmt. Eine Grundvoraussetzung von Webers Soziologie ist das historische Eingebettetsein des Handelns. Folglich beginnt jedes Handeln nicht bei einem sozialen Nullzustand, sondern immer im Kontext von Strukturvorgaben, die ihm vorausgehen. Die Soziologischen Grundhegriffe stehen daher nicht in einer historischen, sondern in einer logischen Folge. In der Begriffsfolge vom Handeln zum sozialen Handeln zur sozialen Beziehung zur Ordnung geht es nicht um eine historisch voraussetzungsfreie Konstitution sozialer Ordnungen nach Art mancher Kontrakttheorien. Logisch oder theoriesystematisch gesehen, gehen weder die Strukturen den Handelnden noch diese jenen voraus. Beide müssen als gleich ursprünglich angesetzt werden. Strukturen gehen zwar historisch den Subjekten voraus, es gibt aber keine Makrogesetze, mit denen man die Reproduktion von Strukturen, eine handlungstheoretische Tiefenerklärung überspringend, begreifen könnte.
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4.2 Mischungs- und Übergangsphänomene oder wie viele soziale Spezies gibt es? Mit diesem Akteur-Struktur-Modell lassen sich die Ubergangs- und Mischungsverhältnisse sozialer Phänomene adäquat fassen. Die Ordnungen und Gebilde werden kontinuierlich in reproduktiven Zyklen durch die Akteure aufrechterhalten, modifiziert, verändert. Weber (1982: 451) nimmt eine „Stufenfolge der Entwicklung von der Gelegenheitsvergesellschaftung ausgehend und fortschreitend zum perennierenden .Gebilde'" an. Entsprechend entfalten die Soziologischen Grundbegriffe eine Vielfalt von Vergesellschaftungsformen und Gebildetypen, die aber nicht zu starren Ebenen reifiziert werden. Webers generelle Analysestrategie, Begriffe und Kategorien zu definieren und abzugrenzen, dann aber ihre empirisch variablen Beziehungen und Mischungsverhältnisse zu untersuchen, ist deshalb möglich, weil die Akteure selbst in ihren Orientierungen „umschalten" und „mischen" können. Seine idealtypische Vorgehensweise ist sehr darauf bedacht, das Fluide, Veränderliche sozialer Vorgänge zu betonen, die nur in den zum Teil sehr heterogenen Orientierungen der Handelnden ihren Bestand haben. Mikro und Makro oder Interaktion, Organisation und „Gesellschaft" sind in dieser Sichtweise nicht durch das Kriterium der „Größe", wie die Ausdrücke suggerieren mögen, zu unterscheiden, sondern durch unterschiedliche Orientierungsstandards der Akteure. Die Interaktion bei einer flüchtigen Begegnung auf der Straße und die Interaktion „zwischen T ü r und Angel" in einer Organisation, um einen Punkt für die anstehende Sitzung zu besprechen, unterscheiden sich dadurch, dass letztere durch die Vorstellung einer geltensollenden Ordnung gerahmt ist, an der man sich orientiert. Gewisse Kontextbedingungen liegen fest, die in der Vielzahl an tagtäglich in Organisationen stattfindenden Begegnungen situativ nicht völlig frei ausgehandelt werden können und z.T. mit Sanktionen versehen sind. Webers Betonung variabler Grade der Beziehungsstiftung und Ordnungsbildung hat den Vorteil, dass die Strukturierungsabstufungen und Übergänge in den Blick kommen. Die Ebenen stehen nicht wie Interaktion, Organisation und Gesellschaft in SystemUmwelt-Beziehungen, mit denen die oft fließenden Übergänge zwischen Ordnungsniveaus kategorial auseinandergerissen werden. Handlungstheoretisch werden alle Ebenen, Mikro, Meso und Makro, auf ihre subjektiven Repräsentanzen zurückverfolgt. Vom Flirten am Arbeitsplatz kann ich im nächsten
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M o m e n t auf ein organisationsrelevantes T h e m a u m schwenken. M a n wechselt hier nicht die Systemebenen, von Interaktion auf Organisation, sondern die involvierten Akteure wechseln den Orientierungsr a h m e n . M i t d e m Handlungssubjekt hat m a n eine Übersetzungsinstanz oder ein Scharnier zwischen den O r d n u n g s e b e n e n . Es trennt u n d verbindet sie zugleich. Die Beziehungstypen stehen nicht völlig berührungsfrei nebeneinander. Emotionale Sympathien oder Antipathien beeinflussen unter U m s t ä n den meine fachliche Beurteilung dieser Personen. Die informelle Interaktionsgeschichte von Personen ist nicht unerheblich f ü r das Gelingen oder Scheitern formeller Abläufe. Die Schwierigkeiten der Systemtheorie, Übergangsu n d M i s c h u n g s p h ä n o m e n e zu fassen, lassen sich a m Interaktionsbegriff demonstrieren. Der Begriff des Interaktionssystems schließt eine Fülle sozialer P h ä n o m e n e ein u n d ist insofern zu undifferenziert. Der Paradefall sind die einfachen Sozialsysteme. Für L u h m a n n (1982b: 21) ist dies ein Grenzfall von Sozialität bzw. sozialer Systeme. Die m i n i m a l e n Bed i n g u n g e n sind Anwesenheit u n d wechselseitiges W a h r n e h m e n , etwa die flüchtige Begegnung u n d das kurze Gespräch zwischen T ü r u n d Angel. Diese relative Voraussetzungslosigkeit u n d Anspruchslosigkeit in Bezug auf Vorgaben u n d auf Dauerhaftigkeit erlaubt es, von einem eigenen Systemtypus zu sprechen, der weitgehend seiner eigenen, von den umweltlichen sozialen Gegebenheiten k a u m tangierten Logik folgen k a n n . Das ist aber in der Tat ein Grenzfall, dessen analytische Reichweite begrenzt ist. W e n n Interaktionen ihr eigenes E n d e überdauern, das kurze Gespräch z u m Anlass wird, sich wieder zu treffen, muss begrifflich u n d konzeptionell nachgelegt werden. D a z u gibt es in der systemtheoretischen Literatur verschiedene Vorschläge. L u h m a n n (1982b: 32) spricht von „intermittierenden Systemen". U n k l a r bleibt dabei, ob dies einen neuen Systemtyp darstellt. Er will sie zwar noch als einfache Systeme verstanden wissen, „aber sie erfordern schon Abstraktionsleistungen, die das System auf eine neue Ebene struktureller Organisation bringen" ( L u h m a n n 1982b: 32). In der Sekundärliteratur versucht m a n diese Lücke mit d e m Begriff des „Interaktionszusammenhangs" zu schließen (Kieserling 1999: 221 ff.; Schmidt 2007), mit differierenden Einschätzungen, ob m a n d a m i t eine neue Systemspezies g e f u n d e n hat. A u f jeden Fall ist m a n hier auf ein soziales P h ä n o m e n gestoßen, das sich der E i n o r d n u n g in die Dreiertypologie sperrt.
W i e muss m a n sich den Ü b e r g a n g von einem einfachen Interaktionssystem zu einem Interaktionszus a m m e n h a n g denken? Wie gelingt es, das Intermittierende der Einzelinteraktionen zu überbrücken? Auffallend ist, dass m a n an dieser Stelle in der Systemtheorie auf die subjekt- u n d handlungstheoretische Begrifflichkeit stößt. „Die Anwesenden müssen sich trennen, d e n n sie k ö n n e n nicht ununterbrochen zusammenbleiben, verabreden aber ein Wiedersehen. [...] M a n m u ß über den Zufall der Begegnung hinaus den Sinn der Z u s a m m e n k u n f t reflektieren. O r t e , Z e i t p u n k t e u n d Teilnehmer f ü r die Fortsetz u n g des Kontaktes vereinbaren u n d Gründe d a f ü r angeben können" ( L u h m a n n 1982b: 32, Hervorhebungen von T.S.). Auch der Erwartungsbegriff u n d die Erinnerungsleistungen der Akteure werden herangezogen, u m d a n n gleich wieder einzuschränken, dass „es nicht u m rein psychische Gedächtnisleistungen" gehe (Kieserling 1999: 222). D a s SichBedienen bei einer theoriefremden Begriffssprache wird verständlich, da es sich bei Interaktionszus a m m e n h ä n g e n oder intermittierenden Interaktionen u m ein Übergangs- oder M i s c h u n g s p h ä n o m e n handelt. Diese Zwischenposition ist mit der vorhandenen Systemtypologie nicht adäquat zu fassen. Die SjtfíÉ'watisierungsfahigkeit oder Autopoiesis ist an die drei Systemebenen gebunden. Was aber ist mit all jenen sozialen P h ä n o m e n e n , die d u r c h das Raster der Typologie fallen? (Voller) Systemstatus k a n n ihnen nicht gewährt werden, gleichwohl k a n n m a n sie nicht ignorieren. Die K i p p p u n k t e u n d Übergangsphasen, in denen das Ausgangssystem nicht m e h r u n d das resultierende System noch nicht existiert, bewegen sich im autopoietischen Niemandsland. 9 Begriffliche Fremdanleihen sind daher nur zu verständlich. Die H a n d l u n g s t h e o r i e hat diese Schwierigkeiten nicht. Der von M a x Weber präferierte Begriff der „sozialen Beziehung" diskriminiert nicht zwischen O r d n u n g s g r a d e n u n d erlaubt die Thematisierung des ganzen Spektrums sozialer Phänomene. D a s H a n d l u n g s s u b j e k t bleibt der rote Faden auch in Übergangsphasen u n d Mischungsverhältnissen. Vom Beziehungsbegriff will L u h m a n n nichts wissen, hält ihn gar f ü r einen „verkorksten Theorieanfang", der zu Erkenntnisblockaden f ü h r e ( L u h m a n n 1993: 206, A n m . 2; L u h m a n n 1997: 24). 10 M a n gewinnt
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Die gleichen Probleme tauchen in der Evolutionstheorie beim Übergang zwischen den drei Gesellschaftstypen segmentar, stratifikatorisch u n d f u n k t i o n a l differenziert auf; vgl. Schwinn 2 0 1 1 : 3 9 f. 10 Schmidt (2007) versucht, den Beziehungsbegriff systemtheoretisch zu reformulieren.
Thomas Schwinn: Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Eine Alternative zu Mikro-Makro? den Eindruck, dass sich die Systemtheorie in nicht minder verkorkste Problemlagen manövriert, da die soziale Welt sich nicht mit drei Ebenen einfangen lässt und die konzeptionellen Möglichkeiten für alle übrigen Phänomene in arge Bedrängnis geraten.
4.3 Die makrostrukturelle Bedeutung von Interaktionen Makrostrukturen müssen handlungstheoretisch nicht als durchgehende interaktive Verkettungen gedacht werden. Gleichwohl kann man der Makrorelevanz von Interaktionen ihren angemessenen Stellenwert einräumen. Bei L u h m a n n ist die Gesellschaft das übergeordnete, rahmensetzende System. Zugleich besteht sie aber auch aus Interaktionen, was erwarten ließe, dass auch die strukturprägende W i r k u n g von Interaktionen in den Blick genommen wird. Das lässt aber der Theorieprimat der Gesellschaft nicht zu: „Die Kluft zwischen Interaktion und Gesellschaft ist [...] unüberbrückbar breit und tief geworden [...]. Die Gesellschaft ist, obwohl weitgehend aus Interaktionen bestehend, f ü r Interaktionen unzugänglich geworden" (Luhmann 1984a: 585). N u n gibt es aber eine Fülle von Arbeiten, einige auch im systemtheoretischen Lager, die die gesellschaftlichen Strukturbildungsprozesse von Interaktionen betonen. So ist Bettina Heintz (2007; in diesem Band: 229 ff.) an einer Interaktionstheorie der Weltgesellschaft interessiert. Interaktionen gewinnen überall dort eine Bedeutung, wo das unproblematische Prozessieren der Makrostrukturen brüchig wird, Lücken aufweist oder wo es darum geht, neue Institutionen auf den Weg zu bringen. Beim A u f b a u transnationaler Unternehmenskooperationen oder bei der Rechtsentwicklung im Bereich des globalen Wirtschaftsrechts ist eine hohe Erwartungsunsicherheit und ein geringer Institutionalisierungsgrad vorhanden. Hier benötigt es interaktioneil hergestelltes persönliches Vertrauen, um Beziehungen anzubahnen und über Modellverträge zu verstetigen. Dem Systemvertrauen muss ein persönliches Vertrauen vorausgehen, und dies kann nur in Faceto-face-Kontakten entstehen. Die interaktionsentlastete, mediengestützte Kommunikation eignet sich offensichtlich nur f ü r institutionelle Routinen. Sobald diese problematisch werden, müssen die Lücken interaktionell überbrückt oder gekittet werden. Nicht nur für den A u f b a u oder die Lücken von Makrostrukturen ist Interaktion erforderlich, sondern auch für das normale Prozessieren. Selbst dort, wo die codebasierten Medien Akzeptanz finden, ist die
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Detailarbeit der Programmierung auf interaktioneil zu leistende Abstimmung angewiesen. Ferner ist die Koordination der Funktionssysteme sehr stark interaktionsbezogen. Da die Funktionsbeziehungen spezifikationsschwach sind, läuft die Einregulierung vor allem über die Leistungsbeziehungen. Wie in Abschnitt II d. bereits erläutert, hält sich L u h m a n n für die Beziehungen zwischen den Teilsystemen an das traditionelle Begriffsraster der Handlungstheorie: Organisationen und ihre Sprecher, Leistungsbeziehungen und entsprechende Interessenten, Bedarfslagen und Zielformulierungen, Normen und ihre Operationalisierung durch entsprechende Personen. Integration, verstanden als wechselseitige Einschränkung der Freiheitsgrade von Systemen, kann nur über den Spezifikationsdruck der Kooperationsbeziehungen von Akteuren erreicht werden. Diese Kooperationsbeziehungen laufen über Interaktionen, in denen die Schranken des Möglichen ausprobiert werden (Luhmann 1984a: 592). Luhm a n n kann seine abstrakten systemtheoretischen Konzeptionen letztlich nicht ohne Rückgriff auf handlungstheoretisches Denken konkretisieren," wodurch sich aber gerade die analytische Relevanz der Systemmodelle verflüchtigt. Das wird durch die Ergebnisse der Elitenforschung bestätigt (Windolf 1997; Carroll & Carson 2003; Pohlmann 2009). Sehr gut untersucht, auch international vergleichend, sind die Elitennetzwerke. Das Bild, als liefen die gesellschaftlichen Makrostrukturen interaktionsentlastet oder gar -frei und nur über eine medial vermittelte Kommunikation ab, ist ein Zerrbild. In zentralen Positionen, in denen der Entscheidungseliten, ist die „Gesellschaft" interaktionell verwoben. Die Interaktionen, auf die sich die Netzwerke stützen, erfüllen multifunktionale Aufgaben. Sie bedienen Interessen, die in formalisierten Kontexten weniger gut durchsetzungsfähig sind: etwa Kontroll- und Herrschaftsinteressen
11 Auch S c h i m a n k (2003: 51, A n m . 28) stellt fest, dass die Systemtheorie bei der empirischen Umsetzung ihrer Forschungsfragen „parasitär auf akteurtheoretisch angeleitete Untersuchungen" rekurriert. Fuchs thematisiert das Problem der „Adressabilität" in der Systemtheorie. „Es k ä m e kein sozialer Tatbestand zustande, wenn ihm nicht die Folie der Adressen unterläge, also das Problem der Adressabilität darauf bezogene Formen erzeugt hätte" (Fuchs 1997: 62). In einer akteurtheoretischen Perspektive k o m m t d a f ü r n u r eine Instanz in Frage, das menschliche Subjekt. Nach Weber ist das Subjekt „nach unten" wie „nach oben" die Grenze u n d die einzige Instanz sinnh a f t e n Sichverhaltens u n d Kommunizierens.
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in den Aufsichtsgremien der großen Unternehmen; das persönliche Kennen und Vertrauen und der dadurch erleichterte Informationsaustausch führen für die Eliten zu einer subjektiv wahrgenommenen Unsicherheitsabsorption angesichts von weit reichenden Entscheidungen; schließlich eignen sich netzwerkartige Interaktionen leichter als institutionelle, formalisierte Ordnungen für stratifikatorische Interessen. Ungleichheitsrelevante Ressourcen wie ökonomisches Kapital, bürokratische Positionsmacht, kulturelle Kompetenzen und soziales Kapital können interaktioneil leichter wechselseitig konvertiert und kumuliert werden. Die Interaktionszusammenhänge können einen strukturellen Verfestigungsgrad erlangen, der die formalen Strukturen überlagert bzw. kurzschließt. „Der Vergleich zwischen Deutschland und Großbritannien zeigt, daß sich derartige Herrschafts- und Kontrollinteressen in Form von Netzwerken einen eigenen institutionellen Rahmen schaffen, und dies auch dann, wenn die Verbindung von exekutiven und Kontrollfunktionen durch gesetzliche Verbote begrenzt wird" (Windolf 1997: 86). Mit der Unterscheidung von Gesellschaft und Interaktion sind diese Strukturen schwerlich zu fassen. Hier sind die Interaktionen nicht das vorgesellschaftliche Experimentierfeld, das in den makrostrukturellen Leerlauf geschaltet ist und aus dem die „Gesellschaft" auswählt, d . h . den Interaktionsmodus auf den Gesellschaftsmodus umstellt. Die gesellschaftlichen Makrostrukturen werden vielmehr an entscheidenden Stellen, in den Entscheidungsspitzen, interaktioneil reproduziert. 12
4.4 „Gesellschaft" motiviert nicht Die Option f ü r System-Umwelt handelt sich nicht nur das kognitive Problem ein, den einzigen Träger sinnhaften Sich-Verhaltens aus den konstitutiven sozialen Prozessen herauszunehmen, sondern damit auch die einzige motivationsfähige Instanz: das menschliche Handlungssubjekt. Weber behandelt, etwa in den Grundbegriffen, neben dem Orientierungs- immer auch das Motivationsproblem. „,Motiv' heißt ein Sinnzusammenhang, welcher dem Handelnden selbst oder dem Beobachtenden als sinnhafter ,Grund' eines Verhaltens erscheint. [...] Eine richtige kausale D e u t u n g eines konkreten Handelns bedeutet: daß der äußere Ablauf und
12 Mouzelis (1992) spricht von „macro interactions" u n d weist die ausschließliche Z u o r d n u n g von Interaktion auf den Mikroaspekt zurück.
das Motiv zutreffend und zugleich in ihrem Zusammenhang sinnhaft verständlich erkannt sind" (Weber 1980: 5). Nicht nur das Handeln, sondern auch die sozialen Ordnungen ruhen auf einem motivationalen Unterbau. In einer währungsgestützten Wirtschaftsordnung nehmen die Teilnehmer Geld nur deshalb an, weil es das Versprechen vielfaltiger Motivrealisierungen enthält. Es ist motivational gedeckt. Die Legitimität einer O r d n u n g ist nur so lange garantiert und stabil, wie es eine nennenswerte Anzahl von Akteuren gibt, f ü r die der Glauben an deren Geltung ausreichend Motive f ü r konformes Handeln freisetzt. Auch f ü r die Systemtheorie stellt sich dieses Problem, insbesondere f ü r die Gesellschaftsebene. Talcott Parsons versucht es mittels der Medientheorie zu lösen. Zu wissen, dass im Funktionshaushalt eines sozialen Systems gewisse Aufgaben erfüllt werden müssen, bedeutet noch nicht, dass die Akteure dazu auch motiviert wären. Dies käme einem funktionalistischen Fehlschluss gleich. Die Medien sollen die Funktionserfordernisse der Gesellschaft auf die Motivebene übertragen. Das hat der Theorie eine Menge Kritik an ihrem konformistischen Zuschnitt eingebracht. L u h m a n n thematisiert das Motivationsproblem f ü r die drei Systemebenen gesondert. Im Falle von Interaktionssystemen ist die Struktur zugleich Motivationsmittel. Das Gespräch im Zugabteil oder in der Warteschlage ist an sich motivierend. Diese automatische Teilnahmemotivation ist bei Organisationen nicht mehr gegeben. Motiv und Zweck treten auseinander, und die Sicherstellung von Motivation erfordert einen eigenständigen organisatorischen Aufwand. Für die Gesellschaftsebene stellt sich dieses Problem in der Unterscheidung von Verbreitungs- und Erfolgsmedien. N u r letztere garantieren A n n a h mechancen, sind also motivational verankert. Die Kommunikation an sich garantiert nicht ihre fortgesetzte Reproduktion. L u h m a n n greift dafür auf eine kybernetische Denkfigur zurück (Luhmann 1984a: 222; L u h m a n n 1986: 104; L u h m a n n 1997: 393, 752). Soziale Systeme sind energetisch abhängig von ihrer Umwelt. U n d diese Energie wird durch die Motivation der Handelnden bereitgestellt. An sich sind die kommunikativen Ereignisse motivationsleer oder -schwach. Nach L u h m a n n müssen Gründe beschafft werden, die den Vollzug motivieren. Die Selektion der Kommunikation muss so konditioniert sein, dass sie zugleich als Motivationsmittel fungiert. Auf die Frage, wie dies zu erreichen ist, gibt er jedoch keine befriedigende Antwort. U m
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das Autopoiesiskonzept nicht durch Öffnung auf externe Referenzen zu entwerten, hat er zunächst ein zirkuläres Argument parat. Die über Mediensymbole strukturierten Kommunikationen bilden motivierende Eigenwerte durch ständige Wiederverwendung (Luhmann 1997: 393 ff.). Das Vorbild ist hier das Geldmedium. Die über Geld laufenden Zahlungen sind motivierend aufgrund der Wiederverwendbarkeit des Mediums in anderen Kontexten. Luhmann kommen aber selbst Zweifel an der Verallgemeinerbarkeit dieser Lösung: „Die Eigenwertbildung ist ein Resultat der Wiederverwendung [...]. Aber sind Eigenwerte zugleich auch die Bedingung der Möglichkeit solcher Wiederverwendung? Es fällt ersichtlich schwer, sich mit einem derart zirkulären Argument abzufinden. Fragt man die für die einzelnen Medien entwickelten Theorien, so erfährt man, daß typisch mit externen Referenzen gearbeitet wird. Ein Machthaber muß tatsächlich in der Lage sein, Truppen zu schicken. Ein Liebhaber muß tatsächlich in der Lage sein, die entsprechenden Gefühle zu mobilisieren. Für Wahrheitstheorien scheint, bei allem Geplänkel mit,Konstruktivismus', irgendeine Deckung durch eine externe Realität unverzichtbar zu sein" (Luhmann 1997: 394). Das Kommunikationsgeschehen und damit Gesellschaft kann sich nicht selbst motivieren, sondern bedarf der ständigen Zufuhr durch „externe Referenzen". So sind manche Kommunikationsbereiche explizit auf eine Änderung der Umwelt angelegt: Änderungen der physikalisch-chemisch-biologischen Umstände durch Technologie, Eingriffe in den menschlichen Körper durch Medizin, Formung und Veränderung von Bewusstseinsstrukturen durch Erziehung (Luhmann 1997: 407 f.). In allen diesen Fällen tritt das Problem sehr hoher Ablehnungswahrscheinlichkeit nicht auf. Die entsprechenden gesellschaftlichen Funktionssysteme benötigen kein eigenes Kommunikationsmedium, da die Werte, die diesen Umwelteingriffen zugrunde liegen, sehr motivationsstark sind. Offensichtlich ist Gesellschaft kein reines Kommunikationsgeschehen. Damit sind wir wieder bei jenem schon behandelten Verhältnis von Funktion und Leistung angelangt. Wir hatten gesehen, dass Funktionen vor allem durch Leistungsbeziehungen spezifiziert werden.13 Gesellschaft ist nicht mehr als das sich gegenseitige 13 Luhmann & Schorr 1979: 4lf. Man kann hier auch auf das alte Funktionalismusproblem verweisen: „Schon generell gilt, daß durch Angabe der Funktion nicht erklärt werden kann, daß etwas existiert und durch welche Strukturen es sich selbst ermöglicht" (Luhmann 1997: 193).
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Einregulieren der Teilsysteme untereinander. Für Funktion und den Komplementärbegriff Gesellschaft fehlen aber adressierbare Instanzen, Akteure oder Organisationen mit Zielen und entsprechenden Sprechern.14 Die in unverbindlicher Allgemeinheit gehaltenen Funktionen bekommen erst über Leistungsbeziehungen einen analytisch brauchbaren Sinn. Leistungsbeziehungen sind aber nicht bloße Kommunikationen, sondern in ihnen verschaffen sich die Motive und Interessen der Akteure ihre konstitutive Geltung. Gesellschaft kann dann aber nicht mehr die Einheit eines geschlossenen kommunikativen Geschehens sein, das die Elemente, Kommunikationen, selbstreproduktiv vorantreibt, wenn dieses Geschehen ständig über Motivation aktiviert werden muss.15 Auch bei weiteren zu berücksichtigenden Ordnungstypen können die Motive nicht einfach in die Umwelt des Sozialen geschoben werden. Sich globalisierende soziale Bewegungen nutzen in hohem Maße das Internet für Informationsaustausch, Mobilisierung und Koordinierung. Am Beispiel von „Attac" zeigen Hepp & Vogelsang (2005: 249 ff.), dass jedoch immer wieder Face-to-face-Beziehungen in Form von Treffen der Beteiligten oder bei Protestereignissen erforderlich sind. Interaktionen sind Motivationsinstanzen des globalisierungskritischen Netzwerkes dieser Bewegung. Soziale Bewegungen und freiwillige Vereinigungen (Horch 1985) können das Motivationsproblem nicht wie hoch formalisierte Organisationen finanziell lösen, über Bezahlung eine in Grenzen generalisierte Motivationsbereitschaft abkaufen. Die Strukturen selbst müssen motivieren, und das leisten interaktive Episoden.
14 Scharpf (1988: 82) kritisiert bei Luhmann die inkonsistente Zuordnung der funktionsspezifischen Codes. „Wenn Wissenschaft durch den Code .wahr-unwahr' konstituiert wird, und das Rechtssystem durch ,RechtUnrecht', dann müßte man auf derselben Ebene das politische System durch den Code ,gemeinwohldienlichgemeinwohlschädlich' charakterisieren. Wenn umgekehrt Politik durch die jeweilige Nützlichkeit für .Regierung' oder .Opposition' bestimmt wird, müßte man das Wissenschaftssystem durch .Reputationserwerb' und .Reputationsverlust' definieren, und das Rechtssystem vielleicht durch Sieg oder Niederlage in Rechtsstreitigkeiten. Man kann, so denke ich, den Code entweder durch die funktionsspezifischen .public virtues' oder durch die zugehörigen .private vices' bestimmen, aber nicht hier so und dort anders." 15 Konnte Parsons mit der kybernetischen Idee von Information und Energie diesen Zusammenhang noch plausibilisieren, fehlen bei Luhmann die entsprechenden begrifflichen Konzepte.
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Schlussbemerkungen
Jedes elaborierte soziologische Forschungsprogramm muss ein begrifflich differenziertes Angebot für die auf verschiedenen Aggregatebenen sich vollziehenden Ordnungsprozesse vorlegen. Die ordnungstheoretischen Konzeptionen sind abhängig von grundlagentheoretischen Positionen. Max Weber etwa entwickelte das Fach als verstehende Soziologie, die vom subjektiven Sinn des Handlungssubjekts ausgeht und in den Soziologischen Grundbegriffen eine Stufenfolge verschiedener Beziehungs- und Ordnungsformen entfaltet: vom Handeln über das soziale Handeln zu Formen ephemerer und dauerhafter sozialer Beziehungen bis hin zu Organisationen und umfassenderen Ordnungen eines Verbandes. Es sind nicht, wie in der Systemtheorie, drei Ordnungsebenen: Interaktion, Organisation und Gesellschaft, sondern eine Fülle von Ordnungsphänomenen in den 17 Paragraphen der „Grundbegriffe" angesprochen. Zu vermuten ist, dass die Sparsamkeit der Systemtheorie in der Einführung der Ordnungsebenen mit ihrer grundlagentheoretischen Weichenstellung zu tun hat. Nicht Handlungssubjekt-Situation, sondern System-Umwelt ist ihre Leitdifferenz. In Akteurtheorien ist Handlungsfähigkeit nur auf der Subjektebene lokalisiert, und alle Ordnungsphänomene müssen auf ihre subjektive Repräsentanz zurückverfolgt werden. In der Systemtheorie ist die der Handlungsfähigkeit des Subjekts analoge Systemaxisierungsfähigkeit dagegen auf allen Systemebenen anzutreffen. Interaktion, Organisation und Gesellschaft sind alle Systeme, und ihr Verhältnis zueinander kann nicht nach dem Mikro-Makro-Schema der Handlungstheorie gefasst werden. „Strukturwahlen im einen Systemtyp können dann Restriktionen für die möglichen Strukturwahlen im anderen Systemtyp nach sich ziehen. Aber dies ist keine Aggregation von Mikroereignissen zu einem Makrogeschehen" (Stichweh 1995: 403). Die Systemtheoretiker sind daher auch nicht in die „Badewanne" des soziologischen Erklärungsmodells zugestiegen. Dies mag auch die Zurückhaltung bei der Einführung weiterer Ebenen der Systembildung verständlich machen. Gruppe,16 Netzwerk,17 soziale Bewe-
gungen, Teilsysteme sind in der Diskussion und weisen auf Grenzen des analytischen Potentials der drei anderen hin. Aber die Vermehrung von Systemebenen führt zu einer Pluralisierung von Selbstordnungspotentialen, die in ihrem Zusammenspiel und -hang mit dem System-Umwelt-Modell kaum noch zu handhaben sind. Während in der handlungstheoretischen Perspektive alle Ordnungsformen und Aggregatebenen auf das Modell Subjekt-Situation und die drei Logiken, der Situation, der Selektion und der Aggregation, zurückgeführt und analytisch fokussiert werden können, ist dies mit dem SystemUmwelt-Modell nicht möglich. Jeder neue Systemtyp ist nicht von dem anderen ab- oder herleitbar, und es steht auch nicht, wie das Badewannen-Modell, ein Erklärungskonzept für alle sozialen Phänomene zur Verfügung. Die System-Umwelt-Beziehungen müssen für und über alle Systemebenen hinweg durchdekliniert werden. Bei gleichzeitiger Verabschiedung von Kausalannahmen zwischen SystemUmwelt- bzw. System-System-Beziehungen und ihre Ausdünnung zu bloßen „Irritationen" oder „losen Koppelungen" führen weitere Systemebenen zu einer sozialen Hydra mit multiplen selbstoperativen Fähigkeiten, deren Zusammenhang theoretisch und konzeptionell kaum mehr zu fassen ist.
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16
D e n Gruppenbegriff hält L u h m a n n ( 2 0 0 0 : 25) für
„theoretisch nicht sehr entwicklungsfähig". 17
Das Netzwerk ist nach Bommes & Tacke (2011: 4 7 ) ein
„sekundärer" Systemtyp. Sind die anderen drei dann „primäre" Systemtypen? Und wie unterscheidet man „primär"
schlagenen neuen Systemtyp auf. Nach Holzer (2011: 5 6 )
und „sekundär"? Auch das Problem der Fusionierung der
ist in segmentären Gesellschaften das Netzwerk „mit der
Ebenen im evolutionären R ü c k l a u f taucht bei dem vorge-
Gesellschaft mehr oder weniger deckungsgleich".
Thomas Schwinn: Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Eine Alternative zu Mikro-Makro? Göbel, Α., 2006: Zwischen operativem Konstruktivismus und Differenzierungstheorie. Zum Gesellschaftsbegriff der soziologischen Systemtheorie. Soziale Systeme 12: 311-327. Greve, J., 2006: Logik der Situation, Definition der Situation, framing und Logik der Aggregation bei Esser und Luhmann. S. 13-38 in: R. Greshoff & U. Schimank (Hrsg.), Integrative Sozialtheorie? Esser-LuhmannWeber. Wiesbaden: VS. Greve, J., 2008: Gesellschaft: Handlungs- und systemtheoretische Perspektiven. S. 149-185 in: A. Balog & J. Schiilein (Hrsg.), Soziologie, eine multiparadigmatische Wissenschaft. Wiesbaden: VS. Habermas. J „ 1985: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habermas, J., 1992: Faktizität und Geltung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hahn, K., 2009: Ent-fernte Kommunikation. Zur Soziologie fortgeschrittener Medienkulturen. Konstanz: UVK. Heintz, B., 2007: Soziale und funktionale Differenzierung. Überlegungen zu einer Interaktionstheorie der Weltgesellschaft. Soziale Systeme 13: 341-354. Hepp, A. & W. Vogelgesang, 2005: Medienkritik der Globalisierung. Die kommunikative Vernetzung der Globalisierung. Die kommunikative Vernetzung der globalisierungskritischen Bewegung am Bespiel von Attac. S. 2 2 9 - 2 5 9 in: A. Hepp, F. Krotz & C . Winter (Hrsg.), Globalisierung der Medienkommunikation. Wiesbaden: VS. Hölzer, B., 2006: Spielräume der Weltgesellschaft: Formale Strukturen und Zonen der Informalität. S. 259— 280 in: Th. Schwinn (Hrsg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne. Kultur- und strukturvergleichende Analysen. Wiesbaden: VS. Holzer, B., 2011: Die Differenzierung von Netzwerk, Interaktion und Gesellschaft. S. 51—66 in: M . Bommes & V. Tacke (Hrsg.), Netzwerke in der funktional differenzierten Gesellschaft. Wiesbaden: VS. Horch, H.-D., 1985: Personalisierung und Ambivalenz. Strukturbesonderheiten freiwilliger Vereinigungen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37: 257-276. Kieserling, Α., 1999: Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kieserling, Α., 2004: Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, N., 1964: Funktionen und Folgen formaler Organisationen. Berlin: Duncker & Humblot. Luhmann, N., (1970): Soziologische Aufklärung. Opladen: Westdeutscher Verlag. Luhmann, N., 1979: Moderne Systemtheorien als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse. S. 7 - 2 4 in: J. Habermas & N . Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was bietet die Systemforschung? 3. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, Ν . & K.-E. Schorr, 1979: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Stuttgart: Klett-Cotta.
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 4 3 - 6 4
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Autorenvorstellung Thomas Schwinn, geb. 1959. Studium der Soziologie und Politischen Wissenschaft in Heidelberg. Von 1987-2000 Wissenschaftlicher Mitarbeiter/Assistent, von 2 0 0 0 - 2 0 0 3 Oberassistent an der Universität Heidelberg, von 2 0 0 3 - 2 0 0 8 Professor für Soziologie an der Universität Eichstätt-Ingolstadt, seit 2008 Professor für Soziologie an der Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Globalisierung und die Vielfalt der Moderne, Grundlagenprobleme soziologischer Theorie, Max Weber, DifFerenzierungstheorie, soziale Ungleichheit, soziale Integration. Ausgewählte Publikationen: Jenseits von Subjektivismus und Objektivismus. Max Weber, Alfred Schütz und Talcott Parsons, Berlin 1993; Differenzierung ohne Gesellschaft. Umstellung eines soziologischen Konzepts, Weilerswist 2001; Differenzierung und soziale Ungleichheit. Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung, Frankfurt a. M. 2004; Die Vielfalt und die Einheit der Moderne. Kultur- und strukturvergleichende Analysen, Wiesbaden 2006; Soziale Ungleichheit, Bielefeld 2007; zuletzt in dieser Zeitschrift: Multiple Modernities: Konkurrierende Thesen und offene Fragen 2009; (Hg. mit Jens Greve & Clemens Kroneberg) Soziale Differenzierung. Handlungstheoretische Zugänge in der Diskussion. Wiesbaden 2011. Max Weber und die Systemtheorie. Studien zu einer handlungstheoretischen Makrosoziologie. Tübingen 2013.
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft, 2014, S. 6 5 - 8 5
Gruppen, Organisationen, Familien und Bewegungen Zur Soziologie mitgliedschaftsbasierter Systeme zwischen Interaktion und Gesellschaft Groups, Organizations, Families, and Movements. The Sociology of Membership-Based Systems between Interaction and Society Stefan Kühl [email protected]
Zusammenfassung: In Weiterführung eines Vorschlags von Niklas Luhmann wird in diesem Artikel gezeigt, dass sich zwischen dem auf gegenseitiger Wahrnehmung basierenden System „Interaktion" und dem auf kommunikativer Erreichbarkeit basierenden umfassendsten System „Gesellschaft" verschiedene Systemtypen ausbilden können: Gruppen, Organisationen, Familien und Bewegungen. Während die Gemeinsamkeit zwischen Gruppen, Organisationen, Familien und Bewegungen darin besteht, über Mitgliedschaften Personen dem System zuzurechnen oder eben nicht, besteht der Unterschied zwischen den Systemtypen darin, dass die Mitgliedschaften auf sehr unterschiedliche Art und Weise gehandhabt werden. Anders als bei der Differenzierung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft kann man sich bei Gruppen, Bewegungen, Organisationen und Familien nicht nur eine Verschachtelung ineinander vorstellen, sondern auch weitgehend gleichrangige Kombinationen und Ubergänge zwischen den verschiedenen sozialen Systemen. Schlagworte: Systeme; Gruppen; Organisationen; Familien; Bewegungen Summary: In enhancing a proposal by Luhmann, this contribution shows that it is possible to locate different types of systems between "face-to-face-interaction" and "society": groups, organizations, families, and protest movements. The common ground of these is that they use membership to attribute persons to the system or not. However, they differ fundamentally in regard to how they understand membership. In contrast to Luhmann's differentiation between interaction, organization, and society, it is not only possible to imagine different types of interlocking systems, but also coequal combinations of and transitions between the different types of social systems. Keywords: Systems; Groups; Organizations; Families; Protest Movements.
1. Einleitung - Jenseits des Schemas von Interaktion, Organisation und Gesellschaft In der Systemtheorie Niklas Luhmanns hat kaum ein Schema eine solche Prominenz erlangt wie die Unterscheidung der drei Systemtypen Interaktion, Organisation und Gesellschaft. So erhebt Luhmann in dem Mitte der 1970er Jahre erschienenen Artikel „Interaktion, Organisation, Gesellschaft" den Anspruch, mit dieser Unterscheidung ein „bereits hochkomplexes Gesamtbild der sozialen Wirklichkeit" entstehen lassen zu können (Luhmann 1975a: 2 0 ; siehe für eine erste Ausarbeitung der Unterscheidung schon Luhmann 1972a: 1 4 4 ff.). Mitte der 1980er Jahre behält er im Buch „Soziale Systeme" trotz der Umbauten der Theorie die Unterscheidung
von Interaktion, Organisation und Gesellschaft bei und adelt sie sogar in einer der wenigen von ihm erstellten Grafiken visuell (Luhmann 1984: 16). Noch Mitte der 1990er Jahre verwendet Luhmann diese Dreierunterscheidung in „Gesellschaft der Gesellschaft", selbst wenn er hier mit der fast beiläufigen Einführung von „Protestbewegung" andeutet, dass er sich eine Modifikation des Dreierschemas sehr wohl vorstellen kann (vgl. Luhmann 1997: 813). 1
1 In seiner Gesellschaftstheorie behandelt Luhmann zuerst Interaktion und Organisation als „Typen" „frei gebildeter Sozialsysteme", um danach Protestbewegungen in ähnlicher Länge wie Interaktion und Organisation zu behandeln. Er konstatiert jedoch, dass der „gegenwärtige Forschungsstand es nicht erlaubt, sie auf dem gleichen Niveau wie Interaktionen und Organisationen als einen
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 65-85
Aber auch wenn diese Dreierunterscheidung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft mit einem hohen Maß an Selbstverständlichkeit in den systemtheoretischen Einführungs- und Uberblicksarbeiten reproduziert wird (vgl. nur zum Beispiel Kneer / Nassehi 1993: 42 f.; Baraldi 1997: 178), ist-gerade auch von Systemtheoretikern - immer wieder darauf hingewiesen worden, dass sich viele soziale Phänomene nicht in das Dreierschema von Interaktion, Organisation und Gesellschaft einordnen lassen. Wie lassen sich, so schon eine durch die Gruppensoziologie inspirierte frühe Anfrage, Freundschaftscliquen oder Gruppen von Bekannten in das Schema integrieren (vgl. Neidhardt 1979; 1983; Tyrell 1983a)? Wie können Familien sinnvoll in das Schema eingeordnet werden, wenn man in Betracht zieht, dass sie zwar stark auf Interaktion angewiesen sind, aber nicht die permanente Anwesenheit aller Familienmitglieder in der Interaktion voraussetzen (vgl. Tyrell 1979, 1983b)? Was macht man mit Bewegungen, die sich von Organisationen bekanntlich dadurch unterscheiden, dass über ihre Mitgliedschaften nicht entschieden werden und so auch das Verhalten der zur Bewegung Gehörenden nicht über formulierte Mitgliedschaftsbedingungen konditioniert werden kann (vgl. Neidhardt 1985)? Müssen aus einer systemtheoretischen Perspektive Netzwerke gerade nicht als Ersatz für den Systembegriff eingeführt werden, sondern vielmehr als gesonderter Typus sozialer Systeme (vgl. Teubner 1992; Bommes/Tacke 2005)? Können nicht auch - um die Liste möglicher sozialer Systeme fortzuführen - Nationalstaaten, Professionen oder Gemeinden als soziale Systeme verstanden werden? Es ist auffällig, dass diese Vorschläge für eine Erweiterung der Liste von sozialen Systemen sich in der Systemtheorie entweder - wie beispielsweise im Fall der Gruppe - nicht durchgesetzt haben oder - wie im Fall der Protestbewegung - nicht zu einer Modifikation des Dreierschemas aus Interaktion, Organisation und Gesellschaft geführt haben.2 Dies erscheint
eigenständigen Typus des Umgangs mit doppelter Kontingenz anzusehen" (Luhmann 1997: 813). 2
Rudolf W i m m e r ( 2 0 0 7 : 2 7 0 ) konstatiert beispielsweise,
dass diejenigen, die sich in der Soziologie mit Gruppen beschäftigen, sich dem Verdacht aussetzen, dass sie „sich nicht auf dem Stand soziologischer Theoriebildung" be-
umso überraschender, als Niklas Luhmann - jedenfalls in seinen frühen Werken - bereit gewesen ist, den Systembegriff für eine Vielzahl von sozialen Phänomenen „herauszurücken". Wenn man die Bildung sozialer Systeme immer dann beobachtet, wenn Handlungen mehrerer Personen sinnhaft aufeinander bezogen werden, ist es nachvollziehbar, weswegen für Luhmann beispielsweise auch Verfahren (vgl. Luhmann 1969: 39), Diskussionen (Luhmann 1971: 326 ff.), Konflikte (vgl. Luhmann 1975b: 68 ff.) oder Kontaktsysteme (vgl. Luhmann 1989: 221) das Kriterium eines sozialen Systems erfüllen. Aber - so die naheliegende Frage - weswegen ist das Dreierschema von Interaktion, Organisation und Gesellschaft durch die vielfältigen Ergänzungsvorschläge nicht grundlegend irritiert worden?
1.1 Argumentationsstrategien zur Rettung des Dreierschemas Es lassen sich drei Argumentationsstrategien identifizieren, mit denen versucht wird, die „Reinheit" des Dreierschemas von Interaktion, Organisation und Gesellschaft zu bewahren. Eine erste Strategie besteht darin, ergänzende Vorschläge für soziale Systeme wie Gruppe, Familie, Bewegung, Nationalstaat oder Profession einem der drei von Luhmann benutzten Typen sozialer Systeme zuzuordnen. Eine Clique von Freunden wird dann entweder als eine Anzahl von wiederholten Interaktionen dargestellt oder als eine Art Miniorganisation, die formale Mitgliedschaftsanforderungen stellen kann (siehe zur Vorstellung von Gruppen als „Interaktionshäufung" Luhmann 1998: 21 / 3d27fC5). Bewegungen werden dem politischen System zugeschlagen und damit auf der Ebene der Gesellschaft verankert (vgl. Japp 1986). Der Familie wird derselbe Status wie den Funktionssystemen Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft zugestanden, und dann wird lapidar festgestellt, dass dieses Funktionssystem aus Gründen, die in der Funktion liegen, eben als einziges Funktionssystem aus millionenfachen Kleinsystemen besteht (vgl. Luhmann 2005a). Eine zweite Rettungsstrategie besteht darin, zwar zuzugestehen, dass es Phänomene wie Gruppen, Bewegungen oder Netzwerke gibt, die sich dem Dreierschema entziehen, ihnen aber nicht den Sta-
finden. Die Kategorie der Gruppe sei aus dem „theorierelevanten Begriffsrepertoire der Systemtheorie gestrichen." Insofern scheint es denn fast konsequent, dass auch die
sen das durch ihre Trainings produzierte Phänomen (mit
an der Systemtheorie orientierten
Gruppendynamiker
wenig Plausibilität) mit den Begriffen Interaktion und Or-
den Gruppenbegriff zur Beschreibung ihrer gruppendy-
ganisation zu beschreiben suchen (vgl. nur Pelikan 2 0 0 4 :
namischen Zusammenkünfte aufgeben und sie stattdes-
141 ff; siehe jedoch kritisch dazu Kühl 2 0 0 8 : 7 0 ff).
Stefan Kühl: Gruppen, Organisationen, Familien und Bewegungen
tus eines sozialen Systems zuzuweisen. Dabei wird angenommen, dass nicht jedes soziale Phänomen als eine Kommunikation verstanden werden muss, die eine Systembildung nach sich zieht, in der sich aufeinander bezogene Selektionen ausdifferenzieren. Zwar lässt sich schwerlich bestreiten, dass in Gruppen oder Bewegungen „Handlungen mehrerer Personen sinnhaft aufeinander bezogen werden" und dadurch in „ihrem Zusammenhang abgrenzbar sind von einer nichtdazugehörigen Umwelt" (Luhmann 1975a: 9), aber es kann darauf verwiesen werden, dass für diese (noch) nicht gezeigt werden kann, wie sie sich im Sinne der Autopoiesis selbst reproduzieren oder wie sie aus einer „Selbstkatalyse" aus dem Problem der doppelten Kontingenz entstehen. Eine dritte Rettungsstrategie verweist darauf, dass man mit dem Dreierschema zwar selbstverständlich nicht den Anspruch erheben kann, alle sozialen Systeme zwischen Interaktion und Gesellschaft zu erfassen, dass die Differenzierung in Interaktion, Organisation und Gesellschaft analytisch aber allen anderen Vorschlägen überlegen ist. Die „Theorie sozialer Systeme" kann, so das Argument, „die soziale Realität mit Rekurs auf die drei Typen, ihre Autonomie und ihre Interdependenzen erklären" (Baraldi 1997: 178). Nur durch die Beschränkung auf Interaktion, Organisation und Gesellschaft sei es, so jedenfalls die Suggestion, möglich, eine kompakte Gesellschaftstheorie zu definieren. Die Dreierliste sei, so die Behauptung, einer geordneten Viererliste aus Interaktion, Gruppe, Organisation und Gesellschaft und erst recht einer hierarchisch nicht sortierten Liste mit mehreren zwischen Interaktion und Gesellschaft zu verortenden Systemen „theorieästhetisch" überlegen. Aber es bleibt natürlich die Frage, ob (und wenn ja wie viel) Rücksicht auf „Theorieästhetik" bei der Entwicklung einer Gesellschaftstheorie genommen werden sollte (vgl. Luhmann 1997: 847). Diese Argumentationswege zur Beibehaltung des Dreierschemas waren deswegen erfolgreich, weil die Vorschläge für Gruppe, Bewegung oder Familie, aber auch für Profession oder Netzwerk in der Regel als Einzelempfehlungen für ein soziales System präsentiert wurden. Während Niklas Luhmann schon im programmatischen Aufsatz „Interaktion, Organisation, Gesellschaft" nicht nur eine Einordnung in die soziologische Theoriediskussion bot, sondern auch eine auf der Unterscheidung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft basierende Gesellschaftstheorie präsentierte, die Prozesse der Verschachtelung der verschiedenen Ebenen
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beschrieb und anhand des Sozialmodells „Konflikt" die Fruchtbarkeit des Ansatzes aufzeigte, beschränkten sich die späteren Einzelvorschläge für soziale Systeme weitgehend darauf, am Einzelfall zu diskutieren, ob Netzwerke, Gruppen, Bewegungen oder Freundschaften nun soziale Systeme sind oder nicht. 3 Salopp ausgedrückt: Bei aller Plausibilität der Vorschläge schienen die Einbringungen dem Motto zu folgen: „Ich habe hier noch eines".4 1.2 Ziel des Artikels
In diesem Artikel wird aufgezeigt, wie die Unterscheidung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft so erweitert werden kann, dass soziale Phänomene wie Gruppe, Bewegung und Familie in ihr Platz finden und dadurch eine komplexere, historisch vergleichende Gesellschaftstheorie entwickelt werden kann. 5 Dafür wird eine - jedenfalls für einen wissenschaftlichen Fachartikel - ungewöhnliche Vorgehensweise gewählt. Dieser Artikel orientiert sich in seinem Argumentationsweg eng an Luhmanns Artikel „Interaktion, Organisation, 3
Dies ist umso überraschender, als sich jedenfalls im deutschsprachigen Raum die einschlägigen Autoren in der Regel mit mehreren Systemtypen zwischen Interaktion und Gesellschaft auseinandergesetzt haben. M a n denke nur an die Arbeiten von Neidhardt über Familie, Gruppe und Bewegung oder von Tyrell über Gruppe und Familie. Es fallt auf, dass die jeweiligen Vorschläge immer in gesonderten Beiträgen vorgetragen werden, die sich in der Regel nicht aufeinander beziehen. 4
M a n fühlt sich ein wenig an die Diskussion über Funktionssysteme erinnert, bei der regelmäßig mit Titeln wie „Diakonie als soziales System" (vgl. Starnietzke 1996), „Journalismus als soziales System" (vgl. Blöbaum 1994) „Militär als soziales System" (vgl. Schubert 2001) eine Erweiterung der Liste der Funktionssysteme propagiert wird. 5
M a n kann dabei auch auf L u h m a n n rekurrieren, der die Überlegung äußert, dass in dem „Auseinanderziehen von Gesellschaft/Organisation/einfaches System" wiederum „ein Moment der funktionalen Differenzierung auf einer querliegenden (vertikalen) Achse" liegt. D a diese Notiz sich unter dem Stichwort „Gruppe" findet, kann man vermuten, dass damit nicht nur die Differenzierung auf der querliegenden Achse Gesellschaft (Funktionssysteme) gemeint ist, sondern dass diese Differenzierung auch auf der Ebene zwischen Interaktion und Gesellschaft zu vermuten ist. L u h m a n n erwähnt dabei explizit, dass die Differenzierung auf der querliegenden Achse nicht zu verwechseln ist „mit der einfachen System/Subsystem-Differenzierung" (zum Beispiel Gruppen in Organisationen oder Organisationen in Bewegungen) (Luhmann 1998: 21 /3d27fl).
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 65-85
Gesellschaft" und versucht — vielfach mit Bezügen zu Luhmanns Argumentationen an anderen Stellen - zu zeigen, welche zusätzlichen Einsichten gewonnen werden, wenn man zwischen Interaktion und Gesellschaft nicht nur Organisationen verortet, sondern auch andere soziale Systemtypen wie Gruppen, Bewegungen oder Familien zulässt. 6 Eine ausführliche Beschreibung von Gruppen, Bewegungen, Familien und Organisationen als Systemtypen kann — darauf soll ausdrücklich hingewiesen werden - im Rahmen dieses kurz gefassten Artikels nicht vorgenommen werden. Es soll jedoch im folgenden zweiten Abschnitt in aller Kürze eine Charakterisierung der jeweiligen Systemtypen erfolgen. Bei der Bestimmung der sozialen Phänomene wird - in Erweiterung der organisationssoziologischen Überlegungen Luhmanns - das Argument entwickelt, dass Mitgliedschaft sich nicht nur als Merkmal zur Bestimmung von Organisationen eignet, sondern auch zur Bestimmung von Gruppen, Bewegungen und Familien. Dabei wird argumentiert, dass Gruppen, Bewegungen, Organisationen und Familien zwar alle die Definition von Personen als Mitglieder oder Nichtmitglieder als Prinzip der Grenzziehung zwischen System und Umwelt nutzen, sich jedoch aufgrund unterschiedlicher Dispositionsmöglichkeiten in puncto Mitgliedschaft als unterschiedliche Systemtypen voneinander unterscheiden lassen. Im dritten Abschnitt wird argumentiert, dass die Ausdifferenzierung von verschiedenen Systemtypen zwischen Interaktion und Gesellschaft eigene Folgeprobleme mit sich bringt. Gruppen, Bewegungen, Familien und Organisationen grenzen sich als soziale Systeme nicht nur gegen Interaktion einerseits und Gesellschaft andererseits, sondern auch gegeneinander ab. A m Beispiel von Familienunternehmen, Bewegungsorganisationen oder Freundesgruppen, die verschiedene Familien umfassen, kann man dann
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Aufgrund der Begrenzung des Artikels habe ich mir erlaubt, eine Kürzung vorzunehmen. Ich verzichte darauf, die Fruchtbarkeit der Differenzierung von Gruppe, Organisation, Familie und Bewegung am Beispiel des Konfliktes vorzuführen. Das scheint insofern vertretbar, als die Darstellung des Sozialmodells „Konflikt" in Interaktion, Organisation und Gesellschaft in dem Text nur illustrativen Charakter zu haben scheint (man hätte auch andere Sozialformen nehmen können) und es wohl bei der Auswahl des Beispielthemas darum ging — unter anderem in Reaktion auf die Vorwürfe von Ralf Dahrendorf - zu zeigen, dass die Systemtheorie einen Beitrag zum Thema Konflikt liefern kann.
beobachten, was passiert, wenn unterschiedliche Systemlogiken aufeinandertreffen. Eine Stärke der Luhmann'schen Unterscheidung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft besteht darin, dass die Verschachtelungen von Systemen verschiedener Größen ineinander - beispielsweise Interaktionen in Organisationen oder Organisationen in funktional differenzierten Gesellschaften — analysiert werden können. Im vierten Abschnitt wird gezeigt, dass auch Gruppen, Bewegungen, Organisationen und Familien sich ineinander verschachteln können. M a n denke nur an Gruppen in Organisationen, Organisationen in Bewegungen oder Gruppen in Bewegungen, aber auch an Organisationen, die von Freundesgruppen gebildet werden, oder Organisationen, die zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung versuchen, Bewegungen zu initiieren. Anders als bei der Differenzierung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft kann man sich bei Gruppen, Bewegungen, Organisationen und Familien nicht nur eine Verschachtelung ineinander vorstellen, sondern auch weitgehend gleichrangige Kombinationen und Übergänge zwischen den verschiedenen sozialen Systemen. 7 Im abschließenden fünften Abschnitt werden die Vorzüge dieses Modells gegenüber den oben genannten „Rettungsstrategien" aufgezeigt. Es wird dabei argumentiert, dass man mit einer Unterscheidung von verschiedenen sozialen Systemen wie Gruppe, Organisation, Bewegung und Familie mehr sieht, als wenn man die Phänomene entweder als H ä u f u n g von Interaktionen, als verschiedene Spielarten von Organisationen oder als Subsysteme eines Funktionssystems der Gesellschaft begreift.
7
Bei Luhmann werden die Begriffe der Systemebenen und Systemtypen weitgehend synonym verwandt. Deutlich wird dies auch, wenn er von der „Bedeutung der zunehmenden Differenzierung von Systemebenen und Systemtypen" (Luhmann 1975a: 19) schreibt, ohne aber auf die Unterschiede von Systemebenen und Systemtypen weiter einzugehen. Der Begriff der „Ebene" bleibt bei Luhmann seltsam unbestimmt. Die Ebene wird bei Luhmann nur über den entsprechenden Systemtypus bestimmt, ohne aber näher zu spezifizieren, was mit Ebene genau gemeint ist. Ich gehe in diesem Artikel nicht näher auf die Differenz von Systemebene und Systemtypus ein (siehe dazu aber Kühl 2011a), sondern konzentriere mich darauf, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Systemtypen zu zeigen, die „zwischen" Interaktion und Gesellschaft liegen.
Stefan Kühl: Gruppen, Organisationen, Familien und Bewegungen
2. Typen sozialer Systeme zwischen Interaktion und Gesellschaft Die zentrale These dieses Artikels ist, dass sich im Ubergang von der segmentar zur funktional differenzierten Gesellschaft zwischen Interaktion und Gesellschaft verschiedene Systemtypen ausgebildet haben. 8 Anders als die auf der Gesellschaftsebene verorteten Funktionssysteme, die jeweils auf dem Prinzip der Inklusion basieren - prinzipiell jeder kann klagen und verklagt werden, und jeder kann kaufen und verkaufen - , basieren die Systemtypen zwischen Interaktion und Gesellschaft auf der Möglichkeit, zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern zu unterscheiden. Wenn im Folgenden die Möglichkeit, Personen über ihre Mitgliedschaften und Kommunikationen einem sozialen System zurechnen zu können (oder eben nicht), als Gemeinsamkeit von sozialen Systemen zwischen Interaktion und Gesellschaft bestimmt wird, muss Luhmanns enges Verständnis von Mitgliedschaft modifiziert werden (siehe hierzu erste Ausarbeitungen bei Martens 1997: 282; Kühl 2011a; Mahlert 2011). Mitgliedschaft wird von Niklas Luhmann lediglich als zentrales Kriterium zur Bestimmung von Organisationen eingeführt. 9 Nun fallt jedoch auf, dass alltagssprachlich nicht nur bei Organisationen, sondern auch bei Gruppen, Bewegungen, Familien, Professionen und Netzwerken von Mitgliedern gesprochen wird. Es wird davon gesprochen, dass Mitglieder einer Gruppe von Jugendlichen, die ein Auto angezündet haben, vermutlich Mitglieder einer politisch motivierten Bewegung sind und dass die Eltern dafür zu sorgen haben, dass die jüngeren Familienmitglieder sich nachts
8
Die Ausdifferenzierung der verschiedenen Systemtypen
im Zeitraum von 1750 bis 1850 kann im R a h m e n dieses
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eben nicht auf der Straße herumtreiben. Es sind Mitglieder von Professionen, die sich dann um die Jugendlichen kümmern und aus den Mitgliedern von Gruppen, Bewegungen und Familien wieder respektierte Mitglieder der Gesellschaft machen sollen (gemeint ist dabei: der Gemeinschaft). Selbstverständlich spricht die alltagssprachliche Verwendung eines Begriffs allein noch nicht dafür, ihn dann auch für die soziologische Bestimmung sozialer Systeme zu verwenden. Aber die Anwendung des Mitgliedschaftsbegriffs auf eine Vielzahl sozialer Phänomene kann als Indiz dafür gewertet werden, dass es - so eine Formulierung von Bettina Mahlert (2011) - eine Vielzahl von mitgliedschaftsbasierten Sozialsystemen gibt. 10 Nicht nur bei Organisationen, sondern auch bei anderen sozialen Systemen erfolgt eine Zurechnung von Kommunikation darüber, ob eine Person als Mitglied betrachtet wird oder nicht. Personen können eben nicht nur in Organisationen, sondern auch in Familien, Bewegungen, Organisationen und weitergehend wohl auch in Professionen oder Schichten als „Identifikationspunkte der Kommunikation", als „Adressen für Kommunikation", als „Einheiten der Handlungszurechnung" dienen (siehe zu dieser Bestimmung Luhmann 2 0 0 5 a : 194). 11 Aber auch wenn man den Blick dafür öffnet, dass nicht nur Organisationen, sondern auch Gruppen, Bewegungen und Familien Personen als Mitglieder identifizieren und damit Kommunikationen zurechenbar machen, muss erklärt werden, weswegen es sich um verschiedene Systemtypen handelt. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass zwar alle Gruppen, Bewegungen, Organisationen und Familien Personen identifizieren, die als Mitglied dazugehören (oder eben nicht), dass aber die Mitgliedschaften dieser Personen zu den jeweiligen Systemtypen unterschiedlich gehandhabt werden. Daraus ergeben sich dann nicht nur - was spontan einleuchtend ist - verschiedene Formen der Grenzziehung der
Artikels nicht ausführlich dargestellt werden. Siehe dazu erste Überlegungen bei Kühl 2 0 1 3 . 9
L u h m a n n löst sich damit nicht nur konsequent von
10
Die Idee, dass Mitgliedschaft nicht nur ein Kriterium
einer Forschungstradition, die Organisationen vorrangig
von Organisationen, sondern auch beispielsweise von
über Zwecke bestimmt hat, sondern präsentiert auch ein
Familien und Freundesgruppen ist und sich als Bestim-
Organisationen
mungsmerkmal für unterschiedliche Typen von sozialen
gegenüber Interaktionen einerseits und Gesellschaft an-
Systemen eignet, ist erstmals von W i l Martens (1997: 2 8 2 )
eindeutiges Abgrenzungskriterium von
dererseits. W ä h r e n d die Anwesenheit der Beteiligten —
formuliert worden. D e n Hinweis auf diese frühe Formu-
und daran anschließend die gegenseitige W a h r n e h m u n g
lierung verdanke ich Simon Schlimgen.
der Beteiligten — das zentrale Kriterium der Grenzziehung
11
des sozialen Systems „Interaktion" ist und die kommuni-
präziser als der zurzeit in der Theoriediskussion populäre
Der Begriff der „Person" ist dabei für meine Zwecke
kative Erreichbarkeit die Grenzen des sozialen Systems
Begriff der „Adresse" (vgl. Fuchs 1997). Adresse ist der
„Gesellschaft" definiert, legten Organisationen, so Niklas
deutlich weitere Begriff, weil im Prinzip nicht nur Per-
L u h m a n n , ihre Grenzen durch die Definition von Mit-
sonen, sondern auch Tiere, Organisationen, Staaten und
gliedschaften fest (vgl. L u h m a n n 1975a).
Geister adressiert werden können.
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 6 5 - 8 5
jeweiligen Systemtypen, sondern auch unterschiedliche Formen von K o m m u n i k a t i o n , über die sich die verschiedenen Systemtypen reproduzieren.
2.1 Organisationen Mitgliedschaft - die Entscheidung über einen Personenkreis, dessen Entscheidungen als Entscheidungen der Organisation wahrgenommen werden - wird von den meisten Organisationsforschern unterschiedlicher theoretischer Ausrichtung als ein M e r k m a l von Organisationen angesehen (siehe z u m Beispiel Caplow 1964: 1 f.; M a y n t z / Z i e g l e r 1977: 34). In der Systemtheorie wird die Mitgliedschaft jedoch nicht n u r als ein, sondern als das zentrale Bestimmungsm e r k m a l von Organisationen angesehen. Organisationen, so L u h m a n n , bilden sich i m m e r d a n n aus, w e n n der „Eintritt ins System" u n d der „Austritt aus d e m System" als „entscheidbar vorausgesetzt wird" (vgl. L u h m a n n 1975c: 99; siehe auch L u h m a n n 1975a: 12). Die Organisation k a n n also darüber entscheiden, wer zu einem U n t e r n e h m e n , einer Verwaltung, einer Partei oder einem Sportverein gehören darf u n d wer nicht. U n d folgenreicher: Sie k a n n darüber bestimmen, wer ihr nicht mehr angehören soll, weil er oder sie den Regeln der Organisation nicht m e h r folgt. Die Organisation schafft Grenzen, in denen sich die Mitglieder (und eben n u r die Mitglieder) den Regeln der Organisation zu unterwerfen haben, u n d es h ä n g t p e r m a n e n t die D r o h u n g im R a u m , dass das Mitglied die Organisation zu verlassen hat, w e n n es die Regeln nicht befolgt ( L u h m a n n 1964: 4 4 f.). In Organisationen sind Entscheidungen über den Einu n d Austritt von Personen - die B e s t i m m u n g von Mitgliedschaften - ein zentrales I n s t r u m e n t , u m konformes Verhalten ihrer Mitglieder herzustellen. D u r c h die Möglichkeit, Mitgliedschaft zu konditionieren — d. h. ein Verhalten f ü r alle erwartbar zu machen, i n d e m m a n andernfalls mit A u f k ü n d i g u n g der Mitgliedschaft d r o h t —, k ö n n e n Organisationen Entscheidungskommunikation als eine systemspezifische Form der K o m m u n i k a t i o n ausbilden (vgl. L u h m a n n 2 0 0 2 : 160). 12 Das bedeutet nicht, dass in Organisationen jede K o m m u n i k a t i o n in Form der E n t s c h e i d u n g s k o m m u n i k a t i o n stattfindet. Es wird in Organisationen häufig wild debattiert, kritisiert
12 Bei Luhmann (1973a: 44) heißt es schon früh, dass formale Organisation „jene evolutionäre Errungenschaft" ist, die es den Entscheidungsprozessen ermöglicht, reflexiv zu werden.
u n d imaginiert. Aber die Besonderheit ist, dass d u r c h die Konditionierung der Mitgliedschaft jede K o m m u n i k a t i o n in eine E n t s c h e i d u n g s k o m m u nikation ü b e r f ü h r t werden k a n n ( L u h m a n n 1977: 284). D a m i t unterscheidet sich die K o m m u n i k a t i o n in Organisationen von der in Bewegungen, Familien u n d G r u p p e n , in denen zwar auch entschieden wird, in denen E n t s c h e i d u n g s k o m m u n i k a t i o n e n sich aber eben nicht in der gleichen Form rekursiv verknüpfen k ö n n e n .
2.2 Bewegung Die Systemtheorie hat sich d a m i t schwergetan, Bewegungen als soziales System zu bestimmen, u n d sie hat deswegen - nicht abgestimmt mit der übrigen soziologischen Bewegungsforschung - eine Engf ü h r u n g von Bewegungen auf Protestbewegungen v o r g e n o m m e n ( L u h m a n n 1991: 135 fF.; L u h m a n n 1997: 852; siehe im Anschluss an L u h m a n n auch Japp 1993: 2 3 0 ff. oder H e l l m a n n 1998: 5 0 0 ff). Diese E n g f ü h r u n g hat sicherlich den Vorteil, dass es gelingt, über P r o t e s t k o m m u n i k a t i o n - also über K o m m u n i k a t i o n e n , die „an andere" adressiert sind u n d „deren" V e r a n t w o r t u n g a n m a h n e n - den Systemcharakter von Bewegungen zu b e s t i m m e n u n d so ein klares Abgrenzungskriterium z u m Beispiel gegenüber M o d e n , Trends oder wissenschaftlichen Schulen zu liefern. P r o t e s t k o m m u n i k a t i o n k o m m t natürlich auch in G r u p p e n , in Familien oder in Organisationen vor, aber nur in Bewegungen diene Protest, so L u h m a n n , als „Katalysator einer eigenen Systembildung" ( L u h m a n n 1991: 135 f.). Protest als zentrales Element des Systembildungsprozesses k a n n d a n n auch erklären, weswegen sich besonders die Politik als Adressat f ü r P r o t e s t k o m m u n i k a t i o n anbietet. Anders als bei W i r t s c h a f t , Wissenschaft oder Religion k a n n bei der Politik davon ausgegangen werden, dass sie sich als Adressat f ü r Proteste auch über Fehlentwicklungen in Wissenschaft, W i r t s c h a f t oder Religion - besonders gut eignet. Schon L u h m a n n bemerkte jedoch, dass er mit d e m „engeren Begriff der Protestbewegung" zwar „weite Bereiche des P h ä n o m e n s der sozialen Bewegung" erfassen k a n n , aber eben nur „weite Bereiche" (Luhm a n n 1991: 135 ff). Aber d a m i t bleibt die Frage offen, wie soziale P h ä n o m e n e beschrieben werden k ö n n e n , die zwar eine hohe strukturelle Ä h n l i c h keit zu Protestbewegungen haben, aber nicht p r i m ä r über P r o t e s t k o m m u n i k a t i o n b e s t i m m t werden können. So haben religiöse Bewegungen überraschende Ähnlichkeiten mit politischen Bewegungen, auch
Stefan Kühl: Gruppen, Organisationen, Familien und Bewegungen
wenn sie eher selten auf den Modus des Protests zurückgreifen (vgl. nur Barker 1993 oder Eiben/Viehöver 1993). Auch im Feld der Erziehung lassen sich Bewegungen identifizieren, wenn man nur an die reformpädagogische Bewegung des zwanzigsten Jahrhunderts denkt. Auch wenn diese Bewegungen sich als Gegenkonzept zur dominierenden Form der schulischen Erziehung verstehen, so lassen sich Bewegungen doch nicht auf eine Protestbewegung reduzieren (vgl. beispielhaft und einführend Scheibe 2009). Aber selbst für solche Felder wie Sport könnte man diskutieren, ob die Szene der Fußballfans nicht Ähnlichkeiten mit politischen oder religiösen Bewegungen hat (vgl. Guilianotti 2002). Im Gegensatz zu Organisationen fallt es bei Bewegungen schwer, den Kreis der Mitglieder genau zu definieren (vgl. dazu schon früh im deutschsprachigen Raum Mayntz/ Ziegler 1977: 34; siehe später auch zum Beispiel Rammstedt 1978: 134; Neidhardt 1985: 194 ff.). Während es in Unternehmen, Verwaltungen oder Schulen leicht zu erkennen ist, welche Personen Mitglieder sind, ist es bei der Anti-AKW-Bewegung, der Friedensbewegung, der Frauenbewegung, der evangelikalen Bewegung oder der reformpädagogischen Bewegung schwer zu bestimmen, wer Mitglied ist und wer nicht. In der Forschung wird das Problem der Personenzuordnung häufig dadurch gelöst, dass die mit einer Bewegung assoziierten Personen in Aktivisten, Teilnehmer und Sympathisanten unterschieden werden, wobei die Aktivisten und Teilnehmer der Bewegung, die Sympathisanten aber der Umwelt der Bewegung zugerechnet werden (vgl. für eine populärwissenschaftliche Darstellung Rucht/Neidhardt 2001: 54l). 13 Aber statt diese Schwierigkeiten der klaren Personenzuordnung zum Anlass zu nehmen, um von „relativ unbestimmten Gebilde(n)" (ebd.: 540) zu sprechen, scheint es ergiebiger zu sein, zu bestimmen, welche Effekte diese Schwierigkeiten auf die Kommunikationsform von Bewegungen haben. Wenn man den von vorherein auf den Typus Protestbewegungen enggeführten Bewegungsbegriff aufgibt, kann man Bewegungen nicht allein über Protestkommunikation bestimmen (vgl. Luhmann 1997: 853). Zwar gibt es auch in religiösen Bewegungen, in reformpädagogischen Bewegungen, in den Lebensreformbewegungen oder in Bewegungen des Wirtschaftssystems Kommunikationen, „die an
13
Siehe dazu Guilianotti 2002, der Fußballanhänger, ganz ähnlich wie in der Forschung über Bewegung, in „Supporters, Followers, Fans, and Flaneurs" unterteilt.
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andere adressiert sind und deren Verantwortung anmahnen" (Luhmann 1991: 135); aber diese Kommunikationsform als die dominierende zu bezeichnen, würde den Charakter dieser Bewegungen nicht korrekt treffen. Allgemeiner lässt sich Wertekommunikation als dominierender Kommunikationsmodus beschreiben. Friedhelm Neidhardt hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass „operationalisierbare Zwecksetzungen" und „handlungsstrukturierende Programmatiken" nicht die Stärke sozialer Bewegungen sind und deswegen die Zwecke eher diffus gehalten werden (Neidhardt 1985: 195). Bewegungen kommunizieren dagegen eher mit Werten (vgl. Melucci 1995). Selbstverständlich werden Werte auch in anderen sozialen Systemen - man denke nur an Parteien oder Vereine als Sondertypus von Organisationen, an Familien mit ihren in der Regel durch die Eltern propagierten Wertekanons oder auch an die Massenmedien - kommuniziert, aber nur in Bewegungen dienen Werte wie Frieden, Umweltschutz oder Tierrechte als Katalysator der Systembildung. Aber auch wenn Werte wie Frieden, Umweltschutz, Gleichberechtigung oder Nächstenliebe als Referenzpunkt der Kommunikation in Bewegungen eine zentrale Rolle spielen, reicht ein Bezug aufWerte zur Systembestimmung nicht aus. Schließlich ist es das Merkmal von Werten, dass sie in ihrer allgemeinen Form breite Zustimmung erzeugen können. Für Frieden, Umweltschutz und Gleichberechtigung sind heutzutage schließlich - jedenfalls in der abstrakten Formulierung - (fast) alle. Werte werden in Bewegungen deswegen so gefasst, dass man sie auch mobilisieren kann. Das kann - wie das in religiösen Bewegungen häufig der Fall ist durch die Dramatisierung eines Wertes als besonders wichtig geschehen oder - wie die Bewegungen in der Wirtschaft zeigen - durch die „Entdeckung" von neuen, bisher unterschätzten Werten wie Partizipation oder Selbstverwirklichung. Eine besonders geeignete Form ist - und das erklärt die Engführung der Kommunikationsform in der Systemtheorie die Protestkommunikation, weil sie einen allgemeinen, von den meisten Menschen geteilten Wert wie Frieden oder Umweltschutz über die Abgrenzung gegen andere(s) spezifizieren kann. Aber hier liegt eben nur eine (wenn auch besonders einleuchtende) Möglichkeit, Wertekommunikationen so zu spezifizieren, dass die propagierten Werte mobilisierungsfähig sind, aber eben nicht die einzige.
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 6 5 - 8 5
2.3 Gruppe Wenn in der Soziologie von Gruppe als sozialem System die Rede ist, wird darunter ein System verstanden, in dem Personen in einem regelmäßigen, personenbezogenen Kontakt zueinander stehen. Sie werden deswegen in der Literatur auch als „Intimgruppen", „Face-to-Face-Gruppen" oder „Primärgruppen" bezeichnet. Man kann hierbei an eher „flüchtige" und „locker verbundende" Gruppen wie eine regelmäßig auf Tour gehende Reisegesellschaft denken, an einen Kreis von Freunden, an Cliquen pubertierender Jugendlicher, an an Straßenecken herumlungernde Straßengangs oder an sich regelmäßig im Wirtshaus treffende Mietshausbewohner (Luhmann 1964: 34). Aber es fallen auch „stabilere Formen" darunter wie „autonome" linke politische Gruppen mit ihren weit ins Private reichenden Ansprüchen an ihre Mitglieder, kleine terroristische Zusammenschlüsse wie die „Baader-Meinhof-Gruppe" oder religiöse Gruppierungen, die sich jenseits der Initiative von Kirchenorganen entwickelt haben und in denen auch persönliche Themen besprechbar sind.14 Gruppen bestehen - anders als Organisationen aus einem bestimmten, unverwechselbaren Kreis von Mitgliedern, die sich gegenseitig kennen, weswegen Abwesenheiten von Gruppenmitgliedern von allen bemerkt werden. Zwar zerfällt eine Gruppe nicht automatisch, wenn Personen aus der Gruppe ausscheiden oder neue hinzustoßen, aber sowohl die Kompensationsfähigkeit von Personenverlusten als auch die Aufnahmefähigkeit von neuen Personen ist in Gruppen stark begrenzt. Neuzugänge werden unter dem Gesichtspunkt beobachtet, dass damit die Zusammengehörigkeit in der Gruppe - die persönliche Bezugnahme der Gruppenmitglieder - nicht gestört wird. Diese begrenzte Fähigkeit zur Auswechslung von Personen führt in Kombination mit den häufig nur implizit entstandenen Normen dazu, dass das Verhalten von Mitgliedern in Gruppen viel schwieriger konditioniert werden kann als das Mitgliederverhalten in Organisationen. Zwar bilden sich in Gruppen - genauso wie in Bewegungen, Organisationen
und Familien — Normen für „richtiges Verhalten" aus. Diese entstehen in der Regel jedoch eher beiläufig. In Gruppen stehen - anders als in Organisationen - keine Verfahren zur Verfügung, um Normen zu ändern oder zu erweitern (vgl. Tyrell 1983a: 80).15 In der Kommunikation des Systemtypus herrscht anders als in Organisationen oder Bewegungen vorrangig eine „personale Orientierung" zwischen den Mitgliedern (Luhmann 2008: 21/3d27fc). „Personale Orientierung" in Gruppen bedeutet, dass „persönliche Kommunikation" nicht nur „zulässig" ist, sondern auch „erwartet" und sogar „verlangt werden kann." Das bedeutet, dass in der Kommunikation gute „Personalkenntnis erforderlich" ist, damit man „abschätzen kann, was der andere verstehen kann" und was nicht (Luhmann 2008: 21 /3d27fc2). 16 Auch wenn persönliche Kommunikation der dominierende Kommunikationsstil ist, finden sich in Gruppen selbstverständlich ebenfalls beispielsweise Entscheidungskommunikationen oder auch Protestkommunikationen. Aber diese Kommunikation muss letztlich immer auch mit einer Referenz auf eine „personale Orientierung" legitimierbar sein.17
15
Anders als Organisationen fällt es Gruppen also schwer,
Mitgliedschaft zu einer klar definierten
„Sonderrolle"
auszubauen, an die die Erfüllung einer Reihe von entschiedenen Erwartungen geknüpft werden kann (Tyrell 2 0 0 8 : 303). Es ist deswegen deutlich schwieriger, einem Mitglied einer Freundesgruppe, einer Straßengang oder eines Gebetskreises mit dem Verweis a u f einen drohenden Ausschluss aus der Gruppe bestimmte Verhaltenserwartungen abzuverlangen als dem Mitarbeiter in einem U n ternehmen, einem Krankenhaus oder einer Verwaltung. 10
Die Angaben zum Stichwort „Gruppe" in L u h m a n n s
Zettelkasten wurden von mir im R a h m e n einer ersten Sichtung erhoben, die dazu dienen sollte, einschätzen zu können, inwiefern der Zettelkasten Einsichten zu Themen bietet, die von L u h m a n n nicht in Publikationen aufgegriffen wurden. Die zentralen Nennungen zum Thema Gruppe unter der N u m m e r 2 1 / 3 d 2 7 f C sind dabei insofern widersprüchlich, als L u h m a n n über mehrere Zettel Grundzüge eines Konzepts von Gruppe als sozialem System entwickelt hat (Zitat: Gruppe ist „zu behandeln als Typik von Systembildung, die nicht a u f Interaktion, Organisation
und Gesellschaft
zurückgeführt
werden
kann"), um dann auf dem letzten Zettel in Reaktion auf die Vorschläge von Neidhardt und Tyrell lapidar festzu-
14
L u h m a n n ( L u h m a n n 1 9 6 4 : 3 4 ) scheint in dieser frü-
hen Aufzählung selbst noch schwankend. Er führt die Beispiele allgemein ein - als „Gesetz", dass das Zusammenleben davon abhängt, dass „relativ feste wechselseitige Verhaltenserwartungen gebildet werden", entnimmt seine Beispiele dann aber der Kleingruppenforschung im engeren Sinne.
stellen, dass „Gruppe nicht als ein besonderer Typus sozialer Systeme anzuerkennen", sondern lediglich als ein „Modus von Interaktion und Interaktionshäufung" zu verstehen sei ( L u h m a n n 1998: 21 / 3 d 2 7 f C 5 ) . 17
Die Soziologie hat sich bisher damit schwergetan, die
Konzepte von Freundschaftsdyaden und Freundesgruppen zu trennen (siehe Tyrell 1983a, dessen Konzept suggeriert,
Stefan Kühl: Gruppen, Organisationen, Familien und Bewegungen 2.4 Familien
Weil auch in Familien eine personale Orientierung der Kommunikation vorherrscht, werden Familien häufig als eine Sonderform von Gruppe behandelt (vgl. zum Beispiel prominent Tyrell 1983b). Aber es fallt auf, dass die Mitgliedschaft in Familien eine andere Rolle spielt als in Gruppen. Es gibt offensichtlich zwei Möglichkeiten, Mitglied einer Familie zu werden, und beide Möglichkeiten müssen genutzt werden, damit eine Familie überhaupt zustande kommt: die Bildung einer Beziehung zwischen in der Regel gegengeschlechtlichen Partnern und die Angliederung von Kindern entweder durch Geburt oder Adoption. Mit der Geburt oder Adoption eines Kindes im Rahmen einer Beziehung ist eine neue Familie also „vollständig auf den Weg gebracht". „Alle notwendigen Positionen - Vater, Mutter und Kind - sind besetzt, auch wenn sich diese Familie um weitere Kinder (aber nicht mehr um weitere Eltern) vermehren mag" (so H a r t m a n n Tyrell 1983b: 364 in einer frühen, teilweise noch durch ein normatives Bild der Familie geprägten Bestimmung). Die von Tyrell später propagierte Bestimmung von Familien über eine häufig „riskante Kopplung von Partnerschaft und Elternschaft" scheint eine Weiterentwicklung der eher harmonischen Darstellung „Vater - Mutter - Kind" zu sein. Die Logik der Partnerschaft, so der Gedanke Alois Heriths und H a r t m a n n Tyrells, ist häufig eine ganz andere Logik als die der Elternschaft. In der Familie werden diese beiden Logiken gekoppelt (Tyrell / Herith 1994: 1 ff.; siehe dazu auch Tyrell 2008: 317). Diese Aufspaltung der Bestimmung von Familien in Partnerschaft einerseits und Elternschaft andererseits ermöglicht es auch, über den Aspekt der Mitgliedschaft den Blick auf Familien genauer zu bestimmen. Bei Elternschaften können Mitgliedschaften nicht einfach aufgekündigt werden. Kinder können nicht einfach aus der Familie ausgeschlossen werden, wenn sie sich nicht gemäß den Ansprüchen der
dass auch die Freundschaft zwischen zwei Personen eine Freundesgruppe darstellt). Mein vorläufiger Vorschlag basiert darauf, Freundschaftsdyaden und Freundesgruppen analytisch auseinanderzuhalten. Wenn man mit einer Person befreundet ist (Freundschaftsdyade), heißt das noch lange nicht, dass m a n auch mit deren Freund(en) befreundet ist. Wenn m a n aber mit dem Freund (oder den Freunden) eines Freundes befreundet ist, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich eine Gruppe bildet, in der das Verhalten der Mitglieder durch eine personale Orientierung geprägt wird.
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Eltern verhalten. Und auch die eigene Kündigung der Familienmitgliedschaft durch die Kinder selbst fällt schwer. Kinder sind sich dieser Unmöglichkeit des Ausschlusses bewusst und nutzen dies mit spektakulären Widerstandsaktionen gegen ihre Eltern besonders bei großen Familienfesten oder in den Warteschlangen vor den Kassen des Supermarktes aus. Motto: Was soll schon passieren, die können mich ja nicht einfach entlassen. Bei Partnerschaften ist die Auflösung einer Mitgliedschaft nicht nur vorstellbar, sondern - jedenfalls in der modernen Gesellschaft - die Regel. Auch wenn man auf den ersten Blick den Eindruck bekommen kann, dass eine Beziehung - ähnlich wie die Mitgliedschaft in einer Organisation - „kündbar" ist (vgl. Tyrell 2008: 317), muss doch der besondere Charakter von Partnerschaften im Auge behalten werden. In einer Beziehung ist es nur schwerlich möglich, beim Partner Verhaltensweisen einzuklagen, indem man ihm bzw. ihr mit Trennung droht. Wenn ein Partner die Fortführung der Partnerschaft unter die Bedingung stellt, dass im Haushalt regelmäßig geputzt wird, künftig vorsichtiger Auto gefahren wird oder auf weitere Liebesabenteuer mit anderen Geschlechtspartnern verzichtet wird, hat man es bereits mit deutlichen Krisenerscheinungen zu tun. Trotz (oder vielleicht besser: gerade wegen) dieser Fragilität der Mitgliedschaft ist heute in Familien Intimkommunikation nicht nur in einem im Vergleich zur vormodernen Gesellschaft überraschend hohen Maße erlaubt, sondern geradezu gefordert (ausführlich und aufschlussreich Gilgenmann 1994: 66; siehe auch Luhmann 2005b: 213).18 Intimkommunikation bedeutet nicht, dass die Kommunikation in Familien durch ein permanentes Liebesgesäusel geprägt ist. Dafür gäbe es empirisch wenig Plausibilität. Vielmehr besagt Intimkommunikation,
18 Dass Elternschaft und Partnerschafft die gleiche Kommunikationsform zugewiesen wird, mag überraschen. Schließlich wurde der Begriff der Intimkommunikation ursprünglich nur für die durch das romantische Liebesideal geprägte Partnerschaft verwendet (Luhmann 1982) und dann später auf Familien als Ganzes — also auch auf die Elternschaft - ausgeweitet (Luhmann 2005a). Auch wenn die Semantik in Partnerschaft u n d Elternschaft auf den ersten Blick überraschend ähnlich ist (so beispielsweise die Aussage „Ich liebe dich", die sowohl Kindern als auch Partnern gegenüber verwendet wird), müssen Ä h n lichkeiten und Unterschiede in der Intimkommunikation in Partnerschaft und Elternschaft noch näher untersucht werden (siehe Tyrell / Herith 1994: 6 ff. zur „bürgerlichen Einheitssemantik", die sicherlich für die Ähnlichkeit in der Kommunikationsform verantwortlich ist).
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dass „alles, was eine Person betrifft," prinzipiell „für Kommunikation zugänglich ist." Geheimhaltung könne, so Luhmann, von Eltern, aber auch von Kindern praktiziert werden, „aber sie hat keinen legitimen Status." M a n könne in der Familie „eine Kommunikation über sich selbst nicht ablehnen mit der Bemerkung: das geht Dich nichts an!" (Luhmann 2005a: 193). Intimkommunikation unterscheidet sich von persönlicher Kommunikation dadurch, dass in der Intimkommunikation der Anspruch besteht, alle anderen Rollen thematisieren zu können, während in der persönlichen Kommunikation nur der Anspruch erhoben werden kann, einige andere Rollen zu thematisieren. In einer Interaktion im Freundeskreis kann die Frage nach vielleicht skurril wirkenden religiösen Praktiken zurückgewiesen werden, während die Nichtbeantwortung der Frage in einer Paarbeziehung erklärungsbedürftig wäre."
3. Folgeprobleme der Differenzierung mitgliedschaftsbasierter Systeme Während in den Selbstbeschreibungen von Familien, Gruppen, Bewegungen und Organisationen nicht selten die Vereinbarkeit der Mitgliedschaft im eigenen System mit der Mitgliedschaft in anderen Systemen betont wird - Stichwort: „Wir sind ein familienfreundliches Unternehmen" - , hebt die Soziologie eher die Spannungen hervor, die sich daraus ergeben, dass Personen den Verhaltenserwartungen unterschiedlicher sozialer Systeme ausgesetzt sind. Obwohl die Kollisionen zwischen Bewegungen, Gruppen, Organisationen und Familien empirisch unterschiedlich relevant sind und deswegen in der soziologischen Forschung auch unterschiedlich stark beforscht wurden, sollen sie wenigstens für alle Kombinationsmöglichkeiten von Gruppe, Bewegung, Organisation und Familie kurz aufgezeigt werden.
3.1 Spannungsfelder von Bewegung, Gruppe, Organisation und Familie In den Selbstbeschreibungen von Bewegungen finden sich häufig einerseits Aussagen darüber, dass die Bewegung auf Organisation(en) angewiesen sei, und 19 Die Unterscheidung von I n t i m k o m m u n i k a t i o n u n d persönlicher K o m m u n i k a t i o n ist noch nicht systematisch ausgearbeitet worden. Insofern handelt es sich hier u m eine vorläufige Bestimmung. Interessant wären dabei besonders die Exklusivitätsansprüche, die in einer K o m m u nikation vermittelt werden.
andererseits Postulate der Organisationen, dass sie in ihrem eigenen Verständnis letztlich nur Instrumente der jeweiligen Bewegung seien (vgl. Etzioni 1975: 121 ff.). In der soziologischen Forschung über Bewegungsorganisationen ist jedoch herausgekommen, dass sich Spannungen zwischen den Bewegungen und „ihren" Organisationen ausbilden (vgl. z.B. Raschke 1988: 206 f.). Friedhelm Neidhardt sieht in der Spannung zwischen den Systemlogiken von Bewegungen und Organisationen sogar das zentrale Dilemma von Bewegungen. Wenn Bewegungen zu Organisationen werden - oder sie sich vorrangig auf Organisationen stützen - , dann verlieren sie ihre „attraktive Eigenart", sie werden nicht zu Organisationen, sondern sie laufen Gefahr, „zersplittert oder überrollt zu werden" (vgl. Neidhardt 1985: 202). Während die Spannungen zwischen Bewegungen und Organisationen vergleichsweise gut untersucht sind, spielt die Beziehung von Bewegungen zu Familien in der soziologischen Forschung eine eher untergeordnete Rolle. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass Bewegungen, die - wie beispielsweise die Kibbuz-Bewegung in Israel — Ansprüche an die Gestaltung des Familienlebens stellen, eher selten sind (siehe Kahane 1975). Empirisch relevanter sind sicherlich die Fälle, in denen die Ansprüche von Familien mit den Ansprüchen von Bewegungen zum Beispiel über Zeitbudgets - konkurrieren. Weil jedoch das Engagement in Bewegungen häufig nur zeitlich befristet ist, sind auch solche Kollisionen eher selten zu finden. Auch die Beziehungen zwischen Bewegungen und auf persönliche Kommunikation ausgerichteten Gruppen sind bisher vergleichsweise wenig untersucht worden. Dies ist insofern überraschend, als man vermuten kann, dass sich nicht nur im Rahmen von Bewegungen Freundeskreise bilden, sondern die Mitgliedschaft in einem Freundeskreis auch ein wichtiges Motiv ist, sich in einer Bewegung zu engagieren. Wenn sich die eigenen Freunde in der Friedensbewegung oder in der Frauenbewegung engagieren, ist es wahrscheinlich, dass man selbst es auch macht. Konflikte scheinen immer dann zu entstehen, wenn sich - nicht selten gruppiert um Paare oder Freundeskreise - eine Gruppe im Vergleich zur Bewegung politisch radikalisiert (vgl. die aufschlussreiche Fallstudie von Neidhardt 1982: 320ff.). A m ausführlichsten ist in der Forschungsliteratur das Spannungsfeld zwischen Familien und Organisationen herausgearbeitet worden. Während im Zuge der Ausdifferenzierung von Organisationen wie Armeen, Unternehmen und Schulen in den militä-
Stefan Kühl: Gruppen, Organisationen, Familien und Bewegungen rischen, erzieherischen und betriebswirtschaftlichen Reflexionstexten immer wieder darauf verwiesen wurde, dass die Mitgliedschaft in diesen Organisationen selbstverständlich mit einer Mitgliedschaft in einer Familie vereinbar sei, wird gerade in den soziologischen Beschreibungen das Spannungsfeld zwischen Organisation und Familie dargestellt (vgl. zum Beispiel Treiber/Steinert 1980). Die Spannungen zwischen Schulen und Familien über die Erziehungshoheit für Schüler (vgl. Dreeben 1968), die Auseinandersetzungen zwischen Armeen und Familien über die ZugrifFsmöglichkeiten auf junge Erwachsene (vgl. Shils / Janowitz 1948) und die Debatten in Unternehmen über „Work-Life-Balance", in denen es in der Regel um Ausbalancierung der Ansprüche von Organisationen und Familien geht (vgl. Oechsle 2008), sind nur besonders prominente Beispiele, in denen die Spannungen thematisiert werden, die sich aufgrund der AusdifFerenzierung von Organisation und Familie ergeben haben. Auch beim Verhältnis zwischen Gruppe und Organisation wurde anfangs eher von einem sowohl für die Gruppe als auch für die Organisation produktiven Ergänzungsverhältnis ausgegangen. Zwar wurde in den sozialpsychologisch inspirierten Experimenten über die tayloristische Arbeitsorganisation die Gruppe - gerade im Kontrast zur Organisation - als Hort der Menschlichkeit konzipiert. Sehr schnell aber wurde dieser Kontrast mit der These aufgehoben, dass Organisationen das Prinzip der Bildung von Gruppen nicht nur zulassen, sondern sogar fördern sollten, weil dadurch gleichzeitig die Arbeitszufriedenheit und die Produktivität gefördert werden würden. Erst langsam setzte sich in der soziologischen Forschung die Erkenntnis durch, dass — wenn man Gruppen und Organisationen als Systeme mit jeweils eigenen Logiken versteht - ein harmonisches Ineinandergreifen von Gruppen und Organisationen eher unwahrscheinlich ist. Die Systemtypen Familie und Gruppe treten miteinander in Kontakt in der Form der auf „romantischer Liebe" basierenden Ansprüche in der Partnerschaft und in der Form der auf Ansprüchen nach „empfindsamer Freundschaft" basierenden Gruppen. Sicherlich kann man, wie Johannes Schmidt (2007: 120) prägnant herausgearbeitet hat, in der Ausbildung der Freundschafts- und Liebessemantik von einem „diachronen Ergänzungsverhältnis" ausgehen, im Fall eines Kontaktes von Gruppen und Familien kann es aber auch häufig zu Rollenkonflikten einzelner Personen kommen. Man braucht dabei nicht nur an die gespaltenen Loyalitäten eines Elternpaares zur Fa-
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milie einerseits und zu einer Freundesgruppe andererseits zu denken, sondern kann sich den Konflikt vor Augen führen am Beispiel von Kindern und den miteinander konkurrierenden Ansprüchen der Sozialisation durch die Freundesclique zum einen und der Erziehung durch die Familie zum anderen. 3.2 Jenseits einer rollentheoretischen Perspektive Weil es sich bei Gruppen, Familien, Bewegungen und Organisationen um Systeme handelt, die auf der Bestimmung von Mitgliedschaft (oder Nichtmitgliedschaft) von Personen basieren, bietet sich bei der Betrachtung des Zusammenspiels der Systemtypen die in der Soziologie bewährte Darstellung über Rollenkonflikte an. Grundgedanke ist dabei immer, dass es in der modernen Gesellschaft zur AusdifFerenzierung verschiedener sozialer Systeme mit jeweils eigenen Anforderungen kommt. In Ausnahmefällen mag eine einzige Rolle eine Person dominieren - zum Beispiel, wenn sie ausschließlich Vater, Bewegungsaktivist, Organisationsmitglied oder guter Kumpel ist - , der Regelfall ist jedoch, dass Rollenanforderungen von verschiedenen Systemen an eine Person herangetragen werden. Eine systemtheoretische Perspektive braucht sich jedoch nicht auf die Formulierung von Rollenkonflikten zu beschränken. Sie kann vielmehr systematisch untersuchen, in welcher Form die verschiedenen sozialen Systeme aufeinander Bezug nehmen. Die Möglichkeiten für solche Analysen sollen im Folgenden wenigstens kurz angedeutet werden.
4. Verschachtelungen, Kombinationen und Übergänge Es gehört zu einer der bekannten Pathologien der Systemtheorie, dass erhebliche Energie dafür aufgewendet wird, neue soziale Systeme ins Gespräch zu bringen, ohne jedoch zu zeigen, wie sich durch die Bestimmung eines neuen Systems mit seinen Grenzen, seinen Operationen und seinen Codes die soziologische Beschreibung des als System geadelten sozialen Phänomens verändert. Bei einer Diskussion verschiedener sozialer Systeme zwischen Interaktion und Gesellschaft besteht die Herausforderung deswegen darin, nicht einfach die Existenz solcher sozialen Systeme zu proklamieren, sondern aufzuzeigen, welche zusätzlichen Erkenntnismöglichkeiten durch die Unterscheidung zwischen Familien, Or-
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ganisationen, Bewegungen und Gruppen gewonnen werden können. Dafür soll im Folgenden auf ein theoretisches Mittel zurückgegriffen werden, das Luhmann in seinem Artikel über Interaktion, Organisation und Gesellschaft genutzt hat. Die Pointe der Luhmann'schen Unterscheidung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft ist ja nicht (nur), dass auf der Grundlage der Mechanismen „Selbstselektion" und „Grenzziehung" verschiedene „Formen der Systembildung" unterschieden werden und deren Ausdifferenzierung im Zuge der „soziokulturellen Evolution" dargestellt wird, sondern dass gezeigt werden kann, wie soziale Systeme miteinander in Beziehung stehen. Hintergrund für diese Perspektive ist, dass soziale Systeme sich nicht wechselseitig ausschließen müssen, weil Kommunikationen immer mehreren Systemen zugleich zugerechnet werden können. Soziale Systeme, so das bekannte Zitat Luhmanns, sind „nicht notwendig wechselseitig exklusiv" - so wie „Dinge im Raum". Einerseits, so das Beispiel, sei eine Fakultätskonferenz ein Interaktionssystem „mit einer eigenen Ablaufgeschichte". Sie sei aber „zugleich System in einer Organisation", die wiederum „Teilorganisation einer größeren Organisation" sei, die wiederum dem gesellschaftlichen Funktionssystem Erziehung zugerechnet werden kann (Luhmann 1975a: S. 18 f.). Aufgrund der Differenzierung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft auf drei Ebenen musste Luhmann bei den Beziehungen dieser drei Systeme zu- bzw. untereinander fast zwangsläufig an das Prinzip der Verschachtelung denken. „Jedes Interaktionssystem" und „jedes Organisationssystem" gehöre, so Luhmann, auch zu einem „Gesellschaftssystem", und ein „Interaktionssystem" könne (müsse es aber nicht) auch einem „Organisationssystem" angehören (vgl. Luhmann 1975a: 18). Es existieren - ganz in diesem Sinne - aber auch Verschachtelungen zwischen Gruppen, Bewegungen, Organisationen und Familien. Man denke nur an die durch die Human-Relations-Bewegung in den Fokus genommenen Gruppen mit stark personenbezogener Kommunikation, die sich parasitär in Organisationen bilden, oder an politische Bewegungen, innerhalb derer sich Protestorganisationen ausdifferenzieren. Weil Kommunikationen mehreren Systemen zugleich angehören können, gibt es auch Fälle, in denen Gruppen, Organisationen, Bewegungen und Familien nicht miteinander verschachtelt sind, sondern ohne Primat eines sozialen Systems ineinander verwoben sind. Aber es ist in der Forschung auch gezeigt worden, dass ein System seinen System-
typus verändert, beispielsweise wenn eine Protestbewegung irgendwann zu einer öffentlich geförderten Protestorganisation „verkommt" oder wenn aus einer Gruppe von Freunden eine profitorientierte Organisation wird, bei der sich kaum noch einer daran erinnert, dass die Organisationsgründer auch einmal miteinander befreundet waren. Ohne den Anspruch zu haben, Formen der Verschachtelung, Kombination und Ubergänge hier näher auszuarbeiten, sollen im Folgenden die Erkenntnismöglichkeiten eines so ausgerichteten Forschungsprogramms exemplarisch aufgezeigt werden.
4.1 Verschachtelungen Obwohl Gruppen, Bewegungen, Organisationen und Familien analytisch erst einmal gleichrangig zwischen Interaktion und Organisation angesiedelt sind, können sie auch ineinander verschachtelt werden. In Organisationen, die formale Mitgliedschaftsbedingungen festlegen, können sich Gruppen bilden, in denen nicht nur die Durchsetzung informeller Erwartungen konzentriert wird, sondern auch persönliche, weit über die Organisation hinausgehende Themen behandelt werden. 2 0 Im Rahmen einer Bewegung kann sich eine Vielzahl von Organisationen ausbilden, die sich in ihren Selbstbeschreibungen als Teil der Bewegung definieren. Während man sich bei einer Unterscheidung von Interaktionen, Organisationen und Gesellschaften immer nur die eine Richtung der Verschachtelung vorstellen kann - zum Beispiel nur Interaktionen in Organisationen, aber nicht Organisationen in Interaktionen - , können bei den Systemen Gruppe, Organisation, Bewegung und Familie theoretisch beide Richtungen der Verschachtelung existieren. So 20
Bei Gruppen handelt es sich nicht
um Teams, Abtei-
lungen oder Arbeitsgruppen (Letztere sind formale Subsysteme der Organisation). In Einzelfällen können Teams und Gruppen zusammenfallen, zum Beispiel dann, wenn ein teilautonomes Arbeitsteam in der Automobilindustrie identisch ist mit einer Gruppe von Freunden. Soziologische Studien über Machtprozesse in teilautonomen Arbeitsteams lassen das jedoch eher unwahrscheinlich erscheinen (siehe nur Fröhlich 1983 oder Kühl 2001). Meines Erachtens scheint es überzogen zu postulieren, dass die „moderne Organisation [...] die Sozialform Gruppe gleichsam als unvermeidliches Beiprodukt" mit hervorbringt ( W i m m e r 2 0 0 7 : 275). Statt den Automatismus eines Gruppenbildungsprozesses in Organisationen zu konstatieren, scheint es interessanter zu sein, näher zu untersuchen, unter welchen Bedingungen sich informelle Erwartungen in Organisationen über Gruppen kristallisieren.
Stefan Kühl: Gruppen, Organisationen, Familien und Bewegungen
gibt es Organisationen, die Familien beschäftigen, aber auch Familien, die zum Beispiel in Form einer Gaststätte eine Organisation betreiben. Es existieren Gruppen, die sich im Rahmen von Organisationen bilden, aber auch Gruppen, aus der eine Organisation — zum Beispiel eine politische Organisation oder ein Unternehmen - hervorgeht. Aber aufgrund der unterschiedlichen Möglichkeiten der verschiedenen Systemtypen, ihre Mitgliederzahlen expandieren zu lassen, sind natürlich einige Verschachtelungen wahrscheinlicher als andere (vgl. Geser 1980 zur Soziologie kleiner Systeme). Der Kerngedanke ist, dass das „übergeordnete" System nicht das „untergeordnete" System determiniert. In Organisationen bilden sich (informelle) Gruppen, die natürlich durch die Organisationen beeinflusst werden, die aber auch ihre eigene Logik haben können (in deren Rahmen wiederum Interaktionen zu beobachten sind, die auch eigenen Logiken unterliegen). Im Rahmen von Protestbewegungen bilden sich sowohl Freundesgruppen als auch Protestorganisationen, die nicht einfach nur ein Subsystem der Protestbewegung sind, sondern in ihren Funktionsweisen jeweils auch durch die spezifischen Mechanismen von Gruppen beziehungsweise Organisationen geprägt werden. Systembildungen auf verschiedenen Ebenen setzen sich, so Luhmann, wechselseitig voraus, „sind aber nicht aufeinander zurückführbar, sondern durch ihren jeweiligen Reduktionsstil selbständig und unersetzbar" (Luhmann 1972b; siehe auch Tyrell 2008: 306). 4.2 Kombinationen
Der klassische Versuch zur Erweiterung des Schemas von Interaktion, Organisation und Gesellschaft besteht darin, neue „Kandidaten" einzuschieben. So lautet - wie oben geschildert - ein prominenter Vorschlag von Hartmann Tyrell, Gruppe zwischen Interaktion und Organisation einzuflechten und dabei dann Freundesgruppen und Familien als zwei unterschiedliche Typen von Gruppen zu behandeln (besonders Tyrell 1983a, 1983b). Es wird dabei an die in der Gruppensoziologie vertretene Auffassung angeknüpft, dass Gruppen eine „Mittlerstelle" zwischen Individuum und Organisationen, aber auch beispielsweise zwischen Schichten einnehmen (Willke 1978: 343; gruppensoziologisch besonders relevant Dunphy 1972: 32 ff.).21
21
Ein anderer, weit weniger diskutierter Vorschlag basiert darauf, zwischen Organisation und Gesellschaft das
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Weil Kommunikationen mehreren Systemen zugleich angehören können, können sich Systeme bilden, in denen Gruppen, Organisationen, Bewegungen und Familien nicht ineinander verschachtelt werden, sondern ohne Primat eines sozialen Systems ineinander verwoben sind. Man denke nur an die Gründung eines Unternehmens durch eine Familie. Solange keine zusätzlichen Angestellten eingestellt werden, ist es wahrscheinlich, dass weder die Familien- noch die Organisationslogik dominiert. Auch die inzwischen vergleichsweise gut untersuchten Face-to-Face-Organisationen sind nicht selten dadurch gekennzeichnet, dass die Mitglieder einer Gruppe von Freunden weitgehend identisch sind mit den Mitgliedern eines Kleinunternehmens (Kühl 2002). Wenn man sich die Experimente mit Wohngruppen ansieht, in denen nicht nur gemeinsam gewohnt und gegessen, sondern auch Kinder großgezogen werden sollen, dann ist es schwer zu sagen, ob eher Gruppenlogiken oder eher Familienlogiken dominieren. Die Beispiele der sozialistischen Bewegung oder der Antiglobalisierungsbewegung zeigen, dass es so starke Überschneidungen zu Organisationen gibt, dass die Bewegung nahezu identisch mit einer - mehr oder minder stark formalisierten Organisation ist. Ob es dann eher das Prinzip der Bewegung oder eher das Prinzip der Organisation ist, das in Führung geht, kann nur empirisch geprüft werden. 4.3 Übergänge
Ein Effekt der Begrenzung auf einige wenige Systemtypen unterhalb der Gesellschaftsebene ist, dass die Veränderung von einem Systemtypus zu einem anderen bisher weder besonders stark empirisch untersucht noch theoretisch sinnvoll konzipiert werden konnte. So ist bisher nicht geklärt, wie es theoretisch zu fassen ist, wenn beispielsweise eine Gruppe zu einer Organisation wird oder eine Bewegung nur noch in Form einer - durch Steuern oder Spenden finanzierten - Organisation weiterexistiert. 22 Eine solche Theorie kann und soll an dieser Stelle nicht
Netzwerk als „echtes Emergenzphänomen" zu verorten, das sich jenseits von „Vertrag" und „Organisation" ausbildet (Teubner 1992: 190). 21 So ist es eine interessante empirische Forschungsperspektive, wie sich aus der Verkettung von Face-toFace-Interaktionen eine Gruppe ausbildet, die über ihre Systemgeschichte zukünftige Interaktionen prägt und beispielsweise auch die vorübergehende Abwesenheit einzelner Interaktionspartner bemerkt und verträgt.
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geliefert werden, aber es soll wenigstens aufgezeigt werden, welche theoretischen Herausforderungen dabei bestehen. Verschiedene Formen von Übergängen von einem Systemtypus zu einem anderen sind in der Forschung näher untersucht worden. Man denke nur an die Freundeskreise, die sich ursprünglich getroffen haben, um gemeinsam am Computer herumzubasteln, und dann zum Kern eines schnell wachsenden Unternehmens wurden, an eine Nachbarschaftsgruppe, die sich politisch engagiert hat und immer mehr zu einer politischen Lobbyorganisation mit eigenen Satzungen, Mitgliedslisten und Beitragsordnungen wird, oder an eine Clique von Fußball-Hooligans, die sich ursprünglich regelmäßig zu einem ehrlichen „Fünfzehn gegen Fünfzehn" mit gegnerischen Fans verabredete, die sich - wie in den 1980er Jahren in Großbritannien üblich — zu einer Loge entwickeln konnte, in der Mitglieder einen Mitgliedsausweis erhielten und monatliche Beiträge entrichteten, die dazu verwendet wurden, um die von Gerichten verhängten Strafgelder für einzelne Mitglieder zu bezahlen (vgl. Allan 1989). Auch aus Bewegungen können Organisationen werden, indem zuerst aus Bewegungen heraus Parteien, Gewerkschaften, Kirchen oder Lobby-Organisationen ausdifferenziert werden (vgl. Rammstedt 1978: 167 ff.), die dann bestehen bleiben, auch wenn die Bewegungen selbst nicht mehr als Bewegungen wahrnehmbar sind. 2 3 Eine Bewegung kann sich auflösen, weil ihr Thema nicht mehr genügend Personen mobilisieren kann, aber die Organisationen, die im Rahmen der Bewegung gegründet wurden, können weiterexistieren, weil sie beispielsweise über Spenden oder Zuschüsse in der Lage sind, die dort arbeitenden Organisationsmitglieder zu bezahlen (vgl. Hellmann 2002: 30 ff.). Diese Ubergänge von einem Systemtypus zum anderen sind besonders dann zu beobachten, wenn eine Gruppe, Bewegung oder Familie zu einer Organisation wird. Gruppen, Bewegungen oder Familien entwickeln dabei zunehmend Kriterien für die Mitgliedschaft, heben diese Kriterien verstärkt ins Bewusstsein der Mitglieder und richten darüber deren Verhalten nach immer deutlicher formulierten
Mitgliedschaftsbedingungen aus. 2 4 Prinzipiell ist auch ein umgekehrter Prozess vorstellbar, beispielsweise wenn eine ehemals straff organisierte politische Organisation nur als Kern einer Bewegung weiterexistiert oder wenn ein ehemals ökonomisch erfolgreiches Kleinunternehmen nach der Pleite als Freundesgruppe seine Fortsetzung findet. Aber es spricht viel dafür, dass dies eher die Ausnahme ist.
5. Fazit - Zu den Möglichkeiten eines theoretischen Modells Der gemeinsame Mechanismus von Organisationen, Gruppen, Familien und Bewegungen besteht, wie gezeigt, in Mitgliedschaft als Mechanismus der Grenzziehung. Es wird in diesen sozialen Systemen permanent gescannt, ob eine Person, die einen Kommunikationsbeitrag leistet, als Mitglied des sozialen Systems behandelt wird oder nicht. Sie sind dabei aber nicht auf die „simultane Präsenz" ihrer Systemmitglieder angewiesen (siehe Luhmann 1973b: 48 in Bezug auf Organisationen). Familien existieren auch jenseits des gemeinsamen Abendessens, Organisationen jenseits von betrieblichen Vollversammlungen, Bewegungen jenseits von Großdemonstrationen und Gruppen jenseits ihres wöchentlichen Treffens. Gegen diesen auf Mitgliedschaft basierenden Vorschlag zur Bestimmung der Gemeinsamkeiten der Systeme könnte man — so ein neuerer Vorschlag Mitgliedschaft als ein „universelles Merkmal" aller sozialen Systeme einführen. Dieser Vorschlag basiert auf dem Gedanken, dass in der Kommunikation jedes sozialen Systems - also zum Beispiel auch von Interaktionssystemen oder von Funktionssystemen - neben der Sach- und Zeitdimension immer auch eine Sozialdimension existiert und über die Sozialdimension quasi automatisch eine Mitgliedschaft von Personen in dem jeweiligen sozialen System gebildet wird. Wenn jemand eine Currywurst kauft, seine Stimme für einen Politiker abgibt oder gegen einen Strafzettel klagt, werde er - so das Argument - damit automatisch „Mitglied" der Wirtschaft, Politik oder des Rechts. 25
Hier besteht aus meiner Sicht die Möglichkeit, die kaum noch zu überblickende Forschung über Vereine unter einem neuen Fokus zu betrachten. 24
Diese Organisationen werden häufig aus der Bewegung heraus gebildet, um schlagkräftiger zu sein. Neidhardt (1985: 194) konstatiert, dass Bewegungen mit „dieser Entwicklung in einen neuen Systemtyp" springen, „der sich nach außen und innen andersartig verhält." 23
Letztlich werden in diesem Vorschlag lediglich die Grenzbildungsprinzipien für Interaktion - „Anwesenheit" - und für die Gesellschaft - „Adressierbarkeit" - mit Hilfe eines jetzt expansiv verwendeten Mitgliedschaftsbegriffs reformuliert. Diese expansive Verwendung des
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Aber eine solche expansive Verwendung des Mitgliedschaftsbegriffs würde bedeuten, den zentralen Charakter von Mitgliedschaft - nämlich die Verfügung über die Inklusion weniger und die Exklusion vieler als Systembildungsprinzip - zu verkennen. Anders als Interaktionssysteme und anders als Gesellschaftssysteme verfügen mitgliedschaftsbasierte Systeme über ein hohes Maß an Autonomie bei der Bestimmung ihrer Mitglieder. Selbstverständlich sind auch Interaktionssysteme und Gesellschaftssysteme in ihrem Grenzziehungsprinzip insofern autonom, als ihnen nicht durch eine irgendwie geartete Umwelt diktiert wird, wer (oder was) als dazugehörig betrachtet werden sollte und wer (oder was) nicht. Ansonsten könnte man auch nicht von der Ausdifferenzierung von Systemen sprechen. Aber in der funktional differenzierten Gesellschaft - und dieser Gedanke ist zentral - können Gesellschaftssysteme und Interaktionssysteme nur sehr begrenzt über ihre Mitglieder verfügen. In den meisten Funktionssystemen haben sich Publikumsrollen ausgebildet, über die die „Gesamtbevölkerung" (!) inkludiert wird (Stichweh 1998: 261 ff.; siehe auch Luhmann 1981a: 157, 1981b: 25ff). Und auch Interaktionssysteme können nur begrenzt darüber verfügen, welche Personen inkludiert sind und welche nicht. Man mag im Zuge einer Interaktion einer Person zu verstehen geben, dass ihre Beteiligung an der Kommunikation unerwünscht ist, aber schon durch das Verstehen dieser mehr oder minder offen kommunizierten Mitteilung wird die Person, die man loswerden will, in das Interaktionssystem inkludiert. 26
Mitgliedschaftsbegriffs läuft in letzter Konsequenz darauf hinaus, den Begriff der Mitgliedschaft mit dem Begriff der Sozialdimension zu fusionieren. Banal ausgedrückt: Weil jede Kommunikation auch in der Sozialdimension verankert ist, k a n n automatisch auch die Mitgliedschaft von Personen in einem System identifiziert werden. Eine solche expansive Verwendung des Mitgliedschaftsbegriffs wäre jedoch nicht mit der üblichen N u t z u n g des Begriffs in der Soziologie abgestimmt. Stattdessen wird im Folgenden Mitgliedschaft als eine (!) mögliche Ausprägungsform in der Sozialdimension verstanden. 26 Auch bei Interaktionen macht es keinen Sinn, zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern zu unterscheiden. Sicherlich ist es richtig, dass m a n auch durch die Beteiligung an einer Prügelei, an einer verbalen Streiterei oder durch eine Diskussion zu einer Interaktion „dazugehört". Aber diese Zugehörigkeit ist eher (gewollte oder ungewollte) Beteiligung und wird insofern auch anders beobachtet als die Mitgliedschaft in Gruppen, Organisationen, Familien und Bewegungen (siehe dazu auch die Bemer-
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Während also bei Interaktion und Gesellschaft die Systembildungsprinzipien - also Anwesenheit im ersten und Adressierbarkeit im zweiten Fall - die Zugehörigkeit von Personen zum System eindeutig festlegen, können mitgliedschaftsbasierte Sozialsysteme wie Gruppen, Familien, Bewegungen oder Organisationen über ihre Mitglieder - selbstverständlich in gewissen Grenzen - selbst verfügen. Diese Systeme inkludieren dabei immer nur eine sehr kleine Teilmenge der Gesamtbevölkerung und können deswegen systematisch zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern unterscheiden (für Organisationen Luhmann 1994: 193 oder 2000: 390; siehe auch grundlegend zur Unterscheidung Inklusion und Exklusion Luhmann 1995; Göbel/ Schmidt 1998). Mitgliedschaft als Grenzziehungsprinzip ermöglicht es dann im Fall von Gruppen, Familien, Bewegungen und Organisationen, über die Identifikation von Personen Kommunikationen einem System zuzurechnen. Das Lamentieren eines Unzufriedenen, das Schreien eines Babys oder das Steinewerfen eines Vermummten hat - je nachdem, ob die Person als Mitglied betrachtet wird oder nicht - für ein System eine jeweils grundlegend andere Bedeutung. Die Unterscheidung zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern fungiert also als „Erkennungssignal" nicht nur von Organisationen, sondern auch von Gruppen, Bewegungen und Familien (vgl. zu Erkennungssignalen bei Organisationen Luhmann 1991: 202). 27 Neben den hier angeführten Organisationen, Gruppen, Familien oder Bewegungen könnte man sich noch andere zwischen Interaktion und Gesellschaft zu verortende soziale Systeme vorstellen. Man denke nur an Professionen, Gemeinden, Schichten oder kungen von Kieserling [1999: 47 f.] über undifferenzierte Inklusionen in Interaktionen). Mir scheint es vielmehr plausibel, dass Interaktionen nicht selten daraufhin differenziert beobachtet werden, inwiefern Beteiligte an der Interaktion zu einer Gruppe, Organisation, Familie oder Bewegung gehören. Vom Schreien fremder Babys im Zug scheint m a n jedenfalls anders betroffen zu sein als vom Schreien des eigenen Babys. 27
Soweit auch zur Vorstellung, dass m a n Familien, Protestbewegungen, Professionen oder auch Schichten auf der Ebene der Gesellschaft verorten sollte. D a f ü r müsste man entweder für jedes dieser Systeme die gesellschaftliche Funktion nachweisen. Das mag bei Familien oder Gruppen noch plausibel sein, bei Protestbewegungen oder Professionen wird dies schon schwieriger. Oder aber es müsste erklärt werden, weswegen auf der Ebene von Gesellschaft neben den Funktionssystemen noch andere Systeme zu verorten sind.
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sogar Netzwerke, bei denen auch jeweils eine Zurechnung über die Mitgliedschaft von Personen zu einem System stattfindet. Auch wenn der Vorschlag zur Modifikation des Luhmann'schen Modells hier nur anhand von Organisationen, Gruppen, Familien oder Bewegungen illustriert wird, spricht nichts dagegen, diese Liste zu erweitern. Bei den Systemtypen zwischen Interaktion und Gesellschaft handelt es sich — genauso wie bei Funktionssystemen nicht um eine abgeschlossene Liste, sondern es ist sehr wohl vorstellbar, dass sich im Zuge der gesellschaftlichen Evolution noch weitere Systeme herausgebildet haben, die auf der Bestimmung von Mitgliedschaft oder Nichtmitgliedschaft von Personen basieren. Zentral ist es, für die jeweiligen Kandidaten den Systemcharakter präzise nachweisen zu können. Es ist notwendig, dass für jeden Systemtypus die spezifischen Prozesse der operativen Schließung und der rekursiven Vernetzung der systemeigenen Kommunikation aufgezeigt werden. In diesem Artikel habe ich angedeutet, wie eine solche Bestimmung des Systemcharakters aussehen kann, aber darauf verzichtet, eine ausgearbeitete Systemtheorie der Gruppe, Familie, Bewegung und Organisation vorzulegen. Stattdessen habe ich bewusst eine argumentative Abkürzung gewählt, indem ich lediglich Kandidaten behandle, für die Luhmann selbst den Systemcharakter bereits unterstellt hat. Der hier vorgelegte Vorschlag muss sich gegen die in der Einleitung genannten Rettungsstrategien des Dreierschemas von Interaktion, Organisation und Gesellschaft bewähren. Prinzipiell wäre es — wie oben gezeigt - möglich, alle sozialen Systeme letztlich auf die drei Grundtypen Interaktion, Organisation oder Gesellschaft zurückzuführen, wenn diese nur ausreichend breit gefasst werden. Bei dieser ersten Rettungsstrategie des Interaktion-OrganisationGesellschaft-Schemas müsste dann aber die Dominanz der jeweiligen Systemlogik nachgewiesen werden. Es müsste beispielsweise gezeigt werden, dass Gruppen, ähnlich wie das wöchentliche Zusammentreffen mit einem spezifischen Supermarktverkäufer, lediglich eine Aneinanderreihung von Faceto-Face-Interaktionen sind und durch die Logik des sozialen Systems Interaktion ausreichend erklärt werden können und dass die Prozesse zwischen den Interaktionen — zum Beispiel die Mails zwischen Gruppenmitgliedern, Treffen nur einzelner Gruppenmitglieder - lediglich Rahmenbedingungen der Interaktionen darstellen. Wenn man - um ein anderes Beispiel zu nennen — Familien ausschließlich
als eigenständiges Funktionssystem auf der Ebene der Gesellschaft verorten will, muss man nicht nur eine (!) spezifisch gesellschaftliche Funktion von Familien aufzeigen, sondern auch nachweisen, dass die Einzelfamilie allein durch Verweis auf die gesellschaftliche Funktion erklärbar ist.28 Plausibler erscheint die oben dargestellte zweite Rettungsstrategie, die darin besteht, zwar eine Vielzahl von Phänomenen als sozial zu definieren, ohne sie aber gleich als „soziales System" zu bezeichnen. So ist es plausibel, dass beispielsweise Konkurrenz oder Imitation kein „Sondertypus" eines sozialen Systems sind, weil die Konkurrenten oder die sich Imitierenden nicht miteinander in Kommunikation stehen müssen, aber selbstverständlich handelt es sich um eine relevante „soziale Erfahrung", die von der Soziologie erfasst und analysiert werden muss (vgl. nur für Konkurrenz das Argument bei Luhmann 1984: 521 im Anschluss an Simmel 1992: 324; für Imitation ist das Argument meines Wissens noch nicht ausgearbeitet worden). Aber diese für eine Reihe von sozialen Phänomenen sinnvolle Argumentation scheint mir gerade für Gruppen, Bewegungen oder Organisationen nicht einleuchtend, weil für diese problemlos sowohl eine aus Information, Mitteilung und Verstehen bestehende Kommunikation nachweisbar ist als auch klare Grenzziehungen zu identifizieren sind, mit denen die Kommunikation eindeutig auf das jeweilige soziale System zugerechnet werden kann. Am wenigsten einleuchtend erscheint die dritte Rettungsstrategie, nämlich die Beschränkung auf das Dreierschema Interaktion, Organisation und Gesellschaft mit „theorieästhetischen" Vorteilen zu rechtfertigen. Sicherlich hat Luhmann eindrucks28 Für nur begrenzt richtig halte ich die Auffassung, dass - im Gegensatz zu dem hier vorgelegten Vorschlag die Theorie der Gesellschaft d a f ü r sorgt, die „Aufnahme" und „Nichtaufnahme" sehr verschiedener Systeme zu kontrollieren. Sicherlich f ü h r t die Unterscheidung von Stammesgesellschaften, Schichtungsgesellschaften und funktional differenzierten Gesellschaften dazu, dass man über die drei Differenzierungsformen „segmentar", „stratifiziert" und „funktional" eine Reihe von Systemen zuordnen kann. Aber gerade die hier behandelten Kandidaten Bewegung, Familie, Organisation und Gruppe als auch andere Kandidaten wie Professionen sind bisher eben noch nicht genauso systematisch in das gesellschaftstheoretische Schema eingeordnet worden wie beispielsweise Stämme in der segmentär differenzierten Gesellschaft, eine Oberschicht in der stratifizierten Gesellschaft oder das politische System in einer funktional differenzierten Gesellschaft.
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voll gezeigt, wie man allein mit dem Dreierschema auf wenigen Seiten eine komplexe Evolutionstheorie der Gesellschaft formulieren kann. Aber es spricht ja nichts dagegen, die analytischen Chancen zu nutzen, die mit einer Erweiterung des Schemas erschlossen werden können. So ist es gerade für eine Evolutionstheorie der Gesellschaft wichtig, herauszuarbeiten, inwiefern beim Ubergang von der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft die Ausdifferenzierungen von Gruppen, Bewegungen, Familien und Organisationen parallel verlaufen sind und inwiefern sich die Ausdifferenzierungen gegenseitig bedingt haben. Sicherlich: Man könnte eine tiefere Analyseebene auch dadurch erreichen, dass man von einem sehr breiten Organisationsbegriff ausgeht. Gruppen, Familien, Bewegungen, aber auch beispielsweise Vereine, Verwaltungen oder Unternehmen würden dann alle als Organisationen angesehen werden, die sich aber über einen unterschiedlichen Formalisierungsgrad differenzieren lassen. Auf der Basis dieser lediglich graduellen Unterscheidungen würde man die oben dargestellten Verschachtelungen, Ubergänge und Kombinationen nicht als Verschachtelungen, Übergänge und Kombinationen zwischen verschiedenartigen sozialen Systemen, sondern zwischen verschiedenen Organisationen begreifen. Diese Vorgehensweise würde insofern einleuchten, als - wie gezeigt - zwischen Gruppen, Familien und Organisationen die Ubergänge fließend sind (und nicht etwa durch eine Entscheidung verordnet werden) und die Zurechnungen nicht immer einfach sind. Auf den ersten Blick mag es beliebig sein, ob man mit einem sehr breiten Begriff von Typen sozialer Systeme arbeitet und dann jeweils eine Vielzahl von Untertypen von Interaktion und Organisation zulässt oder ob man eine Vielzahl unterschiedlicher sozialer Systeme zwischen Interaktion und Gesellschaft auseinanderhält. 29 Schließlich kann man ja
2 9 In diese Richtung geht auch ein Vorschlag, abweichend von Luhmann, der „Organisationssystem", „organisierte soziale Systeme", „formale Organisation" und „Organisation" als Synonyme nutzt, zwischen Organisationen im engeren Sinne und Gruppen, Bewegungen und Familien als allgemeinen organisierten sozialen Systemen zu unterscheiden. Er knüpft an einen unter anderem von Weick (1985) oder Hatch (2010) vertretenen breiten Organisationsbegriff an. Bei dieser breiten Bestimmung wird Organisation jedoch in letzter Konsequenz im Sinne von Struktur verwendet. D a n n wären aber — und das ist meine Kritik an diesem Vorschlag - alle sozialen Systeme (also auch zum Beispiel Interaktionen, Gesellschaft,
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entweder auf Gemeinsamkeiten abzielen (so ähneln sich ja alle sozialen Systeme darin, dass sie auf Systemgrenzen basieren) oder auf Unterschiede (so können selbst ungesellige Interaktionen als Sonderform von Kommunikation unter Anwesenden noch in verschiedene Typen unterteilt werden). Das Argument ist jedoch, dass wir es bei Gruppen, Bewegungen, Familien und Organisationen nicht nur mit unterschiedlichen Ausprägungen des gleichen sozialen Systemtypus zu tun haben, sondern mit unterschiedlichen Systemtypen, bei denen man je eigene Kommunikationsstile, Grenzziehungsmechanismen und Strukturbildungsformen findet. Insgesamt gelingt es jedoch, beim Arbeiten mit mehreren Typen von sozialen Systemen zwischen Interaktion und Gesellschaft komplexere Analysen anzufertigen, weil das Zusammenspiel von sozialen Systemen genauer beobachtet werden kann. So ist es die Schwäche der Gruppensoziologie der 1960er Jahre, dass sie nicht systematisch zwischen Interaktion und Gruppe unterschieden hat, weil sie faktisch alle Interaktionsphänomene zu Gruppenphänomenen erklärt hat (vgl. nur Kruse 1972). Die systemtheoretische Interaktionssoziologie hat diese Vorgehensweise mit umgekehrtem Vorzeichen wiederholt, indem sie letztlich alle Gruppenphänomene nur als wiederholte Interaktionen interpretiert hat. Aber erst wenn man von unterschiedlichen Systemlogiken von Interaktionen und Gruppen ausgeht und die verschiedenen Verschachtelungen betrachtet, kommt man zu adäquaten Beschreibungen. 30 Auch für die Analyse von Organisationen ist es eine Notlösung, die Bestimmung von Informalität vorrangig über Gruppenphänomene (siehe Luhmann 1964: 314 ff. und seine kritischen Kommentare in der vierten Auflage von 1999: 399) einfach nur durch eine Bestimmung über Interaktion zu ersetzen (siehe Luhmann 2000: 25). Vielmehr scheint es interessant zu sein, wie sich informelle Erwartungen teilweise über Interaktionen, teilweise über Gruppen und teil-
Funktionssysteme oder Konflikte) „allgemein organisierte Sozialsysteme". 3 0 Ein solches Forschungsprogramm kann hier nicht ausgeführt werden, aber die Forschungsfragen liegen auf der Hand. Wann wird beispielsweise die regelmäßige Interaktion von Müttern, die ihre Kinder zum Sport bringen und im C a f é auf sie warten, zur Gruppe? Wenn man anfängt, nicht mehr über Kinder zu sprechen? Wenn man sich auch ohne Kinder — jenseits der Sportaktivitäten trifft? Wenn das Fehlen einzelner Mütter bemerkt wird? In dem Moment, wo man sich trifft, auch wenn die Kinder „aus dem Haus sind"?
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weise auch nur über B e o b a c h t u n g e n bilden. 3 1 Ferner - u m ein letztes Beispiel zu nennen - m a c h t es S i n n , die B e s c h r e i b u n g von B e w e g u n g e n u n d O r g a nisationen nicht in e i n e m S y s t e m t y p u s kollabieren zu lassen, weil nur so die S p a n n u n g s f e l d e r zwischen B e w e g u n g e n , zu denen sich jeder als M i t g l i e d erklären k a n n , u n d den O r g a n i s a t i o n e n mit ihren klaren M i t g l i e d s c h a f t s b e d i n g u n g e n deutlich werden. D i e Fruchtbarkeit dieses hier vorgestellten A n s a t z e s besteht darin, dass er f ü r die Gesellschaftstheorie eine g a n z e Reihe neuer Fragen eröffnet: W i e verlief in der m o d e r n e n G e s e l l s c h a f t die parallele A u s d i f ferenzierung von über M i t g l i e d s c h a f t v e r f ü g e n d e n O r g a n i s a t i o n e n , von an persönlicher
Kommuni-
kation orientierten G r u p p e n , von a u f Protestkomm u n i k a t i o n ausgerichteten B e w e g u n g e n u n d von in ihren F u n k t i o n e n stark eingeschränkten Familien? W i e sehen die U b e r g ä n g e , K o m b i n a t i o n e n u n d Verschachtelungen zwischen den verschiedenen sozialen Systemen aus, u n d wie h a b e n sie sich i m L a u f e der m o d e r n e n G e s e l l s c h a f t verändert? D i e F o r s c h u n g e n über solche F r a g e n stehen erst a m A n f a n g .
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Autorenvorstellung Stefan Kühl: geb. 1966 in Hamburg. Studium der Soziologie, Geschichtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft in Bielefeld, Baltimore, Paris und Oxford. Promotion in Soziologie an der Uni Bielefeld und in Wirtschaftswissenschaften an der T U Chemnitz. Seit 2007 Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, Organisationssoziologie, Interaktionssoziologie; Wissenschaftsgeschichte. Publikationen: Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust (Suhrkamp 2014); For the Betterment of Race. The Rise and Fall of the International Movement for Eugenics and Race Hygiene (Palgrave Macmillan 2013); Organizations. A Systems Approach (Gower 2013). Zuletzt in dieser Zeitschrift: Ganz normale Organisationen. Organisationssoziologische Interpretationen simulierter Brutalitäten. ZfS 34, 2005, S. 90-111; Jenseits der Face-to-Face-Organisation. Wachstumsprozesse in kapitalmarktorientierten Unternehmen. In: Zeitschrift für Soziologie, ZfS 31, 2002, S. 186—210.
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft, 2014, S. 8 6 - 1 0 8
Parasiten sozialer Systeme1 Parasites of Social Systems Wolfgang Ludwig Schneider Fachbereich Sozialwissenschaften, Universität Osnabrück, 4 9 0 6 9 Osnabrück, Germany [email protected]
Zusammenfassung: Seit Parsons steht die Systemtheorie notorisch in dem Ruf, Stabilität und Ordnung zu überschätzen. Auch Luhmanns Systemtheorie sieht sich mit diesem Vorwurf konfrontiert. Um zu zeigen, wie .ordnungswidrige' Phänomene (wie etwa Interaktionskonflikte, abweichendes Verhalten und informelle Cliquen in Organisationen, korruptive Netzwerke oder die Aufsplitterung wissenschaftlicher Disziplinen in rivalisierende Schulen) in einer systemtheoretisch konsistenten Weise analysiert werden können, greift der Beitrag Michel Serres' Figur des „Parasiten" auf, von der Luhmann an verschiedenen Stellen seines Werkes Gebrauch gemacht hat, ohne sie jedoch hinreichend systematisch zu entfalten. Ziel des Beitrags ist es, diese Figur theoretisch auszuarbeiten und für die Systemtypen Interaktion, Organisation sowie für die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft zu plausibilisieren, dass hier unter bestimmten Bedingungen mit der Bildung von Parasiten unterschiedlicher Art zu rechnen ist. Schlagworte: Systemtheorie, Parasiten, soziale Differenzierung, Interaktion, Organisation, Funktionssysteme. Summary: Since Parsons, systems theory has been notorious for overestimating stability and order. Luhmann's systems theory, too, is confronted with this kind of criticism. To demonstrate how "disorderly" phenomena (such as interactional conflicts, deviant behavior, and informal cliques in organizations, or networks of corruption, or the fragmentation of scientific disciplines in competing schools) can be analyzed in a way consistent with systems theory, this contribution refers to Michel Serres' concept of the "parasite," which is used by Luhmann in various passages in his work without developing it in a sufficiently systematic manner. It is the aim of the contribution to elaborate this concept theoretically and to lend plausibility to the claim that under certain conditions the formation of parasites of various kinds is to be expected of the system types face-to-face interaction, organization, and the function systems of modern society. Keywords: Systems Theory; Parasites; Social Differentiation; Interaction; Organization; Function Systems.
1. Zum Problem sozialer Unordnung Seit Parsons steht die Systemtheorie notorisch in d e m R u f , Stabilität u n d O r d n u n g zu überschätzen. A u c h gegenüber L u h m a n n s Systemtheorie wird h ä u f i g ins Feld g e f ü h r t , dass ihr strikt binäres K o n s t r u k t i o n s prinzip keinen R a u m f ü r U n s c h ä r f e n , A m b i v a l e n z e n u n d W i d e r s p r ü c h e lasse u n d sie deshalb die G e o r d netheit u n d H o m o g e n i t ä t sozialer Z u s a m m e n h ä n g e übertreiben müsse. Zwar widersprechen bereits die G r u n d p r ä m i s s e n der Theorie dieser Kritik, d e n k t sie soziale Systeme d o c h als Z u s a m m e n h ä n g e , die sich d u r c h die kontinuierliche Verkettung flüchtiger Ereignisse reproduzieren u n d S t r u k t u r e n nur b e n ö -
nikationen zu sichern, ohne dabei a u f b e s t i m m t e S t r u k t u r e n u n d deren Stabilität angewiesen zu sein. D o c h reichen derartige U m s t e l l u n g e n a u f der E b e ne der G r u n d b e g r i f f e offensichtlich nicht aus, u m den o. g. E i n d r u c k erfolgreich zu korrigieren. Unterscheidungen zwischen verschiedenen S y s t e m t y p e n wie Interaktion, O r g a n i s a t i o n u n d G e s e l l s c h a f t oder zwischen segmentärer, stratifikatorischer u n d f u n k tionaler D i f f e r e n z i e r u n g scheinen die soziale Welt zu ,sauber' einzuteilen. 2 . O r d n u n g s w i d r i g e ' P h ä n o m e n e wie etwa G e w a l t k o n f l i k t e , K o r r u p t i o n oder informelle N e t z w e r k e in O r g a n i s a t i o n e n finden d a r i n - so eine verbreitete E i n s c h ä t z u n g - keinen rechten Platz.
tigen, u m die V e r k n ü p f u n g s f ä h i g k e i t von K o m m u -
1 Ich danke den beiden Gutachtern und den Herausgebern dieses Bandes für wichtige Einwände bzw. Hinweise auf Unklarheiten in früheren Versionen dieses Textes und Anregungen zu weiteren Überlegungen.
Dies insbesondere angesichts der Konjunktur kultursoziologischer Ansätze, die „unscharfe Grenzen" als Normalfall deklarieren und „Hybridität" als Leitbegriff ausflaggen; vgl. exemplarisch Reckwitz 2008. 2
Wolfgang Ludwig Schneider: Parasiten sozialer Systeme
U m zu zeigen, dass dieser E i n d r u c k trügt, m ö c h t e ich im Folgenden Michel Serres' Figur des „Parasiten" aufgreifen, von der L u h m a n n an verschiedenen Stellen seines Werkes Gebrauch gemacht hat, o h n e sie jedoch hinreichend systematisch zu entfalten. Ziel meines Beitrags ist es, diese Figur theoretisch auszuarbeiten sowie f ü r die Systemtypen Interaktion, Organisation u n d die Funktionssysteme der m o d e r n e n Gesellschaft zu plausibilisieren, dass hier unter b e s t i m m t e n B e d i n g u n g e n m i t der Bildung von Parasiten zu rechnen ist. D a m i t verbunden ist die A n n a h m e , dass eine Vielzahl abweichender' Erscheinungen mit Hilfe der Figur des Parasiten in einer systemtheoretisch konsistenten Weise analysiert werden k a n n . Ich versuche, dieses Ziel in folgenden Schritten zu erreichen: Ich beginne mit der E i n f ü h r u n g der Figur des Parasiten im Anschluss an Serres u n d einigen Bemerkungen zu ihrer Relevanz f ü r die Systemtheorie (2.). D a n a c h wird zu p r ü f e n sein, wie diese Figur theoretisch präzisiert werden k a n n u n d inwiefern sich f ü r die Systemtypen Interaktion, Organisation sowie f ü r die Funktionssysteme der m o d e r n e n Gesellschaft je spezifische Ausprägungen von Parasiten identifizieren lassen (3. bis 5.). Dabei wird sich zeigen, dass die präzisierte Parasitenfigur auch geeignet ist, verschiedene Überlegungen Luhm a n n s , die z u m Teil bis in seine f r ü h e Organisationssoziologie zurückreichen, konzeptuell zusamm e n z u f ü h r e n . Abschließend greife ich die Frage nach dem Bezugsproblem, zu dessen Lösung die Bildung von Parasiten beiträgt, noch einmal auf, resümiere die möglichen Auswirkungen von Parasiten auf die A u t o n o m i e der verschiedenen Typen von Wirtssystemen u n d diskutiere die B e d e u t u n g der Unterscheidung von Personenvertrauen u n d Systemvertrauen f ü r parasitäre Netzwerke sowie f ü r die S t r u k t u r f u n k t i o n a l e r Differenzierung (6.).
2. Serres' Figur des Parasiten und ihre Bedeutung für die Theorie sozialer Systeme Serres entwickelt die Figur des Parasiten in einer Folge von Geschichten u n d K o m m e n t a r e n , in denen analytische u n d metaphorische Rede eng miteinander verwoben sind. Der so erzeugte Text widersetzt sich Explikationsversuchen, die nach einer eindeutigen B e s t i m m u n g seines Gehalts streben. I m Folgenden geht es m i r deshalb nicht u m die vollständige analytische Ausleuchtung von Serres' Parasitenfigur, sondern n u r u m die Herausstellung derjenigen Elemente, die mir bei Serres von zentraler
87 B e d e u t u n g u n d aus systemtheoretischer Perspektive anschlussfahig erscheinen. Unter d e m Titel des Parasiten - oder genauer a n h a n d der Unterscheidung von Parasit u n d W i r t - thematisiert Michel Serres drei Sorten von Phänomenen, die er miteinander zu verbinden sucht: das im bzw. a m Körper seines Wirtes schmarotzende Tier, der „Gast, der die Gastfreundschaft missbraucht", u n d die „Stör u n g einer Nachricht", das „Rauschen im K o m m u n i kationskanal" (Serres 1981: 20f.). 3 Die ersten beiden Anwendungsfalle entsprechen geläufigen Verwendungsweisen der Unterscheidung. Auch der dritte erscheint demgegenüber n u r auf den ersten Blick abweichend. D e n n ohne Nachricht, ohne Information, die übermittelt werden soll, keine Störung, kein Rauschen. 4 Die Störung ist n u r in Differenz zur N a c h richt möglich, gegen die sie sich als Abweichung profiliert, die ihre Existenzbedingung ist u n d die sie zugleich beeinträchtigt. 5 Insofern lebt u n d zehrt die Störung von der Nachricht wie ein Parasit von sein e m W i r t . In Serres' Darstellung fällt d e m Parasiten im informationstheoretischen Sinne gegenüber seiner biologischen u n d sozialen Spielart die f ü h r e n d e Rolle zu (vgl. 1981: 253ff., 282ff. u.a.). Von einer Botschaft, die I n f o r m a t i o n übermittelt, k a n n m a n nur d a n n sprechen, w e n n die Botschaft eine Selektion aus mehreren, im Elementarfall also aus zwei alternativen Möglichkeiten darstellt u n d ex ante unsicher war, wie die Selektion ausfallen würde. 6 Technisch ist diese Elementareinheit etwa d u r c h ein Relais zu realisieren, das die beiden Z u s t ä n d e offen oder geschlossen a n n e h m e n u n d auf diese Weise die binären Zahlen 0 u n d 1 übermitteln k a n n . U m eine elementare Informationseinheit zu prozessieren, bedarf es also eines Ereignisses (eines „Signals"), das einen Unterschied m a c h t im Blick auf mindestens zwei alternative Möglichkeiten, von denen eine u n d n u r eine d u r c h das Ereignis ausgewählt u n d ange-
3
Vgl. dazu auch die französischen Ausdrücke parasiter (=schmarotzen bzw. stören) sowie écho parasite (=Störecho) und signal parasite (=inneres Störsignal). 4 Die Ausdrücke Störung, Rauschen oder Lärm stehen für verschiedene Ubersetzungsmöglichkeiten des in der Informationstheorie üblichen englischen Ausdrucks noise. Sie werden deshalb hier und im Folgenden synonym verwendet. 5 Noch das reine Rauschen ist durch sie ex negativo, als nicht realisierte Möglichkeit, notwendig bestimmt. 6 Vgl. Shannon (1969: 31; Hervorhebung im Original): „The significant aspect is that the actual massage is one selected from a set of possible messages." Erläuternd dazu und zum Folgenden Weaver 1969: 9.
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 86-108
zeigt werden darf. Mit Bateson (1972: 315, 489) kann deshalb die minimale Einheit von Information auch als „ein Unterschied" (d.h. als ein Ereignis, das auch hätte nicht eintreten bzw. anders ausfallen können) bestimmt werden, „der einen Unterschied macht" (d. h. als Indikator f ü r die Selektion der einen im Unterschied zur anderen Möglichkeit aus dem Auswahlbereich beobachtet werden kann). 7 Trennschärfe ist dabei erforderlich. Das übermittelte Signal muss f ü r 0 oder 1, ja oder nein, a oder b stehen. Es gilt, in strenger Entsprechung zur zweiwertigen Logik, der Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Der Elementarfall einer Störung, eines Rauschens, lässt sich deshalb auch als Verletzung dieses Satzes beschreiben, als ein parasitäres Signal, das nicht erkennen lässt, ob es für 0 oder 1, f ü r a oder b steht, das vielmehr beide zugleich zu bezeichnen bzw. zwischen beiden Werten zu liegen oder weder dem einen, noch dem anderen zu entsprechen, sondern beide zu negieren und den Auswahlbereich zu überschreiten scheint. Serres bestimmt auch die Rolle des Parasiten in sozialen Beziehungen (am Beispiel von Molières Tartuffe) nach diesem Modell: „Ich habe den Parasiten als Dritten bezeichnet. Hier stellt sich wieder das rein logische Problem des ausgeschlossenen Dritten" (Serres 1981: 316); der Parasit „ist a und nicht nur α, er ist geradesogut auch b, er kann das Umgekehrte, Entgegengesetzte, Widersprüchliche sein; a ist b, was zu beweisen ist. Das ist streng genommen die Logik der Auflösung" (Serres 1981: 318). Als Störung, die innerhalb eines Ordnungszusammenhangs auftritt, ist der Parasit aus der Perspektive der Logik ein eingeschlossener ausgeschlossener Dritter.8 Die Störung, u m die es Serres geht, meint keine singulare Abweichung, kein isoliert bleibendes Ereignis ohne weitere Folgen, aber auch kein Ereignis, das zur völligen Ordnungsauflösung und Zerstörung eines Systems führt, sondern eine transformierende Abweichung, welche die O r d n u n g des Systems verändert. 9 Die Figur des Parasiten erscheint janus-
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Vgl. auch in explizitem Anschluss an Batesons Definition L u h m a n n 1984: 68, 112. 8 Vgl. dazu auch Serres 1981: 43: „Oder was ist dieses Dritte in der Logik der schneidenden, aufteilenden Entscheidung? W i r d es n u n ausgeschlossen oder nicht? W i r haben es hier mit einer dreiwertigen Logik zu t u n , wo wir eigentlich n u r zwei Werte erwarteten". 9 „Es ist m e h r als nur ein Bild, w e n n m a n sagt, es handele sich u m die Einwirkung eines Rauschens auf die Botschaft. Rauschen im Sinn von U n o r d n u n g , also Zufall, aber auch im Sinne von Störung, einer Störung, welche
gesichtig. Eine gegebene O r d n u n g störend ist sie zugleich Keim einer neuen. Evolutionstheoretisch gedeutet verbindet der Parasit die Funktion der Variation oder Mutation (störendes Ereignis) mit der Funktion der Selektion, indem er die Replikation der Mutation im System ermöglicht, das dadurch neu strukturiert wird (vgl. Serres 1981: 282 f. und 288). 10 Auch die vom Parasiten erzeugte neue O r d n u n g ist nicht gegen Störungen gefeit. Jederzeit kann sie durch neue Parasiten besetzt und verändert werden. Evolution und Parasit scheinen insofern in einer zirkulären Beziehung zueinander zu stehen: „Die Evolution bringt den Parasiten hervor, der wiederum die Evolution hervorbringt" (Serres 1981: 282). L u h m a n n rekurriert in unterschiedlichen Zusammenhängen auf Serres' Parasitenfigur. Beispiele dafür finden sich in auffalliger H ä u f u n g und Diversität in „Die Wirtschaft der Gesellschaft" (1988). Arbeit und Schattenwirtschaft (1988: 222 f.) sowie Banken (1988: 145 f.) werden mit dem Titel des Parasiten belegt. Ebenso aus Umweltsystemen stammende und in den Programmen von Funktionssystemen mitberücksichtigte Kriterien f ü r die Orientierung systemeigener Operationen (1988: 246). Der beobachtungs- und differenztheoretischen Anlage der Systemtheorie entsprechend, treffen sich die verschiedenen Verwendungsweisen im gemeinsamen Bezug auf die Figur des eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten. Die Variationsbreite der Verwendungen dieser Figur bei L u h m a n n ist darauf zurückzuführen, dass er sie nicht nur auf systemkonstitutive Differenzen (wie binäre Codes bzw. die jeweilige Ausprägungsform der System / UmweltDifferenz) bezieht, sondern auch f ü r die Analyse von Semantiken nutzt, sodass sie im Prinzip auf jede beobachtungsorientierende Unterscheidung angewendet werden kann, für die sich relevante Dritt-
die O r d n u n g verändert, u n d m i t h i n den Sinn, w e n n m a n von Sinn sprechen k a n n . In jedem Falle aber verändert diese Störung die O r d n u n g . Die Störung ist ein Parasit, m a n ahnte es bereits. Die neue O r d n u n g erscheint durch den Parasiten, der die Nachricht stört. Er verwirrt die alte Reihe, die Folge, die Botschaft, u n d er komponiert eine neue" (Serres 1981: 282f.; auch 29, 40). Vgl. auch 1981: 287, wo Serres den Parasiten durch eine doppelte Aktivität bestimmt, nämlich d u r c h die „Aktivität des Rauschens u n d der Auswahl", die freilich in einer Operation realisiert werde. Serres verwendet in diesem Z u s a m m e n h a n g (vgl. ebd. sowie 284, 288) auch die Metapher des „Gleichrichters", die aber einer ausführlicheren D e u t u n g bedürfte u n d hier außer Betracht bleiben soll.
Wolfgang Ludwig Schneider: Parasiten sozialer Systeme
werte identifizieren lassen. 11 Die Kehrseite der so ermöglichten vielfältigen Einsetzbarkeit ist die theoretische Konturenarmut und die Inflationierung des Parasitenkonzepts, welche verhindern, dass es eine gewichtigere Rolle innerhalb der Theorie sozialer Systeme übernehmen kann. U m hier Abhilfe zu schaffen, empfiehlt es sich, den Anwendungsbereich des Konzepts einzuschränken und es analytisch zu präzisieren. Ersteres soll dadurch geschehen, dass nur solche Parasiten in den Blick genommen werden, die sich in oder an den systemkonstitutiven Strukturen festsetzen. Parasiten, die semantische Unterscheidungen besiedeln, können demgegenüber als separate Sorte von Parasiten geführt werden und bleiben außer Betracht. 12 Z u r begrifflichen Präzisierung der Parasitenfigur soll an dieser Stelle ein erster vorläufiger Schritt genügen: Die Rede vom ausgeschlossenen Dritten, dessen Einschluss einen Parasiten erzeugt, enthält eine Ambiguität. Bei einer strikt binären Unterscheidung, bei der m a n durch Negation der einen Seite der Unterscheidung zu ihrem Gegenpol kommt (wie z. B. wahr / unwahr), kann sie so verstanden werden, dass die gleichzeitige Bezeichnung beider Pole ausgeschlossen ist bzw. nur als „Störung", als „Parasit" registriert werden kann. Der Parasit, der sich so im Binnenraum einer systemkonstitutiven Leitdifferenz festsetzt, kann als üWoparasit bezeichnet werden. Das ausgeschlossene Dritte kann freilich auch außerhalb der systemkonstitutiven Unterscheidung liegen und von dort aus als üfeoparasit in deren Binnenraum hineindrängen. So etwa, wenn die Zuordnung der Codewerte Recht bzw. Unrecht nicht durch rechtsinterne Kriterien, sondern durch den Einsatz politischer Macht oder durch Zahlungen an Gerichte konditioniert wird.
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Vgl. dazu die folgende Bemerkung im Blick auf die semantischen Duale reich / arm sowie Kapital / Arbeit: „Vielleicht ist es nützlich, sich vorzustellen, dass binären Unterscheidungen immer ein ,eingeschlossenes ausgeschlossenes Drittes' zugeordnet ist, das den Gegensatz sprengt - ein .Parasit' im Sinne von Michel Serres. Im Falle von reich/ arm war Arbeit das eingeschlossene ausgeschlossene Dritte, jenes Moment, indem der Gegensatz seine Grenzen, seine Ü b e r w i n d u n g fand. Im Falle Kapital /Arbeit scheint der Konsum diese Rolle zu spielen" ( L u h m a n n 1988: 166). 12
Die Unterscheidung von Systemstruktur u n d Semantik wird dabei nicht mit der A n n a h m e verbunden, dass zwischen den beiden Seiten dieser Unterscheidung ein Verhältnis strikter Disjunktion besteht; vgl. dazu Stäheli 1998; Stichweh 2 0 0 0 .
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Die gerade erwähnten Beispiele deuten an, was in den Blick geraten kann, wenn man sich auf Parasiten konzentriert, die konstitutive Systemstrukturen besiedeln, und dabei zwischen zwei Ausprägungen des eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten unterscheidet. Sie dürfen jedoch nicht zu vorschnellen Schlüssen verleiten. Insbesondere lässt sich daraus weder ableiten, dass Parasiten nur in Funktionssystemen zu finden sind, noch dass die Unterscheidung Endoparasiten/Ektoparasiten direkt mit der Differenz nützlich/schädlich für das besiedelte System korreliert. Unter welchen Bedingungen kann nun angenommen werden, dass in sozialen Systemen die Bildung von Parasiten begünstigt wird? Dazu hier zunächst nur eine allgemeine These, die dann f ü r die Systemtypen Interaktion, Organisation sowie f ü r die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft exploriert und weiter entfaltet werden soll. Grundlage dieser These ist Serres' Bestimmung des Parasiten als Störung einer O r d n u n g , die geeignet ist, dieser O r d n u n g eine neue Ausrichtung zu geben. Derartige Störungen haben die Form von Ereignissen oder Ereignisserien, die mit der bisherigen Struktur eines Systems nicht zu vereinbaren sind (die also eine Variation ins System einführen) und die darüber hinaus als Keim einer veränderten Struktur fungieren, deren Reproduktion sie unterstützen (zu deren Selektion sie also beitragen). 13 Bezogen auf soziale Systeme ist dabei von Kommunikationen als Ereignissen und Erwartungen als Strukturen auszugehen. Der Elementarfall einer Störung im Sinne Serres' hätte hier demnach die Form eines kommunikativen Ereignisses, das mit etablierten Erwartungsstrukturen inkompatibel ist. W e n n Geltung und Nicht-Geltung derselben Erwartung innerhalb eines Systems kommuniziert werden, dann wird damit ein ausgeschlossener Drittwert im System realisiert. So bestimmt liegt es nahe, bei einer Störung zunächst an kommunizierten Widerspruch und Konflikt zu denken. Dass mit inkompatiblen Erwartungen in sozialen Systemen gerechnet werden muss, ist eine geradezu triviale Annahme. Durch Veränderung von Situationen und damit verbundenen H a n d lungsanforderungen, interne Differenzierung und Konfrontation mit divergierenden Erwartungen aus
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Wie wir später sehen werden, muss die Unterscheidung von Variation u n d Selektion stärker auseinandergezogen werden als dies bei Serres der Fall ist, bei d e m diese beiden evolutionären Funktionen in der Figur des Parasiten tendenziell koinzidieren.
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verschiedenen Umweltsegmenten werden in sozialen Systemen unterschiedliche Erwartungen erzeugt, von denen viele sich als miteinander unverträglich erweisen können. Solche Inkompatibilitäten müssen nicht immer als Konflikte ausgetragen werden. Oft werden sie antizipiert und führen dann zu Versuchen, Situationen und personelle Konstellationen, in denen diese Erwartungen gleichzeitig relevant werden könnten, sorgfaltig zu trennen. Diskrepante Erwartungen lassen sich so im gleichen System über weite Strecken konfliktfrei neben- oder nacheinander benutzen. Unverträglichkeiten, deren Ursprung auch in Unsicherheiten über die Geltung von Erwartungsprämissen liegen kann, die von den Kommunikationsbeteiligten in gegenläufiger Weise aufgelöst werden, können darüber hinaus sorgfältig latent gehalten werden, um ihre offene Thematisierung zu vermeiden. Diese und andere Möglichkeiten des Umgangs mit strukturellen Unsicherheiten und Inkompatibilitäten können zu Nischen für die Ansiedelung und erfolgreiche Reproduktion von Parasiten werden, wenn alternative Möglichkeiten zur Entschärfung dieser Probleme fehlen und Auflösungsversuche deshalb in die paradoxe Form des Einschlusses des ausgeschlossenen Dritten drängen. Welche Bedingungen es sind, die alternativen Problemlösungen im Wege stehen, und welche Ausprägungen Parasiten gegebenenfalls annehmen, hängt wesentlich vom jeweiligen Systemtyp ab, dem die Rolle des Wirts zufällt, wie im Folgenden zunächst am Beispiel von Interaktionssystemen gezeigt werden soll.
3. Parasiten von Interaktionssystemen Interaktionssysteme schließen sich gegenüber ihrer sozialen Umwelt durch die Unterscheidung von Anwesenden und Abwesenden und verwenden, wie alle sozialen Systeme, Erwartungen als Strukturen. Kommunikationsbeiträge in der Interaktion unter Anwesenden sind typisch mit der Erwartung der Annahme verknüpft. Jede Ablehnung setzt sich in Widerstreit zur Annahmeerwartung und zieht so deren Berechtigung in Zweifel. Prallen auf diese Weise konträre Erwartungsprojektionen aufeinander, entsteht Unsicherheit über die als akzeptiert unterstellbaren Erwartungsgrundlagen der Interaktion. Die engagiert geäußerte politische Meinung trifft überraschend auf den Widerspruch des Arbeitskollegen. Bedeutet das, dass auch andere Unterstellungen revidiert werden müssen, dass er dem .gegnerischen' politischen Lager zuneigt oder gar eine moralisch anrüchige Gesinnung erkennen
lässt? Ein Freund lehnt die Einladung zur Geburtstagsfeier ab. Ist er nur zufallig verhindert, oder ist dies ein Indiz für mangelndes Interesse an der Fortsetzung der engen freundschaftlichen Beziehung? Die Ablehnung führt eine Störung ins System ein, einen Unterschied (in Relation zur Annahmeerwartung), bei dem zunächst unsicher ist, welchen Unterschied er für die Erwartungsgrundlagen der weiteren Interaktion macht, wie man in Anlehnung an Bateson sagen könnte, wobei aber zu betonen ist, dass es hier um die systemstrukturellen Konsequenzen geht, die durch das Widerspruchsereignis erzeugt werden.14 Sobald die bisherigen Erwartungsgrundlagen der sozialen Beziehung15 zu dem Ablehnenden entweder bestätigt oder revidiert worden sind, ist die ursprüngliche Irritation in strukturell relevante Information umgewandelt, die zukünftigen Interaktionen mit derselben Person als Orientierung dient. Die skizzierten Folgen einer Ablehnung mögen übertrieben erscheinen. Dieser Eindruck ist berechtigt und unberechtigt zugleich. Berechtigt, weil Ablehnungen oft nur isolierte Ereignisse sind, die ohne Konsequenzen für die im Weiteren unterstellten Erwartungsprämissen der Interaktion bleiben. Unberechtigt insofern, als diese Isolation häufig beobachtbares Ergebnis des Einsatzes kommunikativer Strategien durch Teilnehmer ist, die darauf zielen, mögliche Folgerungen aus einer Ablehnung präventiv zu neutralisieren. In der Konversationsanalyse werden diese Strategien unter dem Titel der „preference for agreement" (vgl. Sacks 1987) zusammengefasst, die in der Art und Weise der kommunikativen Realisierung von Ablehnungen erkennbar wird. Verzögerte Reaktion, Erwähnung von Grün-
14
„Widersprüche destabilisieren ein System, und sie ma-
chen dies an der Unsicherheit des Erwartens erkennbar. Zwei Erwartungslinien werden als unvereinbar herausgestellt; dann weiß man nicht, ob die Erwartungen in der einen oder anderen Richtung erfüllt werden", formuliert dementsprechend L u h m a n n (1984: 501). 15
Zur systemtheoretischen
Deutung des Begriffs „Be-
ziehung" vgl. Schmidt 2 0 0 7 ; mit Kieserling (1999: 221 f.) kann man hier auch von einem eine Kette von Interaktionen überspannenden „Interaktionszusammenhang" sprechen, der eine erwartungsstrukturelle Kontinuität über die Grenzen der Einzelinteraktionen hinweg stiftet, indem er in jeder Einzelinteraktion als orientierender Erwartungshintergrund mitläuft. Beide Konzepte arbeiten Luhmanns frühen Begriffsvorschlag der einfachen „intermittierenden Systeme" (vgl. 1975b: 32) weiter aus, den Luhmann (ebd., A n m . 41) als systemtheoretischen Nachfolgebegriff für das ältere soziologische Konzept der „primary group" offeriert.
Wolfgang Ludwig Schneider: Parasiten sozialer Systeme
den, die einer Annahme entgegenstehen, abschwächende Formulierung und späte Positionierung im Redebeitrag, u. U. flankiert von ausdrücklichen Äußerungen des Bedauerns — solche Gestaltungselemente der Mitteilungsform markieren die Ablehnung als kommunikative Handlung, die sich selbst dispräferiert, d.h. noch in der Enttäuschung der Annahmeerwartung deren grundsätzliche Berechtigung metakommunikativ signalisiert, sie damit schont und anzeigt, dass aus dieser Enttäuschung kein über die aktuelle Situation hinausreichender Bedarf für die Änderung der Erwartungsgrundlagen entsteht. In scharfem Kontrast dazu stehen Ablehnungen, die prompt, ohne Abschwächung, nähere Begründung oder Äußerung des Bedauerns vollzogen werden. Solche Ablehnungen bejahen sich in ihrer Vollzugsform gleichsam selbst, stellen die enttäuschte Erwartung forciert in Frage und weitere Ablehnungen in Aussicht. Derartig markierte Ablehnungen signalisieren einen Wechsel in der Präferenzstruktur der laufenden Kommunikation, ein Umspringen der Struktur doppelter Kontingenz von der Bemühung um Erwartungskonformität auf die Bereitschaft zur Fortsetzung erwartungsabweichender Kommunikationsbeteiligung, von Kooperation auf Konflikt (vgl. Schneider 1994: Kap. 5.1, insbes. 205 f.). Dass es zu einer solchen Transformation der Struktur der Kommunikation kommt, wird wahrscheinlich, wenn eine Ablehnung mit dem Insistieren auf der Annahmeerwartung beantwortet wird (vgl. Luhmann 1993: 566). Durch das Umspringen der Präferenzorganisation wird aus einer nur punktuellen Störung der Kommunikation eine Störung, die nicht isolierte Variation bleibt, sondern die - ganz im Sinne von Serres - darüber hinaus einen neuen Ordnungszustand erzeugt, indem sie die Erwartungsgrundlagen umprogrammiert und sich dadurch parasitär reproduziert. Oder mit Luhmann formuliert: Konflikte nisten sich in soziale Systeme ein als „parasitäre Systeme, die davon abhängen, dass die Gesellschaft Strukturen (Erwartungen) eingerichtet hat und ihre Autopoiesis strukturkonform, aber auch innovativ und schließlich auch in der Form von Konflikten fortsetzen kann" (Luhmann 1993: 567). Konfliktsysteme reagieren auf eingeführte Unterschiede durch internen Widerstreit. Welche Unterschiede diese Unterschiede strukturell für das Gesamtsystem machen, darüber ist keine eindeutige Aussage möglich, weil jeder Antwortversuch darauf nur einander ausschließende Alternativen nennen kann. Kontroversen spalten die Informationsproduktion im System entlang der Beiträge der
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streitenden Parteien. Jeder Kommunikationsbeitrag für sich eröffnet bestimmte Anschlussmöglichkeiten, die aber durch einen widersprechenden Beitrag negiert werden. Im Blick auf das System wird dadurch Unbestimmtheit erzeugt.16 Als System erzeugt es Rauschen /Lärm statt anschlussfähiger Information. Wer etwa eine offene wissenschaftliche Kontroverse beobachtet, wird keine Antwort auf die Frage finden, was ,die Wissenschaft' zu dem verhandelten Thema sagt, und muss deshalb ratlos bleiben, wenn er sich auf den übereinstimmenden Rat ,der Experten stützen will. Konflikte besetzen die interne Struktur eines Systems. Für Interaktionssysteme bedeutet dies: Als üWoparasit, der im Inneren des Systems siedelt, bleibt der Konflikt auf Anwesende begrenzt.17 Davon zu unterscheiden sind ¿¡"¿ioparasiten, die sich an der Grenze von System und Umwelt anlagern und sie unterminieren können. Anwesenheit steht in Interaktionssystemen nicht nur für direkte kommunikative Adressierbarkeit, sondern indiziert zugleich diejenigen Erwartungen, an denen sich die Auswahl von Mitteilungen orientiert. Die Themenwahl berücksichtigt den Wissensstand, die Interessen und die Empfindlichkeiten der Anwesenden. Uber Anwesende wird nicht gelästert, über Abwesende jedoch gerne und ausgiebig. Kritische Bemerkungen über Abwesende müssten von den Betroffenen u. U. als Angriff oder Beleidigung gedeutet und mit Vergeltung beantwortet werden. Vieles wird deshalb nur aufgrund der Erwartung mitgeteilt, dass die Anwesenden es nicht weitertragen. Diese Unterstellung ist von hervorgehobener Bedeutung. Sie entlastet die Kommunikation von der ständigen Berücksichtigung der Erwartungen Abwesender, die zu ignorieren man sich nicht leisten könnte, sofern man davon ausgehen müsste, dass ihnen das hier und jetzt Gesagte später zugetragen wird. Ermöglicht wird so die strukturelle Autonomisierung der jeweiligen Interaktion gegenüber ihrer sozialen
16 Vgl. in diesem Sinne L u h m a n n (1984: 493) mit der Feststellung: „... die Form des Widerspruchs scheint dann dazu zu dienen, die schon erreichte Sinnbestimmtheit wieder in Frage zu stellen. Der Widerspruch ist eine Unbestimmtheit des Systems, nicht eine Unbestimmtheit der Einzeloperation; aber er entzieht diesen Operationen dann den Bestimmtheitsgewinn, den sie aus der Teilnahme am System herleiten, den sie als Elemente des Systems aus der basalen Selbstreferenz ziehen können." 17
Damit ist weder unterstellt, dass Konflikte nur in Interaktionssystemen möglich sind, noch die Behauptung impliziert, dass Konflikte immer als Parasiten zu deuten sind.
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Umwelt. 1 8 O f t wird die E r w a r t u n g , dass Gesagtes nicht über den Kreis der Anwesenden hinaus verbreitet wird, im N a c h h i n e i n enttäuscht. I m Einzelfall mag dies auf unbedachte Ä u ß e r u n g e n eines Teilnehmers gegenüber Dritten z u r ü c k z u f ü h r e n sein. D a r ü b e r hinaus sind hier jedoch auch Parasiten a m Werk, welche die Grenze der Interaktion systematisch unterminieren. Die notorische .Klatschbase', die brisant erscheinende Informationen gerne nutzt, u m die Aufmerksamkeit anderer auf sich zu ziehen, der ,Spion des Chefs im Kollegenkreis, der V - M a n n der Polizei im kriminellen Milieu oder der I n f o r m a n t der Parteileitung bzw. des Geheimdienstes unter totalitären politischen Regimen - sie alle sabotieren die Grenze der Interaktion, transportieren Interna nach draußen. Ihre Rolle ist freilich nur die von Kopplungsinstanzen, die es anderen sozialen Systemen ermöglichen (seien dies andere Interaktionssysteme, insbesondere im M o d u s der Klatschkommunikation, oder Organisationen), sich über sie f^ioparasitär an den Binnenkontext von Interaktionen zu koppeln u n d daraus Informationen f ü r den eigenen Gebrauch abzusaugen. Technische Abhöreinrichtungen können diese Kopplungsagenten ersetzen. 19 Z u r Störung f ü r die interaktionssysteminterne K o m m u n i k a t i o n werden ektoparasitäre Kopplungen, w e n n mit ihnen gerechnet werden muss, „mit der Folge, dass in allen Interaktionssituationen etwas Abwesendes (und deshalb: Ungreifbares) anwesend ist" ( L u h m a n n 2 0 0 2 : 271). 2 0 Das anwesende Abwesende n i m m t hier den Platz eines die Systemgrenzen unterminierenden eingeschlossenen ausgeschlossenen Dritten u n d d a m i t den Platz des Parasiten ein. U n sicher ist d a n n , welche E r w a r t u n g e n Abwesender
18 Dass es sich hierbei tatsächlich um eine real fungierende Unterstellung handelt, zeigt das bekannte Krisenexperiment von Garfinkel, in dem der Experimentierende im Verlauf eines Gesprächs seine Jacke öffnet und den Gesprächspartner auf ein darin steckendes laufendes Tonaufzeichnungsgerät mit den Worten hinweist: „See what I have?" — Wie Garfinkel berichtet, waren daraufhin typischerweise Reaktionen der folgenden Art zu verzeichnen: „An initial pause was almost invariably followed by the question, ,What are you going to do with it?' Subjects claimed the breach of the expectancy that the conversation was .between us'" (Garfinkel 1967: 75). " U n d sie können darüber hinaus, wenn an elektronische Verbreitungsmedien angekoppelt, Geheimdienste zu Parasiten ungeheurer Mengen nicht-öffentlicher Kommunikation aus allen Bereichen der Gesellschaft machen, wie die NSA-Affare plastisch vor Augen geführt hat. 20 Vgl. für „totalitäre Interaktion" ausführlicher Misheva
1993: 190 f.
von den Anwesenden vermutet u n d bei der W a h l von Themen u n d Beiträgen in R e c h n u n g gestellt werden. Als Resultat des sozial generalisierten diffusen Verdachts, dass in jeder Interaktion verdeckte Mitbeobachter präsent sein könnten, muss von allen Teilnehmern mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass die Kommunikationsbeiträge der Anwesenden i m m e r auch, w e n n nicht gar primär, auf den Erwartungshorizont latenter Adressaten zugeschnitten sind. Jede Ä u ß e r u n g k a n n taktisch motiviert sein u n d deshalb unter Simulationsverdacht gestellt werden. Wer in totalitären politischen Systemen Z u s t i m m u n g zur Linie der herrschenden Partei äußert, m a g dies t u n , u m abweichende U b e r z e u g u n g e n zu verbergen. Wer sich dagegen als Kritiker der Partei exponiert, agiert möglicherweise als Agent provocateur, der andere zur offenen Ä u ß e r u n g inkorrekter Einstellungen motivieren will, die das Material f ü r seine Berichte liefern. Erzeugt wird so eine jederzeit aktivierbare Unsicherheit darüber, inwiefern das Kommunikationsverhalten von Teilnehmern d u r c h externe E r w a r t u n g e n eines latent u n d parasitär an die Interaktion andockenden Sozialsystems konditioniert ist u n d mit welchen späteren Anschlussreaktionen latent anwesender Abwesender gegebenenfalls gerechnet werden muss. Das Wissen u m die mögliche Präsenz des Parasiten genügt, u m die Interaktion mit R a u s c h e n / L ä r m , d . h . mit Unsicherheit über die darin zu berücksichtigenden E r w a r t u n g e n zu durchsetzen. Es genügt, weil es die Frage unentscheidbar werden lässt, wie weit der E r w a r t u n g s horizont u n d die Anschlussmöglichkeiten in der Sach-, Zeit- u n d Sozialdimension reichen, die den Ausschlag d a f ü r geben, welche Unterschiede eine Mitteilung f ü r später darauf referierende (und den Autor zur V e r a n t w o r t u n g ziehende) Folgekommunikationen machen k a n n . Eine naheliegende Reaktion auf eine solche Situation ist es d a n n , potentiell problematische Themen zu meiden, w o d u r c h die Interaktion einen distanziert-unpersönlichen u n d ritualisierten Stil a n n e h m e n k a n n , der es erlaubt, die K o m m u n i k a t i o n auf das einzuschränken, was o h n e Risiko möglich erscheint. 2 1 Die Tendenz zur Ritualisierung u n d thematischen E i n s c h r ä n k u n g der Interaktion unter Anwesenden als Folge der Unsicherheit im Blick auf die mögliche Subversion ihrer Außengrenzen k a n n auch unter ansonsten ganz anderen gesellschaftsstrukturellen 21
Als exemplarischen Beleg dazu aus dem Bereich privater Kommunikation zwischen Freunden und Bekannten in Moskau während der Sowjetära vgl. Fisher-Ruge 1984: 168 f.
Wolfgang Ludwig Schneider: Parasiten sozialer Systeme
Voraussetzungen und bei einer anderen Besetzung der Position des Parasiten beobachtet werden. So unter Bedingungen eines noch starken Einflusses von segmentären Strukturen gesellschaftlicher Differenzierung, wenn die Wahrscheinlichkeit von Gewaltkonflikten nach öffentlichem Bekanntwerden von potentiell ehrverletzenden Äußerungen hoch ist.22 In beiden Fällen führt Lärm zur Rigidisierung der Interaktion unter Anwesenden, weil deren Gefährdung durch den einen oder anderen Parasiten so am einfachsten begegnet werden kann. Bei allen Unterschieden, die dabei in den Details der Vorkehrungen und Vermeidungsstrategien festzustellen sind, werden die Chancen der strukturellen Individualisierung von Interaktionsbeziehungen dadurch auf enge Vertraute sowie auf Situationen eingeschränkt, in denen keine unzuverlässigen' Dritten anwesend sind. 23 Unter den Bedingungen lokal fortbestehender Dominanz segmentärer Differenzierung mit dörflichen Siedlungsstrukturen droht die Unterminierung der Unterscheidung von Anwesenden und Abwesenden in der Interaktion freilich nicht primär durch Geheimdienste (als Organisationen des politischen Systems) und ihre Informanten, 24 sondern vor allem durch den Klatsch der Dorfìffentlichkeit und deren allgegenwärtige Zuträger (vgl. Schneider 2012).25 In den noch primär durch die Form segmentärer Differenzierung geprägten Gesellschaften mit ge22
Eine solche Konstellation hat Werner Schiffauer (1987) in einem anatolischen D o r f beschrieben, in dem die segmentare Differenzierung in Familienhaushalte, die auch als Einheiten der Durchsetzung von Rechtsansprüchen fungieren, u n d eine dieser S t r u k t u r korrespondierende Moral der Ehre das lokale Leben prägen. Siehe auch Bourdieus Untersuchung zu den Kabylen, in der es heißt: „Der ehrbewußte M a n n (argaz el'ali) m u ß unablässig auf der H u t sein; er m u ß aufpassen, was er sagt, denn ,das W o r t ist wie eine Gewehrkugel: es kehrt nicht zurück', u n d seine Verantwortung ist umso größer, als ja jede seiner Taten u n d jedes seiner W o r t e f ü r seine ganze G r u p p e verbindlich ist. ,Die Tiere bindet m a n an den Pfoten, die M ä n n e r binden sich durch ihre Zunge'" (Bourdieu 1976: 26). 23
In öffentlichen Situation k a n n dies bedeuten, dass Interaktion nach Möglichkeit überhaupt zu vermeiden ist; vgl. exemplarisch dazu die Ä u ß e r u n g eines jungen anatolischen M a n n e s in Schiffauer 1987: 230. 24
Wobei etwa in den kurdischen D ö r f e r n Anatoliens aber auch damit gerechnet werden muss. 25 „Allgegenwärtig" ist hier durchaus wörtlich zu nehmen, wie das folgende kabylische Sprichwort erkennen lässt, das zugleich eine tief verwurzelte Angst vor dem ,„Wort der Leute'" (Bourdieu 1976: 28) anzeigt: „Wer sagt, d a ß die Felder leer (verlassen) sind, der ist selber leer an Verstand" (ebd.).
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ringer Fluktuation des Personals, in denen die soziale Umwelt jeder Interaktion vor allem aus anderen Interaktionen und rekurrenten Interaktionszusammenhängen besteht, stellt sich das Problem der Verwischung der System / Umwelt-Differenz für die einzelne Interaktion in besonderem Maße (dazu und zum folgenden vgl. Schneider 2012: 610 f.). Solche Gesellschaften lassen sich tendenziell noch als Populationen von Interaktionssystemen beschreiben, die durch kontinuierlich die Systemgrenzen kreuzende Personen strukturell gekoppelt sind. Das „Gesetz des Wiedersehens" (Luhmann 1973: 39) sorgt dafür, dass die Engagements, deren Übernahme Personen als Resultat ihrer Teilnahme an vergangenen Interaktionen von anderen zugeschrieben wird, in späteren Interaktionen erinnert und als Einschränkung ihrer Möglichkeiten wirksam werden. Weil dieser Effekt von den Interaktionsteilnehmern antizipiert werden kann, versuchen sie, ihr je aktuelles Verhalten im Blick auf dessen zukünftige Bindungswirkungen zu disziplinieren. Die Autonomie der einzelnen Interaktion wird so durch ihre absehbare Kopplung mit anderen Interaktionen drastisch eingeschränkt. Klatsch fungiert hier als Einrichtung für die Herstellung solcher Kopplungen. Mit dem generalisierten Zwang zur Rücksichtnahme auf die möglichen Deutungen des Interaktionsverhaltens durch die Öffentlichkeit des Dorfes im Klatsch, tritt die Differenz zwischen der laufenden Interaktion und ihrer gesellschaftlichen Umwelt in die Interaktion selbst ein, 26 verwischt deren Grenze, durchsetzt sie mit Rauschen. Hier ist es die Gesellschaft, die durch Klatsch an den vielen Interaktionen parasitiert, durch die und in deren kontinuierlich hergestellter Verknüpfung sie sich reproduziert. 27
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Vgl. auch Kieserling (1999: 314, Fn. 19), der komplementär dazu aus der Perspektive des Klatsch betreibenden Interaktionssystems Klatsch „als eine besondere Form der Reflexion der Gesellschaft in der Interaktion" begreift. Uneingeschränkt gilt diese These m . E . für den Klatsch in segmentär differenzierten Gesellschaften, nicht aber f ü r den Nachbarschaftsklatsch in modernen städtischen Wohnquartieren oder den Klatsch unter Kollegen in Organisationen. 27
Als Indiz dafür, dass diese Interpretation keiner bloßen Projektion eines an die moderne Differenzierung von Interaktion u n d Gesellschaft gewöhnten Beobachters entspringt, lässt sich die Institutionalisierung von Geheimnisbereichen zur Absicherung der Innen / Außen-Differenz konzentrisch gestaffelter Interaktionszusammenhänge deuten, wie sie Bourdieu von den Kabylen berichtet: „Es gibt ebenso viele ineinandergefügte Gruppen wie konzentrische Geheimnisbereiche: das H a u s ist der innerste Geheimnis-
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Als Zwischenresümee kann festgehalten werden, dass wir bisher zwei Formen der Störung und Parasitenbildung in sozialen Systemen vom Typ der Interaktion unterschieden haben: (1) R a u s c h e n / L ä r m kann systemintern durch die Ablehnung von Kommunikationen erzeugt werden, weil dadurch unklar wird, inwiefern die Erwartungen, auf denen die Unterstellung der A n n a h m e fahigkeit der zurückgewiesenen Kommunikationen gründete, im System gelten oder nicht gelten. Mit diesem ins System eingeführten Widerstreit wird unsicher, ob die enttäuschten (sowie andere, mit ihnen eng verbundene) Erwartungen zukünftig im System weiterhin als Prämissen der Informationserzeugung verwendet werden können, ob also die aktuelle Enttäuschung (statt Erfüllung) dieser Erwartungen ein Unterschied ist, der für die zukünftige Selektion kommunikativer Ereignisse einen Unterschied macht oder nicht. Eine rasche Anpassung enttäuschter Erwartungen eliminiert diese Störung ebenso, wie das unwidersprochene Festhalten an ihr gegen die punktuelle Enttäuschung. Reproduktionsfahig wird die Störung nur dann, wenn der Widerstreit der Erwartungen kontinuiert, d. h. die Kommunikation auf Konflikt umschaltet. Der Konflikt, der das Interaktionssystem besetzt und ihm seinen eigenen Reproduktionsmodus aufzwingt, nistet sich ein als Endoparasit, der die Erzeugung von Lärm im System durch das Aufeinanderprallen inkompatibler Erwartungen perpetuiert, aber gerade dadurch auch die Reproduktion des Systems trotz selektiven Ausfalls einer konsistenten Erwartungsgrundlage ermöglicht und u. U. den Weg f ü r die Etablierung innovativer Erwartungsstrukturen bereiten kann. Interne DifFerenzierungsmöglichkeiten als Mittel d e r K o n f l i k t v e r m e i d u n g b z w . -Isolierung stehen I n -
teraktionssystemen kaum zur Verfügung. Deshalb haben sie „nur die Wahl, Konflikte zu vermeiden oder Konflikte zu sein" (Luhmann 1975a: 17). Werden divergierende Auffassungen oder Themeninteressen erkennbar, besteht zwar die Möglichkeit des ,splitting' der Interaktion. Deren Nutzung ohne E i n f ü h r u n g organisatorischer Vorkehrungen f ü h r t jedoch nicht zur internen Differenzierung, 2 8 son-
bereich i n n e r h a l b des engeren oder weiteren Clans; dieser ist seinerseits der Geheimnisbereich i n n e r h a l b des D o r f e s , das w i e d e r u m eine G e h e i m n i s z o n e gegenüber d e n anderen D ö r f e r n bildet" (Bourdieu 1976: 38). 28 U m ein I n t e r a k t i o n s s y s t e m m i t einer g r o ß e n A n z a h l von T e i l n e h m e r n über längere Zeit a u f r e c h t z u e r h a l t e n , wie dies z. B. in Schulklassen, T e a m s i t z u n g e n oder Sem i n a r e n der Fall ist, b e d a r f es vor allem privilegierter
d e m zum Zerfall eines Interaktionssystems in eine Mehrzahl von Interaktionen, die unkoordiniert nebeneinander prozessieren. 29 (2) Die zweite Form der Produktion von Lärm unterminiert die Unterscheidung, die das System gegenüber seiner Umwelt abgrenzt, bei Interaktionssystemen also die Differenz Anwesende/ Abwesende. Ektoparasiten aus der sozialen Umwelt des Systems, wie staatliche Geheimdienste oder die Öffentlichkeit des Dorfes, werden zu latent anwesenden Abwesenden durch informelle Mitarbeiter, V-Leute und Klatschmäuler. Wenn mit der verborgenen Präsenz ektoparasitärer Agenten gerechnet werden muss, wird unsicher, in welchem M a ß e die Kommunikation auf die Erwartungen Anwesender oder Abwesender zugeschnitten ist. Die Unterscheidung Anwesende/Abwesende erscheint d a n n als ein Unterschied, bei dem unklar ist, welchen Unterschied er für die Auswahl von Themen und Beiträgen macht. Gegen Störungen dieses Typs und die sie erzeugenden Ektoparasiten können sich Interaktionssysteme durch Ritualisierung der Kommunikation und Themenvermeidung immunisieren. Sie werden dadurch unempfindlich gegenüber der Differenz zwischen internen und externen Erwartungen, zahlen dafür jedoch den Preis des Verlustes von Autonomie gegenüber ihrer gesellschaftlichen Umwelt. Beide Formen der Störung entstehen durch die Einf ü h r u n g eines ausgeschlossenen Dritten ins System, das als eingeschlossenes ausgeschlossenes Drittes im Sinne Serres' und Luhmanns fungiert: im endo^ir rasitären Fall durch Einschluss einander ausschließender Erwartungsprojektionen im Modus des Konflikts; im «^»parasitären Fall durch Einschluss der Innen / Außen-Differenz von Anwesenden und Abwesenden ins System in der Figur des (bzw. der) anwesenden Abwesenden.
Sprecherrollen, die von der M e h r z a h l der T e i l n e h m e r schweigende A u f m e r k s a m k e i t b e a n s p r u c h e n k ö n n e n . U n t e r solchen Voraussetzungen, die vor allem in organisierten I n t e r a k t i o n e n erfüllt sind, besteht die M ö g l i c h k e i t der i n t e r n e n D i f f e r e n z i e r u n g eines I n t e r a k t i o n s s y s t e m s in eine M e h r z a h l parallel prozessierender I n t e r a k t i o n e n , in d e n e n jeweils b e s t i m m t e T e i l a u f g a b e n i m Blick a u f einen vorgegebenen G e s a m t z w e c k bearbeitet u n d deren E r g e b nisse d a n n in einer a n s c h l i e ß e n d e n P l e n u m s i n t e r a k t i o n z u s a m m e n g e f ü h r t werden. 29
W a s e t w a bei S t e h p a r t y s leicht zu b e o b a c h t e n ist.
Wolfgang Ludwig Schneider: Parasiten sozialer Systeme
4. Parasiten von Organisationen Die Anwendung der Parasitenfigur auf Organisationen kann sich auf zahlreiche Anknüpfungspunkte in den frühen und späten organisationssoziologischen Arbeiten Luhmanns stützen. Organisationen reproduzieren sich operativ durch die Verkettung von Entscheidungen (vgl. Luhmann 2000: 63 ff.). Strukturell können sie als Einheit der Differenz von formaler und informaler Organisation verstanden werden (vgl. Luhmann 2000: 24 f.). Die Formalstruktur definiert die offizielle Identität einer Organisation (vgl. Luhmann 1964: 29). Ihre Anerkennung ist deshalb Bedingung der Mitgliedschaft. Formalisierte Erwartungszusammenhänge unterliegen der Anforderung der Konsistenz (was freilich Vagheit und unterschiedliche Auslegbarkeit nicht ausschließt) und beanspruchen im Konfliktfalle mit abweichenden Erwartungen alleinige Legitimität (vgl. Luhmann 1964: 63 f., 296). Die Formalstruktur limitiert daher die Möglichkeit der organisationsinternen Bildung von Subsystemen (wie Teilbetrieben, Abteilungen, Referaten, Projektgruppen etc.), für deren strukturelle Integration sie zugleich sorgt (vgl. Luhmann 1964: 79). Interne Differenzierung einer Organisation bedeutet, dass bestimmte Teilaufgaben bzw. Teilzwecke für die einzelne Untereinheit mit Zentralrelevanz ausgestattet werden und die Probleme, die in anderen Einheiten der Organisation zu lösen sind, insofern nachgeordnet erscheinen. Weil jede Organisationseinheit die verschiedenen Aufgaben, die in einer Organisation insgesamt zu erfüllen sind, soweit sie diese überhaupt wahrnimmt, in eine andere, gleichsam egozentrisch angelegte Rangordnung bringt, kommt es zu einander widerstreitenden Prioritätensetzungen zwischen den Subsystemen. Im Organisationsalltag können solche Differenzen über weite Strecken ausgeblendet werden. Sofern sie aber offen ausgetragen werden müssen, artikulieren sie sich als Dissens und Konflikt zwischen gegensätzlichen Situationsdeutungen und Erwartungsprojektionen. Neben der Belastung durch interne Widersprüche ist jede Organisation mit unterschiedlichen, wandelbaren und häufig gegensätzlichen Anforderungen ihrer verschiedenen Umwelten (wie Zulieferern, Kunden, Mitarbeitern, Kredit gewährenden Banken, Aktionären etc.) konfrontiert und im Interesse der Sicherung des eigenen Fortbestandes gehalten, diesen Anforderungen in irgendeiner Weise Rechnung zu tragen (vgl. Luhmann 1964: 269). Sowohl als Folge interner Differenzierung als auch in Reaktion auf divergierende Erwartungen aus den verschiedenen Um-
95 weltsegmenten werden demnach widersprüchliche Orientierungen in einer Organisation entwickelt, die aufgrund ihrer Gegensätzlichkeit nur durch sorgfältige Trennung der Situationen ihres Gebrauchs nebeneinander praktiziert, nicht aber zusammen in die Formalstruktur der Organisation aufgenommen werden können. Aus diesem Grunde können Organisationen immer nur einen Teil der in ihnen benutzten Erwartungen formalisieren. Erwartungen und Handlungen, die von der Formalstruktur abweichen und deren ausnahmslose Geltung in Frage stellen, erscheinen so nicht legitimierbar und dennoch häufig relevant für die Erfüllung von Bedürfnissen der Organisation. Weder ohne weiteres verzichtbar noch legitimationsfähig werden sie in die Sphäre formaler Illegalität gedrängt und müssen durch Schranken der Kommunikation dagegen geschützt werden, in offenen Widerspruch zu formalen Erwartungen zu geraten (vgl. Luhmann 1964: 280 f.). Das heißt aber gerade nicht, dass sie damit bedeutungslos für die Strukturierung entscheidungsbezogener Kommunikation würden. Erwartungen im Blick auf die Veränderung von Ressourcenverteilungen, Einflussmöglichkeiten und Karrierechancen für bestimmte Personen bzw. Personengruppen etwa fungieren als gewichtige Kriterien, wenn es um die Entscheidung zwischen unterschiedlichen Zielprojektionen oder verschiedenen Möglichkeiten der Neuregelung von Kompetenzen in einer Organisation geht. Als legitime Kriterien für die Formulierung offiziell akzeptabler Begründungen, die für oder gegen bestimmte Entscheidungsalternativen Stellung nehmen, lassen sie sich meist nicht verwenden. Gleichwohl dienen sie als „mikropolitisch" (vgl. Bums 1961) relevante Orientierungsgesichtspunkte, welche in engeren Zirkeln genutzt werden, um die erwartbaren Konsequenzen verschiedener Entscheidungsmöglichkeiten zu reflektieren oder das Verhalten zu vorgelegten Alternativen zu koordinieren, und die so auch Entscheidungskonflikte strukturieren können. Konflikte in Organisationen sind deshalb häufig Ausdruck des Widerstreits zwischen verschiedenen partikularen informalen Entscheidungsprämissen bzw. zwischen informalen und formalen Kriterien der Entscheidung. Nicht legitimierbare informale Orientierungen für die kontinuierliche Beobachtung, Bewertung und Abstimmung der Kommunikation in Organisationen können am besten in solchen Interaktionszusammenhängen entwickelt und benutzt werden, die in der Lage sind, ihre Binnenkommunikation auf der Basis von wechselseitigem Vertrauen und
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Verschwiegenheit gegenüber der innerorganisatorischen Umwelt abzuschütten. In der älteren organisationssoziologischen Forschung, an die L u h m a n n in „Funktionen und Folgen formaler Organisationen" ausdrücklich anschließt, firmieren solche Interaktionszusammenhänge unter dem Begriff der Clique,30 der dort oft als negativ konnotierte Version des (positiv besetzten) Gruppenbegriffs verwendet wurde. In den späteren organisationssoziologischen Texten verwendet L u h m a n n diesen Begriff nicht mehr. Statt dessen äußert er die Erwartung, „dass der Begriff der informalen Organisation und mit ihm der Gruppenbegriff durch eine Theorie der Interaktionssysteme ersetzt" werde (Luhmann 2000: 25). Zugleich betont er jedoch weiterhin die Relevanz der Problemstellung, auf die das Konzept der Clique bezogen war, nämlich, „dass sich in Organisationssystemen Systeme eines anderen Typs bilden und den Einfluss auf die Entscheidungen mehr oder weniger usurpieren" (Luhmann 2000: 25). Ein in diesem Z u s a m m e n h a n g ebenfalls erwähnter, aber vor allem auf die Beziehungen der Grenzstellen von Organisationen zu Umweltsystemen bezogener Begriff, der neuerdings verstärkt diskutiert wird (vgl. Bommes & Tacke 2011), ist der des Netzwerkes (vgl. L u h m a n n 2000: 25, 385 f. und 408 f.). O h n e dies hier näher ausführen zu können, erscheint mir dieser Begriff als aussichtsreiches Konzept (vgl. dazu Schneider/Kusche 2011), das sowohl für die genauere theoretische Bestimmung von informalen Interaktionszusammenhängen bzw. -systemen in Organisationen geeignet ist, als auch für die Analyse vertrauensbasierter Beziehungen zwischen verschiedenen Organisationen, seien diese nun legaler oder illegaler Art (vgl. L u h m a n n 2000: 386). Cliquen (vgl. Dalton 1959: 52) - bzw. in dem hier und im folgenden bevorzugten Sprachgebrauch — organisationsinterne Netzwerke gelten als wesentliche Träger des Konfliktgeschehens in Organisationen. Insofern sie strukturelle Widersprüche in Konflikte transformieren, etablierte Konflikte perpetuieren und sich durch ihre Partizipation an Konflikten zugleich selbst reproduzieren, ohne jedoch als legitimierte Adressen (wie etwa Abteilungen, Referate oder offiziell eingerichtete Arbeitsgruppen einer Organisation) an diesen Konflikten teilnehmen zu können, fungieren sie als Parasiten, die sich in das interne Kommunikationsgeschehen von Organisationen einnisten. Für die Konflikte selbst ist dabei
festzustellen: Sofern sie im Rahmen formalisierter Entscheidungsverfahren betrieben und gelöst werden (vgl. L u h m a n n 1983: 102), haben sie ihren parasitären Status verloren. Z u Einrichtungen des Systems domestiziert, ermöglichen sie dann die geregelte Umwandlung von Lärm in Information. Gegenpositionen lassen sich freilich nicht immer mit offiziell vorzeigbaren Begründungen ausrüsten. Eine Alternative zum geregelten Konflikt, die es ermöglicht, die Austragung struktureller Gegensätze im offenen kommunikativen Widerstreit zu vermeiden, besteht dann in der verdeckten Praktizierung abweichenden Verhaltens. 31 Widersprüche zwischen gegensätzlichen Erwartungen nehmen hier die Form einer performativen Paradoxie an: Die in der Abweichung verletzten und damit als ungültig behandelten normativen Erwartungen werden durch die koordinierten Anstrengungen, das abweichende Verhalten zu verbergen, zugleich als sozial geltend bestätigt. Insofern einander ausschließenden Erwartungen auf diese Weise zugleich Rechnung getragen wird, liegt hier eine weitere Form des Einschlusses eines ausgeschlossenen Dritten ins System vor. Informale Netzwerke versorgen dabei die Handelnden mit dem benötigten Latenzschutz und finden in diesem Bedarf eine zusätzliche Grundlage für ihre Reproduktion (vgl. exemplarisch Bensman & Gerver 1963). O b als Konflikte betreibende oder abweichende Praktiken koordinierende und verdeckende Instanzen - in beiden Fällen funktionieren Netzwerke als Einrichtungen, welche die Prozessierung struktureller Widersprüche ermöglichen, regulieren und sich dadurch reproduzieren. Sie übernehmen damit die Rolle von Parasiten im Sinne der oben umrissenen D e u t u n g dieser Figur. Als Instanzen der Vermittlung zwischen den formalisierten normativen Ansprüchen, die organisationsweite Geltung beanspruchen, und den damit zum Teil inkompatiblen Anforderungen, mit denen sich die verschiedenen Subsysteme einer Organisation konfrontiert sehen, erhöhen parasitäre Netzwerke die Flexibilität und Reaktionsfähigkeit der Organisation gegenüber wechselnden und oft gegensätzlichen Anforderungen und tragen so zur Sicherung des Fortbestandes der Organisation bei, ohne jedoch selbst den Status legitimer Teilsysteme beanspruchen zu können. Unter solchen Bedingungen verhalten sich organisations?'»^««· Netzwerke als reziproke Endopzt3.six.en (alias Endosymbionten) zu den sie
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Vgl. dazu exemplarisch Dalton 1959: 5 2 - 6 8 sowie Luhm a n n 1964: 324—331 u n d die weitere dort angegebene Literatur.
31
Vgl. dazu unter dem Stichwort „brauchbare Illegalität" L u h m a n n 1964: 304 ff.
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beherbergenden Organisationen. Gezwungen, in vielen Situationen im Bereich der Illegalität zu operieren,32 können sie freilich auch Ziele verfolgen, die zu Lasten der Organisation gehen. Gleiches gilt, wenn gravierende Konflikte zwischen rivalisierenden Netzwerken zur Spaltung der Organisation in einander befehdende Lager führen und die alltäglichen Abläufe beeinträchtigen. In dieser Weise agierend reproduzieren sie sich als ihren Wirt einseitig ausbeutende und dadurch schädigende unilaterale ¿•Woparasiten.33 Marc Granovetter (2000; vgl. dazu auch Luhmann 2000: 408 f.) hat auf die Allgegenwart von vertrauensbasierten Beziehungen des Netzwerktyps im ökonomischen System hingewiesen, die sich nicht nur im Binnenkontext von Organisationen, sondern auch und gerade zwischen verschiedenen Organisationen am Markt beobachten lassen. Die „eingebettete" Durchführung ökonomischer Transaktionen mit netzwerkzugehörigen Partnerorganisationen habe dabei oft eine höhere Priorität als die Orientierung an Preisdifferenzen und die Möglichkeit der Kostenersparnis durch Kauf bei billigeren Anbietern. Der ausschlaggebende Faktor, der diesen Befund erklären kann, ist die Unsicherheit der zu erwartenden Transaktionskosten bei Geschäften mit unbekannten Organisationen. Preise (als Informationen über Zahlungserwartungen; vgl. Luhmann 1988: 18 ff.) sind Unterschiede, bei denen ohne jede Abschätzbarkeit der zu erwartenden Transaktionskosten unsicher bleibt, welche Kostenunterschiede sie machen. Die Entscheidung für einen unbekannten billigeren Anbieter kann deshalb teuer zu stehen kommen. Dass der billigere Anbieter sich als der teurere erweisen kann, ist die Paradoxie, die es aufzulösen, bzw. der in der Kalkulation unvermeidbar eingeschlossene ausgeschlossene Drittwert, dessen Rauschen es zu unterdrücken gilt. In der Transformation dieses Lärms in Information besteht eine wesentliche Funktion von /«íÉTOrganisationellen Netzwerken im ökonomischen System, die sich an dieser Paradoxie festsetzen und in ihr ihre Reproduktionsgrundlage finden. Erst zusammen mit annähernd kalkulierbaren Transak32
„Illegalität" bezeichnet hier die Relation zu den formalisierten Erwartungen, die innerhalb der Organisation normative Geltung beanspruchen, besagt also nichts über das Verhältnis abweichender Handlungen und Erwartungen zu den unabhängig von der Formalstruktur einer Organisation geltenden Normen staatlichen Rechts. 33
„üWoparasiten" deshalb, weil diese Netzwerke die Organisationsmitgliedschaft der daran Partizipierenden voraussetzen.
tionskosten erhalten Marktpreise den erforderlichen Informationswert, um zwischen zahlen und nicht zahlen entscheiden zu können. 34 Erfahrungsbasiertes Vertrauen ermöglicht es, die hier bestehende Erwartungsunsicherheit hinreichend zu reduzieren, um eine solche Kalkulation annähernd zu ermöglichen. Derartige Netzwerke leben gleichsam davon, dass sie in dieser Funktion benötigt und deshalb immer wieder in Anspruch genommen werden.35 Sie parasitieren insofern an den Organisationen des Wirtschaftssystems, freilich in einer Weise, die diese Organisationen nicht schädigt, sondern ihnen nützt. Netzwerke dieser Variante fungieren demnach typisch als reziproke Parasiten (alias Symbionten). Die Adressen, durch deren Verbindung solche Netzwerke geknüpft werden, sind vor allem die Inhaber von „Grenzstellen" (vgl. Luhmann 1964: 220 ff.) von Organisationen wie Ein- und Verkäufer, Kundenbetreuer etc. Die von diesen Grenzstellen aufgebauten persönlichen Beziehungen „sind Arbeitsmittel im notwendigen Privatbesitz" (Luhmann 1964: 238), die im Interesse der eigenen Organisationen genutzt werden können, die aber zugleich besondere Pflege verlangen, so etwa durch die Weitergabe wichtiger Informationen, Rücksichtnahme auf die Situation des Kontaktpartners, Entgegenkommen in Verhandlungen durch Tauschgeschäfte und persönliche Gefälligkeiten. Die Grenze von strategischer Beziehungspflege zum Verrat an den Interessen der Organisation oder zur Korruption kann dabei leicht überschritten werden. Ektoparasitäre Netzwerke persönlicher Beziehungen können deshalb von nützlichen Symbionten zu unilateralen, d.h. die Organisation schädigenden Parasiten mutieren. Formalisierte Regeln wie die, Aufträge grundsätzlich öffentlich auszuschreiben und dem billigsten Anbieter den Zuschlag zu erteilen, versuchen dieser Gefahr zu begegnen. Sie eliminieren u. U. aber auch den Spielraum, den die Grenzstellen von Organisa-
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Reduziert und besser berechenbar werden die Transaktionskosten hier vor allem dadurch, dass auch bei unerwartet auftauchenden Problemen mit der Bereitschaft des Vertragspartners zu einer raschen und kooperativen Lösung gerechnet werden kann, die im persönlichen Gespräch und unter Vermeidung ebenso langwieriger wie kostspieliger juristischer Auseinandersetzungen angestrebt wird; vgl. dazu Granovetter 2000: 192 f. 35
Vgl. dazu Luhmann (2000: 408; Hervorhebung im Original), wenn er feststellt: „Netzwerke bilden sich auf der Basis von konditionierter Vertrauenswürdigkeit. Sie ersetzen auf diese Weise die Sicherheit, die ein Organisationssystem in der Mitgliedschaft seiner Mitglieder findet."
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tionen benötigen, um persönliche Beziehungen aufrecht zu erhalten und dadurch die Transaktionskosten für ihre Organisation erheblich zu senken. Wie Luhmann insbesondere am Beispiel Süditaliens diskutiert, können Netzwerke die Funktionsweise von Organisationen ihrem eigenen Reproduktionsmodus unterwerfen mit der Folge, dass mit der Leistungsfähigkeit von Organisationen zugleich die Eigenrationalität der Funktionssysteme gestört wird, denen diese Organisationen primär zugeordnet sind. Eine derartige Entwicklung sei ζ. B. zu beobachten, wenn mit der Auflösung stratifikatorisch differenzierter agrarwirtschaftlicher Ordnungen „Eigentum / Familie ... als Ressourcenquellen ersetzt (werden) durch die legalen / illegalen Einflussmöglichkeiten, die Positionen in Organisationen bieten" (Luhmann 1995a: 251; vgl. auch Eisenstadt & Roniger 1984: 65 ff.). Entkoppelt von traditionalen Ordnungen und übertragen auf die funktional differenzierte moderne Gesellschaft, beginnt „das Netzwerk der Gunsterweise und Vorteilsverschiebungen ... parasitär zu operieren" (Luhmann 1995a: 251). Für den Zugang zu Arbeitsstellen und Krediten, für die hinreichend schnelle Bearbeitung von Anträgen und von Klagen vor Gericht bedarf es dann der Inklusion in Netzwerke, weil die entsprechenden Leistungen faktisch nicht über universalistische Leistungsverpflichtungen der zuständigen Stelleninhaber in Organisationen, sondern nur in der partikularistischen Form von persönlichen (bzw. durch Dritte auf der Basis persönlicher Bekanntschaft vermittelten) Gefälligkeiten und Freundschaftsdiensten abgerufen werden können. Die Funktionssysteme und ihre Organisationen sind dabei zwar vorausgesetzt, sie arbeiten jedoch nicht nach ihren eigenen universalistischen Kriterien, sondern stellen über „Personen-in-Positionen" nur die ansprechbaren Adressen und die Ressourcen für das Operieren von Netzwerken bereit (Luhmann 1995a: 254). Über Ressourcentausch und wechselseitige Konditionierung von Entscheidungen werden gleichsam kurzschlüssige Querverbindungen zwischen Organisationen und Funktionssystemen hergestellt. Deren je interner Spielraum für die Selektion von Möglichkeiten auf der Basis systemeigener Kriterien wird dadurch drastisch eingeschränkt. An die Stelle der Konditionierung von Entscheidungen durch systemeigene ProgrammsunVxmm, die auf die Erfüllung der Systemfunktion zugeschnitten sind, tritt die Konditionierung durch systemfremde und funktions/'wadäquate Kriterien der Netzwerkzugehörigkeit, die als eingeschlossene ausgeschlossene Drittwerte fungieren. Indem Netzwerke das Operieren
von Organisationen und Funktionssystemen nach ihren eigenen partikularen Kriterien programmieren und dadurch deren Eigenrationalität beeinträchtigen, reproduzieren sie sich als (unilaterale) Parasiten dieser Systeme.
5. Parasiten von Funktionssystemen Funktionssysteme transformieren ständig anfallende Irritationen in Information (im Sinne der Batesonschen Definition; s. o.), indem sie jedes kommunikative Ereignis (d.h. einen ersten registrierten Unterschied) auf eine zweite Unterscheidung (den Code des Systems) beziehen und einem der beiden Seiten des Codes zuordnen. Im Unterschied zu Organisationen verfügen Funktionssysteme dabei nicht über die Möglichkeit zentralisierten Entscheidens. Zugleich sorgt der Umstand, „dass Funktionssysteme auf Variation hin stabilisiert sind" (Luhmann 1997: 494), für eine hohe Innovationsrate auf der Ebene der selektionsrelevanten Programme, deren Änderung mangels zentralisierter Entscheidungsfahigkeit in der Regel nicht synchron erfolgen kann. Zusammen mit der Interpretationsbedürftigkeit der Selektionskriterien hat dies zur Folge, dass im System für die gleichen Kommunikationen oft gegensätzlich Codewertzuordnungen parallel prozessiert werden. Solange dies geschieht, ist der Versuch der Informationsgewinnung im System (vorerst) gescheitert. 36 Damit bleibt ungeklärt, welche der beiden möglichen Codewertzuordnungen als Prämisse kommunikativer Anschlüsse zugrunde zu legen ist. Die dann an dieser Stelle drohende Blockierung der Fortsetzung der Kommunikation im System kann vermieden werden, indem diese Unsicherheit in die Form einander widerstreitender Zuordnungen transformiert und als Kontroverse (ζ. B. als Rechtsstreit, wissenschaftliche Diskussion oder als öffentliche Debatte zwischen Regierung und Opposition) ausgetragen Erneut ist hier zu betonen: im System. Denn auf der operativen Ebene wird ja durch die Einzelkommunikation jeweils ein bestimmter Codewert zugeschrieben und dadurch selbstverständlich Information produziert, die als Bezugspunkt für bestimmte Anschlussselektionen angesteuert werden kann. Indem aber verschiedene Kommunikationen dem ansonsten gleichen Mitteilungsinhalt gegensätzliche Codewerte zuordnen, wird die mit einer Einzelkommunikation bereits erreichte Sinnbestimmtheit durch eine widerstreitende Codewertzuordnung wieder in Frage gestellt und damit eine erwartungsstrukturelle Unbestimmtheit im System mit der Folge beliebiger Anschlussmöglichkeit erzeugt (vgl. Luhmann 1984: 493). 36
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wird. 37 Das vorläufige Scheitern der eindeutigen Codewertzuordnung kommt der Einführung eines durch den binären Code ausgeschlossenen Drittwertes ins System gleich und erzeugt damit Lärm anstelle von Information im System, der zum Stimulus für antagonistische Anschlusskommunikationen wird. Wie Organisationen benutzen auch einige Funktionssysteme Konflikte als Normalverfahren zur Umarbeitung von Lärm in Information. Konfliktkommunikation wird dazu funktional spezifiziert, nach systemeigenen Anforderungen reguliert, als routineförmig abrufbarer Bearbeitungsmodus installiert (vgl. Luhmann 1975a: 17; 1983: 102) und durch Einbettung in Beziehungen der Konkurrenz, über deren Ergebnis relevante Dritte entscheiden, „kolonialisiert" (Werron 2010: 313). So transformiert, verlieren Konflikte ihren parasitären Status und werden zu systemeigenen Einrichtungen. Das System wird durch sie ständig mit Lärm versorgt und dadurch in Betrieb gehalten, und es bewährt sich, indem es mit ihrer Hilfe kontinuierlich „order from noise" generiert. Das gelingt freilich nicht immer. Die Normalverfahren können versagen. Die Frage der Wahrheit oder Unwahrheit bestimmter Theorien und Hypothesen etwa kann auch nach langen Debatten ungelöst, politische Entscheidungen können auch nach parlamentarischem Beschluss weiter umstritten bleiben und heftige Proteste mobilisieren. Mit der Verstetigung des Konflikts lagern sich dann u. U. parasitäre soziale Zusammenhänge an ihn an, die ihn betreiben und die sich durch seine Fortsetzung zugleich selbst reproduzieren. Regulierte Konflikte unterschiedlichen Typs sind offensichtlich nicht die einzige Form, die Funktionssysteme als Verfahren der order-from-noise-Produktion verwenden. Ein ebenso prominentes und in paradigmatischer Reinheit im Wirtschafssystem verwendetes Verfahren ist Konkurrenz. Wie schon erwähnt, werden darüber hinaus beide Verfahrensformen häufig miteinander kombiniert. So etwa, wenn im Wahlkampf Streit mit dem politischen Gegner als Mittel der Konkurrenz um Wählerstimmen genutzt wird. Aufgrund der verschiedenen Verfahrensvarianten der Informationserzeugung, die in den einzelnen Funktionssystemen verwendet werden, der unterschiedlichen Ausprägungen, in denen dabei Lärm anfallen kann und der Vielfalt der Parasiten, die darin ihren Nährboden finden, kann bei Funktionssystemen ein
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Vgl. dazu auch Stäheli (2000: 299), der von einer „antagonistischen Artikulation des Systems" spricht.
hohes Maß an Varietät der zu beobachtenden parasitären Relationen festgestellt werden, welche zu einer stärker exemplarisch vorgehenden Auslotung der hier bestehenden Möglichkeiten drängt. Im Folgenden soll dazu zunächst die Bildung von Parasiten auf der Basis von Konflikten im Kontext der Wissenschaft sowie auf der Grundlage von Konkurrenz in der Ökonomie behandelt werden. Neben ektoparasitären Sozialzusammenhängen, die sich an der Grenze von Funktionssystemen zu ihrer Umwelt ansiedeln, lassen sich auch Beziehungen parasitärer Kopplung zwischen Funktionssystemen feststellen. Paradigmatisch für die letztere Konstellation steht die Beziehung zwischen Politik und Recht im Rechtsstaat, um die es danach geht. Am Beispiel der primär (aber nicht nur) politisch induzierten Lärmerzeugung im russischen Rechtssystem und der dadurch begünstigten Parasiten wird schließlich verdeutlicht, wie die Figur des Parasiten für die empirische Analyse ,devianter' Eigentümlichkeiten der regionalen Erscheinungsform von Funktionssystemen bis hin zur Feststellung ihrer Entdifferenzierung oder blockierten Ausdifferenzierung genutzt werden kann. Wissenschaftliche Kontroversen sind ein Routinemodus zur Transformation von Lärm in Information (vgl. dazu ausführlicher Schneider & Kusche 2011). Sie führen freilich nicht immer zu klaren Ergebnissen. Zu einem Problem für die weitere Forschung wird dies dann, wenn es nicht nur um Einzelhypothesen, sondern um theoretische Prämissen geht, die von grundlegender Bedeutung für die Entfaltung ganzer Forschungsprogramme sind. Gelöst werden kann dieses Problem durch die Formierung wissenschaftlicher Schulen. Schulenbildung ermöglicht das gleichzeitige Vorantreiben konkurrierender Forschungsprogramme auf der Basis gegensätzlicher Prämissen; sie nutzt den Lärm wissenschaftlicher Kommunikation als Reproduktionsgrundlage und verhindert zugleich deren Blockierung in Bereichen, in denen allgemein anerkannte Kriterien für die Entscheidung zwischen konkurrierenden Annahmen (noch) fehlen bzw. selbst umstritten sind. 38 Insofern lassen sich wissenschaftliche Schulen als reziproke Parasiten verstehen, die es erlauben, inkompatible Erwartungsstrukturen durch Einziehung zusätzlicher Innen/Außen-Differenzen im Binnenkontext
38
Allgemein akzeptierte und theorienübergreifend anwendbare Kriterien fehlen vor allem dann, wenn es um die Auswahl der Grundbegriffe bzw. Leitunterscheidungen von universalistischen, d . h . ihrem Anspruch nach auf alle Gegenstände einer Disziplin applizierbaren Theorien geht; vgl. dazu Schneider 2008a.
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wissenschaftlicher Disziplinen über weite Strecken konfliktfrei nebeneinander zu prozessieren. Die dabei am Rande mitlaufenden Schulenstreitigkeiten können jedoch eskalieren und immer größere Anteile der Kommunikation innerhalb einer Disziplin usurpieren, 39 indem sie geringfügigste Unterschiede in Forschungsfeldern auf konkurrierende allgemeine G r u n d a n n a h m e n zurückführen und so leichte Variationen zu unvereinbaren Gegensätzen dramatisieren, deren strittige Austragung wachsende Ressourcen von potentiell weiterführender Forschung abzieht. Wissenschaftliche Schulen wirken d a n n als Lärm verstärkende unilaterale Parasiten.40 Neben der Unterscheidung zwischen Parasiten, die sich in eher eufiinktionaler oder dysfunktionaler Weise in den Reproduktionsprozess eines Funktionssystems einkoppeln, haben wir differenziert zwischen Endoparasiten, die sich in die interne Reproduktion des Wirtssystems einschalten, und Ektoparasiten, die an dessen Peripherie siedeln, d . h . die Grenze zwischen System und Umwelt besetzen. „Intelligent Design" kann hier als Beispiel eines Ektoparasiten der Wissenschaft gelten, der religiöse Prämissen in die Wissenschaft einzuschleusen sucht und der auf diese Weise danach trachtet, Gegensätze zwischen wissenschaftlichen und religiösen Aussagen, d. h. intersystemisch registrierten Lärm, in innerwissenschaftlichen Lärm zu transformieren und in dieser Transformationsarbeit seine Reproduktionsgrundlage findet (vgl. Schneider & Kusche 2011: 190).41 Andere Beispiele für ektoparasitär stimulierte Lärmproduktion in der Wissenschaft lassen sich im Bereich interessentenfinanzierter Forschung finden, in dem immer wieder zu beobachten ist, dass die Interessen des Auftraggebers (seien dies nun ökonomische Interessen kommerzieller Auftraggeber oder politische Interessen von Verbänden und Parteien) nicht nur in die
Fragestellung, 42 sondern auch in die Selektion und Interpretation der empirischen Befunde eingehen. Endoparasitäre Schulenbildung kann dabei günstige Andockstellen für ektoparasitäre Interessenten zur Verfügung stellen. So etwa, wenn Parteien in Abhängigkeit von ihren jeweiligen politisch motivierten Präferenzen „Monetaristen" oder „Keynesianer" als wirtschaftswissenschaftliche Berater bevorzugen. 43 Die Produktion von Lärm n i m m t hier die Form von wissenschaftlichen Expertisen mit sich wechselseitig ausschließenden Wahrheitsansprüchen an; dies mit dem Effekt, dass sie einander entwerten. Auf solche Expertisen völlig zu verzichten, empfiehlt sich aus der Perspektive der Interessenten häufig dennoch nicht, würden sie dann doch riskieren, dass die im Auftrag der Gegenseite erstatteten Expertisen in der Öffentlichkeit ohne Entgegnung bleiben und so die Deutungshoheit in der öffentlichen Diskussion erlangen könnten. Schon um dies zu verhindern, muss das (unilateral-parasitäre) 44 Spiel von Expertise und Gegenexpertise gespielt und als Nebeneffekt die Glaubwürdigkeit von Wissenschaft beeinträchtigt werden. Im Kontext der Ökonomie ist Konkurrenz das zentrale Verfahren, über das Zuordnungsentscheidungen zu den systemspezifischen Codewerten herbeigeführt werden. Wesentliches Kriterium dafür, ob Angebote in der Konkurrenz am Markt auf zahlungsbereite Nachfrage treffen oder nicht und damit für die Zuordnung eines Angebots zu den Codewerten zahlen oder nicht zahlen, sind Preise. Lärm n i m m t hier f ü r den einzelnen Anbieter die Form der Unsicherheit darüber an, ob seine Zahlungserwartungen durch hinreichende Nachfrage bestätigt werden, oder ob konkurrierende Angebote zu anderen, d. h. in der Regel niedrigeren Preisen am Markt sind, denen es gelingt, das Kaufinteresse primär auf sich zu ziehen. Diese Unsicherheit zu eliminieren, ohne genötigt zu sein, in einen u. U. ruinösen Un-
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Anders als bei Interaktionssystemen können sie freilich auch d a n n k a u m das Gesamtsystem in Beschlag nehmen. 40 Wie hier erneut sichtbar wird, definiert die Unterscheid u n g reziproker/unilateraler Parasit nicht ontologisch stabil gedachte Entitäten, sondern markiert einen R a u m möglicher Oszillation, in d e m sich soziale Z u s a m m e n hänge parasitären Typs bewegen u n d primär dem einen oder anderen Pol der Unterscheidung zuordnen können. 41
Eine alternative religionsinterne Möglichkeit der Lärmabsorption besteht hier darin, die biblische Schöpfungsdarstellung als allegorisch zu deutenden SchöpfungsmyiÄoj zu verstehen bzw. (als sachlich u n d zeitlich generalisierte Variante dieser Lösung) „Entmythologisierung" (Bultmann) als Daueraufgabe der Theologie zu begreifen.
42
W e n n Auftraggeberinteressen n u r in die Fragestellung eingehen, liegt typisch der reziprok-parasitäre Fall anwendungsorientierter Forschung vor, von der sowohl die Wissenschaft als auch die wissenschaftsexternen Auftraggeber profitieren können.
43
U n d in dem M a ß e , in dem diese beiden Parasiten wechselseitig voneinander profitieren, stehen sie — auf Kosten ihres Wirts - in einem reziprok-parasitären Verhältnis zueinander. 44
„Unilateral-parasitär" im Verhältnis z u m Wissenschaftssystem, das klar unterschieden werden muss von der Relation, die dabei verschiedene Parasiten zueinander herstellen können.
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terbietungswettbewerb einzutreten, ist im übereinstimmenden Interesse der Anbieter. Die einfachste Möglichkeit dazu besteht in der Ausschaltung von Konkurrenz durch die Bildung von Kartellen·, die ihre Waren oder Dienste in kontrollierten Mengen zu abgesprochenen Preisen anbieten und die damit als Endoparasiten des ökonomischen Systems fungieren. In der Regel ist diese Möglichkeit freilich nur auf illegale Weise zu realisieren und verlangt ein hohes Maß an wechselseitigem Vertrauen, besteht hier doch für jeden der Anreiz, durch Unterbietung des Kartellpreises auf Kosten der absprachekonform handelnden Teilnehmer den eigenen Marktanteil auszudehnen. Darüber hinaus müssen neu in den Markt eintretende Anbieter dazu motiviert werden, sich dem Kartell anzuschließen. Kartelle können unter diesen Voraussetzungen die Form vertrauensbasierter illegaler Netzwerke annehmen. Der Umstand, dass die Unsicherheit der Marktkonkurrenz nicht einfach verschwindet, sondern als Unsicherheit über die Einhaltung der Absprachen nur die Form wandelt, erzeugt unter bestimmten Voraussetzungen (wie etwa einer relativ großen Zahl von Teilnehmern, die einander nur schwer kontrollieren und Vertrauen zueinander entwickeln können) einen zusätzlichen Bedarf dafür, auch diese Unsicherheit zu absorbieren. Mafiose Schutzgeber, die hier die Rolle des Kontrolleurs, des Vermittlers bei Streitigkeiten und der Sanktionsinstanz bei festgestellten Verstößen gegen Absprachen übernehmen und die es so ermöglichen, rechtswidrige Vereinbarungen in ähnlicher Weise durchzusetzen wie sonst nur rechtmäßig geschlossene Verträge, können dieses Problem lösen und werden deshalb häufig selbst von den Teilnehmern eines Kartells engagiert (vgl. Gambetta & Reuter 1992). Kartelle als Endoparasiten der Ökonomie werden in solchen Fällen zu ökologischen Nischen für die Ansiedelung eines weiteren Parasiten,45 der - indem er kontralegale Verträge mit rechtsanaloger Geltung und Durchsetzungsfähigkeit ausstattet - zugleich ,Lärm' im Rechtssystem erzeugt. Unter bestimmten Voraussetzungen lassen sich auch selektive Kopplungen zwischen unterschiedlichen Funktionssystemen nach dem Modell ektoparasitärer Beziehungen beschreiben. Ein besonders ausgeprägter Fall von reziprokem Parasitismus zwischen Funktionssystemen ist die Kopplung von Recht und Politik, wie sie durch die Formel des Rechtsstaats bezeichnet wird. Das politische System stellt dem Recht
45
Ein Beispiel für die Verkettung von Parasiten im Sinne von Serres 1981: 12.
das notwendige Machtpotential zur Verfügung, dessen es bedarf, um Urteile und Rechtstitel vollstrecken zu können und dadurch sicherzustellen, dass nach rechtsimmanenten Kriterien getroffene Zuordnungsentscheidungen zu den Codewerten Recht/Unrecht Unterschiede erzeugen, die in der Folgekommunikation tatsächlich Unterschiede machen. Umgekehrt nehmen politische Programme, deren Realisierung an die Verfügung über politische Amtsmacht gebunden ist, typisch die Form von parlamentarisch zu beschließenden Gesetzesvorhaben an; deren anschließende „Implementation" wird dann als Anwendung geltenden Rechts vollzogen. Politische Macht fungiert so im Blick auf das Rechtssystem und Recht im Blick auf die Politik als aus dem Bereich des systemeigenen Codes ausgeschlossenes, zugleich aber als zentrale Bedingung der Möglichkeit intrasystemischer Informationserzeugung eingeschlossenes Drittes, dessen ständige wechselseitige Inanspruchnahme es beiden Systemen ermöglicht, ohne Beeinträchtigung ihrer Autonomie aneinander „zu wachsen".46 Derartige reziprok-parasitäre Kopplungen leisten zugleich einen Beitrag zur „Kompossibilität" (vgl. Fuchs 1992: Kap. IV) der Funktionssysteme, indem sie Erwartungen von Umweltsystemen in ihre systemeigenen Programme aufnehmen und berücksichtigen. Auch über Systemgrenzen hinweg kann so Kompatibilität zwischen unterschiedlichen Erwartungszusammenhängen hergestellt werden. In der engen Kopplungsbeziehung zwischen Politik und Recht kann freilich das politische System leicht in die Rolle des unilateralen Ektoparasiten wechseln bzw. zur Quelle von Lärm im Recht werden, der dann den Nährboden für die Ansiedelung anderer Ektoparasiten bereitet. Gut zu beobachten ist dies etwa im postsowjetischen Russland. Ein zentraler Lärm generierender Faktor besteht hier in der Fragmentierung des politischen Systems. Lärm im Recht erhält dadurch zunächst die Form miteinander konfligierender Gesetze und Verordnungen als Folge defizitärer politisch-administrativer Koordination der Macht- bzw. Rechtsetzungsansprüche verschiedener staatlicher Instanzen (vgl. Varese 2001: 18), sodass in vielen Fällen dasselbe Verhalten gleichermaßen als rechtmäßig und rechtswidrig beurteilt werden 46
Vgl. dazu L u h m a n n (1993: 426) mit der (ebd.) explizit an Serres anknüpfenden Formulierung: „Die Rechtsstaatsformel, könnte man zusammenfassend auch sagen, bringt ein wechselseitig-parasitäres Verhältnis von Politik und Recht zum Ausdruck. ... Mit .parasitär' ist dabei nichts anderes gemeint als die Möglichkeit, an einer externen Differenz zu wachsen."
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k a n n . Eine ähnliche Situation entsteht, w e n n Gesetze so geartet sind, dass es im R a h m e n geschäftlicher Tätigkeit bei Strafe des wirtschaftlichen U n tergangs k a u m möglich ist, nicht rechtswidrig zu handeln. 4 7 Beides zwingt zu einer selektiven Verfolgungs- u n d Sanktionspraxis, die eine Vielzahl von Rechtsverstößen sozial erwartbar ignorieren muss, sodass die Differenz von formal rechtswidrigem u n d rechtmäßigem H a n d e l n f ü r sich allein noch keinen Unterschied macht. Weil unter solchen Voraussetzungen rechtsinterne Kriterien der Selektion u n d C o d e w e r t z u o r d n u n g versagen, muss sich die Auswahl der tatsächlich verfolgten u n d geahndeten Rechtsverstöße stattdessen nach außerrechtlichen Gesichtspunkten richten. So etwa nach d e m Kriterium politischer O p p o r t u n i t ä t , w e n n Kritiker u n d Gegner in der K o n k u r r e n z u m A m t s m a c h t auszuschalten sind, oder d e m Kriterium fehlender Z a h lungsbereitschaft, w e n n Personen bzw. Organisationen die Zahlung von Bestechungsgeldern verweigern (vgl. Ledeneva 2 0 0 6 : 13). In beiden Fällen wird die selektive A n w e n d u n g von Recht d u r c h systemexterne Kriterien konditioniert u n d d a d u r c h f ü r die R e p r o d u k t i o n von unilateralen Ektoparasiten - sei es n u n in Gestalt von politischen oder korruptiven Netzwerken - instrumentalisiert. 4 8 Eine weitere A u s p r ä g u n g von L ä r m liegt vor, wenn staatliche Vollzugsbehörden nicht in der Lage sind, erwirkte Rechtstitel durchzusetzen (vgl. Volkov 2002: 47), sodass insbesondere Firmen unerfüllte Zahlungs- oder andere vertragliche Verpflichtungen nicht effektiv einklagen k ö n n e n . Weil es d a n n f ü r einen Kläger im Ergebnis keinen Unterschied macht, ob er gegenüber d e m beklagten Schuldner im Recht oder im Unrecht ist, entsteht ein Bedarf f ü r alternative Möglichkeiten der D u r c h s e t z u n g von vertraglichen Verpflichtungen u n d d a m i t eine ökologische Nische f ü r die Ansiedlung eines weiteren Parasitentyps: Private Schutzgeber'1'' k ö n n e n diesen Bedarf
47
Dies ist etwa der Fall, wenn verschiedene Gebietskörperschaften unterschiedliche Steuern erheben, die in der Summe konfiskatorische Wirkung entfalten. 48 Werden darüber hinaus Beweise für Straftaten auf politische Veranlassung hin von den Strafverfolgungsbehörden selbst fingiert, Richter bestochen bzw. politisch instrumentalisiert und Gerichtsurteile auf diese Weise in rechtswidriger Weise rechtsextern konditioniert, d a n n wird nicht nur bereits vorhandener Lärm als Basis der Reproduktion genutzt, sondern zusätzlicher Lärm im Rechtssystem durch Ektoparasiten selbst generiert. 49
Zunächst oft Schutzgeber mafiosen Typs; nach der Legalisierung privaten Schutzes auf kommerzieller Basis im
bedienen (vgl. Varese 2001: 55 ff.). Sie transformieren diesen L ä r m auf ihre Weise in I n f o r m a t i o n u n d finden darin eine Reproduktionsgrundlage, indem sie zahlenden Klienten zu .ihrem Recht' verhelfen. 5 0 Soweit private Schutzgeber in dieser Weise mit Erfolg agieren, tragen sie zur R e d u k t i o n des Lärms bei, der d u r c h das Versagen staatlicher Rechtsdurchsetzung erzeugt wird, u n d fungieren insofern anstelle des Staates als reziproke Ektoparasiten des Rechtssystems. Zugleich tendieren solche Parasiten aber zur Erzeugung zusätzlichen Lärms, indem sie z u m G e b r a u c h rechtswidriger M e t h o d e n neigen u n d es d a r ü b e r hinaus insbesondere im Bereich der illegalen Ö k o n o m i e ermöglichen, auch rechtswidrige Vereinb a r u n g e n mit rechtsanaloger G e l t u n g u n d D u r c h setzungsfähigkeit auszustatten. 5 1 Sie funktionieren d a n n als unilaterale Ektoparasiten. Das Beispiel Russlands deutet an, wie verschiedene Erscheinungsformen von Lärm u n d die unterschiedlichen Parasitentypen, die darin ihren N ä h r b o d e n finden, der regionalen Ausprägung des Rechtssystem eine charakteristische, es gleichsam .individualisierende' Gestalt geben können. Die Untersuchung der Beziehungen zwischen dem Wirtssystem u n d seinen Parasiten ermöglicht es, nicht nur Funktionsdefizite des Rechts, sondern auch darauf bezogene Kompensationsmechanismen u n d deren Folgewirkungen zu identifizieren u n d damit die summarische Feststellung einer nicht bzw. n u r unvollständig realisierten Ausdifferenzierung 5 2 des Rechtssystems empirisch gehaltvoll zu spezifizieren. Die Verbindung dieses Befundes mit der neoinstitutionalistischen Feststellung eines allgemeinen weltgesellschaftlichen Trends zur Kopie legitimer kultureller Modelle bei gleichzeitigem regionalen „decoupling" (vgl. Meyer & Rowan 1991: 57f.; Boyle & Meyer 2005: 201 f.) zwischen
Jahr 1992 dann zunehmend staatlich lizensierte Schutzanbieter; vgl. Volkov 2002: Kap. 5, insbes. 132 ff. 50 Wenn beide Konfliktparteien private Schutzgeber engagiert haben, streben diese oft die friedliche Streitschlichtung durch eine kriminelle „Autorität" an: „In this case, an arbiter, normally a highly respected criminal authority, a vor ν zakone (üblicherweise übersetzt als „Dieb im Gesetz", W. L. S.), is invited to resolve the problem by the norms of criminal justice" (Volkov 2002: 52). 51
Lärm resultiert in diesem Falle also nicht aus einander widerstreitenden staatlichen Rechtsnormen, sondern aus dem Widerspruch zwischen den staatlichen Rechtsnormen einerseits und den Normen des kriminellen Schattenrechts andererseits. 52 Oder bei optimistischerer Einschätzung der historisch vorausgegangenen Konstellation: von Anzeichen sozialer ¿Kídifferenzierung.
Wolfgang Ludwig Schneider: Parasiten sozialer Systeme den so errichteten institutionellen Fassaden und der operativen Ebene der Institutionen motiviert die folgende heuristische These: Variierende Diskrepanzen zwischen den Fassaden von Funktionssystemen und Organisationen einerseits und dem tatsächlichen Operieren dieser Systeme andererseits, wie sie in verschiedenen Regionen der Weltgesellschaft zu beobachten sind, könnten wesentlich zurückgeführt werden auf die je spezifische Besiedelung mit Parasiten unterschiedlichen Typs. Der gedankenexperimentell konstruierbare Grenzfall einer regional vollständigen Disjunktion zwischen einer installierten funktionssystemischen Fassade und der Ebene der Operationen wäre erreicht, wenn der binäre Code des Funktionssystems gleichsam nur als Hohlform in der Kommunikation aufgerufen, die Codewertzuordnungen jedoch vollständig ektoparasitär (und damit ohne Abstimmung auf die Systemfunktion) konditioniert wären.53 Auf der Ebene operativen Prozessierens wäre das System dann durch Rauschen / Lärm gelöscht.
6.
Schlussdiskussion
Zum Abschluss möchte ich drei Punkte diskutieren und die dazu im Text verstreuten Aussagen zusammenfassen: (1) Zunächst greife ich noch einmal die Frage nach dem allgemeinen Bezugsproblem auf, das die Bildung parasitärer Sozialzusammenhänge stimuliert, und resümiere die Gründe für deren systemtypspezifische Erscheinungsformen. (2) Danach behandle ich die Frage, in welcher Weise die Ansiedelung von Parasiten die Autonomie des jeweiligen Wirtssystems beeinflusst. (3) Abschließend wird die Rolle der Unterscheidung zwischen System- und Personenvertrauen für die Bildung parasitärer Netzwerke zu klären sein. (1) Parasitenbildung reagiert auf die (sei es manifest gewordene oder auch nur unterstellte und kommunikativ latent bleibende) Inkompatibilität von Erwartungslagen bzw. auf Erwartungsunsicherheiten in Situationen, in denen die Lösung von Problemen dieses Typs nicht anders als in der paradoxen Form des Einschlusses eines ausgeschlossenen Dritten erreicht werden kann. Die Bedingungen, welche die 53 Diese Situation wäre im Falle des Rechts etwa dann gegeben, wenn Gerichtsurteile und deren Vollstreckung in allen Rechtsbereichen generell durch Korruption und/ oder persönliche Beziehungen und / oder mafiose Schutzgeber und/oder politische Opportunität bestimmt würden, sodass rechtliche Kriterien faktisch bedeutungslos wären.
103 Auflösung von Erwartungsinkompatibilitäten bzw. -Unsicherheiten durch Parasiten wahrscheinlich machen, variieren ebenso wie die genaue Ausformung dieser Parasiten in Abhängigkeit vom jeweiligen Systemtyp in der folgenden Weise: Wenn verschiedene Teilnehmer an einer Interaktion heterogene Erwartungen aktualisieren und die so sichtbar gewordenen Differenzen als Konflikt austragen, wird das Gesamtsystem über eine längere Strecke in ein Konfliktsystem transformiert und damit gleichsam endoparasitär „versklavt".54 Darin, dass sie die Fortsetzung der Kommunikation und damit die Kontinuierung des Systems trotz gegensätzlicher Erwartungsgrundlagen gestatten, besteht hier die Funktion von Konflikten. Die alternative Möglichkeit der Auflösung von Erwartungsinkompatibilitäten durch die interaktionsinterne Bildung von Subsystemen wird erst im Rahmen organisierter Interaktion verfügbar. 55 Lärm in der Form von Unsicherheit darüber, inwiefern Erwartungen Abwesender in der face-to-face Interaktion relevant sind, entsteht, wenn Anwesende als mögliche Zuträger für Abwesende (im Dorfklatsch, für Vorgesetzte, Geheimdienste etc.) gelten, d.h. ektoparasitäreKopplungen zu sozialen Adressen herstellen könnten, bei denen mit diskrepanten Erwartungen sowie daraus resultierenden Folgeproblemen in anderen sozialen Situationen gerechnet werden muss. Ektoparasitäre Kopplungen fungieren dabei vor allem als Einrichtungen der sozialen Kontrolle von Interaktionen unter dem Gesichtspunkt der Konformität mit den Erwartungen ihrer sozialen Umwelt. 56 Organisationen ermöglichen die Spezifikation und arbeitsteilige Differenzierung von Erwartungszusammenhängen durch die Einrichtung von Stellen, Abteilungen und hierarchisch gestaffelten EntscheiIch entlehne den Ausdruck „versklavt" von Hermann Haken (1984). 55 Die thematische Spezifikation von Kommunikation und die Einrichtung privilegierter Sprecherrollen, die das Rederecht verwalten und zuteilen, ermöglicht dann auch die Differenzierung zwischen offizieller Haupt- und inoffiziell-parasitärer Nebenkommunikation, die als interaktionale Entsprechung zur Differenz zwischen formalisierten und informalen Kommunikationszusammenhängen in Organisationen gedeutet werden kann. Vgl. dazu am Beispiel der Beobachtung von Nebenkommunikation im Schulunterricht Rehbock 1981. 54
Diese Aussage gilt freilich nicht ausnahmslos. Unter modernen Bedingungen kann insbesondere massenmedial verbreiteter Klatsch auch als Medium der öffentlichen Inszenierung abweichender Identitätsentwürfe genutzt werden. 56
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dungsebenen mit unterschiedlichen Aufgaben und Kontakten zu verschiedenen Segmenten der Organisationsumwelt. Inkompatible Erwartungen können so, durch Kompetenzschranken und Subsystembildung getrennt, nebeneinander prozessiert werden. Für die Behandlung von Differenzen, die bereichsübergreifende Erwartungsstrukturen betreffen, stehen Verfahren der geregelten Konkurrenz bzw. Konfliktaustragung zur Verfügung, an deren Ende verbindliche Entscheidungen stehen. Durch Regulation, sachliche Spezifikation und Entpersonalisierung nehmen Konflikte hier wie auch im Kontext von Funktionssystemen den Charakter von Normalverfahren der Auflösung von Erwartungsgegensätzen an und verlieren ihren parasitären Status. Aber nicht alle Erwartungsinkompatibilitäten können durch Subsystembildung oder klärende Entscheidungsverfahren beseitigt werden. Die hohe Komplexität und Heterogenität der strukturellen Prämissen organisatorischer Kommunikation überfordern die Möglichkeiten der unter Konsistenzzwang stehenden Formalisierung von Erwartungen. Versuche der Auflösung von dadurch bedingten Situationen erwartungsstruktureller Ambiguität zugunsten der Orientierung an Erwartungen, die formalisierten Erwartungen widerstreiten, sehen sich dann genötigt, in den Bereich der Informalità: auszuweichen, u m dort sowohl Unterstützung als auch Deckung zu suchen. Informelle Netzwerke liefern beides. Als üWöparasiten von Organisationen ermöglichen sie zum einen die fortgesetzte Orientierung an organisations/ft/«"« erzeugten kontraformalen Erwartungen und zum anderen die netzwerkinterne Kontrolle entsprechenden Handelns im Bereich organisationeller Illegalität, ¿ ^ p a r a s i t ä r e Netzwerke, wie sie insbesondere durch Beziehungen zwischen den Grenzstellen verschiedener Organisationen entstehen, sorgen demgegenüber f ü r die Organisationsgrenzen überschreitende informelle Koordinierung von Erwartungen. Die binären Codes der Funktionssysteme stellen weitere ökologische Nischen bereit, die unter bestimmten Voraussetzungen von Parasiten besiedelt werden können. Wenn die durch Programme definierten Kriterien der Codewertzuordnung nicht ausreichen bzw. zu heterogen sind, u m eindeutige systemweit anerkannte Codewertzuordnungen zu ermöglichen, oder die systemtypischen Normalverfahren zur Homogenisierung divergierender Zuordnungsentscheidungen ungeeignet bzw. zu riskant erscheinen und deshalb Umgehungsversuche stimulieren, entstehen Situationen der Unsicherheit und Unentscheidbarkeit. Deren Auflösung ist u . U . nur
durch die Hinzuziehung zusätzlicher Kriterien und Verfahren zu erreichen, die innerhalb des Systems nicht allgemein anerkannt sind und die insofern auch nicht als Grundlage f ü r die Bildung legitimer Subsysteme genutzt werden können. Die Institutionalisierung solcher Kriterien und Verfahren ist dann nur in Kommunikationszusammenhängen möglich (wie z. B. in wissenschaftlichen Schulen oder ökonomischen Kartellen), die innerhalb des jeweiligen Systems selbst als partikularistisch beobachtet werden und die deshalb (ähnlich wie informelle Cliquen in Organisationen) zur Formierung partikularistischer Netzwerke in einer universalistisch strukturierten systemischen Umgebung tendieren. Sofern die dabei benutzen Kriterien und Verfahren primär auf das spezifische Bezugsproblem eines Funktionssystems eingestellt bleiben, werden sie zu Anlagerungspunkten sozialer Zusammenhänge ¿»¿/«»parasitären Typs, üfeoparasitäre Kopplungen reziproken Typs zwischen unterschiedlichen Funktionssystemen, wie wir sie etwa in der Form anwendungsorientierter Forschung oder des Rechtsstaats beobachtet haben, schleusen systemexterne Selektionskriterien in die Programmstrukturen des Wirtssystems ein, die zwar auf die Funktion des parasitierenden Systems zugeschnitten sind, dabei aber nicht die Funktionserfüllung im Wirtssystem beinträchtigen und die so zur „Kompossibilität" der gekoppelten Systeme beitragen. Unilateral-parasitäre Kopplungen, wie wir sie zuletzt am Beispiel des russischen Rechtssystems beobachtet haben, indizieren demgegenüber blockierte Ausdifferenzierung oder Entdifferenzierung. (2) Die Omnipräsens von Parasiten wirft die Frage auf, in welcher Weise sich ihre Anwesenheit auf die Flexibilität und Autonomie der von ihnen besiedelten Systeme auswirkt. Die Antwort darauf hängt wiederum vom jeweiligen Systemtyp und dessen Beziehungen zur sozialen Umwelt ab: Interaktionssysteme werden durch Konflikte als Endoparasiten in ihren Möglichkeiten zur variablen Reaktion auf unterschiedliche Situationen eingeschränkt, weil sie die Kommunikation auf Themen und Beiträge fokussieren, die sich zur Austragung des jeweiligen Streits eignen. Zugleich werden Interaktionen durch Konflikte in besonderem Maße gefährdet, weil Kommunikationsabbruch und Auflösung der Interaktion eine naheliegende Möglichkeit der Konfliktbeendigung ist. Dominieren die Interessen an der Fortsetzung der Interaktion, müssen Konflikte deshalb vermieden bzw. rasch beendet und divergierende Erwartungen soweit modifiziert werden, dass ein tragfähiger working consensus
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zwischen den Anwesenden erreicht wird. Bei einer geringen Zahl von Teilnehmern, fehlender Beobachtung durch Dritte und unter dem Eindruck von Situationen, die eine Revision bisheriger Erwartungen nahelegen, ist das auch leicht möglich. Interaktionssysteme sind deshalb in besonderer Weise dazu Fähig, ihre Erwartungsstrukturen autonom an neue interne und externe Lagen anzupassen. Und sie sind oft dazu genötigt, weil sie die Verarbeitung von Erwartungsenttäuschungen kaum auslagern oder vertagen können. Aus der Perspektive der sozialen Umwelt von Interaktionen entsteht dadurch die Gefahr, dass die Bindung der Interaktionsteilnehmer an die Erwartungen Abwesender aufgegeben wird und die Anwesenden abweichende Erwartungen entwickeln, die sie ihrer Interaktion zugrunde legen. Ektoparasiten können hier der strukturellen Autonomisierung der Interaktion gegenüber ihrer sozialen Umwelt entgegenwirken. Im Gegensatz zu Interaktionen konstituieren sich Organisationen bereits von Hause aus als Kommunikationszusammenhänge mit eigenständig erzeugten Erwartungsgrundlagen, die sie gegenüber ihrer sozialen Umwelt autonomisieren, und sie verlangen von jedem Mitglied, diese Erwartungen gegenüber divergierenden Erwartungen aus anderen sozialen Kontexten prioritärzu beachten. Die Formalisierung von Mitgliedschaftserwartungen impliziert zugleich deren Rigidisierung gegenüber den Anforderungen unterschiedlicher sozialer Situationen. Unter diesen Voraussetzungen kann die Flexibilität und Autonomie der Organisation durch Bereithaltung von Möglichkeiten der elastischen Reaktion auf besondere, in der Formalstruktur nicht berücksichtigte Lagen im Rahmen reziprok-parasitärer informeller Netzwerke sowohl endo- als auch ektoparasitären Typs gesteigert werden. Endoparasitenbildung fungiert hier als Form der Anpassung des Systems an seine interne Komplexität.57 Die Einsicht in die Grenzen der Formalisierung und die produktive Rolle informeller Netzwerke ist freilich nicht nur schon lange in der Organisationssoziologie bekannt, sondern hat auch
Vgl. dazu Luhmann 1984: 56, dort freilich mit der umgekehrten Akzentuierung, dass Systeme zur Anpassung an ihre eigene Komplexität „etwa Einrichtungen (entwickeln; WLS), die abweichendes Verhalten reduzieren, das erst dadurch möglich wird, dass es dominierende Grundstrukturen gibt". Endoparasitäre Netzwerke in Organisationen können beide Leistungen miteinander verknüpfen: die Ermöglichung und Kontrolle abweichenden Verhaltens (vgl. erneut Bensman & Gerver 1963), und nehmen dann die Form reziprok-parasitärer Netzwerke an. 57
Eingang in die Ratgeberliteratur für Manager und in die Gestaltung von Organisationen gefunden (vgl. Boltanski & Chiapello 2003). Vor dem Hintergrund der Annahme, dass auf persönlichen Kontakten gründende vertrauensbasierte Netzwerke die Lösung des Problems unvollständiger Verträge häufig auf effektivere Weise als hierarchische Kontrolle ermöglichen (vgl. Boltanski & Chiapello 2003: 178 f.; Kabalak & Priddat 2008), wird die Einschränkung formalisierter Strukturen und (sowohl in organisationsinternen als auch in interorganisationellen Beziehungen) eine weitreichende Delegation der Regelung von Kooperation an selbstorganisierte Netzwerke empfohlen. In welchem Umfang solche Empfehlungen tatsächlich Eingang in die Wirklichkeit von Organisationen gefunden haben, ist eine offene Frage. Ihre Umsetzung würde jedoch bedeuten, dass informelle Netzwerke auf der Ebene der Formalstruktur als legitime Einrichtungen einer Organisation definiert werden.58 Durch Wiedereintritt der Differenz von Formalstruktur und informalen Strukturen in die Formalstruktur erhielten informelle Netzwerke damit (z.B. unter dem Titel „Projektgruppen") einen analogen Status wie Unterbetriebe und Abteilungen. Die so in die Formalstruktur internalisierten Netzwerke würden ihren parasitären Status verlieren. Netzwerke können Organisationen freilich auch „kolonialisieren" und deren Funktionsfähigkeit und Autonomie dann erheblich beeinträchtigen; so, wenn Dauerkonflikte zwischen organisationsinternen Netzwerken Entscheidungen blockieren oder ektoparasitäre Netzwerke z. B. klientelistischen Typs dazu führen, dass die Abgabe von Leistungen und die Rekrutierung von Personal nicht durch formalisierte bzw. auf die Zwecke der Organisation zugeschnittene Kriterien konditioniert werden, sondern sich an partikularistischen Erwartungen des Netzwerks orientieren. Entsprechendes gilt für Funktionssysteme: Auch hier ist die Beantwortung der Frage, ob die Besiedelung durch Parasiten die Autonomie des Systems steigert, beeinträchtigt oder nicht beeinflusst, von der je spezifischen Ausprägung einer parasitären Kopplungsbeziehung abhängig. Die unter dem Titel des Rechtsstaats firmierende reziprok-(ekto)parasitäre Beziehung zwischen Politik und Rechtssystem etwa führt in beiden Systemen auf dem Wege der Koevolution zu einer enormen Erweiterung der Wenn solche Netzwerke nicht nur Organisationsmitglieder, sondern auch „free lancer" einschließen können, stellen sie zugleich die Unterscheidung zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern der Organisation unscharf. 58
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Möglichkeiten des Entscheidens nach systemeigenen Kriterien, während die unmittelbare unilateral(ekto)parasitäre Konditionierung der Rechtsprechung durch Kriterien politischer Opportunität deren Autonomie aufhebt und als Anzeichen mangelnder Ausdifferenzierung oder als Entdifferenzierungsphänomen zu betrachten ist. (3) Besondere Prominenz unter den hier betrachteten parasitären Sozialzusammenhängen fiel parasitären Netzwerken zu, die in bzw. an Organisationen und Funktionssystemen siedeln. O b informelle Cliquen in Organisationen, wissenschaftliche Schulen, illegale Kartelle, mafiose Gruppierungen oder ethnische, klientelistische etc. Netzwerke - immer geht es u m die Orientierung des Handelns an mehr oder weniger partikularen Kriterien, f ü r die keine allgemeine Anerkennung im Wirtssystem unterstellt werden kann, sodass Systemvertrauen als Grundlage von Erwartungssicherheit ausfallt und (wenn auch in unterschiedlichem Maße) durch Personenvertrauen ersetzt werden muss. Parasitäre Netzwerke lassen sich hier danach unterscheiden, ob Personenvertrauen primär supplementär benutzt wird, um dort Ersatzsicherheiten bereitzustellen, wo Systemvertrauen fehlt, oder ob Personenvertrauen Systemvertrauen verdrängt bzw. gar nicht erst entstehen lässt. Im ersten Falle übernehmen Netzwerke eine kompensatorische Funktion, im letzteren beeinträchtigen sie die Effektivität und Autonomie von Organisationen und Funktionssystemen durch Einschleusung systemfremder Kriterien der Konditionierung von Kommunikation. Im Grenzfall sind Organisationen und Funktionssysteme dann nicht mehr als bloße Fassaden, hinter denen faktisch auf der Basis von Personenvertrauen operierende Netzwerke regieren und partikularistische Orientierungen an die Stelle systemspezifischer Rationalitätskriterien treten. Netzwerke ermöglichen die Ausdehnung von Personenvertrauen auf Unbekannte durch Empfehlung von persönlich bekannten Personen, die als Vermittler und als Garanten der Vertrauenswürdigkeit der durch Empfehlung miteinander in Kontakt gebrachten Personen fungieren. Durch reflexives Vertrauen in das Vertrauen anderer (vgl. Holzer 2011: 62) wird Personenvertrauen innerhalb des Netzwerkes generalisiert. Es gewinnt damit eine soziale Reichweite, die es erlaubt, das Fehlen bzw. defizitäre Funktionieren von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien durch Personenvertrauen zu kompensieren und Zugang zu anders nicht erreichbaren Leistungen zu ermöglichen. Umgekehrt sind die aus der parasitären Konditionierung von
Entscheidungen in den Organisationen der Funktionssysteme resultierenden Effektivitätseinbußen geeignet, Knappheitslagen ebenso wie die N u t z u n g von Netzwerkbeziehungen f ü r deren Bewältigung zu perpetuieren und so das defizitäre Funktionieren von Erfolgsmedien zu stabilisieren. Regionen der Weltgesellschaft, in denen funktionale Differenzierung noch nicht durchgesetzt ist, können so in eine Lage geraten, in der das Vertrauen in Netzwerke nicht nur als ein Substitut f ü r Erfolgsmedien f u n giert, sondern zugleich deren volle Durchsetzung langfristig verhindert. Forciert wird diese Tendenz durch einen weiteren Aspekt netzwerkintern erzeugten Personenvertrauens. Dessen Kehrseite ist eine gleichfalls generalisierte Tendenz zum Misstrauen gegenüber Angehörigen anderer Netzwerke (vgl. Holzer 2006: 27), verbunden mit der Erwartung, dass man von deren Seite mit der Bereitschaft zu skrupelloser Schädigung rechnen muss und auch deshalb den Schutz eines Netzwerkes benötigt. 59 Weil generalisiertes Misstrauen gegenüber Angehörigen anderer Netzwerke zugleich die Entstehung von generalisiertem Vertrauen in Erfolgsmedien wie Recht und legitime politische Macht als Einrichtungen zur Bearbeitung von Konflikten verhindert, wird bereits bei geringfügigen Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen verschiedener Netzwerke der Gebrauch von Gewalt wahrscheinlich. Konflikte verlieren dann den Charakter regulierter systemspezifischer Normalverfahren für die Auflösung von Dissens, die sie mit der evolutionären Entstehung von Organisationen und Funktionssystemen erhalten haben, und fallen zurück auf die Stufe ungezügelter negativer doppelter Kontingenz, auf der die Chance, den Gegner zu schädigen, zu einem zentralen Kriterium der Selektion von Handlungen werden kann. O b als gewaltlos ablaufendes Ringen um die Verteidigung bzw. Erweiterung des netzwerkeigenen Kontrollbereichs oder gewaltsam in der Form von Pogromen, (Bürger-) Kriegen, terroristischen Anschlägen und Kämpfen zwischen kriminellen Netzwerken ausgetragen - in jedem Fall nehmen Konflikte dann wieder die Form unilateraler Parasiten an, welche die Reproduktion der von ihnen besiedelten Wirtssysteme bis hin zur völligen Blockierung beeinträchtigen können.
59 A u s f ü h r l i c h e r d a z u J a p p 2011; siehe besonders ebd.: 2 7 1 f. sowie 2 7 5 ff., w o J a p p E t h n i z i t ä t als „parasitär-diabolisches K o m m u n i k a t i o n s m e d i u m u n d als N e t z w e r k " thematisiert, das die f u n k t i o n a l e A u s d i f f e r e n z i e r u n g v o n Politik blockiert.
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Autorenvorstellung Wolfgang Ludwig Schneider, geb. 1953 in Frankfurt a. M. Studium der Soziologie an der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt a. M.; Promotion an der Justus-Liebig-Universität Gießen 1987; Habilitation ebendort 1994. Von 2004-2007 Prof. für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg; seit Okt. 2007 Prof. für Allgemeine Soziologie an der Universität Osnabrück. Forschungsschwerpunkte: Theorie gesellschaftlicher Differenzierung, .Pathologien' der modernen Gesellschaft, Religionssoziologie, Methodologie der Sozialwissenschaften. Buchpublikationen: Objektives Verstehen. Rekonstruktion eines Paradigmas, Opladen 1991; Die Beobachtung von Kommunikation. Zur kommunikativen Konstruktion sozialen Handelns, Opladen 1994; Grundlagen der soziologischen Theorie, 3 Bde., 1. Aufl. Wiesbaden 2002 und 2004; Verstehen und Erklären. Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven (hrsg. mit R. Greshoff, G. Kneer), München 2008; zuletzt in dieser Zeitschrift: Wie ist Kommunikation ohne Bewusstseinseinschüsse möglich? Eine Antwort auf Rainer Greshoffs Kritik der Luhmannschen Kommunikationstheorie, ZfS 37, 2008: 470-479.
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft, 2014, S. 109-133
Intersituativität. Teleinteraktionen und Koaktivitäten jenseits von Mikro und Makro Intersituativity. Tele-Interaction and Coactivity beyond Micro and Macro Stefan Hirschauer1 Institut für Soziologie, Universität Mainz [email protected]
Zusammenfassung: Der Beitrag stellt fest, dass die situationistische Tradition der Mikrosoziologie den Mikro/MakroDualismus auf eine neuartige Weise hinter sich gelassen hat: indem sie nach der Fokussierung von lokaler Interaktivität nun das Problem der Intersituativität angeht. Er vergleicht vier theoretische Positionen, zunächst zwei spätklassische Versuche, den Mikro/Makro-Gegensatz zu überwinden: Goffmans dualistische Konzeption von Schnittstellen der Interaktionsordnung mit der Sozialstruktur und Luhmanns triadische Ebenendifferenzierung in Interaktion, Organisation und Gesellschaft. Die beiden jüngeren Positionen — von Karin Knorr Cetina und Bruno Latour — lösen die Frage der theoretischen Verbindung zweier analytischer .Ebenen' dagegen durch die Frage ab, wie konkrete Situationen miteinander verknüpft sind. Jenseits von Mikro/Makro liegt der materiale Nexus von Situationen: die medial vermittelte Teleinteraktion und die Koaktivität von Artefakten als geronnene Handlungen Abwesender. Während die Technikentwicklung den Begriff der Situation, der Anwesenheit und des Handelns erheblich tangiert, liegt die bleibende Bedeutung des Situativen in der sinnlich-körperlichen Präsenz von Wissensobjekten. Schlagworte: Interaktion; Kommunikation; Situation; Mikro- und Makrosoziologie. Summary: This contribution posits that the situationalist tradition in microsociology, focusing on local interactivity, has overcome the dualism of micro vs. macro by facing the problem of intersituativity. It compares four theoretical positions, starting with two late classical efforts to overcome the micro vs. macro opposition: Goffman's dualistic conception of interfaces between the interaction order and social structure and Luhmann's threefold differentiation of interaction, organization, and society. More recent positions, those of Karin Knorr Cetina and of Bruno Latour, replace the issue of the interrelation of analytic "levels," with the question of how concrete situations are related materially. Beyond micromacro is the material nexus of situations: tele-interactions, mediated by communication technologies, and the coactivity of artefacts, seen as congealed actions of absent people. Although technical developments severely challenge the notions of situation, presence, and action, the enduring importance of the situative approach lies in the physical-perceptual presence of objects of knowledge. Keywords: Interaction; Communication; Situation; Micro- and Macro-Sociology.
1. Einleitung: Anspruch und Grenzen der Mikrosoziologie Die Unterscheidung von M i k r o und Makro ist in die Jahre gekommen. Das altehrwürdige Dual gibt es bekanntlich nicht nur in der Sozialtheorie, son1 Dieser Aufsatz ist ein intersituatives Produkt verschiedener sozialer Gelegenheiten, darunter zwei Seminare an der L M U München (2005) und der Universität Mainz (2010), eine Tagung am Bielefelder ZIF (2011), ein Colloquium mit meinen Mainzer Mitarbeiterinnen (2012) und ein über zwei Jahre gestreckter Schreibprozess, zu dem viele Kolleginnen beigetragen haben, darunter vor allem Bettina Heintz, Hartmann Tyrell, Herbert Kalthoflf, Rainer Wiedenmann und Elke Wagner.
dern auch in vielen Naturwissenschaften, die ihre Gegenstände mit der Unterscheidung Teil/Ganzes auffassen: Jedes Objekt kann als Teil eines größeren Ganzen konzipiert werden, das wiederum Element einer größeren Einheit ist (für Reviews s. Barnes 2 0 0 1 ; Heintz 2 0 0 4 ) . In der Soziologie wurde dieses Dual zunächst durch den Gegensatz von Individuum und Gesellschaft ausgefüllt, dann durch den von Handlung und Struktur, bevor das Problem die .technische' Form von Mikro / Makro bekam, die sich ihrerseits seit einiger Zeit in Auflösung befindet. .Individuum versus Gesellschaft' suchte noch einen außersozialen Ausgangspunkt in einer Anthropologie wie der vom Homo oeconomicus oder in der Phänomenologie und führte in einen aussichtslosen
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Zweikampf von Kausalitäten oder Kräfteverhältnissen: Was prägt wen ,stärker'? Diesem Ausgangspunkt hatten eigentlich schon die Gründerfiguren der Soziologie mit der Feststellung des Individuums als gesellschaftlicher Institution widersprochen. Handlung versus Struktur dynamisierte das Erklärungsproblem zu einer Art Wechselwirkung: Wie kommen soziale Strukturen zustande und wandeln sich, und wie wird menschliches Handeln durch sie ermöglicht und begrenzt (s. etwa Giddens 1979). Randall Collins (1992) kritisierte an dieser Konzeption ihre ,romantische' Beschäftigung mit der menschlichen Freiheit in Konkurrenz zur Gesellschaft als Zwangsapparat. Auch Barry Barnes (2001) monierte, dass die Akzentuierung starker menschlicher Agency übermäßig den Zuschreibungsgewohnheiten moderner Gesellschaften folge. Die Mikro/Makro-Unterscheidung schließlich bezog sich auf ihrer Mikro-Seite nicht mehr notwendig auf Individuen und ihre Handlungen, sondern eher auf ein Kontinuum von Bausteinen des Sozialen, deren Größenmaß Collins (1981) allein in den Variablen Raum, Zeit und Anzahl (von Personen oder Situationen) lokalisierte. Auch Giddens moderierte die Mikro/Makro-Unterscheidung über die empirische Frage nach der abgestuften räumlichen Reichweite und der zeitlichen Reproduktionsdauer von Handlungen, wobei Schrift und Geld wichtige Extensionsmittel gegenüber der Reichweite von Interaktionen bilden. Es gibt aber noch zwei weitere Aspekte, die die Unterscheidung von Mikro und Makro von der von Handlung und Struktur trennen: Zum einen müssen Handlungen nicht ,Mikro' sein, wie Theorien kollektiver Akteure nahe legen, zum anderen sind der explizite Gegenstand vieler ethnomethodologischer und interaktionistischer Arbeiten Mikrostrukturen. Auch die ältere Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft wurde nurmehr von der handlungstheoretischen (weberianischen) Tradition der Mikrosoziologie fortgesetzt, die sich auch aktuell noch im Dual von Mikro/Makro begreift (Esser 2006), während die Tradition des methodologischen Situationismus (Knorr 1988) im Gefolge von Simmel und Mead von vornherein von einer überindividuellen Entität ausgeht: von Interaktionen als emergentem Phänomen und genuin sozialem Ereignis. Gegenstand dieses Aufsatzes ist das veränderte Selbstverständnis und die theoretische Fortentwicklung dieses Ansatzes. Der methodologische Situationismus hat mit ethnomethodologischen, interaktionistischen und ethnografischen Studien eigene
Forschungstraditionen entwickelt, deren soziologisches Selbstbewusstsein in zwei Aspekten begründet ist: Erstens in dem theoretischen Bewusstsein, mit der Analyse von Mikroprozessen an den Grundlagen des Faches zu arbeiten - wie in den Naturwissenschaften, wo man die Entstehung des Universums mit der Zerkleinerung kleinster Teilchen oder die Entstehung des Lebens mit einer Manipulation von DNA-Sequenzen im Nanobereich untersucht. Was in den Naturwissenschaften seit jeher etabliert ist, hat in der Soziologie etwas länger gedauert: die Akkumulation für sich jeweils bescheidener Detailerkenntnisse, etwa über Zwiegespräche, als Erfolge des Faches als einer Wirklichkeitswissenschaft zu verbuchen. Als einzelne völlig unbedeutend, sind Interaktionen ein Massenphänomen, durch das sich jede Minute milliardenfach Gesellschaft vollzieht. Zweitens forscht die Mikrosoziologie in dem empiristischen Bewusstsein, im Vergleich zu Nachbarfächern wie Ethnologie und Geschichtswissenschaft, die historischen oder geographischen ,Weitblick' reklamieren können, unmittelbar - d. h. ohne Fernreisen und Zeitmaschine - auf einen hier und jetzt, allerorten und jederzeit verfügbaren Gegenstand zugreifen zu können: soziale Situationen. Dieses empirische Selbstbewusstsein ist seit den 1960er Jahren durch den Einsatz von Aufzeichnungstechniken beträchtlich gesteigert worden. Und es entfaltete sich fachintern durch eine komplementäre Empirieschwäche der Makrosoziologie: Im Disziplinenvergleich, so Barnes (2001), ist es eine Besonderheit der Soziologie, dass Makrophänomene hier ausnahmsweise nicht besser zu sehen sind als Mikrophänomene: Es sind unsichtbare, theoretisch postulierte Entitäten, deren Empirizität chronisch fragwürdig ist. Sie stehen im Verdacht, bloße Reifikationen und Hypostasierungen zu sein. Im Gegensatz dazu bietet der methodologische Situationismus epistemologische Solidität und Sparsamkeit: Situationen sind, so Emanuel Schegloff (1997), präzisere Erklärungsressourcen als ein vager Rekurs auf gesellschaftliche Randbedingungen, etwa den Spätkapitalismus, die Postmoderne oder das Patriarchat. Anstelle der ungeprüften Behauptung der Relevanz solcher fernen Kontexte verspricht die Untersuchung konkreter Interaktionsverläufe und unmittelbarer situativer Kontexte eine präzise Identifizierung relevanter soziologischer Parameter. Auf dieser zweifachen Basis forschte die Mikrosoziologie im Rahmen eines Simmel'schen Common Sense: Auch große soziale Gebilde werden in Situationen und durch Interaktionen hindurch (re)pro-
Stefan Hirschauer: Intersituativität
duziert. Interaktionen sind die Gene, die Synapsen, die Atome der Soziologie. Und es gibt allgemeine Eigenschaften von Interaktionen — einen Gegenstand eigenen Rechts, den ein eigener Forschungszweig mit wachsender Genauigkeit untersuchen kann. Auf der anderen Seite entsteht hier eine reduktionistische Versuchung, die immer dann an ihre Grenzen stößt, wenn es darum geht, nicht nur Interaktionen im Allgemeinen zu verstehen, sondern eine je konkrete. Keine Interaktion fángt bei Null an, voraussetzungslos, und jede ist vielfach kontextiert, also in praktische Zusammenhänge eingebunden. So wird die Aktualisierung einer Unterscheidung nach Alter oder Geschlecht nicht einfach mit Interaktionsbeginn .gesetzt', sie ist vielmehr i. d. R. schon durch den institutionellen Kontext einer Situation vorstrukturiert. Auch wenn man (mit Schegloff) eine klare methodische .Vorfahrt' für den unmittelbaren Kontext postuliert - einen Erklärungsprimat der Situation - impliziert dies keine Irrelevanz transsituativer sozialer Einheiten (zu diesem Einwand s. Scheffer 2001). Soziale Prozesse organisieren sich zugleich situativ und transsituativ, und sie haben stetig mitlaufende Verweisungshorizonte, auf die sie sich selektiv beziehen. Daher findet sich bei den meisten ,Mikrosoziologen' auch keine reduktionistische Haltung, sondern eine pragmatische. Auch der oft als ,Reduktionist' rubrizierte Randall Collins konzedierte die forschungspraktische Notwendigkeit von Makrokonzepten und die Möglichkeit, mittels ihrer zu „nützlichen Annäherungen" zu kommen (s. Rössel 1999). Für diese Haltung sprechen schon forschungsökonomische Gründe: Sicheres empirisches Wissen, wie es mikrosoziologische Fallstudien beanspruchen, lässt sich nicht über beliebig große oder viele Einheiten erzielen. Wenn aber auch solche makroskopierenden Aussagen vom Publikum der Soziologie gefordert werden, empfiehlt sich eine weitgehende Toleranz gegenüber abstrahierenden Redeweisen und auch eine eigene innerfachliche Spezialisierung auf deren Formulierung. Wo diese Toleranz fehlt, wird der empirische Geltungsanspruch des methodologischen Situationismus überzogen bzw. auf seinen erhebungstechnischen Kern zurückgeworfen. Genauso wie es in der handlungstheoretischen Mikrosoziologie einen erhebungstechnischen Individualismus gibt (einen fragwürdigen Rekurs auf Auskünfte), gibt es in der situationistischen Mikrosoziologie einen erhebungstechnischen Situationismus. Hierin liegt zwar, wie gesagt, eine besondere Stärke (im Sinne .harter'
111 Daten), aber die Bemühung um technische Aufzeichnung oder die Sichtbarkeitsannahme des teilnehmenden Beobachters folgen natürlich einer präsentistischen Prämisse. Ein radikaler Situationismus, wie etwa in Harvey Sacks Gesprächsforschung als sozialer Naturwissenschaft (Sacks 1995), kippt daher in einen qualitativen Positivismus, der der Reduktion auf Zählbares in der standardisierten Forschung eine Reduktion auf Zeigbares zur Seite stellt. Anders als in der positivistischen Tradition, in der das Messbarkeitspostulat in den ontologischen Annahmen einer überkommenen Wissenschaftstheorie begründet ist, ist dieser Ehrgeiz des Zeigbaren eher in der Geschichte der Sozialtheorie begründet: Die ethnomethodologische Wendung der Sozialphänomenologie von einer egologischen Subjekttheorie in einen empirischen Situationismus hat zwei fragwürdige Erbschaften angetreten. Zum einen hat sie das Intersubjektivitätsproblem der phänomenologischen Tradition in einen epistemologischen Skeptizismus übersetzt, der nach möglichst lückenlosem empirischen Beweis verlangt. Dem Nachweis der Interaktivität sitzt noch das Problem der InterSubjektivität im Nacken, er arbeitet sich an einer bewusstseinsphilosophisch begründeten Verstehensskepsis ab. Zum anderen hat sie den Monadismus des Bewusstseins mitunter in einen Monadismus der Situation übersetzt, der die Ausblendung des so genannten ,Kontextes' einfach zur methodischen Tugend erklärt. Ein radikaler Situationismus, der sich auf sein empirisches Selbstbewusstsein zurückzieht, geht daher ganz ähnlich wie ein Positivismus, der sich auf ,messbare' Auskünfte zurückzieht, mit einem weitgehenden Theorieverzicht einher. Das ist durchaus konsequent und in sich schlüssig, es verharrt aber in einer separierten Untersuchung sozialer Situationen. Ganz offen bleibt so die Frage einer Verbindung mit anderen Soziologien und auch die Frage nach der Verbindung jener Situationen. Es sind diese beiden Fragen, die dieser Aufsatz aufgreift. Seine These ist, dass die situationistische Tradition den Mikro / Makro-Dualismus auf eine neuartige Weise hinter sich gelassen hat: indem sie nach der Übersetzung des Intersubjektivitätsproblems in Interaktionsforschung nun das Problem der Intersituativität angeht. Ich werde zunächst die Positionen von Erving Goffman (2.1) und Niklas Luhmann (2.2) darstellen, die die Uberwindung des Mikro/ Makro-Problems auf je eigene Weise in einer theoretischen Trennung und Verknüpfung von ,Ebenen suchten. Nach einem kurzen Blick auf folgende Versuche, den Dualismus aufzulösen (2.3), werde
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ich darstellen, wie neuere Theorieansätze - exemplarisch die von Karin Knorr Cetina und Bruno Latour - im Zuge einer Dezentrierung der Situation die Frage der theoretischen Verbindung zweier .Ebenen' durch die Frage ablösen, wie Situationen medial und material miteinander verknüpft sind (3.)· Jenseits von Mikro / Makro liegt der Nexus von Situationen: eine Teleinteraktion i.S. eines medial vermittelten symbolischen Austauschs (3.1) und eine kontinuierliche Koaktivität von Artefakten als geronnene Handlungen Abwesender (3.2). Während technische Entwicklungen den Begriff der Situation, der Interaktion, der Anwesenheit und des Handelns erheblich tangieren, liegt die bleibende Bedeutung des Situativen in der sinnlichen Präsenz von Wissensobjekten. Ein Ausblick (4.) auf den Gegensatz von Mikrosoziologie und Telesoziologie und die unterschiedlichen Aggregatzustände des Sozialen beschließt den Beitrag.
2. Mikro/Makro: Die theoretische Verknüpfung von Ebenen Betrachten wir zunächst zwei ,spätklassische' Formulierungen des M i k r o / M a k r o - P r o b l e m s zu Beginn des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts: Luhmanns Aufsatz von 1975 und G o f f m a n s Präsidialrede vor der American Sociological Association von 1982. Ein Mikro- und ein Makrosoziologe wenden sich hier j e spezifisch der jeweils anderen Seite zu und zeigen dabei (wie in Zeiten des Kalten Krieges nicht unüblich) eine große Verwandtschaft in der Verschiedenheit. 2.1 Erving Goffman: Die Interaktionsordnung und ihre Schnittstellen Goffmans Ausgangspunkt ist die körperliche Kopräsenz von Interaktionsteilnehmern in einer sozialen Situation. Eine Situation kann man als jenen zeitlichen Ausschnitt eines lokalen Geschehens begreifen, den ein Einzelner mit seinen Sinnesorganen überschaut, eine soziale Situation spannt sich dagegen erst durch gegenseitige Wahrnehmung auf. Dies muss nicht die visuelle Aufmerksamkeit des face to face sein, Reaktionspräsenz („response presence"), so Goffman, gibt es auch in Telefonaten und im Briefverkehr. Die Einheit der Situation wird letztlich durch den Aufmerksamkeitsfokus ihrer Teilnehmer konstituiert, sie ist ein soziales Zentrum der Sinne, das sich spontan verkleinern oder vergrößern kann —
eine Skalenverschiebung, die man etwa bei Partygesprächen beobachten kann. Die Grenze einer sozialen Situation entsteht also durch Prozesse der Zuwendung und Abwendung. Goffman hebt an der sozialen Situiertheit menschlichen Handelns vor allem zwei Aspekte hervor: zum einen die Möglichkeit der physischen oder rituellen Verletzung - unter den Bedingungen unmittelbarer gegenseitiger Wahrnehmung steht das Image, also Personalität, in besonderer Weise auf dem Spiel —, zum anderen die „folgenschwere Offensichtlichkeit" sozialen Lebens: Auftreten und Verhalten haben mit ihren Hinweiszeichen auf Status, Beziehungen und Absichten eine besondere kommunikative Funktion, sie sind mit Fragen der Informationspolitik und mit der Kategorisierung von Personen verknüpft. Andererseits, so wendet Goffman gegen Randall Collins ein, sind Situationen nicht alles. Viele Regelungen und Erwartungen werden nicht erst in ihnen geschaffen. Es gibt größere soziale Felder mit eigenen Ordnungen (er nennt Organisationen und Verkehrssysteme) und es gibt größere soziale Anlässe (z. B. Arbeitstage oder Festlichkeiten). Außerdem bringen Teilnehmer ein transsituatives Wissen mit (kulturelle Rahmen und Kategorien, erinnerte Beziehungsgeschichten und Images voneinander), das sie in Interaktionen voraussetzen können. 2 Es sei falsch anzunehmen, dass makrosoziale Phänomene vollständig auf die Wirklichkeit von Situationen zurückgeführt werden könnten. Diese sind nur einer systematischen Analyse besser zugänglich. Kurz: die Interaktionsordnung sei eine vergleichsweise autonome Sphäre sozialen Lebens, aber nicht irgendwie vorgängig oder konstitutiv für makrosoziale Phänomene. Anschließend identifiziert Goffman vier Schnittstellen zwischen Interaktionsordnung und Makrostrukturen: 1. Schlüsselsituationen sind Situationen mit unmittelbaren Effekten auf das Personal - Unfälle, Todesfälle oder die Entführung einer Organisationsspitze - und konsequenzenreiche Ereignisse, die über situationstranszendierende Lebenschancen von Teilnehmern entscheiden, z.B. Bewerbungsgespräche, Kündigungen, Prüfungen oder Heiratsanträge
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G o f f m a n erwähnt als weiteres situationstranszendierendes M o m e n t den Zeithorizont von H a n d e l n d e n . Dieser ragt mit Erinnerungen u n d Antizipationen immer prospektiv/retrospektiv weit über die Interaktionszeit hinaus - ob er sich n u n auf eine G e w i n n c h a n c e , einen Entbindungstermin, einen W a h l t a g oder die Fertigstellung eines D o m e s richtet.
Stefan Hirschauer: Intersituativität
(,Gründungssitzungen' von Paaren). Hier erfolge die versteckte Selektion von Personen, durch die i. S. Bourdieus die Sozialstruktur reproduziert wird. 2. Die „Durkheimschen Schnittstellen": Rituale als Formen symbolischer Repräsentation sozialer Ordnung. „Ein entscheidendes Merkmal unmittelbarer Begegnungen besteht darin, daß wir in ihnen - und nur in ihnen - einer Sache eine Form und einen dramatischen Aufbau verleihen können, die unseren Sinnen auf andere Weise nicht zugänglich sind. Durch Kleidung, Gesten und die Anordnung des Körpers können wir eine große Palette ungegenständlicher Dinge darstellen und repräsentieren, denen nur gemeinsam ist, daß sie Bedeutung für unser Leben haben, aber keine Schatten werfen" (1994: 78). Dazu zählen vergangene Ereignisse, Glaubensvorstellungen über den Kosmos, Idealvorstellungen über Kategorien von Personen, soziale Beziehungen und soziale Strukturen. Konzentriert finden sich diese Verkörperungen in feierlichen Zeremonien und Massenveranstaltungen (Events, Messen, patriotischen Festakten), in denen sich Individuen ihrer kategorialen Zugehörigkeit und affektiven Bindung zu einer Gemeinschaft vergewissern. Ähnliches leisten aber auch kleine Alltagsrituale und situative Arrangements. Sie fungieren als mikroökologische Metaphern für makrostrukturelle Anordnungen, z.B. Sitzordnungen (in Chefetagen oder im Haus der Berber) oder Sequenzordnungen (etwa der Vortritt bei Türen oder beim Rederecht). Rituale verweisen auf ein kulturelles Hintergrundwissen, das Situativem erst seine Bedeutung gibt, sie stellen eine Anschaulichkeit dieses Wissens her. 3. Von allen sozialen Strukturen, so Goffman, haben soziale Beziehungen - als Prototyp situationsüberdauernder Einheiten - den engsten Zusammenhang mit der Interaktionsordnung. Ζ. B. vermitteln Bekanntschaften so zwischen Mikro und Makro: Sie entstehen in Interaktionen und werden dort aufrechterhalten (oder unterbunden), bilden aber auch eine Netzwerkstruktur, die in spätere Interaktionen hineinragt und diese vorstrukturiert (etwa über Gruß- und Informationsverpflichtungen). Als Struktur regulieren sie das Gruß- und Gesprächsverhalten in der Interaktion und stiften Kanäle, in denen Informationen zirkulieren (ζ. B. Klatsch oder Karrieretipps) und von denen bestimmte Gruppen ausgeschlossen sein können. So können Grußpräferenzen und Homosozialität sich gegenseitig bedingen. 4. Verbindungen der Interaktionsordnung zu diffusen sozialen Statuskategorien: Kollektivmitgliedschaften wie Alter, Geschlecht, Klasse und ethnische Zugehö-
113 rigkeit. Sie strukturieren Interaktionen vor, weil ihre Teilnehmer schon vor jeder Äußerung mittels körperlicher Anzeichen verortet werden können. Sie haben aber auch nur punktuelle Relevanz. Typisch modern sei nämlich die Neutralisierung dieser Kategorisierung durch Interaktionsregeln, etwa Vorfahrtsregeln in Dienstleistungsinteraktionen. Es bleibt den Interaktionsteilnehmern überlassen, ob sie dennoch auf Status rekurrieren oder nicht. Hierin zeigt sich für GofFman exemplarisch, dass interaktive Praktiken und soziale Strukturen (zumindest in modernen Gesellschaften) in einem Verhältnis loser Kopplung zueinander stehen (1994: 85). Eine Position in der Sozialstruktur stimmt nicht nahtlos mit der Rolle in Interaktionen überein, sie wird durch die Grenzen der Interaktionsordnung gebrochen, es gibt nur eine mögliche Verzahnung. Makrostrukturen können also in Interaktionen reproduziert werden, müssen es aber nicht, denn Interaktionsverläufe bestimmen die Auswahl situativ relevanter Makrovariablen. (Z.B. muss der Vorgesetzte in der Organisation nicht der .Wortführer' eines Gesprächs sein; oder es kann interaktiv irrelevant sein, dass es zwei Frauen sind, die sich unterhalten). Interaktionen koppeln sich gewissermaßen mal loser, mal enger an Strukturvorgaben (s.a. Hirschauer 2001: 225ff.). In Goffmans Ausführungen wirken die vier .Schnittstellen für den Vortragszweck (einer akzeptablen Selbstpositionierung im Fach) ad hoc konstruiert, sein systematischer Ehrgeiz ist (wie in seinem gesamten Oeuvre) eher beschränkt. Pointieren wir daher einmal seinen Beitrag zum Mikro/MakroProblem: Goffmans dualistische Position vermittelt zwischen der interaktionistischen Annahme, dass die Gesellschaft in Situationen aufginge, und der parsonianischen, dass situatives Geschehen nur ein Ausdruck und kausaler Effekt von sozialen Strukturen sei. Seine vier .Schnittstellen machen gegen diese zweite Annahme vier Einsprüche zur Art der Beziehung von Mikro und Makro: 1. Es gibt den Fall umgekehrter Kausalität (Schlüsselsituationen). 2. Es gibt Wechselwirkungen, d.h. wechselseitige Vorstrukturierung (den Fall sozialer Beziehungen). 3. Es gibt eine Beziehung der Repräsentation von Makro in Mikro (im anschaulichen Ritual). 4. Es gibt die Relation der ,losen Kopplung', d.h. eine durch Situationsschwellen gebrochene Kausalität. Mit .Schlüsselsituationen' platziert GofFman Situationen in größere Felder oder Zeiteinheiten und widerspricht durch den Hinweis auf eine differenzierte Reichweite von Situationen deren Gleichrangigkeit. Besonders im Kontext von Kategori-
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sierungsverfahren werden folgenreiche Ergebnisse (meist Bewertungsdokumente) hergestellt, die die Situation überdauern. 3 Wegweisend scheint mir daran der Hinweis auf eine soziale Ungleichheit von Situationen. Nicht alle Interaktionen, die als Interaktionen .gleich' erscheinen (und ζ. B. als Gespräch analysiert werden können), sind soziologisch gleich. Die Mikrosoziologie kann oft relativieren, welche Rolle die Position von Individuen in der Sozialstruktur spielt (so wie Goffman es tut), aber sie muss natürlich ernst nehmen, welche Position - in Verfahren, in Organisationen, in historischen Momenten usw. - eine konkrete Interaktion hat. Denn dies verändert ihre Infrastrukturen und ihre Reichweite. Ebenfalls wegweisend für den aktuellen Stand der Diskussion scheint mir die an Durkheim anschließende Figur, dass das spezifisch soziologische Problem der Beobachtbarkeit von Makrophänomenen (auf das Barnes hinwies) schon ein TeilnehmerProblem ist und nicht nur ein Problem professioneller Beobachter der Gesellschaft. Makrophänomene werden .gewusst', aber dieses Wissen ist zu abstrakt, es verlangt nach situativer Konkretion in öffentlichen Ereignissen, Interaktionsritualen und körperlichen Zeichen. Mit dem Stichwort der losen Kopplung schließlich geht es Goffman ganz anders als Coleman (1987), der an kausal schließender Erklärung interessiert ist, und ähnlich wie Niklas Luhmann primär um die Abgrenzung von .Ordnungen'. Ein Erklärungsanspruch (wie bei RC oder Bourdieu) soll nicht die Unbestimmtheit des Sozialen eliminieren. Die Identifizierung von Berührungspunkten statt von Kausalkräften erlaubt Überlegungen zum variablen Zusammenspiel von Bausteinen des Sozialen. Goffman verfeinert dabei die differenzierungstheoretisch gedachte Rollentheorie: Situationen (und nicht nur Praxisfelder bzw. Subsysteme) geben Relevanzen vor, nach denen soziale Zugehörigkeiten ihrer Teilnehmer selegiert und aktualisiert werden: Interak-
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G o f f m a n s Idee b e r ü h r t sich hier mit der machttheoretischen Kritik von Nicos Mouzelis (1991) an der M i k r o soziologie: Dieser schlug vor, einflussreiche Interaktionen (Kriegsentscheidungen, Friedensverhandlungen usw.) als ,.Makro-Interaktionen zu fassen, weil ihr Folgenreichtum sonst aus dem Blick gerate. Seine ungewöhnliche Begriffsprägung hat den Vorzug, dass sie den M i k r o / M a k r o Gegensatz empirisch auflöst. Irreführend ist sie, insofern Interaktionen natürlich Interaktionen bleiben. So ist die Interaktion von Eltern auch nicht .größer' als die ihrer Kinder (und m a n k a n n auch bezweifeln, dass sie immer folgenreicher ist).
tionsrollen .brechen' funktionsspezifische Rollen und nur solange man interaktiv orientierungslos ist, greift man auf Status als Hintergrundwissen zurück. 2.2 Niklas Luhmann: Interaktion, Organisation, Gesellschaft Luhmanns Beitrag zur Mikro / Makro-Debatte lässt sich als ein komplementärer Brückenschlag lesen. Luhmann setzt vor allem fünf Akzente: 1. Er ersetzt den Mikro/Makro-Dualismus durch eine triadische Konstruktion von Ebenen. Luhmann distanziert sich damit weiter vom dualistischen Gegensatz von Individuum und Gesellschaft, hier durchaus vergleichbar mit Goffmans Dezentrierung des Akteurs („Situationen und ihre Menschen", 1971: 9). Dabei stellt er Organisationen ins Zentrum: handlungsfähige Systeme, die hochgradig künstliches Verhalten sichern, auf Zwecke orientieren und von Motiven entbinden können, indem sie Mitgliedschaft an ganz bestimmte Bedingungen knüpfen. 2. Auf der anderen Seite übernimmt Luhmann von der Grundintuition des Mikro/Makro-Gegensatzes die Vorstellung unterschiedlicher Größenordnungen und spitzt diese noch zu. An die Stelle eines raumzeitlichen Kontinuums sozialer Gebilde wie bei Collins (1981) oder Giddens (1992) tritt eine Typologie sozialer Systeme: Es gibt kurzlebige, kleinräumige Systeme mit meist geringer Teilnehmerzahl; dauerhafte, in ihren Wirkungen räumlich ausgedehnte mit z.T. großer Mitgliederzahl; und ein ,unsterbliches' globales System, das alles Soziale einschließt. Diese Differenzierung sei „nicht nur eine rein begriffliche Unterscheidung, sondern ein Produkt der soziokulturellen Evolution" (1975: 18), die neuzeitliche Transformation der Gesellschaft bestehe neben deren funktionaler Differenzierung auch aus dem Auseinandertreten der drei Ebenen. Organisation und Gesellschaft sind evolutionäre Tatsachen', und Interaktionen bilden das Ende einer Komplexitätshierarchie (Tyrell 2008: 56). 3. Auf der Basis dieses robusten evolutionstheoretischen Realismus beschreibt Luhmann drei Relationen zwischen den Ebenen. Die erste ist die Inklusion. Eine vollständige Trennung sei unmöglich, weil alles soziale Handeln in der Gesellschaft stattfindet (1975: 14) und letztlich nur in der Form von Interaktion möglich ist. Mit Rekurs auf Simmel schreibt Luhmann: „Die Großformen der gesellschaftlichen Teilsysteme schwimmen auf einem Meer ständig
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neu gebildeter und wieder aufgelöster Kleinsysteme" (1997: 812). Interaktionen sind immer auch Vollzug von Gesellschaft, auch ihrer Modernität. 4. Die zweite Relation ist die spezialisierte Entkopplung. Luhmann sucht nicht Ebenen explanativ zu verknüpfen (wie Coleman), sondern betont Faktum und .Vorteil' ihrer Trennung. Interaktion und Gesellschaft entlasten sich gegenseitig für das, was sie sein können: Gesellschaft kann die Sachdimension entfalten und wird nicht mehr durch Konflikte in ihrem Bestand bedroht (Dissens wird sogar funktional); Interaktionen werden nicht mehr mit gesellschaftlicher Reproduktion belastet und können sich auf Reziprozität und Intimität konzentrieren, so wie Organisationen auf ihre Zwecke, ohne auf andere Rollen ihrer Mitglieder Rücksicht nehmen zu müssen. Mit GofFman könnte man sagen, die Kopplungen werden ,immer loser': Interaktionen werden .interaktiver' i.S. von persönlich intensiviert und gesellschaftlich folgenlos, die gesellschaftliche Kommunikation dagegen anonymer (von Personalität entlastet). 5. Das Zusammenspiel der so differenzierten Ebenen ist schließlich durch relative Autonomie bestimmt. Einerseits gibt es „umfassende Systeme und eingeordnete Systeme" (1975: 19), wobei Erstere „strukturelle Prämissen" vorgeben und die Umwelt der Letzteren ordnen. Andererseits sind Interaktionen nur noch schwach ferngesteuert' durch solche strukturellen Randbedingungen, ihre Eigengesetzlichkeit bleibt. Interaktionen sind frei zur Abweichung, gerade weil sie die Gesellschaft nicht unmittelbar tangieren, sie können organisatorisch Vorgesehenes unterlaufen und „strukturelle Determinationen entgleisen lassen" (1975: 19). Gerade Konflikte belegen dieses ,freie Spiel': eine durch die Eigenlogik untergeordneter Systeme gebrochene Determination. In dieser Hinsicht sind sich Luhmann und Goffman erneut recht einig. Wie kann man diesen Beitrag Luhmanns aus heutiger Sicht würdigen? Ich sehe die Leistung seines Aufsatzes zunächst in der Sozialdimension des Faches. Er stellt Interaktions-, Organisations- und Gesellschaftstheorie als drei gleichermaßen notwendige und komplementäre Beschreibungen des Sozialen nebeneinander. Dem Unterschied von drei Systemtypen „entsprechen die derzeit wichtigsten Schwerpunkte soziologischer Forschung" (1975: 10). Keine einzige dieser Perspektiven würde das Fach insgesamt hinreichend repräsentieren. Luhmann beschreibt und begründet damit einen Burgfrieden des Faches mit sich selbst, wie er im
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letzten Drittel des 20. Jahrhunderts Konsens wurde. Insbesondere ließen sich sowohl Handlungs- als auch Systemtheorien, die ,Theoriegroßmächte' dieser Zeit, problemlos auf Organisationen ausrichten: als Kollektive Akteure' bzw. als Paradefälle systemischer Sozialzusammenhänge. In gewisser Weise war eine Differenzierungstheorie für dieses Angebot prädestiniert: mit der Feststellung der Koexistenz des Unvereinbaren und der Annahme einer Leistungssteigerung durch Spezialisierung und wechselseitige Indifferenz. Wenn Luhmann schreibt, „die Systemtheorie relativiert und integriert diese verschiedenen Forschungszweige der Soziologie" (1975: 10), so wies er aus einer makrosoziologischen Perspektive Interaktions- und Organisationsforschung einen je spezifischen Platz zu und ihre Alleinvertretungsansprüche zurück - das hieß natürlich auch: sich selbst zu (s. zu dieser Rhetorik: Krey 2011). D a schaffte jemand in einem Zuge Ordnung im Fach und sich selbst eine komfortable Sprecherposition. Aber was ist mit der Sachdimension der Soziologie? Luhmanns Einziehen einer ,dritten Etage' war ein Differenzierungsgewinn gegenüber der Mikro / Makro-Unterscheidung. 4 Aber dieser Differenzierungsgewinn wurde von Luhmann nicht ausgeschöpft. Fokussiert man nicht primär theoriebautechnische Probleme (also Probleme begrifflicher Abgrenzung), sondern konfrontiert die empirische Variabiliät sozialer Gebilde, kann Luhmanns Trias als vollständige Typologie nicht befriedigen. Sie erscheint schlicht unterkomplex. Oder kann eine „Konstruktion von nur drei Typen sozialer Systeme" (Luhmann 1975: 20) wirklich Forschungsansätze schaffen, „die zur Komplexität der sozialen Wirklichkeit in einem adäquaten Verhältnis stehen" (ibid.)? Zwischen Interaktionen und Gesellschaft nur Organisationen als dauerhafte Gebilde zu setzen, verkürzt die Variabilität sozialer Gebilde beträchtlich: Wie sollten sich Dyaden, Triaden, Gatherings, Gruppen, Verfahren, Netzwerke, Schwärme, soziale Bewegungen, Milieus, imaginierte Gemeinschaften, Öffentlichkeiten, Märkte usw. usf. ohne Subsumtionsakrobatik einer Dreiertypologie fügen? 5
Insbesondere, wenn man diese Differenzierung auch noch quer gegen die Konkurrenz von funktionaler und stratifikatorischer stellt. Dies stärkte neben der politischen (Ungleichheit) und der theologischen (Zeitdiagnose) die systematische Seite der Soziologie (soziale Formen).
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5 Luhmanns eigene vorsichtige Öffnung der Trias für soziale Bewegungen (gut zwanzig Jahre später in ,Die Gesellschaft der Gesellschaft') erwog er nur gegen Bedenken hinsichtlich der „Theorieästhetik" (1997: 847). Z u Grup-
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Luhmann versuchte seine sparsame Typologie mit dem Kriterium einzuführen, wie sich Systeme bilden: unter den Bedingungen von Anwesenheit, Mitgliedschaft oder kommunikativer Erreichbarkeit. Diese Fokussierung von (exklusiven?) Grenzbildungsprinzipien könnte erklären, warum etwa Netzwerke oder imaginierte Gemeinschaften vernachlässigt wurden, denn gerade Grenzbildung lässt sich bei ihnen schwerlich festmachen: Diese Entitäten sind nicht systemhaft genug. Wenn Systemhaftigkeit aber leitend für die Auswahl war, dann ist auch verstehbar, wie stark Luhmanns Trias (entgegen seinen eigenen Erklärungen) implizit in Organisationen zentriert ist. Auffällig ist etwa, wo Luhmanns Setzungen empirische Variation vorsehen, wo also das Zentrum der Unterscheidungen liegt: Gesellschaft wird immer vollzogen, und zwar letztlich interaktiv. Interaktion und Gesellschaft sind damit ubiquitär, nur Organisationen bilden diskrete Phänomene. Die zentrale empirische Frage an die kleinsten Sozialsysteme ist damit, ob sie innerhalb oder außerhalb von Organisationen vorkommen: „privat oder dienstlich"? Darüber hinaus ist an Luhmanns Trias fragwürdig, wie die paarsekündigen Ereignisse von Interaktionen je ein echtes .Match' für einen Leistungsvergleich mit Organisationen abgeben sollten (den Gruppen und Gemeinschaften durchaus böten). In Luhmanns Aufsatz erscheinen Interaktionen beständig wie defizitäre Organisationen. Zu den Kosten dieser drastischen Reduktion des ,Zwischenraums' von Interaktion und Gesellschaft auf Organisationen gehörte u.a. die Dethematisierung anderer Formen von Mitgliedschaften als formalisierte und rollenförmige: etwa die Zugehörigkeit zu Gruppen oder imaginierten Gemeinschaften. Die Fixierung auf Organisationen verallgemeinerte überdies die „Kontingenz der Mitgliedschaft" (1975: 14), also den spezifischen Fall der frei gewählten und kündbaren Mitgliedschaft in Organisationen mit ihren „Möglichkeiten zum Abbrechen und Neueingehen sozialer Beziehungen" (1975: 17). Die nichtgewählten Mitgliedschaften - GofFmans diffuse Statuskategorien (Geschlechtszugehörigkeit, Ethni-
pen s. Tyrell (1983), zu Netzwerken Bommes & Tacke (2010), zu Schwärmen Horn/Gisi (2010). Die ,Lücke' der Gruppe ist schon in Luhmanns Aufsatz von 1975 offenkundig: Ein Mittagessen in einer Familie sei ein Interaktionssystem, „nicht die Familie selbst" - und was wäre dann diese? In Stammesgesellschaften seien Interaktion, Organisation und Gesellschaft „nahezu identisch" — aber inwiefern sind solche Gesellschaften dann mehr als eine Interaktion?
zität, Alter etc.), die durch kulturelle Kategorisierungsprozesse aufrechterhalten werden - tauchen nur mehr als .ständische Reste' auf. Wie steht es darüber hinaus um die Relation der drei Ebenen? Und in welchem Raum sollen sie verortet sein? (Wo ist ,oben'?) Klar ist, wie gesagt, dass Luhmann von einer ¥^onvp\aáii.tshierarchie ausgeht (Tyrell 2008: 56), die die .kleineren' Systeme in den jeweils ,größeren' enthalten sein und von den größeren „strukturelle Prämissen" für kleinere ausgehen lässt (immerhin leben sie ja auch viel länger). Aber was ist mit den strukturellen Prämissen, die Interaktionen der Gesellschaft setzen? In Luhmanns evolutionistischer Sicht erscheinen Interaktionen in ihrer personenzentrierten Umständlichkeit abgehängt, wenn es um anonyme, räum- und zeitüberspannende Kommunikationsketten geht. Das ist wenig überzeugend. Zum einen, weil bestimmte Interaktionen fraglos starke Prämissen setzen. Goffmans .Schlüsselsituationen' oder Mouzelis ,Makro-Interaktionen' (1991) machen darauf aufmerksam, dass sich Interaktionen nicht einfach zu gesellschaftlich folgenloser ,Geselligkeit' verharmlosen lassen (s. auch Heintz in diesem Band). Zum anderen ist zu fragen, ob die Gesellschaft bestimmte Merkmale ihrer täglichen Milliarden von Interaktionen vielleicht gar nicht abhängen (oder in der Intimkommunikation parzellieren) kann, sondern vielmehr so dauerhaft .mitschleppt' wie Simmel (1908) meinte, dass die menschliche Sinnesausstattung gesellschaftliche Strukturen präformiere. Darauf wird zurückzukommen sein. Ziehen wir ein Fazit: Organisationen spielen zweifellos für die Entwicklung und mehr noch in der handlungsorientierten Selbstbeschreibung jener Gesellschaft, die sich als .modern' begreifen möchte, eine herausragende Rolle. Aber zwischen dem kleinsten und dem größten sozialen System, Interaktion und Gesellschaft, nur mehr sie zu sehen, ist eine grobschlächtige Verkürzung der Spezies des Sozialen, die überdies heute auch in der Sozialdimension nicht mehr alle wesentlichen Forschungsgebiete der Soziologie abdecken kann. Darüber hinaus verschlimmbessert die Unterscheidung von drei Typen von Sozialsystemen, die sich auf unterschiedlichen Ebenen bilden, den alten Dualismus: Mikro / Makro ist nur ein analytisches Schema, das variabel gefüllt und relativistisch eingesetzt werden kann. (Eine Gruppe etwa kann sowohl ein Makro- als auch ein Mikrogebilde sein). Die Unterscheidung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft ist dagegen eine substantielle Unterscheidung von Entitäten, die
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gegenüber der Vielfalt sozialer Gebilde verarmend wirkt. Luhmanns späte und zögernde Öffnung des triadischen Schemas für soziale Bewegungen ändert daran nichts. Man mag dies bedauern, aber man kann auch die Tatsache, dass Luhmann das Schema nicht ernsthaft weiter verfolgte (Tyrell 2008: 71), als Hinweis nehmen, dass er selbst es für klüger hielt, die Identifizierung sozialer Gebilde im Hinblick auf ihre Emergenzniveaus genauso o f f e n zu lassen wie er dies (anders als Parsons) für die Entstehung bzw. Identifizierung von Funktionssystemen zuließ. 2.3 Auflösungen des Dualismus Goffman wie Luhmann lassen in ihren Beiträgen die je andere Seite weitgehend in einer Black Box verschwinden. Goffman ließ die ,Sozialstruktur' (anders als ethnomethodologische Autoren) völlig untangiert, Luhmann konnte seine Gesellschaftstheorie mit Interaktionen arrangieren, solange diese nur (ganz in Ubereinstimmung mit Goffman) als relativ ,autonome Sphäre' parzelliert blieben. Die ,Spätklassiker' setzten beide auf eine unabhängige Koexistenz von Ebenen. In der Folgezeit wurden, folgt man erneut den Kategorien von Barnes (2001), drei Gegenpositionen zu diesem emergentistischen Konsens entwickelt, die den Mikro/Makro-Dualismus anders auffassen und tendenziell aufzulösen beginnen: pragmatische Vermittlungspositionen (1), ethnomethodologische Reduktionsversuche (2) und konstruktivistische Auflösungen (3). (1) Pragmatische Positionen konzedieren Mikrowie Makro-Beschreibungen ihre Meriten und plädieren für empirische Neugier auf jeder Emergenzebene. Ein heimisches Beispiel für diese Haltung ist Bettina Heintz (2004), die den Konflikt empirisch auflösen will: Welche Anforderungen stellen soziale Phänomene fallweise an soziologische Theorien? Dabei nimmt sie statt zweier Ebenen eher ein Kontinuum der Institutionalisierung an, für das unterschiedliche theoretische Beschreibungssprachen ihre Vor- und Nachteile haben. (2) Im Gegensatz zu Goffmans moderater Haltung gab es eine ganze Reihe von Versuchen im Umkreis der Ethnomethodologie, MakroSozialität mikrosoziologisch zu rekonstruieren, nämlich situationistischen Prämissen zu subsumieren - gewissermaßen komplementär zu Luhmanns Platzanweisung für Interaktionen im Rahmen der Systemtheorie. Leitend ist dabei ein wissenssoziologischer Ansatz, der Teilnehmer-Überzeugungen von sozialen Strukturen als ,ethno-soziologische' Deutungsmuster ihrer Prak-
117 tiken betrachtet. Die vermeintliche Makro-Ebene sei eine Ordnung der summarischen Repräsentation (Knorr 1988), mit der sich Situationen selbst einbetten und Handelnde sich orientieren. Makrophänomene werden als Kontexte begriffen, die in der Interaktion erst als solche aufgerufen, entworfen und aktualisiert werden müssen. Es sind also kommunikative Verweise aus der Situation heraus, mit denen sich Situationen selbst transzendieren. Greifen wir aus den zahlreichen Versuchen (Cicourel 1981; Knorr 1988; Hilbert 1990; Coulter 1996; Schegloff 1997) nur den von Jeff Coulter (1996) heraus. Er fragt unter Berufung auf Max Weber, in welchem Sinne es überhaupt Makrophänomene ,gibt', worin also die Empirizität der Konzepte liegen könnte, die Makroobjekte bezeichnen. Makrophänomene seien kein omnirelevanter Kontext allen Handelns, sie seien als Teil unserer Kosmologie aber auch mehr als bloße Abstraktionen oder Reifikationen: Wenn Äußerungen in bestimmter Form, durch bestimmte Personen, bei bestimmten Gelegenheiten getan werden, „instanziieren" sie Makrophänomene (d. h. sie realisieren sie situativ und konkret als Fall von X). Ein Staat z.B. braucht nicht nur Selbstveranschaulichungen in einer Hauptstadt und in einem ihn verkörpernden Staatsoberhaupt, er wird auch in bestimmten Sprechhandlungen verlebendigt, die ihn situativ vollziehen. In diesen Praktiken, in denen jemand als Verkörperung einer Institution spricht, treten ,die USA' oder ,die katholische Kirche' in Erscheinung. Und nur solche Handlungen, die mit spezifischen Mitgliedschaften verbunden sind, machen Makrophänomene okkasionell relevant. Diese sind nicht ein Kontext für alles, was geschieht, sondern sind zu bestimmten Gelegenheiten eingelassen in Alltagspraktiken. Sie sind damit weder fiktiv (Reifikationen), noch omnirelevant. Coulter gesteht Makrophänomenen also einerseits empirische Substanz zu - sie sind als Praktiken beobachtbar - beschränkt aber andererseits ihre Relevanz auf spezifische Gelegenheiten. Der Staat ist nicht nur eine falsche Abstraktion, er existiert in bestimmten Handlungen bestimmter Personen, die eine Institution verkörpern. In Coulters radikalem Emergentismus sind Makrophänomene nicht nur okkasioneller Konkretion bedürftig (so Goffman im Anschluss an Durkheim), es sind okkasionelle Ereignisse. Wenn sie nicht situativ aktiviert werden, verharren sie quasi in einem Stand-By-Modus. Anstelle einer,Ebene oberhalb' der Situation könnte man bei Coulter eher an ein ,OfF denken, aus dem Makrokreaturen hervorgeholt werden.
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(3) In den ethnomethodologischen Beiträgen ist eine wissenssoziologische Auflösung des Dualismus bereits angedacht, man kann sie aber noch konsequenter konstruktivistisch verfolgen, indem man fragt, wie das Klassifikationsschema Mikro/Makro im Theoretisieren der Leute verwendet wird (Barnes 2001: 342). Für diese Perspektive spricht schon der von Collins dargestellte Umstand, dass Mikro- und Makrophänomene nur analytische Ausschnitte aus einem raum-zeitlichen Kontinuum des Sozialen bilden, vor allem aus einem zeitlichen Kontinuum des ,Kurz-, und ,Langlebigen. Auf dieser Basis gibt es natürlich eine Relativität von Größenordnungen: Eine Familie etwa ist für die Konversationsanalyse eines Tischgesprächs ein Makrokosmos, für die Untersuchung sozialpolitischer Problemlagen ein Mikrophänomen. Barnes Beispiel für den konstruktivistischen Ansatz sind frühe Beiträge von Callón (1986) und Callón /Latour (1981), die den Akteuren folgen und in ihren Netzwerken und Definitionen sowohl Makro- als auch Mikroobjekte entstehen sehen. Diese können nicht soziologisch vorab in ihrer Größenordnung klassifiziert werden, weil die Akteure selbst sehr viel Energie darauf verwenden, die relative Größenordnung aller Beteiligten zu modifizieren. Sie verändern selbst die Maßstäbe, etwa durch ein politisches Enrôlement \on Mitstreitern, das eine Agency akkumuliert, mit der sich ein Makro-Akteur (z. B. ein Unternehmen), ereignishaft realisieren kann (hier gibt es eine Affinität zu Coulter; s.a. Abschnitt 3.2). Barnes hält diese Beiträge von Callón / Latour für mikrosoziologisch voreingenommen: Sie feierten individuelle Agency, eine Praxis-Fiktion für die Zuschreibung von Verantwortung gerade in der modernen Gesellschaft. Einen makrosoziologisch gepolten Konstruktivismus vertritt dagegen Fuchs (2001). Er kritisiert den Mikro/Makro-Dualismus als Reifikation und nimmt, angelehnt an Luhmann, eine attributionstheoretische Perspektive der Konstruktion zweiter Ordnung ein: Agency wird als Beobachterschema ,Interpretation', Structure als Beobachterschema .Erklärung' aufgefasst, d. h. als Element von Sinnstiftungsaktivitäten (Rahmungen). Der Rückgriff auf diese Schemata variiere mit einigen Parametern von sozialen Beziehungen: Agency werde zugeschrieben, wenn die Fallzahlen klein und die soziale Distanz gering sind und der Beobachter eine intentionalistische Haltung einnimmt. Intimbeziehungen verlangen zum Beispiel nach dem Verstehen von Individuen, Bürokratien dagegen nach der Erklärung von Fällen (2001: 32).
Pragmatische, ethnomethodologische und konstruktivistische Annäherungen vermeiden erfolgreich einige Frontstellungen der Mikro/Makro-Kontroverse, bleiben aber mit bestimmten Prämissen auch in deren Bann. Sie werfen die Frage auf, ob das Problem des Zusammenhangs .kleiner' und .großer' Bausteine des Sozialen überhaupt eine gut gestellte Frage war.
3. Intersituativität: Die materiale Verknüpfung von Situationen Der im Folgenden darzustellende Umschwung besteht aus einer Wendung der Frage nach der theoretischen Verbindung von Mikro und Makro in die nach der medialen und materialen Verbindung von Situationen. Diese Frage überträgt die Idee der ,losen Kopplung' vom Verhältnis zweier ,Ebenen' (wie bei Goffman und Luhmann) auf die .Fläche' des Situierten. Innerhalb der Mikrosoziologie impliziert dies, Situationen nicht mehr in einer Text / KontextRelation zu sehen und zu fragen, in was sie .enthalten' sind oder welchen Kontext sie entwerfen. Das Andere der Situation ist nur ein .Kontext', solange man es aus Sicht einer Situation (dem fokussierten .Text') betrachtet. Dezentriert man diese Perspektive, besteht dieses Andere aus anderen Situationen vor, neben und nach der jeweils fokussierten. Wenn man (wie schon Goffmans Schlüsselsituationen nahelegen) soziologisch ernst nimmt, welche Position in Verfahren, in Organisationen, in historischen Phasen usw. eine konkrete Interaktion hat, dann tritt die Historizität und Nachbarschafilichkeit von Situationen in den Vordergrund. In der Geschichte der Mikrosoziologie kommt es so nach Alfred Schütz' Problematisierung der Intersubjektivität einer prekären Korrespondenz von Bewusstseinszuständen - und nach Goffmans und Garfinkeis Untersuchungen der Interaktivität - der beobachtbaren syntaktischen Beziehungen zwischen Handlungszügen - zur Thematisierung der Intersituativität: des Nexus von Situationen. 6 Dieser Schwenk impliziert auf der einen Seite eine Herausforderung des mikrosoziologischen Situationismus, auf der anderen eine noch stärkere Distanzierung von theoretischen Prämissen Luhmanns. Dieser hatte Interaktionen seiner Kommunikations6
Eine frühe Variante dieses Denkstils ist Collins (1981) Idee von der Verkettung von Interaktionsritualen, dem allerdings sowohl Mikroreduktionismus (Heintz 2004) als auch eine mangelhafte Spezifikation des Nexus (Mouzelis 1991) vorgeworfen wurde.
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Stefan Hirschauer: Intersituativität theorie als „Kommunikation unter Anwesenden" eingefügt (s. a. Kieserling 1999). Dafür spricht zum einen, dass Interaktionen natürlich nur einen Ausschnitt des kommunikativen Geschehens darstellen, zum anderen dass sie gerade kommunikativ äußerst leistungsfähig sind. In der Beschränktheit sozialer Situationen wird Interaktivität im elementaren Sinne des Feedbacks gesteigert: Ein einfaches Tun wird in der Anpassung an Objekte modifiziert, die Mimik, die Ego nicht sieht, wird von Alter gespiegelt, die Stimme kann moduliert und geführt werden, weil Ego sie zugleich hört. In der Totalität der Sinnlichkeit bei der Begegnung zweier körperlicher .displays' (GofFman) findet eine gewaltige Verdichtung von Kommunikation im Hinblick auf ihre Modalitäten und ihr Rückkopplungstempo ^Wechselwirkung') statt. Zur vollen Anerkennung kommt dieses besondere Potenzial von Interaktionen freilich erst bei einem weiteren Kommunikationsbegriff, der nicht wie der Luhmann'sche auf Mitteilungs/wW?/« (als erste Selektion) fokussiert, sondern auch und gerade die ungesteuert verstreuten Zeichen der visuellen Kommunikation ins Zentrum stellt (Hirschauer 2015). Mit diesem weiteren (und diffuseren) Kommunikationsbegriff, wie ihn Goffman seinen Arbeiten zu Grunde legte, steigt die Bedeutung des Körpers in der Kommunikation. Damit ist auch eine Neubetrachtung sprachlicher Akte als Handlungszüge verbunden (Goffman 1978), die den verbalen Austausch mit Interaktionen vergleichbar macht, die gar nicht primär kommunikativ sind, sondern produktiv. Interaktivität meint responsive Beziehungen zwischen Aktivitäten. Und viele Interaktionen sind körperliche Koproduktionen (Joint activities), etwa Sexualakte, sportliche, musikalische und handwerkliche Kooperationen. „Kommunikation im engeren Sinne" (Goffman 1963) ist hier bloße Begleitmelodie eines ganz anders gerahmten Geschehens, ist nur ein Teilaspekt von Interaktionen. Uber den materiellen .Output' von Interaktionen hinaus ist für deren Ablauf aber auch das materielle Setting von Bedeutung, die Situation, in der eine Interaktion stattfindet. Sie hat ein Eigengewicht, bei dem zur humanen Materialität (zum Körper) auch noch die nicht-humane Materialität der vorhandenen Artefakte hinzukommt. Der Situiertheit von Interaktionen ausgesetzt zu sein, heißt, dass man Schauplätze von Ereignissen, zuhandene Artefakte, Körper, die sich bemerkbar machen, Personen, die zur Stelle sind und Vorstellungen, die sich aufdrängen, alle nutzen kann, um den indexikalen Sinn
von Kommunikationen zu fixieren. Körper und Artefakte gehören immer schon Situationen an, in denen sie die materielle Infrastruktur für Interaktionsprozesse bilden. Eine solche Berücksichtigung von Materialitäten ist unter den Prämissen einer allgemeinen Systemtheorie, die die Soziologie auf Kommunikation festlegt, ausgeschlossen. Zu dieser,Materialisierung' hinzu kommt eine Problematisierung des Konzepts der Anwesenheit wie sie Luhmann bei seiner Verkürzung von Interaktionen als ,Kommunikation unter Anwesenden' impliziert. Bei Goffman (an den Luhmann anschließt) hat Anwesenheit wie oben dargestellt zwei Aspekte: 1. eine physische Kopräsenz, die visuelle Verfügbarkeit und Ausgesetztheit, aber auch taktile (An)Greifbarkeit von Körpern meint, 2. eine reziproke Wahrnehmung, die diese Kopräsenz bedeutsam macht. Exemplarisch hier der Blickkontakt in der perfekten Gleichzeitigkeit, in der Wissensstände in ihm zusammenschießen: Ich sehe am und im Blick des Anderen, dass er jetzt sieht, dass ich ihn sehe, was natürlich nicht dasselbe ist, was er sieht (er mich, ich ihn). Aber dass wir uns uns sehen sehen, ist identisch. Beide Autoren, die ich im Folgenden exemplarisch als Theoretiker von Intersituativität diskutiere, begnügen sich damit nicht mehr. Sie sind mit einer ,anderen Anwesenheit' befasst: von nicht greifbaren Menschen in Telepräsenz, von greifbaren Dingen als Handlungen Abwesender.
3.1 Der Situationsbegriff im Zeitalter der Teleinteraktion Die erste Herausforderung der klassischen Mikrosoziologie geht von den Technologien der Telekommunikation aus. Exemplarisch seien hier Arbeiten von Karin Knorr Cetina diskutiert, die entsprechende theoretische Konsequenzen fordert. In einer Reihe von Untersuchungen zu Finanzmärkten hat sie in den letzten Jahren (Knorr 2003,2009, Knorr/ Bruegger 2002) eine These zu „globalen Mikrostrukturen" formuliert, die den Mikro / Makro-Dualismus durch zwei komplementäre Stoßrichtungen aufzulösen versucht: durch die Feststellung, dass Globalisierung wesentlich aus Interaktionszusammenhängen besteht, deren Gestalt jedoch umgekehrt auch Prämissen der Mikrosoziologie grundsätzlich tangiert. Globale Konfigurationen bestehen, so Knorr, nicht primär aus einer territorialen Ausdehnung von Lokalitäten, sie überspannen vor allem Zeitzonen. Dabei basieren sie auf einer Konnektivität zwischen exklusiven Orten auf dem Globus, die globale Reichweite
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mit mikrostrukturellen Mechanismen verbindet. Sie brauchen nicht notwendig Expansionen institutioneller Komplexität. Die Finanzmärkte etwa operieren zu schnell, um in Institutionen eingeschlossen werden zu können, sie rekurrieren auf die Unberechenbarkeit und das Spielerische von Interaktionsmustern, von „response-presence based social forms" (Knorr/Bruegger 2002), zusammengehalten durch Informationstechnologien, durch die die Interaktionen fließen. Die Weltgesellschaft werde damit wesentlich durch Phänomene hergestellt, die nicht Eigenschaften von komplexen Organisationen haben: kleine soziale Formen in .Leichtbauweise', die ihre Effektivität nicht weberianisch gewinnen — durch klare Hierarchien und transparente Strukturen in einem rationalen Zweckverband - , sondern durch den deregulierten Gebrauch von Technik, Medien, Outsourcing und flexibler Selbststeuerung. Ein weiteres Beispiel ist Al Quaida (Knorr Cetina 2005): adressierbare .Schläfer' statt erfasster Mitglieder, ersetzbare und selbständig operierende .Zellen' statt zentral gesteuerter Abteilungen, und den Moment nutzende Aktionen, die nicht die Medienhäuser beherrschen (wie Berlusconi), aber die Nachrichten. Die Verbreitungsgeschwindigkeit von Information ist wichtiger als die Frage der Größe von Entitäten. Entscheidend für die Entfaltung globaler Mikrostrukturen sind dabei die neuen Möglichkeiten der Telekommunikation: Schon bei einem knappen elektronischen Austausch zwischen New York und Singapur werden die drei Makrovariablen, die Collins identifizierte, - Zeit, Zahl und geografische Reichweite - entkoppelt. Die Inkongruenz dieser Variablen (z. B. kurze Zeit, große Distanz, kleine Teilnehmerzahl) dekomponiert den Mikro/Makro-Dualismus auf denkbar einfache Weise. Die Mikrosoziologie GofFmans und der Ethnomethodologie sieht Knorr Cetina dadurch in drei ihrer Prämissen herausgefordert: 1. dass die Grundeinheit der Interaktionsordnung physische Settings sind und nach physischer Kopräsenz verlangen; 2. dass Interaktionen primär auf territoriale Bezogenheit aufeinander gründen, gleichrangig neben diese Kopräsenz trete die Gleichzeitigkeit, Goffmans Reaktionspräsenz; 3. und dass es (im Sinne von Goffman und Luhmann) einen Graben zwischen Interaktionen und Makrostrukturen gebe, dass nämlich weder Interaktion unter Sozialstruktur subsumierbar noch umgekehrt soziale Strukturen aus Interaktionen aggregierbar seien. Der alte Anspruch der Mikrosoziologie auf eine relativ autonome Sphäre des Situativen
passe nicht mehr in eine Welt, in der Interaktionen lokal .disembedded' werden, in der space von place (Räume von Orten) getrennt werden (Giddens 1990: 18) und spezifische Situationen Menschen auf verschiedenen Kontinenten verbinden. Basis der Globalisierung ist eben die Aufhebung der Situationsgrenzen, der Differenz von hier und dort. Knorr nennt diese spezifischen Situationen „synthetische". Das sind informationell ,aufgerüstete' Umgebungen, in denen elektronisch vermittelte Bildschirmdaten physischen Situationen informationelle Tiefe und neue Reaktionserfordernisse hinzufügen, weil sich Teilnehmer hier in der Reaktionspräsenz von Anderen befinden, ohne ihnen räumlich nah zu sein (2009: 69). Die Kommunikationsmedien in Finanzmärkten fügen sich in natürliche Situationen als ,skopische Systeme' ein, als Sehinstrumente, die weltweit erzeugte Informationen auf einem Bildschirm versammeln und anordnen, so dass sie zugleich ,den Markt' und die Transaktionen ihrer Betrachter spiegeln. Dieser Markt wird auf dem Bildschirm als ein referenzielles Ganzes refiguriert, mit dem man umgehen kann und in dem man sich bewegt. Trader in Reaktionspräsenz befinden sich also in einer Aufmerksamkeit absorbierenden synthetischen Situation im Vordergrund und einer ,organischen' Situation im Hintergrund. Während letztere in einer langfristig gewachsenen materiellen Umwelt stattfindet (Bauten, Städte, Landschaften), die wir selbstverständlich hinnehmen können, sind synthetische Situationen ein informationelles Kompositum, das an vielen Orten der Welt zusammengestellt und laufend aktualisiert wird und sich unter den Handlungen der Bildschirmbetrachter verändert. Das temporalisiert diese Situationen zugleich, es macht sie ontologisch fluide. Informationelle Umgebungen sind viel vergänglicher als materielle. Trader handeln in einem sich ständig verändernden Feld: Das Setting ist hier nicht eine stabile materielle Umwelt, sondern, so Knorr, wie ein Teppich, der gleichzeitig gewebt, ausgerollt und aufgelöst wird. Begegnungen in Reaktionspräsenz finden denn auch nicht an einem Ort, sondern in der Zeit statt. Die Koordination von Handlungen verlangt ein kontinuierliches Verfolgen des Geschehens, was durch die Fluidität der Situation gesteigert wird. Synthetische Situationen „demand more monitoring" (2009: 74), eine Intensivierung von Aufmerksamkeit, nämlich nicht nur mentale Konzentration, sondern auch eine körperliche, präreflexive ,Sprungbereitschaft'. In Bezug auf Flüche und Gesten, die Marktereignisse verkörpern, schreibt
Stefan Hirschauer: Intersituativität Knorr: „Partial re-enactments and simulations of referent objects would seem to be called for particularly when the referent is remote, abstract, and synthetic" (2009: 79). In Knorrs empirischem Fall und in ihren begrifflichen Vorschlägen sind m.E. sechs verschiedene Aspekte amalgamiert, die den Situationsbegriff tatsächlich herausfordern (1. bis 3.)> aber auch iiberfordern (4. und 5.). und in einer Hinsicht verfehlen (6.): 1. Die erhebliche Medienvermitteltheit des Erlebens und des Wissens, d. h. die Normalität der Koexistenz von „natürlichen" und „synthetischen" Situationen. Goffman hatte schon die kulturellen Wissensressourcen, die sozialisierte Teilnehmer in Situationen einbringen, als situationstranszendierende Elemente aufgefasst. Knorr Cetina verweist darüber hinaus auf die wachsenden Wissensressourcen, die zusätzlich über Medien in eine Situation einfließen - hier ganz in Übereinstimmung mit Luhmanns Feststellung (1997: 826), dass das Wissen von der Gesellschaft heute primär aus den Massenmedien stammt. Der interaktiv verfügbare Erfahrungsausschnitt ist nur noch ein Bruchteil des in Schrift- und Bildmedien verfügbaren Wissens. Umgekehrt steigern Medien das situativ verfügbare Wissen beträchtlich. Zugleich enthalten Luhmanns wie Goffmans Arbeiten hier technikhistorisch überholte Prämissen. Goffmans Annahme, dass wir den größten Teil des Tages face to face verbringen, widerspricht Knorr Cetina mit dem einfachen empirischen Hinweis, dass die meiste soziale Zeit heute face to screen verbracht wird. Luhmann wiederum dachte bei der Steigerung von Reichweiten primär an symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, vor allem an Schrift und Geld, nicht aber daran, dass die neuen materialen Kommunikationsmedien auch die Reichweite von Interaktionen steigern. Sie erlauben Teleinteraktion. Das Besondere an den Bildmeàïen ist dabei das Potenzial der Steuerung visueller Massenaufmerksamkeit. Knorr Cetina (2005: 224) grenzt dies von der Leistung von Netzwerken ab, die auf bilateraler Kommunikation, meist sprachlichem Austausch, beruhen: Wenn alle gleichzeitig das Gleiche sehen, braucht es keine Zirkulation. Wie in einer körperlich geteilten Situation (und viel unmittelbarer als sprachliche Verweisungen) bringen Bildmedien das Ferne nah. Sie simulieren Kopräsenz, fordern Aufmerksamkeit und üben über unsere informationelle Teilhabe einen gewissen Partizipationszwang an fernen Geschehnissen aus. So kann schon eine Karikatur in
121 einer dänischen Zeitung Massendemonstrationen in Kairo evozieren. Bilder haben auch aus Gründen der leichteren Verstehbarkeit die Reichweite von Interkontinentalraketen. Sie verschaffen mit hoher Verbreitungsgeschwindigkeit lokalen Ereignissen exponentielle Wirkungen. 2. Die Pluralisierung von Situationen durch Teleinteraktion. Knorrs Stilisierung medienvermittelter Interaktion zu einem besonderen Situationstypus verdeckt eine tiefere Herausforderung des Situationismus durch die Telekommunikationstechniken: dass die mediale Verbindung zweier Teilnehmer nicht nur die Situationen verbindet, der sie qua Körper angehören, sondern zugleich eine neue (ortlose) Situation eröffnet. Schon eine ältere und simplere Technologie sorgte für Teleinteraktivität: das Telefon. Ein Telefonierender befindet sich in drei Situationen: körperlich hier (wo Ablenkungen drohen), akustisch am Rande dort beim Gesprächspartner (wo man Hintergrundgeräusche hört), interaktiv im ortlosen Raum des Telefonats. Es bildet eine Art Schnittmenge und bekommt den Fokus der beiden Teilnehmer, die sich selektiv absentieren und ,präsentieren'. 7 Ein Telefonat multipliziert also Situationen und stiftet in jeder von ihnen subjektiv erfahrbare Intersituativität. Entscheidend daran ist nicht das „Synthetische", sondern das Nebeneinander und Ineinander mehrerer Situationen. Der Fall des Trading potenziert nur diese Konstellation. 8 3. Die Komplizierung von Anwesenheit. Die Teleinteraktion stellt einen Begriff der Anwesenheit infrage, bei dem Goffman und Luhmann recht ähnliche Intuitionen hatten: nämlich als Form der Inklusion in ein Kollektiv, eine Situationsmitgliedschaf, die man 7 Einen analogen Effekt hat der MP3-Player als avancierte Absentierungstechnologie, die die Empfangsbereitschaft in Urbanen Räumen drosselt. Hier werden die Kommunikationskanäle gegenläufig zum Telefon entkoppelt: Man bleibt akustisch ganz privat und visuell verbunden - jedenfalls soweit dies zum Vermeiden von Kollisionen und zum Gewahrwerden von Leuten, für die man die Ohren evtl. entstöpseln (den Hörer abheben) würde, noch nötig ist. Auch hier kann man nicht ohne Weiteres von nur einer Situation sprechen. 8
Natürlich sind die Informationsmengen und -quellen auf dem Bildschirm eines Brokers ungleich vielfaltiger als in einem Telefonat, aber dafür ist seine physische Interaktionssituation immerhin noch stabil - anders als bei Mobiltelefonen und Laptops, die es erlauben, auch bei Eigenbeweglichkeit noch in andere Situationen hineinzuschauen und zu -hören. Schegloff (2002) spricht von einer „intersection of worlds", also einer ,zwischenweltlichen' Lage.
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hat oder nicht hat. 9 Unter den Bedingungen der Teleinteraktion scheint es mir aber angemessener, Anwesenheit anders zu fassen: als einen konnektiven Mechanismus der steigerbaren Involvierung von Personen in soziale Prozesse. Dies hat drei Aspekte, die über die beiden von G o f f m a n herauspräparierten (körperliches Ausgesetztsein und reziproke Wahrnehmung) hinausgehen: Erstens die physische Erreichbarkeit, die Personen als Inhaber von Sinnesorganen involviert. Diese Verfügbarkeit Anderer als kommunikative Adresse liegt noch vor der wechselseitigen W a h r n e h m u n g , einfache Wahrnehmbarkeit - die O r t u n g kommunikativer Adressen - reicht: Andere sind auf Sicht- oder Hörweite oder ,am Apparat', wenn sie sich .melden'. Die Kommunikationstechniken haben einerseits diese Erreichbarkeit und Verfügbarkeit erheblich gesteigert. Dies erleichtert es beträchtlich, in Kontakt zu bleiben, also soziale Beziehungen in einem minimalistischen Stand-by zu halten. Andererseits sind viele dieser Medien mit einer Verunsicherung der Rezeptionserwartung verbunden. M a n kennt diese Verunsicherung schon vom Prototyp der Telekommunikation, dem Gebet: der hoffnungsvollen Erweiterung der Leistung der Sprache, Abwesendes zu bezeichnen, auf die Versuchung, unerreichbare Abwesende auch zu adressieren. Die Ungewissheit über den Adressaten, über die Rezeption, über die Akzeptanz u n d über den Zeitp u n k t eines evtl. Response, die es beim Beten gibt, setzte sich historisch über das Schreiben und Publizieren bis hin zum Mailen, Bloggen, Twittern und Chatten fort. Bleibt die Kommunikation einseitig und läuft ins Leere oder ,trifft' sie jemanden an? Zweitens ist Anwesenheit (wie schon G o f f m a n wusste) steigerbare Präsenz (s.a. Kieserling 1999: 64 ff.). Der Grad der Involvierung von Aufmerksamkeit (und der Grad der gemeinsamen Fokussierung) ist eine empirische Frage. In sozialen Situationen kann m a n nur schwach präsente Teilnehmer, die ,mentale Absenz' vom Geschehen signalisieren und sich visuell aus der wechselseitigen W a h r n e h m u n g ausklinken, als Anwesende zwar nicht ganz übersehen (sie sind vorhanden), aber vernachlässigen. Mit anderen muss man evtl. als Zuschauer, Lauscher oder Leuten in Hörweite rechnen (Goffman
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G o f f m a n explizit: „More t h a n to any family or club, more than to any class or sex, more t h a n to any nation, the individual belongs to gatherings". ( G o f f m a n 1963: 248) L u h m a n n spricht von Mitgliedschaft zwar n u r in Bezug auf Organisationen, aber Anwesenheit ist, wenn sie als „Grenzbildungsmechanismus" theoretisch beansprucht wird, ebenso diskret.
1981). Ein voll präsenter Interaktionsteilnehmer ist dagegen ein gänzlich orientierter, reaktionsschnellgeistesgegenwärtiger Mitspieler auf der Höhe des situativen Geschehens (etwa als Mannschaftskamerad, in einem Operationsteam oder beim Kartenspiel). Erst auf dieser Basis kann fokussierte Interaktion gelingen, also die Ausrichtung der füreinander gewonnenen und .vereinten Aufmerksamkeit auf eine Sache. Schon das Telefon bietet hier wie gesagt neue Möglichkeiten der Präsenzminimierung (man geht zwar ,dran', ist aber nicht .dabei'). Drittens gibt es neben der kommunikativen Anwesenheit (der Erreichbarkeit) und der mentalen und verhaltensmäßigen (der interaktiven Präsenz) noch eine relationale Präsenz, eine sozial signifikante Anwesenheit. Es ist eine Frage der Beziehungsintensität, ob und in welchem M a ß e und Sinne jemand für einen anderen anwesend ist. M a n kann hier Personen, Personal und Leute unterscheiden. Leute sind insignifikante Anwesende, die man nur nach sozialen Kategorien (Goffmans Statusgruppen) klassifiziert (sie sind wie Unpersonen nicht sehr verschieden von dinglichen oder animalischen Objekten); Personal sind Anwesende, die man als bloße Rollenträger behandeln kann (etwa in Dienstleistungsinteraktionen); auf die Anwesenheit von Personen muss man dagegen nicht nur zwingend und spezifisch reagieren, man muss sogar an deren Steigerung mitarbeiten (man muss sie sich ,präsentieren' lassen). G o f f m a n wies in diesem Z u s a m m e n h a n g auf die große Bedeutung von Bekanntschaft hin, eine soziale Institution zur Erzwingung wechselseitiger Aufmerksamkeit. In ihrer Minimalform (oder in ihrem operativen Vollzug) ist Bekanntschaft die beidseitige Anerkennung wechselseitigen (Er)Kennens. Sie k o m m t zustande, wenn die reziproke W a h r n e h m u n g in einer Erinnerung arretiert und wir uns uns uns sehen sehen (wenn wir uns also im reziproken Wiedererkennen als ein ,Wir' identifizieren). Bekannte sind individualisierte Andere, die viel Aufmerksamkeit verlangen: Sie werden beschädigt, wenn man sie nicht grüßt und sich nicht nach ihnen erkundigt. D e n n dieser konnektive Mechanismus involviert die Personalität von Interaktionsteilnehmern. Alle drei konnektiven Mechanismen bestimmen Interaktionsverläufe erheblich, sie determinieren, in welchem Sinne ein Anderer f ü r jemanden ,da' ist: mit minimaler Reaktionserwartung adressierbar {„Ist da wer?"), mit gesteigerter Reaktionserwartung belastbar („Ist er dabei?') und seinerseits mit eigenen interaktionsgeschichtlichen Reaktionserwartungen errinnerungspflichtig gegenwärtig („Wer ist da?").
Stefan Hirschauer: Intersituativität Die Telekommunikationstechniken verändern (je verschieden) all diese Parameter im allgemeinen so, dass sie Erreichbarkeit auf Kosten von interaktiver und sozialer Präsenz steigern. Es kommt zu einer Ausdünnung der reichweitengesteigerten Kommunikation: höhere Kontaktfrequenz bei abnehmender Kontak-tdichte. Insofern muss man knapp 150 Jahre nach Erfindung des Telefons nicht mehr feststellen, dass bloße physische Kopräsenz für Interaktion und auch für ,Präsenz' nicht notwendig ist, systematisch auszuloten bleibt vielmehr, wofür diese Kopräsenz überhaupt jeweils hinreichend ist. 4. Die neue Bedeutung der Zeit m Teleinteraktionen. Wenn schon bei physischer Kopräsenz die Reaktionsgeschwindigkeit der Anwesenden bestimmend für ihre Präsenz ist, so ist sie unter den Bedingungen der Telekommunikation zu einer zentralen Variable der Interaktivität von Kommunikation geworden. Bei dieser ,Responsivität' von Kommunikation geht es einerseits um Antworterwartung, andererseits um Reaktionsbereitschaft. Ob eine Kommunikation noch Interaktion bleibt, ist eine Frage ihrer Pausentoleranz - ob bei Briefwechseln, bei Nachrichten auf Anrufbeantwortern, bei unerwiderten Mails oder SMS. Längere Interaktionspausen (wie bei den Transaktionen des Trading) gibt es bei allen Formen des Austausche, an denen Schrift beteiligt ist: Briefwechsel, Leserbriefe, wissenschaftliche Repliken etc.. Die Schrift desynchronisiert Kommunikation (so Luhmann), ob sie sie aber auch ganz von Interaktion ablöst (und Rezeption von .Publikation' trennt), ist eine Frage der Limitierung von Zeitspannen. Ob das Geschehen auf dem Screen eines Traders eine soziale Situation zeigt (d. h. noch einem belastbaren SituationsbegrifFentspricht), hängt daher davon ab, wie stark die Reaktionserwartungen sind, die die Betrachter der Bildschirmereignisse involvieren. Fehlen sie, würde der Screen zwar die Aufmerksamkeit vieler örtlich verstreuter Teilnehmer bündeln, aber nur so wie ein Nachrichtenticker. Es ist also eine empirische Frage, ob der Screen der Trader situativ (sie!) wie eine Telefonkonferenz mit vielen Teilnehmern oder nur wie ein TV-Programm mit telefonischer Publikumsbeteiligung funktioniert. 5. Die Grenzen des Situationsbegriffs. In Knorrs Fallbeispiel werden in physischen Settings (Arbeitsplätzen, die bei körperlicher Kopräsenz Anderer eigene soziale Situationen entfalten) mit kommunikativen Handlungen Spuren erzeugt, die mit den Spuren aus Tausenden ähnlicher Situationen technisch verknüpft und auf einem sich wandelnden Bildschirm-
123 dokument weltweit identisch repräsentiert werden. Ob das Geschehen auf dem Screen eine ,soziale Situation' ist, ist neben dem gerade erörterten Aspekt der Responsivität - also der zeitlichen Kohäsion in Erwartungsspannen - auch eine Frage der zeitlichen Begrenzbarkeit des Geschehens. Schon ein Fußballspiel, in dessen Verlauf Spieler in diverse Situationen geraten, ist eine größere soziale Einheit und es hat anders als der internationale Börsenhandel enge zeitliche Klammern. Der Fall des Trading verlangt daher m.E. zwei transsituative Raumkonzepte (ohne die auch schon Goffman wie dargestellt nicht auskam): Erstens reichen Zeitpunkte allein auch im Internet nicht, um sich zu ,treffen'. Es braucht auch einen kommunikativen Raum (ein Internetportal, einen Chatroom, ein Forum), um Interaktionen zu ermöglichen - und darüber hinaus u.U. noch Verabredungen von Erreichbarkeit (zeitlicher Kopräsenz) in einem wieder anderen Raum, ζ. B. die Verabredung, das Handy einzuschalten, vor die Kamera zu gehen, online zu sein. Zweitens sind die Trader Zeugen und Akteure einer veränderlichen Lage, einer Konstellation von temporären Umständen und parallelen Entwicklungen, wie sie etwa auch in polizeilichen Lagebesprechungen, bei der Konferenzschaltung parallel laufender Spitzenspiele oder bei der Zusammenführung von TV-Korrespondentenberichten in internationalen Krisen synoptisch dargestellt werden. Soziale Situationen bilden den archetypischen, aber nicht den einzigen kommunikativen Raum, in dem Aufmerksamkeit zusammengezogen wird. Sie tun es (so Goffman) durch wechselseitige Wahrnehmung. Schon Aufführungen und Großveranstaltungen (die viele dasselbe wahrnehmen lassen) tun es anders, klassische Massenmedien und das Internet erst recht. 6. Die Beteiligung des Körpers an der ,entkörperlichten' Teleinteraktion. Unter den Bedingungen der Telekommunikation verblasst der Körper des Anderen (sein Gesicht, seine Stimme) - man weiß nur noch, dass er irgendwo ,da' ist und wie man selbst vor einem Bildschirm hockt. Sein körperliches Display (Goffman), das in face to face Situationen eine unendliche Vielfalt kommunikativer Rückkopplungen erlaubt, wird durch ein vergleichsweise ärmliches technisches Display ersetzt. Aber was ist mit dem Körper vor dem Bildschirm? Begegnungen in Reaktionspräsenz verlangen, so Knorr, eine Intensivierung der Aufmerksamkeit, sie fordern den Körper. Diese Aufmerksamkeit ist aber nicht beliebig steigerbar. Wie sollten Trader eine größere Wahrnehmungsspannung aufbringen als Poker- und Tischtennisspieler, Konzertpianisten
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und Herzchirurgen, Psychoanalytiker und Piloten? Charakteristisch f ü r Knorrs .synthetische Situationen' scheint mir vielmehr die technische Adaptation großer Informationsströme an eine endliche psychophysische Größe, die man in Grenzen noch dopen und weiter in Dienst nehmen kann oder aber durch Maschinen ersetzen muss. 10 Und man kann die Menschen durchaus als Appendix der kommunikativen Prozesse betrachten - ganz ähnlich wie den Patienten, der zum „live attachment" seiner Daten wird (so Knorr 2009). Broker handeln in einer höchst komplexen und instabilen Marktlage (so wie Fluglotsen in einer Luftverkehrslage), die ihnen via Bildschirm in einer Situation verfügbar gemacht wird: in derjenigen, in der sich ihr Körper befindet. Insofern kann man die mediale Infrastruktur des Trading als Situierungsleistung fassen, die das gleichzeitige Geschehen an vielen Orten der Welt an die sensuellen und kognitiven Möglichkeiten eines hier und jetzt agierenden Körpers anpasst. Die Appräsentationsleistung von skopischen Systemen hängt an der Rückbindung und Schnittstellenpflege von mediatisierter Kommunikation an situierte Körper. Solange Körper an Kommunikation beteiligt sind, gibt es keine ortlose, nicht situierte Kommunikation. Die Ä'opräsenz kann sich seit der Erfindung des Telefons von physischer Anwesenheit ablösen das ist die soziale Leistung der Telekommunikationstechnik - , aber die Präsenz kann vom Körper nicht loskommen: Seinen Sinnen wird etwas appräsentiert. M a n muss hier nicht allzu anthropologisch werden, es reicht, bei der soziologischen Wertschätzung der neuen Kommunikationsmedien die elementare Medialität des Körpers als eine ebenso limitierte wie leistungsfähige materiale Infrastruktur f ü r Kommunikations- und Interaktionsprozesse nicht zu übersehen. Die raison d'etre eines ortsbezogenen Situationsbegriffs ist der Körper. Genauso wie die Kommunikationsmedien einer Gesellschaft ihre Strukturen und Prozesse bestimmen, so tun es auch die Sinne des Körpers — so meinte wie gesagt schon Simmel (er drückte es nur etwas poetischer aus). Ziehen wir ein Zwischenfazit. In dem Maße, in dem Telekommunikationsmedien auch Teleinteraktion
10 So ist ja auch der Hochfrequenzhandel (mit Millionen von Transaktionen pro Sekunde) längst Großrechnern übergeben worden. Auch die falschliche H e r a b s t u f u n g der Kreditwürdigkeit Frankreichs durch die Ratingagentur Standard & Poor's im November 2011 war die eigenständige Leistung eines Rechners: Er hatte, so die Agentur, die französischen Daten „falsch interpretiert" u n d d a n n (zeitsparend) eigenständig e-mails versandt.
ermöglichen, tangieren sie den Situationsbegriff, der um interkorporale W a h r n e h m u n g herum gebaut ist: Sie vervielfältigen die Situationen, in denen man sich zugleich befinden kann und steigern die Erreichbarkeit (oft auf Kosten mentaler und relationaler Präsenz). Zugleich ist es eine Frage der zeitlichen Kohäsion von Erwartungen (der Pausentoleranz) und der zeitlichen Begrenzbarkeit, ob ein kommunikatives Geschehen eine Situation überschreitet oder den SituationsbegrifF überdehnen würde. Soziale Situationen bilden den Rahmen eines Geschehens, an dem man im Wissen um die aktuale Präsenz Anderer teilhat. Dieses Wissen kann aber mehr oder weniger unsicher sein und diese Präsenz mehr oder weniger groß." Was für den Situationsbegriff gilt, gilt auch f ü r den Interaktionsbegriff: Die Telekommunikationstechniken lassen eine Menge Interaktionen zu, die nicht face to face ablaufen (Telefonate, Mails, SMS und auch schon Briefwechsel). Der Interaktionsbegriff wird aber überdehnt, wenn sich die .Wechselwirkung' der spezifischen .Interaktion unter körperlich Anwesenden' in den Kommunikationsketten des Internet verliert. So steigern Teleinteraktionen zwar die Reichweite von interaktiver Kommunikation, können aber wie gesagt im Hinblick auf das Rückkopplungstempo (Stichwort Pausentoleranz), die Mehrkanaligkeit und nuancierte Responsivität mit face to face Interaktionen nicht mithalten. Ihre kommunikative Leistungsfähigkeit wächst und sinkt also zugleich. Dennoch scheint es mir unangebracht, den Interaktionsbegriff definitorisch eng an das Moment aktualer reflexiver Wahrnehmbarkeit zu binden (so Heintz in diesem Band), anstatt im Interaktionsbegriff Platz zu machen f ü r die realen Abstraktionssteigerungen des Interaktiven in der Welt. M a n würde dem Begriff der Interaktion damit eine .Harmlosigkeit' bewahren, die der der Kommunikation schon lange verloren hat. Sie entstammt sowohl der mikrosoziologischen Tradition (s. 3.2) als auch der Luhmann'schen .systemischen' Verengung des Interaktionsbegriffs. Vor dem Hintergrund globalisierter Teleinteraktionen erscheinen Interaktionen bei L u h m a n n insgesamt in drei Hinsichten verniedlicht: Sie werden reduziert a) auf Kommunikation (verlieren also ihre materiale Produktivität) b) aufs örtlich Situative (werden also in ihrer Reichweitensteigerung verkannt) und c) aufs gesellschaftlich folgenlose Gesellige.
11 Verlieren w ü r d e sich eine soziale Situation, wenn ihre Teilnehmer gar nicht mehr sagen könnten, für wen sie eine solche ist, wer also an ihr teilnimmt.
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Stefan Hirschauer: Intersituativität Gerade die Bildmedien des Trading, die globale Informationsströme an situierte Körper adaptieren, verweisen aber auch zurück auf den ursprünglichen Sinn des Situationsbegriffs. Im Hinblick auf die unabdingbare Sinnesbeteiligung leisten die synoptischen Repräsentationen der .skopischen Systeme' eine Sekundärveranschaulichung, die an die Funktionen der primären Visualisierung kulturellen Wissens anschließen, auf die Goffman im Anschluss an Dürkheim aufmerksam machte: Tabellen und Grafiken sind wie Rituale Formen symbolischer Repräsentation, die ungegenständliche Dinge körperlichen Sinnen zugänglich machen. In beiden Fällen geht es um die Uberführung von kognitivem kulturellen Wissen in sinnlich-situativ verfügbares Alltagswissen, und zwar durch die Sicherung der gleichzeitigen Präsenz von Personen und Wissensobjekten. Der ,Präsentismus' ist eben nicht nur eine Obsession positiver Wissenschaften, er ist auch ein lebensweltliches Desiderat der Selbstveranschaulichung von Gesellschaft - ob in der rituellen Repräsentation von Glaubensannahmen oder der technischen Herstellung von Synoptiken des Unüberschaubaren: die Veranschaulichung von Nationen in Landkarten (Anderson 1998), die Visualisierung von Ökonomien in Tabellen (Grimpe 2010), die Performierung der Gegenwärtigkeit Gottes in der Liturgie oder der Staatsmacht in Militärparaden (Goffman 1983), die Darstellung kultureller Ideale und Ängste in öffentlichen Hahnenkämpfen (Geertz 1987) oder die Verkörperungen von Organisationen in Führungspersonen und öffentlichen Sprechakten (Coulter 1996). Dass weit gespannte Praxiszusammenhänge in Erscheinung treten können, ist eine Frage ihrer evidenten Rekonkretion in Situationen und epistemischen Objekten. Hier scheint eine der oben gesuchten „strukturellen Prämissen" (Luhmann) zu liegen, die Interaktionen größeren sozialen Gebilden setzen. Goffman hatte sich beständig dem Thema des Images zugewandt: dem was Teilnehmern kommunikativ zumutbar ist, ohne dass sie aufhören, Personen zu sein (es ist gewissermaßen die ,Schnittmenge', die Interaktionen mit Personen haben). Die skopischen Systeme (Knorr) bändigen dagegen Informationsmengen und Kommunikationsströme auf ein Maß, das Menschen noch vorstellbar ist, ihr Orientierungsvermögen nicht überfordert. In der vertrauten Terminologie der Mikro/Makro-Debatte kann man diesen Sachverhalt auch so formulieren: Es gibt (neben falschen Abstraktionen) nicht nur Realabstraktionen — ausgedünnte Formen von Kommunikationen und Be-
ziehungen - , die ,mikrosoziologisch' anzuerkennen sind, es gibt (neben falschen Reduktionen) auch Realreduktionen - laufende Selbstkonkretionen sozialer Prozesse - , die man ,makrosoziologisch' zur Kenntnis nehmen muss. 3.2 Koaktivität: Handeln in der Technozivilisation Eine zweite grundsätzliche Herausforderung der Mikrosoziologie geht von techniksoziologischen Studien aus, die nicht nur die Kommunikationsmedien, sondern die Sachtechnik überhaupt gegen den ,Anthropozentrismus' der interaktionistischen Tradition richten. Exemplarisch diskutiert sei der Ansatz von Bruno Latour, der hier die radikalsten theoretischen Konsequenzen gefordert hat. In seinem Schlüsseltext über ,Interobjektivität' (2001, frz. 1994) erinnert der Ausgangspunkt noch ganz an Goffmans und Luhmanns Interdependenzunterbrechung: Eine dyadische Interaktion muss Vieles ausgrenzen und begrenzen, sie setzt Absonderungen voraus, um sich der totalen Interaktivität der Pavianhorde (so sah Luhmann den „Gemeinschaftsterror" des Dorfes, 1997: 813) zu entziehen, in die alle einbezogen werden können und in der alles immer neu verhandelt wird. Während Luhmann diese Grenzbildung in den Dienst einer theoretischen Ordnungsfunktion nahm, relativiert sie Latour sofort an einem Materialitätskontinuum, an einer „ungeordneten Vielfalt" netzwerkartiger Zusammenhänge, in denen Artefakte einen zentralen Platz einnehmen. Die Grenzbildung ist nicht Ergebnis einer sich autopoietisch schließenden Kommunikation, sondern eine Leistung von Dingen: Mauern, Türen, Sitzgruppen und Sprechvorrichtungen (etwa Postschalter oder Beichtstühle), die ein Gespräch optisch und akustisch begrenzen und ihrerseits an anderen Orten, zu anderen Zeiten und durch andere Akteure hergestellt wurden. Goffmans Interaktionen, die Wechselbeziehungen zwischen menschlichen Handlungen unter situativem Zeitdruck, beruhen für Latour auf einer ganz anderen „Inter-Aktion", auf langwelligen Handlungsverkettungen mit nicht-menschlichen Koaktanten. Eine lokale Interaktion ist nur eine Versammlung vieler anderer in Raum und Zeit verteilter Handlungen, die durch Artefakte vermittelt hier und jetzt wirksam werden (Latour 2007: 334), also nur eine kontingente Assoziierung von raum-zeitlich verstreuten Elementen. Diese „Teleinteraktion" meint nicht wie bei Karin Knorr einen medial vermit-
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telten, gleichzeitigen symbolischen Austausch über große Distanzen, sondern ein räumlich und zeitlich auseinandergezogenes materiales Netzwerk, das jedem lokalen Handeln zugrunde liegt. 12 Noch größer ist der Kontrast der theoretischen Prämissen von Latours ingenieurwissenschaftlicher zu Luhmanns geisteswissenschaftlich gestimmter Soziologie. Beschränken wir uns auf die Beobachtung, dass Latour (auf der Basis seiner materialistischen Semiotik) die soziologische Aufmerksamkeit von den Symbolen, die situativ Abwesendes bezeichnen, zu den von Abwesenden anderswo hergestellten Dingen umorientiert, die situativ etwas bewirken. Latour konfrontiert die symbolische Interaktion mit der extensiven Materialität hoch zivilisierter Gesellschaften, die ,Seele' mit dem .Körper' der Gesellschaft. Das M i k r o / M a k r o - P r o b l e m hält er f ü r falsch gestellt. Die Soziologie versuche mit der Überbrückung der alten Kluft von H a n d l u n g und Struktur, Individuum und Gesellschaft ein unlösbares Problem zu lösen. D e n n beide Seiten dieser Unterscheidung würden erst durch Praktiken, die etwas klein und begrenzt, also ,mikro' halten (etwa durch die Architektur eines Hörsaals und die Schweigegebote eines Vortrags), und Praktiken, die etwas ausdehnen bzw. überschaubar machen, hervorgebracht. Das makroskopische .Aufblähen' ist für Latour vor allem eine epistemische Strategie der Herstellung von Wissensobjekten mithilfe von Aggregationstechniken. Makrostrukturen sind in seinem wissensschaftssoziologischen Blick auf das eigene Fach sozialwissenschaftliche Konstrukte, die an konkreten Orten durch zahlreiche Verbindungslinien (Interviews, Fragebögen, Rechenmaschinen, Konferenzen, Publikationen usw.) ermächtigte,Center of calculation' fabriziert und „zurückgepumpt" werden (2007: 310) und so das Soziale neu formatieren. In dieser Hinsicht funktioniert die Schreibstube eines Soziologen im Prinzip genauso wie ein Handelsraum in der Wall Street. W ä h r e n d für L u h m a n n die Ebenendifferenzierung eine grundlegende historische Tatsache war, ist sie f ü r Latour also eine fragile epistemische Konstruktion. Es gibt kein höheres Niveau: „Die soziale Welt aber bleibt platt in allen Punkten, ohne dass man hier Stufen entdecken könnte, die es erlaubten, 12 Latours Interaktionsbegriff ist hier m . E . nicht konstruktiv, sondern polemisch eingesetzt. Artefaktvermittelte u n d räumlich verteilte Beziehungen, von denen die Teilnehmer o f t gar nichts wissen u n d denen es an Reziprozität fehlt, sind natürlich keine Interaktionen mehr, sie würden den InteraktionsbegrifF überdehnen.
von Mikro zu Makro zu gehen" (2001: 249 f.). Sie besteht aus ganz konkreten Situationen und ihren netzwerkartigen Verbindungen. Latour wendet sich auf der einen Seite gegen einen selbstgenügsamen mikrosoziologischen Situationsmonadismus, der zugunsten interaktiver Autopoiesis die massenhaften materiellen Importe ignoriert, die in einer Situation zum Einsatz und zur Wirkung kommen. Eine auf symbolische Interaktion fixierte Soziologie tauge wegen ihrer Dingvergessenheit nur für Paviane. Auf der anderen Seite wendet er sich gegen das unempirische Ausweichen auf andere Emergenzebenen: Das situative Geschehen hat nicht (transzendente) .gesellschaftliche Voraussetzungen', es hat nur viele Anfänge und Vorgängersituationen. Schließlich fragt er nach der intellektuellen Funktion der Ebenendifferenzierung: Welches Problem sollte sie lösen? Die Alternative von H a n d l u n g und Struktur entsteht, so Latour, aus dem vergeblichen soziologischen Versuch, einen Ausgangspunkt des Handelns zu fingieren: entweder bei schöpferischen Akteuren oder bei den sie gängelnden Strukturen. Das Bezugsproblem der Mikro / Makro-Unterscheidung ist ein vergeblicher Interpunktionsversuch. Latour rekurriert bei dieser Diagnose auf einen neuartigen Begriff des Handelns, den er räumlich und zeitlich zu einer überpersonalen Praxis ausdehnt, die auch Dinge einschließt. Das Handeln ist kein Schaffen (i. S. der Verwirklichung eines Subjekts in einem Objekt) und ein Akteur ist nicht sein Ausgangspunkt. Akteure treten mit ihren Zügen und Impulsen vielmehr in einen Handlungsstrom ein. So baut ein Klavierbauer sein Klavier mit Materialien und Werkzeugen, die von ganz Anderen zu anderer Zeit hergestellt wurden. Er stützt sich schon auf die Hegearbeit des Försters (bzw. die Kulturgeschichte bestimmter Wälder und Hölzer), auf einen Holzfäller und einen Tischler. Anderswo macht ein Pianist mit diesem Klavier Töne, bei denen er sich auf die Partitur eines alten Komponisten stützt, oder er macht improvisierend neue Töne, zu denen ihn die schon gemachten des Klaviers anregen: Er lässt es etwas tun, es lässt ihn etwas tun. Latour ist sehr ,interaktionistisch' im Sinne des physikalischen Gehaltes von Simmeis Originalbegriff .Wechselwirkung'. Er denkt das Handeln stark von der Bewegung her, und ein menschlicher Akteur ist nicht Bewegungsursache, sondern eher Kugel in einem Perpetuum mobile, in dem sich Aktanten gegenseitig anstoßen, mobilisieren, einklinken und in Gang setzen. Daher findet sich ein Akteur bei Latour nie am .Beginn' einer Handlung, da sein Handeln
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immer schon anderswo mit anderen Akteuren begonnen hat. Er bildet nur eine Verdichtung in einem offenen Netzwerk von Handlungslinien. Insofern ist die ,Actor-Network-Theory' eine Theorie der Koaktivität·. Kein Akteur handelt allein, er ist immer schon eingebettet in Netzwerke mit Ko- und Präakteuren. Während Luhmann (in der staatswissenschaftlichen Tradition Max Webers) die besondere Mächtigkeit des kollektiven Handelns von Organisationen betonte, beleuchtet Latour die Unendlichkeit des konnektiven Handelns in Netzwerken. Artefakte haben in diesen Handlungsketten eine zentrale Stellung, denn wenn Akteure anderswo Gefertigtes gebrauchen, werden sie durch die in den Dingen geronnenen Handlungen ihres Erzeugers (durch das Fertigen) wieder eingeholt. Das Handeln wird durch die Dinge weiter getragen, sie reichen über die Situation ihrer Erzeugung hinaus. Auf diese Weise sind in einer anderen Situation die Handlungen Abwesender noch gegenwärtig und wirksam. Artefakte können Situationen verknüpfen, weil sie deren Zeit überdauern. Sie sprengen die Vorstellung eines flüchtigen, kommunikativ geschlossenen .Interaktionssystems'. Artefakte begrenzen Interaktionen (machen sie interaktiv i.S. Goffmans) und vernetzen sie über Raum und Zeit mit anderen Aktivitäten. Die Geschlossenheit von Interaktionen hängt also an ihrer Öffnung für anderes. Sie sind von vornherein mit anderem verknüpft. Der lokalisierende Rahmen ist zugleich Element in einem delokalisierten Netzwerk, das Entferntes und Vergangenes nebeneinander stehen lässt. Latour holt so eine Grundintuition von HandlungsStruktur-Theorien, dass eine durch menschliches Handeln geschaffene ,Gesellschaft' den Handelnden als etwas Fremdes, Verselbständigtes und Widerständiges wie ein Schicksal gegenübertritt, in die Operationsweise des Tuns zurück. An die Stelle der Entfremdung (Marx), der Gesellschaft als Zwangsapparat (Durkheim) oder der intergenerationellen Objektivierung von Sinn (Berger & Luckmann) tritt eine alltägliche Verkettung und Verknüpfung von materiellen /fo-Aktanten, die die menschlichen Akteure drängen und mitnehmen, aufbauen und überraschen. Die erlebte Fremdheit des Sozialen, die Relativierung humaner Souveränität entstammt nicht einer entäußerten Gesellschaftsstruktur, sondern den dinglichen Spuren abwesender Menschen. Anstelle eines amorphen Makrophänomens finden sich konkrete Objekte, die sich situativ bemerkbar machen: als Kumpane, Komplizen, Konkurrenten von Akteuren, die sie auf bestimmte Weise handeln lassen.
127 Die .Gesellschaft' hat hier anstelle eines eigenen Emergenzniveaus nur eine Heterogenese, die man übersieht, wenn man (wie die Phänomenologie) prähumane Sozialität ignoriert und das Soziale mit dem Menschen beginnen lässt, aber auch wenn man (wie Luhmann) das Soziale auf Kommunikation reduziert und analytisch von Psychischem und Organischem scheidet. Man muss, so Latour, nicht von der Interaktion analytisch auf andere .Ebenen' wechseln, nur in andere Situationen, in der die Dinge fabriziert wurden, die hier und jetzt etwas tun. Denn Situationen sind auch ganz ohne Telekommunikation in materialen Netzwerken miteinander verknüpft. Zwischen ihnen findet das Soziale statt. Verglichen mit der Ortlosigkeit der medial vermittelten Teleinteraktion bei Knorr Cetina, findet sich bei Latour ein anderes Verhältnis zur Ortlichkeit des Sozialen. Einerseits kritisiert er die lokalistische Fixierung der Mikrosoziologie (ihren Präsentismus): Ein Ort ist nurmehr Zielpunkt vieler Aktivitäten, Kreuzung vieler Fährten, provisorischer Aufenthaltsort vieler Transportmittel (2007: 379). Andererseits macht dessen Verortung als .Ort unter vielen Orten' nur auf einen weiteren Grund aufmerksam (neben dem Körper, auf den ich in 3.1 hinwies), Situationen auch weiterhin als materiale Settings ernst zu nehmen. Ohne dies verlöre man eben auch den Raum, in dem die Dinge zuhause sind. Bruno Latour hat mit seiner grellen Beleuchtung von Artefakten einen zentralen Punkt der Mikro/ Makro-Debatte getroffen. In der phänomenologischen Kritik an theoretischen Reifikationen durch Makrokonzepte steckte immer auch eine humanistische Verteidigung der besonderen Akteursqualitäten von Menschen. Wenn man diese Annahme wie Latour .von Grund auf' korrigiert, ist es auch in einer mikrosoziologischen Perspektive leichter, Realreifikationen anzuerkennen. Zugleich liegen in Latours originellen Vorschlägen auch eine Reihe von erheblichen Problemen. Drei seien hier genannt: 1. Latour hat einen physikalistisch anmutenden Begriff des Handelns als ein Bewirken, das auch Dinge Handlungen weiter tragen lässt. Die situativ vorhandenen Dinge bringen vergangene und entlegene Handlungen selbsttätig zur Wirkung. Zu fragen ist aber, wie die Dinge anwesend sind: ob sie durch ihren Gebrauch auch einen Sinn erhalten (und welchen) oder ob er ihnen verweigert wird. Im zweiten Fall könnten sie so inaktiv und irrelevant herumstehen wie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, deren Relevanz die Ethnomethodologie gern im Interaktionsverlauf demonstriert sähe
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(Schegloff 1997). Sie wären insignifikante Objekte so wie die insignifikanten Leute, die in öffentlichen Situationen vorhanden sind, ohne wirklich anwesend zu sein. Wo in den endlosen Netzwerken heterogener Aktanten finden sich Relevanzgrenzen bei der Berücksichtigung von Artefakten? In Latours (genealogischer) Perspektive könnte man nur fragen: Wann lässt ihre Wirksamkeit nach? Wann hören sie auf, sich uns aufzudrängen und den ,Willen' ihres Erschaffers bemerkbar zu machen? Nicht weniger wichtig ist aber die Frage, ob die Dinge durch aktuellen Gebrauch überhaupt einbezogen und situativ gehandhabt werden (Hörning 1995), um ihr Handlungspotenzial auch freizusetzen. Auch hier sollte statt kausaler Wirkbeziehungen Jose Kopplung' gelten. 2. Dass Artefakte Situationen verknüpfen, weil sie deren Zeit überdauern, ist eine Funktion, die sich nicht für sie reservieren lässt. Sie gilt zunächst auch für Materialität in einem umfassenderen Sinne als bei Latour, nämlich für Körper als Partizipanden sozialer Prozesse (Hirschauer 2004). Sie gilt aber ebenso für die Sprache und visuelle Symbole (Zeichen), für Erwartungen und Erinnerungen (Kognitionen), und auch für Beziehungen und Institutionen. In der theoriestrategischen Position, in der Latour Artefakte ansiedelt, finden sich also auch noch andere kulturelle Speicher und Kontinuierungsmechanismen, die gerade im Namen „ontologischer Heterogenität" schlecht negiert werden können, will man nicht mentalistischen oder linguizistischen Verkürzungen materialistische folgen lassen.13 In Latours Grundgedanken lassen sich also andere Entitäten einführen, die ζ. T. wieder auf klassische soziologische Themen zurückführen - aber auf andere Weise. Es ist nicht nötig, sich Zeichen und Kognitionen als Ebene der ,Kultur' oder Institutionen als Ebene der .Gesellschaft' vorzustellen - also erneut Handlung und Struktur gegenüberzustellen. Man kann sie auch wie Artefakte, Erwartungen und Körper als ontologisch plurale Träger von Handlungen (mit un-
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Spielen wir das nur einmal für die Sprache durch: Latour hat völlig Recht, wenn er davon ausgeht, dass die Sprache theoretisch überfordert wurde (hier ganz auf der Linie von Bourdieus Kritik des intellektualistischen Habitus, 1993). Aber auch die Sprache ist ein steinaltes kulturelles Artefakt, das Kontinuierungsfunktionen in Raum und Zeit hat (und anders als erfundene Techniken ist sie ohne jeden Anfang). Der Gebrauch der Sprache verbindet Sprecher laufend mit Menschen, die sie an anderen Orten und Zeiten verwendet haben und wieder verwenden werden (Berger & Berger 1975).
terschiedlichen ,Gerinnungsfaktoren') betrachten, die situative Ereignisse verstetigen und verknüpfen. 3. Der Mensch, so Latour, ist kein Urheber, nur Vermittler, Knotenpunkt von Agency. Handeln tun hybride Kollektive: Mensch-und-Maschine (z.B. Schütze-Gewehre-Hersteller-Gesetzgeber). Aber muss man nicht auch menschliche Individuen, in deren Herstellung so viel Sozialisationsarbeit eingeht, als Artefakte, als menschliche Erzeugnisse sehen? Latour gliedert sie seinen Aktanten nicht wirklich ein, vermutlich weil seine v4cior-NetworkTheory so akteurzentriert bleibt.14 Eine wirklich symmetrische Anthropologie müsste nicht nur die Dinge als Aktanten, sondern auch umgekehrt menschliche Akteure als kulturelle Artefakte würdigen. Man kann dann verschiedene Aspekte klarer sehen. Z. B. dass Menschen andere Körper als Paviane haben und bekommen, sonst könnten sie weder sprechen noch Werkzeuge herstellen. Oder dass ihr Körper, seine Muskeln, Sinne und Nervenzellen, erworbenes Wissen i. S. von dauerhaften Dispositionen speichern und beständig neues Wissen aufnehmen kann. Oder dass sie mithilfe ihrer Füße selbsttätig zwischen Situationen zirkulieren können - ohne Spediteur und ohne dass man sie wie Dokumente verschicken müsste; dass sie sich aber andererseits auch geduldig wie Papier verschicken lassen, ihre Mobilität technisch steigern und ihre Körper - aller Telekommunikation zum Trotz - massenhaft über den Globus transportieren lassen.15 Bedenkt man schließlich die Lernfähigkeit, das Entwicklungsund Uberraschungspotenzial von Menschen, erscheint selbst ihre Haltbarkeit — verglichen mit den meisten Waren — gar nicht so übel.
14 Latours späterer Versuch, seine starken Akteure aufzulösen - in Plug-ins, durch die sich Individuen subjektivieren (2007: 351 ff.) - , verbleibt m. E. in seiner Anlehnung an Foucaults .Technologien des Selbst' in einer akteurzentrierten Handlungsperspektive, die die einfache Tatsache der Sozialisation nicht aufnehmen kann. 15 ... wofür es besonders im Feld der Politik große Nachfrage zu geben scheint: Abstimmungen, Ausschüsse, Konferenzen und Ortstermine sprechen für einen ungebrochenen Präsenzbedarf. Bettina Heintz (2007) verweist zu dessen Erklärung auch und gerade in der nur schwach institutionalisierten Weltgesellschaft auf die spezifischen Erprobungs- und Abstimmungsleistungen von Interaktionen: etwa die Präferenz für Konsens, die Entstehung personalen Vertrauens und die Fähigkeit zur emotionalen Bindung quer zu den Loyalitätsbindungen der entsendenden nationalen Organisationen. S. zu diesem Argument auch den Beitrag von Schwinn in diesem Band.
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Wohin mit dem Menschen? Latours Anthropologie' führt den Menschen ebenso emphatisch (und irreführend) im Namen wie ihn Luhmann aus den sozialen Systemen exkludierte: Handlungen sind Attributionsergebnisse von Kommunikationen, Akteure als psychische Systeme ausquartiert, .living apart together' mit sozialen Systemen. Anstelle dieser abrupten Exklusion des Menschen aus dem Sozialen, hat die Geschichte der Sozialtheorie im 20. Jahrhundert auch nachhaltigere Dezentrierungen des Menschen gegenüber seinen Handlungen hervorgebracht. Als Wirkursache (und „Träger", Weber) ganz im Zentrum seiner Handlungen stand (und steht) der Mensch nur, solange seine Handlungen als gesetzte Akte gelten: als Ausführungen von Plänen, Anwendungen seines Wissens, Ausdruck von Intentionen und Motiven. Konkurrenz bekam er, als die Soziologie auch Kollektive zu Akteuren ernannte: Auch und gerade Organisationen handeln. Als „Teilnehmer" an den Rand gerückt wurde er, seitdem seine Handlungen nurmehr als Züge in Interaktionen, als Vollzüge sozialer Prozesse gelten und er selbst als Appendix von Situationen, sein Selbst als „veränderliche Formel" (GofFman). Bei Latour wird dies fortgesetzt, wenn der Mensch nurmehr als Vermittler oder 5«'träger von raumgreifenden Handlungsketten erscheint, an denen neben ihm auch ,Non-Humans' teilnehmen: ein Partizipand unter anderen. Es scheint, als habe die Soziologie Freuds „drei Kränkungen der Menschheit" (durch Kopernikus, Darwin und die Psychoanalyse) noch drei weitere hinzugefügt: eine interaktionistische, eine organisationssoziologische und eine techniksoziologische. Sie hat den Menschen aus dem Zentrum seiner Handlungen verdrängt, ihn seines Handlungsmonopols beraubt, nun muss er Handeln .teilen. Und verdrängt eben nicht nur durch überstarke Gesten - durch Ausschluss oder durch Konfrontation mit übermächtigen gesellschaftlichen Kräften', die den Menschen nur wieder als .Individuum' auf die andere Seite ,der Gesellschaft' platzierten - , sondern so behutsam und beharrlich, dass er geradezu wieder verwendbar erscheint. Wenn man Menschen nicht wie Latour so stark in ihrer Akteursperspektive lässt (wie Barnes mit Recht kritisiert), sondern stärker materiell (als mobile Körper) und funktional auffasst: als allzeit automobile, plastische und hochflexible ,Artefakte', die sehr viele Interaktionsvoraussetzungen immer wieder mitbringen (wenn sie denn persönlich erscheinen), dann könnten Personen und ihre Körper nach ihrer soziologischen
Dezentrierung theoretisch für anderes zur Verfügung stehen: ζ. B. für das Problem der Intersituativität. Im Rahmen der Mikro/ Makro-Debatte wurden Menschen auf der einen Seite durch einen soziologischen Szientismus abgewiesen, auf der anderen durch einen mal romantischen, mal heroischen Humanismus rehabilitiert. Wenn man die Soziologie aber nicht mehr darauf fixiert, individuelles Handeln und soziale Strukturen aus dem jeweils Anderen zu erklären, die Handelnden also weder als Sinnzentrum überfordert noch als Marionette unterschätzt, dann kann man sie vielleicht auf neue Weise würdigen: als Entitäten, deren Anwesenheit soziale Situationen nicht nur entstehen lässt (indem die Egozentrik von Körpern in einer Reziprozität von Wahrnehmungen aufgeht), sondern die - wie Bilder in den Medien oder Dokumente in Organisationen - als zirkulierende Elemente von Situation zu Situation vermitteln.
4.
Ausblick
Der Mikro / Makro-Dualismus hat sich in verschiedenen Hinsichten erschöpft. Was könnte an seine Stelle treten? Vier Vorschläge seien gemacht: 1. Der erste wurde in diesem Aufsatz entwickelt: das Problem der Intersituativität. Es wirft vor allem zwei Anschlussfragen auf. Zunächst: Wenn der Begriff der Intersituativität eine gewisse Schließung von Situationen konzeptuell voraussetzt, ist umgekehrt empirisch zu fragen, wie viel Geschlossenheit eine Situation braucht und wie viel Öffnung sie verträgt. Die Ungleichheit sozialer Situationen liegt nicht nur in ihrer Position (in einer Beziehungsgeschichte, einem Verfahren, einer Organisation) begründet, sondern auch in der Dichte ihrer Anschlüsse und Vernetzungen, ihrer mal losen, mal festeren Kopplung mit anderen Situationen: wie stark sie sich von anderen separiert bzw. zu anderen öffnet oder mit ihnen verbindet. Eine Beichte und ein Sexualakt sind anders strukturiert als eine Pressekonferenz. Diese Variation ist wesentlich eine Frage des Imports und Exports von Dokumenten (etwa in Organisationen: Scheffer 2001: 71) und der Nutzung von Telekommunikationstechniken (Knorr 2009), aber nicht nur, denn die Öffnung einer Situation ist wie gesagt schon bei Partygesprächen eine Frage der Skalierung von Aufmerksamkeit. Neben dieser Frage nach der Stärke des Nexus zwischen Situationen fragt sich, aufweiche Weise - durch
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welche Relation und welche Objekte - Situationen miteinander verbunden sind. Welche sozialen Beziehungen unterhalten sie? Handelt es sich um Weisungsketten in organisationalen Hierarchien, über die entscheidende Interaktionen vorentschiedene Interaktionen strukturieren (Mouzelis 1991), oder um Gerüchte, bei denen es auf verlässliche Informationsübertragung gerade nicht ankommt? Befinden sie sich in einem zeitlichen (und arbeitsteiligen) Nacheinander wie bei Verfahrensstationen, oder wird ihre Zeit punktuell synchronisiert (wie auf Finanzmärkten)? Gipfeln sie in Schlüsselsituationen (wie Lieferketten in einer Fertigungshalle), oder stehen sie eher in Pfadabhängigkeiten von Präzedenzsituationen? Haben sie kumulative Wirkungen wie in den narrativ verknüpften Interaktionsketten von Biografien, Paaren und Gruppen, in denen sich körperliche und emotionale Strukturen sedimentieren (Collins 1981)? Oder laufen sie wie die seriellen Sexualakte in Arthur Schnitzlers ,Reigen' gerade nicht auf kumulierte Beziehungsbiografie, sondern auf potenzielle Virusverbreitung, auf eine Infektionskette hinaus? 2. In Bezug auf die Größenordnung sozialer Gebilde ist die Ersetzung des Mikro / Makro-Dualismus durch eine Dreiertypologie wie bei Luhmann wie gesagt wenig befriedigend. Will man hier eine komplexere Typologie entwickeln, so sollte man m. E. mit einer offenen Zoologie sozialer Species beginnen, differenziert nach ihrer Größenordnung (der Zahl ihrer Elemente) und nach der Art ihrer Verknüpfung: der Dichte, Reichweite und Materialität sozialer Beziehungen. Einige Kandidaten wurden schon genannt: Dyaden, Triaden, Gruppen, Milieus, Verfahren, Netzwerke, Schwärme, soziale Bewegungen, imaginierte Gemeinschaften, Öffentlichkeiten, Märkte und natürlich Organisationen. Wenn man sich so einer Liste aussetzt, droht auf der einen Seite natürlich eine komplementäre Beliebigkeit wie bei Luhmanns hochselektivem Zugriff auf Organisationen. Andererseits werden sich bei jeder Ausweitung der Triade Überlappungen nicht ausschließen lassen. Luhmanns Anspruch der Irreduzibilität ließ sich eben nur etablieren, indem er aus einem großen Satz sozialer Gebilde zwischen Interaktion und Gesellschaft ein einziges herausgriff. Zu klären sind u.a. die Fragen, welche qualitativen Sprünge sich ergeben, wenn solche Species sich vergrößern oder verkleinern, und welche Formen und Aspekte sozialer Beziehungen die Species charakterisiert bzw. kombiniert: Sind sie eher personalisiert oder unpersönlich, eher flüchtig oder dauerhaft, kommunikativ unimodal oder multimodal?
3. Der Mikro / Makro-Dualismus stand immer auch in latenten Beziehungen zum Theorie/ Empirie-Gegensatz, Inttiakùonsforschung stand gegen Gesellschaftstheorie. Auch Colemans klassischer Aufsatz zum Thema (1987) begann damit, dass es eigentlich nicht um eine Frage der Verknüpfung großer und kleiner Entitäten gehe, sondern um die der soziologischen Theorie mit einer bestimmten empirischen Forschung: derjenigen, die soziale Wirklichkeit mithilfe der Auskünfte von Einzelpersonen erheben will. Das Problem war für ihn, dass die Theoretiker Fragen stellen, die die Empiriker nicht beantworten. Daher war für ihn (wie für Collins) das Mikro/ Makro-Problem im Kern ein Übersetzungsproblem. Innerhalb der empirischen Sozialforschung ist der Mikro/Makro-Dualismus überdies auch noch verknüpft mit der Unterscheidung von qualitativen und quantitativen Verfahren: Die in die Tiefe gehende Fallstudie steht der die Oberflächen scannenden Repräsentativstudie gegenüber. Genau aus diesem Gegensatz lässt sich aber auch ein alternatives Dual ableiten, bei dem es nicht um die Beziehung gegebener kleiner und großer Entitäten geht, sondern um eine forschungspragmatisch variable Streckung oder Fokussierung von Untersuchungseinheken, also um die Optik, in der man Gegenstände betrachtet: durch die Fokussierung kurzzeitiger oder das Verfolgen langwelliger Prozesse und durch Fokussierung von Phänomenen mit unterschiedlichen räumlichen Radien. Die angemessene Bezeichnung für diese Optionen lautet Mikrosoziologie und Telesoziologie. Die Mikroskopie vergrößert ein für das menschliche Auge zu kleines Objekt, die Teleskopie holt ein für das Auge zu fernes Objekt heran. Das ist keine Frage des Gegenstands: Man kann Proximalsozialität (etwa sexuelle Interaktionen) teleskopisch betrachten (etwa durch Umfrageforschung) wie man soziale Distanz und Globalität (so wie Knorr Cetina) aus der Nähe untersuchen kann. Es geht nur um die Frage, von welcher Untersuchungsanlage man sich jeweils mehr verspricht und ob sich Forschungsdesigns verbinden lassen. Will man diese Perspektiven einander annähern, sind Tele- und Mikrosoziologie unterschiedlich gefordert. Große Repräsentativerhebungen stoßen auf Spezifikationsanforderungen: Welche Umstände genau dekomponieren ihre übersichtlichen Aggregatdaten in valide Darstellungen sozialer Phänomene? Die Herausforderung der Mikrosoziologie liegt in translokalen und transsequenziellen (s. Scheffer 2008) Studien, die sich anstelle einer methodischen Ausblendung des ,Κοη-
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texts' der Intersituativität zuwenden, nämlich Vorgänger·, Nachfolger- und Nachbarsituationen erheben, um „das situative Geschehen (zu) gewichten und historisieren" (Scheffer 2001: 71). 16 4. Theoretisch integrationsbedürftig erscheint mir etwas anderes als die .Ebenen oder Größenordnungen, die Luhmanns Soziologie ins Licht rückte. Niklas Luhmanns scholastischer Bias (i. S. von Bourdieu 1993) bestand vor allem darin, Probleme theoretischer Arbeit, nämlich die Abgrenzung von Begriffen, die er auf einzigartige Weise perfektionierte, auf den Gegenstand der Soziologie zu projizieren - mit der Annahme, dass soziale Gebilde allesamt systemhaft seien, sich also über je eigene Modi selbstreferentieller Schließung konstituieren. Wenn aber die Tugend begrifflicher Schärfe in ein Wahrnehmungskriterium für soziale Phänomene gewendet wird, .sieht' die Soziologie nicht minder beschränkt, als wenn sie die Zählbarkeit oder Zeigbarkeit sozialer Phänomene zu deren Existenzkriterium macht: Ihrem Blick fehlt dann die nötige Unschärfe für sinnhafte Phänomene. In dieser Hinsicht haben Ansätze, die die Soziologie und das Soziale nicht ,sauber' auf Kommunikation reduzieren, sondern in seiner ontologischen Heterogenität ernst nehmen, mehr zu bieten. Sie führen nämlich auf ein neues, auch transdisziplinäres Problem: wie sich die unterschiedlichen Aggregatzustände des Sozialen (Hirschauer 2014) theoretisch aufeinander beziehen lassen: die Fluidität und das rasante Tempo informationeller Welten, die Flüchtigkeit von Interaktionen, die Formbarkeit und Hartnäckigkeit von Stereotypen und Diskursen, aber auch die Plastizität und Trägheit von Körpern, die spezifische Dichte und historische Haltbarkeit von Artefakten und die verschiedenen Grade der Kontingenz und der Institutionalisierung des Sozialen (Heintz 2004). Hier geht es um eine mehr oder weniger dauerhafte Sedimentierung von Sinnschichten,
16 Vor allem in der Ethnografie lassen sich entsprechende Skalenverschiebungen beobachten: Die klassische, auf den Radius einer teilnehmenden Beobachtung fixierte Feldstudie, wird in zwei entgegen gesetzte Richtungen ergänzt: durch eine noch stärker aufs Detail gehende, die Zeit .anhaltende' fokussierte Ethnografie (Knoblauch 2001) und durch eine Lokalitätsgrenzen überschreitende multisited ethnography (Marcus 1995), die sich auf Globalisierungsprozesse richtet. Dazwischen findet sich ein Kontinuum, auf dem man die Auswahl der Beobachtungsorte von der Beschaffenheit des befragten Gegenstands abhängig macht: Situationen, Gruppen, Szenen, Verfahren, Netzwerke, Organisationen usw.
131 um Härtegrade, nicht um Größenordnungen. Gelingen hier Brückenschläge, sollte es auch leichter sein, den Wunsch nach überzeugenden empirischen Demonstrationen sozialer Phänomene mit dem Wunsch nach einem konjekturalen Verstehen weitgespannter Praxiszusammenhänge zu verknüpfen, sagen wir's mit Goffman: um .Schnittstellen' der vielen Soziologien unseres Faches herzustellen.
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Autorenvorstellung Stefan Hirschauer, geb. 1960 in Bielefeld. 1 9 9 0 - 9 9 Redakteur und geschäftsführender Herausgeber der Z f S . Habilitation 1998. Ab 2 0 0 2 Prof. für Soziologie und Gender Studies an der L M U München. Seit 2 0 0 6 Prof. für Soziologische Theorie und Gender Studies an der Universität Mainz. Seit 2012 Sprecher der DFG-Forschergruppe „ U n / d o i n g differences. Praktiken der Humandifferenzierung". Forschungsschwerpunkte: Praxistheorien, Qualitative Methoden, Soziologien des Wissens, des Körpers und der Geschlechterdifferenz. Buchpublikationen: Die soziale Konstruktion der Transsexualität (Suhrkamp, 4. Auflage 2010), Die Befremdung der eigenen Kultur, 1997 (Suhrkamp, Mit-Hrsg.), Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung, 2 0 0 8 (Suhrkamp, Mit-Hrsg.). Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung, 2013 ( U T B , Koautor). Pränatale Sozialität. Z u einer Soziologie der Schwangerschaft, 2014 (Lucius, Koautor).
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft, 2014, S. 134-150
Interaktion-Organisation-Gesellschaft: Probleme von Ebenendifferenzierungen aus der Sicht der Theorie rationaler Wahl bei James S. Coleman Interaction, Organization, Society. Problems of the Differentiation of Levels in the Rational Choice Theory of James S. Coleman Jens Greve Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld, Postfach 100131, 33501 Bielefeld [email protected]
Zusammenfassung: Anhand der Sozialtheorie von James S. Coleman untersucht der Aufsatz das Verhältnis der Theorie rationaler Wahl zu der von Niklas Luhmann eingeführten Unterscheidung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft. Dabei zeigt sich, dass der GesellschaftsbegrifF systematisch nicht entfaltet wird und der Gegenbegriff zu Organisation zudem nicht in Interaktion unter Anwesenden, sondern in marktförmigen Austauschbeziehungen gesehen wird. Auf der Ebene der Metatheorie ergibt sich, dass Luhmanns Unterscheidung vor dem Problem steht, Inklusivität und autopoietische Schließung miteinander zu verbinden, wohingegen bei Coleman die These des autonomen Akteurstatus der Organisation anderen zentralen Annahmen seiner Theorie widerspricht. Dies betrifft insbesondere die kontraktualistische Basis seines Austauschmodells. Aus der Sicht dieses Modells kann sich eine Autonomie des Organisationshandelns nicht ergeben, welche bei Coleman indessen aus zeitdiagnostischer Sicht behauptet wird. Schlagworte: Interaktion; Organisation, Gesellschaft; Systemtheorie; Niklas Luhmann; Rational Choice; James S. Coleman; Asymmetrische Gesellschaft. Summary: Based on the social theory of James S. Coleman this contribution examines the relation of rational choice theory to a distinction between types of social systems as introduced by Luhmann, namely interaction, organization, and society. In Coleman's social theory, as in the rational choice tradition in general, the concept of society is not systematically developed and the converse of organization is not face-to face-interaction but market-like exchange relations. At the level of metatheory, in Luhmann's work it is difficult to reconcile the idea of inclusiveness and the idea of autopoietic closure, whereas in Coleman's social theory a contradiction exists between the thesis of the autonomous level of the organization and the reductionist assumptions of his theory. This concerns in particular the contractarian basis of his model of exchange, which is hardly compatible with Coleman's diagnosis of an "asymmetric society" in which individuals are dominated by organizations. Keywords: Interaction; Organization; Society; Systems Theory; Niklas Luhmann; Rational Choice; James S. Coleman; Asymmetric Society.
1. Einleitung In „Interaktion, Organisation, Gesellschaft" beginnt Niklas Luhmann seine Betrachtung zum Verhältnis der Systemtypen mit einer Überlegung zur Ausdifferenzierung des Fachs.1 Die Theorie der Interaktion, die Organisationstheorie und die Theorie der Gesellschaft könnten jeweils nur Ausschnitte des sozialen Geschehens in den Blick bekommen (Luhmann 2 0 0 5 b : 10). Eine Theorie sozialer Systeme könne
1 Für hilfreiche Hinweise danke ich den Gutachtern sowie Rainer Schützeichel und Hartmann Tyrell.
dies nicht ändern - was sie leisten könne, bestehe darin, zu klären, dass dieser innerfachlichen eine in der Sache selbst liegende Differenzierung zugrunde liege. Die Systemtypen seien, so heißt es dann, durch Konstitutionsprozesse gekennzeichnet, welche dazu führten, dass die Systemtypen „sich nicht aufeinander zurückführen lassen" (ebd.: 14). Dieser nicht-reduktionistische Standpunkt wird bekanntlich in der Soziologie nicht von allen geteilt. Vor allem Vertreterinnen und Vertreter der Theorie rationaler Wahl widersprechen häufig solch einer Behauptung: Soziale Phänomene seien prinzipiell auf individuelle Handlungskalküle zurückführbar.
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Jens Greve: Interaktion-Organisation-Gesellschaft Innerhalb der Rational Choice-Tradition findet sich aber auch eine moderatere Auffassung: Zwar seien soziale Prozesse immer auch auf individuelles Handeln zu beziehen, nicht aber schließe dies aus, dass individuelles Handeln emergente Effekte besitze, welche einer Reduktion nicht mehr zugänglich seien. Prominent wird diese These von James S. Coleman vertreten: „No assumption is made that the explanation of systemic behavior consists of nothing more than individual actions and orientations, taken in aggregate. The interaction among individuals is seen to result in emergent phenomena at the system level" (Coleman 1994c: 5). Auch Coleman kennt Ebenen sozialer Strukturierung, welche nicht generalisierende Beschreibungen individueller Handlungen darstellen, sondern einen „Eigensinn" anderen Ebenen gegenüber besitzen. W i e sich zeigen wird, ergeben sich bei Coleman hinsichtlich der These von Ebenendifferenzierungen gleichwohl Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten mit Luhmanns Unterscheidung von Systemtypen. Unähnlichkeit besteht schon hinsichtlich der Präzision, mit welcher verschiedene Ebenen unterschieden werden. W i e viele Ebenen Coleman kennt und wie genau sie abgegrenzt werden, bleibt offen. So ist denn auch unklar, ob beispielsweise soziale Bewegungen und Märkte auf derselben Ebene „liegen"? Auch lassen sich für Interaktion und Gesellschaft keine direkten Äquivalente bei Coleman finden. Eine starke Parallele findet sich aber im Hinblick auf Organisation. Coleman sieht Organisation als einen ganz wesentlichen Fall kollektiver Phänomene. Zwei Aspekte sind hierbei zentral. Erstens betrachtet Coleman - und dies im Gegensatz zu anderen kollektiven Phänomenen - Organisation als den einen Fall, in dem einem kollektiven Gebilde Handlungsfähigkeit zukommt, 2 er bezeichnet sie daher als korporative Akteure. Sie sind Akteure eigenen Rechts (Coleman 1990b: 102), deren Interessen nicht auf die Interessen der natürlichen Personen zurückgeführt werden können, welche „in" der Organisation handeln. Zweitens verbindet Coleman hiermit eine aus seiner Sicht fundamentale zeitdiagnostische Perspektive, 3 welche Luhmanns A n n a h m e eines Auseinandertretens von Interaktions-, Organisations- und GeEine These über Organisation, welche sich auch bei Luhmann findet; vgl. Tyrell 2008: 56. 3 „Without a conception of the corporate actor as actor, having the same status in social theory as natural persons in their capacities as actors, the theory is crippled, and blind to a large part of the action that takes place in modern society" (Coleman 1982: 31 f.). 2
sellschaftssystemen (Luhmann 1987, 1997: 812 ff.) ähnlich ist. Die moderne Gesellschaft müsse, im Gegensatz zu früheren Gesellschaftsformen, als eine „asymmetrische" Gesellschaft verstanden werden. In ihr träten nicht nur zusehends korporative Akteure auf, sondern sie würden den natürlichen Akteuren gegenüber dominant. W i e sich freilich zeigen wird, steht die Annahme einer autonomen Handlungsfähigkeit der Organisation in einer unaufgelösten - und wohl auch unauflösbaren Spannung zu kontraktualistischen und reduktionistischen Annahmen in Colemans Sozialtheorie. Da die Systemtheorie nicht von einer individuellen Reduktionsbasis ausgeht, findet sich diese Spannung in Luhmanns Konzeption der Systemtypendifferenz nicht. Zugleich ergibt sich aber auch für diese eine metatheoretische Herausforderung. Sie besteht nicht im Nebeneinander von reduktionistischen und nichtreduktionistischen Behauptungen, sondern ergibt sich aus der Frage, ob sich die Annahme autopoietischer Reproduktion mit der Idee verbinden lässt, dass Systemtypen sich inklusiv in dem Sinne verhalten können, dass Interaktionen „in" Organisationen vorkommen können und Interaktionen und Organisationen „in" der Gesellschaft. Nicht Eigenständigkeit von Ebenen und individuelle Trägerschaft wie in der strukturindividualistischen Konzeption Colemans, sondern operative Schließung und Teilhabe an anderen Systemoperationen geraten in der Systemtheorie in eine Spannung zueinander. Ich beginne mit einer Skizze der Typendifferenzierung und ihrer Probleme bei Luhmann (2.) sowie einer kurzen Überlegung zu Ebenenäquivalenten in den Ansätzen rationaler Wahl (3.). In der Folge konzentriert sich die Arbeit auf Colemans Sozialtheorie und die Rolle der Organisation in dieser (4.). Im Anschluss wird dann gezeigt, dass die Annahme einer autonomen Ebene der Organisation nur um den Preis von Widersprüchlichkeiten innerhalb von Colemans Sozialtheorie behauptet werden kann. Dies geschieht anhand einer eingehenderen Analyse der Metatheorie und der Frage nach den Möglichkeiten autonomer Makrostrukturen sowie von Colemans Auffassung des Akteursstatus und schließlich seiner Analyse der Organisationsentstehung und -reproduktion (5.).
2. Die Trias bei Luhmann Unter Gesellschaft versteht L u h m a n n „das umfassende Sozialsystem, das alles Soziale in sich einschließt und infolge dessen keine soziale Umwelt
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kennt" (Luhmann 1988: 555). Gleichzeitig ist für ihn Gesellschaft nicht nur Summe, „sondern ein System höherer Ordnung, ein System anderen Typs" (Luhmann 2005b: 12). Das Grenzbildungsprinzip liegt dabei in der kommunikativen „Erreichbarkeit" und „Verständlichkeit" (ebd.). Organisation hingegen beruht auf geregelter Mitgliedschaft: „Als organisiert können wir Sozialsysteme bezeichnen, die die Mitgliedschaft an bestimmte Bedingungen knüpfen" (Luhmann 2005b: 13). Dies verweist, wie Luhmann später herausstellt, auf Entscheidungen als basale Operationen (Luhmann 2000). „Da Mitgliedschaften durch Entscheidungen begründet werden und das weitere Verhalten der Mitglieder in Entscheidungssituationen von der Mitgliedschaft abhängt, kann man Organisationen auch als autopoietische Systeme auf der operativen Basis der Kommunikation von Entscheidungen charakterisieren" (Luhmann 1997: 830). Während für die Theorien rationaler Wahl Entscheidungen zur Erklärung aller individuellen Handlungen dienen, wird der Entscheidungsbegriff hier für eine Ebene ausgezeichnet und er wird von der Referenz auf Personen und Rationalität abgelöst.4 Interaktion schließlich beruht, hier schließt Luhmann an Erving Goffman an, auf körperlicher Ko-Präsenz: „Interaktionssysteme kommen dadurch zustande, daß Anwesende sich wechselseitig wahrnehmen. [...] Ihr Selektionsprinzip und zugleich ihr Grenzbildungsprinzip ist die Anwesenheit" (Luhmann 2005b: 10). Die Typenunterscheidung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft lässt sich bei Luhmann von zwei weiteren Abgrenzungen unterscheiden. Erstens findet sich neben der Typenunterscheidung die Unterscheidung in Systemarten, d.h. in Organismen, psychische Systeme und soziale Systeme. Zweitens findet sich das Konzept der Gesellschaftsdifferenzierung, das Formen der primären Differenzierung des Gesellschaftssystems im Ganzen beschreibt, von der segmentären über die stratifikatorische zur funktionalen Differenzierung. 5 Die Unterscheidung 4
Erstens bleibe der Rationalitätsbegriff vage (Luhmann 1997: 832), zweitens müsse jede Entscheidung Entscheidungsgrundlagen unterstellen, über die selbst wieder entschieden werden müsse, und drittens handle es sich bei Entscheidungen um Zuschreibungen (Luhmann 2000: 124 ff.). Erst eine Theorie der Beobachtung, welche Paradoxien zulasse, könne solchen Beobachtungen gerecht werden (ebd.: 126 ff., 132 ff.). 5 Später noch ergänzt um die Differenzierung in Zentrum und Peripherie (Luhmann 1997: 663 ff.).
zwischen den Systemarten unterscheidet sich dabei von der Typenunterscheidung durch die Annahme eines exklusiven Verhältnisses der Systemoperationen. Während die Typenunterscheidung nicht ausschließt, dass unterschiedliche Formen der Bildung sozialer Systeme sich inklusiv verhalten, so dass Interaktionen und Organisationen immer „in" der Gesellschaft und Interaktionen auch in Organisationen vorkommen (ebd.: 22), gilt das für Systemartenoperationen nicht (Stichweh 1991: 112; vgl. auch Heintz 2004: 23). Lebende, psychische und soziale Systeme operieren überschneidungsfrei, und sie bilden auch nicht Formen eines umfassenden Systems (vgl. auch Greve 2008b: 27 f.). Auch Interaktion, Organisation und Gesellschaft bilden zwar eigenständige Typen, die nicht aufeinander reduzierbar sind (Luhmann 1988: 551; 2005b: 14), ihr Verhältnis zueinander ist aber nicht im Sinne eines exklusiven System/Umwelt-Verhältnisses wie im Falle psychischer und sozialer Systeme zu verstehen (Luhmann 1988: 552). „Die Gesellschaft ist nicht etwa die Umwelt (auch nicht nur: die soziale Umwelt) der Interaktionssysteme, da die Interaktion ja ihrerseits ebenfalls gesellschaftliches Geschehen ist" (Luhmann 1988: 553; vgl. auch 1997: 814). Gleichzeitig liegt ein System/Umwelt-Verhältnis im Sinne von innergesellschaftlicher System / UmweltRelation durchaus vor: Interaktion „vollzieht Gesellschaft - aber so, daß in der Gesellschaft Grenzen entstehen zwischen dem jeweiligen Interaktionssystem und seiner gesellschaftsinternen Umwelt" (Luhmann 1997: 816). Ähnlich wie im Falle des Verhältnisses der Systemarten ist aber auch das Verhältnis der Typen durch Ko-Konstitution gekennzeichnet - durch wechselseitige Abhängigkeit: „Gesellschaft ist daher nicht ohne Interaktion und Interaktion nicht ohne Gesellschaft möglich" (Luhmann 1988: 566). Worin besteht aber, bei wechselseitiger Abhängigkeit, die Autonomie der Typen? Gesellschaft stellt für Luhmann einen Kontext der Interaktion bereit. Dieser umfassende Kontext lässt sich über Anwesenheit nie vollständig einholen. „Interaktionen sind Episoden des Gesellschaftsvollzugs. Sie sind nur möglich auf Grund der Gewißheit, daß gesellschaftliche Kommunikation schon vor dem Beginn der Episode abgelaufen ist, so daß man Ablagerungen vorangegangener Kommunikation voraussetzen kann" (Luhmann 1988: 553). Der umfassende Charakter der Gesellschaft und die in Anwesenheit gegebenen Bezüge können nie vollständig zur Deckung kommen (ebd.: 568). Interaktionen sind in ihrer „Reichweite" notwendig
Jens Greve: Interaktion-Organisation-Gesellschaft
beschränkt: Sie lassen kaum interne Differenzierung zu (Luhmann 2005a: 35) und sind folglich zu höheren Graden an Komplexität nicht fähig (Luhmann 2005a: 26, 2005b: 11 f.), ihre Dauer und die in ihnen erfassbaren Zeithorizonte sind begrenzt (Luhmann 2005a: 33, 39 f.), Themen unterliegen dem Zwang zur Serialität und sind somit nur begrenzt verarbeitbar (Luhmann 2005a: 29, 2005b: 11) und generalisierbar (Luhmann 2005b: 14). Schließlich neigen sie zur Personalisierung: „Die an einfachen Systemen Beteiligten sehen zunächst sich selbst und die übrigen Beteiligten als Personen, nicht unbedingt auch das Netz ihrer Interaktion als System in einer Umwelt. Mit anderen Worten: Sie identifizieren sich als Personen, aber nicht ohne weiteres auch ihr soziales System" (ebd.: 39).6 Nun ist es unmittelbar plausibel, dass keine Interaktion das Ganze ablaufender Kommunikationen darstellen oder erfassen kann. In welcher Weise kann sich aber dieses Ganze als ein eigener Systemtypus verstehen lassen? Die spezifische Eigenleistung der Gesellschaft, welche Luhmann herausstellt, liegt insbesondere in ihrer Fähigkeit, Subsysteme zu bilden, ohne diese Subsystembildung auf Interaktionen stützen zu müssen (Luhmann 1988: 574), eine Leistung, welche im Zuge der Durchsetzung funktionaler Differenzierung ganz deutlich wird, da es sich nun als gänzlich unangemessen erweist, Gesellschaft als interaktionsförmig herstellbar zu begreifen (Luhmann 1993: 126, 158). Gesellschaftsevolution wird von Luhmann deshalb nicht zuletzt durch ein immer deutlicheres Auseinandertreten von Gesellschaft, Interaktion und Organisation beschrieben. Obwohl Gesellschaft und Interaktion grundsätzlich nie zusammenfallen, sind einfache Gesellschaften interaktionsnäher gebaut als moderne Gesellschaftsformationen (Luhmann 1988: 576, 2005b: 15),7 so dass „in älteren Gesellschaftsformationen zwischen den Systemtypen nicht deutlich unterschieden wird" (Luhmann 1997: 835). Dieser enge Zusammenhang von Interaktion und Gesellschaft löst sich in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft auf. Die Differenzierungsform der Gesellschaft wird somit unabhängig von Interaktionen - und nutzt, im Gegenzug, die „basale Anarchie" der
6
Als Überblicke und Ausarbeitungen der Interaktionskennzeichen vgl. auch Geser 1980, 1990 und Kieserling 1999. 7 Sehr wohl existiert aber bereits hier eine Differenz: „Die Differenz von Gesellschaft und Interaktion ist eine ursprüngliche, nicht zu vermeidende Struktur der Gesellschaft selbst" (Luhmann 1997: 817).
137 Interaktionen, um weitere Systemevolution zu ermöglichen (Luhmann 1988: 575 f.). Erst die hier erreichte Autonomisierung der Gesellschaft ermöglicht nach Luhmann dann auch die Autonomisierung der Organisation. GesellschaftsdifFerenzierung und Ebenendifferenzierung hängen an dieser Stelle miteinander zusammen. So komme „es erst unter dem Regime funktionaler Differenzierung zu jenem Typus autopoietischer Systeme [...], den wir als organisiertes Sozialsystem bezeichnen" (Luhmann 1997: 840; vgl. 2005b: 15). Dies hängt nicht zuletzt zusammen mit der Ablösung von herkunftsbedingter, also stratifikatorischer Rekrutierung und entsprechender Differenzierung (Luhmann 2000: 382, 396). Auseinandergezogen werden damit auch „persönlich adressierte Erwartungen" und „Rollenerwartungen" (Luhmann 1988: 431). Der Umstand, dass Organisationen von der „Komplexität des Gesellschaftssystems" profitieren, bedeutet aber nicht, dass Organisationsbildung notwendig von den gesellschaftlichen Funktionssystemen abhängt, auch wenn die meisten Organisationen sich „innerhalb der Funktionssysteme" bilden und „damit deren Funktionsprimate" übernehmen (Luhmann 1997: 840f.; vgl. auch 2000:405). Drei Punkte, die für die Frage nach Ebenendifferenzierungen instruktiv sind, sollen in der Folge angesprochen werden. Hinzuweisen ist erstens auf die mittlerweile weit verzweigte Debatte um Gesellschaft als das umfassende soziale System. Hier wurde wiederholt gefragt, wie etwas zugleich gesellschaftlich und außerhalb der Gesellschaft sein kann. „Freie Interaktionen" scheinen einen Selbstwiderspruch der Theorie zu erzeugen, denn außerhalb der Gesellschaft können sie als kommunikative Ereignisse nicht liegen (Schwinn 2001: 82ff., 2011: 34). Eine Möglichkeit, dieses Problem zu lösen, bestünde freilich darin, den Gesellschaftsbegriff zu disambiguieren. Einerseits würde Gesellschaft dann die Gesamtheit aller Kommunikation bezeichnen und andererseits die Ebene der Funktionssysteme. Außerhalb der Funktionssysteme kann es Interaktionen geben, nicht aber außerhalb der Gesellschaft im ersten Sinne. Der Preis, der für diese Lösung zu entrichten wäre, ist in der entsprechenden Debatte ebenfalls vielfaltig benannt worden; er besteht darin, dass der Systemcharakter der Gesellschaft verloren zu gehen droht (Schwinn 2011; Göbel 2011). Gesellschaft besteht dann aus vielfältigen Formen autopoietischer Sozialsysteme, ohne selbst eine eigene Autopoiesis aufzuweisen. An die Stelle der Trias von Gesellschaft - Organisation - Interaktion träte
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 134-150
die von drei Ebenen der Gesellschaft: Funktionssystem - Organisation - Interaktion. Schon vor der autopoietischen Wende, danach aber mit wachsendem Nachdruck stellt sich die Frage, worin der eigene Systemcharakter der Gesellschaft bestehen soll. Dementsprechend finden sich dann bei Luhmann vorsichtige Formulierungen wie diese: „Ihre Funktionssysteme [die der modernen Gesellschaft, J.G.] sind für die eigene Selbstorganisation und Selbstreproduktion freigesetzt. Das aber heißt, daß das Gesamtsystem sich nicht mehr durch operative Kontrolle, sondern nur noch über strukturelle Auswirkungen ihrer Differenzierungsform auf die Teilsysteme zur Geltung bringen kann" (Luhmann 1997: 42 f.). Zweitens ist zu fragen, ob nicht weitere Formen der Ebenendifferenzierung denkbar sind. Lassen sich so der einschlägige Vorschlag von Friedhelm Neidhardt (1979) und Hartmann Tyrell (Tyrell 1983) nicht auch Gruppen als Ebene verstehen oder - so in neurer Zeit prominent gemacht - Netzwerke.8 Im Rahmen der entsprechenden Debatten wird nach der Fähigkeit zu einer autopoietischen Reproduktion gefragt, welche die Ebenen kennzeichnet (Holzer 2005; 2010; Tacke 2000; Bommes & Tacke 2011; vgl. zu Beziehung auch Schmidt 2008). Zudem wirft drittens das Autopoiesis-Konzept die Frage danach auf, in welchem Sinn von einem „Innerhalb", also einer Inklusivität der Typen, in einem strikten Sinne gesprochen werden kann. Die Typendifferenz ist so gebaut, dass für die jeweils weniger umfassenden Typen gilt, dass die entsprechenden Sozialsysteme sowohl innerhalb der höherstufigen Sozialsysteme vorkommen können als auch „frei", also außerhalb. Die basale Autonomie der jeweiligen Sozialgebilde aber liegt nicht in dieser Option, sondern im autopoietischen Wesen der jeweiligen Sozialsysteme. „Eine Ausdifferenzierung autopoietischer Sozialsysteme kann auf der Grundlage einer schon etablierten Gesellschaft auch ohne jeden Bezug auf das Gesellschaftssystem oder seine bereits eingerichteten Teilsysteme stattfinden, einfach dadurch, daß doppelte Kontingenz erfahren wird und autopoietische Systembildungen in Gang bringt" (Luhmann 1997: 812; vgl. auch 2000: 39 ff.). Ein Wirtschaftsunternehmen, das sich am Code der Wirtschaft orientiert, ist nicht autopoietischer als ein karitativer Verein, der sich an einer weniger klaren Codierung orientiert (Luhmann 1997: 840). Georg Kneer hat
die Folgerung aus dem Autopoiesis-Konzept klar gezogen. Gegen Luhmanns These vom Sonderstatus der Organisation als System, das im Gegensatz zu Interaktionen und Funktionssystemen mit der Umwelt kommuniziert (Luhmann 1997: 834, 843, 2000: 383) und der Interdependenzunterbrechung in Funktionssystemen dient (Luhmann 1997: 845, 2000: 394), verweist er auf die strikte Trennung und Selbstbezüglichkeit autopoietischer Systembildungsprozesse: „Bei Organisationen und Funktionssystemen handelt es sich somit um getrennt operierende Systeme, die sich nicht überlappen oder überschneiden" (Kneer 2001: 415). Kneer macht damit auf ein theoriebautechnisch bedeutsames Problem aufmerksam: In welchem Sinne lassen sich Nicht-Reduzierbarkeit und Inklusivität überhaupt vereinbaren? Unmittelbar können gesellschaftliche Strukturvorgaben nicht in die Interaktionen hineinwirken, ohne die Autonomie der Interaktion aufzuheben, und umgekehrt kann die Autopoiesis der Organisation nicht abhängen von Prozessen, welche die Organisationsprozesse festlegen. Entscheidend ist hier nicht, dass es nicht Beschränkungsbedingungen geben kann, welche sich evolutionär stabilisieren, also nach Maßgabe einer strukturellen Kopplung, welche bekanntlich eine aus der Sicht des Systems geeignete, aber nicht direktive Umweltstruktur meint (Maturana & Varela 1987: 85; Maturana 2000: 104 f.), sondern dass es sich auch bei Beschränkungen um strikte System / Umwelt-Beziehungen handeln muss, in denen autopoietische Systeme sich jeweils befinden (Luhmann 2002: 114ff.; Kneer 2001: 415). Ähnlich wie im Falle des Verhältnisses von Gesellschaft und Funktionssystemen lässt sich die Annahme der Autopoiesis anderer umfassenderer Systembildungen schwerlich mit der Autopoiesis von internen Prozessen vereinbaren.9 Kommunikative Ereignisse lassen sich durch je spezifische Sinnzugriffe polykontextural deuten (Luhmann 2000: 43; Kneer 2001: 416) die partizipierenden Systeme lassen sich aber eben nicht als durch Umweltoperationen erzeugt verstehen. Aus der Sicht eines durchgehaltenen Konzepts der Autopoiesis sind alle Systeme „unmittelbar zu Gott": System / Umwelt-Verhältnisse gelten strikt — asymmetrische Enthaltungsbeziehungen lassen sich nicht behaupten. Interaktionen können sowenig in Organisationen stattfinden wie Organisationen in Interaktionen, oder eben: in derselben Weise,
Es ließe sich darauf verweisen, dass die Systemtypendifferenz vor der „autopoietischen" Wende formuliert wurde und f ü r die frühe Phase dieses Problem nicht sehen. Für diesen Hinweis danke ich Hartmann Tyrell. 9
Luhmann ( 2 0 0 0 : 25) plädiert dafür, Netzwerke und Gruppen als Interaktionssysteme und beides als informale Organisation zu verstehen. 8
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Jens Greve: Interaktion-Organisation-Gesellschaft
wenn man Paradoxien zulässt (Luhmann 1987: 126). Zurückzuführen ist dies auf den Umstand, dass Umwelten eben nie in die Operationen der autopoietischen Systeme eingreifen können. Halten wir hier zunächst fest, dass die Ebenenarchitektur bei Luhmann vor dem Problem steht, die These der Irreduzibilität der Ebenen mit der Behauptung ihrer Inklusivität in Einklang zu bringen. Die Theorie der rationalen Wahl, welche Ebenenbeziehungen nicht als System / Umwelt-Relationen sieht, steht vor dieser Herausforderung nicht. Theoriearchitektonisch zeigt sich aber ebenfalls eine mit Ebenendifferenzen verbundene Problematik, welche in dieser Tradition - und zwar in einer Linie10 - darin besteht, die Behauptung von Irreduzibilität von Ebenen mit der Annahme einer Trägerschaft durch individuelle Handlungen zu verbinden.
3. Die Trias in der Forschungstradition der Theorien rationaler Wahl
Warum, so die zunächst leitende Frage, kommt es überhaupt zu einer hierarchischen Strukturierung von Tauschbeziehungen, welche die Organisation ausmacht (Coase 1937; Williamson 1990)? Zudem wird untersucht, wie innerhalb der Organisation Tauschbeziehungen so strukturiert werden können, dass die Organisationsmitglieder Interessen der Organisation maximieren. Dies wird insbesondere unter dem Gesichtspunkt verschiedener Governance-Mechanismen diskutiert (Coleman 1994a: 172 f.; Saarn 2002: 31 ff.), was auf das Strukturproblem der Organisation verweist, dass die Motivation der Mitarbeiter nicht notwendig mit den Interessen der Organisation „als solcher" zusammenfallt, ein Umstand, welcher — so die häufig erhobene Kritik in Max Webers klassischem Bürokratiemodell übersehen worden sei.12 Dieses Problem stellt sich in unterschiedlichen Graden - normative Organisationen sind weniger davon betroffen als utilitaristische oder Zwangsinstitutionen (Etzioni 1975). Es gehört aber zu den Grundannahmen der Rational Choice-Theorien, dass die Aufgabe der Abstimmung von Organisationsinteressen und Mitgliedsinteressen sich auch dann ergibt, wenn die Prinzipale und die Agenten der Organisation identisch sind, aber die Organisation einen größeren Verband bildet. Notorisch tritt dann die Versuchung des Trittbrettfahrens auf (Olson 1992; für entsprechende Simulationsforschung vgl. auch Coleman 1986b).
Einleitend hatte ich bereits daraufhingewiesen, dass sich eine deutliche sachliche Kongruenz von Ebenendifferenzierungen in den Ansätzen des Rational Choice und der Luhmann'schen Trias nicht finden lässt. Gesellschaft wird in Rational Choice-Ansätzen kaum als eigensinniges Ordnungsniveau betrachtet, sondern eher als Sammel- oder Summenbegriff, und auch die Idee subsystemischer Differenzierung spielt in dieser Tradition keine Rolle. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Autoren, welche dieser Tradition zugehören, dort, wo sie Gesellschaftsdifferenzierung aufnehmen, auf systemtheoretische Figuren zurückgreifen (Esser 2000: 64 ff.).11 Eher finden sich, wie am Fall von Coleman gleich noch näher verhandelt werden soll, Anknüpfungspunkte im Bereich der Organisation. Hier findet sich eine äußerst breite Forschung aus der Sicht der Rational Choice-Perspektive (Preisendörfer 2008; Kieser & Ebers 2006; Kieser & Walgenbach 2003). Der vorrangige Gegenbegriff zu Organisation ist in dieser allerdings gerade nicht Interaktion oder Gesellschaft, sondern Markt.
Anders wiederum stellt sich die Lage im Bereich der Interaktion dar. So ist die Rational Choice-Theorie da, wo sie spieltheoretische Modelle und Überlegungen aufnimmt, Interaktionssoziologie par excellence, denn hier werden Interdependenzen von Handlungen thematisiert, gleichzeitig aber kennt die Spieltheorie eine Begrenzung auf Interaktion in einem engeren Sinne, wie sie bei Goffman und dann bei Luhmann verstanden wird (als Interaktion unter Anwesenden, vgl. Kieserling 1999), eben nicht, auch wenn bestimmte Forschungslinien, insbesondere aus der Tradition der Signaltheorie (Spence 1973), sich solchen Fragestellungen annähern (vgl. programmatisch etwa Swedberg 2001; Vollmer 2013).13
10
12
Gemeint ist die strukturindividualistische Linie, welche mit dem starken methodologischen Individualismus zwar die Annahme teilt, dass soziale Prozesse immer im Rekurs auf Individuen zu erklären sind, aber gleichwohl soziale Strukturen kennt, welche eine eigenständige und daher irreduzible kausale Kraft besitzen (Udehn 2001: 354 ff; Greve 2014). 11 Zum Verhältnis von Essers und Luhmanns sozialtheoretischen Ansätzen vgl. auch Greve (2006).
„The fundamental flaw in his [Webers] theory is that only this central authority is treated as a purposive actor. The fact that the persons who are employed to fill the positions in the organization are purposive actors as well is overlooked" (Coleman 1994c: 423). Zu einer anderen Bewertung der Weber'schen Sicht gelangt Norkus (2001: 484 ff.). 13 In den letzten Jahren gewinnt zudem eine Tradition an Sichtbarkeit, welche die Theorie rationaler Wahl im Kontext der Netzwerkanalyse verwendet (Burt 1992; Lin 1999).
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 134-150
4. Organisation in der modernen Gesellschaft bei Coleman Auch Coleman hat keine deutliche triadische Ebenenunterscheidung formuliert, dennoch deutet er gelegentlich eine solche an. So ließen sich drei Ebenen unterscheiden: die Ebene des Individuums, die Ebene der Organisation sowie das Handlungssystem, in dem Organisationen Elemente sind (Coleman 1992c: 123, 1990b: 102). 14 Das Letztere, nicht unähnlich dem Gesellschaftssystem bei Luhmann, beinhaltet nicht nur Organisationen, sondern ist umfassend; so umfasst es auch andere kollektive Entitäten wie Märkte oder soziale Bewegungen. 15 Allerdings wird diese dreifache Ebenendifferenzierung bei Coleman nicht entfaltet, eine klare inhaltliche Parallele zur „Trias" lässt sich auch bei Coleman nicht ausmachen. Der Fokus der folgenden Ausführungen ist daher enger: Er richtet sich auf formale Organisationen und ihr Verhältnis zu einfachen sozialen Beziehungen sowie zu Individuen. Coleman kennt zwei Typen von Organisationen: „primordiale" und moderne Organisationen. Letztere stehen im Zentrum seiner Gesellschaftsdiagnostik. Sie entstehen historisch spät (zunächst in Gestalt der katholischen Kirche und in den Städten des Mittelalters, dann sprunghaft im 19. Jhdt., mit einem weiteren qualitativen Sprung nach dem 2. Weltkrieg; Coleman 1982: 89), bilden dann aber zusehends dominante Akteure. Sie sind, obgleich selbst ohne physischen Körper, mit Handlungsfähigkeit versehen (Coleman 1982: 9). Im Gegensatz zu primordialen Gruppen werden diese Organisationen bewusst geschaffen (Coleman 1992a: 337). Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Rechtsentwicklung: „I call this a new corporate actor because the law - first in England and later on the Continent - recognized it as new" (Coleman 1993a: 2). So entstehe ein neuer Akteur, „an actor with rights and responsibilities recognized by law, one that could sue and be sued; but unlike earlier actors, this actor had no physical corpus - it had rights and responsibilities of its own not traceable to a natural person" (Coleman 1993a: 2; vgl. auch 1992c: 117, 1994c: 579, 1979: Kap. 1).
14 Hier ist ausdrücklich von „level" die Rede; vgl. auch die Hinweise in Fßn. 18 und 19. 15 Gesellschaft wird nicht eigens definiert. In den Foundations werden Gesellschaften aber als kollektive politische Ordnungssysteme begriffen (Coleman 1994c: 449).
Weil korporative Akteure selbst handlungsfähig sind, ist der Bruch zwischen ihnen und den primordialen Organisationen nicht nur graduell - nicht nur Rollendifferenzierung tritt auf, sondern die Einordnung in einen Interessenzusammenhang, welcher zuvor nicht gegeben war. Anders als in primordialen Vereinigungen sind in modernen Organisationen die zentralen Einheiten nicht natürliche Personen, sondern Positionen (Coleman 1993a: 7, 1979: 22). Im Falle primordialer Formen der Rollendifferenzierung ist die Person als ganze involviert, im Falle moderner korporativer Akteure wird die Person Teil eines anderen Akteurs. „In her role as saleslady she is an occupant of a position in an actor. In the other [als Frau, Freundin oder Familienmitglied], it is her whole person, including her personal interests, which is involved in the interaction" (Coleman 1982: 36). Die korporativen Akteure entwickeln Interessen, die sich nicht mehr mit denen natürlicher Personen decken (ebd.: 42). So gilt zwar einerseits, dass „corporate actors have no rights other than those which derive from natural persons" (ebd.: 42). Andererseits schreibt Coleman: „But in a corporation a new entity has been created whose interests and resources are distinct from those who brought it into being" (Coleman 1994c: 539; vgl. auch 1982: 42). Die neue Gesellschaftsstruktur ist asymmetrisch, weil die korporativen Akteure den natürlichen Personen (zumindest häufig) in ihren Ressourcenausstattungen weit überlegen sind (Coleman 1982: 21 f., 1994c: 553). Die Differenzierung der Gesellschaft und die gesellschaftliche Statusordnung sind zusehends schwächer gekoppelt. An die Stelle von askriptiven treten erworbene Mitgliedschaftseigenschaften, soziale Beziehungen werden entpersonalisiert, Haushalt und Betrieb werden getrennt (Coleman 1982: 121 ff.). Diese Befreiung aus primordialen Beziehungen ist für Coleman freilich ambivalent: Das Individuum wird freier, aber auch weniger relevant (ebd.: 27). Die Organisationszugehörigkeit entlastet die Individuen (ebd.: 22), zugleich erzeugt die doppelte Referenz, die sich in Interaktionen einstellt, auch neue Formen des Rollenkonflikts, nämlich dann, wenn Verpflichtungen aus primordialen Beziehungen mit solchen kollidieren, welche aus der Organisationsmitgliedschaft resultieren (ebd.: 3 ff.). Moderne korporative Akteure setzen Individuen darüber hinaus neuen Risiken aus, die sich von Risiken unterscheiden, die sich aus natürlichen Bedrohungen ergeben und solchen, welche auf Beziehungen zwischen natürlichen Personen beruhen (ebd.: 88).
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Jens Greve: Interaktion-Organisation-Gesellschaft Colemans Analyse der modernen Gesellschaft hat
in diesem Sinne sind, sondern in denen die Anreize
einen pessimistischen Einschlag, nicht unähnlich
zur Aufrechterhaltung von außen stammen müssen
der
verselbständigter
(ebd.: 539). Formale Organisationen sind die Folge
Subsysteme (Habermas 1987). 1 6 „This suggests that
Habermas'schen
Diagnose
von Austauschbeziehungen, die nur unter besonderen
society is moving in the direction o f a dependent po-
Bedingungen nutzenbringend sind. Coleman n i m m t
pulation o f persons who experience benefits from a
an, dass formale Organisationen nur dann entstehen,
set o f intangible corporate actors, which control the
wenn sich externe Effekte ergeben und sich diese Ef-
major resources and events" (Coleman 1 9 9 4 c : 4 5 8 ;
fekte nicht mehr in der Form in die Beziehung inter-
im Anschluss an Coleman deutlich skeptisch auch
nalisieren lassen, dass das Handeln ohne externe Stüt-
Perrow 1991). G a n z ähnlich wie in Jürgen Haber-
zen aufrechterhalten werden kann. Der Übergang
mas' Analyse der Problematik von Verrechtlichungs-
von der Interaktionsebene zur Organisationsebene
prozessen zentrieren sich die negativen Effekte auch
hängt daher für ihn nicht von der Ablösung von der
für Coleman a u f die familiär /schulischen Bereiche.
face-to-face-Struktur ab, obwohl diese den einfachen
D i e Erziehungsaufgaben, welche in der Familie ge-
sozialen Beziehungen näher steht (Coleman 1986c:
leistet wurden, könnten von den modernen Institu-
1320), sondern von einer sich verändernden Nutzen-
tionen nur unvollständig erbracht werden (Coleman
struktur, die im einen Fall dyadisch aufrechterhalten
1982: 139). C o l e m a n wehrt sich freilich gegen den
werden kann, im anderen Fall nur triadisch. 17 Der
Vorwurf, er romantisiere die Vergangenheit. Viel-
Dritte wird immer dann erforderlich, wenn sich in
mehr sei empirisch zu fragen, o b korporative Ak-
einer Dyade keine Austauschbeziehung mehr ergibt,
teure den langfristigen Interessen von Individuen
welche für beide Partner einen positiven Nutzener-
nutzen oder schaden (Coleman 1992b: 2 6 8 ) . Zu-
trag ergibt. Für Coleman basieren genau hierauf
gleich sieht C o l e m a n in diesem Nutzen einen mög-
formale Organisationen (Coleman 1994c: 43). D e r
lichen M a ß s t a b innovativer Institutionengestaltung.
Dritte steht hierbei für Coleman nicht für eine kon-
D a h e r ergäben sich neue Optionen der Erziehung
krete Person, sondern bezeichnet ein strukturelles
von Kindern, wenn die gegebenen Institutionen sich
Problem: Immer dann, wenn sich Austauschbezie-
wandelten (ebd.: 2 6 8 ) . So könnte beispielsweise ein
hungen nicht mehr über bilateralen Tausch stabili-
Belohnungssystem dafür eingerichtet werden, wenn
sieren lassen, entsteht ein Bedarf nach Normen und
Eltern zuvor getestete Entwicklungschancen
der
Kinder nutzten (Coleman 1993a: 13).
nach Organisation. Dahinter liegt bei Coleman ein ökonomisches Modell, welches auf Ronald H . Coases
Die Diskontinuität zwischen primordialen und mo-
(1960) berühmter Überlegung zu Externalitäten ba-
dernen korporativen Akteuren hängt für Coleman
siert: Sofern eine Austauschbeziehung externe Effekte
wesentlich an einer Differenz zwischen einfachen
hat, sind Fälle denkbar, in denen es nicht gelingt, die
sozialen Beziehungen und komplexen Beziehungen.
davon Betroffenen tauschfbrmig zu kompensieren.
Die einfachen Beziehungen bilden für ihn die „build-
Das Lehrbuchbeispiel ist die Fabrik, die den Fluss
ing blocks" (Coleman 1994c: 4 3 ) sozialer Organisa-
verseucht und damit den anliegenden Landwirten die
tion. I m Falle einfacher sozialer Beziehungen liegt
Erwerbsmöglichkeiten nimmt. Diese externen Effekte
der Anreiz zu ihrer Stiftung und Aufrechterhaltung
lassen sich unter Umständen über Kompensations-
in der Beziehung selbst: „Certain social relations are
zahlungen „internalisieren" und führen insoweit zu
self-sustaining in the sense that incentives to both
keinem N o r m - und Organisationsbedarf. In diesem
parties to continue the relation are intrinsic to the
Fall reicht eine Marktsituation aus (Coleman 1994c:
relation. The incentives are generated by the relation
2 5 0 f.). W o sich eine entsprechende
itself, and continuation o f the relation depends on
nicht finden lässt, entsteht ein Bedarf nach Normen
its generating sufficient incentives for both parties.
und, wenn die Normdurchsetzung nicht problemlos
Marktlösung
M a n y o f what we think o f as social relations are like this: primordial social ties, relations o f friendship,,informal 1 social relations o f all sorts, and authority relations such as those o f master and servant or father and so on" (ebd.: 43). Davon zu unterscheiden sind komplexe soziale Beziehungen, die nicht selbsterhaltend
16 Die sich ihrerseits aus Motiven speist, welche die Kritische Theorie aus Webers Zeitdiagnose übernommen hatte.
17 Dementsprechend unterscheidet Coleman (1994c: 4 2 8 f.) zwischen Beziehungen reziproker Viabilität und unabhängiger Viabilität. Im ersten Fall ist der Nutzenertrag im eben genannten Sinne dyadisch erzeugt, im zweiten Fall hingegen nicht. D a externe Effekte und Trittbrettfahreranreize im Prinzip in jeder sozialen Gemeinschaft zu erwarten sind, müsste Coleman hier eigentlich deutlicher begründen, warum einfache Gesellschaften besser dazu in der Lage sind, Sanktionskosten zu minimieren.
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ist, nach formaler Organisation. 18 Auch für Coleman ist ganz im Sinne der Rational Choice-Tradition der GegenbegrifF zu Organisation nicht Interaktion oder Gesellschaft, sondern Markt. Ähnlich wie in Luhmanns Gesellschaftstheorie Interaktion, Organisation und Gesellschaft sich immer weiter trennen, findet sich bei Coleman die entsprechende These, dass gesellschaftsdominant primordiale Beziehungen durch moderne korporative Akteure abgelöst werden — auch wenn das selbstredend nicht heißt, dass primordiale Beziehungen sich gänzlich auflösen. Mit Luhmanns Befund stimmt ebenfalls überein, dass sich sachlich und zeitlich generalisierte Rollenerwartungen erst auf der Ebene der Organisation ergeben können.
5.
Zur Unabhängigkeit der Organisationsebene bei Coleman
Dem Befund, seine Analyse „deindividualisiere" die Theorie rationalen Handelns (Stinchcombe 1992: 187), widerspricht Coleman nicht - im Gegenteil, er 18 Bei Peter M. Blau finden sich verwandte Überlegungen. Er unterscheidet intrinsische von extrinsischen Tauschbeziehungen. Bei den extrinsischen ergeben sich neben solchen, in denen jemand ein komplementäres Tauschgut anzubieten hat, solche, in denen er über kein direktes Tauschgut verfügt. D a n n kann dieser den Weg wählen, dem anderen als Tauschobjekt generalisierte Macht über seine Handlungen anzubieten. Nach Blau ergeben sich aus dieser Austauschlogik Autoritätsverhältnisse (Blau 2005: 22). Sie können zu weiteren Generalisierungen führen, wenn sie mit kollektiver Legitimation versehen werden. Damit ist eine Basis geschaffen für einen möglichen weiteren Schritt: die Entstehung von Makrostrukturen. Makrostrukturen werden erforderlich, wenn die zu integrierenden Kollektive eine bestimmte Größe erreichen (ebd.: 31), sie sind gekennzeichnet durch Wertkonsens, Bildung von Subeinheiten (wohingegen Mikrostrukturen aus Personen und nicht aus Substrukturen bestehen; ebd.: 283 ff.) und formalen Organisationsprozeduren (ebd.: 25). Paarweise Austausche stehen somit immer auch in einem Kontext von Rollensets, welche über die einzelnen Austauschbeziehungen hinausweisen (ebd.: 31 f., 108). Im Gegensatz zu Coleman wird „Marktversagen" hier nicht zur entscheidenden Begründung für die Entstehung von Organisationen. Blau wiederum knüpft an Überlegungen von George Caspar Homans an. Für diesen besteht der Übergang zum Formalisierten (dem Institutionellen im Gegensatz zum Subinstitutionellen) ebenfalls in der Ergänzung von direkten Tauschbeziehungen durch solche, welche durch intermediäre Personen vollzogen werden (Homans 1974: 356). Auf Luhmanns Anschluss an Homans' Idee des Elementaren weist Tyrell (2008: 66 f.) hin.
stimmt ihm zu (Coleman 1992b: 266). Grundsätzlich stellt sich aber die Frage, in welcher Weise sich ausgehend von einer individualistischen Position die Unabhängigkeit der Organisation behaupten lässt. Es wird sich zeigen, dass die Unabhängigkeitsbehauptung bei Coleman im Widerspruch zu einer gleichzeitig vertretenen reduktionistischen Tendenz steht. Erstens behauptet Coleman, dass Handlungsfähigkeit beliebigen Entitäten zugesprochen werden kann. Dies steht aber im Widerspruch zur These, dass nur Akteure, natürliche und korporative, handlungsfähig sind. Zudem geht Coleman davon aus, dass soziologische Analysen ihren „natural stopping point" in natürlichen Akteuren finden müssen. Dies widerspricht wiederum der Idee, dass korporative Akteure über eigene Interessen verfügen können (a). Zweitens verfolgt Coleman ein kontraktualistisches Programm: Korporativen Akteuren werden dann Rechte eingeräumt, wenn diese Rechteübertragung einen höheren Nutzen verspricht als die NichtÜbertragung (b). Dies steht auch deswegen im Widerspruch zur These autonomer Organisationsinteressen, weil Coleman in der Analyse sozialer Gebilde von einem perfekten sozialen System ausgeht, in dem für die Handelnden keine Ungewissheit über die Folgen des eigenen Handelns herrscht. Warum sollten sie dann aber ein System von Rechten akzeptieren, welches ihren eigenen Interessen widersprechen kann (c)? (a) Zur Autonomie der Makroebene
Colemans sozialtheoretischer Ansatz ist gekennzeichnet durch einen methodologischen Individualismus, die Annahme rationalen Handelns und ein MakroMikro-Makro-Strukturmodell. Letzteres meint, dass soziologische Erklärungen das Ziel haben, kollektive, nicht individuelle Sachverhalte zu erklären, auch wenn die Erklärung über individuelle Handlungsentscheidungen generiert werden muss. Die Elemente der Makroebene sind dabei vielfältig: Märkte, Organisationen, social choice, kollektives Verhalten (Coleman 1986a: 362), Normen, Werte, Statusverteilungen und Konflikt (Coleman 1994b: 33). Obwohl eine klare Abgrenzung streng genommen fehlt (Tuomela 1993: 11 f.), lässt sich doch als Minimalbedingung für korporative Akteure angeben, dass sie im Gegensatz zu anderen Makrophänomenen eine Prinzipal-Agent-Beziehung beinhalten. „A minimal corporate actor is created when principal and agent are different persons" (Coleman 1994c: 421). Coleman rechtfertigt die Autonomie der Makroebene über die Annahme, dass aus der Sicht der einzelnen Handelnden nichtintendierte Effekte auftreten.
Jens Greve: Interaktion-Organisation-Gesellschaft
Gleichzeitig hält Coleman - im Gegensatz zum holistischen Modell - eine Erklärung, welche auf der Makroebene verbleibt, für unbefriedigend. Systemverhalten müsse durch das Verhalten der Systembestandteile erklärt werden - und diese Erklärung finde an natürlichen Personen ihren Haltepunkt, 19 auch wenn Erklärungen „oberhalb" der Ebene des Individuums bereits befriedigend ausfallen können. 20 Das Modell verbindet drei Erklärungsschritte miteinander. Coleman veranschaulicht dies an einem Gesellschaftsspiel. „The first of these transitions is mirrored in the game by all those elements that establish the conditions for a player's action: the player's interests, given by the goal established by the rules; the constraints on action, which are imposed by other rules; the initial conditions, which provide the context within which action is taken; and, after the game is in play, the new context imposed by other's actions" (ebd.: 11). Der zweite Schritt besteht in einer Spezifikation des im Modell verwendeten Handlungskalküls. Dabei geht Coleman von einer weiten Fassung als zielgerichtetes Handeln aus, wählt aber auch für spezifische Analysen die engere Fassung der Nutzenmaximierung (ebd.: 13 ff.). Letzteres hängt insbesondere mit seinem Ziel zusammen, die Handlungsanalyse zu mathematisieren - in diesem Sinne entwickelt er ein „lineares Modell des Handelns", das von Handeln in einem „perfekten sozialen System" 21 ausgeht, das perfekten Märkten nur an dem Punkt nicht gleicht, dass hierin auch unteilbare
19 „At the lowest level the system of organization with which social theory deals is the individual person; at the highest it is total societies" (Coleman 1986a: 345 f.). 2 0 „I will suggest that a natural stopping point for the social sciences (although not psychology) is the level of the individual — and that, although an explanation which explains the behavior of a social system by the actions and orientations of some entities between the system level and the individual level may be adequate for the purpose at hand, a more fundamental explanation based on the actions and orientations of individuals is more generally satisfactory" (Coleman 1994c: 4).
„The term refers to a social system in which actors are rational [...] and in which there is no structure to impede any actor's use of resources at any point at the system. In economists' terms there are no transaction costs. Freerider problems do not exist, for actors are able to use their resources to induce others with like interests to contribute to the common good. In a perfectly competitive market, there are no advantages to strategic behavior, because there are no contingencies of actions" (Coleman 1994c: 719 f.). Vgl. auch Coleman 1992c: 121 sowie Kappelhoff 1988: 102 ff. 21
143 Ereignisse mit externen Effekten auftreten, welche dann einen Interessenausgleich über partialisierbare Rechteübertragungen hinsichtlich der Kontrolle der Ereignisse erforderlich machen. Im Gegensatz zum Gütermarkt sind hier die einzelnen Güter nicht beliebig teilbar, aber teilbare Kontrollrechte gleichen dies aus (ebd.: 720). Ich komme darauf zurück. Der dritte Schritt besteht im Ubergang zur Makroebene, er beschreibt die Handlungskonsequenzen eines jeweiligen Handelns, „how it combines with, interferes with, or in any other way interacts with the actions of others [...] thus creating a new context within which the next action takes place" (ebd.: 12). Worin, so fragt sich Coleman, besteht aber die Makroebene? „The answer is that the macro level, the system behavior, is an abstraction, nevertheless an important one" (ebd.: 12). Wenn es sich um Abstraktionen handelt, dann stellt sich eine Frage mit Nachdruck, nämlich in welcher Weise die Makroebene als Makroebene eigenständige Effekte erzielen können soll, denn die Makroebene beschreibt aus dieser Sicht allein Mikroprozesse und keine eigenständigen Makroprozesse (vgl. auch Balog 2008). 2 2 Coleman schwankt hier - die Makroebene lasse sich in bestimmten Fällen doch, korrigiert er sich, anders denn als bloße Abstraktion fassen: Dies gelte insbesondere dann, wenn das Systemverhalten als das Verhalten eines supraindividuellen Akteurs betrachtet werden könne (Coleman 1994c: 12). Wenn die Makroebene nicht nur eine Abstraktion darstellt, sondern auch eigene Akteure kennt, wie muss dann der Akteursstatus beschrieben werden? Eines physikalischen Körpers bedürfe es dafür nicht (Coleman 1982: 33). Die Generalisierung des Akteurskonzepts ist dabei für Coleman allgemeiner Natur, auch für Schwärme und ähnliches Massenverhalten lasse sich eine entsprechende Verallgemeinerung vornehmen: „Yet it is useful, because the swarm is acting as a single goal-directed actor, to treat it as a single actor" (Coleman 1982: 114; vgl. auch 1994c: 580). Auch dann, wenn korporative Akteure auf dem Handeln der Systembestandteile beruhen, schließt das für Coleman die Annahme eines Akteursstatus folglich nicht aus. Schließlich lasse sich auch der natürliche Akteur als zusammengesetzte Einheit begreifen: „In any organization of
2 2 Tatsächlich ergibt sich ein grundlegendes Problem für die Annahme eigenständiger kausaler Effekte von Makroentitäten, wenn man davon ausgeht, dass jedes Makrophänomen in Mikrophänomenen realisiert sein muss. Vgl. dazu Greve 2014, insbesondere Kap. 2, 3 und 5.
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parts, such as the human body, each part has a given function. But we do not deny that it is useful to conceive of the person as a single goal-directed actor just because we can identify the hand as picking up an object or the brain as determining what object it will pick up or the central nervous system as directing the action" (Coleman 1982: 114). Diese Lesart widerspricht zum einen allerdings der These, dass nur bestimmte Makrophänomene eigenständige Akteure sein können. Z u m anderen stellt sich die Frage, wie weit diese These sich mit der Annahme verbinden lässt, dass natürliche Akteure die Stopppunkte der Mikroreduktion darstellen? Lässt sich die analytische Akteursauffassung tatsächlich auf natürliche Akteure übertragen? Wenn die Hand als Agent eines Prinzipals verstanden werden kann, lässt sie sich dann zugleich als eigenständiger Akteur mit Interessen verstehen? Dies stellt sich erstens als Problem ontologischer Unabhängigkeit dar. Klassisch hat bereits Herbert Spencer darauf hingewiesen, dass Individuen als diskrete Teile prinzipiell auch außerhalb des jeweiligen Sozialverbandes existenzfähig sind (Spencer 1897: 447 ff.), etwas, das für eine Hand schwerlich vermutet werden kann. Im Sinne ontologischer Unabhängigkeit wäre zweitens zu klären, ob die Trägerschaft durch Rechteübertragung hinreichend begründet werden kann. Im Falle natürlicher Personen lässt sich ein Zustand der Rechtlosigkeit denken, der gleichwohl mit Handlungsfähigkeit vereinbar ist. Im Falle der Organisation stellt sich dies anders dar: Hier schafft erst die Übertragung von Rechten den Akteur (Coleman 1994a: 173). Darüber hinaus lässt sich abweichendes Verhalten von Individuen in Organisationen dadurch erklären, dass hier eine individuelle Nutzenmaximierung vorliegt. Aber lässt sich dies auf Bestandteile des Akteurs sinnvoll übertragen? Lässt sich die Nichtausführung oder eine von den Interessen des Prinzipals abweichende Ausführung einer Handlung auf eine Nutzenfunktion der Hand sinnvoll zurückführen? Welche eigenen Interessen sollte das handelnde Selbst hier verfolgen? Während Handlungen eines Agenten, welche von den Interessen eines Prinzipals abweichen, als rationales Handeln beschreibbar sind, gilt das für abweichendes Verhalten von den eigenen Interessen natürlicher Personen nicht - es handelt sich um irrationales Handeln (Coleman 1994c: 510). Auch hier droht Coleman in einen Widerspruch zu den Prämissen der von ihm verfochtenen Handlungstheorie zu geraten - Handlungen sollen sich als das Resultat rationaler Handlungsent-
scheidungen darstellen lassen. 23 Für das zugrunde liegende Selbst kann dies aber nur über die Einheit von Agent und Prinzipal geleistet werden: Worin besteht aber diese Einheit im Falle einer Zerlegung des Akteurs? Und worin besteht die Einheit, wenn Interessen, wie in Organisationen offensichtlich, Interessen der Bestandteile darstellen? Hier müsste es in analoger Weise möglich werden, eigene Interessen der Organisation zu definieren, um sagen zu können, in welcher Weise Organisationen rational oder irrational handeln können.
(b) Organisationsbildung Colemans sozialtheoretischer Ausgangspunkt besteht in der Annahme von Akteuren mit Interessen an und Kontrolle über Ressourcen. Ausgehend hiervon beschreibt die Theorie Austauschvorgänge unter dem Gesichtspunkt individueller Nutzenmaximierung (Coleman 1994c: 37). Normen werden von Coleman nicht vorausgesetzt, sondern als erklärungsbedürftige Größen eingeführt (ebd.: 31). Der zentrale Ausgangspunkt, um Normbildung und damit auch Organisationsentstehung zu erklären, besteht in der Einführung einer spezifischen Ressource, welche Personen tauschen können, nämlich von Rechten. Diese ermöglichen es, die Handlungen der Akteure zu kontrollieren, und sie können von Akteuren an andere abgegeben werden. Bei Rechten handelt es sich um etwas, das von einem Kollektiv getragen wird. „A right is inherently a social entity and [...] exists only when there is a high degree of consensus about where the right lies" (ebd.: 54). Für Coleman sind die Rechte zwar an ein Kollektiv gebunden, aber gleichwohl gilt, dass mit mehr Ressourcen ausgestattete Personen ihre Interessen im höheren Maße durchsetzen können. Ob jemand über ein Recht verfügt, hängt von seiner Machtposition ab. Rechte können dadurch transferiert werden, dass jemand Rechte tauscht, oder dadurch, dass eine Gruppe von relevanten Personen das Recht entzieht (Coleman 1994c:
„Since social scientists take as their purpose the understanding of social organization that is derivative from actions of individuals and since understanding an individual's action ordinarily means seeing the reasons behind the action, then the theoretical aim of social science must be to conceive of that action in a way that makes it rational from the point of view of the actor. Or put another way, much of what is ordinarily described as nonrational or irrational is merely so because the observers have not discovered the point of view o f the actor, from which the action i s rational" (Coleman 1994c: 17 f.). 23
Jens Greve: Interaktion-Organisation-Gesellschaft 58; kritisch zu dieser Machtperspektive Kappelhoff 1992; Baurmann 1993; Elster 2003). 2 4 Die Entstehung von Normen, von auf ihnen basierenden Verfassungen und korporativen Akteuren werden von Coleman zweistufig betrachtet. Zum einen muss es zu einem Bedarf an sanktionierendem Verhalten kommen, zum anderen muss diese Sanktion auch durchgeführt werden, d. h. es müssen sich Sanktionsinstanzen herausbilden. Normen, Verfassungen und Organisationen entstehen erst dann, wenn rein marktförmige Austauschbeziehungen an eine Grenze geraten. Hier folgt Coleman, wie bereits ausgeführt, Coases Überlegungen, dass bestimmte Strukturbildungen erst dann erforderlich werden, wenn externe Effekte nicht über kompensatorischen Austausch internalisiert werden können (Coleman 1994c: 250 f.). 25 Nach Coleman tritt dieses Problem erst dann auf, wenn es sich um eine Interdependenz mit externen Effekten handelt, von der mehr als zwei 24
Die „Zustimmung" zu einer Rechtsordnung kann daher
auch erzwungen sein, wie Coleman an der Sklaverei verdeutlicht, welche dem Sklaven zwar keine Rechte einräumt, ihn aber am Leben lässt (Coleman 1994c: 88). Von diesen erzwungenen Transfers unterscheidet Coleman
freiwil-
lige Transfers, „which a rational actor will do only in the expectation that the authority exercised by the other will benefit him more than would his own exercise o f the right" (ebd.: 90). Verwandt mit dieser Differenz ist die zwischen Autoritätsverhältnissen, welche Coleman als „conjoint" bezeichnet und in denen die Interessen der Untergebenen mit denen der Herrschenden zusammenstimmen, wohingegen erzwungene Transfers zu Autoritätsverhältnissen führen, welche Coleman „disjoint" nennt und in denen diese K o m plementarität nicht gegeben ist (ebd.: 90). Diese Unterscheidung entspricht zwei Modellen politischer Herrschaft. Das Modell freiwilliger Zusammenschlüsse im Sinne der Vertragstheorien entspricht dem Modell der konjunkten Beziehungen, das eines auf Zwang gegründeten Verbandes den disjunkten Beziehungen (vgl. Buchanan 1993). 25
„The first principle referred to at the outset is that in-
terests in a norm arise when an action has similar externalities for a set o f others, when markets o f rights o f control o f the action cannot easily be established, and when no single actor can profitably engage in an exchange to gain such rights" (Coleman 1998: 42). Coases Frage lautete, warum es überhaupt Firmen gibt, wenn soziale Beziehungen doch auch über nicht-hierarchische Tauschbeziehungen (Märkte) gestaltbar sind. Coase beantwortete dies durch Transaktionskosten - sofern diese hoch sind, wird die Organisation zu einer zumindest potentiell effektiveren Form der Handlungskoordination. Bei Williamson (1990: 3 4 ff.) werden diese Transaktionskosten durch Faktorspezifizität spezifiziert: Immer dann, wenn diese ausgeprägt ist, wird die Organisation dem marktfbrmigen Vertrag vorgezogen.
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Personen betroffen sind. Im bilateralen Fall (und bei gegebenen Kommunikationsmöglichkeiten zwischen den betroffenen Personen) könnten die Kontrollrechte getauscht werden. Soziale Dilemmata kennen hier, so Coleman im Anschluss an Erling Schild und Gudmund Hernes, eine einfache Lösung: die Abgabe der individuellen Entscheidung an den jeweils anderen (ebd.: 253). Im Falle von drei Personen gelingt dies nicht mehr. Hier führt der jeweils bilaterale Tausch immer dazu, dass es für einen der Beteiligten rational bleibt, dem Tausch nicht zuzustimmen. Eine Norm wird damit unausweichlich, soll das Kooperationsproblem gelöst werden können (ebd.: 256). Damit ist geklärt, wann ein Normbedarf entsteht, noch nicht aber, warum die Norm auch wirkt, denn es ergibt sich ein soziales Dilemma zweiter Stufe: Normverstöße müssen sanktioniert werden, aber diese Sanktionen erzeugen ihrerseits Kosten (vgl. auch Coleman 1998: 52 ff). Die Sanktionsinstanzen stehen damit ebenfalls vor einem Free-rider-Problem: Wenn die Durchsetzung einer Norm im Interesse aller (oder im Falle von disjunkten Normen im Interesse einer bestimmten Subgruppe) ist, dann profitieren alle von der Sanktion, die Sanktionsinstanz aber trägt die Kosten. Dieses Free-rider-Problem zweiter Ordnung lasse sich - so Coleman - durch inkrementelles Sanktionieren lösen: Je mehr Personen sich beteiligen, umso geringer werden die jeweiligen Kosten (Coleman 1994c: 278 ff). Tatsächlich verringern sich im Falle inkrementellen Sanktionierens zwar die Kosten, gleichzeitig gilt aber weiterhin, dass es für die Beteiligten rationaler bleibt, sich nicht an der Sanktion zu beteiligen (vgl. auch Coleman 1990a: 271). Dies führt streng genommen zu einem Trittbrettfahrerproblem dritter Ordnung: Wer sanktioniert diejenigen, welche sich nicht an Sanktionen beteiligen? Aus einer konstitutionstheoretischen Sicht ist dieses Resultat streng genommen verheerend, denn Coleman kann dann gar nicht zeigen, wie Organisationen unter der Bedingung von rationaler Nutzenmaximierung überhaupt zustande kommen können, wie es also rationalen Egoisten gelingt, eine Organisation zu schaffen, welche das Ordnungsproblem überwindet (vgl. auch Kappelhoff 1992: 235 f.). Aus Colemans vertragstheoretischer Fassung des korporativen Akteurs ergibt sich eine weitere Schwierigkeit. D e m korporativen Akteur werden - so die oben dargestellte vertragstheoretische Hypothese dann Rechte eingeräumt, wenn diese Einräumung einen höheren Nutzen verspricht als die Nichteinräumung: „What criterion will a rational actor use to determine those actions over which rights o f control
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are to be transferred to the corporate actor? H e will
Grundsätzlich muss für Coleman auch organisa-
use the criterion o f rationality: Rights with respect
tionales Handeln a m Handeln von Subeinheiten
to an action will be transferred to the corporate actor
abgelesen werden. „How can the corporate actor be
i f the benefits (or costs) experienced in carrying out
conceived as having interests when all that can be
the action aggregated over all the occasions when
calculated from the internal functioning o f the sys-
one excepts to be in that position are less than the
tem are values, power o f (internal) actors, the equi-
costs (or benefits) experienced from externalities o f
librium distributions o f resources among the (inter-
the action aggregated over all the occasions when
nal) actors, and the outcomes o f indivisible events?"
one expects to be in that position" (Coleman 1994c:
(ebd.: 933) Coleman schlägt vor, der Idee „geoffen-
3 3 4 , vgl. auch 371). Aus der vertragstheoretischen
barter Präferenzen" zu folgen, d . h . „interests are
Sicht bleibt es aber unerfindlich, wie korporative
known only by inference from action" (Coleman
Akteure den Interessen der natürlichen Personen,
1994c: 9 3 3 , vgl. auch 527). 2 9 Das Beispiel, das Cole-
denen sie begegnen, widersprechen können, wie
man hier zur Illustration anführt, besteht in der
es die entsprechende Gesellschaftsdiagnose impli-
Entscheidung der Firma Ford, einen weiteren D e -
ziert. 2 6 Tatsächlich kann Coleman, wie Jeffrey C .
signer oder aber einen weiteren Ingenieur einzustel-
Alexander anmerkt, dieses Problem nur durch eine
len. Die Entscheidung zwischen einem Techniker
fragwürdige Temporalisierung lösen: Sobald kor-
oder einem Designer lässt sich auf die machtge-
porative Akteure existieren, verfügen sie über eine
wichteten Interessen der jeweiligen Abteilungen zu-
Option der Selbstreproduktion, welche sie von den
rückführen. 3 0 Sofern diese Systemanalyse auch für
Zustimmungsakten natürlicher Personen unabhän-
die Abteilungen gelten kann (nach den Prämissen
gig macht. 2 7 Diese Temporalisierung bietet aber
des Modells ist das gegeben), führt das a u f weitere
dann keine Lösung, wenn man Colemans Konzept
Möglichkeiten der Analyse des Abteilungsverhaltens
eines perfekten sozialen Systems folgt, denn in die-
selbst. Coleman hält dementsprechend fest: „If there
sem besteht keine Ungewissheit über die Folgen des
is a perfect social system at the lower level (within
eigenen Handelns (ebd.: 7 2 0 ) . D e r Tausch von Kon-
the corporate actor), the interest o f the higher-level
trollrechten steht immer unter der Prämisse eines
actor (the corporate actor) in a given resource is the
kalkulierbaren Nutzenertrags des Tauschs. 2 8
power-weighted sum o f interests o f lower-level actors in that resource" (ebd.: 937). Irritierenderweise zeigt
(c) Das perfekte soziale System
Colemans Beispiel nicht, wie Interessen jenseits der
Coleman müsste zeigen können, dass Organisatio-
führt sie wieder a u f diese zurück. 3 1 Offensichtlich
nen über eigene Interessen verfügen, was aber auch heißen muss, dass sie über Interessen verfügen, die weder mit den Interessen der Nutznießer (so aber Coleman 1 9 9 4 c : 333) noch mit denen der Agenten zusammenfallen. Verfügt der Ansatz aber über ausreichende Ressourcen, diese Interessen zu ermitteln?
„Thus, although one can conceive of a social contract among rational individuals as resulting in an optimal constitution, the existence of heterogeneity among individuals with respect to power and with respect to the mix of beneficiary and target interests will almost certainly lead to an excess of rights being transferred to the corporate actor" (Coleman 1994c: 348). 27 „Coleman's argument goes something like this. Contract theory describes an event only at time t; at t + 1, the originating contract no longer holds. The empowering transfer of rights occurs at time t; afterward, at time t + 1, it is oligarchy and power, not exchange and recognition, that rules" (Alexander 1992: 214). 28 „Im Kern bleibt das CM [Coleman-Modell] also ein Marktmodell für teilbare private Güter" (im Original kursiv; KappelhofF 1988: 110). 26
einzelnen
Systembestandteile
bestehen,
sondern
Vgl. dazu sehr überzeugend Grüne (2004). Formalisiert wird dies über eine Cobb-Douglas-Funktion der Nutzenproduktion. Interesse meint die jeweiligen Exponenten substituierbarer Güter. Bei Kenntnis der jeweils kontrollierten Gütermengen kann aus Handlungsentscheidungen für weitere Einheiten der Güter auf die Größe der jeweiligen Exponenten geschlossen werden (Coleman 1992c: 121). 31 Aus der Sicht von Tuomela (1993) wird damit der kollektive Charakter des Handelns aber immer noch übersehen — es fehlt die Intention, ein entsprechendes Resultat gemeinsam (jointness) hervorzubringen. Coleman fühlt sich hier missverstanden. Dasjenige, was Tuomela mit dem Konzept des Gemeinsamen zum Ausdruck bringen wolle, liegt für ihn bereits in der Interdependenz der Handelnden. Da diese aber durch die wechselseitigen Interessen an Ressourcen und der Kontrolle über diese bestimmt sind, ist das Handlungsresultat eine Folge genau dieser Interessen: „But it is straightforward to show that for the interests of the corporate actor in event j to be non-zero, no more than one member of the corporate actor need have a non-zero interest in that resource or event. In hierarchical organizations, this is the one person on the top, who is 29
30
Jens Greve: Interaktion-Organisation-Gesellschaft
gerät Coleman hier in einen klaren Widerspruch zu seiner an Weber geäußerten Kritik, dass dieser ein Interesse der Organisation als solcher nicht kenne, denn auch f ü r Coleman kann es eine solche in dieser Lesart nicht geben. Aus der Sicht eines perfekten sozialen Systems ist nicht verständlich zu machen, wie es zur Verschiebung von Machtpositionen kommen kann, welche den ursprünglichen Intentionen der Akteure widersprechen kann.
6. Schluss Für die Arbeiten von Coleman gilt, was sich für die Theorien rationaler Wahl verallgemeinern lässt, dass in ihnen eine der Luhmann'schen Trias entsprechende oder auch weitgehend ähnliche Ebenendifferenzierung fehlt. Das umfassende Sozialsystem Gesellschaft spielt f ü r die Theorien rationaler Wahl keine systematisch entscheidende Rolle, und dies lässt sich auch darauf zurückführen, dass sie in der Regel auf das Handeln Einzelner reduzieren (methodologischer Individualismus), tendenziell also eine Bottom-upStrategie der Erklärung vorliegt, wohingegen die Systemtheorie einen derartigen Reduktionismus weder im Hinblick auf Individuen noch im Hinblick auf einfachere Formen kennt. Typendifferenzierungen ermöglichen sich wechselseitig. Sie stellen Ausdifferenzierungen kommunikativer Verhältnisse her, welche zwar zunächst kaum geschieden sind, die sich aber gleichzeitig autonomisieren können. Die Interaktionsebene wird als Ebene der Face-toface-Beziehungen in den Theorien rationaler Wahl nicht gesondert abgehoben. Im Z e n t r u m der Typenbildung der Theorien rationaler Wahl stehen ganz allgemein Kooperationsprobleme (Maurer & Schmid 2010: 149 ff.). Eine nachrangige Rolle spielt dabei, in welchem M a ß e Anwesenheit gegeben ist. Dies kann zwar in Entscheidungssituationen eine Rolle spielen, beispielsweise dann, wenn es u m die Frage der Kommunikationsmöglichkeiten in Entscheidungssituationen geht (siehe oben zum Tausch von Entscheidungsrechten), oder dann, wenn bestimmte Aspekte der Situation als Signale aufgefasst werden. Eine sozialtheoretisch bedeutsame Differenz wird dadurch aber in der Rational Choice Theorie nicht formuliert.
interested in the corporate production (or profit) and is in control of incentives which are of interest to other agents who have no interest whatsoever in the corporate output" (Coleman 1993b: 65).
147 Für Organisationen, so haben wir gesehen, lässt sich am ehesten eine hervorgehobene Stellung finden. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass Organisation als ein zu erklärendes Phänomen erscheint: W a r u m überhaupt sollten Akteure Handlungsrechte an andere abgeben? Für Coleman f ü h r t dies zu einer Trennung der Interessen von natürlichen und korporativen Akteuren. Moderne Organisationen bilden aus seiner Sicht ein von natürlichen Personen unabhängiges soziales Gebilde. Colemans Gesellschafts- und Sozialtheorie stehen aber, wie wir gesehen haben, in einer Spannung zueinander. Erstens ergibt sich die Frage, ob sich das Akteurskonzept als analytisches Konzept generalisieren lässt und wie dies im Verhältnis zur Behauptung einer Sonderstellung natürlicher und korporativer Akteure steht. Zweitens liegt ein Widerspruch zur metatheoretischen A n n a h m e vor, dass natürliche Akteure die Stopppunkte einer Analyse bilden sollen. Drittens ist zu fragen, ob sich die Abgabe von Handlungsrechten an eine Organisation unter kontraktualistischen Prämissen überhaupt plausibel machen lässt. W e n n soziale Gebilde auf H a n d lungen beruhen, welche nutzenmaximierend sind, dann kann es keine Reproduktion sozialer Gebilde geben, welche nicht zumindest für eine Person mit Nutzenerwartungen verbunden ist. Eine Entfremdung von korporativen und natürlichen Personen kann es unter den Prämissen der Theorie nicht geben. Dies zeigte sich auch unter dem Gesichtspunkt der A n n a h m e eines perfekten sozialen Systems: Die Prämissen dieses Modells - perfekte Information, Abwesenheit von Transaktionskosten und klare Eigentumsverhältnisse (Braun & Voss 2014: 128) widersprechen grundlegend der Annahme, dass sich eine Verteilung von Handlungsrechten überhaupt ergeben kann, welche den Interessen derjenigen widersprechen kann, die diese Verteilung vornehmen. Die kontraktualistische Annahme, welche erklären soll, wie es überhaupt zu korporativen Akteuren kommen kann, und die A n n a h m e eines perfekten sozialen Systems, das die R ü c k f ü h r u n g auf die Nutzenerwägungen der einzelnen Akteure erlaubt, werden bei Coleman demnach, theoretisch unkontrolliert, mit einem Modell der Emergenz nicht mehr personalisierbarer Handlungsprozesse kombiniert. Aus dem kontraktualistischen Modell und dem Modell des perfekten sozialen Systems lässt sich aber eine Autonomie korporativen Handelns nicht begründen. Gesellschaftsdiagnose und handlungstheoretischer Reduktionismus geraten am Ende in einen Widerspruch. Aus der Sicht des reduktionis-
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tischen Modells kann es eine Unabhängigkeit von Organisationsinteressen nicht geben; aus der zeitdiagnostischen Sicht soll genau dies sich einstellen. Für die Systemtheorie ergeben sich diese Probleme nicht. In ihrem Zentrum stehen nicht Handlungskalküle Einzelner, sondern System/Umwelt-Beziehungen. Die Ableitung der Trias erweist sich hier nicht vom Gesichtspunkt der Konstitution durch Interessen abhängig, sondern von der Frage der Vollständigkeit (treten andere Ebenen auf?) und der Rechtfertigung autopoietischer Schließung der jeweiligen Systemoperationen. Für den Gesellschaftsbegriff ist zu klären, wie sich ein über den Summenbegriff des Sozialen hinausgehender Gebrauch des Begriffs rechtfertigen lässt. Wenn der Gesellschaftsbegriff das Ensemble der Funktionssysteme meint, 32 dann wird unklar, worin die Eigenleistung des Gesellschaftssystems liegt, d.h. worin die Autopoiesis der Gesellschaft als Gesellschaft besteht (Schwinn 2001; 2011; Göbel 2011; Greve 2008a). Dies lässt sich verallgemeinern: Wenn Organisationen (und Interaktionen) die Prozesse innerhalb von Funktionssystemen bestimmen würden, in welchem Maße vollziehen dann Funktionssysteme ihre eigene Autopoiesis? Kneer hat hier zu Recht drauf hingewiesen, dass die Idee autopoietischer Schließung grundbegrifflich auf strikte System/Umwelt-Beziehungen verweist. Organisationen können unter dieser Maßgabe nie „innerhalb" eines Funktionssystems operieren, sondern nur außerhalb. Dasselbe gilt entsprechend für Interaktionen und Organisationen. Schließung und Inklusivität, nicht Eigenständigkeit und Reduktion auf Handlung stehen hier in einem Spannungsverhältnis. Es soll nicht ausgeschlossen werden, dass sich innerhalb der Systemtheorie Bausteine finden lassen, mit deren Hilfe diese Spannung bearbeitet werden kann. Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit reicht es aber aus, die Problemlage zu identifizieren. Die grundlegenden Herausforderungen an Typen- und Ebenenunterscheidungen erweisen sich als abhängig von den Prämissen der jeweiligen Sozialtheorien: Individualismus und Autonomie von Ebenen stehen in der einen Tradition in einem Spannungsverhältnis, autopoietische Schließung und Teilhabe an den inneren Prozessen umfassenderer und enthaltener Systeme in der anderen. „Funktionssysteme sind für eigene Selbstorganisation und Selbstreproduktion freigesetzt. Das aber heißt, daß das Gesamtsystem sich nicht mehr durch operative Kontrolle, sondern nur noch über strukturelle Auswirkungen ihrer Differenzierungsform auf die Teilsysteme zur Geltung bringen kann" (Luhmann 1997: 42). 32
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 134-150
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Autorenvorstellung Jens Greve, geb. 1966 in Heidelberg, Studium der Philosophie und Soziologie in Frankfurt a . M . und Heidelberg. Promotion in Erfurt. Zunächst Wissenschaftlicher Angestellter an der Universität Mainz und Bielefeld, nach der Habilitation Lehrstuhlvertretungen in Erfurt, Kassel, Hamburg, Münster und Magdeburg. Derzeit Vertretung eines Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und soziologische Theorie an der Fakultät für Soziologie in Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Sozialtheorie, Weltgesellschaft und gesellschaftliche Differenzierung. Wichtigste Publikationen: Reduktiver Individualismus. Zum Programm und zur Rechtfertigung einer sozialtheoretischen Grundposition. Wiesbaden 2014; Emergence in Sociology: A Critique of Non-reductive Individualism. Philosophy of the Social Sciences 42, 2012; Globale Ungleichheit: Weltgesellschaftliche Perspektiven. Berliner Journal für Soziologie 2010; zuletzt in dieser Zeitschrift: Die Entdeckung der Weltgesellschaft. Entstehung und Grenzen der Weltgesellschaftstheorie (gemeinsam mit Bettina Heintz), ZfS Sonderheft 2005.
Historische Perspektiven
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft, 2014, S. 153-177
„Im umgekehrten Verhältnis". Zur Entdeckung der Ebenendifferenzierung in der ,bürgerlichen Gesellschaft' "In Inverse Proportion." On the Discovery of Level Differentiation in the "Civil Society" Michael Kauppert Institut für Sozialwissenschaften, Universität Hildesheim, Marienburger Platz 22, 31141 Hildesheim, Germany. [email protected]
Hartmann Tyrell Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld, Postfach 100131, 33501 Bielefeld, Germany. [email protected] Zusammenfassung: Der Aufsatz zeigt, dass es sich bei der von Niklas Luhmann vorgeschlagenen Unterscheidung von .Interaktion, Organisation, Gesellschaft' um eine Form von Differenzierung handelt, mit der von ihm verschiedene Ebenen des Sozialen beschrieben werden, die sich sowohl in der Gesellschaft als auch gegenüber von Gesellschaft etabliert haben. An der historischen Semantik von .Gesellschaft' wird aufgezeigt, inwiefern sich Luhmann damit in eine alteuropäische Tradition der Selbstreflexion des Gesellschaftssystems einreiht. Während er aus der von Aristoteles maßgeblich bestimmten Tradition der politischen Definition von Gesellschaft das inklusive Moment einer Differenzierung des Sozialen entlehnt, ist es das im 18. Jahrhundert einsetzende ökonomische Denken über Gesellschaft, dem Luhmann die Vorstellung abgewinnt, dass soziale Systeme durch die gesellschaftliche Evolution auf verschiedene Ebenen auseinandergezogen werden und in der Folge zueinander „im umgekehrten Verhältnis" stehen. Schlagworte: Historische Semantik; Differenzierung; Evolution; koinonía politiké; societas civilis; Aristoteles; Bernard Mandeville; commercial society; Arbeitsteilung; Adam Smith; invisible hand; Karl Marx. Summary: This contribution shows that the distinction "interaction, organization, society" proposed by Luhmann is concerned with a form of social differentiation with which he describes different social levels which have emerged both in society and in contrast to the society. On the basis of the historical semantics of "society" the contribution demonstrates that Luhmann is following a long European tradition of self-reflection vis-à-vis the system of society. While he borrows the inclusive moment of social differentiation from an Aristotelian tradition according to which society is politically, defined, it is the beginning of economic reflection on society in the 18th century which led Luhmann to the conviction that social systems are being pulled apart on different levels by societal evolution. As a result, social systems are placed in an inverse proportion to each other. Keywords: Historical Semantics; Differentiation; Evolution; Koinonía Politiké; Societas Civilis; Aristotle; Bernard Mandeville; Commercial Society; Division of Labor; Adam Smith; Invisible Hand; Karl Marx.
1.
Einleitung
Niklas Luhmann hat die Trias von .Interaktion, Organisation, Gesellschaft' (1975a: 9ff.) primär als Typologie eingeführt.1 So verwundert es nicht, dass ihre Rezeption weitgehend auf Sozialtheorie enggeführt ist. Die Standard-Formel lautet, dass es sich um drei ' Wir bedanken uns bei den Gutachtern für die umfangreiche Kritik einer früheren Version dieses Aufsatzes sowie bei Bettina Heintz für Geduld und guten Rat. Abermals gilt der Dank Klaus Dey für gründliches Gegenlesen.
Arten der Bildung sozialer Systeme handelt. Das ist nicht falsch, aber einseitig. Das Anliegen dieses Aufsatzes ist es zu zeigen, dass es sich bei der Typologie von Interaktion, Organisation, Gesellschaft (im Weiteren ,1-O-G') wesentlich auch um eine sozialtheoretisch verknappte und historisch ausgedünnte Version einer alteuropäischen Reflexionsgeschichte vorzugsweise eines der drei Typen handelt, nämlich Gesellschaft. ,1-O-G' hat einen evolutionären wie einen differenzierungstheoretischen Aspekt. Beides wird beim frühen Luhmann im Ausdruck .Ebenendifferenzierung' zusammengeführt (vgl. Luhmann, in diesem Band:
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6 ff), eine Wortwahl, die sich bei ihm allerdings nicht durchgehalten hat. Der Sache nach ist,Ebenendifferenzierung' jedoch bis ins Spätwerk hinein präsent. Man stößt auf sie insbesondere dort, wo Luhmann die verschiedenen Typen (oder Ebenen) sozialer Systembildung vergleichend erläutert - und dazu kontrastive Mittel der Darstellung wählt. Ein ums andere Mal führt die Verhältnisbestimmung auf direkte Gegensätzlichkeit: auf der einen Ebene gilt dies, auf der anderen „gilt das Gegenteil". 2 Die Rede ist gern auch vom ,Umkehrverhältnis'. Damit ist ein essentieller Gesichtspunkt, der die weiteren Darlegungen bestimmen wird, bereits beim Namen benannt. L u h m a n n hat sich vergleichsweise wenig Mühe gemacht, seinen früh unterbreiteteten Vorschlag der Unterscheidung von (nur) drei sozialen Systemen zu kontextualisieren. Aus der Sicht der soziologischen Fachgeschichte steht .Interaktion, Organisation, Gesellschaft', wie angedeutet, vorrangig als ein Beitrag zu einer Sozialtheorie da, überdies als einer, der deutlich ausschert aus den soziologischen Denkgewohnheiten der Nachkriegszeit und dem, was die Zusamm e n f ü h r u n g gerade dieser „drei Anwendungsfälle der Systemtheorie" angeht (1975a: 10), etwas Voluntaristisches anhaftet. Im vorliegenden Beitrag tritt die im engeren Sinne sozialtheoretische und fachgeschichtliche Sicht der Dinge aber in den Hintergrund; umso nachhaltiger ist, in Luhmann'scher Optik, auf die Gesellschaft und ihre Begriffsgeschichte Bezug genommen. Gewählt ist ein evolutionärer, man darf auch sagen: ein ,alteuropäisch-historischer' Zugang zu ,1-O-G'. Dieser ist eng verknüpft mit der Differenzierungsthematik, und er f ü h r t auf zweierlei Differenzierung' (Tyrell 2006). Unter Modernisierungsvorzeichen richtet sich der Blick damit einerseits auf funktionale Differenzierung und andererseits auf forcierte Ebenendifferenzierung, welch letztere Luhmann gern auch als ein ,Auseinandergezogenwerden' der Ebenen beschreibt. 3 Z u m Gesellschaftssystem
verhalten sich die beiden Differenzierungen je anders. Funktionale Differenzierung bezeichnet - wie auch segmentäre und stratifikatorische Differenzierung - eine Differenzierungsform der Gesellschaft höchstselbst. Ebenendifferenzierung hingegen steht für eine Differenzierung innerhalb der Gesellschaft, für eine solche aber, in der die Gesellschaft ,nach unten hin' von der Systembildung auf anderen Ebenen unterschieden wird: in der Gesellschaft also anderes als Gesellschaft. Oder genauer: Interaktionen und Organisationen in Differenz zu Gesellschaft. Beide Differenzierungen nun setzen einander, wie Luhm a n n betont, in sozialstruktureller Hinsicht wechselseitig voraus und steigern sich evolutionär aneinander. Und eben das lässt sich, wie wir in diesem Aufsatz zeigen wollen, mit der historischen Semantik von Gesellschaft in Verbindung bringen, ja an dieser ablesen (Luhmann 1977: 278 ff.). Dabei ist es uns u m die Gesellschaft als umfassende Einheit ebenso zu tun wie u m ,die Gesellschaft', deren Begriff am Gegensatz zu andersartiger Systembildung in ihr befestigt ist. 4 Nicht in die soziologische Fachgeschichte also gilt es hier die Luhmann'sche Unterscheidung von drei Arten der Bildung sozialer Systeme einzureihen, sondern in Kontinuitäten Alteuropas. Mit der Trias von ,1-O-G' knüpft L u h m a n n insbesondere an zwei Stränge alteuropäischer Gesellschaftsreflexion an. Der erste Strang, den wir im zweiten Abschnitt behandeln (2.), ist maßgeblich von Aristoteles bestimmt; er ist als solcher von einer bemerkenswerten historischen Kontinuität und betrifft ein politisch akzentuiertes und .dominiertes' Verständnis von Gesellschaft. Gemeint ist „die alte Lehre von der korporativ verfaßten, durch politische Ämter handlungsfähigen societas civilis" (ebd.: 278). Wenn man dabei den Gebrauch, den L u h m a n n von der aristotelisch-inklusiven Auffassung von Gesellschaft macht, auf Ebenendifferenzierung bezieht, dann rückt die eine Komponente dieser Art von Differenzierung des Sozialen stark in den Vorder-
2
Vgl. f ü r das Verhältnis von I n t e r a k t i o n u n d Gesells c h a f t e t w a L u h m a n n 1984: 566: „ I n t e r a k t i o n e n h a b e n w e n i g M ö g l i c h k e i t e n , s i m u l t a n operierende Subsysteme zu bilden. F ü r Gesellschaftssysteme gilt das Gegenteil." Z u s a m m e n f a s s e n d f ü r die Relation von O r g a n i s a t i o n u n d Gesellschaft K ü h l 2 0 0 3 : 4 4 f. 3
„Die gesellschaftliche Evolution f ü h r t zu zwei verschied e n a r t i g e n S t r u k t u r ä n d e r u n g e n , die zwar m i t e i n a n d e r z u s a m m e n h ä n g e n , aber begrifflich sorgfältig u n t e r s c h i e d e n w e r d e n m ü s s e n : D a s Gesellschaftssystem selbst ä n d e r t die Form seiner primären Differenzierung, es stellt sich von S c h i c h t u n g auf f u n k t i o n a l e D i f f e r e n z i e r u n g u m . [...] I m Z u s a m m e n h a n g d a m i t w e r d e n a u ß e r d e m Ebenen der Systembildung auseinandergezogen u n d deutlicher vonein-
a n d e r geschieden. Gesellschaftssysteme, O r g a n i s a t i o n s systeme u n d I n t e r a k t i o n s s y s t e m e sind verschiedenartige Sozialsysteme, sie verfolgen verschiedenartige Strategien der G r e n z z i e h u n g u n d G r e n z e r h a l t u n g gegenüber ihrer jeweils systemspezifischen U m w e l t , sie unterscheiden sich in ihren S t r u k t u r e n , ihren O r d n u n g s l e i s t u n g e n , in der f ü r sie erreichbaren Systemkomplexität" ( L u h m a n n 1977: 276f.; Hervorh. im Original). 4 F ü r die Letztere sei n u r a u f „die alte M a k r o / M i k r o T e r m i n o l o g i e von Zivilgesellschaft u n d häuslicher Gesells c h a f t ( p ò l i s / o i k o s ) " hingewiesen, die L u h m a n n (1981a: 393) der Vorgeschichte von , 1 - O - G ' z u r e c h n e t .
Michael Kauppert & Hartmann Tyrell: „Im umgekehrten Verhältnis" grand: Mit L u h m a n n (1975a: 18 ff.) kann man sie als das Ineinanderverschachteltsein von , Ι - Ο - G ' bezeichnen. Die andere Komponente der Ebenendifferenzierung, das Auseinandergezogensein der Ebenen, f ü h r t uns vor allem ins 18. Jahrhundert (und darüber hinaus) und zu dem „Begriff der (wirtschafts-) bürgerlichen Gesellschaft" (Luhmann 1977: 278 f.). N u n dominiert die Ökonomie und zugleich tritt die so beschriebene Gesellschaft in einen auffalligen Gegensatz einerseits zum kommerziellen Mikrogeschehen und zu den individuellen Intentionen und Interessen, die dieses bestimmen, sowie andererseits zu den Organisationen der Wirtschaft. Hier wird, wie im dritten Abschnitt (3.) gezeigt werden soll, die Ebenendifferenzierung entdeckt, und sie wird es in der Identifizierung von .Umkehrverhältnissen'. Die Entdecker heißen Bernard Mandeville u n d Adam Smith einerseits sowie Karl Marx andererseits. 5 Unsere These, dass es eine über die historische Semantik erschließbare Korrelation von Systemdifferenzierung und Ebenendifferenzierung (in) der Gesellschaft gibt, will nun allerdings nicht besagen, dass L u h m a n n seine Trias von .Interaktion, Organisation, Gesellschaft' dem semantischen Haushalt Alteuropas - unmittelbar oder mittelbar - entnommen habe oder hätte entnehmen können. Sie besagt zunächst nicht mehr (aber auch nicht weniger), als dass sich die Trias auf eine durch die historische Semantik bezeugte, evolutionär zustande gekommene Form einer Differenzierung innerhalb der Gesellschaft beziehen lässt, die wiederum eng an die Differenzierung (nur) des Gesellschaftssystems gekoppelt ist. Bemerkenswerterweise aber hat sich L u h m a n n selbst bemüht, das Begriffsterzett von ,Ι-Ο-G' im Sinne einer semantischen Umbesetzung von historisch rekonstruierbaren Positionen im Reflexionshaushalt Alteuropas auszulegen und in der Reflexionsgeschichte des Gesellschaftssystems zu platzieren. Auf diese ausdrückliche Ausstattung von ,Ι-Ο-G' mit einer alteuropäischen Vorgeschichte kommen wir im Schlussteil dieses Aufsatzes zu sprechen (4.).
5 Die Reflexionen der Autoren, die wir zurate ziehen, behandeln wir als semantische Indices. Sie indizieren, so unsere A n n a h m e , strukturelle Veränderungen der Gesellschaft. Uns steht vor Augen, dass das Verhältnis von Gesellschaftsstruktur u n d Semantik u n d die damit verbundene Frage nach ihrer (Un-)Trennbarkeit ein verwickeltes Problem ist. W i r tendieren in der Frage, wie sich die Sem a n t i k auf die Sozialstruktur bezieht, ob nun rekonstruktiv, antizipativ oder konstitutiv (vgl. Stichweh 2006), mit L u h m a n n zur „Nachträglichkeit der Semantik" (Stäheli 1998).
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2. Gesellschaft als umfassendes Sozialsystem Kein Satz von fremder H a n d ist innerhalb des Luhmann'schen Œuvres so häufig zitiert wie jener aus dem ersten Abschnitt des Ersten Buches der Politik des Aristoteles (1, 1252a 5-7), der die koinonia politiké näher bestimmt. Diese ist dort als die Gemeinschaft (koinonia) charakterisiert, „die von allen Gemeinschaften die bedeutendste ist und alle übrigen in sich umschließt". 6 Zunächst wollen wir zeigen, wie maßgeblich die von Aristoteles angestoßene politische Tradition der Gesellschaftsreflexion f ü r L u h m a n n gewesen ist. Von Aristoteles' inklusiver Definition der Gesellschaft macht L u h m a n n reichlich Gebrauch. 7 Einerseits bezieht er sich auf Aristoteles, indem er an ihm seine Unterscheidung zwischen sozialen Systemen (koinoniai) und dem Gesellschaftssystem (koinonia politiké) gewinnt. Andererseits greift L u h m a n n auf Aristoteles deshalb zurück, weil er in der von diesem der koinonia politiké zugeschriebenen Eigenschaft der Inklusion (periéchon) aller anderen koinoniai das Problem gesellschaftlicher (System-)Differenzierung erkennen zu können glaubt (2.1). Im Unterschied zu Luhm a n n und im Rückgriff auf Aristoteles wollen wir dagegen zeigen, dass es unter den möglichen Lesarten des periéchon in der aristotelischen Politik eine gibt, die sich nicht, wie es die Luhmann'sche Auslegung tut, auf Systemdifferenzierung (nur) von Gesellschaft kapriziert, sondern die vielmehr auf Ebenendifferenzierung in der Gesellschaft abstellt. Unsere These ist, dass Aristoteles an der Differenz der Herrschaftsverhältnisse in Polis und Oikos gezeigt hat, inwiefern die .umfassende Gemeinschaft' in ihrem Inneren ein Entgegensetztes hat, ein Verhältnis, das sich als Differenzierung von Ebenen sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch gegenüber 6
Vgl. L u h m a n n 1987: 73: „unter Gesellschaft versteht m a n heute das umfassendste Sozialsystem, fast wieder im Sinne des aristotelischen .pason kyriotáte kai pásas periéchousa tàs àlias'". 7
Eine subtile Befassung mit Aristoteles bietet der Artikel .Gesellschaft' (1970: 137ff.); vgl. auch L u h m a n n 1972c: 168 f., ferner — in Sachen „Selbst-Thematisierungen des Gesellschaftssystems" - 1973b: 27 f. (hier, in der ZfS, noch in griechischer Schrift!), vor allem auch 1981b: 212 ff. Was das gesellschaftstheoretische Spätwerk angeht, so sei n u r auf L u h m a n n 1997: 78ff., 931 ff., sowie auf 2005: 21 ff., verwiesen, wo er (ebd.: 22) sich geradezu den Kopf des Aristoteles zerbricht. Dass L u h m a n n s Verhandlung „des Verhältnisses von Politik u n d Gesellschaft" (2000a: 7 ff.) bei der antiken Polis ihren A n f a n g n i m m t , versteht sich.
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der Gesellschaft interpretieren lässt. Bei der Politik des Aristoteles handelt es sich daher nicht, wie m a n meinen könnte, n u r u m die F u n d g r u b e f ü r einen Autor, der aus eigensinnigen G r ü n d e n über die soziologische Fachgeschichte hinausgegriffen hat. In der Perspektive einer historischen Semantik von Gesellschaft erweist sich die aristotelische Politik vielmehr auch als ein f r ü h e r Beleg f ü r die Ebendifferenzierung des Sozialen (2.2).
2.1 Luhmann Aristoteles ist f ü r L u h m a n n ein bemerkenswerter Gesprächspartner. A n i h m entwickelt u n d gegen ihn konturiert er insbesondere die Unterscheidung von Sozial- u n d Gesellschaftstheorie. D u r c h seine sozialtheoretische Lesart von .koinonia' meint L u h m a n n an Aristoteles grundsätzlich anschließen zu können, o h n e dabei dessen gesellschaftstheoretische, namentlich politische Interpretation des Sozialen f ü r die Gegenwart ü b e r n e h m e n zu müssen (l). 8 E i n m a l etabliert, wird die Unterscheidung von Sozial- u n d Gesellschafstheorie von L u h m a n n auch dazu benutzt, eine Theorie der Gesellschaft zu formulieren, mit der er deren von Aristoteles überlieferten Geltungsanspruch auf Beschreibung der sozialen Wirklichkeit im G a n z e n sowohl a u f n e h m e n wie auch zurückweisen k a n n (2). Schließlich stellt Luhm a n n auch in logischer Hinsicht eine (Dis-)Kontinuität zu Alteuropa her: I n d e m er .Gesellschaft' in A n l e h n u n g an Aristoteles als das umfassende Sozialsystem definiert, verlagert er die von i h m in der aristotelischen Politik identifizierte Paradoxie in die eigene Theorie sozialer Systeme (3). A d 1: Sozial- u n d Gesellschaftstheorie sind bei Aristoteles, wie L u h m a n n betont, nicht auseinandergehalten worden. I n d e m die politische Gemeinschaft bei Aristoteles vor allen anderen Gemeinschaften rangiert, werde die Reflexion auf die koinonia als koinonia durch eine politische Theorie der Gesellschaft substituiert. Aristoteles beschreite daher gerade „nicht den Weg, der d e m griechischen D e n k e n doch näher gelegen hätte, den Gattungsbegriff koinonia als Träger des eigentlichen gesellschaftlichen Seins zu behaupten, sondern ein einzelner Anwendungsfall dieser G a t t u n g , die koinonia politike, erhält den ontologischen u n d ethischen Primat" ( L u h m a n n 1969: 253). Die antike P r ä d o m i n a n z eines ethischen
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Wir übersetzen .koinonia' im Weiteren, wie üblich, mit .Gemeinschaft', nehmen die .koinonia politiké' aber primär als .Gesellschaft'; vgl. aber Riedel 1974b: 803 ff.
Verständnisses von Politik blockiere aber nicht nur die Reflexion auf Sozialität. 9 Auch f ü r das, was heute als social sciences klassifiziert werde, stelle nicht ,das Soziale', sondern .Gesellschaft' die unausgesprochene Bezugsgröße dar. Für die A n f a n g e dieser Art des D e n k e n s gilt L u h m a n n zufolge: „Die Sozialwissenschaft k o m m t [...] als Theorie der politischen Gesellschaft auf den Weg" (ebd.). Angesichts dieser gesellschaftsträchtigen Tradition der Sozialwissenschaften dreht L u h m a n n die Fragestellung u m . Er interpretiert .Gesellschaft' seinerseits im Licht einer Theorie sozialer Systeme. So ist d a n n auch der Luhmann'sche Beitrag auf dem Frankfurter Soziologentag von 1968 mit der Frage befasst, „ob die Gesellschaft angemessen begriffen wird, w e n n m a n sie als System begreift" (ebd.). U n d es ist diese Frage, die es i h m abverlangt, an den „Anfang der alteuropäischen Gesellschaftsphilosophie" (ebd.) zurückzugehen - das aber heißt: zu Aristoteles. I n d e m L u h m a n n koinonia mit „Sozialsystem" übersetzt (etwa 1969: 253 f., 1970: 137 f., 1997: 78 ff.), macht er sichtbar, dass es bei Aristoteles keine Entsprechung zu einem von der Gesellschaft (koinonia, societas) „im formalen Sinne" ( L u h m a n n 1981a: 393) noch einmal abgehobenen (Kompakt-) Begriff der Gesellschaft gibt. Aristoteles selbst bedarf eines Beiwortes, u m Gesellschaft in jenem G a n z heitssinne zu definieren, der f ü r das Abendland m a ß geblich werden sollte: Gesellschaft ist die politische Gemeinschaft der (Voll-)Bürger. 10 L u h m a n n hingegen verweist die hierdurch angestoßene (Primat-)Frage nach der internen Differenzierung des Sozialsystems Gesellschaft in die Gesellschaftstheorie, wie er umgekehrt das Sozialsystem Gesellschaft durch die Eigenschaft des Umfassens (periéchon) charakterisiert, die bei Aristoteles zur Theorie der Gesellschaft gehört. W ä h r e n d f ü r diesen die koinonia politiké jene Gemeinschaft ist, „die alle anderen in sich schließt (pásas periéchousa tàs àlias)" ( L u h m a n n 1997: 78 f.), heißt es bei L u h m a n n schlicht: Gesellschaft ist das umfassende Sozialsystem. A d 2: Mittels der Unterscheidung von Sozial- u n d Gesellschaftstheorie lässt sich auch die durch Aristoteles überlieferte Tradition der Gesellschaftstheorie bei verminderten Geltungsansprüchen - von Luh9
A m ehesten noch k o m m t für L u h m a n n (1981b: 215) die aristotelische Theorie der Freundschaft (philia) dem nahe, was man heute als Sozialtheorie bezeichnen würde. 10 Für L u h m a n n (1970: 142) hat das ein Theoriedefizit der Gesellschaft zur Folge: „Der Grundbegriff selbst hat nie eine begründende Funktion erfüllt. Vielmehr hat das gesellschaftstheoretische Denken sich stets durch ein sehr viel konkreteres Problembewusstsein führen lassen."
Michael Kauppert & Hartmann Tyrell: „Im umgekehrten Verhältnis"
mann fortführen. Anders als es die Parallelisierung mit der antiken Problemstellung vermuten lässt, geht es in der Sozialtheorie Luhmann'scher Provenienz nicht um die koinonia schlechthin. Wesens- und Gattungsaussagen sind hier nicht formuliert. Und anders als bei Parsons geht es Luhmann auch nicht um The Social System. Eine Theorie des sozialen Systems (schlechthin) kann es für ihn nicht geben. Vielmehr übernimmt Luhmann in die Sozialtheorie die aristotelisch-gesellschaftstheoretische Prämisse von mehrerlei koinoniai - mit einer bemerkenswerten Veränderung: Die Theorie sozialer Systeme lässt sich für ihn nur im Plural einander KÌzùviztender (und wie wir in Abschnitt 3. noch sehen werden: gegeneinander relativierier) Systembildungen formulieren, Systeme also, bei denen die Gesellschaft (den Prätentionen ihres Kollektivsingulars zum Trotz) nur eines unter anderen ist. Für die Geltungsansprüche einer Theorie der Gesellschaft hat dies weitreichende Konsequenzen: „Wir schließen uns hiermit einer in der Soziologie immer wieder vertretenen Auffassung an, Soziologie könne oder solle sich nicht als Wissenschaft von der Gesellschaft begreifen. [...] Wir tun dies freilich aus entgegengesetzten Gründen: nicht um Gesellschaftstheorie (wegen Prämissenüberlastung) auszuschließen, sondern um sie (mit soziologisch noch klärbaren Prämissen) einzuschließen" (Luhmann 1984: 18, Hervorh. im Original). Wenn es also den sozialtheoretischen Prämissen zufolge richtig ist, dass es in der sozialen Wirklichkeit neben .Gesellschaft' auch noch .Interaktion und .Organisation' als eigenständige, nicht aufeinander reduzierbare Systembildungsarten gibt, dann führt Luhmanns Einschluss der Gesellschaftstheorie zum Ausschluss von deren überliefertem Anspruch auf Erkenntnis der gesamten sozialen Wirklichkeit. Eine über ihre sozialtheoretischen Prämissen aufgeklärte Gesellschaftstheorie betrifft insofern „zwar das umfassende Ganze, muß aber erkennen, daß es niemals möglich ist, das Ganze ganz zu erforschen" (Luhmann 1975a: 10). Ad 3: In den Augen Luhmanns hat Aristoteles mit der koinonia politiké eine koinonia zur allumfassenden und einen Teil der Gesellschaft zu ihrem Ganzen (v)erklärt. u Er habe diese Paradoxic „durch Emphase" aufgelöst, eine Technik, die „letztlich durch ein ethisches Verständnis von Politik" motiviert sei (Luhmann 1997: 80). Indem aber Luhmann seinerseits (in Gegenrichtung zu Aristoteles) .Gesell11
Vgl. (mit Bezugnahme auch auf L u h m a n n ) Riedel 1974b: 804 f.; zur aristotelischen .Politik'-Begrifflichkeit auch Sellin 1978: 793 ff.
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schaft' unter das Dach der sozialen Systeme zieht, sie in eine Reihe stellt mit Interaktionen und Organisationen, verlagert sich die Paradoxie aus der aristotelischen Politik in die Theorie sozialer Systeme: Das umfassende Sozialsystem ist zugleich eines unter anderen. Luhmann hat diese Paradoxie bei Aristoteles nicht nur zur Sprache gebracht und in der Unterscheidung von Sozial- und Gesellschaftstheorie weitergeführt; er hat sie durch deren Interpretation als eine Differenz von Ebenen im eigenen Theoriegebäude auch operationsfähig gehalten: „Wir entfalten diese Paradoxie durch die hier vorgeschlagene Unterscheidung von Ebenen der Analyse von Gesellschaft" (Luhmann 1997: 80). .Ebene' heißt hier nicht mehr, wie noch in den frühen Anwendungen, ein evolutionär zustande gekommenes Auseinandergezogensein von Systembildungen. .Ebene' bedeutet hier auch nicht mehr, wie noch in Soziale Systeme, eine Abstraktions- und Vergleichsebene. In Die Gesellschaft der Gesellschaft wird die Unterscheidung von Sozialund Gesellschaftstheorie als Mittel zur Entparadoxierung des von Aristoteles bezogenen logischen Grundproblems benutzt. Luhmann sieht in diesem alteuropäischen Schema „eine geniale und höchst erfolgreiche Auflösung der Paradoxie einer Einheit, die zugleich Vieles und Eines ist (unitas multiplex). Die Paradoxie wird auf zwei Ebenen verteilt, die auseinandergehalten werden, ohne daß die Einheit dessen, was auseinandergehalten wird, thematisiert werden müßte. Die eine Ebene wird durch das Ganze gebildet, die andere durch die Teile" (1997: 912 f.). Fragt man nun, warum der späte Luhmann an der aristotelischen (Selbst-)Beschreibung der städtischen Lebensgemeinschaft insbesondere deren logisches Problem in den Vordergrund treten lässt, stößt man nicht nur darauf, dass ein antikes Problem und sein alteuropäisches Bearbeitungsmuster in der und durch die Theorie sozialer Systeme fortleben. Es fallt auch auf, dass Luhmanns paradoxiefreudige ,Kommunikation mit Aristoteles' ihm behilflich ist, gegenüber der zeitgenössischen deutschen Gesellschaftstheorie Distanz zu wahren. Denn wenn Gesellschaft einesteils das umfassende Sozialsystem ist, es andernteils mit Interaktion und Organisation aber noch andere Arten von sozialen Systemen gibt, dann heißt dies: Gesellschaft enthält in sich selbst anderes als sich selbst. Die logisch akzentuierte Selbstanbindung Luhmanns an das aristotelische Gesellschaftsverständnis aber führt zeitgenössisch in den Dissens zu Theodor W. Adorno. Für Luhmann wie für Adorno ist .Gesellschaft' nicht mit sich selbst identisch. Im Unterschied zu Adorno hat Luhmann jedoch keinen totalen Gesell-
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schaftsbegriff. 12 Adorno wollte weder neben noch innerhalb noch unterhalb ,der Gesellschaft anderes und eigenständig Soziales tolerieren. Sein soziologisches Erkenntnisinteresse ging stattdessen dahin, noch am sozial Ephemeren (am Nahkontakt zu zweien etwa) die ,totale Vergesellschaftung' sichtbar zu machen. Luhmanns innergesellschaftliche Devise war dagegen die von „Kommunikationsfreiheit" (1965: 84 ff.), von „frei gebildeten Interaktionen" (1984: 551 ff.) und ebenso vom Neugründungsprinzip von Organisationen. Das alles sollte durch die systemtheoretische Reformulierung des aristotelischen Gesellschaftsbegriffs miteinander kompatibel gemacht werden. Die (seinerzeit) soziologieunübliche Unterscheidung von Sozial- und Gesellschaftstheorie half, den Prätentionen des Gesellschaftsbegriffs à la Adorno zu widerstehen. Die Gesellschaft muss bei L u h m a n n andere Sozialsysteme neben und in sich zulassen. Weil aber der Luhmann'sche Gesellschaftsbegriff sozialtheoretisch eingehegt ist, kann ihm die (aristotelische) Eigenschaft des Umfassens belassen werden. Nur so ist es jetzt noch denkbar, dass auch die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft alles Soziale zwar umfassen kann, nicht jedoch auf alles Soziale auch durchzugreifen vermag. Ein Absolutismus der Gesellschaft ist bei L u h m a n n gerade modernitätsbezogen ausgeschlossen. Neben der dem Stagiriten abgewonnenen Unterscheidung von Sozial- und Gesellschaftstheorie hat sich L u h m a n n auf Aristoteles aber auch bezogen, weil er in der inklusiven Eigenschaft (periéchon) der koinonía politiké das Problem gesellschaftlicher (System-)Differenzierung erkennen zu können glaubte. Das ,periéchon' lässt sich insofern nicht nur logisch, sondern auch differenzierungstheoretisch interpretieren, ein Aspekt, auf den L u h m a n n selbst verschiedentlich zu sprechen gekommen ist und dem wir uns nun zuwenden wollen. In Die Gesellschaft der Gesellschaft ist Aristoteles auf zweierlei Weise Gesprächspartner: Z u m einen, und im Allgemeinen, ist es die Unterscheidung von System und Umwelt, durch die L u h m a n n das aristotelische Schema von (einem) Ganzen und (seinen) Teilen abgelöst sehen will. Z u m anderen, und im Besonderen, soll durch die Differenz von System und Umwelt auch die Eigenschaft des Umfassens
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Vgl. n u r A d o r n o 1970: 137 ff.; explizite G e g e n r e d e d a z u bei L u h m a n n 1969: 254. Z u r .Theorie der Gesellschaft' bei A d o r n o zuletzt der kritische U b e r b l i c k von Lichtblau 2012.
substituiert werden. 13 Auf diese Weise sehen sich die einander implizierenden Unterscheidungen Ganzes / Teil und Umfassendes / Umfasstes in das Theorem der Systemdifferenzierung überführt. Insbesondere deswegen glaubt L u h m a n n sagen zu können, dass er alle Komponenten des von Aristoteles her überlieferten Gesellschaftsbegriffs auf signifikante Weise umbesetzt habe - „einschließlich des Begriffs des Eingeschlossenseins = periéchon, den wir mit dem Konzept der Differenzierung systemtheoretisch auflösen werden" (1997: 79). Die Theorie der Systemdifferenzierung - der „Wiederholung der Systembildung in Systemen" (Luhmann 1984: 37) - hält den „Zusammenhang mit der alteuropäischen Tradition" fest und tut es durch „eine Neubeschreibung (...) ihrer Kernaussagen" (1997: 79): „Systemdifferenzierung heißt gerade nicht, daß das Ganze in Teile zerlegt wird und, auf dieser Ebene gesehen, dann nur noch aus den Teilen und den ,Beziehungen' zwischen den Teilen besteht. Vielmehr rekonstruiert jedes Teilsystem das umfassende System, dem es angehört und das es mitvollzieht, durch eine eigene (teilsystemspezifische) Differenz von System und Umwelt" (ebd.: 598, Hervorh. im Original). Indem L u h m a n n das aristotelische periéchon durch ,Systemdifferenzierung' ersetzt, beschränkt er allerdings die Reichweite dessen, was Gesellschaft enthalten kann, auf (nur) ein soziales System. Was Gesellschaft' enthält, das sind aus gesellschaftstheoretischer Sicht entweder Segmente oder Schichten oder auch Funktionssysteme - nicht jedoch Organisationen und Interaktionen. Insofern muss bei L u h m a n n von zweierlei Differenzierung (Tyrell 2006) gesprochen werden: von der (evolutionären) Differenzierung des Gesellschaftssystems einerseits und der Differenzierung des Sozialen nach Interaktion, Organisation, Gesellschaft andererseits. Unter die erste Art von Differenzierung fallt der von Aristoteles überlieferte und von L u h m a n n für die Moderne verneinte gesellschaftliche Primat der Politik. Die zweite Art bezieht sich nicht nur auf eine Differenzierung im Gesellschaftssystem, sondern auch auf eine zwischen Systemen, eine, die Gesellschaft, Organisationen und Interaktionen ,auseinanderzieht' und markante Interdependenzunterbrechungen zwischen ihnen etabliert. Interaktion und Organisation stellen hier soziale Systeme .diesseits der Gesellschaft' dar und 13 „Die alte Vorstellung des G e h a l t e n s e i n s d u r c h ein u m f a s s e n d e s G a n z e s (periéchon), das seinerseits ins U n vertraute ü b e r g e h t u n d d a d u r c h gehalten ist, w i r d aufgegeben u n d d u r c h die Differenz von System u n d U m w e l t ersetzt" ( L u h m a n n 1987: 272).
Michael Kauppert & Hartmann Tyrell: „Im umgekehrten Verhältnis" sind nichtsdestotrotz von Gesellschaft mit umfasst. Es geht hier, mit anderen Worten, um eine Differenzierungsform, die imstande ist, in sich das Auseinander von sozialen Systemen mit ihrem Ineinander zu vereinen. Eben darüber gibt Luhmanns Aufsatz über Anwendungen der Systemtheorie von 1975 Auskunft. In ihm ist nicht nur die sozialtheoretische, sondern auch die evolutions- und differenzierungstheoretische Dimension von ,Ι-Ο-G' zur Sprache gebracht. Während die Trias von Luhmann in sozialtheoretischer Hinsicht als ein Nebeneinander von Systembildungstypen präsentiert wird, stellt er unter einem evolutionären Gesichtspunkt das Auseinandergezogensein von ,Ι-Ο-G' heraus und spricht von .Ebenendifferenzierung'.14 Die aber hat eine Kehrseite und ist unabdingbar verbunden mit einem Ineinander. Luhmann spricht von den „Verschachtelungsverhältnissen" (1975a: 21) zwischen Interaktion, Organisation und Gesellschaft.15 Aber mehr noch: „Im Unterschied zu Systemdifferenzierung bedeutet Ebenendifferenzierung keine vollständige Trennung der Systeme. (...) Natürlich schließt jede Gesellschaft eine Vielzahl von Interaktionen und gegebenenfalls eine Vielzahl von Organisationen ein; Gesellschaft ist für diese eingeschlossenen Systeme daher immer beides: das eigene System und die gesellschaftliche Umwelt. Auch Organisationen und Interaktionen sind insofern gesellschaftliche Systeme, die Gesellschaft hört nicht etwa an ihren Grenzen auf" (1977: 277). Der frühe Luhmann fasst in ,Ebenendifferenzierung' evolutionäre und differenzierungstheoretische Aspekte der Gesellschaft zusammen - um 20 Jahre später daran allerdings ein Problem zu markieren: „Das Problem der gesellschaftlichen Verschachtelung operativ geschlossener autopoietischer Systeme" liege „in der Frage, wie es möglich ist, daß ein soziales System in einem anderen eine eigene autopoietische Reproduktion auf der
14 „Man kann die soziokulturelle Evolution beschreiben als zunehmende Differenzierung der Ebenen, auf denen sich Interaktionssysteme, Organisationssysteme und Gesellschaftssysteme bilden" (Luhmann 1975a: 15); vgl. auch Luhmann, in diesem Band. 15 „So gehört jedes Interaktionssystem und jedes Organisationssystem auch zu einem Gesellschaftssystem, und ein Interaktionssystem kann, braucht aber nicht einer Organisation anzugehören" (Luhmann 1975a: 22). Die Verschachtelungsverhältnisse von ,Ι-Ο-G' sind rekonstruierbar auch als inklusive Hierarchie von Komplexität (Stichweh 1991: 112; Heintz2004: 21 ff.).
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Basis operativer Geschlossenheit einrichten kann" (Luhmann 1997: 562).16 Wir meinen nun, dass die Verschachtelungsverhältnisse' wesentlich mitzubedenken sind, wenn die spezifische Differenzierungsform des Sozialen nach Interaktion, Organiation und Gesellschaft im Sinne Luhmanns angemessen beschrieben werden soll. Eben darin und nicht durch die Systemdifferenzierung (nur) der Gesellschaft, lässt sich das aristotelische periéchon bei Luhmann theoriestellenadäquat reformulieren. Bereits Aristoteles kennt das Bezugsproblem einer Differenzierung des Sozialen: Wie geht der integrierende Aspekt (nur) einer koinonfa mit dem differentiellen Aspekt der vielen koinonfai zusammen? Wie lässt sich verstehen, dass (vom Standpunkt der koinonía politiké aus gesehen) eine koinonfa alle anderen koinonfai in sich umschließt, während umgekehrt (vom Standpunkt der vielen koinonfai aus gesehen) diese gegenüber jener selbstständig sind? Ohne auf das antike Hintergrundverständnis des periéchon hier näher eingehen zu können, wollen wir im Folgenden diese Fragen in der aristotelischen Politik und Nikomachischen Ethik diskutieren.17
2.2 Aristoteles Bei Aristoteles lassen sich drei Ansätze erkennen, das Problem des Enthaltenseins der vielen koinonfai in der konionfa politiké zu lösen. Alle drei Anläufe sind als semantische Korrelate von sozialstrukturellen Veränderungen lesbar, die die „entstehende, politisch sich selbst regierende Stadt" (Luhmann 1981b: 213) mit sich bringt. Mit der Finalisierung der Polis werden zunächst die Ansprüche der Tradition auf unbesehene Fortgeltung ihrer Autorität gekappt (1); das Übergreifen des Verschiedenen durch Freundschaft
16 Bereits in Soziale Systeme hat Luhmann (1984: 553) notiert, dass „das Nichtzusammenfallen dieser beiden Distinktionen System / Umwelt und Gesellschaft/Interaktion (...) eine erhebliche Belastung für eine allgemeine Theorie sozialer Systeme" darstellt. 17 Immerhin sei zum Verständnis des periéchon auf die Physik des Aristoteles hingewiesen. In seiner Theorie des Ortes (topos) hat Aristoteles das Verhältnis von Umfassendem und Umfasstem nicht als das des Ganzen zu seinen Teilen konzipiert. Umfassendes und Umfasstes seien „durch Trennbarkeit unterschieden" (Physik IV. 211 a 43 f)· Bei der Relation Ganzes/Teil handelt es sich insofern um ein Verhältnis der Kontinuität und nicht — wie beim Umfassen - um eines der Kontiguität. Zur Begriffsgeschichte von ,periéchon' vgl. Spitzer 1942.
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zeigt weiter an, dass im Innenverhältnis der Polis die Reduktion von Differenzen wichtiger wird als es in traditionellen Gesellschaften der Fall ist (2.); durch die Ebenendifferenzierung von Herrschaft in Oikos und Polis entkoppelt sich schließlich auch die politische von der stratifikatorischen Ordnung der Gesellschaft (3.)· Ad 1: Gleich zu Beginn des Ersten Buches der Politik wird von Aristoteles nahegelegt, das Problem des Enthaltenseins der vielen koinoniai in der einen koinonia sei durch Finalisierung bereits gelöst. Jede Gemeinschaft, heißt es dort, werde gebildet, weil man mit ihr einen Zweck verfolge. Diejenige Gemeinschaft wiederum, die sich nicht als Zweckgemeinschaft versteht, sondern als eine, in der die Gemeinschaft (sich) selbst zum Zweck wird, erachtet Aristoteles als die letzte, beste und höchste Gemeinschaft von allen. Dieses Kriterium erfüllt für ihn die koinonia politiké, die sich „auf das unter allen bedeutendste Gut" (Pol. 1 1252 a 5) richtet. Die Selbstreferenz der koinonia politiké sieht Aristoteles in der Autarkie; sie ist das „Ziel und das Beste" (1, 1252 b 27 ff.). Ein starker Akzent ist andernorts, besonders prägnant in der Nikomachischen Ethik (VIII, 1160 a 10 ff.), auf den .gemeinsamen Nutzen' gelegt, der die politische Gemeinschaft bindet, im Gegensatz zu den spezifischen und partikularen Zwecken der vielen anderen Gemeinschaften. Was „das Umwillen und den Zweck der Polis" angeht, so liegt mit Joachim Ritter (1969: 119) der stärkste Akzent aber darauf, „das ethisch verfaßte Leben der Bürger als Freier möglich zu machen". Mit Nachdruck heißt es in der Politik (3, 1280 b 30 ff.), dass „der Staat nicht eine bloße Gemeinschaft des Wohnorts ist oder nur zur Verhütung gegenseitiger ungerechter Beeinträchtigungen und zur Förderung des Tauschverkehrs da ist". Das alles muss gegeben sein, aber ,der Staat' kommt zu sich selbst erst darin, dass er eine „Gemeinschaft von Familien und Geschlechtern {genos) in einem guten Leben {eu zen) ist, zum Zweck eines vollendeten und sich selbst genügenden {autarkes) Lebens." Man sieht schnell: in und durch die koinonia politiké werden, wie Luhmann (1981: 214) bemerkt hat, „die letzten Ziele des Menschseins erfüllt". So weitreichend damit das Telos der politischen Gemeinschaft formuliert ist, so wenig irritiert es Aristoteles, dass dieser Zweck nicht auch schon die Frühentwicklung der aus Häusern und Dörfern nach und nach sich bildenden Polis bestimmt. Diese ist „zunächst um des bloßen Lebens willen entstanden", sie besteht aber „um des guten Lebens willen" (1, 1252 b 29) fort. Aristoteles steht klar vor Augen, dass die
bloße kooperative Erhaltung des Lebens den .Synoikismus' auf den Weg gebracht hat und dieser dann nach und nach erst die politische Gemeinschaftsbildung (3, 1278 b 15 ff.). Das hindert ihn aber nicht, davon auszugehen, dass die ,umfassende Gemeinschaft' - als bestehende - den Gemeinschaften der einzelnen Häuser in ihr vorausliegt; explizit wird ihr „von Natur" die größere .Ursprünglichkeit' diesen gegenüber zugesprochen (1, 1253a 20; vgl. Kamp 1985: 110 f.). Achtet man nun auf den differenzierungstheoretischen Ertrag, den diese Art des Enthaltens durch „normative Identifikation" (Luhmann 1981b: 218) abwirft, so wird die städtische Lebensgemeinschaft von Aristoteles als umfassend beschrieben, weil von ihr aus gesehen die Zwecke aller anderen Gemeinschaften nicht nur als partikular erscheinen, sondern sich auch so darstellen lassen, dass sie sich zur koinonia politiké als ihrem obersten, letzten und bedeutsamsten Zweck zusammenschließen. Das Ganze enthält insofern nicht einfach Teile, sondern diese sind ihrerseits Mittel zu einem übergreifenden Zweck, von dem sie (mit-)verursacht sind. Was den sozialstrukturellen Hintergrund der politischen Reflexion des Aristoteles anbelangt, so besteht er für Ritter (2003: 121, 126 ff.) in einer „Legitimitätskrise" der politischen Institutionen und im Geltungsverlust der „Autorität der Väter und Alten".18 In dieser Konstellation finde die praktische Philosophie, die auf das Ende und den Zweck hin denke, die Freiheit, sich vom Anfang und seinem Anspruch auf traditionale Fortgeltung zu lösen. Luhmann (1981b: 214) spricht in diesem Zusammenhang vom aristotelischen „Abhängen älterer Begründungsdebatten durch Teleologisierung." Ad 2: So wenig es sich bei .koinonia' um einen von Aristoteles genauer bestimmten Begriff handelt, so weitläufig ist der Gebrauch, den er von diesem Ausdruck macht. Der Begriff bezieht sich „auf alle sozietären Verbindungen und Zusammenhänge, gleichgültig, ob es sich dabei um natürlich-familienhafte, durch Neigung und Gewohnheiten bejahte Zusammenhänge oder um willkürlich-vereinbarte, um eines äußeren Zweckes willen gewollte und rechtlich befestigte Verbindungen handelt" (Riedel 1974b: 804; Hervorhebung durch die Verf.).19 Unabhängig davon, ob es sich bei den vielen und verschiedenen koinoniai, „die im Verkehr der Bürger entstehen" (ebd.), um Verwandtschaftsverbände, 18
Ähnlichkeiten zu Ritter finden sich auch in L u h m a n n
1970: 137. 19
Z u r griechisch-hellenistischen Gemeinschaftssemantik
im Allgemeinen vgl. Popkes 1976: 1102 ff.
Michael Kauppert & Hartmann Tyrell: „Im umgekehrten Verhältnis"
Kameradschaften, Kultgemeinschaften, Kriegsgenossenschaften, Handelsvereinigungen oder um die Zusammengehörigkeit einer phyle oder eines demos handelt - für Aristoteles sind „alle Gemeinschaften Teile der staatlichen Gemeinschaft" (Nik Eth. VIII, 1160 a 25). Die verschiedenen koinoniai können nur die interne Diversität der Polis bezeugen, weil ohne Einschränkung gilt: die koinonía politiké „umfaßt das gesamte Leben" (Nik Eth. VIII, 1160 a 21). Damit ist ein weiteres Angebot für das Verständnis des periéchon gemacht: Die Polis hält und ,enthält' etwas so wie ein Rahmen ein Bild. Es gibt dieser Lesart zufolge keinen letzten Zweck, der auf die verschiedenen koinoniai übergreifen könnte (wie durch Finalisierung); die koinonía politiké beschränkt sich darauf, das Nebeneinandersein einer Vielzahl und das Beieinandersein einer Verschiedenheit von Gemeinschaften zu umgreifen und zu umfassen. Das besagt freilich noch nichts über deren soziale Inklusivität. Frauen, Kinder, Sklaven, Metöken (wie Aristoteles selbst in Athen) - sie alle sehen sich (dem Stagiriten zufolge) auch dann noch von der koinonía politiké umfasst, wenn sie selbst gar nicht jenem Personenverband angehören, dessen Mitglieder Anteil an der Ratsversammlung und dem Gerichtshof einer Stadt haben, durch welchen die Gemeinschaft der Vollbürger gekennzeichnet ist (Pol. III, 1275 b 15 ff). So richtig es also ist, dass die koinonía politiké nur aus bestimmten Menschen besteht, so wenig lässt sich damit schon die Frage beantworten, wie sie auch all jene Menschen soll umfassen können, die ihr gar nicht zugehören - und die dennoch da sind. Bei Aristoteles findet sich eine bemerkenswerte Antwort: Die koinonía politiké enthält Freundschaften (philias).20 In der Nikomachischen Ethik (VIII, 1160 a 10 ff) werden die verschiedenen koinoniai von Aristoteles nach dem Zweck unterschieden, der mit ihnen verfolgt wird. Aristoteles kennt Interessensgemeinschaften (Nutzen), Geselligkeitsvereine (Vergnügen) und solche Assoziationen, die, wie bei der Tugendfreundschaft, um ihrer selbst willen eingegangen werden - und gerade darin der polis am nächsten stehen. Wer Tugendfreundschaft praktiziert, der partizipiert in sittlicher Hinsicht an Selbstreferenz; und durch Selbstreferenz wiederum ist die Selbstherrschaft der einander Gleichen in der koinonía politiké charakterisiert. Damit findet Aristoteles auf einen Weg zurück, von dem es schien, als sei er davon mit der Interpretation des periéchon als eines bloß Umgreifenden (nicht: als eines Unterschiede Über-
20
Dazu instruktiv L u h m a n n 1981b: 212 ff.
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greifenden) abgekommen. Die koinonía politiké .enthält' in sich nicht schon deswegen alle anderen koinoniai, weil sie diese wie von außen umfasst und umschließt. Mit der (Tugend-)Freundschaft tritt bei Aristoteles ein die Unterschiede zwischen den verschiedenen koinoniai übergreifendes, die Ordnung der Stadt und die Ansprüche des Rechts in Rechnung stellendes Prinzip hinzu. Diese bei Aristoteles so überaus starke Betonung der philta kann mit Luhmann als semantischer Beleg für eine Veränderung in der Gesellschaftsstruktur gelesen werden. Anders als in segmentären Gesellschaften würden im antiken Stadtstaat die Grenzen von Freundschaft und Feindschaft verschwimmen. Und das wiederum heißt für Luhmann (1981b: 214): „Freundschaften werden für die Innenverhältnisse der Stadt und ihr gutes Gelingen wichtiger als Feindschaften". Ad 3. Die Politik des Aristoteles handelt nicht nur von .politischer Herrschaft'. Indem sie die Lehre von der Verwaltung des Hauses (oikonomia) integriert und gleich im ersten Buch prominent verhandelt, ist in ihr auch die .monarchische' Hausherrschaft Thema. 21 Vorrangig behandelt und für .natürlich' befunden (Bien 1973: 203 ff.) ist dabei - als Reinform von Herrschaft - die Herrschaft über Sklaven (despoteia).21 Insgesamt aber gilt die Herrschaftsbestimmtheit für die drei unterschiedlichen .koinoniai', deren Zusammenkommen den Oikos konstituiert (1, 1253 b): für die angesprochene Despotie des Hausherrn über die Sklaven und weiterhin für seine Herrschaft in der Ehe sowie die über die Kinder. 23 In Gänze ist das ,ganze Haus' (etwa 3, 1278 b 31 fF.) auf den monarchischen Hausherrn hin konzipiert, und von seinem Herrn her bezieht es seine Einheit (Brunner 1966: 34 ff.).24 Den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Herrschafts21
Die Herrschaft im Oikos ist — im Unterschied zur Polis — immer monarchisch, „denn jedes Haus wird von einem einzigen verwaltet" (1, 1255 b 20). Zu Haus und Herrschaft insbes. Koslowski 1979: 64 ff. 22 Folgt man Olof Gigon (1973: 25), dann ist diese exzessive Befassung mit dem Verhältnis von Herrn und Sklaven eine „Sonderlehre des Aristoteles, mit der er unter den griechischen Philosophen so ziemlich allein steht." Sie hat es mit einer sozialen Ungleichheit zu tun, die ihre strukturelle Verankerung zunächst in den häuslichen Verhältnissen hat. 23
Wobei Aristoteles allerdings nachhaltig bemüht ist, die beiden Letzteren von der Ersteren wegzurücken (Bien 1973: 302 f.) 24 Auch über das Haus hinaus versteht Aristoteles Sozialbeziehungen tendenziell als herrschaftsförmig, vgl. Riedel 1975b: 803 ff.
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formen von Oikos und Polis aber stellt Aristoteles durch Rollendifferenzierung her: Die Subjekte des politischen Lebens der Stadt, also die freien und öffentlich .mitredenden Bürger sind zugleich und im Privaten: Hausherren. Ihre Gemeinschaft ist für die Polis konstitutiv (Stahl 2003: 25), und in der Volksversammlung versammeln sich, stellt man die Rekrutierungsfrage, die Monarchen der Häuser der Stadt. Indem die koinonia politiké alle diese Herrschaftsverbände in Gestalt der Vollbürger enthält, hält sie die verschiedenen koinoniai zugleich auseinander (durch Rollendifferenzierung) und zusammen (durch die Einheit der Person).25 Was nun das Auseinanderhalten — und also den Gegensatz - der Herrschaftsverhältnisse von Polis und Oikos betrifft (Riedel 1975a: 721 ff.), so kommt es zunächst darauf an, dass das Haus die Herrschaft über Unfreie, über Sklaven beinhaltet, die ,arché' des ,politikós' dagegen „eine Herrschaft über Freie und Gleichgestellte" bedeutet (1, 1252 b 20). Der Herrschaft des ,oikodespótes' wohnt immer ein Moment der physischen Gewalt inne (1, 1253 b 23). Die politische Herrschaft dagegen baut nach dem aristotelischen Anspruch und Verständnis aufs Recht, und der gemeinsame Nutzen, auf den diese Herrschaft zielt, hat, wenn sie denn eine „nach dem Recht" ist, explizit den Nutzen der Bürger (nicht der jeweils Herrschenden) im Sinn (3, 1279 a 18 f.). Während späterhin das frühneuzeitliche Denken dazu tendierte, die Häuser und die Hausväter der politischherrschaftlichen Ordnung als deren unterste Stufe zu integrieren (vgl. Schwab 1975: 262 ff.), war den Griechen keine durchgehende Hierarchie im Sinn, die die Häuser und ihr ,idion' der Politik subordinierte. 26 Und ebenso wenig konnte ihnen umgekehrt die .politische Ordnung' bloßer Appendix oder gar eine .Kolonie' der Hausherrschaften sein.27 Im Übrigen verlängerten sich auch die Differenzierungen in der städtischen Arbeitswelt nicht in die politische 25
L u h m a n n (1981b: 219) spricht in diesem Zusammenhang von „Rollenwechsel", durch den Aristoteles die (Herrschafts-)Differenz zwischen Polis und Oikos operationalisiere. 26 Das schließt politisch-gesetzgeberische Bemühungen u m den Oikos nicht aus; m a n denke an die Solonische Gesetzgebung zur „Erhaltung der Häuser" in der Absicht, „durch die Vermehrung bzw. Sanierung der Bauernstellen die Hoplitenstreitmacht der Polis auf Dauer zu stärken" (Spahn 1980: 549). 27
Vgl. das (auf das Dorf (kome) bezogene) „apoikia oikias" (1, 1252 b 17), wovon L u h m a n n (1972c: 169, A n m . 74) allerdings meint, es werde „irreführend mit .Kolonie der Häuser' übersetzt".
Ordnung hinein. 28 Man darf also sagen: So sehr Polis und Oikos je für sich Herrschaftsverhältnisse darstellen, so wenig ist beider Relation zueinander als Herrschaftsverhältnis zu verstehen. Auszugehen ist zwischen Polis und Oikos vielmehr von einer stabilisierten ,Interdependenzunterbrechung', die beiden Seiten ihr ,Eigenleben' in Verschiedenheit sicherte. Die Polis ist nicht als Makiohaushalt verfasst, und der Oikos ist kein Mikrokosmos, keine Miniatur der politischen Ordnung. 29 Die koinonia politiké enthält wenn nicht alle, so doch mehrerlei koinoniai qua Herrschaft. Aristoteles zeigt, dass die koinonia politiké gerade als Gemeinschaft derjenigen, die sich selbst beherrschen, in der Lage ist, in sich selbst sowohl verschiedene koinoniai auseinander- wie auch zusammenzuhalten. Es sind Herrschaftsbeziehungen, vermittels derer Polis und Oikos bei Aristoteles auf verschiedene Ebenen auseinandergezogen und durch die Rollenkombination von Hausvater und Vollbürgern gekoppelt, ja ineinander verschachtelt sind. Gerade weil die Gesellschaft das einander Differente und Entgegengesetze in sich enthält, hält sie zusammen, was sie intern auseinanderhält. Unter Rückgriff auf Aristoteles und dessen „Makro / Mikro-Terminologie" von „polis / oikos" (Luhmann 1981a: 393) kann also das Bezugsproblem markiert werden, an dem auch Luhmann mit seinem Theorem einer sozialen Differenzierung nach Interaktion, Organisation und Gesellschaft ansetzt. Der Grund dafür liegt nicht zuletzt darin, dass Luhmann wie Aristoteles Gesellschaft als das umfassende Sozialsystem bestimmt. Die Eigenschaft des Umfassens meint hier wie dort ein Differenzierungsprinzip (ein haltgebendes Verfahren), das auf den strukturellen Umbau in der Gesellschaft und gegenüber von Gesellschaft bezogen ist. Für den antiken Fall ist das die Stadt, die man mit der politischen Gesellschaft zu identifizieren beginnt - nicht ohne von ihr und in ihr die Häuser zu unterscheiden. Die aristotelische Konzeption des periéchon lässt sich ihrerseits als eine Beobachtung verstehen, die auf die Entstehung und
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Vernant (1973: 260 f.) sagt es so: „Der Spezialisierung der Aufgaben, der Differenzierung der Handwerke steht die Gemeinschaft der Bürger als gleichgestellte isoi (...) gegenüber." 29 Die von Aristoteles vorgenommene „systematische Differenzierung von Politik und Ö k o n o m i k " (Spahn 1984: 317 f.) findet ihren vielleicht stärksten Ausdruck in der zu Beginn des Zweiten Buchs der Politik (2, 1261 a ff.) vielschichtig vorgetragenen Kritik an Piaton, an dem, was man die „Identifikation von .Staat' und ,Haus"' bei diesem genannt hat (Bien 1973: 303 ff).
Michael Kauppert & Hartmann Tyrell: „Im umgekehrten Verhältnis" die Folgen einer sich selbst regierenden Stadt reagiert. Diese ,Ausdifferenzierung' des Politischen hat von Christian Meier her ihr Recht vor allem an der Entkoppelung von stratifikatorischer und politischer Ordnung, wie sie die griechischen Verhältnisse im Unterschied auch zu den römischen auszeichnet. Gemeint ist der „Prozeß zur Isonomie", also die griechische Herstellung politischer Institutionen, die die (politische) Sonderstellung des Adels neutralisieren konnten und eine Gleichheit in der Teilhabe an der Polis zur Geltung brachten, die alle Bürger gleich legitim für sich in Anspruch nehmen konnten (Meier 1980: 51 ff.; auch Stahl 2003b: 46 ff). Die Polis und ihre Angelegenheiten gewannen unter diesen Voraussetzungen einen kollektiv konkurrenzlosen Relevanz- und Prioritätsanspruch, in dem Meier (1980: 40 f.) noch „die Voraussetzung für Aristoteles' Konzeption der Politik" erkennt. In der „Begriffsstruktur der Politik und der Ethiken des Aristoteles", heißt es wiederum bei Luhmann (1981b: 212), artikuliere sich „eine Begrifflichkeit, die das Fortschrittsbewusstsein einer städtischen Hochkultur formuliert, um nicht zu sagen: zelebriert."
3. Eine differenzierungstheoretische Interpretation der bürgerlichen Gesellschaft' Soviel sollte deutlich sein: Luhmann hat an die Politik des Aristoteles und die davon ausgehende Schultradition der Gesellschaftsreflexion nicht einfach nur angeschlossen'; er hat die eigene Gesellschaftsund Sozialtheorie explizit in diese Tradition hineingestellt. Aber mehr noch - und darum hat es nun zu gehen: diese Selbstbindung an die (alt-)europäische Gesellschaftsreflexion hat auch den semantischen Bruch mitvollzogen, den die im 18. Jahrhundert einsetzende „Ökonomisierung des Gesellschaftsdenkens" mit sich brachte (Luhmann 1981b: 245 f.) und der die ,ökonomische' Theorie der bürgerlichen Gesellschaft' nach sich zog, wie sie Hegel und Marx dann formuliert haben (Riedel 1974a: 719 ff). Die aristotelische Terminologie war bis in die Neuzeit hinein von einer außerordentlichen ,semantischen Haltbarkeit'. Das gilt auf der Seite der ,koinonia politiké' bzw. ,civitas sive societas civilis' oder der (noch politisch besetzt) .bürgerlichen Gesellschaft', und es gilt ebenso auf der Seite ihres Gegenbegriffes: des ,oikos' oder des Hauses. Die Dinge ändern sich, wie gesagt, im 18. Jahrhundert nachhaltig, und wir möchten im Folgenden - in enger Berührung mit
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Luhmann (etwa 1977: 278 ff.) - die signifikanten Umbesetzungen der traditionellen Begrifflichkeiten, die damit in Gang kamen, in drei Schritten näher aufzeigen. Man bemerkt teilweise schon an der commercial society die Differenz zu Staat und government - eine semantische Selbstregistratur, die Luhmann als folgenschweren Primatswechsel in der Gesellschaft von der Politik zur Ökonomie interpretiert hat. Dieser Wechsel hat in Luhmanns Augen aber Veränderungen am Gesellschaftsbegriff selbst zur Folge, und diese haben ihrerseits auch ebenendifferenzierungsbezogene Folgen (1.). Weiterhin: mit der .kommerziellen' Selbstthematisierung der Gesellschaft verbinden sich im 18. Jahrhundert namhafte Beschreibungen, die auf die Gesellschaft als eigenständige Ordnungsebene abstellen, die aber von einer zweiten und Mikroebene unterschieden wird. Dabei ist es aber nicht einfach die Differenz, die herausgestellt wird, vielmehr eine unmittelbar gegensätzliche Bestimmtheit der Ebenen. Dies im Sinne der Entgegenstellung von „private vices" und „publick benefits" (Mandeville) oder im Sinne der „invisible hand" in ihrer rätselhaften Zwischenstellung zwischen Eigeninteresse ,unten' und Ordnung bzw. Gemeinwohl ,oben' (Smith). Es sind dies die Formeln, die die Ebenen auf ihr ,Umkehrverhältnis' zueinander hin .auseinanderziehen'. Wichtig dabei ist, dass sich die Mikroebene hier als Handlungs-, nicht aber als Interaktionsebene darstellt (2.). Schließlich entdeckt man in der commercial society, und zwar anhand der Diskussion um die Bedeutsamkeit von Arbeitsteilung, auch die Eigenständigkeit ,des Gesellschaftlichen' gegenüber Manufakturen und Fabriken. Wieder handelt es sich um eine Differenz von Ebenen, nun aber um eine, in der wir einen direkten Vorläufer der Luhmann'schen Unterscheidung von Organisation und Gesellschaft erkennen (3.). An der und in der commercial society bzw. der .bürgerlichen Gesellschaft' des 19. Jahrhunderts werden auf diese Weise zwei Differenzierungslinien beobachtet, die es deutlicher aufeinander zu beziehen gilt: die Systemdifferenzierung der Gesellschaft einerseits und die Ebenendifferenzierung innerhalb und in Differenz zur Gesellschaft andererseits. 3.1 Luhmanns Theorie der bürgerlichen Gesellschaft: Primat der Ökonomie und Ebenendifferenzierung Unter differenzierungstheoretischen Vorzeichen wollen wir zunächst den Blick auf die Reflexionsgeschichte des Gesellschaftssystems selbst lenken - eingedenk
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der Schwierigkeiten, die mit einem solchen Unterfangen verbunden sind: „ D a ß sich im Laufe von mehr als zwei Jahrtausenden in der so konstituierten Gesellschaftstheorie beträchtliche Sinnverschiebungen und ständig neu auflebende Kontroversen abzeichnen, versteht sich von selbst" (Luhmann 1970: 139). 30 In zweierlei Hinsicht bleibt Aristoteles auch für die semantischen Transformationen des Gesellschaftsvokabulars im 18. Jahrhundert noch ,im Spiel': Seine Begrifflichkeit kontinuiert, tut es aber in gänzlich veränderter Bedeutung. Dies betrifft zum einen die Ökonomik und zugleich das, was Aristoteles als ,Chrematistik' (Kaufmannskunst) bezeichnet und von der Hauswirtschaft gerade ferngehalten hatte. Bis ins 18. Jahrhundert hielt sich die .alteuropäische Ökonomik' in den von Aristoteles (Politik 1, 1256 a 1 ff.) gewiesenen Bahnen - im Deutschen als .ganzes Haus' bzw. .Wirtschaft' (Brunner 1949, 1966). 3 1 Erst dann zog das .kommerzielle' Handlungsfeld das Wirtschafts- und Ökonomie-Vokabular zu sich herüber (Burkhardt et al. 1992: 567 ff.; auch Brunner 1966: 4 4 ff.). A n die Stelle .des Hauses' schob sich ,die Familie', der .das Gesinde' nicht mehr zugehört und an der das .erwerbswirtschaftliche' Moment mehr und mehr zurücktritt; umso deutlicher wird die Familie dann in den Kontrast zum Organisationsfall .des Betriebs' gesetzt (Brunner 1966; Schwab 1975: 271 ff.). L u h m a n n (1981a: 393) beschreibt dies als Differenzierung in Organisationssysteme hier und Familienhaushalte dort. Die Begrifflichkeit des Ökonomischen verschiebt sich vermittelt teilweise auch über den fürstlichen Haushalt als .politische Ökonomie' 3 2 - vom Haus auf die
Hinzugefügt sei noch: Die folgenden Darlegungen halten sich, was das Luhmann'sche Oeuvre angeht, bevorzugt an dessen frühe Arbeiten; gerade in diesen ist der Gedanke vom Teilsystemprimat heimisch; vgl. rückblickend auf diese Problematik Schimank 2005· Bewusst machen wir im Übrigen vom Koselleck'sehen Handbuchunternehmen Geschichtliche Grundbegriffe wiederholten Gebrauch. 31 Der Begriff des Alteuropäischen, wie ihn Luhmann so gern verwendet hat, ist wohl von Brunner bezogen. Bei diesem (1966: 39 ff.) ist die Frage aufgeworfen, „warum dieses griechische Denken die beiden folgenden Jahrtausende, auch und vor allem die christlichen, völlig zu beherrschen vermochte". Eine kritische Würdigung von Brunners Beitrag (auch) zur BegrifFsgeschichte bei Oexle 1984. Im Übrigen kennt noch Max Weber (2006: 12ÍF.) nicht nur ,die Wirtschaft' im modernen Sinne; er spricht häufig (nah am oikos und im Plural) von ,Wirtschaften', auch .Einzelwirtschaften'. 32 Bei James Steuart und Adam Smith steht „political economy" dann zugleich für eine wissenschaftliche Dis30
Sphäre von Produktion und Markt, damit (auch) in der Richtung dessen, was dem 17. Jahrhundert die ,Kommerzien' waren (Burkhardt et al. 1992: 550 ff.). Und davon ist dann - zum anderen - das Verständnis von Gesellschaft nicht unberührt geblieben. War dieses bis ins 18. Jahrhundert hinein noch geprägt von einem „politisch-philosophischen Grundterminus, der ,Staat' und .Gesellschaft' gleichermaßen bezeichnet" (Riedel 1974a: 466), so versteht man etwa von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an .Gesellschaft' immer weniger in der Tradition Alteuropas als ,politische Gesellschaft' (Luhmann 1981a: 392 f.). In den Vordergrund tritt stattdessen die „(wirtschafts-)bürgerliche Gesellschaft" (Luhmann 1977: 278 f.). Für L u h m a n n (1970: 140 ff., 225 ff., 1973b: 28 ff.) heißt das mit Blick auf das „ D o m i nantwerden der Geldwirtschaft", dass die Politik den .funktionalen Primat' an die Ökonomie abtritt, und das geschieht, ohne dass dieser Umbruch im deutschen Sprachraum zu einem semantischen Revirement geführt hätte. Wenn Marx und Hegel von der .bürgerlichen Gesellschaft' sprechen, dann haben sie eben nicht mehr die politische O r d n u n g vor Augen, sondern das .System der Bedürfnisse', dem gegenüber .der Staat' externalisiert wird, oder die .Produktionsverhältnisse', denen ,der Staat' subsumiert wird. Der aristotelische Wortlaut lebt hier weiter, hat aber nun die Ökonomie im Sinn. 3 3 Für das Gesellschaftsverständnis wird nun ein (im modernen Sinne) ökonomisches Modell bestimmend, und „die Einheit der Gesellschaft scheint jetzt nicht mehr vom politischen System vorgegeben zu sein", vielmehr ist sie „durch die Wirtschaft bestimmt: durch Arbeit und Verkehr in großräumigen Systemen der Bedürfnisbefriedigung. Gesellschaft ist jetzt das Wirtschaftssystem, das sich auf Arbeit und Eigentum aufbaut, das sich selbst Rationalität und Fortschritt garantiert [...]. Ihr Prinzip ist die Utilität, ihr sozialer Boden und ihre geschichtlich wirksame Kraft der dritte Stand, der sich bürgerlich nennt und damit zum Ausdruck bringt, daß eine bestimmte Schicht sich die Erfordernisse der Wirt-
ziplin, der das Adjektiv .politisch' dann aber mehr und mehr „zum epitheton ornans" geworden ist, wie es bei Gunnar Stollberg (1979: 10 ff.) heißt; vgl. Smith 1976, I: 428: „political economy, considered as a branch of science of a statesman oder legislator". Allerdings bleibt .politisch' eine Angabe zur sozialen Reichweite, wie sie sich bis in die .Nationalökonomie' hinein verlängert (Burkhardt et al. 1992: 581 ff.). 33 Zu diesem Homonymitätsproblem der bürgerlichen Gesellschaft' eindringlich Riedel 1975a: 719 ff.
Michael Kauppert & Hartmann Tyrell: „Im umgekehrten Verhältnis" schaff zueigen macht und sie politisch durchsetzt" (Luhmann 1970: 141). Dass man in Deutschland im 19. Jahrhundert an einer .politisch-sittlichen Führungsrolle' des ,wirtschaftsexternen' Staates festhalten wollte, fallt hier weit weniger ins Gewicht als der Umstand, dass im angelsächsischen Raum im 18. Jahrhundert die Ökonomisierung der Gesellschaftsbegrifflichkeit mit besonderem Nachdruck vollzogen worden ist - sei die Gesellschaft nun civil society wie bei Adam Ferguson oder commercial society wie bei Adam Smith oder auch, ganz ohne Attribut, schlichtweg society,34 Gesellschaft', das ist insbesondere in der schottischen Moralphilosophie ein Terminus geworden, der die Gesellschaft (aus der Sicht) der Wirtschaft beschreibt. Die commercial society hat sich in ihrem Selbstverständnis von der aristotelischen Tradition weitgehend gelöst. Die Einheit der Gesellschaft ist nicht mehr herrschaftlich, von ihrer Spitze her konzipiert und politisch repräsentiert, weiterhin aber geht es um eine umfassende Ordnung. Aus der Perspektive einer Theorie der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft (Luhmann 1997: 743 ff.) ist der Wechsel vom politischen zum ökonomischen Verständnis von Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert wiederum nur Etappe geblieben. Das 20. Jahrhundert bringt eine weitere signifikante Transformation in der differenzierungstheoretisch rekonstruierbaren Reflexion des Gesellschaftsdenkens mit sich. Nun entfallt auch die (immer noch aristotelische) Annahme, in der Gesellschaft
Als Leitbegriff wird diesbezüglich gern die commercial society in Anspruch genommen (Tyrell 2010: 327 f.). In Adam Fergusons History of Civil Society (1767) kommt der Ausdruck nicht zum Zuge, in Adam Smiths Wealth of the Nations (1776) ist er zweimal verwendet; vgl. aber „the Age of Commerce" in den Lectures on Jurisprudence. Von society (vielfach auch ohne Beiwort) wird bei vielen Autoren Gebrauch gemacht. Dafür darf schon auf Mandeville (1924: 323 ff.) verwiesen werden, der seiner erweiterten Ausgabe der (zuerst 1705 publizierten) Bienenfabel von 1723 einen Abschnitt einfügt, den er mit „A Search into the Nature of Society" überschreibt. „.Gesellschaft' und .bürgerliche Gesellschaft' (civil society)" sind hier „ohne Trennschärfe" gebraucht (Euchnerl968: 27). ,Die Gesellschaft', ohne adjektivische Zutat und als Kollektivsingular, ist insofern nicht erst eine (insbesondere französische) Errungenschaft des anbrechenden 19. Jahrhunderts, wie es die soziologische Fachgeschichtsschreibung für die Linie von Saint-Simon bis Durkheim (vgl. Luhmann 1981b: 250ff.) bzw. für die gegenrevolutionären Anfänge der Soziologie bei de Bonald und de Maistre (vgl. Tyrell 2008: 203 ff.) annimmt. 34
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könne ein Teilsystem den Primat über alle anderen haben. 35 Das heißt zugleich: „Die Gesellschaftstheorie wird ,entökonomisiert'", und maßgeblich dafür sei, so Luhmann (1977: 279 f.), zunächst Talcott Parsons gewesen: seine „Theorie des sozialen Systems auf der Grundlage eines Konzepts des sozialen (nicht notwendig individuell rationalen) Handelns". Den vorläufigen Schlussstein in der Selbstreflexion des Gesellschaftsbegriffs setzt dann Luhmann (ebd.) selbst: Von .Gesellschaft' bleibt seiner Auffassung nach nicht mehr - aber eben auch nicht weniger — übrig als „die Vorstellung eines umfassenden weltgesellschaftlichen Sozialsystems, in dem alle Sonderfunktionskreise wie Wirtschaft, Politik oder Religion nur Teilsysteme ausdifferenzieren." Wenn es also richtig ist, wie Luhmann (1981b: 220f.) meint, dass die moderne Gesellschaft weder Spitze noch Zentrum kennt, dann sieht sich auch das ökonomische Modell der Gesellschaft relativiert: Die commercial society, die Gesellschaft (aus Sicht) der Wirtschaft, ist nun zu einem Teilsystem der Gesellschaft neben und unter anderen geworden. In Luhmanns (1988) eigenen Worten: zur Wirtschaft der Gesellschaft. Doch zurück ins 18. Jahrhundert, nun aber zur Frage der innergesellschaftlichen £fe«e«differenzierung. Das führt zunächst zu einem kürzeren Gedankengang, der das Auseinandertreten von Interaktion und Gesellschaft zum Gegenstand hat (1.). Ihm folgen Überlegungen, denen es um Organisation und Gesellschaft geht (2.). Ad 1: Für Luhmanns Beschreibung des Durchbruchs zur modernen Gesellschaft steht bekanntlich der Wechsel der gesellschaftlichen Dijferenzierungsform stark im Vordergrund: von stratifikatorischer hin zu funktionaler Gesellschaftsdifferenzierung (1997: 707 ff.). Ein maßgeblicher Zug speziell von stratifizierter Gesellschaftsordnung aber lag für Luhmann in den eigentümlichen Kongruenzen von Interaktion und Gesellschaft. Hier stand, um es stark abgekürzt zu sagen, die Oberschichteninteraktion für die ,gute Gesellschaft' (Luhmann 1980: 72 ff.). Sie ermöglichte - als Sache des Adels und „auf der InteraktionsDie Gesellschaftstheorie „kann heute nicht mehr unbefangen von der Funktion und der Struktur des jeweils dominanten Teilsystems ausgehen und wie Aristoteles oder Marx pars pro toto setzen, indem sie es für .natürlich' hält, daß der Mensch als Mensch ein ethisch-politisches bzw. ein materiell-wirtschaftendes Wesen ist und sich als solches auf Perfektion bzw. auf Entwicklung hin entfaltet. Sie muß ein abstrakteres Instrumentarium ansetzen, das es erlaubt, auch solche natürlichen Bestimmungen noch zu relationieren" (Luhmann 1973: 32).
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ebene zugänglich" - „die Repräsentation der Gesellschaft in der Gesellschaft" (Kieserling 2 0 0 4 : 202; auch 2006). Der Ü b e r g a n g zur M o d e r n e zerstörte dies Adelsprivileg, u n d L u h m a n n (1984: 577) hat den historischen Z e i t p u n k t des Zerfalls der Kongruenz präzise benannt: „In der französischen Revolution tritt (...) die Differenz von interaktionellem u n d gesellschaftlichem Geschehen eklatant zu Tage." I m Deutschen löst sich der Verweisungszusammenh a n g von .Gesellschaft' u n d .Geselligkeit', wie er u m 1800 etwa Kant noch lebhaft bekräftigt w u r d e (vgl. ebd.), im Laufe des 19. Jahrhunderts auf. G e h t m a n n u n aber zurück ins vor allem angelsächsische 18. Jahrhundert, so ist - mit (schichtbezogen) bürgerlicher Akzentuierung - gerade hinsichtlich der Okonomisierung von society zu sagen: diese ist nachhaltig verbunden mit interaktionsbezogenen Vorstellungen. So sehr die commercial society den Tausch herausstellt 36 , so sehr ist daran auch die Umgangs- u n d Höflichkeitsseite des .Kommerziellen' mitassoziiert. U n d die geschäftlich/gesellige Doppeldeutigkeit des (engl./frz.) commerce ist durchaus nicht zufälliger N a t u r (Tyrell 2010: 324 ff.). M a n denke n u r an M o n tesqieus Lehre vom doux commerce u n d an die vielen zeitgenössischen Stimmen, die den sich ausbreitenden H a n d e l mit einer pazifizierenden Verfeinerung der Sitten u n d Umgangsformen in Verbindung bringen ( H i r s c h m a n 1980: 65 ff.). Auch Fergusons civil (auch: polished) society verbindet sich mit Ideen z u m ,Prozess der Zivilisation, zur Zivilisierung der Interaktion, wie m a n sagen darf (vgl. Ferguson 1986). Ü b e r den doux commerce hat sich d a n n - ein Jahrh u n d e r t später - Karl Marx, mit der (gewalttätigen) .ursprünglichen A k k u m u l a t i o n ' befasst, unverhohlen lustig gemacht. Ad 2: Als „Theorie der bürgerlichen Gesellschaft" bezeichnet L u h m a n n (1972b: 186) jene D e n k t r a d i tion, die „die alteuropäische Überlieferung der politischen Gesellschaft (societas civilis) abgelöst hat, i n d e m sie von einem Primat der Politik zu einem Primat der W i r t s c h a f t in der Gesellschaft übergeht." Hier m a g es, was den Ü b e r g a n g angeht, genügen, auf Bernard Mandeville hinzuweisen, d e m sich der Arbeitsteilungsbegriff (mit)verdankt (Kaye 1924: C X X X I V f f . ) u n d den m a n einerseits zu Recht f ü r das bedürfnisgetragene „System der bürgerlichen Gesellschaft" in A n s p r u c h g e n o m m e n hat (Euchner 1968: 2 3 ff). Andererseits ist die Definition von 36
„Every man thus lives by exchanging, or becomes in some measure a merchant, and the society itself grows to be what is properly a commercial society" (Smith 1976: I: 38).
Gesellschaft', wie sie Bernard Mandeville 1723 gibt, .noch' deutlich .politisch handlungsfähig' bestimmt. 3 7 Was hier n u n zunächst interessieren muss, ist der U m s t a n d , dass der Primatswechsel an der Beschaffenheit des Gesellschaftsbegriffs nicht spurlos vorübergegangen ist u n d dies im Sinne von M i n d e rungen, die L u h m a n n von „Verlust" u n d „Verzicht" reden lässt. 38 Die Gehaltseinbußen, die der Gesellschaftsbegriff h i n n e h m e n u n d die die .Theorie der bürgerlichen Gesellschaft' einräumen muss, beziehen sich nicht zuletzt auf dreierlei: zuerst auf die Vorstellung von der Gesellschaft als .handlungsfähigem Körper'; die Konsequenz davon ist der „Verlust der Handlungsfähigkeit (...) f ü r das Gesellschaftssystem selbst" ( L u h m a n n 1973: 28 f.). Was sodann der bürgerlichen Gesellschaft a b h a n d e n k o m m t , ist die Möglichkeit, sie mit einer Spitze auszustatten u n d als .Hierarchie' zu beschreiben, u n d schon gar nicht ist eine Beschreibung tragfähig, die die Hierarchie mit Zwecken verbindet (prägnant Kieserling 2 0 0 4 : 2 2 3 ff.). Drittens aber ist es .Gemeinschaftlichkeit', ist es das M o m e n t der .communitas', d e m in L u h m a n n s Augen (1972b: 186) (schon) die bürgerliche Gesellschaft gesellschaftsbezogen keinen R a u m m e h r bietet. Diese drei Verlustanzeigen bleiben f ü r L u h m a n n im Unwiederbringlichkeitssinne auch bezüglich der Weltgesellschaftsdiagnose in K r a f t , die er der Gesellschaft des 20. J a h r h u n d e r t s gestellt hat. Es hat ihn (ebd., A n m . 2) deshalb irritiert, sehen zu müssen, dass Talcott Parsons die „beiden Aspekte der Handlungsfähigkeit u n d der Gemeinschaftlichkeit mit d e m Begriff der .collectivity' wieder in den G e 37
„I hope the Reader knows that by Society I understand a Body Politick, in which Man either subdued by Superior Force, or by Persuasion drawn from his Savage State, is become a Disciplin'd Creature, that can find his own Ends in Labouring for others, and where under one Head or other form of Government each member is renderder'd Superservient to the Whole, and all of them by cunning Management are made to Act as one" (Mandeville 1924 I: 347). Andererseits geht es bei Mandeville allenthalben um „large Societies", um die Diversifizierung der Bedürfnisse wie der Arbeit, um die Ausweitung des Handels und zumal der Geldwirtschaft. Und zu dieser heißt es: „Yet it is impossible to name another, that is so absolutly necessary to the Order, Oeconomy, and the very existence of the Civil Society; for as this is entirely built upon the Variety of our wants, so the whole Superstructure is made up by the reciprocal Services, which Men do to each other" (ebd. II: 349). 38
Zu den Charakteristika der bürgerlichen Gesellschaft zählt Luhmann (1972b: 190) „den Verzicht auf Zweck vereinheitlichung und Handlungsfähigkeit auf der Ebene des Gesellschaftssystems".
Michael Kauppert & Hartmann Tyrell: „Im umgekehrten Verhältnis" sellschaftsbegriff zurückführt - und sich dadurch in einer Zeit, in der ein welteinheitliches Gesellschaftssystem schon sichtbar ist, aber diese Merkmale nicht aufweist, festlegt auf territorial und staatlich und wertintegriert konstituierte Gesellschaften." Was aber das 19. Jahrhundert und die frühe Soziologie angeht, so ist gerade auf deutschem Boden ersichtlich, dass sich die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft der alteuropäischen Bestimmungen nur mühsam entledigt hat; sie tat es durch Externalisierung: Gesellschaft vs. Staat, Gesellschaft vs. Gemeinschaft.39 Es muss hier nun vor allem „der Staatsbegriff" interessieren, der „aus der Gesellschaft die Merkmale der Organisiertheit, Zweckmäßigkeit und kollektiven Handlungsfähigkeit" heraus- und auf sich zieht (Luhmann 1977: 279). Denn dieser begriffsgeschichtliche Befund dient Luhmann (im Organisationskapitel von Funktion der Religion; ebd.: 279 f.) als Ausgangspunkt, den Weg in Richtung Ebenendifferenzierung einzuschlagen. Ganz skizzenhaft geht es an dieser Stelle darum, auch das semantisch-kontrastive Auseinandertreten von „Gesellschaft und Organisation" nachzuzeichnen. Das 19. Jahrhundert überbrückt Luhmann hier mit der Bezugnahme auf Freiheit und Organisation, den Buchtitel von Bertrand Russeis umfänglicher historischer Darstellung des 19. Jahrhunderts. Auch steht das Bürokratievokabular im Wege, und den Organisationsbegriff als solchen - und im Gegenüber zur .Gesellschaft' - sieht Luhmann dann erst in der Nachkriegszeit als semantisch durchgesetzt und konsolidiert an. 40 Luhmann hätte den Weg in Richtung Ebendifferenzierung indes auch anders organisieren können, nämlich mit Hilfe jener „Umkehrtechnik", die ihn bei Bernard Mandeville und Adam Smith, wovon noch zu reden sein wird, erkennbar beeindruckt hat (vgl. 1981b: 245 f.). Die Externalisierung dessen, worauf die (wirtschafts-)bürgerliche Gesellschaft als Gesellschaft .verzichten' muss, wäre dann 39
„Sie exportiert Elemente des alten Gesellschaftsbegriffs
in ein .Gegenüber': Das Element der Handlungsfähigkeit des Gesellschaftssystems erscheint ihr als .Staat' neben der Gesellschaft, das Element der communitas erscheint ihr als .Gemeinschaft', als ein für sie unerreichbarer Gegentypus" ( L u h m a n n 1972: 186). Z u r „Unterscheidung von Staat und Gesellschaft" auch L u h m a n n 1987: 67 ff. 40
„Die sozialstrukturelle Differenzierung von
Ebenen
und Typen der Systembildung, von Gesellschaft und Organisation, findet damit nachträgliche Anerkennung auch in der Differenzierung der Begriffe und Theorien" (Luhm a n n 1977: 2 8 0 ) . Vgl. für eine breitere Darstellung des Ganges der klassischen Organisationstheorien L u h m a n n 2 0 0 0 b : 11 ff.
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auch beschreibbar als Externalisierung auf die Ebene der Organisationen. Denn die Systembildungen auf dieser Ebene ziehen nun gerade das an sich, was auf gesellschaftlicher Ebene nicht mehr möglich ist. Und das Umkehrverhältnis, an dem die Differenz der .auseinandergezogenen' Ebenen nun ablesbar wird, zeigt sich am aufdringlichsten am Moment der konstitutionellen „Handlungsfähigkeit" der Organisationen. Zu der .Handlungsunfähigkeit' der Gesellschaft steht diese im kompletten Gegensatz. Luhmann hat, was Organisation und Gesellschaft angeht, den ,umkehrtechnischen' Weg der Ausarbeitung der Ebenendifferenz durchaus betreten, ihn aber selbst nicht systematisch ausgebaut und auch nicht historisch entfaltet. Auf den Zweckbegriff und die Hierarchiekonzeption hin hat André Kieserling (2004: 212 ff.) die Sache fortgeführt, und Stefan Kühl (2003: 44 f.) hat ein erstes Resümee erarbeitet. Ihm ist es um die Unterscheidung von Organisation und Gesellschaft zu tun, weniger um beider .Umkehrverhältnis' zueinander. Sein Unterscheidungsbefund, den wir festhalten wollen, ist ein dreifacher. Kühl behandelt zunächst die Frage der Zwecke·. Während die Formulierung von solchen für Organisationen unverzichtbar ist, können in der Gesellschaft zwar (heterogene) Werte artikuliert werden, aber schwerlich kann die Gesellschaft sich Zwecken verschreiben. Zweitens: die moderne Gesellschaft wird von Luhmann bekanntlich als eine verstanden, die konstitutionell „ohne Spitze und ohne Zentrum" ist; Organisationen dagegen sind ohne Spitze, ohne Hierarchie nicht funktionsfähig. Drittens schließlich - nun aber mit Luhmann (2000b: 392) selbst zum „Umkehrverhältnis von Inklusion und Exklusion": „Die Funktionssysteme gehen von Inklusion aus und lassen Exklusion gleichsam nur geschehen. Bei Organisationen liegt der Fall umgekehrt. Hier werden alle ausgeschlossen, es gibt kein Naturrecht auf Mitgliedschaft, weil die Logik der Inklusion hochselektiv erfolgen muss. Wir sehen jetzt die Logik des Gesamtarrangements, die in einer spezifischen Paradoxie und deren Entfaltung kulminiert. Es gibt unterscheidungszwangsläufig Inklusionen und Exklusionen, weil die Form der Inklusion nicht möglich wäre, wenn es nicht auch Exklusion gäbe und umgekehrt. Die paradoxe Einheit dieser Differenz wird so aufgelöst, dass die Gesellschaft in ihren Funktionssystemen für Inklusion aller optiert, die Organisation dagegen für Exklusion aller. Die Gesellschaft hält Exklusionen für menschenunwürdig (...). Die Organisationen gehen von Exklusionen aus, um eine Entscheidungskontrolle über Mitglied-
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schaft und damit ihre eigene Autonomie einrichten zu können. Trotzdem operieren die Organisationen als Vollzug von Gesellschaft in der Gesellschaft."
3.2 Private Laster, öffentliche Vorteile: Zur Ebenendifferenzierung in der commercial society Das englisch-schottische Dreivierteljahrhundert zwischen 1705 und 1776 - zwischen dem (ersten) Erscheinen von Mandevilles The Grumbling Hive und dem von Adam Smith' The Wealth of Nations ist die Zeit der ,Entdeckung' der Ebenendifferenzierung: einer zweistelligen Ebenendifferenzierung, wie sie Niklas Luhmann als solche durchaus zur Sprache gebracht, in die eigene Theorie aber nicht übernommen hat. Thomas Rommel (2006) hat jener Zeit eine literatur- und auch begriffsgeschichtliche Studie gewidmet, die der einen Seite dieses Zwei-Ebenen-Modells zugewandt ist: dem individuellen .Selbstinteresse'. Hier stößt man auf den semantischen Befund, dass interest sich seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert immer stärker ins Ökonomische, hin zum „money-making" verschiebt und dass sich andererseits und gleichzeitig die selfKomposita in einem Säkularisierungsprozess aus der religiös-moralischen Diskreditierung (zumal in der Puritanersprache) lösen (ebd.: 33 ff.). Die Ebenendifferenzierung, wie sie im 18. Jahrhundert artikulierbar wird, hat mit diesem Prozess zu tun, wie man an den beiden mit so reichlicher Resonanz versehenen Leitformeln, die sie sprachlich zur Geltung bringen, leicht ersehen kann. Es sind dies einerseits Mandevilles Private Vices, Publick Benefits und andererseits Adam Smiths Rätselformel von der invisible handln ihrer Vermittlungsrolle zwischen „individual" und „society", .privatem Eigeninteresse' und „publick interest" (1976,1: 456). Was hier .auseinandergezogen' und einander entgegengesetzt wird und doch als zusammenhängend und .gesellschaftlich umfasst' vorausgesetzt ist, sind das (je individuell) interessengesteuerte Mikrogeschehen von Tausch und Verkehr hier und die kollektive und Makroebene von .society' oder auch .nation'. Die .Technik' aber, das kollektiv Zusammenhängende .auseinanderzudividieren', muss mit Luhmann ,Umkehrtechnik' heißen: Die Ebenenunterscheidung tritt innergesellschaftlich als solche dadurch zutage, dass man den Finger auf provozierend Paradoxes oder direkt Gegensätzliches legen kann, darauf, dass das, was .unten geschieht, sich ,oben' ins Gegenteil verkehrt.
Bei Luhmann (1981b: 245 f.) findet man das im thematischen Kontext der „im 18. Jahrhundert anlaufenden Ökonomisierung des Gesellschaftsdenkens" (und auf Hegel hin) folgendermaßen expliziert — und hier lohnt es einmal mehr, ihn ausgiebiger zu zitieren. Es geht um ein Gesellschaftsdenken „mit Hilfe eines Zwei-Ebenen-Modells": „Auf der unteren Ebene der Zwecksetzung und Interessenverfolgung wird das Verhalten als selbstreferentiell-bedürfnisorientiert begriffen. Auf der oberen Ebene der Gesellschaft kommt trotzdem, und gerade deswegen, nach Maßgabe von Naturgesetzen Ordnung zustande. Unordnung auf der unteren ist Bedingung für Ordnung auf der oberen Ebene. Individualmotiv und Ordnungserfolg werden durch diese Umkehrtechnik auseinandergezogen, sind aber in ihrer Nichtidentität umso strenger Voraussetzung füreinander. (...) Die Theorielage wird neu arrangiert, so daß gerade der Antagonismus der Interessen konstitutive Bedingung für eine Gesamtordnung wird, die sich nicht mehr als eingesetzte, durch die Abweichung gefährdete Norm darstellt, sondern als das .System der Bedürfnisse' selbst." Als früher Beleg für die neue Theorielage und das .umkehrtechnisch' heraufgeführte Zwei-EbenenModell gilt uns, wie gesagt, die auf moralische Sprachmittel setzende Bienenfabel von Bernard Mandeville. Hier ist die These stark gemacht, dass sich die (wirtschafts-)bürgerliche Gesellschaft nur gegen die ehrbaren Motive des Handelns durchsetzen kann. Der Begriff von .Gesellschaft', den Mandeville propagiert, hat noch alteuropäische Bindungen. Was aber im (aristotelischen) PolitikModell von Gesellschaft ganz unzulässig war, hält Mandeville in der Gesellschaft, die er präsentiert, für ausgemacht: „The worst of all the Multitude,/ Did something for the Common Good" (1924, I: 24). Gerade das Bedürfnis nach Luxus und der Hang zur Verschwendung zeigen sich als wesentlicher Beitrag zur ökonomischen Prosperität der Gesellschaft.41 Das Anliegen der Bienenfabel ist es, in einem „provozierende(n) Umkehrschluss" (Rommel 2006: 71) zu demonstrieren, wie Private Vices sich in Public Benefits verwandeln bzw. wie (in umgekehrter
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Vgl. Kaye 1924: X C I V f f . Es ist diese prosperierende
Gesellschaft für Mandeville indes eine, in der die M a s se der „labouring poor" die immer stärker differenzierten Luxusbedürfnisse einer Oberschicht bedient, in der es die „Arbeit für andere" zu erzwingen gilt und in der massenhafte Armut und billige Arbeit für die Prosperität der Gesellschaft (und ihre Stärke nach außen) die unabdingbare Voraussetzung bilden; vgl. auch Euchner 1968: 2 8 ff.
Michael Kauppert & Hartmann Tyrell: „Im umgekehrten Verhältnis"
Richtung im zweiten Teil der Fabel) strikte Tugendübung und Ehrbarkeit das prosperierende Bienenkollektiv ins kollektive Unglück treiben. Mandeville hat damit nichts weniger als die Ebenendifferenz in der Gesellschaft entdeckt, und er vergewissert sich der Differenz, indem er zeigt, dass gute Motive nicht mit guten Folgen korrelieren und dass man von benefits nicht auf (ihnen zugrunde liegende) gute Motive zurückschließen darf. Der Bienenfall dementiert das moralische Postulat, dass Gutes Gutes nach sich zieht. Allerdings hat die Unterscheidung von vices hier und benefits dort etwas Vorlautes, übertönt sie doch die mitgeführte private /publicUnterscheidung und das damit explizit gemachte Mikro/Makro-Modell. Auch an diesem ist ja gemeint: von der Ebene des privaten Handelns (und seiner Absichten) kann nicht geradlinig auf die Ebene der kollektiv-öffentlichen Verhältnisse geschlossen werden und umgekehrt. Ihre provokante Schärfe erhält Mandevilles Ebenendifferenz indes doch durch die moralische Codierung: Sie bindet die Ebenen primär dadurch aneinander, dass sie gegenteilig zueinander - böse und gut (oder doch: vorteilhaft) - beschaffen sind, und macht damit einen Zusammenhang zwischen dem konsequenten Ubeltun aller Einzelnen und dem ,Common Good' geltend. Hier ist daran zu erinnern, dass für die Moral die spezifische Disposition und ,innere Nötigung' gilt, das Gute von jeder Berührung mit dem Bösen frei- und fernzuhalten (vgl. Tyrell 2001). Und eben das machte Mandevilles Botschaft des „Thus every part was full of Vice, Yet the whole Mass a Paradise" (1924,1: 24) den Zeitgenossen moralisch so unerträglich. 42 Allerdings: der moralische Code wird von Mandeville arg strapaziert. Ja, es darf von ,moralischer Doppelzüngigkeit' die Rede sein: In der Bienenfabel selbst ist - für die Beschreibung der .lasterhaft-paradiesischen' Verhältnisse — eben jene .populistisch' moralisierende Sprache gewählt, in der seinerzeit vielstimmig die moralische Dekadenz Englands und
Die Quellen der moralischen Empörung darüber, dass „Virtue (...) made Friends with Vice" (Mandeville 1924, I: 24), liegen in der Überzeugung, dass Kontiguität kontaminiert. Anstelle von Kontiguität ließe sich an ein konsekutives Verhältnis von Laster und Tugend denken, wie man es etwa bei Shaftesbury angesprochen findet, dies aber eben auch in der Absicht des Moralisten, den Grundgedanken Mandevilles zu desavouieren: „to do ill that good might follow". Auch das zeitliche Abfolgeverhältnis fällt unter das Berührungsverbot: Böses mit guten Wirkungen, das war für Mandevilles Zeitgenossen unannehmbar; vgl. auch Luhmann 1987: 70. 42
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ein allgemeiner Sittenverfall öffentlich beklagt wurden (Rommel 2006: 63 ff). Das ist auf Resonanz berechnet: Dem Publikum werden erst seine Vorurteile bestätigt, dann aber wird ihm Mandevilles .reiner Wein (von den „ehrlich gewordenen Schurken") eingeschüttet'. Denn in der Mitte der Fabel stimmen die prosperierenden Bienen selbst in das moralische Lamento ein; sie beklagen das gänzliche Verschwinden von „honesty" usw. und beschwören damit die (bezüglich der Folgen durchaus absichtslose) Intervention Jupiters herauf, die das Verhalten aller ins Tugendhafte, das Bienenschicksal damit aber ins kollektiv Schlechte wendet. Und andererseits verficht derselbe Mandeville in seiner Morallehre eine rigoristische Auffassung, die als Tugend und moralisch gut' nur den schieren Altruismus gelten lassen will - mit der Konsequenz der gänzlichen Marginalisierung des Moralischen im gesellschaftlichen Leben. Das macht den Weg frei, allerorten nur selbstbezogene Handlungsmotive („selfish") wirksam zu sehen, was ihm dann auch auf diesem Feld die vehemente Kritik der Moraltheoretiker bis hin zu Adam Smith eingetragen hat. Wie dem auch sei, unbestreitbar ist, dass Mandeville ins Vorfeld der nicht zuletzt durch von Hayek (1969: 141 ff.) berühmt gemachten Formel Adam Fergusons von den gesellschaftlichen Einrichtungen gehört, die „Ergebnisse menschlichen Handelns, jedoch nicht menschlicher Absicht" seien. Das Abtrennen der Handlungsfolgen von den Handlungsabsichten, das Ferguson hinsichtlich der Letzteren von „blindness to the future" sprechen lässt, betrifft in der Bienenfabel ja noch den göttlichen Jupiter. Die Konsequenzen des Handelns unterliegen eben einem anderen, den Motiven gegenüber selbstständigen Funktionskreis sozialer Ordnung und tun es mit behaupteten Wohlfahrtsfolgen vor allem in jener Sphäre, die im 18. Jahrhundert (in einem neuen Sinne) den Titel der Ökonomie an sich zieht. Darauf bezogen kann Luhmann (1987: 69 f.) — unter Absehung allerdings von der Intervention Jupiters - sagen: „Die Wirtschaft hat es glücklicherweise mit den positiven Folgen der Eigensucht zu tun. Ihr genügt daher die Einsicht in die Wirkungsweise der invisible hand." 43
4 3 Luhmann (ebd.) fügt dem hinzu, wie sich die seiner Auffassung nach zweite - und umgekehrte (!) - Form der Moralparadoxie in der Gesellschaft institutionalisiert hat: „In der Politik geht es dagegen (seit Robbespierre) um die schlimmen Folgen der guten Absichten. Sie braucht daher eine Rechtsverfassung, damit verhindert wird, daß allein schon die moralisch einwandfreie Gesinnung dazu legitimiert, andere zu zwingen."
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Mandevilles Titelbotschaft der Private Vices, Publick Benefits war plakativ und provokant. Die so viel bemühte invisible hand dagegen ist im Werk Adam Smith's eher versteckt, sie kommt dort nur dreimal vor, überdies in ganz verschiedenen Zusammenhängen (vgl. Kittsteiner 1984); hier interessiert die Version aus dem Wealth of Nations, die ,die eigentliche heißen darf (Smith 1976, I: 455 f.). Mandeville präsentiert sein Zwei-Ebenen-Modell, indem er es unmittelbar beim Namen nennt: komprimiert in einer paradoxen Formel. Die invisible hand ist innerhalb des Smith'schen Modells dagegen eine selbst nicht weiter aufgelöste Rätselformel. 44 Ihre Lokalisierung hat sie zwischen den Ebenen, und ihre Funktion dort lässt sich einerseits als eine der Transformation beschreiben: sie verwandelt, in der Sprache Kants (und etwas unzulässig gesprochen), .Ungeselligkeit' in ,Geselligkeit'. Andererseits verbindet sich mit der invisible hand-angesichts der so gegensätzlich beschaffenen, aber doch unabweisbar zusammenhängenden Ebenen - eine Vermittlungsfunktion. Und im Vergleich zu Mandeville gilt weiterhin: Smiths Zwei-Ebenen-Modell ist moralisch weitgehend abgerüstet. Zwar bleiben — im Verhältnis zum Mitmenschen - benevolence und selfinterest einander entgegengesetzt (Smith 1976,1: 26 f.), aber von ,Sünde' und ,Laster' ist das Eigeninteresse - in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und zumal im „doux commerce" - weitgehend erlöst (Rommel 2006: 286 ff.). In dem Maße, wie Egoismen und Leidenschaften zu Interessen diszipliniert (vgl. Hirschmann 1980: 109 ff.) und berechenbar gemacht werden, kann sich die Sphäre ökonomischen Handelns dem Zugriff moralischer Sanktionen entziehen. Wie aber steht es um die von Smith praktizierte ,Umkehrtechnik'? Hier ist es unvermeidlich, einmal mehr die entscheidenden Sätze aus dem Wealth of Nations zu zitieren, wobei wir die kapitaltheoretischen Probleme und die Inland/Ausland-Frage des besagten Passus beiseite lassen (vgl. Kittsteiner 1984: 61 ff.). Uns geht es um das Wechselspiel zwischen „individual" und „society". „By preferring the support of domestick to that of foreign industry, he (= „every individual"; die Verf.) intends only his own security; and by directing that industry in such a manner as its produce may be of the greatest value, he intends only his own gain, and he is in this, as in many other cases, led by an invisible hand to promote an end which was no part of his inten44
Die W i r k u n g e n , f ü r die sie steht, sind bei Smith gern auch mit d e m Adjektiv „natural" bedacht; vgl. f ü r ein Beispiel Tyrell 2010: 328 ff.
tion. Nor is it always the worse for the society that it was not part of it. By pursuing his own interest he frequently promotes that of the society more effectually than when he really intends to promote it. I have never known much good done by those who affected to trade for the publick good" (1976,1: 456). Soviel ist sofort erkennbar: dem ,privateIpublick' Mandevilles entspricht hier das Gegenüber von Individuum und Gesellschaft. Nun hätte es Smith in gewisser Hinsicht nicht ferngelegen, seine Mikroebene mit .mikrokommerziellen' Sozialsystemen des Typs „truck, barter, and exchange" (ebd.: 25) zu besetzen. Stattdessen setzt er (in der Gesellschaft und) im Gegenüber zur Gesellschaft ganz auf das je einzelne Individuum und auf sein Handeln und verbleibt dabei konsequent innerhalb des Horizonts von dessen Absichten und Erwartungen. Natürlich legen - im kommerziellen Kontext - Eigentum und Eigentümer dies nahe (vgl. Macpherson 1967); aber wir vermuten, dass es kaum weniger die Moraldiskurse des 18. Jahrhunderts (und deren christliche Vorgeschichte) gewesen sind, die den Blick so nachhaltig an den je Einzelnen, seine Motive und die ihm zurechenbaren Handlungen gebunden haben. Entscheidend für Smiths Ebenenmodell war dann das konsequente Auseinanderhalten von Handlungsabsichten/Intentionen hier und Handlungsfolgen dort. Das Handeln mit seinen Intentionen und Erwartungen gehört dem Individuum, also der Mikroebene an; seine Folgen aber stehen in anderen Zeithorizonten, sie treten unter ein anderes Gesetz und gehören, was die hier wirkenden .Notwendigkeiten' angeht, auf die Ebene der Gesellschaft. Die kollektiv wohlmeinende invisible hand hat umkehrtechnisch aber noch mehr im Sinn: Sie trägt nach ihren Gesetzen dafür Sorge, dass das konsequent verfolgte individuelle ÄgiTzinteresse auf der unteren Ebene kollektiven Nutzen auf der oberen nach sich zieht und dem „publick good" förderlich ist. Schließlich aber: so sehr die Ebene des individuellen Handelns gegen die Gesellschaft exponiert ist, so wenig ist das Handeln damit etwas .Außergesellschaftliches'. Im Gegenteil: die Gesellschaft hat nur diesen Stoff, und so ist alles gesellschaftlich Weitere und Hinzugewonnene (der Ferguson /Hayek-Formel entsprechend) „the result of human action, but not the execution of any human design". Und genau unter diesen Vorzeichen hat Adam Smith (1976, I: 25) bekanntlich auch die Frage nach den innergesellschaftlichen Ursachen der Arbeitsteilung, die so viele (ungeplante) Vorteile mit sich bringt, in Angriff genommen.
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3.3 Zweierlei Arbeitsteilung: Zur Ebenendifferenzierung von Organisation und Gesellschaft in der .bürgerlichen Gesellschaft' Im dritten Schritt kehren wir zur Luhmann'schen Ebenentrias zurück, haben dabei aber primär die beiden oberen Geschosse des Bauwerks im Blick. Weiterhin ist es uns um den an der commercial society bzw. der .bürgerlichen Gesellschaft' semantisch registrierten Umbau der Gesellschaft im 18./19. Jahrhundert zu tun, nun aber auf einem Feld, das Luhmann weniger vor Augen war, das aber unmittelbar heranführt an die Ebenendifferenzierung von Gesellschaft und Organisation: an Gesellschaft und Organisation in direkt gegenläufiger Bestimmtheit. Der AusdifFerenzierung einer eigenständigen „Ebene organisierter Sozialsysteme" (Luhmann 1972b: 208) ist das 19. Jahrhundert wesentlich mit Bezug auf die Frühindustrialisierung ansichtig geworden. Innerhalb der Begrifflichkeit, die im Blick darauf bestimmend war, war seit Adam Smith die Arbeitsteilung von besonderer Prominenz. Nicht dass diese der Begrifflichkeit der .sozialen Differenzierung' vorausging, zählt dabei, sondern dass sie den Weg zur Ebenendifferenzierung wies. Es ist in der Mitte des 19. Jahrhunderts Karl Marx gewesen, der gegen Smith auf den Unterschied drängte, den es zwischen innergesellschaftlicher und innerorganisatorischer Arbeitsteilung zu machen gelte. Marx tat dies in einer Sprache, die mit der Luhmanns teilweise deckungsgleich ist. Wir zeichnen diesen Ideengang anhand einer knappen Kontrastierung von Smith und Marx in Sachen Arbeitsteilung' nach.
3.3.1 Adam Smith Hält man sich an die Glasgow Edition des Wealth of Nations (Smith 1976, I: 13 f., Anm. 1), so verweist der dortige Kommentator gleich in seiner ersten Anmerkung mit Sir William Petty45, mit Bernard Mandeville und Joseph Harris auf drei „modern writers", die seit dem späten 17. Jahrhundert und vor Smith den Gedanken der Arbeitsteilung deutlich zu artikulieren wussten. Der Gedanke ist immer wieder: eine Mehrzahl von Menschen, die in .getrennten' «W.differenten „operations", „labours" oder „occupations" produziert, tut dies zumal bei Ein lebhafter Hinweis auf Petty auch bei Marx 1972: 49ff.; Petty fasse „die wirkliche Arbeit (...) sofort in ihrer gesellschaftlichen Gesamtgestalt als Teilung der Arbeit." Auch Mandeville ist auf Smith hin im Marx'schen Blick; vgl. Marx 1979: 375, Anm. 57. 45
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.geübten Händen' um vieles schneller, besser und ertragreicher, „than if the whole Work be put upon any one Man". Die Vorteile der Arbeitsteilung sind hier vor allem dem Kontrast gegen den ,Alles- und Alleinarbeiter' abgewonnen, und auch in Smiths pin factory ist das so.46 Der soziale Rahmen aber für die spezialisierte und geübte Arbeit vieler Hände ist teils die einzelne Werkstatt bzw. das Verhältnis zwischen verschiedenen „manufactures", teils ist es die große Stadt (London), aber auch „the nation". Anders als im antiken Denken ist die Arbeitsteilung bei Adam Smith nicht etwas, das mit der Gesellschaft selbst und von Beginn an zusammenfällt ( Vincent-Lancrin 2003: 215). Sie muss sich vielmehr erst entwickeln und verwandelt darüber die Gesellschaft in ihrer Binnenstruktur wie in ihren sozialen Reichweiten. Dann aber bezieht die Gesellschaft ihren internen Zusammenhalt wesentlich aus der Arbeitsteilung, die ja immer „Arbeit für andere" meint, und unter diesen Konditionen wird in der Smith'sehen Terminologie die Arbeitsteilung primär der Gesellschaft zugerechnet: Sie ist die Arbeitsteilung ,der Gesellschaft', bei Smith eher: „in society". Für Smith ist ,die Arbeitsteilung' ein homogenes Prinzip, und sie ist es ihm gerade auf ihre .notwendigen Effekte' hin: „in the general business of society" nicht anders als „in some particular manufactures" (1976, I: 14), in der „pin factory" etwa. Und das „connecting principle", das ,die Arbeitsteilung' darstellt, hat für Smith gewiss Rückendeckung daran, dass die Manufakturen vom „general business of society" umfasst, dass sie Teil davon sind (Vincent-Lancrin 2003: 213). Andererseits hat die in demselben „workhouse" zusammengezogene Arbeitsteilung den Vorzug einer Augenfälligkeit, wie sie jener nicht minder realen Produktionsdifferenzierung nicht zukommt, die sich weitläufig im Raum verteilt.47 Und vor diesem Hintergrund ist es Smith (1976: 14 f.) ganz unproblematisch, die Wirkungen
„But if they had all wrought seperately and independently, and without any of them having been educated to this peculiar business, they certainly could not each of them have made twenty, perhaps not one pin in a day" (Smith 1976: 15). 4 7 Der widerspruchsgeneigte Marx (1979: 375) präsentiert diesen Gedanken wie folgt: das Scheiden von komplexer und manufakturmäßiger Arbeitsteilung sei „nur subjektiv", sei etwas nur aufseiten ,des Beobachters', „der hier die mannigfaltigen Teilarbeiten auf einen Blick zusammensieht, während dort ihre Zerstreuung über große Flächen und die große Zahl der in jedem Sonderzweig Beschäftigten den Zusammenhang verdunkeln." 46
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der Arbeitsteilung, wie sie längerfristig sich gesellschaftlich zeigen, an der Produktionssteigerung zu illustrieren, die die konsequent angewandte Arbeitszerlegung in einer Werkstatt oder Manufaktur zum Resultat hat; hier aber, wie man hinzufügen muss: zum intendierten und zum zweckentsprechend herbeigeführten Resultat. Die Steigerung des Outputs an Stecknadeln ist ja durchaus der Ausfluss von „human wisdom" und menschlichem Zweckdenken bei absehbarer Z u k u n f t . An dem im Weber'schen Sinne .rationalen Zuschnitt dieser Arbeitsteilung fallt auf: es ist nicht das Wirken einer .invisible hand', dem sich die gesteigerte Produktionsleistung in der pin factory verdankt. Es ist vielmehr die .sichtbare Hand' des Manufakturisten bzw. (später) des Fabrikherrn, die hier Regie führt, es sind seine Zwecke, nach denen die interne Arbeitsteilung der Manufaktur mittelförmig gestaltet ist, und es ist zuvörderst sein Interesse, u m dessentwillen die Mehrleistung zustande gebracht wird. Es kommt hinzu: die Arbeitsteilung auf dem Markt, wie sie das erste Buch des Wealth of Nations, jenseits der pin factory, dem Leser darbietet, führt ganz überwiegend hinein in „eine Gesellschaft von ,kleinen Eigentümern", von ,Bäcker, Brauer und Metzger', in eine Welt der primär beruflichen Spezialisierungen, in Handel und Gewerbe also (Kittsteiner 1984: 56 ff.). Der .innerbetrieblichen Arbeitsteilung ist in dieser Welt nur wenig Raum geboten und noch weniger dann der zwischen (verschieden spezialisierten) Betrieben bzw. Manufakturen. Die Arbeitsteilung in den Fabriken lässt sich insofern nicht ohne Weiteres in diejenige auf dem Markt überführen. Smith ist gleichwohl der Auffassung, dass der Unterschied zwischen Manufaktur und Gesellschaft arbeitsteilungsbezogen keinen Unterschied macht. 48 Unter seinen Interpreten ist es Stéphan Vincent-Lancrin (2003: 209 f.), der am stärksten dazu tendiert, bei Smith eine Differenz zwischen gesellschaftlicher Arbeitsteilung' (als „the market division of labour, or the separation of specialized trades and occupations") und ,organisationaler Arbeitsteilung" („the organisation of work in the firm"; ebd.: 210) herauszulesen, ja die beiden Arbeitsteilungen als einander gegensätzlich zu bestimmen. Zugleich aber leitet ihn die Intention, beide „simultaneously" als eng zusammengehörig auszuweisen und es von daher nachvollziehbar zu machen, weshalb es Smith gedanklich so fern war, die Arbeitsteilung als ein Prinzip aufzuge48 „What takes place among the labourers in a particular workhouse, takes place, for the same reason, among those of a great society" (1976,1: 104).
ben oder zu spalten. 49 Es muss hier, was VincentLancrins Aufsatz angeht, genügen, einerseits auf seine Darlegung der .vorkapitalistisch'-arbeitsteiligen Vielfalt hinzuweisen, in der das Organisationsprinzip noch nicht die Oberhand hat (ebd.: 216 ff.). Und andererseits gilt es, die Darstellung der kapitalistischen Arbeitsorganisation' anzusprechen (ebd.: 219 ff.), die eine Arbeitsteilung zum Gegenstand hat, der der interessengetragene „commercial state" zwischen den spezialisierten Teilarbeitern abhanden gekommen ist. Und entgegen der Konstitution des Marktes gilt für diese: „It is a voluntary, authoritarian, constructed order, even though not all effects are intended. The entrepreneur organises production according to technological .necessities' as well as his or her self-interest". Obwohl der Gegensatz der beiden Arbeitsteilungen damit klar zur Sprache gebracht ist, mag es Vincent-Lancrin dabei nicht belassen. Er setzt im Sinne von Smith auf,Vermittlung' (ebd.: 221 f.): die arbeitsteilige Organisation im Kleinen trägt während ihrer Lebensdauer das Ihre bei zum Fortgang der Arbeitsteilung im Großen. Obwohl es also bei Adam Smith durchaus Anzeichen dafür gibt, dass es sich bei Manufakturen und Markt um zwei verschiedenartige Ebenen sozialer Ordnungsbildung mit jeweils eigener .Arbeitsteilung' handelt (und damit um eine qualitative Differenz), behält bei ihm die Lesart eines bloß quantitativen Unterschieds zwischen beiden noch die Oberhand. Im 19. Jahrhundert drängte man hier auf Änderung.
3.3.2 Karl Marx Von systemtheoretischer Seite ist verschiedentlich Kritik an Marx und seinem intellektuellen Gefolge vorgetragen worden, eine Kritik, die gegen Marx nachdrücklich auf die Differenz (und Differenzierung) von Organisation und Gesellschaft pocht. Der Einwand ist der einer zu eng angesetzten Relation von Organisation und Gesellschaft. Er ist auf zweierlei Art vorgetragen worden. Einerseits geht es um ein unzulässiges Schließen von der unteren
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Der Autor nennt es seinen „central point", „that the organisation of work (the organisational division of labour) in the firm is just the counterpart of the social division of labour, and that these reflect two inseparable aspects of the process of the division of labour" (ebd.: 210). Unter den Smith-Kommentatoren ist die These zweier gegenläufiger Aspekte eines Prinzips allerdings eine Ausnahme. Der Standardinterpretation zufolge hat Smith arbeitsteilungsbezogen das „Grundprinzip" schlichtweg „vom Detail auf Makrostrukturen in der Gesamtgesellschaft übertragen" (Rommel 2006: 278).
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auf die höhere Ebene, um den Fall, in dem man zu umstandslos „Organisationseffekte auf die Ebene des Gesellschaftssystems" ,hochrechnet'. Genau dies habe sich Marx zuschulden kommen lassen, indem er „die offensichtlichen Probleme der Fabrikorganisation des 19. Jahrhunderts" in eine Theorie der Klassengesellschaft hochrechnete (Luhmann 2000b: 384 f.).50 Andererseits lastet man dem Denken in Marx'schen Bahnen an, es sei - mit Blick auf die „Gesellschaft der kapitalistischen Produktionsweise" - prädominant Gesellschaftsùieoûe und von da her, was Organisationen betrifft, fixiert auf Arheitsorganisation. Was auf der Organisationsebene relevant sei, sei also durch gesellschaftstheoretische Voreingenommenheiten schon festgelegt, und dementsprechend mangele es der Theorie am Sinn für die „Eigenlogik der Organisationen" (Kühl 2006: 79 ff.). Bei aller Berechtigung dieser Einwände sollte man aber den Beitrag nicht übersehen, den gerade Marx zu einer Theorie der Ebenendifferenzierung in expliziter Auseinandersetzung mit Smith beigesteuert hat. Bei diesem Beitrag geht es um die Unterscheidung von „Teilung der Arbeit innerhalb der Manufaktur und Teilung der Arbeit innerhalb der Gesellschaft" (Marx 1979: 371 ff.). Diese Unterscheidung führt unmittelbar auf das Thema der Differenzierung von Gesellschaft und Organisation, sie tut es aber in einer Pointierung, der es auf die Gegenläufigkeit der Ebenen ankommt. In der Konzentration darauf hat sie den späteren und eher verstreuten Aussagen, die es in der gleichen Richtung von systemtheoretischer Seite gibt, einiges voraus. An der Marx'schen Unterscheidung interessiert hier vorzugsweise die systematische Aussage. Deshalb sei nur kursorisch auf die generelle Entwicklungssequenz der Arbeitsteilungen - von der auf „physiologischer Grundlage" an - verwiesen, wie Marx (1979: 356 ff.) sie offeriert, ferner auf die an Gesichtspunkten reichhaltige Darstellung der neuzeitlichen Entwicklung der Manufaktur bis ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts (ebd.: 356ff). Dem zwölften Kapitel aus dem Ersten Band des Marx'schen Kapital, um das es hier vor allem geht, folgt das dreizehnte, das sich dann der Problematik von „Maschinerie und großer Industrie" zuwendet (ebd.: 391 ff.); die Arbeitsteilung und -differenzierung der Werkstatt im Smith'sehen Sinne hat hier weitgehend abgedankt. Im Übrigen nimmt Marx im zwölften Kapitel ausdrücklich Be50 Ebenso Kieserling 2004: 221, der von dem Marx'schen Versuch spricht, „die an der Fabrikorganisation abgelesene Gegnerschaft von Arbeitern und Kapitalisten auf die Gesellschaft im Ganzen zu übertragen."
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zug auf seine frühere Verhandlung des Arbeitsteilungsthemas im Elend der Philosophie (1972: 144 ff.), und das für uns entscheidende Argument findet sich schon hier: „Die Gesellschaft als Ganzes hat das mit dem Innern einer Fabrik gemein, daß auch sie ihre Arbeitsteilung hat." Allerdings: „Während innerhalb der modernen Fabrik die Arbeitsteilung durch die Autorität des Unternehmers bis ins einzelnste geregelt ist, kennt die moderne Gesellschaft keine andere Regel, keine andere Autorität für die Verteilung der Arbeit als die freie Konkurrenz. (...) Danach steht die Autorität in der Werkstatt und die in der Gesellschaft, in Bezug auf die Arbeitsteilung, im umgekehrten Verhältnis zueinander" (ebd.: 150 f.). Den hier inzwischen vertrauten Gedanken des Umkehrverhältnisses, der die Differenz der Ebenen im Aufweis ihrer direkten Gegensätzlichkeit zum Vorschein bringt, baut Marx im Kapital weiter aus. Gegen Adam Smith nennt er die beiden Arbeitsteilungen „nicht nur graduell, sondern wesentlich unterschieden" (1979: 375). Dieser sozialstrukturell wesentliche Unterschied hat zur Voraussetzung, dass es der Differenz zum Trotz auf beiden Seiten gleichwohl um .Arbeitsteilung' geht. Die Leitbegrifflichkeit der Arbeitsteilung steht auf keiner der beiden Seiten zur Disposition. Was aber macht dann den Unterschied? Es sind vor allem drei Hinsichten, auf die hin Marx ihn expliziert. Es ist dies zunächst der Blick auf die Weitergabe' des Arbeitsprodukts. Diese vollzieht sich auf der gesellschaftlichen Ebene tausch- und marktförmig; die Produkte werden zu Waren. „Was charakterisiert dagegen die manufakturmäßige Teilung der Arbeit? Daß der Teilarbeiter keine Ware produziert. Erst das gemeinsame Produkt der Teilarbeiter verwandelt sich in Ware" (ebd.: 376). Die Teilarbeiter tauschen nicht, sondern kooperieren wie innerorganisatorisch vorgegeben. Die zweite Hinsicht ist eine, die Fragen der Zeitlichkeit mit denen der Intentionalität bzw. Transintentionalität zusammenzieht. Marx formuliert es auf ingeniöse Art so: „Die bei der Teilung im Innern der Werkstatt a priori und planmäßig befolgte Regel wirkt bei der Teilung im Innern der Gesellschaft nur a posteriori als innre, stumme, im Barometerwechsel der Marktpreise wahrnehmbare, die regellose Willkür der Warenproduzenten überwältigende Naturnotwendigkeit" (ebd.: 377). Die dritte Hinsicht zielt, wie aus dem Elend der Philosophie schon vernommen, auf Autorität/Herrschaft bzw. das Gegenteil davon. Was sich hier entgegensteht, ist „die Anarchie der gesellschaftlichen und die Despotie der manufakturmäßigen Arbeitsteilung". Der Gegensatz hebt in-
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des den Zusammenhang, das Bedingungsverhältnis nämlich, in dem beide zueinander stehen, nicht auf (ebd.). Frühere Gesellschaftsformationen kennen den Gegensatz in dieser Form nicht. Blickt man nun auf die Arbeit am Gesellschaftsbegriff, die hier stillschweigend stattfindet, so ist zunächst die Gleichsetzung der .Gesellschaft' mit den ,Marktverhältnissen' von Bedeutung. 51 Die Ökonomisierung des Gesellschaftsverständnisses ist damit auf den Höhepunkt gebracht, wenn man es hier auch nicht mit der Marx'schen Gesellschaft ,in Gänze' zu tun hat. Der funktionale Primat' der Ökonomie, wie er seit Adam Smith die gesellschaftliche Selbstbeschreibung dominiert, ist bei Marx vorausgesetzt und zum Theorieprogramm erhoben. 52 Und im selben Zuge wird die Depolitisierung des Gesellschaftsbegriffs deutlich; sie wird es nicht zuletzt in einer Anarchiebcsàiicìbung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die keinesfalls mit .Unordnung' assoziiert werden darf, wohl aber mit .Konkurrenz'. Zu der Marx'schen Arbeit am Gesellschaftsbegriff gehört weiterhin dessen Zusammenführung mit dem Gedanken der Ebenendifferenzierung. Von der „Gesellschaft der kapitalistischen Produktionsweise" muss eben auch gesagt werden, dass in ihr anarchisch -gesellschaftliehe Verhältnisse einerseits und autoritätsbestimmt-hierarchische Organisationen andererseits einander entgegenstehend koexistieren (Marx 1979: 377). In der Gesellschaft hat ein Anderes Bestand gewonnen, das, wiewohl gesellschaftszugehörig, zur Gesellschaft im Gegensatz steht. Auf den Höhepunkt aber kommt der Marx'sche Gedankengang dort, wo er die Wendung ins Ideologiekritische nimmt. Der Passus, in dem auch vom Organisationsbegriff Gebrauch gemacht wird, ist es wert, insgesamt zitiert zu werden. Bei Marx (ebd.) heißt es: „Dasselbe bürgerliche Bewußtsein, das die lebenslängliche Annexation des Arbeiters an eine Detailverrichtung und die unbedingte Unterordnung der Teilarbeiter unter das Kapital als eine Organisation der Arbeit feiert, welche ihre Produktivkraft steigre, denunziert daher ebenso laut jede Solche Gleichsetzung gilt in der Gesellschaftstheorie des 20. Jahrhunderts als überwunden. Aber weiterhin gilt: „Märkte (...) gelten als ein wichtiges Merkmal der modernen Gesellschaft, aber gerade nicht als Organisation" (Kieserling 2004: 215 f.). Vgl. auch ebd.: 237 f., gegen die neoliberale Mode, Marktförmiges in Organisationen h i nei η zuprojizieren. 52 Zur Basis/Überbau-Problematik immer noch lesenswert Hahn 1979. 51
bewußte gesellschaftliche Kontrolle und Regelung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses als einen Eingriff in die unverletzlichen Eigentumsrechte, Freiheit und sich selbst bestimmende .Genialität' des individuellen Kapitalisten. Es ist sehr charakteristisch, daß die begeisterten Apologeten des Fabriksystems nichts Ärgres gegen jede allgemeine Organisation der gesellschaftlichen Arbeit zu sagen wissen, als daß sie die ganze Gesellschaft in eine Fabrik verwandeln würde." Daran aber ist impliziert: die markt- und konkurrenzbestimmte Gesellschaft ist (einstweilen) keinesfalls eine Fabrik, sie ist nicht .Organisationsgesellschaft'. Erst die Gesellschaft der Zukunft wird Organisationsgesellschaft sein, in der der Ebenengegensatz aufgehoben ist. Zugleich aber sieht man: auch dem .bürgerlichen Bewusstsein' ist ein Bewusstsein von der Ebenendifferenz eigen; es weiß, mit stark normativer Tönung, um die Inkongruenz von Fabrikorganisation und Marktgesellschaft.
4. Schlussbemerkung Wir haben zu zeigen versucht, dass in die sozialtheoretische Unterscheidung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft eine alteuropäische Vorgeschichte eingelagert ist, die sich insbesondere aus der Reflexion des Gesellschaftssystems ergibt. Während Luhmann aus der von Aristoteles maßgeblich bestimmten Tradition des politischen Gesellschaftsdenkens das inklusive Moment einer Differenzierung des Sozialen entlehnt, ist es die im 18. Jahrhundert einsetzende ökonomische Gesellschaftsbeschreibung, der Luhmann die Vorstellung abgewinnt, dass im Zuge der sozial-kulturellen Evolution verschiedene Sozialsysteme auf verschiedene Ebenen auseinandergezogen werden und sich gegensätzlich zueinander entwickeln. Luhmann entnimmt die Trias von ,1-O-G' aber nicht schlichtweg der Tradition. Es sind vielmehr die innerhalb einer historischen Semantik von .Gesellschaft' registrierten Probleme sozialer Ordnungsbildungen, auf die wir unsere differenzierungstheoretische Interpretation von ,Ι-Ο-G' beziehen. Nicht also die Trias selbst, sondern deren Ineinanderverschachtelt- bzw. Auseinandergezogensein ist es, was Luhmann Anlass gibt, in seiner Sozialtheorie Kontinuitäten zu Alteuropa herzustellen. Und so kommt es, dass er auch in evolutionärer Hinsicht die Möglichkeit gesehen (und offenbar auch den Bedarf gehabt) hat, seine Konzeption von Interaktion,
Michael Kauppert & Hartmann Tyrell: „Im umgekehrten Verhältnis" Organisation und Gesellschaft ganz explizit an die von Aristoteles ausgehende semantische Entwicklung und Traditionsbildung anzubinden, ja in diese hineinzuprojizieren. In einer Arbeit, die sich den „Organisationen im Wirtschaftssystem" widmet und der eine „historische Zwischenbetrachtung" eingefügt ist (Luhmann 1981a: 3 9 2 f.), heißt es: „An die Ordnungsstelle der politischen oder zivilen Gesellschaft ist das Gesamtsystem der Gesellschaft getreten, das, weil es funktional differenziert ist, nicht mehr durch Bezugnahme auf eine seiner Funktionen charakterisiert werden kann. Die Ordnungsstelle, die ehedem durch den Begriff des Hauses (oíkos, familia) besetzt war, hat sich in Organisationssysteme und in Familienhaushalte differenziert." Und Luhmann (ebd.: 393) fügt einigermaßen überraschend hinzu: „Was früher im formalen Sinne Gesellschaft (koinonfa, societas) hieß, lässt sich heute am besten durch den Interaktionsbegriff wiedergeben" (ebd.).53 Hier sind alteuropäisch-semantische Äquivalente zu .Gesellschaft', .Organisation und .Interaktion zum Thema gemacht, wobei man im Interaktionsfall vielleicht eher mit .philia' als Äquivalent gerechnet hätte. Darüber hinaus ist an dieser Stelle zweierlei bemerkenswert. Erstens verwendet Luhmann die Ausdrücke koinoma bzw. societas („im formalen Sinne") gerade nicht als (Gattungs-)Bezeichnungen f ü r soziale Systeme, sondern bereits als einen ihrer Typen (eine ihrer Arten): Interaktion. Zweitens verleiht Luhmann der Trias von Interaktion, Organisation und Gesellschaft an dieser Stelle nicht nur eine begriffliche Vorgeschichte. Er setzt mit Blick auf die Trias darüber hinaus auf eine überhistorische „Grundstruktur der sozialen Ordnung" (ebd.), in der „Ordnungsstellen" vorgegeben sind, die sich historisch je unterschiedlich besetzen lassen. Luhmann führt das am Fall der von Aristoteles ausgehenden Begriffstradition vor. Soweit wir sehen, hat er eine solche Position nur an dieser Stelle bezogen. Nichtsdestoweniger birgt sie eines der vielleicht interessantesten Probleme, das die Unterscheidung von Interaktion, Organisation, Gesellschaft der soziologischen Reflexion hinterlassen hat.
Es heißt dort (1981a: 393) weiter: „Dies strukturelle und semantische Revirement hat zahllose Konfusionen ausgelöst. Sie lassen sich bereinigen, wenn man die alte Makro / Mikro-Terminologie von Zivilgesellschaft und häuslicher Gesellschaft (pòlis/oikos) ersetzt durch die Unterscheidung von Gesellschaftssystem und Organisationssystemen in der Gesellschaft und die Gesellschaft dabei als funktional differenziertes Gesamtsystem auffaßt." 53
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Literatur Adorno, Th.W., 1970: Aufsätze zur Gesellschaftstheorie und Methodologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Aristoteles, 1971: Politik. Eingeleitet und übersetzt von Olaf Gigon. Zürich u. Stuttgart: Artemis. Aristoteles, 1995: Physik. Vorlesung über die Natur. Übersetzt von Hans Günther Zekl. Hamburg: Meiner. Bien, G., 1973: Die Grundlegung der politischen Philosophie bei Aristoteles. Freiburg/München: Karl Alber. Brunner, O., 1949: Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612-1688. Salzburg: Otto Müller. Brunner, O., 1966: Das „ganze Haus" und die alteuropäische „Ökonomik". S. 2 3 - 5 6 in: F. Oeter (Hrsg.), Familie und Gesellschaft. Tübingen: Mohr. Brunner, O., W. Conze & R. Koselleck (Hrsg.), 1972 ff.: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 8 Bde. Stuttgart: Klett-Cotta. Burkhardt, J„ O. Oexle, O. & P. Spahn, 1992: Wirtschaft. S. 511-594 in: O. Brunner, W. Conze & R. Koselleck (Hrsg), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 7. Stuttgart: Klett-Cotta. Euchner, W., 1968: Versuch über Mandevilles Bienenfabel. S. 7-55 in: B. Mandeville, Die Bienenfabel. Frankfurt/M.: Suhrkamp Ferguson, Α., 1986: Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Gigon, O., 1973: Einleitung, S. 7 - 4 6 in: Aristoteles, Politik. Zürich u. Stuttgart: Artemis. Hahn, Α., 1979: Basis und Überbau und das Problem der begrenzten Eigenständigkeit von Ideen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 31: 485-506. Hayek, F. Α. von, 1969: Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze. Tübingen: Mohr. Heintz, B„ 2004: Emergenz und Reduktion. Neue Perspektiven auf das Mikro-Makro-Problem. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 56: 1-31. Hirschmann, A. O., 1980: Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg. Suhrkamp: Frankfurt/M. Kaye, F.B., 1924: Introduction. S. X V I I - C X I V I in: B. Mandeville, The Fable of the Bees or, Private Vices, Publick Benefits.Bd. I. Oxford: Clarendon Press. Kieserling, Α., 2004: Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung. Beiträge zur Soziologie soziologischen Wissens. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Kieserling, Α., 2006: Schichtung ohne Interaktionsbezug. Eine moderne Sozialstruktur und ihre semantischen Korrelate. S. 173-207 in: D. Tänzler, H. Knoblauch & H.-G. Soeffner (Hrsg.), Neue Perspektiven der Wissenssoziologie. Konstanz: UVK.
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Autorenvorstellung Michael Kauppert, geb. 1971, 1993-2000 Studium der Soziologie und Philosophie in Bielefeld; Dr. phil., Promotion in Jena 2008; Juniorprofessor für Kultursoziologie an der Universität Hildesheim. Forschungsschwerpunkte: Kultursoziologie, qualitative Sozialforschung, Ethnologie, Sozialphilosophie. Buchpublikationen: Der Mensch - nach Rücksprache mit der Soziologie. Frankfurt/M. & New York (Campus) 2013. Herausgegeben mit Michael Corsten. Zuletzt: Hillarys Hand. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart. Herausgegeben mit Irene Leser, Bielefeld (Transcript) 2014. Zuletzt in dieser Zeitschrift: Wir-Sinn und fokussierte Motive: Zur biographischen Genese bürgerschaftlichen Engagements. ZfS 36, 5/2007, 346-363 (mit M. Corsten). Hartmann Tyrell, geb. 1943 in Dresden, 1965-1972 Studium der Soziologie, Geschichte und Kunstgeschichte in Münster/Westfalen. 1972-2008 an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld, zuletzt als api. Professor. Forschungsschwerpunkte: Gesellschaftstheorie, Geschichte der Soziologie, Religionssoziologie. Publikationen: Soziale und gesellschaftliche Differenzierung. Aufsätze zur soziologischen Theorie. Wiesbaden 2008: VS. Zuletzt in dieser Zeitschrift: Singular oder Plural. Einleitende Bemerkungen zu Globalisierung und Weltgesellschafi. in: B. Heintz, R. Münch & H. Tyrell (Hrsg.), Weltgesellschaft: Theoretische Zugänge und Empiriche Probleme. Sonderheft der Zeitschrift für Soziologie. Stuttgart (Lucius & Lucius) 2005, 1-50.
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft, 2014, S. 1 7 8 - 2 0 0
Der Raum der Interaktion. Räumlichkeit und Koordination mit Abwesenden in der frühneuzeitlichen Vergesellschaftung unter Anwesenden Space in Face-to-Face Society. How to Coordinate with Those Absent in Pre-modern Interaction Rudolf Schlögl Universität Konstanz, Fachbereich Geschichte und Soziologie, 7 8 4 5 7 Konstanz [email protected]
Z u s a m m e n f a s s u n g : Der R a u m erhielt unter den Dimensionen des Sozialen bei Niklas L u h m a n n keinen Platz, weil er ihn unter den Bedingungen moderner Vergesellschaftung d u r c h die Zeit ersetzt sah. Dagegen gab es bislang zwar empirischen Widerspruch, aber es w u r d e n keine theoretischen Alternativen formuliert. In einer Analyse frühneuzeitlicher Prozesse der Vergesellschaftung soll argumentiert werden, dass R a u m u n d Zeit in die Grundbegrifflichkeit der Systemtheorie als aufeinander verweisende, aber nicht aufeinander reduzierbare Begriffe eingelagert sind. D a z u werden die Sinnkonstitution in der frühneuzeitlichen Vergesellschaftung unter Anwesenden untersucht, die d a m i t verbundene Differenzierung von Interaktion, Organisation u n d Gesellschaft sowie die medial vermittelten, r a u m b e s t i m m t e n Probleme der Koordination mit Abwesenden. Als Ergebnis k a n n festgehalten werden, dass die Systemtheorie die medial u n d technisch bestimmten Umrechnungskosten zwischen R a u m u n d Zeit in jeweils historisch angemessener Weise berücksichtigen muss. Schlagworte: Vergesellschaftung unter Anwesenden; R a u m , Zeit, Koordination, Frühe Neuzeit S u m m a r y : The reason why L u h m a n n did not treat space as a social dimension was because he saw it as something replaced by time under the conditions of m o d e r n socialization. A l t h o u g h empirical objections have been raised about this stance, u p to now no theoretical alternatives have been formulated. In an analysis of early modern socialization processes, it is argued that in the framework of systems theory, space and time are present as mutually referring but not mutually reducible basic concepts. In addition, the constitution of m e a n i n g in early modern socialization processes a m o n g parties present in a particular context are also examined, as are the differentiation of interaction, organization, and society, on the one h a n d , and the medially defined problem of spatial coordination with parties who are absent, on the other. W h a t the analysis suggests is that systems theory must take account, in each case in a historically suitable way, of the medially and technically determined costs of conversion between space and time. Keywords: Face-to-Face Society; Space-Time Coordination; Early M o d e r n Society
Einleitung
l u n g b e d e u t s a m , dass in der m o d e r n e n Gesellschaft der R a u m
In der Entscheidung L u h m a n n s ,
den R a u m
aus
der Systematik seiner G r u n d b e g r i f f e zu v e r b a n n e n ,
als K o n s t i t u t i o n s p r i n z i p
des
Sozialen
h i n t e r d e r Z e i t v e r s c h w u n d e n sei ( L u h m a n n
1997:
3 1 4 f.). D a s f ü h r t e d a n n d a z u , d a s s S i n n b i l d u n g als
treten zwei M o t i v e deutlich hervor. Z u m einen w a r
R e s u l t a n t e zeitlicher, s a c h l i c h e r u n d sozialer D i f f e -
i h m die U b e r w i n d u n g der alteuropäischen Tradition
r e n z i e r u n g e n v o r g e s t e l l t w i r d u n d d e r R a u m als ei-
u n d d a m i t der Unterscheidung von einem (räumlich
gene D i m e n s i o n fehlt.
definierten) G a n z e n u n d seinen (darin befindlichen)
G l e i c h z e i t i g bleibt d e r R a u m a b e r i n e i n e r m e r k w ü r -
T e i l e n w i c h t i g ( L u h m a n n 1 9 9 4 : 2 0 ff.). D a s s c h l o s s e i n e n T h e o r i e e n t w u r f d e s S o z i a l e n a u s , d e r sich a n einem
Containerbegriff
des
Raumes
orientierte,
a u c h w e n n er k o n s t r u k t i v i s t i s c h g e f a s s t s e i n sollte. A n d i e Stelle v o n R a u m g r e n z e n t r a t e n D i f f e r e n z e n des Sinnes. Z u m zweiten w a r L u h m a n n die Feststel-
d i g e n W e i s e p r ä s e n t in d e r S y s t e m t h e o r i e . Es ist n i c h t n u r d i e r ä u m l i c h e M e t a p h o r i k , d i e in d e r f u n d a m e n talen Unterscheidung von System u n d U m w e l t mits c h w i n g t , a u c h w e n n m a n b e t o n t , d a s s es sich u m e i n e D i f f e r e n z des S i n n s h a n d e l t ( L u h m a n n 1994: 2 4 4 f.). U n t e r den Typen der gesellschaftlichen Differenzie-
Rudolf Schlögl: Der Raum der Interaktion
rung folgt wenigstens die Ordnung der segmentaren Gesellschaften, wie auch die der in Zentrum und Peripherie gegliederten, im strengen Sinn der Logik des Raums. Die Hierarchiebildung von hochkulturellen Adelsgesellschaften ist dann zwar nicht mehr räumlich gegliedert, bleibt aber auf Oben und Unten als genuin räumlich bestimmte Beobachtungskategorien angewiesen. In Bezug auf funktionale Differenzierung bemerkt Luhmann, dass die regionale und territoriale Differenzierung in Europa jene Freiräume des Experimentierens mit funktionsbestimmten Operationen geschaffen habe, aus denen schließlich an regionalen Schwerpunkten Sonderfunktionen sich derart verfestigten, dass nach und nach Rekursivität und operative Schließung möglich wurden (Luhmann 1997: 707, 711 f.). Man sollte allerdings festhalten, dass es sich dabei um den empirischen Befund theoretisch angeleiteten Beobachtens handelt. In den Formen der Systembildung, deren logische Vollständigkeit Luhmann schon in einer frühen, unpublizierten Fassung seiner allgemeinen Theorie sozialer Systeme behauptet, wie an dem in diesem Band erstmals gedruckten Manuskript zu sehen ist, hat der Raum insofern seinen Platz gefunden, als Luhmann Interaktion als konstitutiv raumbestimmt beschreibt (vgl. Luhmann 1997: 813-826). Die daran anschließende Beobachtung, dass Interaktion sowohl in Gesellschaft wie in Organisation vorkommt, hat allerdings unter anderem, weil stets die medialen Verhältnisse der modernen Gesellschaft vorausgesetzt und gleichzeitig so etwas wie eine gebremste Durchlässigkeit der Kausalitäten zwischen Interaktion, Organisation und Gesellschaft unterstellt wurden, nicht dazu geführt, den Raum für die systemische Iheoretisierung von Organisation und moderner Gesellschaft zu rehabilitieren. Kieserling, der in seiner Untersuchung in Rechnung stellt, dass Gesellschaft sich in Interaktion wiederfinden kann (Kieserling 1999: 79 f.), zieht daraus nicht den Schluss, den Raum in seinen Überlegungen an eine prominente Stelle zu rücken, weil er von der Nutzung von Verbreitungsmedien ausgeht. Daher kann er festhalten, die Organisation arbeite nicht als face-to-face-society (Kieserling 1999: 232). Fuchs entwirft seine „begrifflichen Untersuchungen" zur Beobachtung, ohne auf den Raum irgendwie einzugehen (Fuchs 2004). Diese Beobachtung ist ortlos, weil sie den diskursiven Fluss von massenmedial reproduzierten Begriffsdifferenzen voraussetzt und nicht bei raumgebundenen Beobachtungsperspektiven ihren Ausgangspunkt nimmt. Nassehi, der die perspektivische Beobachtung zwischen Systemen zunächst als Resultat einer
179 raumbezogenen Ordnung von Operationen in Rechnung stellt, misst diesem Raumbezug in modernen Gesellschaften ebenfalls nur noch metaphorischen Charakter bei und konzentriert sich folglich auf eine Gesellschaftstheorie der Zeit (Nassehi 2008). Dirk Baecker führt in seiner jüngsten Re-Lektüre von Spencer-Brown den Ausgangspunkt von Nassehi weiter. Er nutzt den Raum als eine Metapher; er entsteht durch das Beziehungsgeflecht zwischen formbestimmenden Unterscheidungen. Das führt dazu, ihn als ein Epiphänomen der Sachdimension zu bestimmen. Der Raum ist keine bloße „objektive" Stellenordnung, sondern eine durch Selbst- und Fremdreferenz von Beobachtern hervorgebrachte Ordnung des Widerspruchs der Perspektiven (Baecker 2013: 17 f., 23, 65). Darin zeigt sich, dass Luhmann mit seinen Theorieentscheidungen es nicht leicht macht, den Raum kategorial in die Begriffssystematik der Systemtheorie zu integrieren. Rudolf Stichweh hat es ausgehend von den Regionalisierungstendenzen in der Weltgesellschaft am energischsten versucht. Er identifiziert den Raum als eine eigenständige Sinndimension, die Luhmann deswegen vernachlässigt habe, weil die Evolution der Gesellschaft sie selbst mehr und mehr an den Rand von systemischen Selektionen gedrängt habe. Stichweh hält dies allerdings für ein Beobachtungsartefakt, das mit der zunehmenden Uberschreibung und Kontrolle von Raum durch Technik und Organisation zu tun habe, so dass die räumlichen Bedingungen des Sozialen unsichtbar würden (Stichweh 2000: 184-206; 2003: 99-102; 2008). Andreas Ziemann (Ziemann 2003) und Thomas Drepper (Drepper 2003) ergänzen diesen Ansatz jeweils mit eigener Empirie. Aus einer stadtsoziologischen Perspektive hat Klaus Kuhm den Raum als ein systemtheoretisch bestimmbares Medium beschrieben, das über die Differenz von Medium und Form zur Sinnbildung in sozialen Systemen genutzt werden kann. Vor allem die Grenzen eines sozial definierten Raumes eignen sich demnach als Interdependenzunterbrecher und können so zur Komplexitätsregulierung in Systemen zum Einsatz kommen. Kuhm steuert damit einen anspruchsvollen Begriff der Regionalisierung in der Weltgesellschaft an. In einem zweiten Schritt betonte er die Beobachterrelativität des sozialen Raumes, um das Programm einer Soziologie einzufordern, die Systeme darauf hin beobachtet, wie sie Raum zur Strukturierung ihrer Operationen nutzen (Kuhm 2000, 2003). Auch aus medienwissenschaftlicher Sicht wurden Vorbehalte gegen die theorietechnische Marginalisierung des
180
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2 0 1 4 , S. 1 7 8 - 2 0 0
Raumes in Luhmanns Konzept angemeldet. Niels Werber (1998) weist darauf hin, dass auch mit dem Gebrauch von Verbreitungsmedien der Raum in systemischen Operationen präsent bleibt, weil deren Raumwirkung sehr verschieden ist und weil sie vor allem eine Technik voraussetzen, deren homogene Präsenz in der Weltgesellschaft man nicht unterstellen kann. Urs Stäheli (1998) hat am Beispiel des Börsentickers gezeigt, wie solche Technik das Funktionssystem Wirtschaft ab der Mitte des 19. Jahrhundert im Weltmaßstab veränderte, weil es nur an bestimmten Orten verfügbar war und dort das Börsengeschehen umgestaltete .
kation von Bedeutung, aber sie indiziert bereits an dieser Stelle die Ausdifferenzierung von Gesellschaft gegenüber Anwesenheitskommunikation, deren Komplexität sich als selektive Verknüpfung von Anwesendem und Abwesendem darstellt. Auch in der Vergesellschaftung unter Anwesenden hat man Abwesende zu berücksichtigen. Raum ist daher bereits dafür von Bedeutung, dass Ebenendifferenzierung überhaupt in Gang kommen kann. W i r wollen hier deswegen einen theoretisch informierten, aber historisch orientierten Beitrag zu den Grundlagen des Zusammenhanges von Ebenendifferenzierung und Raum leisten.
Bei aller Kritik am systemtheoretischen Konzept des Raumes wird man nicht sagen können, dass die auf einen spatial turn rekurrierende handlungstheoretische Soziologie begrifflich geschlossene Alternativen anbietet. Sie arbeitet sich am Gegensatz zwischen absoluten und konstruktivistischen Raumkonzepten ab (Low 2001: 17-34) und lässt dabei erkennen, dass auch ein mit dem Begriff des spacing gefaßter Raumbegriff auf grundbegrifflicher Ebene nicht so in ein Handlungskonzept eingearbeitet werden kann, dass nicht nur die soziale Konstruktion von Raum, sondern auch die räumliche Dimension des Handelns greifbar wird, ohne an dieser Stelle auf Zeit zu rekurrieren. Räumliche Arrangements bestimmen das Handeln, nachdem diese sich erst einmal geformt haben (Schroer 2006: 175). Das Verhältnis der beiden Kategorien zueinander bleibt dann ungeklärt.
Drittens ist dann wegen des engen Zusammenhanges von Raum und Interaktion zu fragen, ob die allein durch Sinngrenzen definierten Systeme auch im Falle struktureller Koppelung in ihren Wechselwirkungen hierarchisiert sind. Das würde bedeuten, dass zum Beispiel Gesellschaft die Form ihrer Strukturdifferenzierung in Interaktion einträgt, so dass sie dort als Voraussetzung oder als Problem behandelt werden muss. Oder, dass Organisation Interaktionen nur berücksichtigt, soweit diese sich auf Entscheiden oder Mitgliedschaft beziehen. Denn denkbar wäre umgekehrt auch, dass die konstitutive Räumlichkeit von Interaktion in Gesellschaft wie in Organisation an der Strukturierung von Sozialsystemen beteiligt ist.
In einem systemtheoretischen Kontext schieben sich beim Stand der Diskussion demnach drei Fragen in den Vordergrund. Die erste bezieht sich auf die aus der Unterscheidung von Kommunikation und Beobachtung resultierenden Bindung von Sinn an den Raum. Sie kann anschließen an die Formulierung Luhmanns, dass Raum und Zeit in der Differenz von Stellen und Objekten dem neurophysiologischen Apparat „Medien der Messung und Errechnung von Objekten sind". Das Bewusstsein kann diese Operationen zwar nicht nachvollziehen, aber es nutzt die damit gegebene zeitliche und räumliche „Öffnung der Welt", indem die „Dinge" zu räumlich oder zeitlich bestimmten Formen gebunden werden (Luhmann 1996: 179 ff.) In diesen Formulierungen tritt räum- und zeitgebundene Wahrnehmung als Grundbedingung von Interaktion hervor. Das legt nahe, dass die mediale Funktion des Raumes auch in der modernen Gesellschaft nicht verschwunden ist. Die zweite Frage lässt sich aus der Unterscheidung von Anwesenheit und Abwesenheit entfalten. Diese Differenz ist zunächst in der Interaktionskommuni-
W i r werden diese Fragen hier nicht mit Bezug auf die moderne Gesellschaft diskutieren, sondern im Hinblick auf die Vormoderne des frühneuzeitlichen Europa. Das bietet den Vorteil, eine Gesellschaft beobachten zu können, die einerseits sich in wesentlichen Feldern über Kommunikation unter Anwesenden (Interaktion) reproduzierte, andererseits aber in ihren Operationen wie auch ihren Beobachtungen zunehmend durch Verbreitungs- und Erfolgsmedien geprägt wurde (Schlögl 2008a). Es sind die folgenden Schritte vorgesehen. Zunächst wird die phänomenologische Grundierung des Kommunikationsbegriffes in Erinnerung gerufen (1). Es soll argumentiert werden, dass Wahrnehmung, Beobachtung und Kommunikation durch Differenzbildungen bestimmt sind, die Raum und Zeit als aufeinander verweisende, aber nicht aufeinander reduzierbare Begriffe voraussetzen. In einem zweiten Schritt wird der Raum als Medium der Sinnkonstitution in der frühneuzeitlichen Vergesellschaftung unter Anwesenden thematisiert (2). Zwei weitere Abschnitte beschäftigen sich mit dem Raum in Differenzierung und Systembildung sowie mit seiner Bedeutung für Komplexität und Koordination (3,
Rudolf Schlögl: Der Raum der Interaktion 4). In Teil 3 wird gezeigt, in welcher Weise die Differenzierung zwischen Interaktion, Organisation und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit auf den Raum als Unterbrecher von Kommunikation zurückgreift. Teil 4 befasst sich dann in einer Perspektivenumkehr mit den Koordinationsproblemen in der Vormoderne und den Strategien ihrer Bewältigung. Ein fünfter Teil untersucht das Verhältnis von Raum und Medien. Es soll plausibel gemacht werden, dass Erfolgs- wie Verbreitungsmedien in ihrer Struktur und „Wirkweise" bis ins 18. Jahrhundert raumbestimmt blieben. Im Schluss werden einige theorietechnische Konsequenzen aus den vorausgehenden Beobachtungen gezogen.
1. Die Raum-Zeit der Interaktion Luhmann bestimmte Kunst als Resultat der vom Gehirn errechneten und vom Bewusstsein dann in seinen zeitverbrauchenden Operationen externalisierten und damit beobachtbaren Welt. Er setzte dabei den Raum bereits voraus. In ihm werden Wahrnehmung, Ich-Identität und der Bezug auf Alter (und sei es nur als Illusion) aus der Differenz von Innen und Außen entfaltet. Der Leib positioniert sich in einer Umwelt, verortet auf diese Weise das Ich und nimmt das Alter Ego in seinem leiblichen Außen wahr, so dass auf ein Innen geschlossen werden kann. Um die Erzeugung dieser Welt in den Operationen der sinnverarbeitenden Systeme Bewusstsein und Kommunikation aus der fortgesetzten Koppelung von Fremd- und Selbstreferenz darzulegen, greift Luhmann auf Husserl zurück (Luhmann 1996: 22-26). Deswegen sollen hier zunächst die bewusstseinsphänomenologischen Implikationen dargelegt werden, die in die Funktion des Raumes für die wechselseitige Reflexivität der Wahrnehmung in der Interaktionskommunikation eingelagert sind. Für Cassirer war die Anschauung des Raumes als des gegenwärtigen „Beisammenseins" der Dinge die nächst dem Nacheinander grundlegende Erfahrung des Bewusstseins. Er entfaltet dies dann als eine perspektivierte und sprachbasierte Beobachtung der Welt. Die Sprachen der „Naturvölker" lieferten ihm hinreichend Belege dafür, dass der Raum nicht hintergehbare Schemata für die Differenzbildungen bereitstellt, auf denen die Symbolisierung durch die Sprache aufruht (Cassirer 1956: 149-170). Die eigene Mobilität, Dauer, Veränderung und Wiederholungen im Raum werden auf diese Weise von Cassirer als Voraussetzung der Perspektivität von
181 Beobachtung identifiziert. Umgekehrt gestaltet die sprachgebundene Symbolisierungsfahigkeit des Menschen dessen Handlungs- und Gegenstandsraum zum abstrakten Anschauungsraum aus. In der Perspektivität des Blickes und dem Wandel des Erblickten liefert dieser Anschauungsraum dann den Anlass für Abstraktionen und über die wahrgenommene Differenz von Einheit der Sicht und Verschiedenheit der Gegenstände führt er in die Unterscheidung von Zeichen und Bezeichnetem (Cassirer 1958: 166 f., 177-187). Husserl setzte seiner Bewusstseinsphilosophie in „Erfahrung und Urteil" die Beziehung zwischen einem rein zeitlich erlebenden Bewusstsein und einer raum-zeitlich bestimmten Welt voraus. Sein Thema ist dann aber nicht die Figuration der „raumdinglichen" Außenwelt, sondern der Aufbau kategorialer Gegenstände durch die „logische Spontaneität" des Bewusstseins (Husserl 1972: 209-213, 311 ff.). Richtet dieses in seiner Zeitlichkeit autonome Bewusstsein sich auf die Welt, bewerkstelligt die Energie der gerichteten Aufmerksamkeit eine im Leib verortete Zentrierung dieser Welt, die zur Grundlage der Unterscheidung von Subjekt und Objekt wird. Für Merleau-Ponty setzt daher die Weltzuwendung die Differenz von Innen und Außen voraus und sie macht den Leib erfahrbar als einen, der sich im dreidimensionalen Raum bewegt. Das hat zur Folge, dass das Subjekt sich in seiner Existenz selbst als räumlich wahrnimmt, weil die Kategorien der Raumwahrnehmung jeder Wahrnehmung vorgängig sind (Merleau-Ponty 1966: 329, 331, 341). Ohne die Reifikation der Welt im Bewusstsein zu übernehmen, macht es die Bestimmung des Raumes in der Phänomenologie möglich, die systemtheoretische Feststellung, dass wahrgenommene Anwesenheit die Voraussetzung von Interaktionskommunikation ist, an wichtigen Punkten genauer zu bestimmen. Vier Aspekte scheinen dabei von Bedeutung: Der Gegensatz von zeitlich erlebendem Bewusstsein und dem gegenwärtigen Versammeltsein der wahrgenommenen Dinge im Raum; die Unterscheidung von Ich und Welt aus der durch die eigene Leiblichkeit möglich gewordenen Wahrnehmung von Innen und Außen; die grundlegende Bedeutung des Raumes für die symbolische und sprachliche Erschließung der Welt; schließlich der Raum als Voraussetzung für die ins Wahrnehmbare gebrachte Perspektivität der Weltbeobachtung. Diese Bestimmungen machen den Raum in einer systemtheoretischen Begrifflichkeit nicht nur in der Kunst, sondern auch in Interaktionskommu-
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nikation mit dem Schema Medium/Form beobachtbar. Luhmann hat hervorgehoben, dass Raum und Zeit als Medien der Welthervorbringung sich nicht unterscheiden, weil beide aus der „Messung und Errechnung von Objekten" hervorgehen (1996: 179 ff.). Das setzt die Unterscheidung von Objekten und Stellen voraus, damit dem Beobachter Objekte in ihrer raumzeitlich definierten Einmaligkeit, ihrer Dauer und in ihren Positionen zueinander zugänglich werden. Wie Zeit mit vorher / nachher, ist Raum Medium der Differenzbildung, das mit hier/dort, dieses / jenes, nah/fern, oben /unten, vorn/hinten, links/rechts beobachter- und dingrelationale, binäre Unterscheidungen bereitstellt (Cassirer 1956: 152-155), die sinngenerierend eingesetzt werden können, sofern sie als Differenzen beobachtet und kommuniziert werden, die im Horizont anderer Möglichkeiten einen Unterschied machen. Die im Raum identifizierten Objekte treten so in einen Zusammenhang und gewinnen Form. Luhmann hat das „Atmosphäre" des Raumes genannt (1996: 181). Für die autopoietische Schließung und die emergente Selbststrukturierung von Interaktionskommunikation ist diese raumbezogene Beobachtung und Sinnbildung konstitutiv, weil sie Alter und Ego bereits in der Wahrnehmung in ein deutbares Verhältnis zueinander setzt (Goffmann 1982: 54-97). Zweitens macht die phänomenologische Bestimmung des Raumes auf die leibgebundene Sinnenhaftigkeit aufmerksam, die den Wahrnehmungsraum des Menschen bestimmt. Dieser durch die Operationen des physischen Systems erzeugte Wahrnehmungsraum umschließt das, was der Mensch mit (unbewaffneten) Sinnen an Informationen (die für ihn einen Unterschied machen) zur Kenntnis nehmen kann und trennt das jenseits der Grenze liegende als Abwesendes davon ab. In diesem Wahrnehmungsraum vollzieht sich Interaktion als ein synästhetisches Geschehen. Die Grenzen dieses Wahrnehmungsraumes umschließen dasjenige und diejenigen, die anwesend sein können. Gegliedert wird er durch die spezifische Wahrnehmungsfähigkeit der einzelnen Sinne. Anwesenheit ergibt sich dann aus der Zentrierung von Aufmerksamkeit, die zwischen den Sinneseindrücken selektiert und die Wahrnehmung in Richtung und Tiefe akzentuiert (Cassirer 1958: 187 f.). Auf diese Weise entsteht innerhalb des auf die Operationen des psychischen Systems bezogenen Wahrnehmungsraumes ein durch die kommunikativen Operationen definierter Anwesenheitsraum, in dem Kommunikation und Beobachtung unterscheidbar auseinander treten.
Drittens ist der Raum der Wahrnehmung gekennzeichnet durch eine Gegenwart, in der geschieht, was gerade geschieht. Erinnerungsvermögen und Imagination führen dazu, dass sie sich abheben kann von dem schon und noch nicht Geschehenen. Die Räumlichkeit von Kommunikation wird genutzt, um den Raum als Beobachtungsschema zu gewinnen, das von Fall zu Fall aktualisiert werden kann (Waldenfels 2007: 77 ff). Das ist neben der Zeitlichkeit der Bewusstseinsoperationen die Voraussetzung dafür, dass der Mensch die mit der eigenen Mobilität verbundene Möglichkeit der Verlagerung des Wahrnehmungsraumes als Zeitlichkeit erfährt: Hier bin ich jetzt, dort war ich vorhin oder werde ich künftig sein (Cassirer 1958: 185). Das gilt auch für alle anderen. Aus dieser Erfahrung heraus wird es möglich, die Abwesenheit von Ego wie von Alter mit der Identität der Person zusammenzudenken und gleichzeitig eigene andere Rollen dabei in Rechnung zu stellen. Dies macht es möglich, Gesellschaft gegenüber der laufenden Interaktion der Gegenwart auszudifferenzieren und sich in Interaktion selektiv auf sie zu beziehen. Damit ist viertens deutlich, dass die Bestimmung des Wahrnehmungsraumes der Interaktionskommunikation in der Sozialdimension wie in der Sachdimension über Zeit definiert ist. Damit Erwartungen erwartbar werden, also doppelte Kontingenz abgebaut wird, muss die Synchronisation von künftigen Gegenwarten erfolgen, die damit notwendigerweise Abwesende einbezieht (Nassehi 2008: 182-194, 238-245). Eine Gesellschaft der raumgreifenden „Interaktionszusammenhänge" (Kieserling 1999: 223) ist deswegen nicht als Gesellschaft der laufenden Gegenwart zu denken. Komplexität kann sie nur dann aufbauen, wenn sie sich auf zeitverbrauchende Koordination von unterschiedlichen Gegenwarten im Raum einstellt und dafür Lösungen findet. Sie sind in ihrer Form durch die doppelte Sequenzialität von Interaktionskommunikation bestimmt: Ego kann nur jetzt hier und später dort sein, und Anwesenheitskommunikation prozessiert selbst sequentiell Redebeiträge und Themen folgen aufeinander. Wahrnehmende Welthervorbringung, Beobachtungen und Kommunikation sind in elementarer Weise durch Differenzbildungen bestimmt, die Raum und Zeit hervorbringen wie voraussetzen. Dabei verweisen beide Kategorien stets in einer Weise aufeinander, dass sie zwar gegeneinander verrechnet werden können, aber nicht aufeinander reduzierbar sind. Mit dem Raum würde auch die Zeit verschwinden.
Rudolf Schlögl: Der Raum der Interaktion
2.
Der Raum als ein Medium der Beobachtung und der Kommunikation
Es kann als eine universalhistorische Besonderheit gelten, dass die europäische Gesellschaft sich ohne nennenswerte Einschränkungen auf die Erfindung des Johannes Gutenberg einließ und sie zum allgemeinen Gebrauch freigab. Obwohl die Ausweitung des Schriftgebrauches schon seit dem 14. Jahrhundert einen wachsenden Bedarf für Handschrift wie für Drucktechnik signalisiert hatte und die gesellschaftliche Erschütterung der Reformation die Akzeptanz der Drucktechnik stärkte, wuchs die Gutenberggalaxis in der Folge nicht explosionsartig, sondern sektorenweise und langsam. Die sozialen Einrichtungen der Gesellschaft blieben in ihrer Logik auf die Kommunikation unter Anwesenden eingestellt. Zwar wurden „soziale Tatsachen" nach und nach in ihrer medialen Wirklichkeit greifbar, aber ihre operative Reproduktion vollzog sich auch noch über das 17. Jahrhundert hinaus größtenteils im Modus der Interaktion. Die Wahrnehmung und Beobachtung der Welt war in Folge dessen leibzentriert und durch die Reichweite der Sinne konditioniert. Damit war der Raum auch weiterhin ein umfänglich in Anspruch genommenes Medium der frühneuzeitlichen Prozesse der Vergesellschaftung. Das ist in dreifacher Weise zu verstehen. Die Reichweite der Sinne insgesamt bestimmte (erstens) über die Grenzen der Interaktionssysteme, die damit weit über die Hörweite des gesprochenen Wortes hinaus ausgedehnt waren und all das erfassen konnten, was überhaupt zu hören, vor allem aber auch zu sehen war (Loenhoff 2004: bes. 120-149). Die spontanen oder auch durch Glockengeläut veranlassten Versammlungen von Menschenmengen auf städtischen Plätzen, die damit zur handlungsfähigen, mächtigen und oft für die Ratsherren der Stadt bedrohlichen Gemeinde wurden, zeigen dies ebenso wie die lokalen Versammlungen der Bauern Südwest- und Mitteldeutschlands zwischen 1523 und 1525 (Oelze 2004; Alter 1995: 19-30). Aus städtischen Gemeinschaften wurde man durch Stadtverweis ausgeschlossen, ein längerer Aufenthalt außerhalb von Städten bedrohte das Bürgerrecht (Simmel 1926: 521). Weil Interaktionssysteme in ihrer Sinnproduktion nicht allein auf das Sprechen angewiesen sind (Bahrdt 1996: 93-96), sondern die Dinge wie auch die Menschen im Raum durch das perspektivische Sehen und vor allem Verorten in ihren Relationen zueinander deutbar werden, wurden (zweitens)
183 die basalen Kategorien der Raumwahrnehmung zur Grundlage aller performativen „Aufführung" der gesellschaftlichen Ordnung, wie sie in Gestalt von Prozessionen, Karnevals- und Leichenzügen oder auch Herrschereinritten als Reproduktion und gleichzeitige Hervorbringung einer in hierarchischen Differenzen sich selbst beobachtenden Gesellschaft praktiziert wurde (z.B. Rudolph 2011: 24). Dass abbildende Reproduktion und hervorbringende Aufführung hier für alle Beteiligten ungeschieden ineinander lagen, zeigte sich nicht nur in den Auseinandersetzungen zwischen Gruppen und Individuen um Reihenfolgen, Abstände und Anordnungen im Raum, die für alle diese Ereignisse in großer Dichte überliefert sind, sondern auch darin, dass seit Ende des 16. Jahrhunderts in zunehmender Häufigkeit auf den Druck zurückgegriffen wurde, um solche Performanzen vor allem aus dem höfischen Kontext nachvollziehbar zu machen. Das bezog nichtbeteiligte Abwesende in das Geschehen ein, verschaffte Anwesenden einen Überblick, der wegen der begrenzten Wahrnehmungsfähigkeit im komplexen Geschehensverlauf sonst nicht zu gewinnen war, und stellte die Deutungshoheit über die Inszenierung sicher. Diese Festbeschreibungen wurden oft vorher verfertigt, auch vorher gedruckt und hatten sich damit als Texte gegenüber den Ereignissen verselbstständigt. Es gab im 17. Jahrhundert Höfe, die diese mediale Vervielfältigung der Interaktion ablehnten, weil das Wort und das Bild das Gesamterlebnis der Beteiligten wiederzugeben nicht in der Lage seien (Schenk von Stauffenberg 2013). Strukturierte Vergesellschaftung ließ sich demnach eben nur eingeschränkt medial vermitteln, sondern bedurfte der wahrgenommenen Anwesenheit und sei es nur als „Zuschauer". Deswegen konnte man umgekehrt den politischen Prozess zum Stillstand bringen, indem man individuell oder in Gruppen aus Städten auszog oder Ständeversammlungen unter Protest verließ. Wer an Entscheidungen nicht beteiligt war, konnte sich vorbehalten, sich nicht an sie gebunden zu fühlen (Schmid 1995: 173-197). Diese synästhetische räum- und damit beobachtungsbezogene Vergesellschaftung, die sich seit dem Spätmittelalter zunächst in den Städten, dann seit der Mitte des 16. Jahrhunderts auch an den zu ortsfesten Residenzen um- und ausgebauten Herrscherhöfen in immer höherer Komplexität vollzog, stellte die Beteiligten (drittens) in einen interaktionsverdichteten Alltag, der die eigene Leiblichkeit fast mit Notwendigkeit zum Ausgangspunkt einer Perspektivierung der kommunikativen Welt machte (Zakharine 2005;
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Schlögl 2004). Raum und Körper wurden unter diesen Umständen gemeinsam zu einem Perpetuum Mobile der Sinnproduktion. Für die Sinne war der eigene Leib wie der des Gegenüber wahrnehmbar und beide waren in Kommunikation deswegen interpretierbar. Norbert Elias hat den daraus resultierenden Prozess der Modellierung von Leiblichkeit seit seinen Anfängen im Spätmittelalter im Detail bis zu den Höhepunkten im 17. Jahrhundert nachgezeichnet. Es war nicht nur ein Disziplinierungsprozess, der schließlich im 18. Jahrhundert vor die Frage führte, ob der Körper nicht als Störfaktor der Kommunikation beobachtet werden müsse (Hengerer 2005). Vor allem in der zeremoniell bestimmten höfischen Kommunikation ist nachzuvollziehen, dass es darum ging, den Körper in der Interaktion in seiner medialen Funktion zu raffinieren und immer weiter zu spezialisieren. Die Physiognomik erreichte den Status einer gesellschaftsrelevanten Wissenschaft. Die soziale persona war wesentlich vom Leib bestimmt. Er fungierte in vielen Bereichen als das entscheidende Medium sozialer Inklusion und entsprechend intensiv war das Bemühen, ihn in seinen wahrnehmbaren und damit interpretierbaren Regungen zu kontrollieren und in Form zu bringen. Der Ausschluss von Schwerverbrechern aus der städtischen Gemeinschaft vollzog sich als Hinrichtung, eine völlige „Entsozialisierung" verlangte, dass nicht nur ihre Körper vernichtet wurden, indem man sie verbrannte oder den Tieren überließ. Sie wurden damit auch nicht in die Erinnerungs- und Kommunikationsgemeinschaft aufgenommen, die die Lebenden sonst mit den Verstorbenen pflegten, weil sie keinen Platz auf den Friedhöfen bekamen (van Dülmen 1985: 121—145). In besonders dramatischen Fällen, etwa bei den Rädelsführern eines Aufruhrs, wurden auch die Häuser eingerissen, in denen die Betreffenden gelebt hatten. So geschah es im 17. Jahrhundert noch im Fettmilchaufstand in Frankfurt (Eibach 2003: 116).
3. Raum, Systembildung und gesellschaftliche Differenzierung Die Differenz zwischen Gegebenem und Möglichem, die sich in den Dimensionen des Sinns realisiert (Luhmann 1994: 107-120), ist historisch bestimmt. Die den Sinndimensionen jeweils zugrunde liegenden Horizonte des Differenten haben eine den gesellschaftlichen Differenzierungsmustern angepasste Form.
Die hierarchische Differenzierung der mittelalterlichen Gesellschaft realisierte sich, indem die Verschiedenheit in der Sachdimension von Kommunikation als stabile Ungleichheit in der Sozialdimension umgesetzt wurde (Nassehi 2008: 260 ff.). Das verschaffte der Sozialdimension einen gewissen Vorrang vor der Sachdimension im Komplexitätsaufbau der sozialen Welt. Sie war in Gruppen eingeteilt - Adel, Bürger, Bauern oder Heilige, Sünder, Heiden —, in denen jeweils auch sachlich-funktionale Verschiedenheit realisiert wurde. In den Gruppen und zwischen ihnen wurden Kommunikationen durch Moral selektiert und Erwartungen durch Ehre gesteuert. Entsprechend konnte die Sachdimension von sozialem Sinn sich nur im Rahmen einer durch Gott garantierten Ordnung der Welt entfalten. Differenzen waren ihr im Schöpfungsakt eingeschrieben, so dass das Wesen der Dinge und gleichzeitig ihr Platz in der Ordnung der Welt an ihrem Aussehen und ihrem Namen zu erkennen waren. Der Ort bestimmte das Wesen der Dinge und ihre Eigenschaften. Bis ins 17. Jahrhundert hielt die intensive Suche nach diesen figurativen Entsprechungen zwischen Mikro- und Makrokosmos an und bestimmte die Zeichen- und Sprachtheorien (Eco 1994). Erst die Neue Wissenschaft begann, sich mit der Erscheinungsform der Dinge zu begnügen, ohne allerdings die Frage nach den Korrespondenzen bereits zu suspendieren, wie Newton selbst vorführte (Dobbs 1991). Unübersichtlichkeit und Kontingenz der Welt wurden der Sündhaftigkeit des Menschen zugeschrieben, und entsprechend galt ihm die Forderung, die fortlaufende Korruption der göttlichen Ordnung durch Vermeidung der Sünde nicht weiter zu betreiben, sondern im Gegenteil an ihrer Wiederherstellung mitzuarbeiten. Die Differenz von Ereignis und Dauer, aus der sich die Zeitdimension des Sinns aufspannt, war am Beginn der Neuzeit noch als Unterscheidung von vergänglicher Menschenwelt des Wandels und unbewegter Ewigkeit Gottes präsent. Die seit dem 13. Jahrhundert mögliche mechanische Zeitmessung diente in erster Linie der Nachbildung des Umlaufs der Gestirne. Die Ewigkeit reichte in die Welt der Menschen durch die Vorsehung Gottes hinein und verhinderte ein definitives Auseinandertreten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das verband die Lebenden mit den Toten und band sie an sie, wie die Zukunft nicht zuerst von Entscheidungen in der Gegenwart abhängig war, sondern in der Hand Gottes lag. Die Reformation schob zwar die Transzendenz und damit die Ewigkeit aus der Welt, aber sie stärkte ihre Bedeutung für das Leben der Gläubigen nachhal-
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tig, indem sie an die Stelle der Vorsehung die noch viel radikalere Prädestination setzte. Die reformierte Negation der Willensfreiheit, welch letztere man als Eingriff in die Vorsehung Gottes verstand, verdeutlicht, wie eng dieser Zusammenhang geknüpft war. Erst im 17. Jahrhundert werden Risse in diesem Zeitverständnis greifbar, die eine weitere AusdifFerenzierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dann möglich machen (Schlögl 2013b). Die Semantik der Sinndimensionen ließ den räumlichen Bezug in jedem Fall durchscheinen: Die Zeit entsprang der gleichförmigen Bewegung der Himmelskörper, sachliche Bestimmungen waren verbunden mit einer Positionierung in einer räumlich vorgestellten kosmischen Ordnung, und die soziale Differenzierung ging ebenfalls mit räumlichen Grenzziehungen einher. Entsprechend realisierte Vergesellschaftung unter Anwesenden die in den Dimensionen des Sinns eingeschlossenen, differenten Möglichkeitshorizonte bevorzugt unter Rückgriff auf räumliche Arrangements. Das bestimmte die Prominenz des Raumes in Prozessen der strukturellen Differenzierung und in Prozessen der Systembildung. Der Adel müsse sich den Umgang mit den Bauern verbieten, um seine Identität und seine Rolle zu gewinnen, schrieb Castiglione noch im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts in seinem „Hofmann" (Castiglione 1986: 118 f.). Das setzte die Beachtung von Schranken der Begegnung und damit der raumbezogenen Strukturierung der Welt voraus. Arbeitsteilig-funktionale Differenzierungsformen verzichten auf die Festlegung in der Sozialdimension und spezifizieren ihre Kommunikation allein in der Sachdimension, jedenfalls solange sie sich nicht als Organisation formieren. Jeder muss zu allen Funktionssystemen Zugang haben. Daraus könnte geschlossen werden, dass der Raum schon wegen der Universalität von Funktionssystemen für Integrations- und Differenzierungsvorgänge an Bedeutung verliert. Tatsächlich belehrt aber die Strukturgeschichte der frühneuzeitlichen Gesellschaft darüber, dass die Dominanz der Interaktionskommunikation den Raum in doppelter Weise für Differenzierung und Systembildung nutzte: Wie immer markierte Grenzen im Raum unterbrachen Kommunikationen, wodurch Differenzierung möglich wurde, und sie umschlossen Wahrnehmungsräume, in denen sich spezifizierte systemische Integration bis hin zur operativen Schließung vollziehen konnte (vgl. Kuhm 2000: 334). Der erste Aspekt wird dort am besten greifbar, wo sich die funktionale Spezifikation gewerblicher Pro-
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duktion und des regionalen wie transregionalen Handels innerhalb der Hierarchie der Adelsgesellschaft ausdifferenzierte. Seit dem 12. Jahrhundert entfaltete sich in Europa eine Landschaft von Städten unterschiedlicher Größe, die zwar in verschieden gestalteter herrschaftlicher Abhängigkeit standen, weil sie den adligen Herren den Zugriff auf diese Quelle des Reichtums sichern sollten, die aber schnell durch Privilegien so viel Autonomie gewannen, dass sie sich politisch als selbstregierte Kommunen etablierten und die Hierarchie der Adelsgesellschaft durchbrachen, indem ihre Bürgerrechte die personalen und sachlichen Bindungen ihrer gesellschaftlichen Umwelt negierten (Isenmann 1988: 26-32, 76-87). Stadtluft machte zum Verdruss des Adels frei. In diesem Prinzip realisierte sich der Umstand, dass Verschiedenes unter Bedingungen der Anwesenheitskommunikation nur nacheinander realisiert werden kann. Weil Anwesenheit ortsdefiniert ist, braucht es räumliche (und personelle) Trennung, damit Verschiedenheit gleichzeitig möglich wird. Berücksichtigt man diesen Zusammenhang, wird sofort einsichtig, dass auch andere Sonderfunktionen in dieser Gesellschaft im Wege räumlicher Separierung und rechtlich meist als Korporationen realisiert wurden. Die Liste reicht von Klöstern über Zünfte bis hin zu Universitäten. Auch die höfische Ausgestaltung der staatlichen Herrschaft in Residenzen folgte diesem Prinzip, und die Architekturlehre seit Alberti hielt dies immer wieder fest (Alberti 2005: 175-185; Palladio 2009: 93, 122). Wo man es zu negieren versuchte, wie zum Beispiel im Fall der Beginen, die ein gottgeweihtes Leben im Sinn der Devotio Moderna in kleinen Frauengemeinschaften inmitten des städtischen Lebens zu realisieren suchten, kam es zu erheblichen Konflikten nicht nur mit den geistlichen Obrigkeiten, sondern meist auch mit der Bürgerschaft der Städte (Patschovsky 1974). Bodin zog in den 1570er Jahren aus diesen Zusammenhängen den Schluss, dass Korporationen die wichtigsten Einrichtungen einer res publica seien. Nur durch sie könne der Mensch sich an Gesellschaft beteiligen und nur durch sie ergebe sich daher der Zusammenhalt der societas civilis (Bodin 1981: 521-524). Die räumliche Ausdifferenzierung der Sozialdimension wurde dann umgekehrt genutzt, um prekäre Inklusionsverhältnisse möglichst konfliktvermeidend zu gestalten. Dies erwies sich insbesondere im dichten Interaktionsraum der Stadt als notwendig. Den Juden waren Ghettos des Wohnens zugewiesen. Ihre weitgehend in den Alltag der Städte inte-
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grierte Lebensweise führte aber seit der Mitte des 15. Jahrhunderts zu Pogromen und zu ihrer schließlichen Vertreibung. Fremde Händler sollten sich in Handelsstädten in Sonderbezirken aufhalten. Viertel oder Straßenzüge wurden zwar gewerblich oder sozial nie völlig homogenisiert, aber doch soweit „spezialisiert", dass der ehrenrührige und damit problematische Kontakt mit anderen weniger wahrscheinlich wurde (Jütte 1991). Räumliche Separierung strukturierte aber auch auf gesellschaftlicher Ebene. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nahmen die merkantilistischen Ökonomen die räumliche Umsetzung sachlicher wie personeller Differenzierung als Grundlage ihrer Modellbildungen. Für Alexandre Le Maître realisierte sich die gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land in Form eines Netzes von Städten, deren Entfernung voneinander sich durch ihre Größe bestimmte, weil davon auch der Umfang des agrarischen Umlandes abhängig war, das ihnen ökonomisch wie auch verwaltungsmäßig und rechtlich zugeordnet sein sollte. Diese segmentare Ordnung von Zentrum und Peripherie wiederholte sich im Gesamtstaat, weil das Netz der villes capitales zusammengehalten wurde durch die Hauptstadt als dem Sitz des Hofes und der monarchischen Herrschaft (Le Maitre 1682: 9-20). Räumliche und architektonische Gliederung erlaubte es, die kommunikative Integration nach innen zu verdichten und sie dekontextualisierte gegenüber einem Außen, das damit zur systemfremden Umwelt werden konnte. Das wurde nicht nur benutzt, um Ausdifferenzierungen in der Sachdimension voranzutreiben, sondern auch, um Sonderformen der Systembildung zu ermöglichen. Die Steuerung der Kommunikation mit Herrschern durch das Zeremoniell, vor allem aber durch architektonische Vorkehrungen und Gliederungen des Raumes sind bekannte Phänomene. Letztlich ging es dabei um die Ausgestaltung einer sozialen Position, die unabhängiges, nicht mehr in die Pressionen von Interaktionskommunikation eingebundenes Entscheiden erlaubte. Philip II. von Spanien isolierte sich völlig am Hof in Madrid und verkehrte auch mit seinen engsten Beratern nur schriftlich, weil ihm dies, wie er äußerte, erlaubte, zu jeder beliebigen Zeit auf deren Ratschläge zurückzugreifen, so dass seine Entscheidungsproduktion auch in ihrem Zeitrhythmus von der Umwelt entkoppelt war (Brendecke 2013). Genau diese Form der fürstlichen Entscheidungsautonomie war den Zeitgenossen aber suspekt. Castiglione hatte dem Adel dringend geraten, seine Land-
güter zu verlassen und das vielfach kritisierte, weil sittenverderbende Hofleben auf sich zu nehmen. Man müsse die Freundschaft des Fürsten suchen, damit er sich beraten lasse. Auf diese Weise sei die Tyrannei am zuverlässigsten zu verhindern (Castiglione 1986: 355-361). Um Einfluss auf die Zukunft zu nehmen, musste eine Gegenwart räumlich bestimmt und isoliert werden. Das stand auch hinter dem reformatorischen Progamm zur Verlegung der Friedhöfe. Um die Gegenwart aus den Händen der Toten zu befreien, propagierte man - wenngleich zunächst mit mäßigem Erfolg - deren Verlegung an den Rand der Städte (Koslofsky 1999). Uberall dort, wo die frühneuzeitliche Gesellschaft ihre erreichte Komplexität durch verfahrensmäßig gestaltetes Entscheiden zu bewältigen suchte, griff sie auf räumliche Separierung von „Einrichtungen" und auf die innere Gliederung von Räumen durch Sitzordnungen, Barrieren oder Sitztribünen zurück, um die dann dort laufende Kommunikation unter Anwesenden so zu gestalten, dass nachvollziehbare und seit der Mitte des 17. Jahrhunderts immer häufiger auch durch qualifizierte Mehrheiten anstelle von Einstimmigkeit getragene Entscheidungen möglich wurden. Das lässt sich für Ständeversammlungen nachvollziehen und ebenso für das seit dem 15. Jahrhundert sich institutionalisierende Gerichtswesen, mit dem das gewaltbasierte Recht des Fehdewesens nach und nach in ein Richterrecht, das Kodifikationen folgte, umgewandelt wurde (Schlögl 2009; Stollberg-Rilinger 2001, 2010). Noch am Ende des 18. Jahrhunderts erwies sich die Einrichtung von neuen Kollegien in landesherrlichen Verwaltungen als ein Problem des festen Tagungsortes und ließ sich hintertreiben, indem man ihn verweigerte (Dross 2006). An den sich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts entwickelnden Verwaltungen in den monarchischen Herrschaftszentren kann darüber hinaus nachvollzogen werden, wie räumliche Gliederung genutzt wurde, um kommunikative Prozesse zu entkoppeln, aber so, dass diese an definierten Stellen und zu definierten Zeiten wieder aufeinander bezogen werden konnten. Die Architektur gibt Organisationen einen Ort und ist neben Stellenplänen und Geschäftsordnung Teil ihrer Selbstbeschreibung (Drepper 2003: 113 f.). Auf diese Weise kann Organisation offenbar zu dem Ort frühneuzeitlicher Vergesellschaftung werden, an dem man zuerst aufhört, Abwesenheit vor der Folie von Anwesenheit zu beobachten (Hengerer 2013: 23-27).
Rudolf Schlögl: Der Raum der Interaktion
4. Komplexität, Koordination und Raum Peter Laslett hat die face-to-face-society als eine Gesellschaft hoher synaptischer Verdichtung beschrieben. Damit meinte er nicht nur, dass jeder jeden kennt und von ihm das weiß, was notwendig ist, um Interaktion und Kooperation erfolgreich zu gestalten, sondern dass jede Handlung durch die synaptische Struktur des Sozialen alle anderen im gesellschaftlichen Zusammenhang stets erreicht (Laslett 1956: 157, 163 f.)· Diese face-to-face-society hat keine internen Grenzen. Sie entwickelt daher auch keine Selektivität der Verknüpfung. Voraussetzung dafür ist die zahlenmäßige Überschaubarkeit der Mitglieder und ein ebenso überschaubares Wohngebiet. Diese Vorstellung behielt bis zum Beginn der Moderne ihre Attraktivität. Bereits Aristoteles hatte das so geschrieben und Rousseau sollte dies im 18. Jahrhundert immer noch so sehen. Eine derart verfasste Gesellschaft hat keine Koordinationsprobleme, weil sie sich selbst das Medium der Koordination ist, das allerdings zu strikter Koppelung tendiert und kommunikative Kontingenz durch eine hohe Dichte von Verhaltensnormen und Kontrolle bearbeitet. Sie gleicht dann eher einem Ameisenstaat als einer Gesellschaft. Mit diesem Konzept lässt sich die Gesellschaft Europas am Ende des 15. Jahrhunderts nicht mehr angemessen beschreiben. Sie war, man muss sich nur die römische Kirche vor Augen führen, längst in räumlich größeren Zusammenhängen integriert. Auch Adelsherrschaft strebte in vielen Kriegen seit dem 14. Jahrhundert nach weitaus umfänglicheren räumlichen Einheiten. Räumliche Ausdehnung sozialer Einheiten benennt das Problem offenkundig aber nicht mit ausreichender Genauigkeit. Gesellschaften können mehr Komplexität nur dann aufbauen, wenn die Koordination von laufender Gegenwärtigkeit mit abwesender mindestens sozialer möglicherweise auch sachlicher Verschiedenheit gelingt (Nassehi 2008: 242-247; Luhmann 1990). Das muss für systembezogene Strukturierung wie für System / UmweltRelationen bewältigt werden. Es handelt sich also nicht nur um ein Übertragungsproblem, sondern um die Gestaltung von Beobachtungsverhältnissen und um die berechenbare Koordination von Erwartungen zwischen Anwesenden und Abwesenden unter Bedingungen doppelter Kontingenz. Die in der modernen Gesellschaft für dieses Problem verfügbaren Lösungen, nämlich die Koordination durch Programme, organisationsförmige Gestaltung von Systemen und symbolisch generalisierte Kommu-
187 nikationsmedien, die dann über die universelle Geltung einer kalendarischen und chronometrisch normierten Weltzeit als Synchronisation von Abläufen möglich ist, stand im 16. Jahrhundert noch längst nicht zur Verfügung. Um die Dimensionen des Problems zu verstehen, sollen die Möglichkeiten der frühneuzeitlichen Gesellschaft hier knapp skizziert werden. Die Normierung der Zeit gab es. Seit dem 14. Jahrhundert schlugen Turmuhren in den Städten, damit man die Ortszeit bestimmen konnte, und um die von Gott geschaffene Mechanik des Himmelsgewölbes beobachten zu können, führte man einen Kalender. Als man im zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts entdeckte, dass dieser mit dem Gang der Gestirne nicht übereinstimmte und man katholischerseits einen neuen einführte, dem die Evangelischen nicht folgen wollten, ergab sich daraus zwar in Augsburg und wohl auch in anderen gemischtkonfessionellen Städten ein Zerfall des koordinierten städtischen Alltags, weil Fest- und Markttage jetzt zweifach stattfanden (Koller 2007). Aber man arrangierte sich, und erst im 18. Jahrhundert fanden die evangelischen Reichsstände die kalendarische Differenz so störend, dass sie sich dem gregorianischen Kalender anschlossen. Was die chronometrische Zeit anbelangte, so zeigt das autobiographische Schreiben, dass der Gang der Uhren den Zeittakt des Lebens bis ins 18. Jahrhundert auch in den Oberschichten kaum bestimmte (Greyerz 2007). Nicht die Zeit definierte also das zentrale Koordinationsproblem gesellschaftlicher Komplexität, sondern der Raum gerade weil es nicht um Übertragung ging, sondern um doppelte Kontingenz. Die sich weitgehend über Anwesenheitskommunikation reproduzierende Gesellschaft des Hoch- und Spätmittelalters hatte eine Reihe von kommunikativen Strategien entwickelt, mit denen es möglich war, das wahrscheinliche Verhalten Abwesender in einer laufenden Gegenwart so zu konditionieren, dass es als erwartbar in Kommunikation und ihre Selektionen einbezogen werden konnte. Ich will fünf solcher Strategien idealtypisch unterscheiden und sie nach ihrer Reichweite, ihren Einsatzfeldern, ihrer Bindewirkung und Verlässlichkeit charakterisieren. Damit lassen sie sich in ihrer Generalisierbarkeit in den drei Dimensionen der Sinnbildung einschätzen. (1) Kleine, überschaubare Gemeinschaften greifen auf den kommunikativen Code der Ehre zurück, um Interaktionsabläufe auch über Raum und Zeit hinweg erwartbar zu machen. Das lag in der eu-
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ropäischen Vormoderne deswegen nahe, weil Ehre gleichzeitig die Stratifikation der Gesellschaft reproduzierte. Ihre funktionalen Begrenzungen lagen aber darin, dass Ehre in der Sachdimension unspezifisch blieb. Ein konstitutionelles Kennzeichen von Ehre ist weiterhin ihre zeitliche Fragilität. Sie stellt eben kein akkumulierbares Kapital dar, sondern muss in jeder Anwesenheitskonstellation stets aufs Neue eingefordert und reproduziert werden. Sie ist daher zeitlich kaum generalisierbar, setzt Alter wie Ego unter permanenten Druck und wirkt entsprechend desintegrativ. Interaktionszusammenhänge, die dem Code folgen, sind daher von endemischer Konflikthaftigkeit bedroht (Schlögl 2011: 56 f.). (2) Eine andere Möglichkeit waren wie auch immer motivierte bi- oder mulitlaterale Selbstbindungen unter Ungleichen, häufig bekräftigt durch eine im Eid ausgesprochene Selbstverfluchung (Prodi 1997). Ihre Wirksamkeit hing ab von der Art und Weise, wie das wechselseitige Verhältnis zwischen dem Sich-Bindenden und „Begünstigten" codiert wurde. Stark auf Gegenseitigkeit ausgerichtet war es im Lehensverhältnis, weil die Selbstbindung stets konditioniert war und auf Fürsorge, Schutz und Schirm der anderen Seite drängen konnte (Brunner 1973: 354 ff.). Die Berechenbarkeit war in der Sozialdimension einigermaßen definiert, in der Sachdimension generalisiert, aber umstritten, so dass die Konstellation fragil blieb. Die politische Geschichte des Hoch- und Spätmittelalters belehrt darüber, wie wenig Koordination zwischen den Gewaltfähigen der Gesellschaft auf diese Weise zu erreichen war. Weitaus erfolgreicher war die umfassende, hierarchisch geordnete Gehorsamspflicht, die in der Kirche Ämter und Stellen miteinander verband (Reinhard 1983: 145-151; Petz 1877: 337, 365). Sich darauf zu verpflichten wurde bei der Investitur in Stellen und dem Eintritt in die Orden abverlangt. Verbunden mit einem schon sehr weit ausgearbeiteten Amtsverständnis und dem systematischen Gebrauch von Schrift machte es Kirche und Orden den weltlichen Herrschaftsträgern an Organisationsfahigkeit so weit überlegen, dass damit der Verzicht auf Gewaltfähigkeit bis an den Beginn der Neuzeit mehr als ausgeglichen werden konnte. Je höher man in der kirchlichen Hierarchie aber stieg, desto deutlicher wurde an den Schismen des Spätmittelalters und der Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen päpstlichem Primat und bischöflichem Konziliarismus, dass das Gehorsamsprinzip in seiner Koordinationsfähigkeit Grenzen der Generalisierbarkeit hatte. In der Kirche und
sicher mehr noch im weltlichen Bereich führte die Bindung der Selbstverpflichtung in eine „Belohnungsökonomie" (Brendecke 2013) hinein, bei der Amts- oder Auftragserfüllung immer mit der Erwartung materieller Zuwendungen verknüpft war. Damit diese Erwartungen zu Handlungsmotivationen wurden, mussten diese Gaben allerdings von der beauftragenden Seite stets als in die eigene Willkür gestellte Gnadenerweise dargestellt werden. Für das Königtum republikanischer Adelsgesellschaften war Expansion daher ein naheliegender Weg, die eigene Position zu stabilisieren, weil die Gefolgschaft für ihre Loyalität mit eroberten Zugewinnen entlohnt werden konnte. In gewandelter Form bestimmten solche Belohnungsstrukturen wenigstens bis ins 17. Jahrhundert hinein die Beziehungen zwischen weltlichen Herrschern und ihren Amtsträgern. Die spanische Kolonialverwaltung suchte auf diese Weise die Loyalität von Repräsentanten der Krone in ihren überseeischen Beziehungen sicherzustellen. Der Ämterkauf, den die französische Monarchie zu Beginn des 17. Jahrhunderts installierte, war, verbunden mit der Betonung der Eignung, ein bemerkenswerter Versuch, diese Konstellation im Sinn der monarchischen Zentrale umzubauen und durch die Paulette auch noch finanziell davon zu profitieren (Mager 1980: 82-86). Doppelte Kontingenz wurde in dieser Konstellation allerdings nicht abgebaut, sie wurde transformiert. Erwartungen wurden auf beiden Seiten nicht normativ beobachtet, sondern kognitiv und ihre Erfüllbarkeit nicht vorausgesetzt, sondern wahrnehmbar ins Unwahrscheinliche gestellt. Das führte dazu, dass diese Anordnungen stets den Keim der Auflösung durch Verselbständigung der abhängigen Seite in sich trugen. Der erste Dekolonisierungsschub am Ende des 18. Jahrhunderts stellt das in welthistorischer Dimension vor Augen. (3) Man kann hier anschließen die rechtlich formalisierte Selbstbindung in Gestalt von gegenseitig bindenden Verträgen. Sie konnten auch als einseitige Verzichtserklärung, d. h. als Privilegierung ausgestaltet sein. Sie schafften hohe Berechenbarkeit, allerdings um den Preis der Engführung in der Sach- und der Sozialdimension. Ihre Anwendbarkeit im großen Stil war gebunden an überaus voraussetzungsvolle institutionelle Rahmenbedingungen wie zum Beispiel Gerichte und eine gewaltfähige Instanz, die im Rahmen des Rechts für das Recht sorgen. Wie wenig selbstverständlich das war, zeigte gerade die imaginierte gesellschaftsweite Generalisierung in Gestalt von Herrschafts- und Gesellschaftsverträgen. Recht als abstrahiertes und seit dem Spätmittelalter in
Rudolf Schlögl: Der Raum der Interaktion
immer dichterer Form kodifiziertes Regelwerk, das wechselseitige Ansprüche normierte und überprüfbar machte, leistete gleichwohl in seiner fachlichen, sozialen und zeitlichen Generalisierung einen fundamentalen Beitrag zur Koordination von anwesenden und abwesenden Gegenwarten. Auf die Frage seiner räumlichen Reichweite wird noch einzugehen sein. Die historische Unwahrscheinlichkeit dieses Rahmens markierte Bodin in der Mitte des 16. Jahrhunderts in Umkehrung des augustinischen Diktums noch mit der Feststellung, der Staat unterscheide sich von einer Räuberbande dadurch, dass Gewalt in ihm rechtmäßig ausgeübt werde (Bodin 1981: 98). (4) Einseitige Verpflichtungen, wie Privilegien sie darstellten, führten hinein in den weiten Bereich der Netzwerkbildung, der auf ganz verschiedenartig ausgestalteten Ökonomien des Geschenks aufruhte. Es wurde mit einer als „freiwillige Gabe" ausgeflaggten Leistung an einen Begünstigten dort eine Verpflichtung zur Erkenntlichkeit aufgebaut. Man kann sie daher auch als besondere Ausgestaltung einer Geschenkökonomie verstehen. Als Gaben eignen sich Informationen ebenso wie Güter, Privilegien oder im Falle der Verwandtschaft Frauen. Die Zirkulation von erfüllten Erwartungen konditioniert Erwartungserwartungen und lässt hoffen, dass es auch in Zukunft so sein wird. Auf diese Weise lassen sich dyadische Freundschaften unter Gleichen, hierarchisierte, zentralisierte Patron-Klientel-Beziehungen oder auch oder auch polyzentrische Konfigurationen erwartbarer Solidarität aufbauen (Reinhard 1979, 2004: 269-275). Netzwerke unterliegen in ihrer Koordinationsfunktion deutlichen Einschränkungen. Sie sind in der Sozialdimension nicht beliebig erweiterbar, weil die verhaltenskonditionierende Kraft von Vorteilsgewährungen mit der Weite der Zirkulation und der Zahl der Stationen abnimmt. Netzwerke haben Mitglieder. Mitgliedschaft wird aber unscharf definiert. Sie wird vor allem durch die Bereitschaft bestimmt, sich auf ein Geschenk und die daraus folgenden Verbindlichkeiten einzulassen. Obwohl gegen eine Ablehnung meist Hürden (der Ehre) aufgebaut sind, können die Folgen dieser Verbindlichkeiten von Fall zu Fall sehr unterschiedlich interpretiert werden. Mitgliedschaft ist daher nicht distinkt, sondern graduell bestimmt. Nur im Falle der Verwandtschaft und in ihrer Kombination mit größeren Geschenken in Gestalt von Pfründen, die wiederum Einfluss und Macht brachten, weisen sie größere Belastbarkeit auf. Auch bei intensiver Pflege bleiben Netzwerke für die Beteiligten in ihrer Wirkung unübersichtlich. Sie eignen sich aber dazu, verschiedene
189 Koordinationsstrukturen, Systembildungen oder Verpflichtungsmedien miteinander zu verknüpfen (Droste 2009: 49; Emich et al. 2005). Kombiniert man sie zum Beispiel mit vertraglichen Bindungen und mit Organisation, können Zusammenhänge von großer Reichweite und Koordinationsleistung entstehen. Das verrechtlichte personale Netzwerk des Lehenswesens im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation bewies erstaunliche Uberlebensfähigkeit. Die Leistungsfähigkeit ist ebenso im Handel der Vormoderne beobachten. Die Tausch- und Kreditbeziehungen waren bis ins 18. Jahrhundert netzwerkartig überformt (Häberlein 2007, 2015). Das transatlantische Dreieck des Sklavenhandels ist als ein solches Netzwerk der Güterzirkulation und der Personen zu begreifen, in dem bis zum Ende „Bindungen" eine ebenso wichtige Rolle spielten, wie das geld- und marktvermittelte Geschäft. Das zeigt auch, warum sich eine Netzwerktheorie (Latour 2007) als allgemeine Theorie der Gesellschaft nicht eignet. Sie kann weder Dinge von Waren noch den Tausch von einer Ökonomie des Geschenks mit hinreichender Deutlichkeit unterscheiden. (5) Zuletzt anzuführen ist noch der freiwillige Zusammenschluss im Interesse einer Sache. In seiner Beschreibung der Voraussetzungen gesellschaftlicher Ordnung in der Mitte des 16. Jahrhunderts führte Jean Bodin die sich selbst regulierenden Bruderschaften und Sodalitäten bis in die Antike zurück und identifizierte in ihnen überhaupt den Grund einer gemeinnützigen gesellschaftlichen Ordnung, die sich über die Agglomeration von Familien erhebt. Ihre gesellschaftliche Ordnungsfunktion ist aber dann davon abhängig, dass sie einem souveränen Magistrat untergeordnet und als Korporationen formal mit dem Recht der Selbstorganisation ausgestattet werden. Die auf diese Weise gebildete societas civilis braucht sie als notwendige Inklusionsinstanzen, weil nur durch sie die zu ihrem Zusammenhalt notwendige Freundschaft entstehen kann (Bodin 1981: 521-569). Korporationen transformieren Anwesenheit als Voraussetzung der Kommunikation in Mitgliedschaft, und sie setzen an die Stelle der doppelten Kontingenz die Kontingenz der Kooperationsziele und der Mitgliedschaftsbedingungen, aus denen sich dann Regeln der internen Kommunikation ableiten lassen. Von Organisation unterscheidet sie aber, dass ihre Form „Solidarität" unter Mitgliedern bezogen auf eine meist als feindlich wahrgenommene Umwelt ist, und nicht verfahrensförmig strukturiertes Entscheiden, das sich aus einem funktionalen Umwelt- und
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Problembezug ergibt. Korporationen schützen vor Problemen, Gefahren und Risiken, Organisationen hingegen bearbeiten diese und leiten aus ihnen ihre Kommunikations- und Entscheidungsprämissen ab. Die Mitgliedschaft der gesamten Person als Kennzeichen der Korporation im Unterschied zur Organisation zu nehmen, wie es in soziologischer Argumentation häufig geschieht (Luhmann 1997: 835 f.), scheint hingegen historisch nicht überzeugend. Das Argument ist der Romantik einer älteren Kulturgeschichte entnommen. Auch eine Korporation kann sich selektiv auf die Interessenlagen ihrer Mitglieder beziehen, nur in Ausnahmefällen, wie etwa bei Universitäten löst sie sich rechtlich weitgehend aus der Gesellschaft heraus. Schon bei Zünften ist differenzierter zu urteilen. Es gab Städte wie Straßburg, in denen die Zünfte ökonomische, politische, militärische und religiöse Interessen ihrer Mitglieder artikulierten und auch modellierten. Aber seit der Mitte des 15. Jahrhunderts erodierte diese umfassende Kombination. In anderen Städten, etwa in Nürnberg, hat sie nie existiert (von Heusinger 2009: 163-168, 338). Korporationen hatten an dieser Stelle Anteil am Prinzip der ständischen Ordnung, ihre Strukturen in besonderen Rechtssphären zum Ausdruck zu bringen. Deswegen begreift Bodin auch die Selbstorganisation der Stände als Kooperation. Das Prinzip der rechtlichen Sonderung griff auch dort, wo die Korporation, wie im Fall der Universität, organisationsförmige Züge annahm. Während die Korporation aber die gegebenen Interessenlagen der Mitglieder koordiniert, definieren und konditionieren Organisationen sie und bringen sie auf diese Weise hervor. Der Grad der Organisationsförmigkeit frühmoderner Korporationen dürfte empirisch daher an diesem Punkt zu bestimmen sein. Ehre, Selbstbindungen und die mit ihnen verbundenen Belohnungsökonomien, Verträge und Recht, Netzwerke samt ihrer Geschenkökonomien und die Interessenkoordination der Korporationen zeichneten sich sämtlich durch beschränkte Generalisierbarkeit in der Zeit-, Sach- und Sozialdimension aus und auch dadurch, dass sie in ihrer Ausbaufähigkeit begrenzt waren. Das schränkte auch ihre räumliche Wirkung jeweils ein, auch wenn zusätzliche Komplexität etwa durch Verträge zugunsten eines Dritten aufgebaut wurde. Das galt ebenso für das Recht, dem die größte sachliche Generalisierungsfähigkeit zukam. Rechte galten lokal und regional, sie waren stets auf Personengruppen hin spezifiziert, so dass auch die am Beginn der Neuzeit einsetzende intensive Kodifikation die Koordination abwesender Ge-
genwarten sachlich keineswegs generell und räumlich nur in überschaubaren Horizonten möglich machte. Schon diese begrenzten Koordinationsleistungen stießen allerdings auf sozialen Widerstand am Beginn der Neuzeit, wie der Bauernkrieg vor Augen führte. Es ist daher die Territorialität als Modus funktionaler Ausdifferenzierung zunächst kein „ganz untypisches, eher exotisches" Grundprinzip, wie Luhmann (1981: 266) feststellte, sondern ein notwendiges, das angesichts der herrschenden Reisegeschwindigkeiten, auch wenn man Schriftgebrauch bereits in Rechnung stellt, in der vormodernen Vergesellschaftung unter Anwesenden nicht zu hintergehen war. Die Raumvorstellungen der päpstlichen Kurie waren, obwohl die Kirche sich als universale res publica definierte, lückenhaft. Die Kirche glich darin einem Archipel von kleineren und größeren kurialen Besitztümern, die, im Raum verteilt, die päpstlichen Einflussmöglichkeiten und damit auch die Interessenlagen der Kurie bündelten (Tewes 2002; Schmidt 2002). Raumwahrnehmung und Herrschaftspraxis weltlicher Autokraten unterschieden sich in Nichts davon. Obwohl seit Beginn des 16. Jahrhunderts kartographische Darstellungen der Monarchie verfügbar waren, beschrieb Montchretien erst 1615 in seiner Traité de l'Economie Politique Frankreich nicht mehr als Agglomeration von Provinzen und verstreuten Krondomänen, sondern als geschlossenes politisches Universum (Dockés 1969: 99). Man wird bis ins 17. Jahrhundert erhebliche Fortschritte in der „Neutralisierung" des Raumes als Problem der Koordination und Synchronisation von gegenwärtigen und abwesenden Kommunikationen feststellen können. Dazu trug auch die wachsende Erfahrung mit Organisationen bei. Organisationen sind Einrichtungen, die mit Hilfe von Kommunikation Übertragung und strikte Koppelung ermöglichen. Das Konzept des abstrakten und perspektivierten Raumes bei Descartes steht in Zusammenhang mit seinen Beobachtungen als Mitgestalter der oranischen Heeresreform. Vorerst aber war unklar, was dominieren sollte: der Code der Funktion, die Organisation oder die Interaktion. Le Maître begründete ausführlich, warum in den villes capitales die Lokalverwaltungen, die Gerichte, die Akademien, die Händler und Manufakturen konzentriert sein müssten. Nur auf diese Weise sei sichergestellt, dass sie sich wechselseitig im direkten Kontakt in ihrem Wissen und ihren Kompetenzen befruchten könnten. Die Koordination von Funktionssystemen erfolgte im Modus der Interaktion (Le Maître
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1682: 55 f., 59-62). Auch im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts wurde der Raum im ökonomischen Denken als zentrales Problem arbeitsteiliger ökonomischer Integration angesehen. In seinem 1725 verfassten Essai sur la Nature du Commerce entwickelte Richard Cantillon eine ausgefeilte Theorie der relativen Transportkosten, um die Positionierung von Marktorten zu begründen. Raum kostete Zeit und damit auch Geld und daher musste die gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land nach wie vor in segmentärer Territorialisierung realisiert werden (Dockés 1969: 234-246). Raumkonzepte und Raumwahrnehmung hatten sich seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert dramatisch gewandelt. Das in den Botennetzwerken, wie es sich zwischen den Städten seit dem 13. Jahrhundert langsam entwickelt hatte, angesammelte Raumwissen war am Beginn des 16. Jahrhunderts erstmals kartographisch umgesetzt worden (Heimann 2002). Seine weitere Verfeinerung und Präzisierung floss zusammen mit der seit Ende des 16. Jahrhunderts betriebenen und von den Staatswissenschaften dann systematisierten, zählenden und ordnenden Erfassung der Bevölkerung samt der naturräumlichen Voraussetzungen ihrer Existenz (Scruzzi 2009: 249-257; Nipperdey 2012). Staatliche Herrschaft schuf sich auf diese Weise einen Gegenstand, der für das regulierende polizeyliche Handeln zugerichtet war. Die statistischen Landesbeschreibungen seit dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts und die vermessende Erfassung eines jetzt durch infinitesimale Koordinaten gebildeten Raumes markieren am Ende des 18. Jahrhunderts den Übergang zur Vorstellung eines homogenen und nicht mehr diskontinuierlichen Raumes des Sozialen und der Gesellschaft. Mit der Einführung der straßenbezogenen Hausnummern, die diesen Prozess begleitete, bekam jedes Individuum darin schließlich eine jederzeit auffindbare Adresse (Wittstock 2008: 20-49; Tantner 2007: 16-25). Die Physiokraten hatten inzwischen die lokale und regionale Territorialität des ökonomischen Raumes und den Bezug auf einen kontinuierlichen Naturraum ersetzt durch einen nicht mehr territorial, sondern jetzt funktional arbeitsteilig gegliederten Raum, in dem sich die Zirkulation von Gütern und Bedürfnissen ungehindert und in jährlichen Reproduktionszyklen vollzog (Quesnay 1965). Damit hatte das Problem der Koordination und der Synchronisation eine neue Form bekommen. Friedrich II., der für sich stets beanspruchte, den Preußischen Staat und seine Gesellschaft nach Plan und
autokratisch zu gestalten, wagte es nicht, das nach vielen Anläufen fertig gestellte Allgemeine Landrecht in Kraft zu setzen (Krause 1998). Physiokraten schrieben jetzt Texte, in denen zur Vorsicht bei der Gesetzgebung geraten wurde, weil man die Wirkung von Gesetzen kaum abschätzen könne (Witte 1782). Die Aufgabe hieß jetzt nicht mehr Synchronisation von Anwesenden mit Abwesenden, sondern Regulierung der Selbstregulation von Zirkulation. Man mußte die Erfahrung machen, dass Gesellschaft sich wegen des erreichten Grades an Komplexität und Ausdifferenzierung eben nicht organisieren ließ. Es war nicht mehr auszuschließen, dass die Zukunft einer abwesenden Gegenwart auf die Zukunft der Gegenwart, von der aus gerade koordiniert wurde, zurückwirkte. Die Selbstregulierung von Systemen über die Wechselwirkung ihrer Eigenzustände, die sich aus den Umweltbezügen ergaben, wurde daher das neue Modell, das der Physiologie über die Psyche bis hin zur Physiokratie plausibel wurde (Kleeberg 2012: 29-34). Der Raum blieb aber persistent. Als Jean Paul seinen Luftschiffer Giannozzo 1801 über die Erde schweben ließ, galt der Gleichzeitigkeit des Gewimmels auf Erden nur ein ganz kleiner Teil seiner Aufmerksamkeit. Sein „Seebuch" blieb zum allergrößten Teil ein konsekutiv angelegter Reisebericht (Jean Paul 1996). Nur in der Ökonomie hat das Modell der Selbstregulierung zur Vorstellung der Raumlosigkeit geführt, auf vielen anderen Feldern aber dominierten Raum und Territorialität der Selbstbeschreibung der in Nationen separierten europäischen Gesellschaft auch im 19. Und im 20. Jahrhundert - auch in der soziologischen (Tönnies 1979: 7-34).
5. Medien Es ist kritisiert worden, dass die Systemtheorie sich um die technische Seite der Verbreitungsmedien nicht gekümmert und daher auch die Raumdimension von Systembildungen aus den Augen verloren hat (Werber 1998: 230 f.). Eine präzise historische Eichung der Theorie würde in der Tat erfordern, dass nicht nur Reichweiten, sondern auch Verbreitungsgeschwindigkeiten von Verbreitungs- und Erfolgsmedien berücksichtigt werden, damit deren Koordinations- und Stabilisierungsleistung einigermaßen zuverlässig einzuschätzen sind. Ein solches Unternehmen führt dann schnell in unübersichtliche historische Gemengelagen. Man braucht sich nur die institutionellen und kommu-
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nikativen Strukturen des Christentums am Beginn der Neuzeit vor Augen führen. Es gab die universale, nicht durch Zeitverluste behinderte Präsenz der jenseitigen Mächte in der Welt. Ihr Wirken in der Zeit war allerdings, wie man beispielsweise dem Hexenhammer entnehmen kann, den Gesetzen von Raum und Zeit unterworfen. Die Teufelssekte wurde in der Interaktion auf dem Blocksberg Realität, und Gott erreichte die Seele am besten über das Ohr, wie auch Luther betonte. Die römische Kirche begriff sich als universale res publica und musste sich doch mit einer lückenhaften, raumbezogenen Institutionalisierung begnügen. Die Trennung zwischen dem, was Religion ist, und dem, was der Welt angehört, ist nicht nur hinsichtlich der Besitztümer der Kirche mehr als unbefriedigend, sondern auch in Bezug auf zentrale Bestandteile der Ökonomie des Heils, in der sich die Zirkulationsströme der materiellen Güter und Wünsche mit denen der Gnadenmittel ständig vermischten. Die Reformation setzte an diesem Punkt an und entwarf eine Theologie wie ein Kirchenkonzept, das ganz auf Verbreitungsmedien setzte. Trotzdem wurde die Reformation nicht zu einem universalen Ereignis, sondern endete in verschiedenen Ausgründungen, die die alte Kirche als solche zunächst unangetastet ließen. Diese neu entstehenden evangelischen Kirchenwesen waren nicht in der Sachdimension integriert - also theologisch - , sondern das Evangelium institutionalisierte sich räumlich-regional, auch weil es sich stark an den Staat anlehnte. Die Universalität des Transzendenten wurde in der Kombination von fortwährender Auslegung und einem individuell zu gestaltenden Gottesverhältnis umgesetzt. Eine zyklisch geordnete Liturgie hielt beides zusammen. Mehr als die katholische Kirche war die Reproduktion der Transzendenz daher in lokalen, gemeindlichen Zusammenkünften und in punktförmigen individuellen Gotteskontakten fragmentiert. Die Vielfalt der Bekenntnisschriften schrieb diese Differenzierung fort. Eine übergreifende lutherische Orthodoxie wurde erst im 17. Jahrhundert in der Auseinandersetzung mit dem Pietismus soziale Realität. Eine detaillierte Analyse der AusdifFerenzierung von Erfolgsmedien kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Für meine Argumentation ist ausschlaggebend, dass die Codes, die die Prozesse funktionaler Differenzierung in der Gesellschaft seit dem Spätmittelalter steuerten, von großer Diversität gekennzeichnet waren. Schon auf der Ebene der Programme ist eine Varietät der kommunikativen Bindewirkung solcher Erfolgsmedien beobachtbar, die räumlichen Grenz-
ziehungen folgte. Das lässt sich für das Recht zeigen und für Ökonomie und Macht ebenfalls bestätigen. Die Rezeption des römischen Rechts fand seine Grenzen an den vielen verschiedenen lokalen gemeinrechtlichen Traditionsbeständen, die bis ins 18. Jahrhundert von den sich aufeinander schichtenden Kodifikationen jeweils aufs Neue anerkannt wurden. Erst seit dem 17. Jahrhundert ist ein formalisierter Gesetzesbegriff verfügbar, der auf allgemeine Verhaltensregulierung zielt (Mohnhaupt 2006: 153 ff.; Schröder 2011). Die seit den 1740er Jahren in habsburgischen Ländern, Bayern und Preußen entstehenden Gesetzbücher galten subsidiär und formulierten als das allgemeine Prinzip, dass das lokale Recht stets vor den Bestimmungen des größeren Rechtszusammenhanges zu gelten habe (Zimmermann 2008: 23 f.). Die territoriale AusdifFerenzierung von Herrschaft und Macht wurde schon gewürdigt. Seit Machiavelli war ein allgemeiner Begriff von Macht zwar verfügbar, der aber in der vergleichenden Diskussion der Verfassungsordnungen, die in der politischen Theorie fortwährend geführt wurde, in verschiedenen Formgebungen erschien. Sie ließen sich idealtypisch auf zwei Grundtypen der Autopoiesis zurückführen: Die autokephale, auf Gewaltfähigkeit gegründete autokratische Macht und die aus Beauftragung hervorgehende, zeitlich oder sachlich konditionierte Machtbefugnis. Die Städte experimentierten hauptsächlich mit der zweiten Form, die territorialen Herrschaftseinheiten des Adels mit der ersten. In Monarchien und erst recht in Reichsbildungen blieb die Lage uneindeutig, weil der „republikanische" Anspruch des Adels hier die Formel von „Rat und Hilfe" auch als Begründung von Mitspracherechten interpretieren konnte. Bodin entwickelte als Ausweg sein Konzept der Souveränität, das den Monarchen wenigstens in Zeiten dynastischer Stabilität von Bindungen befreien sollte. Die vom Naturrecht behauptete göttliche Legitimität monarchischer Macht blieb durchsichtig. John Lockes Vorschlag, Beauftragung und autokratische Begründung der Macht durch ein Widerstandsrecht miteinander zu verbinden (Locke 2003: 194-209 (Second Treatise, §§ 211-243)), wurde erst am Ende des 18. Jahrhunderts in verschiedener Gestalt Realität. Die Differenzierung von Recht und Macht war daher bis ans Ende des 18. Jahrhunderts nicht eindeutig vollzogen, und die Durchbrechung monarchischer Macht durch Territorialität adeliger Herrschaft bestimmte bis zur Französischen Revolution den politischen Raum der Staaten. In der Wirtschaft stellte die Metallbindung des Geldes und die an poli-
Rudolf Schlögl: Der Raum der Interaktion tische Herrschaft gebundene Wertgarantie eines der Haupthindernisse für die raumübergreifende translokale Integration ökonomischer Prozesse dar. Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts dominierte eine ökonomische Theorie, die den Austausch zwischen Wirtschaftseinheiten als Nullsummenspiel verstand. Der Gewinn auf der einen Seite war nur als Verlust auf der anderen Seite zu realisieren. Der Einwand, den John Law am Beginn des 18. Jahrhunderts formuliert hatte, dass man die Geldmenge durch Kredite und höhere Umlaufgeschwindigkeiten erhöhen könne (Law 1720: 1 2 - 4 0 ) , hatte offensichtlich noch kein ausreichend stabiles Widerlager in der Erfahrung. Zwar waren das Girokonto und die Wechselmessen bereits erfunden, sie ermöglichten allerdings nur den ortsbezogenen Zahlungsverkehr zwischen den Konten einer Bank in Echtzeit (vgl. Werber 1998: 226). Zwischen den Wechselbörsen bestand am Ende des 18. Jahrhunderts noch längst keine vollständige translokale Marktintegration (Denzel 2 0 0 8 : 175-191). Die Beobachtung zweiter Ordnung hing an den Transport- und Reisegeschwindigkeiten, mit denen Kursinformationen zwischen den Börsen ausgetauscht wurden. Die Waren- und Kreditfunktion des Geldes fußte daher am Ende des 18. Jahrhunderts noch auf der Edelmetalldeckung und auf staatlichen Garantien und nicht auf einer durch Banken gewährleistete räum- und zeitübergreifende Zirkulation von Krediten. Der räumliche Index oder die räumliche Struktur der wichtigsten Erfolgsmedien war nicht primär durch die Eigenheiten von Interaktionskommunikation bedingt, sondern hing mit Schrift und Druck als den verfügbaren Verbreitungsmedien zusammen. Die sich vor allem in den Städten und in der Kirche seit dem 13. Jahrhundert stark ausbreitende „pragmatische Schriftlichkeit" nutzte Schrift hauptsächlich als Speichermedium (Keller 1992). Mit schriftlich festgehaltenen vertraglichen Bindungen wie auch mit dem verschriftlichten Regelwissen stiegen die Möglichkeiten, abwesende Gegenwarten und Zukünfte in der laufenden Gegenwart der Anwesenden zu berücksichtigen. Es stiegen aber auch die Konsistenzanforderungen an die sich dadurch aufhäufenden Wissensbestände. Kanonisten des 15. Jahrhunderts waren bereits damit beschäftigt, die päpstlichen Dekrete systematisch zu ordnen und eventuelle inhaltliche Widersprüche zu bearbeiten (Fidora u.a. 2010). A n der Kirche lässt sich allerdings auch beobachten, in welchem U m f a n g die Organisationsfähigkeit von Systemen wuchs, wenn sie den Gebrauch von Schrift kultivierten. Weltliche
193 Herrscher kopierten dies seit dem 15. Jahrhundert in zunehmendem Maß. Es ist aber bemerkenswert, dass der H o f als Ort der Macht und ihrer Organisation ein Experiment blieb, in dem es darum ging, die strukturierende und koordinierende Leistungsfähigkeit von Interaktionskommunikation zu perfektionieren. Schrift und Druck wurden genutzt, u m gerade diese Konditionierung und Spezifikation von Interaktion zu bewerkstelligen (Schlögl 2 0 0 4 : 193—220). Erst als den Fürsten klar wurde, dass es auch ohne Interaktion allein mit Akten geht, fand dieses Experiment ein Ende und der H o f blieb als Ort der bloßen Unterhaltung des Adels zurück. Die Bindewirkung von Schrift erschien einer auf Anwesenheitskommunikation eingestellten Gesellschaft auch sonst überaus problematisch. Die Ubertragungsfunktion von Schrift wurde bis ins 17. Jahrhundert hinein aktiviert, indem man das Aufgeschriebene in neuen Kommunikationssituationen nicht als gelesenes Wissen voraussetzte, sondern in den fraglichen Anwesenheitskontexten erneut verlas (Schlögl 2013a). A u f diese Weise suchte man ungewollte Bindung von Gegenwarten an Vergangenheiten zu verhindern und die Nutzung von Schrift in der Sach- wie in der Sozialdimension zu kontrollieren. N o c h länger dauerte es, bis man mit der dekontextualisierten Entstehungskonstellation von gedruckten Texten umzugehen wußte. O b Drucke verlässlich waren, mit den Vorlagen übereinstimmten, wurde angesichts der allgemeinen Raubdruckerei vor allem für die entstehenden neuzeitlichen Wissenschaften zu einem bis ins 18. Jahrhundert nicht gelösten Problem (Johns 1998: 1 8 7 265). M a n sieht an solchen Details, dass die seit dem 14. Jahrhundert allgemein verfügbare normierte kalendarische und chronometrische Weltzeit, auch wenn sie den Alltag nur sehr oberflächlich strukturierte, eine unerlässliche Voraussetzung dafür war, um sich in der europäischen Gesellschaft auf den weitgehend ungehinderten Gebrauch von Schrift und Druck einzulassen. Es brauchte Selektionsmechanismen, um angesichts der Vielzahl der abwesenden Gegenwarten, die jetzt in einer laufenden Gegenwart der Anwesenden präsent werden konnten, noch handlungsfähig zu bleiben. Den Zeitgenossen war das als Beschleunigung und Ubermaß an Veränderung erfahrbar (Schlögl 2008b: 5 9 2 - 5 9 6 ) . Herrscher, von denen man annehmen müsste, sie hätten alle Ursache gehabt, sich für abwesendes Geschehen zu interessieren, erwiesen sich jedenfalls nördlich der Alpen zunächst als desinteressiert. Während im
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kleinräumiger gegliederten Italien sich schon seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine durch Schrift und Druck gestützte Zirkulation von Informationen über machtpolitisch relevante Ereignisse etablierte, bezogen sich Herrscher nördlich der Alpen noch bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts in ihrer Weltbeobachtung auf eine christliche Universalordnung und zeigten wenig Interesse an aktuellen Informationen über Abwesendes (Zwierlein 2006: 557-610). Das Flugblatt als das bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts häufigste Verbreitungsmedium transportierte lange keine „Nachrichten", sondern heils- und überlebensrelevante Geschichten und Belehrungen. Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts formierte sich die medienbasierte Sphäre einer auf eine laufende Gegenwart bezogene Öffentlichkeit, die aber immer noch nicht für sich stehen wollte, sondern sich an das Urteil künftiger Vergangenheiten band (Schlögl 2008b: 604 f.). Noch wurden Flugschriften eingesetzt, um gegen Gerüchte vorzugehen (Sandl 2012: 33). Sie und nicht der Druck bestimmten das Wissen von der Welt. In den Städten behinderte der durch die Interaktionszusammenhänge hergestellte gemeinsame Wahrnehmungsraum auch diesen Differenzierungsprozess. In der territorialen Staatlichkeit gewann hingegen die printmediale Beobachtung von Macht und ihren Entscheidungen in Zeitungen, Journalen und Pamphleten seit der Mitte des 17. Jahrhunderts eine Dichte, die in den Staatswesen die Transformation von Herrschaft in Politik beförderte und zwischen ihnen eine systemische Integration der Machtpotentiale ermöglichte, die nicht nur von diplomatischer, sondern auch von printmedialer Kommunikation getragen war (Schlögl 2008b: 609-614). Für Kaufleute hatten abwesende Gegenwarten von jeher eine andere Dringlichkeit. Schriftgebrauch führte daher bei ihnen zunächst nicht zu einer Verzeitlichung der Weltbeobachtung, sondern zu ihrer Verräumlichung. Translokal tätige Handelshäuser wie die Fugger organisierten schon in den 1530er Jahren einen steten Strom von unternehmensrelevanten Informationen in handschriftlich verfertigten „Zeytungen" und „Messrelationen" (Zwierlein 2010). Die Mobilität von Menschen, Waren und Informationen hing untrennbar zusammen. Das bestimmte nicht nur die Anfänge der Post in ihren Strukturen, sondern dann auch die periodischen Zeitungen seit Beginn des 17. Jahrhunderts, die nicht mehr wie die Flugblätter auf heilsgeschichtlich bedeutsame Neuigkeiten setzten, sondern auf solche, die besonders für Handel und Macht wich-
tig waren (Behringer 2003). Waren, Personen und verschriftlichte Informationen bewegten sich deswegen bis weit ins 17. Jahrhundert hinein weitgehend gleich schnell. Erst mit der Organisation von spezialisierten Postwesen konnten Briefe und Nachrichten nach und nach Geschwindigkeitsvorsprünge gegenüber Reise- und Warentransport gewinnen. Solange dies nicht der Fall war, machte der Versuch, translokale Arbeitsteilung marktförmig zu integrieren, wenig Sinn. Es besaß mehr Plausibilität, räumlich getrennte Gegenwarten zu ignorieren und zu warten, bis Waren und Preisinformationen eingetroffen waren - oder eben auch nicht. Deswegen ging man gegen die Kontingenz des Marktgeschehens mit Preiskontrollen vor, insbesondere bei Nahrungsmitteln. Abwesende Gegenwarten wurden auf diese Weise nicht koordiniert, sie wurden ausgeblendet. Der Beobachtungshorizont, den Cantillon in den 1720er Jahren seinem Konzept des Marktes zugrunde legte, war deswegen noch streng räumlich begrenzt. Erst Turgot argumentierte in seinem Artikel Foire in der Encyclopédie entgegen der noch üblichen Handelspraxis für einen grenzenlosen Raum. In Holland gebe es keine privilegierten Messen, dafür einen entgrenzten Handel und einen allgegenwärtigen Markt (Turgot 2013: 41). Man kann annehmen, dass dies einen Informationsfluss unterstellte, der sich schneller bewegte als Waren. Durch die printmediale Zirkulation von Informationen und Kommunikationen veränderte sich die Konstellation von Gegenwart und deren Verhältnis zu abwesenden Gegenwarten grundlegend. In der Mehrzahl der städtischen Gemeindewesen sorgte wegen ihrer überschaubaren Größe die fortlaufende Rekombination von Interaktionskonstellationen dafür, dass sich die weitergegebenen Informationen, Gerüchte, Meinungen zu einer den Gesamtraum umfassenden Gegenwart verdichteten, so dass sie wie der Hof auch, trotz Schriftgebrauch und zirkulierender Printmedien eine „Anwesenheitsgesellschaft" blieben (Schlögl 2008; Bellingradt 2011). Die laufenden Versuche städtischer Obrigkeiten, den Urhebern von Gerüchten dabei jeweils auf die Spur zu kommen, unterstreichen, dass man es mit einer raumneutralisierenden Öffentlichkeit noch nicht zu tun hatte (vgl. Stichweh 2000: 187 ff.). In translokalen Kommunikationszusammenhängen konnte Abwesendes in einer laufenden Gegenwart stets nur als Vergangenes präsent sein, das umso weiter zurücklag, je größer die Räume wurden, die durch den printmedialen Informationstransport erschlossen wurden. Man kann dieses breite Zeitfenster ei-
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ner „Gegenwart", das dadurch entstand, an einem printmedialem Großunternehmen des 17. Jahrhunderts greifen. Das Theatrum Europäum wurde 1729 initiiert, um die seit 1618 vorgefallenen Kriegsereignisse und sonstigen Vorfälle von Wichtigkeit zusammenzufassen. Die Absicht war, von diesem Zeitpunkt an dann die Zeitläufte chronikalisch zu begleiten. Der erste Band erschien 1633. Es gelang auch künftig nicht, den Abstand zu verringern, so dass etwa Band 7 zu den Jahren 1651-58 im Jahr 1663 in Druck ging (Theatrum Europäum 1633 ff.). Das führte in eine Politikkonzeption, die entweder auf Koordination verzichtete oder sie in einer konstitutiven Nachträglichkeit realisierte. Die ganze Policeygesetzgebung ist zunächst reaktiv angelegt (Iseli 2009). Erst seit dem 17. Jahrhundert transformierte sich Herrschen nach und nach zu einem auf die Zukunft gerichteten „Gestalten". Es brauchte allerdings dann in seiner Selbstbeobachtung die Vorstellung der räderwerkartigen, strikten Koppelung, durch die sich die societas civilis, als der Gegenstand seines Handelns auszeichnete. Der Staat wurde zur Maschine (Stollberg-Rilinger 1986), damit er in seiner räumlichen Ausdehnung und seiner zeitlichen Dynamik gleichzeitig denkbar blieb. Die immer kürzere Taktung von Informationen aus abwesenden Räumen führte nach und nach dazu, dass diese Räume eine Geschichte bekommen konnten, die in ihren Verläufen an Berechenbarkeit gewann. Deswegen betonten Theoretiker des Zeitungslesens wie Stiehler, dass man über eine Vielfalt von Wissensbeständen verfügen müsse, um über die Relevanz und Bedeutung von Neuigkeiten entscheiden zu können. Als Wahrheitskriterium für Neuigkeiten identifizierte er ihre „Geschichtsfähigkeit", die eine nachträglich operierende Historiographie festzustellen habe (Schlögl 2008b: 604 f.). Das verweist darauf, dass von der printmedial vermittelten Beobachtung abwesender Gegenwarten gerade wegen ihrer konstitutiven Nachträglichkeit offenkundig ein Impuls ausging, das Regelwissen über Zusammenhänge des Sozialen und der Natur zu erhöhen. Die distanz-vermittelnde Beobachtung des Abwesenden wirkte als starker Anreiz für eine Systematisierung und Verwissenschaftlichung aller Weltbeobachtung und wiederum für die durch den Druck möglich gewordene Akkumulation von Wissensbeständen. Le Maître betonte diese Funktion, wenn er über die Segnungen der Druckerpresse schrieb und nicht den Aspekt der Übertragung und Verbreitung (Le Maître 1682: 111-115). Die Zivilisationsgeschichte des 18. Jahrhunderts bis hin zu
Condorcet sah in der fortgesetzten Akkumulation von Wissen überhaupt die Grundbedingung wachsender sozialer Komplexität (Condorcet 1976: 146222). Damit wäre die Speicherfunktion von Schrift und Druck für die Ausdifferenzierung und Schließung von Funktionssystemen wichtiger gewesen als ihre Ubertragungsfunktion. Schluss In den vorstehenden Abschnitten wurde die Bedeutung des Raumes für Strukturbildung und Differenzierungsvorgänge in der frühneuzeitlichen Vergesellschaftung unter Anwesenden diskutiert. In einer theoretischen Modellierung von Interaktionskommunikation, die auf phänomenologische Konzepte zurückgriff, zeigte sich der Raum als ein umfänglich nutzbares Medium der Sinnbildung, weil er als eine Form beobachtbar ist, in die zeitliche, sachliche und soziale Differenzierungen einschreibbar sind. Sie wurden auf diese Weise als elementare Formen der Weltkonstitution für das Bewusstsein zugänglich. Wo daher Interaktion in modernen Gesellschaften erkennbar zur Strukturbildung beiträgt, wie etwa in Organisationen oder in der performativen Produktion sozialer Ordnungszusammenhänge, ist der Raum als Medium der Sinnbildung auch in modernen Gesellschaften stets gegenwärtig. In der Beobachtung der frühneuzeitlichen Gesellschaft konnte weiterhin gezeigt werden, dass Differenzierung und Strukturbildung unter Interaktionsbedingungen wegen der leibzentrierten Beobachtungs- und Kommunikationsräume raumgebunden abläuft. Räumliche Grenzziehung ist Grundlage für Strukturbildung, gerade wenn sie funktional ausgerichtet ist. Umgekehrt ist Koordination für vormoderne Gesellschaften ein zentrales Problem. Die Uberwindung des Raumes durch Kommunikation ist, solange Interaktion dominiert, weder einfach noch kostenfrei. Selbst die Generalisierung von Erfolgsmedien trägt deswegen einen räumlichen Index. Es wäre im Detail zu klären, in welchem Umfang dies auch für moderne Gesellschaften noch zutrifft. Gas hat keinen Weltmarktpreis, stand gerade im Wirtschaftsteil einer Zeitung zu lesen, weil es nicht problemlos zu transportieren ist (Schwager 2013: 78). Man wird damit an Turgots Beschreibung des Marktes in der Mitte des 18. Jahrhunderts erinnert, der ihn noch als einen Interaktionszusammenhang wahrnahm, weil nur auf diese Weise die gleichlaufende wechselseitige
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Beobachtung von Beobachtung möglich sei (Turgot 2013: 40). Schriftgebrauch und Druck ermöglichen in der frühneuzeitlichen Gesellschaft einen steten und umfassenden Zuwachs an selektiv koordinierter und synchronisierbarer Komplexität durch organisationsförmige Systembildung und durch Informationszirkulation. Allerdings war zu erkennen, dass Verbreitungsmedien selbst durch ihre enge Bindung an die verfügbaren Transporttechniken in Reichweite und Geschwindigkeit dem Informationstransport durch Personen lange kaum überlegen waren. Erst durch die elektronischen Echtzeitmedien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entkoppelten sich die Geschwindigkeiten in der Verbreitung von Nachrichten und im Transport von Personen und Gütern um Größenordnungen. Diese technische Restriktion von Verbreitungsmedien in der Frühen Neuzeit dürfte der Grund dafür gewesen sein, dass die Ausdifferenzierung und Schließung von Systemen wesentlich durch die Akkumulation von systematisiertem Wissen über die Welt, also von der Speicherfunktion der Schrift getragen wurde. Auf die Frage, ob die Kategorien der Systemtheorie, der Typen der Systembildung und der Sinndimensionen vollständig sind, legen unsere Beobachtungen die folgende Antwort nahe: In der Modellierung des Weltbezugs des Bewusstseins, der Kommunikation und von Systemen nehmen der Raum wie die Zeit den Rang von Fundamentalkategorien ein. Selbst- und Fremdreferenz setzen eine räumliche Bestimmung voraus, die Operationen des Gehirns, des Bewusstseins und der Kommunikation brauchen wiederum Zeit. Die Beobachtung der Welt rekurriert auf den Raum, auch noch die Mitteilung; das Prozessieren von Informationen und die verstehende Transformation von Zeichen in Kommunikation verlaufen sequenziell. Auch wenn man von Wahrnehmung zu Beobachtung übergeht, sind Raum und Zeit sowohl in der Sach- wie in die Sozialdimension von Sinn eingelagert. Die Grundlagen unserer Weltkonstitution führen aber auch nach dem Übergang von Wahrnehmung zu Beobachtung dazu, dass beide Kategorien daher sowohl in die Sach- wie in die Sozialdimension von Sinn eingelagert sind. Es hängt von systemischen und damit den historischen Konstellationen ab, in welcher Weise sie jeweils ineinander verrechnet werden, um Objekte, Themen und ihre Selektionen zu bestimmen. Damit wären die Zeit wie der Raum als Medien der Weltkonstitution der Sach- und der Sozialdimension des (Beobachtungs-)Mediums Sinn vorgelagert und das Kategoriensystem der Systemtheorie sollte entsprechend um-
gebaut werden.1 Im Raum wie in der Zeit lassen sich Unterschiede beobachten, die im Hinblick auf die Sach- und die Sozialdimension einen Unterschied machen, auch wenn man sie als „Vereinfachungen" kennzeichnen kann (Luhmann 1994: 120). Die Systemtheorie hätte es dann mit zwei paradoxal miteinander verbundenen Fundamentaloperationen der Weltkonstitution und zwei Dimensionen des Sinns zu tun, in denen diese Fundamentaloperationen als Medien des Sinns vorkommen. Damit würde die Fragen in welcher Weise Raum und Zeit als Medien jeweils für Operationen und ihre Selektionen in Anspruch genommen werden, zu einer Frage der medialen Verhältnisse und der gepflegten Semantik. Je weniger DifFerenzbildungen eine Gesellschaft in ihrer Semantik für Kommunikation bereit halten kann, desto mehr wird man in Kommunikation und Erleben auf die Differenz von „hier" und „dort" zurückgreifen müssen, um ein „Dies" als nicht das „Andere" zu identifizieren. Aber selbst Götter, die man nach Statuen und Kultstätten unterschied, wurden irgendwann zu dem Einen Gott synthetisiert, der dann keinen besonderen Ort mehr haben konnte. Entscheidend scheint der Grad der Abstraktion semantischer Leitdifferenzen zu sein. Auch der fliegende Pfeil des Aristoteles verlor seine Sonderwesenheit und wurde zum Pfeil (Aristoteles 1995: 38 f.). Im empirischen Bezug auf die moderne Gesellschaft spricht die bereits zitierte Kritik an der Behandlung des Raumes für eine institutionenökonomische Aufklärung der Systemtheorie (vgl. North 1990). Operationen und Beobachtungen haben Kosten und sie sind gerade, wenn sie in Echtzeitmedien vollzogen werden, durch die räumliche Struktur determiniert, die sich aus der Materialität der Technik ergibt, in der die Übertragung stattfindet. Die durch Technik hergestellte strikte Koppelung der Übertragung wird als Bedingung der Möglichkeit Teil der kommunikativen Operationen, kann sie aber nicht ersetzen. Man kann daher daraus nicht den Schluss ziehen, dass Dingen ein sozial relevanter Akteursstatus zukommt, wie es die A N T vorschlägt (Latour 2007), weil dem eine Verwechslung von Übertragung mit Kommunikation zugrunde liegt. Aber die Kosten von Operationen und Beobachtungen, die sich aus der jeweils spezifischen Verrechnung von Raum und Zeit ergeben, gehen als Restriktionen in Kommuni-
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D a s müsste nicht auf eine Wiederauferstehung des
transzendentalen Subjekts hinauslaufen, weil stets unter Bedingungen doppelter Kontingenz prozessiert wird.
Rudolf Schlögl: Der Raum der Interaktion kationen ein, so dass sie Selektionen bestimmen können, die wiederum auf die Form der Systembildung Einfluss nehmen. Dann würde die Systemtheorie den Raum nicht als Gegebenes, sondern als Differenz von Raum und Zeit, von Orten und Objekten sichtbar machen. Nur unter diesen Voraussetzungen kann man die differenztheoretische Konstruktion des sozialen Raumes in Kommunikation in ihren historischen Erscheinungsformen in den Blick bekommen. 2 Schließlich: Es wurde deutlich, dass der eigentliche Bruch in Hinblick auf Beobachtungsverhältnisse und auf Koordination von laufenden Gegenwarten mit Abwesenden durch Echtzeitmedien herbeigef ü h r t wird. Das scheint in der aktuellen Gegenwart auch Interaktionskommunikation einzuholen. Hier bräuchte es eine theoretische Modellierung von raumgreifenden Interaktionszusammenhängen, die in Echtzeitmedien laufen. D a f ü r ist aber nicht unbedingt ein Historiker zuständig.
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Autorenvorstellung Prof. Dr. Rudolf Schlögl Ordinarius der Neueren Geschichte an der Universität Konstanz; 2000-2009 Sprecher des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs/SFB 485 „Norm und Symbol"; seit 2006 Sprecher des Exzellenzclusters 16 „Kulturelle Grundlagen von Integration". Forschungsschwerpunkte: Die politische Kultur der vormodernen Stadt und des territorialen Staates; eine medien- und kommunikationstheoretisch fundierte Sozialtheorie der vormodernen Gesellschaften (Stichwort „Vergesellschaftung unter Anwesenden"); Religion und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit; die vormoderne Gesellschaft und ihr Mensch.
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft, 2014, S. 201-225
Der „erlaubte Konflikt" im Gerichtsverfahren. Zur Ausdifferenzierung einer Interaktionsepisode in den englischen Hochverratsprozessen der Frühen Neuzeit Licit Conflicts in the Legal Process.1 On the Emergence of an Episode of Interaction in the Early Modern English Treason Trials André Krischer Historisches Seminar der W W U , Geschichte Großbritanniens, Hittorfstraße 17, 48149 Münster [email protected]
Zusammenfassung: Moderne Gerichtsverfahren integrieren einen „erlaubten Konflikt" als Episode. Währenddessen darf und soll gestritten werden, aber nicht zuvor und darüber hinaus. Dieser Beitrag untersucht die Ausdifferenzierung dieser unwahrscheinlichen Errungenschaft im Gerichtsverfahren vor dem Hintergrund der Annahme, dass Interaktionssysteme gewöhnlich Gefahr laufen, von Konflikten absorbiert zu werden. Am Beispiel englischer Gerichtsprozesse wegen Hochverrat vom Spätmittelalter bis um 1800 werden die Transformationen forensischer Agonalität vom Schwertkampf über das Wortgefecht der unmittelbar Betroffenen bis zum Kreuzverhör durch Anwälte rekonstruiert. Dabei geht es zunächst um die Geschichte unerlaubter Konflikte im Gerichtsverfahren und die Frage, warum es gelang, diese Konflikte allmählich auf bestimmte Sequenzen zu begrenzen. Dann geht es um frühe Beispiele für erlaubte Konflikte aus dem 18. Jahrhundert anhand von Anträgen auf Verfahrenseinstellung und von Kreuzverhören. Die um 1800 gelungene Integration des erlaubten Konflikts im Gerichtsverfahren kann man einerseits als Ausweis für die Elaboriertheit der forensischen Interaktion sehen. Andererseits stellt sich aber abschließend die Frage, wieso man im Gerichtswesen angesichts der Komplexität der Entscheidungsaufgaben und der Fülle der Informationen nicht auf ein organisationales Vorgehen ausgewichen ist und stattdessen Interaktion auch in der Moderne als zentraler Modus gerichtlicher Entscheidungsherstellung fungiert. Schlagworte: Gerichtsverfahren; Interaktion; Konflikt; Kreuzverhör; England; Gerichtsrituale; politische Justiz. Summary: Modern legal processes integrate a "licit conflict" (Luhmann) as a confined episode in a trial. In the course of such an episode, the parties can and should stage their dispute, but not before and not beyond that. This contribution focuses on the emergence of licit conflicts, seen against the backdrop of the assumption that conflicts in interaction systems usually tend to be inundated by the system. Taking the Early Modern English treason trials as an example, this contribution shows how licit conflicts developed from the late medieval trial by battle, to the verbal altercations of the late 16th century down to the cross-examinations of the 18th century. It begins with the history of illicit conflicts and the question of how it was possible to confine them to specified sequences within a trial, and it continues with some evidence for the substantial controlling of conflicts in trials of the early 18lh century. The successful integration of conflicts in the legal interaction system seems to have been achieved around 1800. Still the question is why forensic decision-making remained on the level of interaction and did not test organizational alternatives. Keywords: Legal Action; Interaction; Conflict; Cross-Examination; England; Trial Rituals; Political Justice.
Einleitung Gerichtsverfahren zeichnen sich dadurch aus, dass sie Konflikte mit Hilfe von „erlaubten Konflikten" entscheiden (Luhmann 1983: 100.). Wenn man das Gerichtsverfahren als Interaktionssystem begreift (Luhmann 1983: 3), dann ist es bemerkenswert, dass es gelungen ist, einen Konflikt in ein solches System 1 Bei der Übersetzung von „erlaubter Konflikt" als „licit conflict" habe ich mich orientiert an Neville 1993: 111.
zu integrieren, der Episode bleibt und nicht das ganze Verfahren dominiert - und unterminiert. 2 Denn, 2
Ich stimme Thomas Scheffer zu, dass man bei Gerichtsprozessen der Gegenwart Verfahren und Interaktion nicht gleichsetzen darf (Scheffer 2010: 146 ff.). Bei frühneuzeitlichen Gerichtsverfahren gab es allerdings ungleich mehr Überlappungen beider Systeme. Zudem beruht auch noch in der Gegenwart die Idee des Gerichtsverfahrens darauf, den jeweiligen Fall öffentlich, mündlich und unmittelbar, also per Interaktion zu verhandeln, die Juristen sprechen hier vom „Grundsatz der Öffentlichkeit" als einer „Pro-
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wie André Kieserling es formuliert: „Wenn der Konflikt ein Parasit ist, der zur Vertilgung seines Gastgebers neigt, dann ist die Interaktion ein gefundenes Fressen" (Kieserling 1999: 282). Gewöhnlich können Interaktionssysteme „offene Konflikte schlecht nebenherlaufen lassen, dazu sind sie nicht komplex genug. Sie haben nur die Wahl, Konflikte zu vermeiden oder Konflikte zu sein" (Luhmann 1975: 17). Die Institutionalisierung des konfliktförmigen Gerichtsverfahrens ist also voraussetzungsreich und beruht nach Luhmann (1983: 100-106) auf mehreren, einander wechselseitig bedingenden Faktoren: 1) Der Konflikt darf sich nicht diffus-generalisierend auf den Gegner und alle seine Eigenschaften beziehen. Er muss auf Entscheidbarkeit hin spezifiziert werden. 2) Dazu ist es nötig, dass der Konflikt nur verbal ausgetragen wird. Aber auch dabei kann nicht alles erlaubt sein: Die Streitenden müssen bestimmte Spielregeln als verbindlich anerkennen und damit bestimmte Vorgehensweisen ausschließen. 3) Im Unterschied zum alltäglichen Streit besteht eine grundlegende Spielregel des im Verfahren domestizierten Konflikts darin, dass sich die Streitenden wechselseitig das Recht zu Streiten zugestehen. Uber „das Recht zum Streiten (besteht) kein Streit und daher auch kein Streit über die Vertretbarkeit kontroverser Selbstdarstellungen" (Luhmann 1983: 105). 4) Eine solche eher „unnatürliche"3 Konfliktführung ist nur möglich auf der Basis verfahrenseigener Rollen. Diese helfen, den Streit in bestimmten Grenzen zu halten und in seiner Ernsthaftigkeit zu erhalten. Zudem fördern Rollen die Bereitschaft, die Entscheidung an einen Dritten zu delegieren. Luhmann kann für den „erlaubten Konflikt" ein modernes, ausdifferenziertes Gerichtsverfahren voraussetzen. Der erlaubte Konflikt und seine ermöglichenden Faktoren sind in der Moderne schon gelöste Probleme (Luhmann 1983: 6). Anders war dies in der Frühen Neuzeit, als das Gerichtsverfahren zwar als Interaktionsordnung prinzipiell schon zur Verfügung stand, aber noch nicht den Status eines ausdifferenzierten Systems erlangt hatte. In historischer Perspektive stellt sich die Ausbildung eines
zessmaxime" (Wettstein 1966). Die faktische Tendenz der Justiz, z. B . durch schriftliche Vorverhandlungen und den
erlaubten Konflikts als unwahrscheinlich dar. Denn in den meisten sozialen Kontexten des frühneuzeitlichen Alltags tendierten Konflikte zu Entgrenzung und Generalisierung, vor allem wenn dabei das symbolische Kapital der Ehre tangierte wurde (Schreiner & Schwerhoff 1995). Dann wurden aus Beleidigungen im Wirtshaus nicht selten Prügeleien und aus Ehrverletzungen in höheren Schichten unerlaubte Duelle (Walz 1992). In den „interaktionsnah strukturierten Gesellschaften" (Luhmann, in diesem Band: 25) der Frühen Neuzeit wurden Konflikte als unerwünscht dargestellt und, wo immer es ging, unterdrückt (Härter 2010). Nur in wenigen, voraussetzungsreichen Kontexten wurden Konflikte dagegen explizit erlaubt (und nicht nur toleriert): Zum einen im völkerrechtlich definierten Staatenkrieg des 17. Jahrhunderts (Fisch 1979), zum anderen, freilich ohne Waffen, in rechtlichen und politischen Entscheidungsverfahren. Ich möchte in diesem Beitrag einige Aspekte der Ausdifferenzierung des erlaubten Konflikts im Gerichtsverfahren herausarbeiten. Für die Geschichte des Gerichtsverfahrens als Interaktionssystem mit der Funktion, verbindliche Entscheidungen herzustellen, war der Konflikt von großer Bedeutung: Erst als es den Verfahrensveranstaltern gelungen war, den Konflikt gleichzeitig zu erlauben und zu kontrollieren, stellten sich jene Effekte ein, die Luhmann (1983) als „Legitimation durch Verfahren" bezeichnet hat. Die Entstehung des erlaubten Konflikts im Gerichtsverfahren ist allerdings nur zu einem geringen Teil auf ein absichtsvolles Wirken der frühneuzeitlichen Juristen zurückzuführen.4 In der Regel handelte es sich bei der Ausdifferenzierung des erlaubten Konflikts um Nebeneffekte von Verfahrensreformen mit ganz anderen Zielsetzungen, die z.B. auf der Ebene des Beweisrechts oder der Verfahrensgerechtigkeit lagen. Im vorliegenden Beitrag achte ich darauf, unter welchen Bedingungen ein solcher Konflikt überhaupt im Verfahren untergebracht und kontrolliert werden konnte. Der Blick richtet sich auf das frühneuzeitliche England, weil sich nur dort das Gerichtsverfahren als ein Konflikthandeln integrierendes Interaktionssystem ausdifferenziert hat. Auf dem europäischen Kontinent und in Schottland setzte sich hingegen das aus dem
Einbau (illegaler, aber brauchbarer) Organisationsstrukturen zeitraubende Interaktion „vor Gericht" einzuspa-
4
ren, müsste man daher als Informalisierung beschreiben
eine Art Rationalitätsdispositiv voraus, das der Ausdiffe-
(Blaurock 2 0 0 5 ) .
Vor allem rechtshistorische Arbeiten setzen bisweilen
renzierung des Gerichtsverfahrens seit dem Mittelalter zu-
L u h m a n n sieht als eine Voraussetzung für die M ö g -
grunde gelegen habe. Oder aber man attestiert dem Mit-
lichkeit des erlaubten Konflikts das „Brechen natürlicher
telalter bereits so viel Rationalität, dass Ausdifferenzierung
Tendenzen" ( L u h m a n n 1983: 102).
fast unnötig erscheint, so etwa Lepsius ( 2 0 0 3 : 3 - 4 6 ) .
3
André Krischer: Der „erlaubte Konflikt" im Gerichtsverfahren
Römischen Recht stammende Inquisitionsverfahren durch. Das Inquisitionsverfahren wurde überwiegend nicht öffentlich, an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten geführt (Härter 2000). Wenn man aber den Markenkern des modernen, als globaler Standard gehandelten Gerichtsverfahrens darin sieht, dass es öffentlich, mündlich und unmittelbar geführt wird,5 sozusagen als Interaktionssystem mit Zuschauern, dann lässt es sich, trotz aller Unterschiede im Detail, auf das in der englischen Frühneuzeit ausgebildete Vorbild zurückführen, und hier pikanterweise auf die Prozesse wegen Hochverrats. Hochverratsprozesse waren nicht durch ihren Gegenstand, aber durch ihre Form der Archetypus des modernen Gerichtsprozesses. Ich verstehe den Beitrag auch als Fallstudie zum Verhältnis von Konflikt und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. Weder in der Soziologie noch in der Geschichtswissenschaft geht man noch davon aus, dass mit Konflikten das Ende von Gesellschaft erreicht ist (Kieserling 1999: 257 ff.). Bei Historikern ist vielmehr von frühneuzeitlichen „Streitkulturen" die Rede (Eriksson & Krug-Richter 2003). Das Streiten wird also ausdrücklich als Modus sozialen Handelns und Beobachtens anerkannt. Zudem geht es längst nicht mehr nur darum, worüber gestritten wurde, sondern vor allem wie und mit welchen Mitteln. Damit ist jene Ebene erreicht, die Georg Simmel als „Vergesellschaftung im Streit" bezeichnet hat. Auf dieser Ebene geht es „nicht nur um die Regulierung, Beschränkung und Domestizierung des Konflikthandelns, sondern darüber hinaus auch um die Ermöglichung jener gesellschaftlichen Vielfalt von Sinn- und Interaktionsmustern, die das Zusammenhandeln der Subjekte auf den verschiedensten sozialen Feldern als Konflikt organisieren und in jeweils ganz spezifischen Formen - als Debatte, als Verfahren vor Gericht, als Wettkampf, als Konkurrenz auf dem Markt - als .Handeln gegeneinander' sinnhaft sich artikulieren lassen" (Tyrell 2008: 20). Bei der Analyse dieser sinnhaften Artikulationen des Gegeneinander-Handels reichen allgemeine Beschreibungen des Geschehens allerdings nicht aus. Es ist vielmehr nötig, den Konflikt mikrogeschichtlich auf der Ebene der einzelnen Äußerungen {turns) und der Logik ihrer Verkettungen (turn taking) zu untersuchen. 5 Diese Trias geht zurück auf die liberalen deutschen Juristen des frühen 19. Jahrhunderts wie Anselm von Feuerbach oder Carl Mittermaier, die das deutsche Prozesswesen nach dem englischen Vorbild reformieren wollten (Fögen 1974).
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Der Beitrag hat sechs Abschnitte. Im ersten Abschnitt geht es um den Ubergang von einem mittelalterlichen Gerichtsverfahren, in dessen Mittelpunkt ein gewaltsam ausgetragener Zweikampf stand, zu einem ausschließlich verbal ablaufenden Verfahren nach 1500, das den agonalen Charakter beibehielt. Beschrieben werden nicht nur die Merkmale des verbal ausgetragenen Konflikts, sondern auch die Rituale, mit denen dieser gerahmt und als Beitrag zur Entscheidungsfindung codiert werden konnte. Der zweite Abschnitt fokussiert auf die Hochverratsprozesse und stellt zunächst Delikt, Verfahrensform, Akteure und Kontexte kurz vor. Unter 2.1 werden dann exemplarisch Konflikte bei der Eröffnung von Verfahren im 16. und 17. Jahrhundert untersucht, unter 2.2 Konflikte bei einem Verfahrensabschnitt, den ich mit einem Begriff aus dem deutschen Prozessrecht Hauptverhandlung nenne.6 Es handelt sich dabei um die Phase nach der Eröffnung und vor dem Abschluss des Verfahrens, um jene Phase, in der ein Konflikt prinzipiell erlaubt, aber bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts nur schwer unter Kontrolle gehalten werden konnte. Der dritte Abschnitt dreht sich um Konsequenzen, die sich in der sogenannten Restaurationsepoche (1660-1688) durch die Institutionalisierung des Zeugenverhörs für die Formalisierung des Konflikts bei der Hauptverhandlung ergeben hatten. Der vierte Abschnitt diskutiert die Folgen einer anderen Innovation, nämlich der Zulassung von Strafverteidigern nach 1696. Dabei werden exemplarisch Konflikte zwischen den Anwälten über Prozessformalien untersucht, die zugleich einen typischen Gegenstand erlaubter Konflikte im Gerichtsverfahren des 18. Jahrhunderts darstellten. Ein anderes Beispiel dafür waren Kreuzverhöre, um die es im fünften Abschnitt geht. Zuletzt diskutiere ich die herausgearbeiteten Erkenntnisse über die Ausdifferenzierung des erlaubten Konflikts mit Blick auf die vermeintliche „Unersetzlichkeit von Interaktion" und die historisch ausgeschlagene Alternative organisationsförmigen Entscheidens vor Gericht.
6 Während das frühneuzeitliche englische Prozessrecht dafür keinen eigenen Begriff kannte und allenfalls von Evidence sprach, weil es bei diesem Prozessabschnitt um Beweise ging, sprechen Juristen in der Gegenwart von Trial (Orfield 1947: 3 4 4 - 4 9 4 ) , was aber in einem außerjuristischen Kontext, wie hier, zu Verwirrungen führen könnte. Der Begriff Hauptverhandlung scheint mir neutral und breit genug zu sein, um auf den englischen Prozess der Frühneuzeit angewendet werden zu können.
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Englische Gerichtsverfahren am Beginn der Frühneuzeit: Vom Zweikampf zum Wortgefecht (altercation)
Die Institutionalisierung eines Konflikts als Hauptstück des Gerichtsverfahrens setzte in England im II. Jahrhundert ein, und zwar mit dem gerichtlichen Zweikampf, dem trial by battle. Unterstellt wurde bei diesem Kampf, dass Gott denjenigen, der im Recht war, gewinnen ließ. Der mit Schwertern ausgetragene Kampf war ein „kontrollierter Gewaltausbruch" (Neumann 2010: 89), der durch ein elaboriertes Gerichtsverfahren mit formalisierten Auftakt- und Schlusssequenzen zugleich reguliert und ermöglicht wurde. Die Rahmung des gerichtlichen Konflikts vollzog sich durch eine Abfolge ritueller Handlungen, die in England eine äquivalente Funktion erfüllten, wie Arlinghaus (2004, 2005) sie auch für spätmittelalterliche Gerichtsprozesse auf dem Kontinent herausgearbeitet hat. Durch Rituale wurde das Verfahren gegenüber seiner sozialen Umwelt abgegrenzt. Ihm wurde ein eigener Diskursraum verschafft, innerhalb dessen ein gewaltsamer Konflikt als Beitrag zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens codiert werden konnte. Das trial by battle begann mit der schematisierten Anklageerhebung des Geschädigten vor dem Richter, der daraufhin den Beklagten aufforderte, dazu Stellung zu nehmen. Der Beklagte konnte an diesem Punkt entweder seine Schuld gestehen, worauf das Urteil erfolgte, oder aber seine Unschuld behaupten. In diesem Fall kam es zum Kampf, der einige Tage später auf einem eigens dazu hergerichteten Platz stattfand. Dieser Kampf war kein Spiel und kein Schaukampf, er war tatsächlich die Art und Weise, eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen. 7 Dies war der Fall, wenn einer von beiden tot oder schwer verletzt war oder wenn der Angeklagte dem Kampf bis Sonnenuntergang standgehalten hatte. Dieses mittelalterliche Verfahren weist bereits Elemente auf, die Luhmann (in diesem Band: 26) als die „Möglichkeit, allem Interaktionsdruck zum Trotz Selektionszumutungen abzulehnen", beschreibt: Für den Kläger war es auszuhalten, beim Anblick des Beklagten nicht unmittelbar zur Selbsthilfe zu greifen. Dem Angeklagten wiederum war es
erlaubt, auch eine offenkundige Schuld abzustreiten und auf dem Kampf zu beharren. Beides beruhte auf der Leistung des Verfahrens, die Orientierung vom Hier und Jetzt der Interaktion auf zukünftige Ziele zu lenken, nämlich auf die erst noch auszufechtende Entscheidung. Deswegen ist es wichtig, das trial by battle trotz seiner Ritualisierungen nicht als Ritual, sondern als Verfahren zu beschreiben. Denn „im Unterschied zum alternativlosen Ablauf des Rituals ist es für Verfahren gerade kennzeichnend, dass die Ungewissheit des Ausgangs und seiner Folgen und die Offenheit von Verhaltensalternativen in den Handlungszusammenhang und seine Motivationsstruktur hineingenommen und dort abgearbeitet werden" (Luhmann 1983: 40). Diese gesellschaftlich vermittelte Orientierung auf einen offenen Ausgang war auch Bedingung für die Leistung von Verfahren, Konflikt und Kooperation miteinander zu kombinieren (Luhmann 1983: 50 f.; Seibert 2004; Kieserling 2010). Diese Kombination kennzeichnete sowohl das trial by battle als auch die nachfolgenden Verfahrensformen. Der gerichtliche Zweikampf kam im Laufe des 15. Jahrhunderts weitgehend aus der Übung und wurde durch die Schwurgerichtsbarkeit, das trial by jury, ersetzt.8 Bei diesem Verfahren wurde ein Spruchkörper aus zwölf vereidigten Männern mit der Entscheidung über Sachverhalt und Schuldfrage beauftragt, woraufhin ein gelehrter Richter das Urteil sprach. Der Entscheidungsvorgang wurde auf diese Weise mehrstufig: An die Stelle von unmittelbar entscheidenden Kampfhandlungen traten Sprechhandlungen, die aber selbst nichts entschieden, sondern vielmehr den Geschworenen als Entscheidungsgrundlage dienten. Weil es sich bei den Geschworenen um Rechtslaien handelte, musste die Kommunikation vor Gericht für sie verständlich bleiben. Und nicht nur für sie: Anders als auf dem Kontinent war ein vormoderner englischer Prozess öffentlich. Es gab kaum Zugangskontrollen, mehr oder weniger viel Publikum schaute zu. Schon im 15. Jahrhundert hat der englische Gelehrte Sir John Fortescue diese Unterschiede zwischen der englischen und der kontinentalen Verfahrenspraxis herausgestellt. Gerade die Öffentlichkeit - und das hieß immer auch: Interaktionsförmigkeit - des englischen Verfahrens war für
Tatsächlich überlappten sich beide Verfahrensformen. Das trail by jury existierte mindestens seit dem 13. Jahrhundert und wurde vor allem an den königlichen Gerichten in Westminster praktiziert. Die Gründe für das Verschwinden des trial by battle sind nur ansatzweise zu rekonstruieren (Beckerman 1992). 8
In Luhmanns Verfahrenstheorie ist das Turnier die Chiffre für einen Konflikt, der „zu einem Zeremoniell" erstarrt ist, „während die wirklichen Konflikte auf andere Weise entschieden oder nicht entschieden werden" (Luhmann 1983: 102) 7
André Krischer: Der „erlaubte Konflikt" im Gerichtsverfahren ihn ein Zeichen der Vorzüglichkeit des trial by jury gegenüber den kontinentalen Varianten. Für Fortescue konnte es überhaupt nur dann gerecht zugehen, wenn das Handeln vor Gericht für Dritte einsehbar blieb. Bei einem hinter verschlossenen Türen und im Medium der Schrift geführten Prozess hielt Fortescue die Gefahr für groß, dass der Richter bestochen und der Angeklagte gefoltert wurde (Taylor 1999). Fortescue begründete mit seinem Lob auf das englische Gerichtsverfahren die bis heute bekannte Wertung, dass öffentlich und mündlich-interaktionsformig geführte Gerichtsverfahren immer besser seien als andere Verfahrensformen. Wie das trial by battle wurde auch das trial by jury sorgfältig mit Dingen, Worten und Gesten gerahmt. Die Rahmung der gerichtlichen Interaktion musste also selbst interaktionsförmig vollzogen werden. „Gesellschaftliche Strukturvorgaben" (Luhmann, in diesem Band: 11), die die forensische Situation vordefinierten, standen nicht in einem hinreichenden Maße zur Verfügung. Fand der Gerichtstag in der Provinz statt, dann musste im Rathaus einer Stadt überhaupt erst die Szenerie f ü r die Verfahren aufgebaut werden (Graham 2003). Das Verfahren selbst begann mit dem Schweigegebot des Gerichtsdieners, der darauf die Anklageschrift verlas und den Angeklagten zum Plädoyer aufforderte: What sayest thou to it, art thou guiltie or notguiltiei (Alston 1908: 97). Plädierte der Angeklagte auf not guilty, dann erinnerte die nächste Frage How wilt thou be tried?, an die theoretische Möglichkeiten des Zweikampfes, auch wenn der Angeklagte an dieser Stelle antworten musste: by God and my country und nicht by battle. Darauf folgten weitere Formalien wie die Berufung und Vereidigung der Jury. Dann hatte der Ankläger das Wort. Bei diesem handelte es sich (außer bei Hochverrat) vor dem 18. Jahrhundert immer um den Betroffenen selbst und meist um einen Laien. Im Vergleich mit dem trial by battle waren beim trial by jury der Auftakt ähnlich und die Figuration gleich geblieben: Der Geschädigte als Kläger und der Beschuldigte als Angeklagter standen einander vor Gericht unmittelbar gegenüber; dem Angeklagten stand es frei, ob er sich für schuldig oder unschuldig erklärte. Vor allem aber blieb im trial by jury der agonale Charakter des Gerichtsverfahrens erhalten. Erlaubt und ermöglicht wurde durch das neue Verfahren vor den Geschworenen allerdings ein Kampf nur mit Worten, nicht mehr mit Waffen. Der Humanist Sir Thomas Smith (1513—77) nannte diesen verbal ausgetragenen Konflikt in seiner Beschreibung des englischen Gerichtsverfahrens altercation (Alston
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1908: 99).' Im Unterschied zum trial by battle konnte eine altercation, also ein Wortgefecht, unmittelbar nach der Anklageerhebung {arraignment) ausgetragen werden; für eine Vertagung wie beim Zweikampf bestand kein Anlass. Initiiert wurde die Phase des erlaubten Konflikts durch eine Frage des Richters, der damit den Laien den Weg in diese Phase des Prozesses ebnete, bis das Geschehen durch seine eigene Dynamik vorangetrieben wurde und sich als altercation darstellte. In den Worten von Sir Thomas Smith: The Judge (...) asketh first the partie robbed, if he knowe the prisoner, and biddeth him looke upon him: he saith yea, the prisoner sometime saith nay. The partie pursuivaunt giveth good ensignes (...) "I knowe thee well ynough, thou robbedst me in such a place, thou beatesi mee, thou tookest my horse from mee, and my purse, thou hadst then such a coate and such a man in thy companie"; the theefe will say no, and so they stand a while in altercation (...). (Alston 1908: 99). Mehr ließ sich über die altercation kaum sagen. O b sich das Wortgefecht in kontradiktorischen Behauptungen erschöpfte oder Zeugen zu Wort kamen, hing im 16. Jahrhundert noch vom Einzelfall ab. In den meisten Fällen dürfte sich der Konflikt im Austausch von gegenläufigen Behauptungen erschöpft haben (Beattie 1986: 340-352). Mit kurzen Wortwechseln hatte sich die Phase des erlaubten Konflikts erledigt. So wie gewöhnliche Kriminalprozesse selten mehr als eine halbe Stunde dauerten, so dauerte auch die altercation allenfalls wenige Minuten (Bellamy 1998: 110 ff.; Langbein 2003: 16 ff.). Die Geschworenen konnten bei einem solchen Prozessablauf nur deswegen zu einer Entscheidung kommen, weil sie den Fall und die Beteiligten in der Regel schon kannten und - im Unterschied zu heute - auch kennen durften. Die Vertrautheit der Geschworenen mit Tat und Täter war ein Grund für die margina-
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Dieser Begriff (wörtlich: Disput, Wortgefecht) diente zuerst Quintilian (ca. 35—96 n. Chr.) dazu, den im römischen Prozesswesen unüblichen und deswegen in der antiken Rhetorik der monologischen Gerichtsrede nicht beachteten agonalen Wortwechsel der Parteien vor Gericht zu beschreiben: Vor allem in zweifelhaften Fällen komme es am Ende eines Prozesses „zum erbittertsten Kampf, und nirgends wird, möchte ich sagen, mehr mit der blanken Waffe gefochten" (zit. n. Niehaus 2003: 90). FechtwafFen waren hier freilich eine Metapher für die Schärfe des Wortwechsels, doch um diesen gewinnbringend zu führen, hielt Quintilian nicht zufällig Interaktionsqualitäten für erforderlich, die auch beim gewaltsam ausgetragenen Kampf nötig waren, wie „Schnelligkeit und Beweglichkeit, Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit" (Niehaus 2003: 90).
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le Rolle von Zeugen in den Kriminalprozessen vor 1600. Die Geschworenen galten selbst als Zeugen (Klerman 2003). Das Streitgespräch zwischen Ankläger und Angeklagtem besaß für die Geschworenen daher nicht in erster Linie eine Funktion als (diskursive) Informationsquelle. Erkenntnisfördernd war der Streit für die Geschworenen deswegen, weil sie dabei auf die non- und paraverbalen Ausdrücke der Streitenden achten konnten, auf die „unmeant gestures" im Sinne von Erving Goffman (1959: 210). Die Beobachtung von unbeabsichtigten Gesten, Gebärden und körperlichen Ausdrücken (Erröten, Erbleichen, Verhaspeln, Stammeln, Schwitzen, Zittern usf.) als Wahrheitsindikatoren gehörte am Beginn der Frühneuzeit schon zu den etablierten forensischen Erkenntnismitteln, und zwar in England ebenso wie im Bereich des Römischen Rechts (Schneider 1996). Die Körperzeichen wurden mit einer Theorie des schlechten Gewissens erklärt, das sich durch den Körper des Sprechers Ausdruck verleihe. Dies war auch einer der Gründe dafür, warum Juristen es noch bis ins 18. Jahrhunderts für notwendig hielten, dass der Angeklagte ohne Anwalt vor Gericht sprach (Krischer 2012). 10 Denn nur bei einem persönlich engagierten Angeklagten konnte man solche Gewissenszeichen wahrnehmen, nicht 10 Der Vorsitzende Richter im NSU-Prozess (seit Mai 2013 in München) begründete seine Weigerung, trotz der beschränkten Platzverhältnisse des Verhandlungssaals die Sitzungen per Video in andere Säle zu übertragen, auch damit, dass auf diese Weise die Unmittelbarkeit einer Zeugenaussage verloren gehen könnte. Darin dokumentiert sich das nach wie vor hohe Vertrauen in Interaktion als Beitrag zur gerichtlichen „Wahrheitsfindung". Dieses Unmittelbarkeitsideal geht zurück auf die altliberalen Verfahrenstheoretiker des frühen 19. Jahrhunderts, die ihre Theorien wiederum vor allem anhand des englischen Vorbilds des öffentlichen und mündlichen Prozesses konzipierten. Unmittelbarkeit bedeutete dabei für Mittermaier, in den Worten von Vismann (2011: 117), „den unmittelbaren Eindruck, den eine Rede des Rechtssuchenden bei Richtern hinterlässt und diese dadurch zum Richter ermächtigt". Vismann zeigt, wie gerade Interaktion als ein auf wechselseitiger Wahrnehmung, verbalen und nonverbalen Zeichen beruhendes System zum privilegierten Medium der modernen Rechtsprechung wurde (ebd.: 112-146). Vor dem Hintergrund dieser Privilegierung des Unmittelbaren und Mündlichen (wobei noch Öffentlichkeit im Sinne der unmittelbaren Beobachtung der Interaktion durch Unbeteiligte hinzukommt) erscheinen alle Versuche der telemedialen Übertragung von Gerichtsprozessen oder auch nur die Nutzung technischer Apparaturen im Verfahren potenziell als eine „Informalisierung des gerichtlichen Verfahrens" (ebd.: 9).
aber, wenn stattdessen ein Anwalt für ihn agierte (Langbein 2003: 35 f.). Die Bedeutung dieser Körperzeichen für das Gerichtsverfahren zeigt pointiert, dass Interaktionssysteme nicht nur und nicht einmal primär auf verbaler Kommunikation beruhen, sondern auf der wechselseitigen Wahrnehmung der Akteure «»¿/der wechselseitigen Wahrnehmung dieser Wahrnehmungen (Luhmann, in diesem Band: 7; Heintz, in diesem Band: 227 ff.). Auch Laien vor Gericht dürfte es bekannt gewesen sein, dass sie im Wortsinn unter Beobachtung standen. So wie der Streit vom Richter freigegeben wurde, so wurde er von diesem auch wieder beendet: When the Judge hath heard them say inough, he asketh if they can say any more: if they say no, then he turneth his speeche to the enquest (...) (Alston 1908: 99.). Es handelte sich also um eine konsensuale, vom Richter moderierte Streitbeilegung 11 , womit er gleichzeitig den Ubergang von einer Episode des Verfahrens zu einer anderen markierte, von der altercation zum Abschluss des Verfahrens (judgement). Er wandte sich dazu an die Geschworenen und beauftragte sie mit der Entscheidung über den Sachverhalt, u m darauf sein Urteil zu sprechen. Auch wenn es bei solchen Gerichtsverfahren um persönliche Konflikte zwischen Ankläger und Beklagtem ging und die altercation daher von einer besonderen Motivation getragen wurde, so war sie doch bestimmten Spielregeln unterworfen. Nach allem, was man über die Gerichtsverfahren um 1600 weiß, gab es in deren Ablauf kaum unerlaubten Streit (Bellamy 1998: 109-114). Der erlaubte Konflikt in Form der altercation konnte bei gewöhnlichen Kriminalprozessen als eine besondere Episode des Verfahrens eingegrenzt werden. Das war bei Hochverratsverfahren anders.
2. Unerlaubte Konflikte in den Hochverratsverfahren des 16. und 17. Jahrhunderts Das schon im 14. Jahrhundert konzipierte englische Hochverratsdelikt (high treason) unterstellte die Absicht, den König zu ermorden und das Königreich in den Ruin treiben zu wollen. Für Hochverrat bedurfte es allerdings keiner königlichen Leiche. Eine gericht-
11 Mit der Rolle des Richters war eine „zentralisierte Betriebsverantwortung" (Luhmann, in diesem Band: 9 f) für das gerichtliche Interaktionssystem verbunden: Ihm oblag es, Beiträge sowohl zu inspirieren als auch zu blockieren.
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lieh konstruierte Absicht zum Königsmord reichte aus. Auch wenn nicht alle Anklagen erfunden waren, so wurde das Delikt häufig politisch instrumentalisiert und gegen alle möglichen „Feinde" der jeweiligen Obrigkeit in Stellung gebracht (Bellamy 1979; Steffen 2001; Orr 2002). Allerdings wurden Hochverratsprozesse seit dem 16. Jahrhundert den gleichen Verfahrensregeln unterworfen wie gewöhnliche Kriminaldelikte auch. Die politische Brisanz dieses Delikts wurde dadurch entschärft, dass es durch ein trial by jury verhandelt wurde und dadurch seinen Status als Herrschaftsinstrument des Königs verlor. Das Sozialprofil der Angeklagten in Hochverratsfällen unterschied sich deutlich von denen bei gewöhnlicher Delinquenz: Es handelte sich um Angehörige der Oberschicht, um politisch aktive Publizisten, protestantische oder katholische Kleriker. Diesen Angeklagten war gemeinsam, dass die Kommunikation vor Gericht und im Verfahren für sie nicht derart unvertraut war wie für einen gewöhnlichen Dieb oder Mörder. Angeklagte in Hochverratsverfahren hatten in aller Regel Erfahrungen darin, Streitgespräche zu führen, und zwar auch unter Beobachtung durch Dritte. Die Prominenz des Angeklagten oder des Falls führte bei Hochverrat schließlich zu einer anderen Art von Öffentlichkeit als bei anderen Prozessen: Es gab zum einen viel mehr Zuschauer, zum anderen wurden Hochverratsverfahren zunehmend zum Gegenstand von Printmedien. An dieser Form öffentlicher Beobachtung und Medialisierung richteten die Beteiligten, einschließlich des Angeklagten, ihr Handeln immer mit aus (Epstein 1994). Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts wurden viele Hochverratsprozesse in Kurzschrift wortwörtlich protokolliert und dann gedruckt. Nicht nur die Reden und Dialoge wurden aufgeschrieben, sondern vermehrt auch non- und paraverbale Äußerungen. Freilich sind diese Protokolle weit entfernt von der linguistischen Genauigkeit und Detailliertheit, mit denen Forscher heute Kommunikation vor Gericht transkribieren können. Gleichwohl erlauben diese Protokolle der Hochverratsverfahren immerhin eine gewisse Annäherung an forensische Interaktion vor 1800 (Mendie 2006). 2.1 Konflikte bei Eröffnung der Prozesse
Das erste gedruckte Protokoll eines Prozesses stammt aus dem Jahr 1554. Der Höfling Sir Nicholas Throckmorton stand wegen einer Verschwörung gegen Königin Maria vor Gericht. Der Prozess fand
in der Londoner Guildhall statt. Typischerweise registrierte das Protokoll die Auftakt- und Autorisierungsrituale und gab die offizielle, vom Gerichtsdiener verlesene Anklageschrift (indictment) wieder. Danach wurde Throckmorton gefragt, wie er sich im Sinne der Anklage bekennen wolle: art thou guilty or not guilty?11 Von einem Angeklagten wurde an dieser Stelle erwartet, dass er ausschließlich mit guilty oder not guilty antwortete. Alles andere entsprach nicht der Norm und wurde von den Juristen als Standing mute gewertet. Bei gewöhnlichen Prozessen hatte eine solcher Bewertung für den Angeklagten qualvolle Konsequenzen: Er wurde in einem Folterkeller mit dem Rücken auf den Boden gelegt. Auf seine Brust kam ein Brett, das so lange mit Gewichten beschwert wurde, bis der Angeklagte eine der beiden geforderten Antworten gab. Andernfalls wurde er zu Tode gequetscht (McKenzie 2005). Dabei sollte dem Angeklagten aber gerade kein Geständnis abgepresst werden wie im Inquisitionsprozess (Jerouschek 1992). Erfoltert werden sollte vielmehr seine aktive und im Sinne des Verfahrensprogramms ,richtige' Mitwirkung. Bei Hochverrat war diese Bekenntnisfolter in der Frühneuzeit allerdings nur in Ausnahmefällen angewendet worden. Man fürchtete, dass die Angeklagten indirekt Selbstmord begehen könnten. Wenn die vermeintlichen Staatsfeinde ihr Leben verlieren sollten, dann durch einen ordentlichen Prozess. Gerieten Hochverratsprozesse bei der Frage guilty oder not guilty ins Stocken, dann war der Folterkeller keine Option, dann standen den Verfahrensveranstaltern in dieser öffentlichen Situation überhaupt keine physischen Zwangsmittel zur Verfügung. Als Throckmorton auf die Frage ausweichend antwortete (May it please you my lords and masters (...) to give me leave to speak a few words (...) and then plead to the Indictment13) blieb den Richtern als Reaktionsmöglichkeit nur das Medium der Sprache. Dies führte aber ungewollt zu einem Konflikt. Zunächst erinnerte Richter Bromley an die Norm: No, the order is not so, you must first plead whether you be guilty or no.u Doch so schnell gab Throckmorton nicht klein bei. Vielmehr protestierte er gegen den Zwang zum Bekenntnis: If that be your order and law, judge accordingly to itΡ Ein zweiter Richter stellte in Aussicht,
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Howell Howell Howell Howell
1816: 1816: 1816: 1816:
870. 869. 870. 870.
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dass Throckmorton nach dem Plädoyer sagen dürfe, was er wolle: You must first answer to the matter wherewith you are charged, and then you may talk at your pleasure}6 Als man ihn weiter drängte, provozierte Throckmorton mit der Frage, ob die Richter es vielleicht eilig hätten, zum Essen zu gehen. Der als Beisitzer fungierende Earl of Shrewsbury blaffte zurück: Come you hither to check us, Throckmorton? We will not be so used, no, no, I for my part have forborn my breakfast, dinner and supper, to serve the queen}7 Auch dem ebenfalls beisitzenden Geheimrat Southwell platzte der Kragen: Dieses Gerede müsse nun ein Ende haben, man habe es nicht nötig, sich von Throckmorton über die Pflichten der Richter belehren zu lassen, er solle nun endlich plädieren: go to!go to!li Nach einigem Hin und Her gab Throckmorton demonstrativ klein bei: I will answer to the Indictment, and do plead Not guilty to the whole, and to every part thereof. Bei den zahlreichen Zuschauern, von denen ohnehin viele mit dem Angeklagten sympathisierten, dürfte Throckmorton in dieser Sequenz gepunktet haben, vermutlich auch bei den Geschworenen, die ihn am Ende freisprachen. Vergleichbare Versuche von Angeklagten, beim arraignment einen unerlaubten Konflikt zu führen, lassen sich in den Hochverratsverfahren noch bis zum Ende des 17. Jahrhunderts beobachten. Der berühmte Prozess gegen König Karl I. im Januar 1649 kam eine ganze Woche lang nicht über die Frage guilty oder not guilty hinaus. Am Ende wurde der König wegen Missachtung der Form zum Tode verurteilt (Kelsey 2004). Beim Prozess gegen den Leveller John Lilburne, der im Oktober 1649 wegen seiner publizistischen Angriffe auf die neue Republik des Hochverrats angeklagt wurde, versuchten die Richter über Stunden mit bemerkenswerter Geduld, Lilburne die erwarteten Worte abzuringen. Eine Verurteilung aufgrund einer Formalie wie im Falle des Königs sollte unbedingt vermieden werden. Lilburne hingegen nutzte die Redezüge, die sich durch die taktisch motivierte Konzilianz des Gerichts für ihn eröffneten, zu scharfzüngigen und drastischen Angriffen auf das Gericht. Noch viel erfolgreicher als Throckmorton oder Karl I. schaffte es Lilburne, die Interaktionsepisode des Arraignment in einen Konflikt zu verwandeln, weil die Richter immer wieder versuchten, die Vorwürfe zu entkräften und sich damit vom Angeklagten unversehens die Themen diktieren ließen (Brailsford 1961: 5 8 2 - 6 0 4 ) . 16 17 18
Howell 1816: 870. Howell 1816: 870. Howell 1816: 870.
Bei den Prozessen gegen die sogenannten Königsmörder nach der Restauration der Monarchie 1660 zeigte sich allerdings, dass die Richter aus den Hochverratsprozessen während der Bürgerkriegszeit gelernt hatten. Als der Angeklagte Thomas Harrison der Aufforderung zum Bekenntnis auswich, ließen sich die Richter auf keinerlei Diskussionen ein, sondern konterten jedes Ausweichen mit dem Rekurs auf die Norm: Clerk: Are you Guilty, or Not Guilty? Harrison: I am speaking. Shall I not speak two words? Court: If you will not put yourself upon your trial, you must expect that course that the law directs. Harrison: May it please your lordships, I am now— Clerk: Are you Guilty, or Not Guilty? Harrison: I desire to be advised by the law, this is a special case. Court: The law allows nothing now, but to plead Guilty, or Not Guilty. (...) Harrison: Will you refuse to give me any satisfaction? Court: Are you Guilty, or Not Guilty? Harrison: Will you give me your advice? Court: We do give you advice. The advice is, there is no other plea, but Guilty, or N o t Guilty. You shall be heard when you have put yourself upon your trial. Clerk: Are you Guilty, or N o t Guilty? Harrison: (...) I do plead N o t Guilty. 1 9
Zwar kam es auch hier zu einem Konflikt, doch in diesem Fall trat dieser gewissermaßen auf der Stelle. Anders als Throckmorton, Karl I. und Lilburne gelang es Harrison nicht, den Konflikt mit Vorwürfen gegen das Gericht und Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Verfahrens auszugestalten. Die Richter wiederum ließen sich nicht auf Diskussionen, Verhandlungen und Tauschangebote ein. Bis 1700 gab es zwar noch einige Beispiele dafür, dass Angeklagte versuchten, das Gericht beim arraignment zu provozieren. Dennoch verlor dieser Verfahrensabschnitt für die Austragung von Konflikten an Bedeutung, während die Hauptverhandlung dafür immer wichtiger wurde.
2.2 Konflikte bei der Hauptverhandlung Hatten die Verfahrensveranstalter schon Probleme, Konflikte bei den Auftaktsequenzen des Prozesses zu unterdrücken, so bedeutete die Hauptverhandlung eine weitere Herausforderung, und zwar deswegen, weil es sich um jenen Verfahrensabschnitt handelte, bei dem ein erlaubter Konflikt prinzipiell vorgesehen 19
Howell 1816b: 998 f.
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war. Wie Kläger und Beklagter bei den gewöhnlichen Verfahren miteinander stritten: ob sie einander ausreden ließen, sich anschrien, gar beleidigten oder einen zielführenden Disput führten, war ihnen in der Phase des erlaubten Konflikts selbst überlassen. Denn das Streitgespräch involvierte nur diese beiden Akteure, bisweilen auch ihre Zeugen, nicht aber die Juristen, die sich während der altercation auf eine passive Beobachterposition zurückzogen. Das war bei Hochverrat anders: Hier stand dem Angeklagten nicht der persönlich Geschädigte gegenüber, also der englische König. Seit dem 16. Jahrhundert wurde dieser vielmehr von seinen Kronanwälten vertreten, dem Attorney General und dem Sollicitor General sowie einigen der rechtsgelehrten Serjeants at Law. Auf der Richterbank saß bei Hochverrat zumeist der englische Oberrichter (Lord Chief Justice) zusammen mit einigen anderen Richtern der höchsten Common Law-Gerichte. Die Mitwirkung von Richtern und Kronanwälten hatte Folgen für die Konversationsstruktur beim erlaubten Konflikt: Die juristischen Ankläger wollten mit Throckmorton kein Streitgespräch führen wie in gewöhnlichen Gerichtsverfahren die Laien untereinander. Dort wurde die Gesprächsordnung situativ geregelt: Kläger und Angeklagter knüpften unmittelbar an dem an, was der andere gesagt, behauptet, unterstellt, vorgeworfen und zurückgewiesen hatte. Da die Richter auf Moderation verzichteten, entfaltete dieses Gespräch seine eigene Dynamik. Bei Hochverratsprozessen orientierten sich die Interaktionsvorstellungen der Ankläger mit dem Angeklagten hingegen an der Praxis des Verhörs (Niehaus 2003). Diese Befragungstechnik gehörte im 16. Jahrhundert auch in England zu den obrigkeitlichen Praktiken, etwa bei der Verfolgung von Häretikern, die aber nicht vor Publikum verhört und oft mit physischer Gewalt bedroht wurden (Beilin 1996). Gewaltandrohungen schieden für das öffentliche Gerichtsverfahren freilich aus. Es war daher im Falle von Throckmorton erst noch die Frage, ob das Gericht in der Lage war, die Situation trotzdem als Verhör zu definieren, ob es mithin ohne den Rückgriff auf Folterwerkzeuge gelang, gegenüber dem Angeklagten eine für Verhöre kennzeichnende Konversationsstruktur durchzusetzen. Die idealtypische Konversationsstruktur eines Verhörs ist durch ein Frage-Antwort-Schema mit klar verteilten Rollen und ungleichen Machtverhältnissen geprägt: Richter und Anwälte haben die Macht zu fragen. Der Zeuge ist hingegen „immer nur Antwortgeber" (Wolff & Müller 1997: 51). Bei einem
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Verhör wird die Konversationsstruktur nicht situativ ausgehandelt. Sie tritt vielmehr als vorgeregelt in Erscheinung: „Die Gesprächsinitiative fällt nach jedem Beitrag des Zeugen automatisch wieder an den Richter" bzw. den verhörenden Anwalt zurück (ebd.). Verglichen mit diesem Modell lässt sich die faktische Interaktion der Richter und Kronanwälte mit Throckmorton nicht als Verhör beschreiben. Die angestrebte Situationsdefinition misslang. Das zeigte sich schon unmittelbar nach der Vereidigung der Geschworenen. Der Kronanwalt Stanford wollte gerade mit seiner Anklagerede beginnen, als ihm Throckmorton das Wort abschnitt und seinerseits eine kurze Ansprache über die Verführungskünste der juristischen Rhetorik hielt. Throckmorton gelang es regelmäßig, anstelle einer verlangten Antwort Ausführungen über die Unrechtmäßigkeit der Anklage einzuschieben, ohne dass ihm das Wort abgeschnitten wurde. Er wurde im Verlauf der Verhandlung zwar durch die Kronanwälte und Richter befragt, und diese Fragen dokumentierten auch den Anspruch auf die Verfügung über die Gesprächsordnung. Allerdings handelte es sich dabei fast immer um o f f e n e Fragen (Selting 1995), die in einem Verhör mit einem Minimum an sozialer Kontrolle einhergehen. Offene Fragen geben dem Befragten die Möglichkeit, nach eigenen Vorstellungen zu antworten. Davon zu unterscheiden sind Wer-Wie-Was-Fragen (mittlere Kontrolle) und geschlossene Entscheidungsfragen, auf die man nur mit Ja oder Nein antworten kann und die deshalb ein hohes Maß an sozialer Kontrolle implizieren (Luchjenbroers 1997: 482 f.). Ein Beispiel für eine offene Frage war die Aufforderung des beisitzenden Richters Hare, Throckmorton möge zu Kontakten mit dem Anführer des Aufs tands, Thomas Wyatt, Stellung nehmen: But how say you to this, that Wyat and you had conference together sundry times at Warners house, and in other places?® Die Frage eröffnete Throckmorton Zeit für die Argumentation, dass nicht jeder, der mit dem Rädelsführer eines Aufstands zusammengetroffen sei, notwendig auch ein Verschwörer sei. Juristische, auf Entscheidbarkeit zugeschnittene Verschwörungstheorien waren sehr fragile Gebilde, die ins Wanken gerieten, wenn man sie mit Alltagsplausibilitäten konfrontierte. An diesem Punkt und anderen Stellen der Verhandlung hatte Throckmorton die Zeit, um sowohl die Sachverhaltsunterstellung - es gab eine Verschwörung und Throckmorton war dabei - als auch die Rechtsauslegung - Verschwörungen sind
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Howell 1816: 874.
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Hochverrat — wortreich zurückzuweisen, was am Ende auch in einen Freispruch mündete. Die Hauptverhandlung des Throckmorton-Prozesses war für den Konflikt als Parasiten damit ein „gefundenes Fressen" (Kieserling 1999: 282). Die ganze Interaktion der Hauptverhandlung wurde zum Konflikt, und dass dieser dennoch vergleichsweise gemäßigt ablief, ohne wechselseitige Beschimpfungen und Beleidigungen, kann man auch auf die Interaktionsideale der Beteiligten zurückführen, bei denen es sich um einander persönlich bekannte Höflinge handelte, für die ein allzu rüdes Benehmen nicht in Frage kam. An einer Mäßigung des Konflikts war der Angeklagte John Lilburne rund hundert Jahre später dagegen nicht interessiert. Vielmehr provozierte er seine Richter wo er nur konnte und griff sie persönlich an (O unrighteous and bloody judges/21)· Als Zeichen ultimativer Respektlosigkeit urinierte er schließlich öffentlich im Gerichtssaal. Im Übrigen gelang es Lilburne wie schon Throckmorton, die Interaktionen der Hauptverhandlung weitgehend in einen einzigen Konflikt zu verwandeln. Und noch viel mehr als Throckmorton gelang es Lilburne, die Regie über die Konflikt-Interaktion zu übernehmen. Wie in nur wenigen Prozessen wurden die Richter in ihrer Moderatorenrolle, als diejenigen, die über die Themen und die Verteilung der Redezüge verfügten, marginalisiert. Lilburne verwandelte sein Gerichtsverfahren in eine Disputation über die Grundprinzipien seiner politischen Ideen. Aus der Disputation ging er als Sieger hervor, aus dem Prozess als Freigesprochener heraus. Der Ablauf der Prozesse gegen Throckmorton und Lilburne war einerseits außergewöhnlich, andererseits zeigten sich in diesen Fällen aber auch prinzipielle Möglichkeiten des forensischen Diskurses im 16. und 17. Jahrhundert, die man stellenweise auch bei anderen Hochverratsprozessen vor 1700 nachweisen kann. Ein gemeinsames Merkmal war dabei, dass die Hauptverhandlung bei diesen Prozessen aus nur wenigen, dafür aber langen und zusammenhängenden Interaktionssequenzen bestand. Im Unterschied zu modernen Gerichtsprozessen kann man die Hochverratsverfahren um 1600 als „gestreckte Interaktion" beschreiben (Scheffer 2010: 142). Den meisten Prozessen in dieser Zeit fehlte es an innerer Gliederung durch einzelne Episoden, mit der Konsequenz, dass sich Konflikte unkontrolliert ausbreiten konnten. Dies änderte sich allmählich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts.
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Howell 1816b: 1380.
3. Formalisierungen des forensischen Konflikts in der Restaurationsepoche Wie für das arraignment bildete die Restaurationsepoche (die Zeit zwischen der Wiedereinsetzung der Monarchie 1660 und der Glorious Revolution 1688/89) auch für die Hauptverhandlung eine Zeit des Wandels. So wie die Verfahrensveranstalter versuchten, sich beim arraignment nicht mehr in Streitgespräche verwickeln zu lassen, so wurde auch die Hauptverhandlung durch eine allmähliche Formalisierung des forensischen Konflikts gekennzeichnet. Die Konfliktunterdrückung beim arraignment ging vor allem auf die Erfahrungen der Juristen mit renitenten Angeklagten in der Bürgerkriegszeit zurückging. Die Begrenzung von Konflikten bei der Hauptverhandlung hing dagegen mit der Aufwertung der Rolle von Zeugen im Verfahren und der damit einhergehenden Strukturierung des Ablaufs der Hauptverhandlung zusammen. Die Veränderung der gerichtlichen Interaktionsordnung war eine nicht intendierte Folge des Wandels der gerichtlichen Erkenntnismittel. Schon in den Hochverratsprozessen vor 1660 hatte es Zeugen gegeben. Allerdings spielten sie dort eine eher unspezifische Rolle: Sie wurden gerufen, um vom Kronanwalt als wahr behaupteten Sachverhalten gleichsam ein Gesicht zu geben. In den Prozessen nach 1660 erhielten Zeugenaussagen einen ganz anderen Status. Im Grunde erhielten Strafverfahren erst seit dieser Zeit ihre Qualität als Wissensgeneratoren (Scheffer & Hannken-Illjes & Kozon 2010: 150-161), während es in den älteren Prozessen nicht oder nur am Rande um die forensische Herstellung von Wissen durch verfahrenseigene Beweismittel gegangen war. Die Aufwertung von Zeugen und Zeugenaussagen in den Gerichtsverfahren der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte verschiedene Gründe. Eine Signalwirkung war dabei von der Naturphilosophie der Royal Society ausgegangen. Für die Wissenskultur der Royal Society spielten Zeugenaussagen eine herausragende Rolle. Die andere Form der für die Royal Society typischen Wissensproduktion, nämlich Experimente, wurde wiederum nicht zufällig mithilfe juristischer Termini beschrieben, nämlich als trials. So wie das Common Law der Naturphilosophie bei der Beschreibung konkreter Erkenntnisgewinnung begrifflich ausgeholfen hatte, so schien auch umgekehrt die Naturphilosophie die verfahrensförmige Produktion von Erfahrungswissen im Gerichtsverfahren zu bestärken (Shapiro 1969).
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Der neue Stellenwert von Zeugenaussagen sowohl für die forensische Erkenntnisgewinnung als auch für die Formalisierung des Verfahrensablaufs lässt sich am Prozess gegen einen republikanischen Geheimbund um Thomas Tonge im Dezember 1662 zeigen (Greaves 1986). Nach einem reibungslos verlaufenen arraignment präsentierten die Kronanwälte wieder ausufernde Verschwörungstheorien. Aber sie wiesen darauf hin, dass sie ihre Rede noch nicht als Beweis betrachteten, sondern bloß als Prämissen der noch zu leistenden Beweisführung durch Zeugen: But we shall call our witnesses, and when you have heard this proved, we cannot be so uncharitable to think you shall need any further aggravation, or doubt of your giving a verdict against such miscreants as these are. 22
Durch diese Trennung von Rhetorik und Beweis ließen sich Interventionen der Angeklagten zurückzuweisen, ohne dass die Angeklagten die Möglichkeit hatten, diese Zurückweisung als ungerechte Behandlung durch die Justiz darzustellen. Sie ließ sich rein formal begründen. Als einer der Angeklagten im Tonge-Prozess die Eröffnungsrede des Kronanwalts nicht mehr aushielt und einwarf: / never opened my mouth to that purpose, antwortete ihm dieser: That will be l e f t to proof: I undertake not of myself to prove this, but to open it, let the witnesses speak.20 Diese Zeugen wurden dann für alle Anwesenden sichtbar in den Verhandlungssaal geführt, vereidigt und nacheinander befragt. Die von rituellen Sprechakten der Gerichtsdiener begleitete öffentliche Vereidigung der Zeugen fungierte als Beitrag zur Situationsdefinition: Das Ritual zeigte an, dass es in den folgenden Sequenzen nicht um eine Aussprache zwischen Anklägern und Angeklagten gehen sollte, sondern um die Befragung der Zeugen. Dabei bildete jede Befragung eine einheitliche, in sich abgeschlossene Episode. Es ging jeweils nur um einen Zeugen, der nach der Befragung wieder förmlich entlassen wurde. Mit der Befragung begannen die Vertreter der Anklage, aber auch die Richter stellten Fragen. Im Vergleich mit dem Zeugenverhör des späten 18. und 19. Jahrhunderts, das ausschließlich von den Anwälten durchgeführt wurde, war die Gesprächsordnung in dieser Hinsicht noch offen. Nachdem die Kronanwälte mit der Befragung eines Zeugen geendet hatten, wurde den Angeklagten das Rederecht vom Richter förmlich erteilt: If the Prisoners will ask him any Questions, they may. Dennoch unterlagen ihre Äußerungen bestimmten 22 23
Howell 1816a: 233. Howell 1816a: 232.
Einschränkungen: Sie durften an dieser Stelle nur Fragen an den Zeugen zu stellen, aber keine Erklärungen abgeben. Als der Angeklagte John Seilers das Wort ergriff und zu begründen versuchte, dass er mit der ganzen Sache nichts zu tun habe, intervenierte der Vorsitzende Richter: You shall be all heard at large, when you make your Defence. But will you ask him any questionsP24 Mit dem formalen Argument „alles zu seiner Zeit" ersparten sich die Richter eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Einwürfen des Angeklagten, die früher zur unkontrollierten Freisetzung von Streitgesprächen geführt hatten. In den Restaurationsprozessen wurden solche Einwürfe vom Richter nicht deswegen disqualifiziert, weil er sie als Lüge oder Unverschämtheit erachtete und dies, wie früher, auch so sagte - und damit einen weiteren Konflikt initiierte. Vielmehr wurden sie disqualifiziert, weil sie nicht zum verfahrensintern richtigen Zeitpunkt gekommen waren (Luhmann 2007: 153). Durch die Aufwertung der Zeugenbefragung und den richterlichen Anspruch auf die Verfügung über die Ordnung der Redezüge wurde die bis dahin weitgehend offen gestaltete Hauptverhandlung ansatzweise konditional programmiert: Erst wenn der Kronanwalt seine Anklagerede beendet hatte, wurden die Zeugen der Anklage berufen. Wenn diese befragt wurden, durfte zunächst der Kronanwalt fragen, danach der Angeklagte. Es durften nur Fragen gestellt werden, Erklärungen und Behauptungen waren nicht erlaubt. Diese faktisch neue Programmstruktur des Verfahrens wurde als „uraltes Recht" ideologisiert und gegenüber dem Angeklagten als zu befolgende Form geltend gemacht: Take the old and ancient course, let the witnesses that are produced for the King be all heard, then give your answer to all of them, hieß es bei einem Prozess von 1660.25 Für die Ausdifferenzierung des erlaubten Konflikts waren die neue Form der Zeugenbefragung und die damit einhergehenden Kommunikationsmuster also wesentlich. Zeugenbefragungen untergliederten die Hauptverhandlung in einzelne, einigermaßen in sich abgeschlossene Episoden. Diese Untergliederung sorgte dafür, dass mögliche Konflikte auf die Episoden begrenzt blieben und nicht wie Parasiten die ganze Interaktion der Hauptverhandlung befielen. In den Prozessen der 1660er Jahre wurde die Interaktion bei der Hauptverhandlung nur zeitweise und durch richterliche Moderation als Konflikt freigege-
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Howell 1816a: 240 Howell 1816b: 1149.
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ben. Als abgegrenzte Episode trat aber nicht nur die Zeugenbefragung in Erscheinungen, sondern auch die anderen Sequenzen des Verfahrens taten dies: das arraignment, die Auftakt- und Schlussreden oder auch Anfragen der Angeklagten an den Richter. Inwiefern sich eine Hauptverhandlung durch den Richter moderieren ließ und Konflikte begrenzbar blieben, hing vor 1700 allerdings sowohl von der Person des Angeklagten ab als auch vom jeweiligen Kontext eines Prozesses. Bei den Tonge-Verschwörern gelang dies auch deswegen, weil die Angeklagten hofften, durch Demut im Prozess begnadigt zu werden. Anders sah es aus, als sich 1678 eine antikatholische Verschwörungshysterie ausbreitete und man unschuldige Jesuiten vor Gericht zerrte. Für diese Männer stellte ein Todesurteil keinen ultimativen Schrecken dar. Entsprechend traten sie in den Prozessen mit einer Mischung aus Mut und Gelassenheit auf, der wiederum Richter und Kronanwälte provozierte und zu wütenden Einwürfen nötigte, die das Konditionalprogramm des Verfahrens durcheinanderbrachten (Kenyon 1972: 157-162). Bei Prozessen infolge der Aufdeckung einer whiggistischen Verschwörung im Jahr 1683 gab es wiederum eine weitverbreitete Sympathie für die Angeklagten. Der faktische Umgang mit Angeklagten wie Algernon Sidney vor Gericht erklärt sich aus dem Bestreben, das Verfahren vor einer kritischen Öffentlichkeit von einer möglichst guten Seite her zu präsentieren, durch eine Mischung aus Konzilianz und Förmlichkeit. Dadurch ergaben sich für die Angeklagten erneut Freiräume für Konflikte. Nicht jeder ihrer Zwischenrufe wurde als Störung gerügt, als irrelevant oder deplatziert abgetan. Typisch war die Forderung nach einem Anwalt, der den Angeklagten aber nicht zustand, was die Zeitgenossen zunehmend als unverständlich erachteten. Gepaart mit der vom Gericht hochgehaltenen Förmlichkeit des Verfahrens konnte die abgeschlagene Bitte um einen Anwalt dem Angeklagten dazu dienen, sich als Opfer der Justiz darzustellen. Als z. B. der Angeklagten Henry Cornish 1685 aufgefordert wurde, die Zeugen der Anklage zu befragen, entgegnete er resigniert: I am not a lawyer, I am not skilled in these things; I am very ignorant,26 Auch von Teilen des Publikums wurde der anwaltslose Angeklagte als ungerecht behandeltes Subjekt wahrgenommen und in seiner „Menschlichkeit" zum Thema gemacht (Scott 1991: 321). Vom Prozess gegen William Lord Russell 1683 blieb etwa in Erinnerung, dass seine Frau die ganze Zeit nicht 26
Howell 1816c: 412.
von seiner Seite gewichen sei und für ihn Notizen gemacht habe. Auf diese Weise erschien Russell in einer diffusen Rolle zwischen Ehemann und Angeklagtem (Schwoerer 1988). Durch ihre obstruktiven und subversiven Praktiken gelang es den Angeklagten also mehr oder weniger, eben diese Verfahrensrolle nicht zu übernehmen. An die Stelle dessen, was die Verfahrensveranstalter als Verhalten in der Rolle des Angeklagten erwarteten, etwa nur dann zu reden, wenn man gefragt wurde, traten variantenreiche Selbstdarstellungen und Subjektperformanzen. Die Angeklagten brachten zu viel „Persönlichkeit" mit ins Verfahren, als dass mit ihnen gemeinsam auf eine Entscheidung hingearbeitet werden konnte. Anstatt „bestätigende(r) Mitwirkung des Betroffenen" leisteten die Angeklagten „existenzielles Engagement" (Luhmann 1983: 105, 115). Neben den Störfeuern versteiften sich viele auf Unschuldsbehauptungen, denen sie durch ihre eidesförmige Formulierungen (Upon my salvation, I am as innocent as a child unborn) Absolutheit verliehen. Solange Angeklagte ohne Anwalt vor Gericht agierten, blieben unerlaubte Konflikte notorisch. Wenn sich die Übernahme verfahrenseigener Rollen in den modernen Prozessen disziplinierend auswirken kann (Luhmann 1983: 48), dann scheint die Rolle des sich selbst verteidigenden, aktiven Angeklagten in einer unauflöslichen Spannung zum Verfahren als sozialem System gestanden zu haben. Sie ließ sich nicht in gleicher Weise dem System anverwandeln und seinen Spielregeln unterwerfen wie das bei den anderen Beteiligten und ihren Rollen der Fall war (Richter, Kronanwälte, Gerichtspersonal, Geschworene, Zuschauer). Die Eigenheiten der Rolle des Angeklagten in den Prozessen vor 1700 zeigen sich deutlich, wenn man sie mit dem typischen Rollenverhalten eines Angeklagten im englischen Strafprozess der Gegenwart vergleicht: „The defendant is sidelined (and silenced) and only contributes to the hearing when being asked to plea or when appearing as a witness for the defense" (Scheffer & Hannken-Illjes & Kozin 2010: 147). Die Rolle des modernen Angeklagten besteht darin, dass er fast keine Rolle spielt und bis auf guilty / not guilty nichts sagt.27 Zur Herausbildung dieser passiven Rolle trug vor allem die Mitwirkung von verteidigenden Anwälten seit 1696 mit. Aber auch dieser kommunikative Beitrag ist seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr obligatorisch: Verweigert der Angeklagte ein regelkonformes Plädoyer, dann wird er so behandelt, als habe er sich für not guilty bekannt. Er wird also dann aufgrund einer Rechtsfiktion in das Verfahren integriert. 27
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André Krischer: Der „erlaubte Konflikt" im Gerichtsverfahren 4.
Konflikte in den reformierten Hochverratsverfahren 1 6 9 6 - 1 8 0 0
Nach der Glorious Revolution von 1688 / 89 wurde die überkommene Prozessordnung bei Hochverrat auf den Prüfstand gestellt und für überholt befunden. Besonders das Anwaltsverbot galt nun als Willkürinstrument der überwundenen Stuartherrschaft. Eine 1696 vom Parlament verabschiedete Reform der Hochverratsverfahren sicherte dem Angeklagten eine Reihe von Rechten zu, darunter das Recht auf frühzeitige Aushändigung der Anklageschrift und auf die Vertretung durch einen Anwalt (Shapiro 1993). Diese Reform der Hochverratsverfahren wurde sowohl von den Zeitgenossen als auch von den Rechtshistorikern als zivilisatorische Errungenschaft, als Einführung von „Balance of Power" in das Gerichtsverfahren insgesamt gewertet (Rezneck 1930). Das ist zweifellos richtig. Anwälte setzten der Auslegungsmacht der Kronanwälte etwas entgegen und bewahrten nicht wenige Menschen vor dem Galgen. Man sollte allerdings nicht aus den Augen verlieren, dass durch die Reform auch ungeplante Effekte eintraten, die einen weiteren Beitrag zur Formalisierung des erlaubten Konflikts und damit zur Stärkung des Verfahrens selbst darstellten. Anwälte sorgten weder für eine Verminderung der Konflikte im Verfahren noch dafür, diese auf bestimmte Episoden einzugrenzen.28 Aber die Art der Konfliktführung änderte sich, weil die Anwälte im Unterschied zu den anwaltslos agierenden Angeklagten nicht gegen das Recht und seine Verfahren kämpften, sondern mit dem Recht und seinen Mitteln. Zwar standen die Anwälte der angeblichen Hochverräter im 18. Jahrhundert der Gesinnung ihrer Mandanten durchaus nahe - Jakobiten verteidigten Jakobiten, Jakobiner verteidigten Jakobiner. Die Anwälte hatten dennoch nicht vor, mit ihren Mandanten im Verfahren unterzugehen. Ihre Konfliktkommunikation beruhte nicht auf unbeirrbaren Behauptungen und hartnäckigen Störfeuern, sondern auf der Nutzung von Mitteln, die durch das Common Law selbst dafür zur Verfügung gestellt wurden: Mittel wie Anträge (motions), Einsprüche (objections), Einreden (demurrer) oder Gesuche (pleas). Dies soll im Folgenden an zwei Prozessen gegen jakobitische Verschwörer in den Jahren 1696 und 1723 gezeigt werden. Bei dem ersten Prozess nach dem Inkrafttreten des neuen Hochverratsgesetzes im März 1696 stand der Dass „Kommunikation über Recht in Interaktionssystemen" konfliktfördernd ist, zeigt Luhmann (1999: 53—72). 28
Jakobit Ambrose Rookwood vor Gericht, weil er mit anderen Verschwörern ein Attentat auf König Wilhelm III. geplant hatte. Am Beginn der Hauptverhandlung wurde aber nicht Rookwood, sondern sein Anwalt Sir Bartholomew Shower aktiv: Shower stellte einen Antrag (demurrer) auf Einstellung des Verfahrens, da seinem Mandanten die Liste mit den Kandidaten für die Jury nicht rechtzeitig zugestellt worden sei. 2 9 Im Unterschied zu den Angeklagten in den älteren Prozessen wurde Shower nicht unterbrochen, so dass er seinen Antrag unter Verweis auf den Gesetzestext ausführlich begründen konnte. Sein Assistent, Mr. Phipps, kam ebenfalls zu Wort. Ausführlich fielen auch die Gegenreden der Kronanwälte aus, die begründeten, warum die Frist aus ihrer Sicht eingehalten worden war. Der Vorsitzende Richter ließ die Anwälte ausreden und versicherte sich sogar darüber, dass sie ihre Diskussion selbst als beendet ansahen - Have you done, gentlemen? Counsels: Yes, my lord- bevor er Showers Antrag nach eingehender Begründung abwies. 30 Im Unterschied zu den Einwürfen der sich selbst verteidigenden Angeklagten initiierte der demurrer also einen erlaubten Konflikt, der nicht sofort abgeblockt wurde, sondern für dessen Austrag der Richter ausdrücklich Zeit gewährte. Gleichzeitig konnte der Konflikt als Episode eingegrenzt werden, weil er durch die Form des Antrags als eine durch den Richter zu entscheidende Rechtsfrage codiert wurde. Diese Codierung war schon erkennbar an Showers einleitenden Worten:
2 9 Scheffer (2008: 378) betont, dass solche Vorstöße von Anwälten nicht als heroische Akte im Hier und Jetzt der konkreten Interaktionssituation zu verstehen seien, sondern als Praktiken, die „eingelassen sind in eine Infrastruktur, die den Handelnden in Stellung bringt, ermächtigt, befähigt" (SchefFer 2 0 0 8 : 378), die man wiederum erst mit Hilfe einer transsequenziellen Analyse hinreichend in den Blick bekomme. Allerdings macht es einen Unterschied, ob man es mit Anwälten zu tun hat, die Informationen und andere diskursive Ressourcen von .außerhalb' und .früher' in die laufende gerichtlichen Situation „importieren" (Scheffer 1998: 3 0 8 ff), oder mit sich selbst verteidigenden Angeklagten, die tatsächlich in einem hohen M a ß e situativ agierten. Bei einer historischen, langfristigen Wandel beobachtenden Untersuchung von Verfahren sperren sich diese gegen die Erklärung mit Hilfe einer einzigen theoretischen Bezugsfolie, sei es Luhmanns Verfahrenstheorie oder Scheffers Ethnografie des Forensischen. Als Historiker kommt man daher um einen gewissen Theorie-Eklektizismus nicht herum. 30
Howell 1816d: 152 ff.
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My lord, it appears to be a doubt to us, upon this act of parliament, whether this cause can be tried this day: and if it be a doubt, we hope, though it should not have that weight with the court, that we apprehend it has: yet your lordship will excuse us, and settle it according to your judgment. 31
I desire I may not be understood as if I would prevent you from offering any thing that is material for your client; but if I can satisfy you that you are improper in form, it may save the time of the Court; but if you can offer any thing material, we are ready to hear it.33
Die F o r m u l i e r u n g des Einwands als Frage an den Richter unterschied sich deutlich von d e m spontan formulierten u n d als diffuse Negation in den R a u m gestellten Protest des Angeklagten in den älteren Prozessen. Auffällig ist z u d e m die demonstrative Höflichkeit, die m a n nicht n u r in diesem Fall findet, sondern die die Sprache der Anwälte seit dieser Zeit insgesamt auszeichnete. Auch in dieser Verhöflichung der Sprache vor Gericht k a n n m a n einen Beitrag zur Formalisierung des erlaubten Konflikts sehen. D e r Anwalt Shower b e k a m anschließend die Gelegenheit, u m seine Rechtsauffassung darzulegen u n d d a r ü b e r mit den Kronanwälten zu streiten. Gleichzeitig stellte er sich aber auch als lernbereit dar, indem er den ablehnenden Entscheid des Richters akzeptierte, nicht länger auf seinen Erwart u n g e n beharrte u n d d a m i t den W e g freimachte f ü r den weiteren Fortgang dieses Verfahrens.
Von den Kronanwälten w u r d e dieser Einspruch ebenfalls als Taktik entlarvt. 3 4 D o c h auch sie wollten den Vertretern der Verteidigung das Recht auf dieses Vorgehen nicht streitig machen u n d stiegen in die philologische Debatte ein. N a c h m e h r als einer Stunde endete diese mit der Bekräftigung der konträren S t a n d p u n k t e der Anwälte u n d Kronanwälte, die es mit ihrer Scholastik nicht zu weit treiben wollten, als sich abzeichnete, dass m a n keinen Konsens erzielen konnte. A m Ende der philologischen Debatte entschied Richter Pratt gegen den Einspruch, aber nicht etwa, weil er ihn als solchen f ü r absurd hielt. Pratt entschied vielmehr „in der Sache" u n d a u f g r u n d seiner Auffassung über hinreichend richtiges Latein im Anklagtext. D a m i t war die Sache erledigt. Auch dieser A n t r a g ließ sich als Episode eingrenzen. Selbst wenn die Anwälte im Laufe des Layer-Prozesses noch mehrere Anträge einbrachten u n d damit jeweils Unterprozesse initiierten, in denen über Rechtsfragen gestritten u n d entschieden wurde, so verblasste dabei nicht die Identität des Verfahrens als eines Gerichtsprozesses, der Z u g u m Z u g in R i c h t u n g einer noch offenen, abschließenden Entscheidung steuerte. Waren die Taktiken der Verteidiger u n d der Kronanwälte auch noch so subtil u n d zeitintensiv, so konnten sie doch stets mit dem Verfahren vermittelt werden. Sie bildeten gleichsam einzelne Kapitel der Verfahrensgeschichte, die dadurch an Komplexität z u n a h m , aber nicht zu einer völligen Unübersichtlichkeit u n d einem Verlust an Situationsdefinition f ü h r t e wie im Prozess gegen Lilburne. Dieser hatte er geschafft - u m im Bild zu bleiben - andauernd neue Unterkapitel zu öffnen, deren lose Enden das Verfahren schließlich völlig überlagerten, o h n e dass durch richterliche Zwischenentscheidungen Komplexität auch wieder reduziert u n d offene Unterkapitel wieder geschlossen werden konnte. Der Layer-Prozess zeigt, dass die Möglichkeit, Konflikte sowohl zu erlauben als auch zu begrenzen, auf einem erfolgreichen Zeitmanagement beruht. Z u m Austrag eines Konflikts muss ausreichend, aber nicht unbegrenzt Zeit zu V e r f ü g u n g gestellt werden. Der
Bei den Hochverratsprozessen in den ersten Jahrzehnten nach der Reform von 1696 suchten die Anwälte i m m e r wieder den Erfolg darin, mit Beschwerden über Formfehler den Prozess z u m Platzen zu bringen. D a m i t verärgerten sie aber nicht n u r die Kronanwälte, sondern auch die Richter, die den A n wälten aber trotzdem nicht das Recht z u m Streiten verweigerten. Ein Beispiel d a f ü r ist die Auseinandersetzung u m die richtige lateinische Schreibweise des N a m e n s des Angeklagten Christopher Layer in dessen Hochverratsprozess von 1722. Der Text der Anklageschrift (indictment) musste auf Latein verfasst sein, u n d es gehörte zum Erbe des mittelalterlichen Rechtsformalismus (Meyer 2009), dass m a n unter Verweis auf Fehler in diesem Text einen Antrag auf Klageabweisung (plea in abatement) stellen konnte. Einen solchen Fehler glaubten Layers Anwälte Hungerford u n d Ketelby n u n in der Schreibweise Christopherus ausfindig gemacht zu haben, denn, wie Hungerford erklärte, by all the Latin dictionaries, the Latin word for Christopher is .Christopherus',i2 Der Anwalt focht also an, dass der N a m e mit einem ,e' geschrieben wurde. Zwar war der Vorsitzende Sir J o h n Richter Pratt über das Vorgehen der Anwälte verärgert. Er trat aber d e m Eindruck entgegentreten, den Angeklagten in seinen Rechten einzuschränken:
33
Howell 1816e: 104. Howell 1816e: 105: My lord, these objections have been made with so much ceremony, and ushered in with such pomp, as if something else was meant, than the quashing this indictment. 34
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Howell 1816d: 145. Howell 1816e: 103.
André Krischer: Der „erlaubte Konflikt" im Gerichtsverfahren
Layer-Fall war einer der ersten Strafprozesse, der deswegen vertagt wurde. Prozessunterbrechungen stellten noch im 17. Jahrhundert ein Problem dar. Man prozessierte eher bis zur völligen Erschöpfung als das Verfahren zu unterbrechen. Und wenn sich dies doch nicht mehr vermeiden ließ, dann war es üblich, dass die Beteiligten ihre Pause im Gerichtssaal verbrachten und die Richter dort auch ihre Mahlzeiten einnahmen. Beim Layer-Prozess zeigte sich nun, dass eine Vertagung zumindest bei dem durch die Anträge und Einwände ausufernden arraignment kein Problem war.35 Der Prozess wurde später einfach an der Stelle weitergeführt, an der man ihn unterbrochen hatte. Es spielte auch keine Rolle, ob dazwischen mehrere Tage lagen. Das Gerichtsverfahren ließ sich anhalten und fortsetzen, ohne dass durch die Pause jene Teile der Verfahrensgeschichte verloren gingen, die bislang gemeinsam von allen Beteiligten erarbeitet worden waren. Genau das war aber in den älteren Prozessen vorgekommen, wenn Angeklagten nach einer Unterbrechung wiederum auf Dinge zu sprechen kamen, die von Seiten der Richter und Kronanwälte bereits als erledigt galten. Die Verteidiger in den reformierten Hochverratsprozessen seit 1696 hingegen teilten mit ihren Juristenkollegen die Definition über den Stand des Erreichten. Zudem wurde es im 18. Jahrhundert üblich, dass bei einem mehrtätigen Prozess bereits am zweiten Prozesstag die gedruckte Wiedergabe des bisherigen Prozessverlaufes vorlag, so dass mit den Druckmedien eine weitere Instanz Eindeutigkeit über den Verlauf der Verfahrensgeschichte bieten konnte. So wie man Gerichtsverfahren vertagen konnte (Vismann 2011: 145 f.), indem man sie anhielt wie ein Tonband, so konnte man auch juristische Konflikte über Formfragen in den Prozessablauf einbinden und bei einer Ablehnung des Antrags an genau der Stelle des Prozesses weitermachen, an der er zuvor erhoben worden war. 36 Solange es nur um Forma-
35
Die Vertagung der Hauptverhandlung wurde erst am Ende des 18. Jahrhunderts praktiziert, weil man zuvor gefürchtet hatte, dass die Geschworenen beeinflusst werden könnten, nicht zuletzt durch die Lektüre von Zeitungsberichten über den Prozess. Einen Ausweg fand man bei den Mammutprozessen in den 1790er Jahren darin, für die Geschworenen Zimmer in nahgelegenen Gasthäusern zu mieten und sie dort unter Aufsicht die Nacht verbringen zu lassen. 36
In diesem „weitere(n) Horizont" des Verfahrens, der (medial durch Akten, Protokolle und Vermerke) geschaffenen Möglichkeit, früher erarbeitete Gesichtspunkte später wieder unverfälscht zu nutzen, besteht nach Scheffer
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lien und noch nicht um die Beweisaufnahme ging, gab es sogar die Möglichkeit, eine Konfliktepisode gleichsam zurückzuspulen und aus dem Verfahrensablauf zu streichen: Beim Layer-Prozess stellte sich an einer Stelle heraus, dass sich die Anwälte mit einem ihrer Anträge völlig verrannt hatten. In diesem Fall wäre aber die Ablehnung des Antrags durch den Richter gleichbedeutend gewesen mit dem Verlieren des Prozesses insgesamt, auch das noch war ein Erbe des Rechtsformalismus. Weil die Kronanwälte aber auch im Layer-Prozess ein ordentliches Verfahren bevorzugten und nicht wollten, dass der Angeklagte aufgrund einer Formalie sein Leben verlieren sollte, erklärten sie sich damit einverstanden, dass Layer sein mit dem Antrag eigentlich verwirktes Recht auf ein Plädoyer {guilty I not guilty) noch einmal bekam. Vom Austrag solcher Konflikte über Formfragen profitierte das Gerichtsverfahren als ein zur Herstellung legitimer Entscheidungen benötigtes Interaktionssystem auch selbst. In den Zeitungsberichten über den Layer-Prozess wurde gerade die Möglichkeit, Anträge einzubringen und darüber mit den Kronanwälten zu streiten, als Ausweis für die Fairness des Verfahrens gewertet, an dessen Ende Layer wegen Hochverrats zum Tode verurteilt worden war (Sherry 1989).
5.
Das Kreuzverhör als Inszenierung von Konflikt
Im 19. Jahrhundert entstand im anglo-amerikanischen Raum eine neue Gattung juristischer Gebrauchsliteratur, die darauf zielte, dem Anwalt trial tatics zu vermitteln, also Kompetenzen für die Interaktion vor Gericht. 37 In dieser Literatur ging es um Grundlagen der Rhetorik ebenso wie um Körpertechniken (Gestik, Mimik), um Verhörstrategien und andere Tipps und Tricks für ein erfolgreiches forensisches Agieren. Dessen Erfolg bemaß sich daran, ob es gelang, einen positiven Eindruck auf die Geschworenen zu machen. Der amerikanische Jurist William C. Robinson (1834-1911) empfahl in seinem Ratgeber Forensic oratory, a manual for advocated auch Konflikte zwischen den Anwälten über (2010: 149) „die erhöhte Leistungsfähigkeit von Verfahren gegenüber einfachen Sozialsystemen". 37 Diese trial tactics zeigen, dass man mit dem „Recht allein" vor Gericht nicht weiter kommt. 38 Das Handbuch erschien zuerst 1893, wurde mehrfach wieder aufgelegt und (wie die anderen Handbücher über trial tactics auch) sowohl in den Vereinigten Staaten als
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konkurrierende Rechtsauffassungen als eine solche Prozesstaktik. Solche Konflikte (altercations) seien im Ablauf eines Gerichtsprozesses von einem gewissen Wert, weil sie, richtig dosiert, einen Kontrapunkt zu dem eintönigen Prozessverlauf darstellten (a momentary respitefrom the dulness of a trial)}9 Ein an der richtigen Stelle entfachter, geschickt ausgefochtener und rechtzeitig wieder beendeter Streit sei für den Anwalt eine Möglichkeit zur Optimierung seiner Selbstdarstellung: It enables the advocate to multiply the favorable impressions made upon the jury by the point employed}® Dass Konflikte im Gerichtsverfahren nicht nur um die Sache geführt wurden, sondern auch einen expressiven Mehrwert besaßen und für ein Publikum ausgetragen wurden, wurde zwar erst im 19. Jahrhundert explizit reflektiert. Diese performative Dimension der erlaubten forensischen Konflikte dürfte aber auch schon den englischen Anwälten des 18. Jahrhunderts bewusst gewesen sein. Der Topos vom Gerichtsprozess als Theaterstück vor Publikum lässt sich jedenfalls schon im 16. Jahrhundert nachweisen (Sil 2007). 41 Um 1800 war der Paradefall eines forensischen Konfliktes mit offenkundig theatralen Dimensionen allerdings nicht der Konflikt zwischen Anwälten, sondern das Kreuzverhör. Kreuzverhöre (cross examinations) waren und sind eine Spezialität der anglo-amerikanischen Prozesspraxis. Es gibt dafür keine direkte Entsprechung in der deutschen Gerichtstradition. Der Sinn des Kreuzverhörs besteht darin, die Glaubwürdigkeit des Zeugen der Gegenseite zu erschüttern. Das Wesen des Kreuzverhörs ist, wie der Taktikexperte Robinson es formulierte, "destructive: It aims to overthrow, not to build up; to disintegrate and scatter, not to gather and consolidate",42 Von einem Anwalt ins Kreuzverhör genommen wurde stets nur der Zeuge der Gegenseite, und zwar unmittelbar nach dessen Befragung durch „seinen" Anwalt. Entstanden war das Kreuzverhör in den englischen Zivilprozessen des 17. Jahrhunderts, über deren Ablauf es aber keine Quellen gibt. In den besser dokumentierten Hochverratsprozessen kamen auch in Großbritannien gelesen und genutzt, da sich die forensische Praxis in vielen Punkten glich und von den Beteiligten selbst auf die frühneuzeitliche Tradition zurückgeführt wurde; zu Robinsons Ratgeber siehe W h i t burn 2 0 0 4 . 39
Robinson 1893: § 2 6 8 .
Robinson 1893: § 2 6 7 . A u f die „unhintergehbare theatrale Dimension des Gerichts" verweist Vismann: (2011: 19—37).
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Robinson 1893: § 2 1 5 .
sie wiederum erst zur Anwendung, als die Anwälte das Prozessgeschehen dominierten und das Vertrauen in die Aufrichtigkeit der vereidigten Zeugen in der Mitte des 18. Jahrhunderts massiv erodiert war.43 In den zahlreichen Prozessen gegen Radikale, gegen Jakobiner, Sozialreformer, irische Unabhängigkeitskämpfer und Verschwörer zwischen 1780 und 1820 beruhte die Anklage nicht mehr auf den umfänglichen Aussagen von zwei oder drei Kronzeugen wie noch bei Layer, sondern auf der Befragung Dutzender von Zeugen.44 Die Befragung vollzog sich dabei in drei Schritten: Handelte es sich um den Zeugen der Anklage, begann der Kronanwalt mit der examination-in-chief. Nach dessen Beendigung folgte das Kreuzverhör des gegnerischen Anwalts, und nach dessen Abschluss hatte der Kronanwalt noch einmal das Recht auf eine re-examination, wobei es im Wesentlichen um Reparaturhandlungen ging, falls der eigene Zeuge im Kreuzverhör „auseinandergenommen" worden war. Im 19. Jahrhundert gehört es zu den üblichen trial tactics, die eigenen Zeugen in spezifischer Weise auf den Prozess vorzubereiten, mit ihnen mögliche Fragen und Fallstricke durchzuspielen.45 Dieses training of witnesses begann aber mit Sicherheit schon in den 1780er Jahren. Genau genommen handelte es sich bei der Kommunikation mit dem eigenen Zeugen daher nicht um ein Verhör, wenn man darunter mit Niehaus (2003: 265 f.) eine „peinliche ... eine bedrängende Situation" versteht, Das hatte sowohl mit einer Krise des Eides als gerichtlichem Wahrheitsmedium zu tun (Krischer 2012), die ihren Höhepunkt mit dem als Skandal wahrgenommenen Meineid der Elizabeth Canning 1753 erreichte (Moore 1994), als auch mit der Uberhand nehmenden Skepsis gegenüber der Glaubwürdigkeit von Kronzeugen, die in der Regel nur ihren Kopf retten wollten. Den meisten Juristen und Strafrechtsreformern, darunter auch Jeremy Bentham, galten Kreuzverhöre als das angemessene Mittel zur forensischen Wahrheitsfindung (Langbein 2 0 0 3 : 246).
43
Nach dem Layer-Prozess von 1722 war der Prozess gegen George Lord Gordon 1780 der erste .regelrechte' Hochverratsprozess nach fast 6 0 Jahren. Nach dem Jakobiten-Aufstand von 1745 wurden die Prozesse gegen die hochadligen Anführer nach standesgerichtlichen Regeln und gegen die nicht-adligen Rädelsführer als „kurze Prozesse" geführt. Die Ausdifferenzierung des Strafverfahrens als eines Forums für Kreuzverhöre vollzog sich im 18. Jahrhunderts also auf des Basis der gewöhnlichen Kriminalprozesse, bei denen Anwälte jedoch keine „full defence" leisten durften, also etwa keine Schlussfolgerungen aus den Verhören ziehen und keine Ansprache an die Geschworenen halten durften. Bei Hochverrat war all dies seit 1696 erlaubt, bei allen anderen Strafverfahren erst ab 1836. 44
45
Robinson 1893: § 178.
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Abb. 1: William Garrow verhört einen Zeugen im Londoner Gericht Old Bailey, aus: Rudolph Ackermann / Thomas Rowlandson: The Miseries of Human Life, London 1808, p. 148, BM 1869,0213.100, mit Genehmigung des British Museum.
„die dem Subjekt zu Leibe rückt". Examination-inchief und re-examination waren vielmehr friendly examinations, für die der Begriff Zeugenbefragung der Sache am nächsten kommt. Nur das Kreuzverhör war auch ein Verhör. Als „bedrängende Situation" und als Zwangskommunikation ist ein Verhör allerdings nicht unmittelbar auch ein Konflikt. Seine FrageAntwort-Struktur begünstigt vielmehr den Verhörenden. Ein „Gegeneinander-Handeln" kann beim Verhör nicht immer unterdrückt werden, es wird situativ toleriert, aber es ist nicht pauschal „erlaubt". Wieso wurde das Kreuzverhör dann aber trotzdem zum Paradefall erlaubter Konflikte im Gerichtsprozess um 1800? Dies lag vor allem an der Anwesenheit von Publikum (hier im weiteren Sinne auch Richter, Geschworene, Gerichtsdiener oder Protokollanten umfassend) und gegnerischen Anwälten. Die im trial byjury gegebene Öffentlichkeit und Präsenz von Gegnern (im Unterschied zum Inquisitionsprozess) verschaffte dem Kreuzverhör seine spezifische Gestalt als Konflikt. Es handelte es sich dabei allerdings um einen Konflikt, bei dem die gegnerischen Anwälte und ihre Mandanten gleichsam über Bande miteinander stritten. Beim Kreuzverhör ging es darum, der Sache des anderen zu schaden, indem man dessen Zeugen vor Publikum in Widersprüche verwickelte und im Idealfall als Lügner bloßstellte.
Berühmt und berüchtigt als Kreuzverhörer wurde um 1800 William Garrow (1760-1840). 46 Garrow arbeitete von 1783 bis 1793 als Strafverteidiger am Gericht Old Bailey. 1793 wechselte er dann die Seiten und fungierte bis 1817 als Kronanwalt. Vor allem mit seiner Person verband sich in den 1780er Jahren die Ausweitung von Strafverteidigung von den Hochverratsfällen zu den gewöhnlichen Delikten. Garrow wirkte in zahllosen Prozessen als Anwalt mit, und in seiner Zeit als Kronanwalt nahm er auch an verschiedenen Hochverratsprozessen teil (Beattie 1991a; Hostettler & Braby 2009). Seine Auftritte als Anwalt waren in den 1780er Jahren eine Attraktion. Sie zogen noch mehr Publikum als üblich zu den Sitzungen in Old Bailey an. Faszinierend und empörend zugleich empfand man seine Kreuzverhöre, bei denen er die Zeugen mit zuvor nicht bekannter Rigorosität befragte. Ein satirisch gemeinter Kupferstich von 1807 zählte es sogar zu den unangenehmen Seiten des menschlichen Lebens (miseries of human l i f e ) , von William Garrow ins Kreuverhör genommen zu werden (Abb. 1).
Nach einer ersten Popularitätswelle im 19. Jahrhundert wurde seine Person in Großbritannien dieser Tage erneut populär durch die preisgekrönte BBC-Serie „Garrow's Law" (2009-2012); vgl. dazu Hostettler 2013. 46
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Die (satirisch überspitzte) Abbildung zeigt: Das Irritierende an Garrows Verhören wurde nicht allein in seinen Fragen gesehen, sondern auch in seiner Gestik und Mimik, einem mit Sicherheit bewusst stilisiertem Verhalten, mit dem er darstellte, dass er Kreuzverhöre als Streit mit dem Zeugen auffasste. In einem Pamphlet von 1808 sprach der Verfasser Thomas Hague von der „Liederlichkeit" (licentiousness), der „brutalen Unverfrorenheit" (brutal insolence) und „schamlosen Gemeinheit" (wanton scurrility), mit der Garrow seine Kreuzverhöre durchführe. 47 Wie er mit den Zeugen umginge, insults the dignity of our Courts, violates public decorum, wounds private feeling.48 Tatsächlich waren Garrows Kreuzverhöre das genaue Gegenteil aller Normen und Ideale der höflichen Konversation, die man zu dieser Zeit von einem Gentleman erwartete, und zwar gerade auch dann, wenn er als Jurist vor Gericht fungierte. Dementsprechend kontrastierte Hague die Zurückhaltung (moderation, and gentleness) anderer Anwälte mit der „Keckheit, Anstößigkeit und Geschwätzigkeit" (pertness, vulgarity, and garrulity) von Garrow. Garrows Art des Kreuzverhörs lässt sich als strategische Taktlosigkeit beschreiben. Ein taktvolles Verhalten zielt auf die Schonung der Selbstdarstellung der Interaktionspartner. „Takt verlangt, dass man den anderen so behandelt, wie er erscheinen möchte (...). Taktvoll handelt, wer Ausdrucksfehler übersieht (...), unaufmerksam ist (und erkennen lässt, dass er unaufmerksam ist), wenn Geschehnisse sichtbar werden, die nicht für Zuschauer bestimmt sind" (Luhmann 1999: 358 f.). Um die Zeugen als unglaubwürdig darzustellen - genau darum und nicht um „die Wahrheit" ging und geht es in Kreuzverhören - , machte Garrow aber genau das zum Thema, was der Selbstdarstellung des Zeugen massiv schadete: Erinnerungslücken, Empfindsamkeiten, Formulierungsschwächen, Naivität, Versprecher, Unaufmerksamkeiten usf. Die Thematisierung und der Vorhalt solcher Selbstdarstellungsschwächen der Zeugen waren und sind ein Kennzeichen des Verhörs als Interaktionssituation.· Etwas wird „ausdrücklich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt, was für gewöhnlich ignoriert werden muß" (Goffman 1981: 36). Garrow zögerte dabei nicht, die Zeugen auch dem Gelächter des Publikums preiszugeben (Beattie 1991b: 52). Wenn man einmal Garrows theatralische Posen außer Acht lässt, dann lag der Skandal von Garrows
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Hague 1808: 3. Hague 1808: 2.
Kreuzverhören in dem glatten Bruch mit allen Normen öffentlicher Interaktion unter Standespersonen. Bizarr empfand man seine Verhöre von Angehörigen der Unterschicht. Unerträglich aber war für einige Zeitgenossen der Umstand, dass er in dieser als aggressiv und taktlos empfundenen Weise49 alle gleich behandelte: Männer und Frauen, Arme und Reiche, Vorbestrafte, Amtsträger und Aristokraten (Beattie 1991b: 53). Der deutschstämmige Baron Hompesch fühlte sich 1807 durch ein Verhör derart in seiner Ehre gekränkt, dass er den Anwalt zum Duell forderte. Konsterniert musste Hompesch jedoch zur Kenntnis nehmen, dass Garrow die Duellforderung nicht nur ausschlug, sondern dass diese Verweigerung der Satisfaktion auch in sozialer Hinsicht folgenlos blieb. Als Hompesch meinte, Garrow sei von nun an „ u n f i t to be recieved in company of gentlemen" (zitiert nach: Hostettler & Braby: 82), irrte er sich: Garrow stieg 1812 zum ersten Kronanwalt auf (Attorney General), 1817 sogar zum Richter. Eine solche Karriere war aber um 1800 nur möglich mit ausreichend sozialer Schätzung. Die kontroverse Rolle, die Garrow als Anwalt im Verfahren spielte, schlug demzufolge nicht auf alle seine Lagen als Person durch. Die Konflikte, die er mit den Zeugen im Kreuzverhör inszeniert hatte, wurden nicht von allen als solche gesehen, für die er auch außerhalb des Prozesses geradezustehen hatte. Die Interaktionen bei diesen forensischen Streitepisoden blieben auf das mittlerweile weitgehend ausdifferenzierte Interaktions- und Entscheidungssystem Gerichtsverfahren beschränkt. Garrow war um 1800 keineswegs der einzige Anwalt, der seine Kreuzverhöre mit kalkulierter Taktlosigkeit, als Konflikt mit dem Zeugen und über Bande mit dem gegnerischen Anwalt durchführte. Aber das Kreuzverhör wurde durch Garrows Exzentrik überaus populär. Damit hatte Garrow einen gewissen Anteil an der Normalisierung dieser Interaktionsepisode im modernen Gerichtsverfahren, die im Laufe des 19. Jahrhunderts von niemandem mehr in Frage gestellt wurde. Im Gegenteil, das Kreuzverhör wurde ausnahmslos als Königsweg der Wahrheitsfindung gewertet. 45 Kritik an Tatktlosigkeit kommt in folgender Frage zum Ausdruck: „ Why then, Sir, in the cross-examination of a witness, shall he be asked the history ofhis whole l i f e , of transactions past, perhaps in youthful f o l l y and levity, remembered only by the malignant, and introduced without the possibility of benefiting either party, though calculated to insult, wound the feelings, and injure the credit and circumstances of the witness" (Hague 1808: 34 f.).
A n d r é Krischer: Der „erlaubte K o n f l i k t " im Gerichtsverfahren
Und welcher Raum blieb den früher so aktiven Angeklagten? Schon bei den Prozessen um 1700 lässt sich beobachten, dass diese zunehmend auf eine passive Rolle festgeschrieben wurden. Während Layer, selbst ein Anwalt, an einigen Punkten selbst intervenierte, wurde es um 1800 üblich, dass Angeklagte die Verteidigung vollständig an ihren Anwalt delegierten (Langbein 2003: 267). Angeklagte sagten dann nur noch, dass sie nichts sagen wollten. Die Anwälte bestärkten ihre Mandaten (eine neue Rolle!) in dem Verzicht auf Eigenaktivitäten: Zum einen sollten sie so davor bewahrt werden, sich um Kopf und Kragen zu redeten. Zum anderen wollten sich Anwälte wie Garrow oder sein nicht minder berühmter Zeitgenosse Thomas Erskine nicht ihren Soloauftritt streitig machen lassen. Der Umwandlung des Angeklagten vom Sprecher zum Zuschauer bei seinem eigenen Prozess nach 1700 entsprach seine räumliche Dezentralisierung. Er wurde in einen Stand an der Wand des Gerichtssaals gegenüber der Richterbank loziert. Sein Verteidiger rückte hinge-
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gen ins Zentrum des Geschehens, nämlich an einen Tisch unterhalb der Richterbank, an dem die Juristen unter sich waren. Die neue Gerichtsarchitektur gab der bereits eingeführten forensischen Interaktionsstruktur schließlich auch einen räumlichen Ausdruck (Graham 2003). Ihre Fortsetzung erreichte die durch den Anwalt initiierte Marginalisierung des Angeklagten durch eine formelle Feinheit, die von der Mitte des 18. Jahrhunderts an zu Common Law wurde: Bei der zu Beginn des Prozesses gestellten Frage nach guilty oder not guilty wurden ausweichende Antworten oder Schweigen des Angeklagten von nun an stets so gewertet, als ob er not guilty geantwortet habe. .Hängen lassen so wie Throckmorton oder Lilburne konnte der Angeklagten das Verfahren an dieser Stelle nicht mehr. So wie auch obstruktives Verhalten durch ein ,als ob' entschärft werden konnte, so wurde der Angeklagte auch selbst immer mehr zu einer juristischen Fiktion, zu einer Person, der man unter bestimmten Bedingungen rechtsverbindliche
Abb. 2: Der 1824 neu gebaute 2. Sitzungssaal v o n O l d Bailey in London, aus: W i l l i a m Powell Frith: The Race for Wealth, No. 4: Judgement, 1879, B M 1943,1211.629, mit G e n e h m i g u n g des British M u s e u m .
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Handlungen zuschreiben konnte, auch wenn er diese gar nicht selbst vollzogen hatte. Das ging so weit, den Angeklagten bei fortgesetzten Störungen zeitweise aus dem Gerichtssaal entfernen zu können, wobei der Prozess .gegen ihn einfach weiterlief. Der abwesende Angeklagte konnte vom Verfahren als anwesend behandelt werden. Für den Prozessablauf stellte die Abwesenheit des Angeklagten nicht das geringste Problem dar, weil sich die Vorstellung, dass ein Anwalt seinen Mandanten vollständig repräsentieren konnte, nach dem Zivil- auch im Strafprozess festgesetzt hatte.
6. Gerichtsverfahren - unverzichtbare Interaktion? Um 1800 traten englische Gerichtsprozesse als hochgradig elaborierte und schematisierte Interaktionsordnungen in Erscheinung, in deren Ablauf sich Konflikte als Episoden einbinden ließen. Konflikte bargen nicht mehr die Gefahr, mit dem Verfahren identisch zu werden und es parasitär zu vertilgen. Der erlaubte Konflikt war zwar ein zentraler und im Übrigen auch unterhaltsamer Programmpunkt des Gerichtsverfahrens, aber nicht dessen einziger. Es war sicher kein Zufall, dass die Ausdifferenzierung des erlaubten Konflikts in der Frühen Neuzeit stattfand, also in einer interaktionsnahen, aber ebenso auch interaktionsbewussten Epoche. Die kunstvolle Gliederung des Interaktionssystems Gerichtsverfahren ließe sich vergleichen mit anderen hoch elaborierten Interaktionssystemen, etwa höfischen Zeremonien oder diplomatischen Verhandlungen (Köhler 2011). Die Formalisierung des erlaubten Konflikts war aber nur zum Teil die Folge intendierten Handelns. Sie beruhte auch auf Verfahrensreformen wie der Aufwertung des Zeugenverhörs und der Zulassung von Strafverteidigern. Vor allem beim erlaubten Konflikt wurden wesentliche Beiträge zu jenen latenten Mechanismen geleistet, die Luhmann als „Legitimation durch Verfahren" beschreibt: etwa die Verstrickung durch zurechenbares Engagement im Streit (auch vermittelt durch den Anwalt) oder die Entschärfung von Positionen, dadurch dass sie dargestellt, in aller Schärfe diskutiert und durch Entscheidbarkeit .erledigt' werden konnten. Interaktionssysteme bewiesen in Gerichtsverfahren hinsichtlich solcher Effekte ihre besondere Leistungsfähigkeit, vermutlich sogar ihre „Unersetzlichkeit" (Heintz, in diesem Band: 246 f.).
So elaboriert und folgenreich die Interaktion beim gerichtlichen Verfahren jedoch auch ausfiel: es handelte sich dabei stets um ein undifferenziertes Interaktionssystem, innerhalb dessen sich keine weitere Systembildung vollziehen konnte (Kieserling 1999, 34 ff.). So komplex die Entscheidungsaufgabe bei Gerichtsverfahren auch war und so viele Juristen und Zeugen auch anzuhören waren - all dies konnte immer nur nacheinander geschehen. Es konnte immer nur einer reden, während aller anderen schwiegen, und geredet werden konnte jeweils immer nur zu einem Thema (ebd.: 40). Wie andere Interaktionssysteme stand auch ein Gerichtsverfahren unter den „Zwang zur Serialität" sowohl hinsichtlich der Sprecher als auch der Themen (ebd.). Diese doppelte Serialität war der Grund für die zunehmende Dauer der englischen Gerichtsverfahren, zumal bei Hochverrat. Ob eine längere Dauer immer auch der .Wahrheitsfindung' diente, wie man in der Rechtsgeschichte bisweilen meint, ist eine andere Frage. Jedenfalls ist in Rechnung zu stellen, dass „die lineare Form der Sequenz ungünstig (ist) für die Koordination sachlich sehr komplexer Themen" (Luhmann 1975: 11). So gut es immerhin möglich war, das Verfahren davor zu bewahren, im Tumult zu enden, so lässt sich nicht übersehen, dass die im 18. Jahrhundert zugelassene Informationsflut den noch aus dem Mittelalter stammenden Interaktionsprozess strukturell überlastete. Es war dabei, wie gezeigt, zunächst um einen Konflikt im handfesten Sinne gegangen, um einen durch Gerichtsrituale gerahmten Schwertkampf. Als dieser Kampf im 16. Jahrhundert von einem Wortgefecht (altercation) ersetzt worden war, war noch überhaupt nicht abzusehen, welche hochkomplexen Entscheidungsaufgaben damit einmal angegangen werden sollten. Ein informationelles Überlastungsproblem betraf auch politische Entscheidungsverfahren der Frühneuzeit (Goppold 2007: 207-242; Schlaak 2010). Sowohl für städtische als auch für höfische Entscheidungsgremien (Stadträte, Hofräte, Geheimräte, Kanzleien, Kabinette usf.) bot sich allerdings die Möglichkeit, durch den Einsatz von Schriftlichkeit (Vismann 2000: 217ff.) sowie durch die Einrichtung von Ausschüssen und Kommissionen den Interaktionsprozess zu entlasten. Stadtrats- oder Hofratssitzungen waren im Laufe des 18. Jahrhunderts vor allem damit beschäftigt, über das zu entscheiden, was im Vorfeld bereits entscheidungsfahig gemacht worden war. Die Reduktion sachlicher Komplexität musste nicht mehr in den Sitzungen interaktionsförmig, sondern in der „Schreibstube"
André Krischer: Der „erlaubte Konflikt" im Gerichtsverfahren
oder im „Amt" schriftlich reduziert werden. Ob im Alten Reich, in Italien, Frankreich oder in England: Uberall in Europa lassen sich im Laufe der Frühneuzeit Uberformungen des Politischen durch arbeitsteilig vorgehende, organisationsähnliche Gebilde beobachten.50 Diese Option zur Auslagerung von Entscheidungsarbeit in organisationsähnliche Gebilde konnte für das englische Gerichtsverfahren nicht oder zumindest nicht in gleichem Maße realisiert werden. Das hatte vor allem damit zu tun, dass man bei Gericht vor Geschworenen und vor einem Publikum prozessierte. Der Prozess der Erkenntnisbildung und Beweiserhebung musste vollständig aufgeführt werden, zumal sich im 18. Jahrhundert die Norm durchsetzte, dass Richter und Geschworene unvorbereitet sein sollten, um unparteiisch entscheiden zu können. Beide wurden darauf verpflichtet, ihre Überzeugungen „aus dem Inbegriff der Verhandlung" zu schöpfen (§261 StPO, vgl. auch Shapiro 1986; Stichweh 1994). Wie immer es auch um das tatsächliche Vorwissen dieser Akteure stand: In der Verhandlung musste man so tun, als ob man ihnen die Informationen in allen Einzelheiten erst noch übermitteln müsste. Und dabei schaute Publikum zu. Gerade in der englischen Schwurgerichtsbarkeit waren die Möglichkeiten daher sehr begrenzt, „die nicht darstellbaren Komponenten des Entscheidungsvorgangs aus dem einsehbaren Handlungsraum" herauszuziehen und „vorab oder zwischendurch" zu entscheiden (Luhmann 1983: 124). Ein weiterer Grund für die problematische Auslagerung von Entscheidungsarbeit aus dem Verfahren hing zwar mit der Publikumsbindung zusammen, ging aber noch tiefer, nämlich auf den von den Juristen so genannten „Öffentlichkeitsgrundsatz" im Gerichtsverfahren. Durch die Aufklärung wurde die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens zu einem zivilisatorischen Grundwert ideologisiert. Erwägungen über andere Verfahrensmöglichkeiten kamen so entweder gar nicht erst auf oder gerieten in Verdacht restaurativer Tendenzen. In England dachte freilich niemand an Alternativen zum public Es ist für die Frühneuzeit schwierig, umstandslos von Organisationen im Sinne der Systemtheorie zu sprechen. Sie scheinen dezidiert moderne und voraussetzungsreiche Systeme zu sein. Zwar lassen sich bei verschiedenen Gebilden (Universitäten, Hofräte, Zünfte, Richterkollegien, Anwaltskammern usf.) klare Mitgliedschaftsregeln erkennen, nur in Ansätzen aber das, was Luhmann (1999) als „primäre und sekundäre Systemfunktionen der Formalisierung" beschreibt. 50
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trial. Aber im Deutschland nach der Französischen Revolution stellte sich schon die Frage, wie man in Zukunft vor Gericht eigentlich verfahren wollte: Auf der Grundlage des reformierten, also von Folter befreiten Inquisitionsprozesses oder nach dem allseits bewunderten englischen Modell? Der Inquisitionsprozess war bereits seit dem 17. Jahrhundert organisationsbasiert geführt worden, so wie politische Entscheidungsverfahren auch: Auf der einen Seite wurden die traditionellen städtischen und patrimonialen Gerichtsinstanzen und ihr Personal mit Ermittlungen und protokollierten Verhören vor Ort beauftragt, auf der anderen Seite entschieden gelehrte Juristen an den Schöffenstühlen, an Universitäten oder am Fürstenhof über den Fall nach Aktenlage (Härter 2000). Doch trotz aller Reformen war der Inquisitionsprozess als Relikt des Ancien Régime zu sehr diskreditiert, um im 19. Jahrhundert noch eine Zukunft zu haben. Die Argumente für diese Prozessform und damit für organisiertes Entscheiden im Recht kamen nicht an gegen die allgemeine Begeisterung für die „öffentliche Gerechtigkeitspflege" als „Palladium der Freiheit" (Habermas 2008: 166-173). Obwohl schon den Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts die funktionalen Beschränkungen dieses Verfahrensprinzips bewusst geworden waren (Fögen 1974), wird bis heute an diesem Prinzip nicht gerüttelt. Cornelia Vismann (2011: 135) nannte den Offentlichkeitsgrundsatz einen „geradezu demokratische(n) Fetisch". Wenn aber „Öffentlichkeit, Unmittelbarkeit und Mündlichkeit" zu den Säulen des modernen Gerichtsprozesses erklärt werden - und damit Interaktionsförmigkeit - , dann sperrt sich dieses Verfahren strukturell gegen organisationsförmige Entlastungsmöglichkeiten. Denn Öffentlichkeit, Unmittelbarkeit und Mündlichkeit sind das genaue Gegenteil organisationsspezifischer Arbeit. Das Gerichtsverfahren wird mit diesem triadischen Dogma auf der Ebene der Interaktion festgezurrt. Für die Vielzahl an Prozessen bei gleichzeitig geltendem Verbot der Justizverweigerung (Luhmann 1995: 310-319) kann die Justiz Entlastungsmöglichkeiten nur noch auf informalen Wegen suchen. Vor allem geht es ihr darum, die zeitraubende Hauptverhandlung, also Interaktion und erlaubte Konflikte zu vermeiden. Schon im 19. Jahrhunderts praktizierte man in Anglo-Amerika aus diesem Grund sogenannte plea bargainings, bei denen sich Anklage und Verteidigung in einer Mischung aus interaktioneil und schriftlich geführten Verhandlungen (nicht Verfah-
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ren51), also mithilfe von Parallelprozessen auf der Hinterbühne, auf ein Ergebnis einigten. Dieses Ergebnis wurde dann dem Gericht beim pleading zur formalen Erledigung vorgelegt: Der Angeklagte gestand, der Krön- oder Staatsanwalt fordert das zuvor abgesprochene Strafmaß und der Richter überführte dieses in ein Urteil. Es ist in Amerika und Europa zur Gewohnheit geworden, und es geht auch angesichts der Unmenge an Fällen gar nicht mehr anders, als so viele Entscheidungsprozesse wie möglich parallel laufen zu lassen. Die für Gerichtsverfahren typische Synchronizität von Interaktions- und Entscheidungsprozess kann also faktisch aufgegeben werden, was darauf hindeutet, dass diese Synchronizität auch nur ein historisches - also kontingentes - Merkmal von Gerichtsverfahren war. Nicht wenige Juristen sind sogar der Ansicht, dass man durch interaktionslose oder interaktionsarme Entscheidungsprozesse zu ,besseren', weil differenzierteren, zumindest aber schneller zu Ergebnissen kommt und dabei auch noch bestimmte Betroffene (Kinder, Vergewaltigungsopfer) schont. Aber solche organisationsförmigen Verfahren lassen sich nur dann praktizieren, wenn man diese Vorgehensweise zumindest ein wenig kaschiert. Es handelt sich um gleichsam brauchbare Informalität. Dem Offentlichkeitsgrundsatz wird die Reverenz dadurch erwiesen, dass man kunstvoll versucht, ihn zu umgehen. Mir geht es bei diesen Beispielen nicht um eine „kritische" Diskussion heutiger Verfahrensprobleme, sondern um die Benennung einiger Folgen, die sich daraus ergeben haben, dass man seit dem 18. Jahrhundert Gerichtsverfahren bewusst auf der Interaktionsebene festschreiben wollte. Es wurde also künstlich an der Gleichzeitigkeit von Interaktionsund Entscheidungsprozess festgehalten, obwohl um 1800 auch Alternativen in den Blick geraten waren wie etwa der reformierte, folterfreie Inquisitionsprozess, der durch seine Organisationsförmigkeit zur Bewältigung komplexer und gehäufter Informationen sowie zur Anfertigung differenzierter Entscheidungen durchaus geeignet gewesen wäre. Nur eines hätte einem solchen Gerichtsverfahren gefehlt: Nämlich unterhaltsame Spannung und Dramatik, wie sie der erlaubte und vor Publikum aufgeführte Konflikt zu erzeugen vermag. Der gerichtliche Konflikt ist nicht nur der Anknüpfungspunkt für Fiktionalisierungen des Verfahrens in Literatur, Theater und Film, sondern auch, bei realen Prozessen, für
51
Zu dieser Unterscheidung grundlegend Vollmer 1996.
die Aufmerksamkeit des unbeteiligten Publikums gegenüber der Arbeit der Justiz. Dieses diffuse Interesse der Unbeteiligten am Justizdrama ist alles andere als trivial, sondern erfüllt durchaus wichtige Funktionen: Das „identifizierende Miterleben" eines aufgrund von Konflikten interessanten Prozesses ist auch ein Beitrag zur Legitimation durch Verfahren (Luhmann 1983: 123 f.). Insofern sind Interaktionen für Gerichtsverfahren doch unverzichtbar.
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Autorenvorstellung André Krischer (Münster): geb. 1974 in Brilon. Studium der Geschichte, Philosophie und Anglistik in Köln und Bonn. Promotion 2005 in Münster. Von 2 0 0 5 - 2 0 0 9 wissenschaftlicher Geschäftsführer des DFG-Leibnizprojekts „Vormoderne Verfahren" in Münster; seit 2009 Juniorprofessor für Geschichte Großbritanniens ebendort. Forschungsschwerpunkte: Geschichte gerichtlicher und politischer Verfahren, Stadtgeschichte, Diplomatiegeschichte. Wichtigste Publikationen: Reichsstädte in der Fürstengesellschaft. Politischer Zeichengebrauch in der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006; Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne (mit B. Stollberg-Rilinger), Berlin 2010.
Interaktion, Organisation und We/fgeseIIschaft
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft, 2014, S. 229-250
Die Unverzichtbarkeit von Anwesenheit. Zur weltgesellschaftlichen Bedeutung globaler Interaktionssysteme* Personal Encounters. The Indispensability of Face-to-Face Interaction at the Global Level Bettina Heintz Universität Luzern, Kultur- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, Soziologisches Seminar, Frohburgstrasse 3, 6002 Luzern, Schweiz [email protected] Zusammenfassung: In der Weltgesellschaftsforschung wird das Globale in der Regel mit dem Makrosozialen gleichgesetzt und gesellschaftstheoretisch erklärt. Interaktion tritt weder als Begriff noch als Phänomen prominent in Erscheinung. Dies gilt auch für die Systemtheorie, obschon Luhmanns Ebenentypologie eine interaktionstheoretische Erweiterung nahe legen würde (1.). Angesichts der Tatsache, dass Entscheidungen auf globaler Ebene oft unter Anwesenheitsbedingungen getroffen werden, ist diese Lücke erstaunlich. Der Aufsatz zeigt am Beispiel globaler Verfahrenssysteme, wie eine interaktionstheoretische Ergänzung der Weltgesellschaftstheorie aussehen könnte. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die Kommunikation unter Anwesenden ein unverzichtbarer Mechanismus globaler Strukturbildung ist. Der Grund dafür liegt einerseits in den Eigenqualitäten von Interaktionssystemen (2.) und andererseits in den strukturellen Besonderheiten der Weltgesellschaft, die über keine Letztinstanz verfügt, um kollektiv bindende Entscheidungen durchzusetzen (3.) Am Beispiel von UN-Weltkonferenzen und der Erarbeitung von UN-Konventionen wird gezeigt, dass die Interaktionsförmigkeit der Entscheidungsverfahren und das auf globaler Ebene verbreitete Konsensprinzip wesentlich dazu beitragen, Entscheidungen mit Legitimation und dadurch mit Bindungskraft zu versehen (4.). Schlagworte: Weltgesellschaft; Interaktionstheorie; Legitimation durch Verfahren; Global Governance; U N Weltkonferenzen. Summary: Most globalization and world society theories adopt a macro-sociological perspective and tend to overlook the significance of face-to-face interaction for global norm-setting. In view of the fact that global decision-making usually proceeds on a face-to-face basis, this blind spot is quite amazing. W h y do politicians, representatives of NGOs, or members of standardization bodies meet personally to reach decisions? Combining Luhmann's world society theory with sociological interactionism this contribution outlines why face-to-face interaction is indispensable for global institution building. In a "stateless" world society many decisions are legally non-binding. Hence, other mechanisms are needed to establish compliance. Using the examples of UN World Conferences and the adoption of U N conventions it is argued that the interactive and often consensual nature of global decision-making is a major mechanism for providing decisions with legitimacy. Keywords: Globalization; World Society; Interaction Theory; Legitimation by Procedure; Global Governance; UN World Conferences.
Einleitung Fünfzig Jahre, nachdem Erving G o f f m a n Interaktion zu einem soziologisch satisfaktionsfähigen Gegenstand gemacht hat, scheint das Thema wieder * Mehrere Kollegen und Kolleginnen haben eine erste Fassung gelesen. Ich möchte Ihnen und den Gutachtern für ihre Hinweise danken. Ein besonderer Dank geht an Hannah Bennani und Marion Müller.
ähnlich randständig geworden zu sein wie vor der Goffmanschen Entdeckung. Mit der Ausbreitung der neuen Kommunikationsmedien haben Soziologinnen und Soziologen offenbar Gewichtigeres zu tun, als sich mit den Alltäglichkeiten einer Kommunikation unter Anwesenden zu beschäftigen. Weshalb sich mit Interaktionen abgeben, wenn Telekommunikation Vergleichbares besser und weiträumiger leistet? Diese Frage stellt sich erst recht, wenn man sie auf einen weltgesellschaftlichen Rahmen bezieht.
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 2 2 9 - 2 5 0
Soziologen und Historiker betonen in seltener Einmütigkeit, dass erst die kommunikationstechnologischen Revolutionen, von der Télégraphié bis hin zum Internet, die Voraussetzungen für weltweite Vernetzungs- und Globalisierungsprozesse geschaffen haben (stellvertretend für viele Stichweh 2000; Wenzlhuemer 2012 und in diesem Band Werron). In der Systemtheorie wird diese Auffassung besonders pointiert vertreten. Definiert man Weltgesellschaft über weltweite kommunikative Erreichbarkeit, wird man zwangsläufig zum Schluss kommen, dass weltgesellschaftliche Kommunikation in erster Linie eine Kommunikation unter Abwesenden ist. „Weltgesellschaft", so Rudolf Stichweh, „ist insofern Kommunikationsgesellschaft, und sie ist dies in einem makrosozialen Verständnis von Kommunikationsbasiertheit, das die Distanz zum Interaktionsbegriff und zu dessen Voraussetzung der physischen Präsenz der Beteiligten immer größer werden lässt" (Stichweh 2008a: 346). Die Tendenz, das Globale als Makrosoziales zu begreifen, charakterisiert die Globalisierungsforschung insgesamt: weder als Phänomen noch als Begriff tritt Interaktion prominent in Erscheinung. Die „Größe" des globalen Zusammenhanges legt offenbar nahe, makroskopisch zu beobachten und makrosoziologisch zu erklären, während die Mikrosoziologie ins Reservat des (G)Lokalen verbannt und weltgesellschaftstheoretisch als irrelevant behandelt wird. Aber sind Interaktionen f ü r weltgesellschaftliche Strukturbildungsprozesse tatsächlich so unbedeutend? Gegen diese Folgerung spricht bereits ihre empirische Präsenz. Obschon interaktionsnah gebaute Kommunikationstechnologien (email, chatrooms, Videokonferenzen oder Twitter) zur Verfügung stehen, scheint Interaktion eine unverzichtbare Kommunikationsform zu sein, und zwar gerade dann, wenn große soziale und kulturelle Distanzen zu überwinden und weltweit adressierte Entscheidungen zu treffen und zu legitimieren sind. Beispiele dafür gibt es viele: politische Gipfeltreffen und U N Weltkonferenzen, Bischofssynoden und internationale Standardisierungsgremien, internationale Gerichte oder Wahrheitskommissionen. Weshalb sind internationale Standardisierungsgremien vor allem d a n n erfolgreich, wenn sie als interaktionsförmige Verfahrenssysteme eingerichtet sind? Und weshalb versammeln sich Tausende an einem Ort, u m an Weltsozialforen oder UN-Weltkonferenzen teilzunehmen, wo man sich doch auch auf andere Weise auf gemeinsame Erklärungen einigen könnte? Die genannten Beispiele stehen f ü r einen bestimmten Typus globaler Interaktionssysteme: für Verfahrens-
systeme (Luhmann 1969/1983), in denen Entscheidungen im Rahmen von ergebnisoffenen Sondersystemen hergestellt und legitimiert werden. U m solche Verfahrenssysteme geht es in diesem Aufsatz. Sie decken zwar nicht das gesamte Spektrum globaler Interaktionssysteme ab, verkörpern aber einen wichtigen und besonders strukturrelevanten Fall. Die empirische Bedeutung globaler Interaktionssysteme lässt sich als Beleg dafür lesen, dass Luhmanns Ebenendifferenzierung gerade auch im weltgesellschaftlichen Fall ihre Richtigkeit bewahrt. Insofern verstehen sich die folgenden Überlegungen nicht nur als Baustein zur Entwicklung einer Interaktionstheorie der Weltgesellschaftstheorie, sondern auch als eine Art „Test" für die Gültigkeit seiner Theorie sozialer Differenzierung. Der Aufsatz gliedert sich in fünf Abschnitte. In den ersten drei Abschnitten entfalte ich die theoretische Argumentation. Dazu werde ich zunächst auf die weltgesellschafstheoretischen Implikationen der beiden Differenzierungstheorien von Luhm a n n eingehen. Wer an die Theorie gesellschaftlicher Differenzierung anschließt, wird Weltgesellschaftstheorie vorzugsweise als Gesellschaftstheorie betreiben; wer die soziale Differenzierung in den Mittelpunkt rückt, wird Gesellschaftstheorie als eine, wenn auch entscheidende Partialperspektive begreifen und daneben interaktionstheoretischen Zugängen einen eigenen Platz einräumen (1.). Der zweite Abschnitt befasst sich mit der Besonderheit von Interaktionssystemen, und zwar in Abgrenzung zu Telekommunikation und zum Systemtypus der Organisation. Diese Kontrastierung dient dazu zu präzisieren, worin das besondere Potential von Interaktionen besteht, und zu begründen, weshalb Kommunikation unter Anwesenden unersetzlich ist (2.). Der dritte Abschnitt wendet sich den Strukturbesonderheiten der Weltgesellschaft zu und legt den Schwerpunkt auf globale Verfahrenssysteme. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass Entscheidungen im globalen Rahmen oft konsensual getroffen werden. Im Anschluss an Luhmanns Verfahrenstheorie und unter Bezugnahme auf kulturhistorische Arbeiten zur Verfassungsgeschichte der Frühen Neuzeit wird argumentiert, dass die Verschränkung von Interaktionsförmigkeit und Konsensualität wesentlich dazu beiträgt, Entscheidungen mit Legitimation und dadurch mit Bindungskraft zu versehen (3.). Wie diese Entscheidungsprozesse ablaufen und welches Selbstbindungspotential sie haben, illustriere ich am Beispiel von UN-Weltkonferenzen und der Erarbeitung von Konventionen (4.). In einem letzten Abschnitt fasse ich die Argumentation noch einmal zusammen und benenne einige Forschungsfragen (5.).
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Bettina Heintz: Die Unverzichtbarkeit von Anwesenheit
Der Aufsatz beschränkt sich auf Verfahrenssysteme als einem spezifischen Typus global formatierter Interaktionssysteme. Globale Interaktionssysteme zeichnen sich dadurch aus, dass sie als transnationale Sondersysteme arrangiert sind, deren Bezug über den lokalen oder nationalen Kontext hinausreicht und deren Funktion darin liegt, Personen aus räumlich entfernten Regionen zusammenzubringen. Das Gegenmodell dazu sind Interaktionen, die durch räumliche Gelegenheitsstrukturen zustande kommen und einen lokalen Bezug haben (z.B. Schulstunden oder Arztbesuche). Global formatierte Interaktionssysteme präsentieren sich oft als interaktionsförmige „Weltereignisse" (zu diesem Begriff vgl. Stichweh 2008b), die sich aus einer Vielzahl von kleineren, oft parallel laufenden Interaktionssystemen zusammensetzen: Plenarsitzungen, informellen Begegnungen und Treffen von Ausschüssen (vgl. Abschnitt 4). Sie finden meistens unter der Beobachtung eines anwesenden oder massenmedialen Publikums statt und beanspruchen für sich selbst weltweite Inklusivität: Jede und jeder kann im Prinzip teilnehmen, entweder direkt oder vermittelt über Massenmedien. UN-Weltkonferenzen sind dafür ein Beispiel. Globale Interaktionen vollziehen sich fast immer in einem organisierten Rahmen, was die Frage aufwirft, ob der Interaktionsverlauf primär dem Organisationssystem zuzurechnen ist oder ob er sich eher der Eigendynamik des Interaktionssystems verdankt. Luhmanns Systemtypologie lässt beide Antworten zu. Es ist letztlich eine empirische Frage, bis zu welchem Grad sich konkrete Interaktionssysteme von den jeweiligen organisationalen Rahmenbedingungen unabhängig machen können.
1.
Ausgangspunkt: zweierlei Differenzierungen
Niklas Luhmann gilt gemeinhin als Gesellschaftstheoretiker und die Theorie funktionaler Differenzierung als sein theoretisches Gravitationszentrum. Dieser Eindruck mag zwar zutreffen, wenn man den Schwerpunkt seiner Arbeiten ansieht, seine Gesellschaftstheorie war jedoch von Beginn an in die umfassendere Theorie sozialer Differenzierung eingebettet und insbesondere in der Frühphase nahmen interaktionstheoretische Überlegungen noch einen breiten Raum ein. Auch in Büchern, die primär gesellschaftstheoretisch angelegt waren, wie etwa „Grundrechte als Institution" (1965) oder „Legitimation durch Verfahren" (1969 /1983) werden mikrosoziologische Autoren noch ausgiebig
zitiert und interaktiven Geschehnisse viel Platz eingeräumt. Hartmann Tyrell (2006) spricht deshalb treffend von den „zweierlei Differenzierungen" im Werk von Luhmann. Die Rede von den „zwei Differenzierungstheorien" ist allerdings ein retrospektiver Ordnungsversuch. In den Arbeiten selbst entdeckt man eher ein produktives Ineinandergreifen beider Differenzierungsperspektiven, die begrifflich noch nicht eindeutig unterschieden sind. Erst in dem 1975 erschienenen Aufsatz „Interaktion, Organisation, Gesellschaft" hat Luhmann das, was in diesem Band „soziale Differenzierung" genannt wird, programmatisch auf den Begriff gebracht (Luhmann 1975a). Gleichzeitig bildet dieser Aufsatz aber auch den Schlusspunkt einer gleichwertigen Koexistenz der beiden Differenzierungstheorien. In der Folge widmet sich Luhmann vor allem der Ausarbeitung der Gesellschaftstheorie, während das umfassendere Konzept der sozialen Differenzierung thematisch in den Hintergrund rückt und nur noch gelegentlich angesprochen wird.1 Die beiden Differenzierungstheorien führen zu einem doppelten Zugriff auf das Konzept der Weltgesellschaft. Weltgesellschaft wird einerseits über funktionale Differenzierung, also gesellschaftstheoretisch eingeführt (Luhmann 1971), und andererseits aus der Theorie sozialer Differenzierung, d.h. aus der allgemeinen Theorie sozialer Systeme abgeleitet (Luhmann 1975a). Die beiden Weltgesellschaftskonzepte sind nicht deckungsgleich und auch nicht unbedingt kongruent. Sie treffen sich allerdings darin, dass beide Weltgesellschaft über „kommunikative Erreichbarkeit" definieren. Im ersten Fall läuft die Spezifizierung über funktionale Differenzierung, im zweiten Fall über die Unterscheidung der drei Systemtypen: Weltgesellschaft ist einerseits das umfassende, über kommunikative Erreichbarkeit definierte System und andererseits eine spezifische soziale Ordnungsform neben Organisation und Interaktion. 2 Für Luhmann bil-
Vor allem in seinem Zentralwerk „Soziale Systeme" (Luhmann 1984a), das der Entkopplung von Interaktion und Gesellschaft ein eigenes Kapitel widmet, sowie, wenn auch etwas weniger prominent, in „Gesellschaft der Gesellschaft" (Luhmann 1997: 813 ff.), und empirisch vor allem dort, wo sich Luhmann auf die Interaktionsabhängigkeit von Erziehung (Schulstunden), Recht (Gerichtsverfahren) oder Religion (Predigten) bezieht. 1
Diese frühe Fassung verweist bereits auf die paradoxale Bestimmung des (Welt)GesellschaftsbegrifFs, die Luhmann später ausarbeitet: Weltgesellschaft ist das „umfassende soziale System, das alle anderen sozialen Systeme 2
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 229-250
den Interaktion, Organisation und Gesellschaft je eigene Systemtypen, ihre Differenz beruht auf der unterschiedlichen Form ihrer Systembildung. Interaktionssysteme bilden sich über Anwesenheit und wechselseitige Wahrnehmung, in Organisationen wird Anwesenheit durch Mitgliedschaft als Selektions- und Grenzziehungsprinzip ersetzt, und die Grenze von Gesellschaft verläuft entlang der Grenze kommunikativer Erreichbarkeit. Gesellschaft gibt es folglich nicht notwendig nur im Singular; es ist durchaus denkbar, dass mehrere isolierte (Welt)Gesellschaften parallel und gegenseitig unbeobachtet koexistieren. Die Entwicklung zu einer Weltgesellschaft ist entsprechend ein historisches und kontingentes Phänomen. Luhmann konzipiert das Verhältnis zwischen den drei Systemtypen als irreduzible und gleichzeitig inklusive Hierarchie. Auch in Organisationen wird interagiert, und Organisationen sind Teil der Weltgesellschaft. Trotz dieser Verschachtelung bleibt die Eigengesetzlichkeit der Systemtypen jedoch erhalten: „Systembildungen auf diesen Ebenen setzen sich wechselseitig voraus, sind aber nicht aufeinander zurückführbar, sondern durch ihren jeweiligen Reduktionsstil selbständig und unersetzbar" (Luhmann 1972b: 246). 3 Weil die drei Systemtypen nicht aufeinander reduzierbar sind, ist aus Luhmanns Sicht die Rede von einer „Organisationsgesellschaft" ebenso verfehlt wie der mikrosoziologische Anspruch, alle sozialen Erscheinungen auf die Basisform der Interaktion zurückzuführen. Auch einfachste Gesellschaften setzen eine minimale Differenz zwischen Interaktion und Gesellschaft voraus: „Gesellschaft existiert immer, bevor es zur Interaktion kommt, denn sonst würden die Menschen einander gar nicht als interaktionsfähig erkennen" (Luhmann 1984b: 81).4 Die gleiche Einschränkung gilt auch für den Allmachtanspruch der Gesellschaftstheorie bzw. der Makrosoziologie. „Die Systemtheorie relativiert und integriert diese
(und folglich auch sich selbst, BH) in sich einschließt" (Luhmann 1997: 78). Dazu auch Tyrell &c Kauppert sowie kritisch Schwinn in diesem Band. 3 Die Irreduzibilität der drei Systemtypen macht plausibel, weshalb ein gesellschaftstheoretischer Imperialismus ebenso verkürzt ist wie ein interaktionstheoretischer Reduktionismus, der davon ausgeht, dass sich alle (makro) sozialen Einheiten aus Interaktionen zusammensetzen und es sie folglich als eigenständige Wirklichkeiten gar nicht gibt. Dazu ausführlicher Heintz (2004). 4 Eine in gewisser Hinsicht ähnliche Kritik formuliert Latour (2007), der den Interaktionismus mit dem boshaften Begriff einer „Soziologie für Primaten" belegt.
verschiedenen Forschungszweige der Soziologie mit der Folge, dass es nicht mehr möglich ist, eine dieser Systemperspektiven als absolut zu setzen. Selbst die Gesellschaftstheorie als Theorie des umfassenden Systems wird von hier aus in ihre Schranken verwiesen. Sie betrifft zwar das umfassende Ganze, muss aber erkennen, dass es niemals möglich ist, das Ganze ganz zu erforschen" (Luhmann 1975a: 10). Die Ineinanderschachtelung der drei Systemtypen bedeutet, dass das umfassende System zwar die strukturellen Prämissen vorgibt, das „eingeschlossene" System aber dadurch nicht determiniert. Auch im Falle von Interaktionen, die unter einem Funktionsprimat stehen und in Organisationen unter formalisierten Bedingungen stattfinden, kann Unvorhersehbares entstehen, das sich aus der konkreten Interaktionssituation ergibt. Ein Beispiel sind UN-Weltkonferenzen. Als organisatorisch gerahmte Interaktionssysteme haben sie sich zwar an den vorgegebenen Rahmenbedingungen zu orientieren, was aber offensichtlich nicht ausschließt, dass sie die strukturellen Prämissen oft „kreativ" unterwandern und damit für Überraschungen sorgen. Gerade weil die „Ubersysteme" Randbedingungen setzen, ermöglichen sie es dem Interaktionssystem, „fremdgesetzte Prämissen zu unterlaufen und strukturelle Determinanten entgleisen zu lassen" (Luhmann 1975a: 22). Nur weil es Zugangsregeln für N G O s gibt, können ihre Vertreter öffentlichkeitswirksam dagegen protestieren, nur weil es die Institution der Tagungsordnung gibt, können die Delegierten sie mit Tricks unterlaufen, und nur weil es in der U N die Norm gibt, Abschlusserklärungen und Konventionen konsensual zu verabschieden, können Abwesenheit oder ein dramatisches Verlassen der Konferenz den Dissens wirkungsvoll zum Ausdruck bringen (vgl. Abschnitt 4). Trotz ihrer Fremdbestimmtheit sind es also paradoxerweise die kleinsten und unscheinbarsten Sozialsysteme, die eine besonders hohe Bewegungsfreiheit und Flexibilität aufweisen. Ein Grund dafür liegt darin, dass Interaktionssysteme ausgeprägter als Organisationen einer Umwelt ausgesetzt sind, die unterschiedliche und teilweise inkompatible Erwartungen an sie stellt. Um beim Beispiel zu bleiben: Um ihre Ziele durchzusetzen und mit Legitimation zu versehen, können sich die Delegierten von UN-Weltkonferenzen auf ihre Regierungen, die Weltöffentlichkeit, das Völkerrecht oder auch auf wissenschaftliche Expertenmeinungen beziehen. Dieser Spielraum schafft einen Freiraum, der je nach Situation für eigene Zwecke genutzt werden kann.
Bettina Heintz: Die Unverzichtbarkeit von Anwesenheit
Die Differenzierung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft ist für Luhmann keine historische Konstante, sondern das Ergebnis eines sich über Jahrhunderte hinziehenden Prozesses. Die Historisierung der Systemdifferenzierung beinhaltet mehr als das bloß deskriptive Postulat einer zunehmende Entkopplung von Interaktion und Gesellschaft und der Entstehung von (formaler) Organisation als einem eigenen Systemtypus. Ihre Pointe liegt darin, dass sie funktionale und soziale Differenzierung in ein wechselseitiges Steigerungsverhältnis setzt: Prozesse funktionaler Differenzierung (auf der Ebene von Rollen, Verfahren und institutionellen Komplexen) sind ein Anstoß für die Entkopplung von Interaktion und Gesellschaft und werden umgekehrt durch diese vorangetrieben. Wie diese historischen Prozesse konkret abliefen, haben in jüngster Zeit eine Reihe von historischen Arbeiten beschrieben, die Luhmanns vorwiegend theoretische Argumentation empirisch fundieren und präzisieren (Schlögl 2004, 2014; Hengerer 2007; Stollberg-Rilinger & Krischer 2010 sowie in diesem Band die Aufsätze von Schlögl und Krischer). Diese Studien weisen im Einzelnen nach, wie sehr die frühneuzeitliche Gesellschaft durch Anwesenheit und Interaktion geprägt war. Rudolf Schlögl (2008) spricht deshalb von „Vergesellschaftung unter Anwesenden", Barbara Stollberg-Rilinger von einer „Präsenzkultur" (Stollberg-Rilinger 2008: 299 ff.). Der Begriff „Präsenzkultur" verweist auf eine Gesellschaftsform, in der sich Interaktion und Gesellschaft erst in Ansätzen voneinander separiert haben und wo Strukturbildung trotz Vorhandensein von Schrift und Buchdruck noch weitgehend über Interaktion verlief. Nur was durch Anwesende beglaubigt war, konnte soziale Resonanz entwickeln, und Entscheidungen hatten Bindungskraft nur für jene, die persönlich anwesend waren. Das Nichterscheinen auf einem Reichstag war deshalb eine äußerst effektvolle Kommunikation (vgl. Abschnitt 3). Erst mit der Zeit, so Luhmann, setzten sich die „zweierlei Differenzierungen" durch und verstärkten sich gegenseitig: Funktionale Differenzierung verdrängt Stratifikation als gesellschaftliches Differenzierungsprinzip und zwischen Gesellschaft und Interaktion kommt es zu einer zunehmenden Entkoppelung. Interaktionen setzen Gesellschaft zwar voraus, aber der Interaktionsverlauf selbst wird zunehmend indifferent gegenüber gesellschaftlichen Vorgaben. Ein Arbeitskollege darf zwar registrieren, dass seine Kollegin eine Frau ist, im Gespräch ist aber „undoing gender" angesagt; ein Soldat hat seinem Vorgesetzten zu gehorchen, auch wenn er gesell-
233 schaftlich einen höheren Status hat. André Kieserling (2006) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Destratifikation der Interaktion". Umgekehrt beruht gesellschaftliche Kommunikation nur noch zu einem Bruchteil auf Interaktion: „Die moderne Gesellschaft trennt schärfer als jede zuvor ihre Systembildung von den Möglichkeiten der Interaktion" (Luhmann 1984a: 577). Gesellschaftliche Strukturbildung vollziehe sich zunehmend unabhängig von Interaktion, während die Interaktion selbst den ihr auch heute noch anhaftenden Ruf des Alltäglichen und Geselligen erhalte. Während es in der frühmodernen Gesellschaft unmittelbare gesellschaftliche Konsequenzen hatte, was in den Interaktionskreisen der Oberschicht verhandelt und entschieden wurde, sind Eliteinteraktionen heute nur noch in der Phantasie paranoider Gesellschaftstheorien gesellschaftlich folgenreich. Was auf der Ebene der Gesellschaft geschieht und in welche Richtung sie sich verändert, lässt sich, so Luhmann, durch Interaktion nicht mehr kontrollieren und erst recht nicht mehr steuern. Versuche, gesellschaftliche Probleme interaktiv zu lösen, durch Mediationsverfahren oder „Grüne Tische", sind aus seiner Sicht kaum mehr als eine „durch den Bedarf suggerierte Illusion" (Luhmann 2011: 27). Das bedeutet allerdings nicht, dass Luhmann die gesellschaftliche Bedeutung von Interaktionen verkennt: Interaktionen sind für ihn ein „Meer, auf dem die „gesellschaftlichen Teilsysteme schwimmen", wie er mit explizitem Verweis auf Georg Simmeis „kleine Beziehungsformen" festhält (Luhmann 1997: 812). Und es bedeutet auch nicht, dass Luhmann Interaktion auf bloße Geselligkeit reduziert. Interaktionen können Folgen haben, die über die Interaktionsepisode hinausreichen, aber nur indirekt und in ihrer Funktion als „Spielmaterial" und „Versuchsfeld", auf dem gesellschaftliche Strukturbildungen erprobt werden können (Luhmann 1984a: 575). Luhmann hat diese Überlegungen in seinen Arbeiten zur Weltgesellschaft nicht aufgegriffen und auch seine Nachfolger haben sich dafür nicht interessiert. Die These der Eigengesetzlichkeit und Irreduzibilität der drei Systemtypen enthält jedoch ein Potential, das sich für eine Interaktionstheorie der Weltgesellschaft nutzbar machen lässt. Interaktionssysteme sind zwar weniger komplex, sie erbringen aber Leistungen, zu denen die beiden anderen Systemtypen nicht in der Lage sind.
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2. „Einfache Sozialsysteme sind keine einfache Sache"5 Organisation, Telekommunikation und nicht-sprachliche Kommunikationsmedien lassen sich als Errungenschaften begreifen, die die Schwächen der Interaktion überwinden und kommunikative Vernetzung auch unter Abwesenden ermöglichen. 6 Insofern bilden sie eine wesentliche Voraussetzung für weltweite kommunikative Erreichbarkeit und damit für Weltgesellschaft. Diese Errungenschaften verstärken sich gegenseitig und legen fast zwangsläufig den Schluss nahe, dass Kommunikation unter Anwesenden an Bedeutung verliert, erst recht im weltweiten Kontakt. Weshalb die Ineffizienz und Unwägbarkeiten einer Gruppendiskussion in Kauf nehmen, wenn man Arbeitszusammenhänge auch formal organisieren kann? Weshalb sich persönlich treffen, wenn Kommunikationstechnologien zur Verfügung stehen, die eine gleichzeitige Kommunikation auch unter Abwesenden ermöglichen? Wie lässt sich gegen das Gewicht dieser Argumentation dennoch plausibilisieren, dass Interaktion gerade auf globaler Ebene unverzichtbar ist? Meine Begründung setzt bei der Eigenqualität von Interaktionssystemen an und verbindet diese mit den Strukturbesonderheiten der Weltgesellschaft (vgl. dazu Abschnitt 3). Der Ausgangspunkt ist die Frage, was die Kommunikation unter Anwesenden so einzigartig macht. Weshalb lässt sie sich trotz ihrer strukturellen Schwächen nicht durch leistungsfähigere Sozial- und Kommunikationsformen substituieren? Für die Beantwortung dieser Frage wähle ich ein zweistufiges Vorgehen, indem ich zunächst auf die Beschränkungen von Interaktion eingehe (1.), und anschließend danach frage, was verloren geht, wenn sie durch Organisation oder Telekommunikation ersetzt wird (2.). 1. Interaktionen sind unberechenbare Verbündete. Sie haben keine festgezurrten Grenzen und kein Gedächtnis, und sie weisen erhebliche Beschränkungen auf: Sie erfordern Anwesenheit, sie können 5
Luhmann (1969/70: 29). Diese drei Errungenschaften markieren gleichzeitig drei Gegenbegriffe zum Begriff der Interaktion. Im ersten Fall wird zwischen Interaktion und anderen Systemtypen unterschieden, im zweiten Fall zwischen anwesenheitsbasierter und computervermittelter Kommunikation und im dritten Fall zwischen (mündlicher) Sprache und anderen Kommunikationsmedien, insbesondere Bild und Zahl. Je nach Gegenbegriff hat „Interaktion" eine andere Bedeutung und ist mit anderen Theorietraditionen assoziiert. Ich beschränke mich im Folgenden auf die ersten beiden Fälle.
Information nur sequentiell und folglich langsam verarbeiten, sie sind flüchtig und fragil und ihre Eigendynamik lässt wenig Raum für Innehalten und Reflexion. 7 Demgegenüber machen Organisationen Verhalten berechenbar, sie sind auf Dauer gestellt und unabhängig von der Anwesenheit einzelner Personen. Personenunabhängigkeit wird über Mitgliedschaft erreicht. Mitgliedschaft ist für Luhmann der Mechanismus, über den es gelingt, persönliche Motive und organisationsspezifische Erwartungen miteinander in Einklang zu bringen. Mitglied kann nur werden (und bleiben), wer das System als Ganzes und dessen mögliche Veränderung akzeptiert. „Die Motivlage wird über Mitgliedschaft generalisiert: Die Soldaten marschieren, die Schreiber protokollieren, die Minister regieren - ob es ihnen in der Situation nun gefällt oder nicht" (Luhmann 1975a: 14). Mitgliedschaftsregeln spezifizieren Stellen und mit ihnen assoziierte Programme und Kommunikationsregeln, die festlegen, wer was zu tun und wer mit wem auf welche Weise zu kommunizieren hat (Luhmann 1964: Kap. 3, 1975b: 51 ff.). Dadurch lösen sich Organisationen von den spezifischen Beschränkungen der Interaktion. Während Interaktion personale Zurechnungen nahe legt, begünstigt die Stellenstruktur sachbezogene Orientierungen und eine Konzentration auf die organisationsinternen Rollen unter Ausblendung der Rollen, die die Mitglieder sonst noch haben mögen: „Väter, Erstgeborene und Mittelstürmer haben in der Organisation keine besonderen Rechte" (Luhmann 1964: 65). Und während Interaktionssysteme gewöhnlich kein Systembewusstsein entwickeln und alles Verhalten, auch ein Schweigen, den Personen als Handeln zugeschrieben wird, ermöglichen Organisationen eine Zurechnung auf das gesamte soziale System. Es ist egal, wer die Presseerklärung verabschiedet hat oder welche Personen eine Statutenänderung beschließen, für die Fremdwahrnehmung ist es die Organisation - der „korporative Akteur' - , der die Entscheidung trifft (Luhmann, in diesem Band: 14). Dazu kommt, dass die Außengrenzen von Interaktionssystemen brüchig sind und jederzeit durch unerwartete Umweltgeschehnisse irritiert werden können:
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Ich beziehe mich im Folgenden auf Luhmann wie auf Goffman und verwende deshalb „Interaktionssystem" und „Interaktion" synonym. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Interaktionstheorien besteht bekanntlich darin, dass Luhmann Interaktionen durchgängig Systemcharakter zugeschrieben hat, während Goffman dies nur gelegentlich und unsystematisch tut (vgl. etwa Goffman 1986a: 124 f.).
Bettina Heintz: Die Unverzichtbarkeit von Anwesenheit „Plötzliches Nasenbluten wird man kaum übersehen können wie Spritzer auf der Tischdecke" (Luhmann 1984a: 562). Deshalb erfordert es besondere Anstrengungen und architektonische Vorkehrungen Wände, verdunkelte Fenster, Schallabdichtungen und Tagesordnungen - , um die Anwesenden bei der Stange zu halten und auf ein gemeinsames Thema zu verpflichten (Goffman 1986a). Die Störanfälligkeit von Interaktionssystemen zusammen mit der Tatsache, dass immer nur ein Thema aufs Mal behandelt werden kann, schränkt ihre Kapazität zur Informationsverarbeitung erheblich ein. Demgegenüber sind Organisationen in der Lage, selektiver auf ihre Umwelt zu reagieren und komplexe Probleme parallel und effizient zu bearbeiten. Dies ermöglicht eine gesellschaftliche Ordnungsleistung, zu der Interaktionssysteme nicht in der Lage sind. Interaktion ist auf Anwesende beschränkt und folglich in ihrer räumlichen und sozialen Reichweite begrenzt. Verbreitungsmedien dienen dazu, diese räumliche und soziale Begrenzung zu überwinden. Sie machen Kommunikation unabhängig von gemeinsamer Anwesenheit und ermöglichen damit eine kommunikative und unter Umständen sogar weltweite Vernetzung unter Abwesenden. Luhmann hat sich primär auf Schrift und Buchdruck als Verbreitungsmedien konzentriert und die neuen Kommunikationstechnologien (Télégraphié, Telefonie, Internet) nur am Rande behandelt (u. a. Luhmann 1997: 302 ff.). Wie Tobias Werron in diesem Band zeigt, überwinden die neuen Kommunikationstechnologien wesentliche Beschränkungen, mit denen die älteren Verbreitungsmedien behaftet waren. Ihr Hauptvorteil liegt darin, dass sie die Verbreitung von Information von den verfügbaren Transporttechnologien (Bahn, Kutsche etc.) abkoppeln und dadurch einem breiten Adressatenkreis zeitgleich zugänglich machen. Diese Entwicklung beginnt mit der Télégraphié und erreicht mit den elektronischen Kommunikationsmedien eine ungeahnte Steigerung, indem man nicht nur zur gleichen Zeit auf dieselbe Information zurückgreifen, sondern sogar in Echtzeit kommunizieren kann. Die durch Telekommunikation ermöglichte „Fernsynchronisation" (Werron) wird von Soziologen und Historikern übereinstimmend als ausschlaggebender Faktor für Globalisierung und die Konsolidierung einer Weltgesellschaft angesehen. Die Besonderheit der neuen Kommunikationstechnologien liegt aber nicht nur in ihrer kommunikativen Reichweite, sondern auch in ihrem öffentlichen Charakter und der Fähigkeit zumindest einiger dieser Technologien, Interaktions-
235 situationen bis zu einem gewissen Grade zu simulieren. Im Gegensatz zu Interaktionssystemen, die in der Regel nur für die Anwesenden „öffentlich" sind, sind Internetforen oder Chats einer prinzipiell unbegrenzten Öffentlichkeit zugänglich. Was in ihnen geschieht, wird nicht nur von den registrierten Teilnehmern beobachtet, egal ob diese aktiv oder nur passiv als „Lurker" präsent sind, sondern lässt sich auch von einem unbekannten und prinzipiell weltweiten Publikum verfolgen. Damit entsteht eine Art triadische Kommunikationsstruktur, in die auch jene einbezogen sind, die unerkannt das Kommunikationsgeschehen verfolgen, aber um deren (potentielle) „Anwesenheit" die Kommunizierenden wissen (informativ Greschke 2009: Kap. 15 und 16). 2. Organisation und Telekommunikation überwinden die durch Anwesenheit gesetzten Limitierungen und bilden insofern eine wesentliche Voraussetzung für Globalisierungsprozesse. Gleichzeitig gehen sie jedoch mit je eigenen Beschränkungen einher, die sich besonders gut erkennen lassen, wenn man sie mit dem Potential einer Kommunikation unter Anwesenden vergleicht. Luhmann wie Goffman haben Interaktion als ein irreduzibles Kommunikationsgeschehen verstanden: Interaktion geht weder in Organisation noch in einer Kommunikation auf, die technisch vermittelt ist. Der Grund dafür liegt in der Eigenqualität von Interaktion, die besondere, nicht substituierbare Leistungen erbringt. Obwohl Organisation ohne Interaktion nicht denkbar ist, ist Interaktion ein Systemtypus eigener Art, der sich auch unter organisierten Bedingungen seine Autonomie und Eigengesetzlichkeit bewahrt. Was in Interaktionen geschieht, ist zwar durch organisatorische Vorgaben gerahmt - Geschäftsordnungen, Kompetenzverteilungen Zugangsregeln oder Entscheidungsverfahren —, der Interaktions verlauf kann aber eine Dynamik entwickeln, die das organisatorisch Vorgeschriebene umdeutet, konterkariert oder es in eine andere Richtung bringt. Gipfeltreffen sind dafür ein Beispiel. Sie sind nicht bloß ein Spektakel, dessen Zweck es ist, bereits getroffene Entscheidungen öffentlich zu inszenieren (Lechner & Boli 2005: Kap. 4), vielmehr entfalten sie oft ein Eigenleben, das am Ende einer langen Nacht das durch Beamte und Diplomaten Vereinbarte zum Einstürzen bringt (vgl. Kap. 4). Die Eigengesetzlichkeit von Interaktionen kann auch gezielt für Organisationszwecke eingesetzt werden, etwa in Planungsgruppen, Strategie-Workshops oder Mediationsverfahren (Luhmann 2011). Organisationen können Interaktionen als „Versuchsfeld" (Luhmann 2011) nutzen,
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um neue Ideen zu entwickeln und zu erproben. Weil Interaktionssysteme ihre eigene Temporalität haben - keine Vergangenheit und eine kleine Zukunft - gewinnen sie Unabhängigkeit und sind eher in der Lage, Experimente und Risiken zuzulassen. Das „Brainstorming" ist die interaktive Sonderform, die diese Qualitäten besonders ausgeprägt zum Ausdruck bringt. Eine weitere Stärke von Interaktionen besteht darin, dass sie zu Kompromissbildung tendieren. Dies gilt jedenfalls für Interaktionssysteme, in denen der Dissens nicht institutionalisiert ist wie etwa in der Wissenschaft und in denen es folglich auch keine institutionalisierten Regeln gibt, wie mit Meinungsverschiedenheiten umzugehen ist. Dass Interaktionssysteme zu Konsens tendieren, ist zunächst nicht selbstverständlich. Da sie nicht auf Dauer gestellt sind, wäre eher Unberechenbarkeit und Dissens zu erwarten: Widerspruch und soziale Verstöße. Das geschieht jedoch selten, stattdessen pendeln sich viele Interaktionssysteme auf Kompromiss und Konsens ein. Der Grund liegt dafür liegt darin, dass Interaktionssysteme über ein breites Arsenal an Techniken und Ritualen verfügen, um Konflikte latent zu halten und widerspenstige Teilnehmer zur Ordnung zu rufen. Man äußert keine Gegenmeinung, und wenn dann nur vorsichtig oder mit non-verbalen Mitteln, für die man nicht in die Pflicht genommen werden kann. Man stimmt zu, obwohl man eigentlich anderer Meinung ist, und dies trotz der Aufwertung von „Konfliktfähigkeit" zu einer sozialen Kompetenz. Und wer zu Kompromissen nicht willens ist, kann immer noch „exit" statt „voice" wählen. Zudem lassen sich Konflikte auch durch ein Anwesenheitsmanagement still halten: Streithähne behandelt man so, als ob sie abwesend wären, oder man nimmt sie erst gar nicht auf. Und schließlich gibt es eine Reihe von eingeschliffenen Ritualen, um Abweichungen oder Störungen durch „korrektiven Austausch" (Goffman 1982b) zu reparieren. Man nimmt der Kritik den Stachel, indem man sie mit einem Lächeln abschwächt; man signalisiert mit Stirnrunzeln oder einem fragenden Blick, dass ein Beitrag fehl am Platz war, oder man lässt den Konflikt einfach stehen und dadurch ins Leere laufen (Messmer 2003). Konsens bedeutet nicht „objektive" Übereinstimmung, sondern Konsens Unterstellung, die in Interaktionssystemen, wollen sie funktionieren, unabdingbar ist. „Nur bei Ehepaaren, die ihre Ehe wie ein philosophisches Oberseminar organisieren, ist das anders" (Hahn 2000: 93).
Anwesenheit domestiziert die Anwesenden, schreibt Luhmann (1972a: 37f.). Deshalb ist Kommunikation unter Anwesenden unverzichtbar, wenn es darum geht, Kompromisse auszuhandeln und Entscheidungen mit Legitimation zu versehen (vgl. Abschnitt 3 und 4). Eine Schlichtung lässt sich nicht auf schriftlichem Weg erzielen, sondern erfordert einen direkten Austausch der Kontrahenten. Und das auf globaler Ebene verbreitete Konsens verfahren funktioniert nur deshalb, weil sich die Entscheidungsträger von Angesicht zu Angesicht begegnen und sich im Laufe des Verfahrens persönlich binden. In allen diesen Fällen ist es die Interaktion selbst, die als „intrinsic persuader" wirkt. Jemandem eine abweichende Meinung ins Gesicht zu sagen, ist sehr viel schwieriger, als sie schriftlich zu formulieren. Das ist der Grund dafür, weshalb Verbreitungsmedien das Problem der „Unwahrscheinlichkeit vom Kommunikation" massiv verschärfen (Luhmann 2005): Direkte Verhaltenskontrollen entfallen, Ablehnung wird einfacher, und folglich braucht es andere, voraussetzungsvollere Mittel, um Akzeptanz herzustellen. Interaktion behauptet ihre Eigenqualitäten aber nicht nur gegenüber Organisation (und Gesellschaft), sondern auch gegenüber technisch vermittelter Kommunikation,8 Der Grund dafür liegt in der Bedeutung gemeinsamer Anwesenheit. Goffman (und Luhmann) hatten Interaktion über Gleichzeitigkeit und Gleichörtlichkeit definiert. Demgegenüber tendiert die neuere Medienforschung dazu, das Kriterium der Kopräsenz aufzugeben und Interaktivität nur noch an Ko-Temporalität festzumachen (pointiert Meyer in diesem Band). Interaktion findet aus dieser Sicht bereits dann statt, wenn sich Personen reflexiv wahrnehmen, unabhängig davon worüber diese Wahrnehmung zustande kommt: über visuelle Zeichen, akustische Signale oder auch nur über das Wissen, dass der Andere sich zur selben Zeit im selben medialen Raum befindet. Mit dieser Verallgemeinerung des Interaktionsbegriffs wird das Kernelement des klassischen Interaktionsbegriffs außer Kraft gesetzt: das Eingebettetsein in einen gemeinsamen, allen Sinnen zugänglichen Wahrnehmungsraum.
„Technische Vermittlung" kann über verschiedene Technologien zustande kommen: Telefonie, textbasierte online-Kommunikation, Skype, WhatsApp Messenger oder Videokonferenzen. Unterschiede ergeben sich aus der Zeitstruktur der Kommunikation (asynchron oder synchron) und der sensorischen Komplexität des gemeinsamen Wahrnehmungsraumes (textvermittelte Kommunikation vs. Videokonferenzen). 8
Bettina Heintz: Die Unverzichtbarkeit von Anwesenheit Für Goffman und Luhmann ist die physische Anwesenheit im Wahrnehmungsfeld des Anderen die Basis von Interaktion. Es ist die sinnliche KoPräsenz der Körper in einer ihnen gemeinsamen Außenwelt, die neben der Reflexivität der Wahrnehmung die Eigenqualität von Interaktionen ausmacht. „Interaktionssysteme entstehen, sobald mehrere Personen gemeinsam anwesend sind und einander erkennen. Konstitutionsbedingung ist das Erscheinen im wechselseitigen Wahrnehmungsfeld mit der Maßgabe, dass Ego wahrnimmt, dass Alter ihn wahrnimmt und umgekehrt" (Luhmann, in diesem Band: 7). Sprachliche Kommunikation ist erst ein zweiter und auch nicht unbedingt notwendiger Schritt. 9 Auch ein Flirt ohne Worte ist Interaktion. Der Akzent liegt folglich auf (sinnlicher) Wahrnehmung, nicht auf Sprache, auf Non-Verbalität und nicht auf Mündlichkeit. Während man im Falle von Interaktion den anderen in der ganzen Breite seiner Erscheinung wahrnimmt, ihn sieht, hört und riecht, und gleichzeitig weiß, dass man umgekehrt ebenso umfassend wahrgenommen wird, beschränkt sich Wahrnehmung im Fall von online-Kommunikation in der Regel auf die Wahrnehmung, dass der andere im gleichen medialen Raum anwesend ist.10 Welchen Gesichtsausdruck er hat, was er trägt und wie seine Umgebung aussieht, lässt sich nicht feststellen. Insofern fehlt der online-Kommunikation das „Maximum der Symptomfülle", die Alfred Schütz der direkten Begegnung zuschrieb (Schütz & Luckmann 1979: 95). Ein zweiter Punkt ist mindestens ebenso entscheidend. Interaktionssysteme sind in eine physische und soziale Umwelt eingebettet, von der man annehmen kann, dass sie für die anderen ebenfalls wahrnehmbar und damit ebenso gewiss ist wie für einen selbst: „Dass es geknallt hat, darüber braucht man sich nicht mehr zu verständigen" (Luhmann 1972a: 28). Im Falle virtueller Kommunikation D a s wird bei Luhmann oft übersehen. Ein vertiefter Blick in seine frühen Arbeiten dürfte aber erkennen lassen, dass Luhmann Interaktion gerade nicht auf sprachliche Kommunikation reduziert. Interaktion beginnt mit wechselseitiger reflexiver Wahrnehmung und kann sich auch schweigend vollziehen, nämlich dann, wenn ein Verhalten, sei es intendiert oder nicht, als Mitteilung interpretiert wird (vgl. dazu Luhmann, in diesem Band: 8). Insofern spielt der Körper in Luhmanns Interaktionstheorie eine zentrale und ebenfalls oft (und gerne) übersehene Rolle. 9
10 Dies gilt jedenfalls für textbasierte Telekommunikation, die nach wie vor den verbreitetsten Fall darstellt und auf die ich mich im Folgenden beziehe.
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fehlt eine solche „Welt in gemeinsamer Reichweite" (Schütz 2003: 152 ff.) oder existiert nur in rudimentärer Form. Das ist ein wesentlicher Grund dafür, weshalb Wahrheitsfindung und Vertrauensbildung in computervermittelten Kommunikationen zu einem Problem werden können. Der Wahrheitsgehalt einer Aussage lässt sich nur behaupten oder argumentativ begründen, aber nicht durch einen Rekurs auf die Offensichtlichkeit des Wahrnehmbaren im Sinne eines „Schau doch!" oder „Riech doch!" plausibilisieren. Angesichts der Hinfälligkeit eines Korrespondenzkriteriums muss auf andere Verfahren zurückgegriffen werden, um die Wahrheit einer Aussage zu beurteilen. Ein wichtiges Kriterium ist Konsistenz: Es ist die Stimmigkeit der Geschichte, die zum Kriterium dafür wird, ob jemand die Wahrheit sagt. 11 Karin Knorr Cetina schlägt in ihrer Theorie globaler Mikrostrukturen vor, den Interaktionsbegriffvon der Bedingung gemeinsamer Anwesenheit zu lösen und ihn dadurch für Kommunikationen zu öffnen, die zeitgleich, aber nicht am selben Ort stattfinden (ähnlich auch Hirschauer sowie Meyer in diesem Band). Das Wissen darum, dass sich die Abwesenden in einer, wenn auch nur virtuellen „response presence" (Goffmann 1983) befinden und zur gleichen Zeit auf dem Bildschirm dasselbe beobachten können wie ich, ist für Karin Knorr Cetina ein funktionales Äquivalent für Kopräsenz im selben Raum (Knorr Cetina & Bruegger 2002; Knorr Cetina 2009). Für die von ihr untersuchten Devisenhändler stellen die auf dem Bildschirm festgehaltenen und sich ständig ändernden Marktbewegungen eine gemeinsame Außenwelt dar, auf die sie sich in ihrem Handeln beziehen und von der sie wissen, dass sie von ihren Kollegen zur gleichen Zeit beobachtet wird. Es ist allerdings eine offene Frage, ob diese „hce-to-screen situation" tatsächlich ein Äquivalent für die gemeinsame multisensorische Wahrnehmung in einer faceto^K-f-Situation ist. 12 Knorr Cetina legt den Akzent auf die Zeitdimension: Ich weiß, dass du zum gleichen Zeitpunkt dasselbe siehst oder hörst wie ich,
11 Vgl. dazu Perrolle (1991) und exemplarisch die in Internetkreisen berühmte Geschichte des Psychiaters, der auf überzeugende - und das heißt eben: konsistente - Weise die Persona einer behinderten Frau annahm (Stone 1995: Kap. 3). 12 GofFmans Begriff der „response presence" ist enger und bezieht sich auf Situationen, in denen Individuen physisch kopräsent sind. Er schließt allerdings auch Telefongespräche und, nicht sehr konsistent, Briefwechsel mit ein (Goffman 1983: 6).
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und Du weißt dasselbe von mir. Die gemeinsame Wahrnehmung der Außenwelt erschöpft sich aber nicht in der Zeitgleichheit der Beobachtung, sondern schließt auch die Wahrnehmung der Reaktionen der anderen auf das gemeinsame Wahrnehmungsobjekt mit ein: „When in each other's presence individuals are admirably placed to share a joint focus of attention, perceive that they do so, and perceive this perceiving' (Goffman 1983: 3; Hervorhebung BH). Die Tatsache, dass man bei online-Kommunikationen nicht wahrnehmen kann, wie der andere auf einen selbst und das gemeinsame Wahrnehmungsobjekt reagiert, ist ein wesentlicher Grund dafür, weshalb Telekommunikation nur unter bestimmten Bedingungen funktioniert. Dazu gehören etwa eine standardisierte Sprache (Knorr-Cetina & Bruegger 2002), neue linguistische Praktiken (Menchik & Tian 2008), ein kulturell homogener Teilnehmerkreis (Heintz 2000) und Software-Lösungen, um die Adressierbarkeit und das turn-taking zu erleichtern (Greschke 2009: 146 ff.). Kopräsenz umfasst folglich zwei Wahrnehmungskonstellationen, die empirisch zwar zusammenfallen, aber analytisch zu unterscheiden sind: zum einen die Gegenwart des Anderen in Hör- und Sichtweite und damit die Möglichkeit, ihn in seiner ganzen „Symptomfülle" (Schütz) wahrzunehmen, und zum andern die unhintergehbare Präsenz einer gemeinsamen Außenwelt, die für alle gleichermaßen hörbar, greifbar und sichtbar ist. Das interaktive Potential einer Kommunikation zwischen örtlich Abwesenden bemisst sich folglich daran, inwieweit diese beiden Bedingungen kompensiert werden können. Während Telekommunikation keinen oder einen nur sehr beschränkten Zugriff auf Kontextinformationen und non-verbale „Leibkundgaben" (Geser 1990: 216) erlaubt, steht der Interaktion das gesamte Repertoire an Ausdrucks- und Erscheinungsformen, an Gesten, Mimiken, Körperhaltungen und parasprachlichen Zeichen zur Verfügung, aus denen sich weitere Informationen gewinnen lassen. Es ist diese Dichte und Gleichzeitigkeit der Information, die die Komplexität und Flexibilität einer Kommunikation unter (physisch) Anwesenden ausmacht. Dazu kommt, dass die Wahrnehmung selbst einen Eigenwert hat. Auf die Eigenqualität von (visueller) Wahrnehmung hat in jüngster Zeit vor allem die Bildtheorie aufmerksam gemacht: Visuelles hat einen eigenen persuasiven Effekt, Sprache und Bild lassen sich nicht ineinander übersetzen. Gottfried Boehm (2007) spricht in diesem Zusammenhang von einer „ikonischen
Differenz". Man könnte vermutlich auch von einer „auditiven" und „taktilen" Differenz sprechen und mit diesen Begriffen darauf aufmerksam machen, dass Auditives, Visuelles oder Taktiles nur bedingt in Sprache übersetzbar und folglich auch nicht substituierbar sind. Ein wesentlicher Grund dafür liegt im Gewissheitscharakter der Wahrnehmung, ihrer Nicht-Negierbarkeit, unabhängig davon ob die Wahrnehmung auditiv, visuell oder taktil erfolgt. „Man sieht, was man sieht, hört, was man hört, und wenn andere einen als wahrnehmend beobachten, kann man das Wahrnehmen selbst nicht gut bestreiten" (Luhmann 1995: 36). Fehlt diese durch Wahrnehmung vermittelte gemeinsame Evidenz, bricht der Verständigung eine zentrale Infrastruktur weg. Interaktion und Telekommunikation haben ihre je eigenen Stärken und Schwächen. Ihre Beziehung sollte deshalb nicht als Nullsummenspiel, sondern als komplementär begriffen werden. Auf eine solche Komplementarität weisen Studien hin, die das Verhältnis von Telekommunikation (email, Videokonferenzen, chats) und persönlichen Treffen in und zwischen Unternehmen untersuchen (Beaverstock et al. 2010: Teil 3; Denstadli et al. 2012; Larsen et al. 2009: Kap. 3). Während sich Routine- und Sachfragen relativ problemlos via online-Kommunikation bearbeiten lassen, werden direkte Treffen vor allem dort eingesetzt, wo es um Vertrauensbildung, Kompromissfindung, Beziehungspflege und Legitimationsbeschaffung geht. Dies gilt in besonderem Maße für die Anbahnung transnationaler Kontakte, die sich in der Regel vor dem Hintergrund hoher Erwartungsunsicherheit vollzieht. Da funktionale Äquivalente (Recht, Organisation) bis zu einem gewissen Grade fehlen, braucht es persönliches Vertrauen, um Beziehungen einzuleiten und gegebenenfalls zu verstetigen. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass face-to-face-Kontakte in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle spielen (u.a. Günther & Luckmann 2002; Luo 2006; Poncini 2002). Im Verlauf der Interaktion werden wechselseitige Erwartungen aufgebaut, die sich zunächst an der Person des Verhandlungspartners festmachen, mit der Zeit aber generalisiert und auf das durch ihn repräsentierte Unternehmen übertragen werden: Persönliches Vertrauen wird in Systemvertrauen konvertiert. Die persönlichen Kontakte in der direkten Interaktion sind mit anderen Worten eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass auf Dauer gestellte Erwartungsstrukturen überhaupt entstehen können.
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3. Globale Verfahrenssysteme: Interaktion und Konsens Interaktionssysteme, so das Fazit des letzten Abschnittes, sind nicht substituierbar. Vielmehr weisen sie Eigenqualitäten auf, die sie gerade auf globaler Ebene zu einem unverzichtbaren Mechanismus der Strukturbildung machen. Dies soll in den folgenden zwei Abschnitten am Beispiel globaler Verfahrenssysteme als einem besonderen Typus globaler Interaktionssysteme gezeigt werden. In seiner Studie „Legitimation durch Verfahren" definiert Luhmann Verfahrenssysteme als interaktionsförmige Entscheidungssysteme, die ergebnisoffen operieren und über die Ausdifferenzierung einer eigenen Rollenstruktur Autonomie gewinnen. Durch diese Sonderstruktur versehen sie Entscheidungen mit Legitimation (Luhmann 1969 /1983; ausführlicher weiter unten). Luhmanns Referenzrahmen ist der Nationalstaat, seine Hauptbeispiele sind Gerichtsverfahren und parlamentarische Gesetzgebungsprozesse. Wechselt man auf die globale Ebene, so stößt man auf ein großes und vielleicht sogar noch breiteres Spektrum von Verfahrenssystemen. Verfahrenssysteme finden sich nicht nur im Recht und im politischen System und auch nicht nur im staatsnahen Bereich, vielmehr handelt es sich oft um privat-öffentliche Gremien oder auch um Gremien, die ausschließlich von nicht-staatlichen Akteuren - Unternehmen, Experten, Verbänden oder N G O s - getragen werden. Private Standardisierungsgremien sind dafür das prominenteste Beispiel (vgl. etwa Büthe & Matth 2011; Simcoe 2012; Botzem & Dobusch 2012). Unabhängig von ihrer Zusammensetzung und ihrer strukturellen Verortung besteht eine wesentliche Gemeinsamkeit globaler Verfahrenssysteme darin, dass Entscheidungen oft konsensualgetroffen werden und diese in der Regel rechtlich nicht bindend sind. Die Literatur spricht in diesem Zusammenhang von „soft regulation" bzw. „soft rules" und führt deren Verbreitung auf das Fehlen einer Letztinstanz zurück, die kollektive bindende Entscheidungen fallen und rechtlich durchsetzen kann (exemplarisch Djelic & Sahlin-Andersson 2006; Halliday 2009). An die Stelle der klassischen „command-and-control regulation" treten neue Regulierungsformen, die Folgebereitschaft über andere Mechanismen sichern müssen (Schneiberg & Bartley 2008). In der Global-Governance-Literatur gibt es eine Fülle von Studien, die diese neuen Steuerungsmechanismen zu identifizieren versuchen. Zusammengenommen lassen sich zwei Hauptfragen unterscheiden: Weshalb
239 einigen sich Akteure freiwillig auf Regeln, die ihren Handlungsspielraum einengen? Und unter welchen Bedingungen werden die Entscheidungen einiger von vielen als bindend akzeptiert? Diese Fragen stellen sich auch auf nationaler Ebene, auf globaler Ebene haben sie aber eine besondere Brisanz, da die Entscheidungsträger oft nicht demokratisch legitimiert sind und es im Falle einer Nicht-Beachtung kaum politische oder rechtliche Sanktionsmöglichkeiten gibt. Weshalb sollten Staaten einer Konvention zustimmen, die sie bindet und ihren Interessen widerspricht? Und weshalb sollten sich Unternehmen freiwillig einem technischen Standard unterwerfen, der nur von einigen Firmen vereinbart wurde? Die klassische Antwort auf diese Frage lautet „Legitimität". In der Literatur wird die Legitimation und damit das Bindungspotential von Entscheidungen auf drei Faktoren zurückgeführt: die Inklusivität des Entscheidungsgremiums, die sachliche Rationalität der Entscheidungen und die Beachtung formaler Verfahrensgesichtspunkte wie etwa Sachorientierung und Transparenz (exemplarisch Halliday et al. 2009; Schmidt 2013). Dieser Kriterienkatalog erweitert zwar die klassische Sichtweise eines Zusammenhanges zwischen Legitimation und demokratischer Teilnahme (Politik) bzw. Richtigkeit des Ergebnisses (Recht), er geht aber nicht grundlegend darüber hinaus. Es ist jedenfalls bemerkenswert, dass in der breiten und ständig anwachsenden Literatur kaum jemals auf die Interaktionsförmigkeit der Entscheidungsverfahren hingewiesen wird. 13 Dass Entscheidungen unter Anwesenden getroffen werden und die Tatsache einer gemeinsamen Anwesenheit eigene Effekte hat, wird übersehen. Weshalb gehören face-to-face-Verhandlungen zum Standardrepertoire internationaler Entscheidungsgremien? Und weshalb nehmen Entscheidungsträger die Mühe vieler Reisen und langer Sitzungen auf sich, um Entscheidungen vorzubereiten und über sie zu befinden? Unter Rückgriff auf Luhmanns Verfahrenstheorie soll im Folgenden argumentiert werden, dass die interaktive Einbindung in den Entscheidungsprozess und das Prinzip konsensualer Entscheidungsfindung zur Legitimität globaler Vereinbarungen wesentlich beitragen. Diese Doppelthese ergänzt Luhmanns Verfahrensbegriff um einen weiteren Aspekt, nämlich den Modus der Entscheidungsfindung. Ent-
13 Der G r u n d dafür liegt in einer theoretischen Leerstelle. In der Globalisierungsforschung fehlt oft das Instrumentarium, um Interaktionen von Organisationen, Netzwerken oder Institutionen abzugrenzen. Wo es keinen Begriff gibt für Interaktion, kann das Phänomen auch nicht gesehen werden.
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Scheidungen können wie in Luhmanns Beispielen durch Richterspruch oder Mehrheitsverfahren zustande kommen, sie können aber auch konsensual, „without vote" erreicht werden. Das Prinzip der konsensualen Entscheidungsfindung ist in internationalen Gremien erstaunlich verbreitet und legt die Vermutung nahe, dass die Verschränkung von Interaktionsförmigkeit und konsensualer Einigung ein zentraler Mechanismus ist, um Entscheidungen mit Legitimation und dadurch mit Bindungskraft zu versehen. U m diese Vermutung zu plausibilisieren, hilft ein Blick auf neuere kulturhistorische Studien zur politischen Entscheidungsfindung in der Vormoderne. Diese vielleicht etwas ungewöhnliche Rückschau drängt sich auf, wenn man nach historischen Fällen sucht, in denen ähnlich wie in der Weltgesellschaft heute gesellschaftliche Erwartungsstrukturen erst im Aufbau begriffen waren. Es ist deshalb vermutlich kein Zufall, dass die gegenwärtige Debatte zum transnationalen Konstitutionalismus auch nach Anregungen in der vormodernen Verfassungsgeschichte sucht (Stollberg-Rilinger 2008: 16; Herrmann & Schulz 2008). Denn trotz offenkundiger Unterschiede liegt eine wesentliche Gemeinsamkeit darin, dass weder die Vormoderne noch die globale Ordnung heute über etablierte politische und rechtliche Institutionen verfüg(t)en. Erwartungssicherheit muss und musste folglich über andere Mechanismen erzeugt und stabilisiert werden. In beiden Fällen sind diese Mechanismen wesentlich symbolischer und interaktiver Art. In ihrer kulturhistorischen Studie zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches vom späten 15. bis zum 18. Jahrhundert beschreibt Barbara Stollberg-Rilinger (2008) am Beispiel von Reichstagen ein soziales Gefüge, das noch keine Verfassung im heutigen Sinne kannte und in dem es keine ausdifferenzierten politischen und rechtlichen Institutionen gab. Unter dieser Bedingung wurde die Einheit und der Strukturaufbau des Reiches vorwiegend auf einer symbolisch-rituellen Ebene hergestellt und gleichzeitig dargestellt: Hergestellt, indem die Bindungskraft von Beschlüssen Anwesenheit bei den Akten der Entscheidungsfindung voraussetzte, und dargestellt, indem die Einheit des Reiches durch Symbole und rituelle Inszenierungen in Erscheinung gebracht wurde. „Was vor qualifizierten Augenzeugen demonstrativ in festen rituellen Formen geschah, das wurde von diesen Augenzeugen beglaubigt (...). Durch die bloße Teilnahme an einem solchen demonstrativen und förmlichen Akt be-
kundeten alle Teilnehmenden ihre Zustimmung zu dem Geschehen und zu dem, was es für die Zukunft bedeutete" (Stollberg-Rilinger 2008: 64). 14 Öffentlich inszenierte Herrschaftsrituale — Huldigungen, Krönungen, Belehnungen, das Sitzen in majestate oder das Vorlesen und die Beratung der kaiserlichen Proposition in den Kurien des Reichstags - hatten eine doppelte Funktion. Z u m einen brachten sie die (prekäre) Einheit des Reiches im wörtlichen Sinne zur Anschauung und trugen damit zur sozialen Integration bei, zum anderen waren sie die Akte, in denen verpflichtende Beschlüsse gefasst wurden, verpflichtend mindestens für jene, die durch ihre Anwesenheit ihre Zustimmung dokumentiert hatten (zu dieser „Präsenzkultur" vgl. Abschnitt 1, S. 233). Obschon der Reichstag bereits Ende des 15. Jahrhunderts das System der Mehrheitsentscheidung eingeführt hatte (Schiaich 1983: 299), blieb konsensuale Beschlussfassung, Ausgleich und Vergleich, noch lange das vorherrschende Entscheidungsverfahren. Sofern Entscheidungen überhaupt per majoritas zustande kamen, beruhte das Ergebnis nicht auf einer numerischen Auszählung der Stimmen, sondern auf einer „offenbaren" Mehrheit, die die Rangverhältnisse berücksichtigte und am Ende dem Kollektiv als Ganzem zugeschrieben wurde (Krischer 2009: 191). Faktisch bestehende Mehrheits- und Machtverhältnisse wurden unter Zuhilfenahme eines breiten Arsenals von kommunikativen und rituellen Praktiken verdeckt, um das Ergebnis als einmütiges Resultat einer Verhandlung darzustellen und auf diese Weise eine sichtbare Marginalisierung der Minderheit (und damit einen demonstrativen Auszug) zu verhindern. Zu diesen Praktiken gehörten ritualisierte Formen von Dankesbezeugungen, Höflichkeitsfloskeln und Unterwerfungsgesten, d.h. ausgeklügelte Interaktionsrituale, die die Funktion hatten, die Ranghierarchie präsent zu halten und gleichzeitig Selbstbindung zu erreichen (vgl. Abschnitt 4). Mehrere Verfahren, die die neuere Kulturgeschichte des Politischen für die Frühe Neuzeit beschreibt, finden sich in ähnlicher Form auch in globalen Entscheidungsgremien wieder: das Vermeiden von Mehrheitsentscheidungen und die Suche nach Konsens, die Präferenz für Schlichtung und Vergleich 14 Beglaubigung durch Zeugenschaft ist ein für die „Anwesenheitsgesellschaft" der Frühen Neuzeit typisches Verfahren, das neben dem Gerichtsverfahren, wo es sich bis heute gehalten hat, vor allem in der Wissenschaft Anwendung fand. N u r was durch glaubwürdige Zeugen, d. h. in einem A k t gemeinsamer Wahrnehmung, autorisiert wurde, erhielt das Siegel wissenschaftlicher Faktizität (Shapin 1994).
Bettina Heintz: Die Unverzichtbarkeit von Anwesenheit
statt für zurechenbare Entscheidung, die symbolische Bedeutung von Anwesenheit, die als „Währung" einen eigenen Kommunikationswert besitzt, die Bedeutung performativer Akte für die Herstellung von Akzeptanz und das Fehlen institutionalisierter Sanktionsmaßnahmen, um Folgebereitschaft - „compliance" - zu sichern. Angesichts der grundlegenden Differenzen zwischen der frühmodernen und der weltgesellschaftlichen Ordnung heute sind diese Parallelen überraschend. 15 In beiden Fällen handelt es sich aber um Gebilde, die vergleichsweise fragmentiert und wenig konsolidiert sind und die darauf angewiesen sind, dass Erwartungssicherheit über andere Mechanismen erzeugt wird. Interaktion und das Bemühen um Konsens übernehmen hier eine zentrale Funktion. Ähnlich wie das Alte Reich durch Anwesenheitsrituale als Einheit symbolisch dargestellt und über die in diesen Ritualen eingelagerten Beschlüsse in einem rechtlich-politischen Sinne hergestellt wurde, haben auch globale Verfahrenssysteme oft eine Doppelfunktion. Sie dienen einerseits dazu, die Existenz einer allen gemeinsamen Sozialwelt durch performative Akte zur Anschauung zu bringen, und sie sind zum anderen unverzichtbare Foren, um Normen mit weltweitem Anspruch festzuschreiben und mit Legitimation zu versehen. Globale Normen und Regulierungen reichen von internationalen Konventionen, Deklarationen und Verträgen über Standards, Schiedsgerichtsordnungen und Gerichtsentscheidungen bis hin zu Verfahrensordnungen, Behandlungsrichtlinien, Zertifizierungen, Klassifikationssystemen und best practiceModellen. In vielen Fällen findet die Entscheidungsfindung in zeitlich befristeten Gremien statt, die in vieler Hinsicht den Verfahrenssystemen gleichen, die Luhmann (1969 /1983) in seiner Studie beschrieben hat. Aus Luhmanns Sicht haben Verfahren die Funktion, Entscheidungen mit Legitimation zu versehen und auf diese Weise sozial generalisierbar zu machen. Dies geschieht durch die Ausdifferenzierung von in-
15 Unterschiede gibt es selbstverständlich viele: Stratifikation und politische Zentralisierung vs. funktionale Differenzierung; personengebundene Beziehungen, die primär über Patronage und Askription verlaufen, statt sachbezogenes, auf Distanz beruhendes Rollenverhalten; Interaktion vs. Schrift als primäres Kommunikationsmedium; Bedeutung und Darstellung von Rangabstufungen vs. Gleichheitsidee und Inszenierung von Indifferenz gegenüber Statusunterschieden; Notwendigkeit persönlicher Anwesenheit anstatt Verfügbarkeit von Kommunikationstechnologien, die verbindliche Kommunikation auch unter Abwesenden erlauben.
241 teraktiven Sondersystemen, die über verfahrenseigene Rollen verfügen und in denen von den Beteiligten ein Verhalten erwartet wird, das Lernbereitschaft indiziert. Weder ein Staatsanwalt noch ein Angeklagter, weder ein staatlicher Repräsentant noch ein NGO-Vertreter können es sich leisten, an ihrer Position unverrückbar festzuhalten. Gefordert sind Lernbereitschaft und Kompromissfähigkeit, oder jedenfalls deren Inszenierung. Der entscheidende Punkt ist die Ergebnisoffenheit des Verfahrens und die Wählbarkeit des eigenen Verhaltens, was personale Zurechnungen erleichtert. Dass das Ergebnis nicht bereits vorentschieden ist und die Beteiligten frei sind, sich so oder anders zu verhalten, ist für Luhmann „die treibende Kraft des Verfahrens, der eigentlich legitimierende Faktor" (Luhmann 1969/1983: 116). Es ist diese Offenheit des Ausgangs, die zur aktiven Teilnahme motiviert und dazu führt, dass sich die Beteiligten durch ihr Rollenhandeln festlegen und damit ihren Verhaltensspielraum Schritt für Schritt einschränken. Indem sie sich auf das Verfahren und ihre Rolle einlassen und dies durch Akte der Selbstdarstellung öffentlich beobachtbar machen, werden sie dazu gebracht, die Entscheidung anzunehmen, zu der sie durch ihr Handeln, intendiert oder nicht, selbst beigetragen haben. Am Ende müssen die Beteiligten die Entscheidung als verbindlich akzeptieren, auch wenn sie damit nicht einverstanden sind: Protest und Widerstand sind nicht mehr generalisierbar. Insofern fordern Verfahren Lernprozesse, in deren Verlauf normative Erwartungserwartungen „in lediglich kognitive Divergenz" umgewandelt werden, zumindest auf der Ebene der Selbstdarstellung (Luhmann 2008: 53). Gerichtsprozesse sind dafür der paradigmatische Fall. Verfahren sind fast immer als Interaktionssysteme eingerichtet - nur deshalb können sie ihre Funktion, Erzeugung von Legitimation und Selbstbindung der Beteiligten, erfüllen. 16 Es ist mit anderen Worten die Eigendy-
16 Luhmann definiert Verfahrenssysteme zwar ausdrücklich als Interaktionssysteme, er geht aber erstaunlicherweise nur an wenigen Stellen auf die Frage ein, welchen Stellenwert das spezifisch „Interaktive" für den Verlauf und die Funktion von Verfahren hat. Diese Auslassung hat vermutlich damit zu tun, dass Luhmann seine Theorie der Interaktion erst nach dem Erscheinen von „Legitimation durch Verfahren" formuliert hat, zuerst 1970 in einer Vorlesung (Luhmann 1969 / 70), dann Anfang der 1970er Jahre in verschiedenen Aufsätzen und unveröffentlichten Manuskripten, u. a. auch in dem in diesem Band zum ersten Mal publizierten Beitrag.
242
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 229-250
n a m i k u n d Besonderheit von Interaktionssystemen, die maßgeblich f ü r die von L u h m a n n beschriebenen Prozesse verantwortlich ist: die Eigenwilligkeit von Interaktionen u n d die Unberechenbarkeit ihres Verlaufs, ihre Konsens- u n d Kompromissorientierung, die Bandbreite an „korrektiven Ritualen" ( G o f f m a n 1982), das Repertoire an non-verbalen Gesten u n d parasprachlichen Zeichen, mit denen das Gesagte moduliert oder auch konterkariert werden k a n n , u n d das Vorhandensein einer „Welt in gemeinsamer Reichweite" (Schütz), auf die m a n sich bei Verständnisschwierigkeiten beziehen k a n n . Die von L u h m a n n aufgeworfene Frage, wie es überh a u p t möglich ist, dass die Entscheidungen weniger von vielen als bindend akzeptiert werden, stellt sich im Kontext der Weltgesellschaft in besonderer Schärfe. D a es keine autoritative Letztinstanz u n d k a u m effiziente Sanktionsmöglichkeiten gibt, muss E i n i g u n g wie Folgebereitschaft „freiwillig" erfolgen. Es ist deshalb zu erwarten, dass in vielen globalen Verfahren Sondermechanismen eingebaut sind, die die B i n d u n g s w i r k u n g u n d Generalisierungsfähigkeit von Entscheidungen verstärken. Ein solcher Sonderm e c h a n i s m u s scheint das Prinzip konsensualer Einigung zu sein, das auf globaler Ebene weit verbreitet ist, nicht n u r in privaten Standardisierungsgremien, sondern auch in internationalen Regierungsorganisationen wie etwa der U N oder der W T O . 1 7 Konsensuale Entscheidungsverfahren zeichnen sich dad u r c h aus, dass über Vorlagen o h n e A b s t i m m u n g , „without vote", entschieden wird. Eine Vorlage gilt d a n n a n g e n o m m e n , w e n n sie per A k k l a m a t i o n zustande k o m m t oder es keine Einwände m e h r gibt. In dieser Hinsicht gleicht die Entscheidungsfindung auf globaler Ebene eher den vormodernen Praktiken der Willensbildung als den von L u h m a n n beschriebenen (nationalen) Verfahren, in denen Entscheid u n g e n d u r c h Richterspruch oder über Mehrheitsbeschluss zustande k o m m e n . Die Besonderheit des Konsensprinzips liegt in der Ü b e r f ü h r u n g von Konflikt in Kooperation. In Verfahren sind in der Regel beide Sozialformen kombiniert - es wird gestritten, aber fallweise auch kooperiert, m a n argumentiert gegen den Kontrahenten, 17 Die Alternativen sind Einstimmigkeit oder Mehrheitsentscheidung, die beide im Gegensatz zum Konsensverfahren eine Abstimmung erfordern. Zum Konsensprinzip in internationalen Regierungsorganisationen exemplarisch Buzan (1981); Thiele (2008: 283 ff.); Säbel (2006: Kap. 16); Steinberg (2002), und in Standardisierungsgremien Botzem & Dobusch (2012); Simcoe (2012); Tamm Hallström (2010); Murphy & Yates (2009).
aber versucht i h n gleichzeitig auf die eigene Seite zu ziehen. 18 Die einzelnen Verfahrenssysteme lassen sich danach unterscheiden, in welchem G r a d e die beiden K o m p o n e n t e n separiert u n d bereits auf der Rollenebene ausdifferenziert sind. Je n a c h d e m k a n n der Gegner nicht gleichzeitig ein potentieller Kooperationspartner sein, jedenfalls nicht offiziell. Konsensorientierte Verfahren, wie sie f ü r viele globale Gremien typisch sind, bilden einen Sondertypus von Verfahrenssystemen, indem das Prinzip der konsensualen E i n i g u n g die kooperative K o m p o n e n te verstärkt u n d d a m i t die G e f a h r der E n t s t e h u n g eines eigendynamischen Konfliktsystems reduziert. D a Gegnerschaft auf globaler Ebene nicht institutionalisiert u n d entsprechend kanalisiert ist, 19 k a n n generalisierte Gegnerschaft die Legitimationswirk u n g von Verfahren massiv beschädigen. Es bedarf folglich besonderer Vorkehrungen, u m diese Entwicklung zu verhindern. Das Konsensprinzip spielt hier neben der Interaktionsförmigkeit des Verfahrens eine zentrale Rolle. Dies soll im Folgenden a m Beispiel von U N - W e l t k o n f e r e n z e n u n d der Erarbeit u n g von Konventionen illustriert werden. 2 0
4. Interaktion unter Öffentlichkeit: die Herstellung und Darstellung konsensualer Entscheidungen Weltkonferenzen u n d die Abschlusssitzungen zur Verabschiedung von Konventionen sind global formatierte Interaktionssysteme, in denen sich H u n -
18 Zur Zusammenführung von Luhmanns Verfahrenstheorie und Simmeis Sozialformen instruktiv Kieserling (2010). 19 Dies gilt sogar für die Hochphase des Kalten Krieges. Es gab zwar Blockbildungen, die Blöcke hatten aber nicht den Institutionalisierungs- und Versäulungsgrad von Parteien. Entsprechend instabil und flexibel war die Bildung von Allianzen in dieser Zeit. 20 Die Literaturlage ist allerdings dürftig. Es gibt zwar unzählige Publikationen zu UN-Konventionen und Weltkonferenzen, aber praktisch keine Studien, die diese aus einer interaktionssoziologischen Perspektive analysieren. Eine Ausnahme ist Groth (2012), der die Verhandlungen der Weltorganisation für Geistiges Eigentum aus der Perspektive der linguistischen Anthropologie untersucht. Als ethnographische Studien vgl. auch Little (1995); Merry (2006: Kap. 2); Niedner-Kalthoff (2012). Ich beziehe mich im Folgenden neben diesen Studien vor allem auf Ergebnisse aus dem DFG-Projekt „Die Beobachtung der Welt" http:// www.uni-bielefeld.de/soz/we/soztheorie/heintz/observing theworld/.
Bettina Heintz: Die Unverzichtbarkeit von Anwesenheit
243
derte von Teilnehmern und Teilnehmerinnen wäh-
meberechtigt sind aber auch Experten und Vertreter
rend mehrerer Tage treffen, u m über Deklarationen
internationaler Regierungs- und Nichtregierungs-
und Konventionstexte zu verhandeln und sie a m
organisationen.
Ende zu verabschieden, in der Regel konsensual. 2 1
Rederecht, aber keine Entscheidungsbefugnis besit-
Obschon
NGOs
höchstens
eine
In Goffmans Terminologie handelt es sich u m „ce-
zen, spielen sie eine wichtige Rolle. Sie sind so etwas
lebrative social occasions" (Goffman 1983: 7), die
wie die „akkreditierten Beobachtungsinstanzen" der
sich aus einer Vielzahl von Begegnungen (encoun-
Weltöffentlichkeit und haben aufgrund ihrer Exper-
ters) und geplanten Zusammenkünften (gatherings)
tise einen beträchtlichen Einfluss auf die Entschei-
zusammensetzen. D i e Entscheidungsfindung ist ein
dungsfindung. D e n Vorbereitungsprozess beschließt
komplexer Prozess, der weitgehend
interaktions-
eine Abschlusskonferenz, auf der der Entwurfstext
förmig verläuft. A m Anfang steht in der Regel eine
W o r t für W o r t , Paragraph für Paragraph verhandelt
Resolution der UN-Generalversammlung,
und entschieden wird. Dieses „wording" erfolgt in
in der
die D u r c h f ü h r u n g einer Weltkonferenz oder die
„öffentlichen"
Erarbeitung einer neuen Konvention
fenden
beschlossen
wird. M i t diesem Beschluss wird ein Verfahrens-
Plenarsitzungen
„privaten"
parallel
lau-
Arbeitsgruppensitzungen.
Die
Arbeitsgruppensitzungen
und
haben zwar den
Status
system eingerichtet, das sich von diesem Zeitpunkt
einer „Hinterbühne", sie sind aber in der Tagungs-
an selbst organisiert und über ein hohes M a ß an
ordnung explizit vorgesehen. Unter der Uberschrift
Autonomie verfügt. Es werden spezifische Rollen
„Public and Private Meetings" enthält z. B . die Ver-
ausdifferenziert, die mit unterschiedlichen
Rech-
fahrensordnung der Weltfrauenkonferenz in Peking
ten („credentials") verbunden sind: Delegierte mit
ein eigenes Regelset zum Verhältnis von „privaten"
Abstimmungsbefugnis
und „öffentlichen" Treffen ( A / C O N F . 1 7 7 / 2 , Rule
(Regierungsvertreter)
und
solche, die nur ein Rederecht besitzen ( N G O s , in-
57 und 58). Die „private meetings", mitunter auch
ternationale Regierungsorganisationen), Rollen, die
als „informal consultations" bezeichnet,
mit besonderen Kompetenzen
damit einen ebenso offiziellen Charakter wie die
einhergehen
(z. B.
erhalten
Mitglieder des „credential committee"), sowie die
öffentlichen Plenarsitzungen. An sie wird einzig die
Rolle des Vorsitzenden, der das Rederecht erteilt,
Anforderung gestellt, die „privat" getroffenen B e -
darüber entscheidet, ob ein Konsens vorliegt, und
schlüsse zu Beginn des „public meeting" öffentlich
mit der Eröffnung und Auflösung der Sitzungen die
zu machen.
„Interpunktionszeichen"
(Goffmann
1982a:
118)
der Interaktion setzt.
Auch wenn das Konsensprinzip in den zentralen Dokumenten der U N formal nicht festgeschrieben
Bis eine Entscheidungsvorlage vorliegt, dauert es
ist, hat es sich seit den 1970er Jahren als informelle
oft mehrere Jahre. In dieser Zeit treffen sich Ex-
Verfahrensnorm etabliert und ist in einigen neueren
pertenkommissionen,
Verfahrensordnungen
Redaktionsausschüsse
und
auch explizit festgehalten. 2 3
Arbeitsgruppen und es werden vorbereitende Ple-
So heißt es etwa in den „rules o f procedure" der
narsitzungen
weltregional
Weltfrauenkonferenz in Peking 1995: „The C o n -
organisiert sind. 2 2 Die Hauptakteure sind zwar die
ference shall exert all possible efforts to ensure that
Regierungen bzw. deren Repräsentanten, teilnah-
its work and the adoption o f its report are accom-
durchgeführt,
die oft
plished by general agreement" Konventionen sind internationale Vereinbarungen, die im Rahmen eines temporär eingesetzten Sondergremiums vorbereitet und verabschiedet werden. Die endgültige Entscheidung fallt in der Generalversammlung der U N oder einer ihrer Unterorganisationen (z.B. U N E S C O ) . Konventionen werden erst dann zu rechtsverbindlichen Texten, wenn sie von einer bestimmten, im Konventionstext festgelegten Anzahl von Staaten ratifiziert sind. Die auf UN-Weltkonferenzen verabschiedeten Deklarationen und Resolutionen bringen zwar ebenfalls eine kollektive Entscheidung zum Ausdruck, es sind aber keine Rechtstexte im engen Sinn. 21
Z u m Vorbereitungsprozess vgl. Niedner-KalthofF (2012: Kap. 2) am Beispiel der von der U N E S C O verabschiedeten „Convention on the Protection and Promotion o f Diversity of Cultural Expressions". 22
(A/CONF.177/2,
Rule 34). W i e ein „general agreement" festgestellt werden kann, wird zwar nicht gesagt, in der Praxis meint Konsens aber meistens, dass eine Vorlage per Akklamation angenommen wird oder keine Einwän-
2 3 Obschon die Verfahrensordnung der UN-Generalversammlung Mehrheitsbeschluss als Entscheidungsverfahren festlegt, kommen heute mehr als zwei Drittel der Entscheidungen ohne Abstimmung zustande (vgl. Thiele 2 0 0 8 : 288). Und auch im Sicherheitsrat, dessen ständige Mitglieder laut U N - C h a r t a einstimmig entscheiden müssen (Art. 27), wird zunehmend häufig „without vote" entschieden. Zu den Entscheidungsverfahren im Sicherheitsrat Thiele ( 2 0 0 8 : 2 7 8 ff.); Woods (1999: 49 ff.); und zur W T O bzw. G A T T Steinberg (2002).
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de mehr formuliert werden („without objection").24 Oder wie es in einem UN-Dokument etwas kryptisch heißt: „Consensus is defined as a general agreement without vote but not necessarily unanimity" (zit. in Sabel 2006: 336). Dass das Konsensprinzip für das Selbstverständnis und die Außendarstellung eine zentrale Bedeutung besitzt, zeigt sich auch darin, dass Konventionstexte und Abschlusserklärungen nur in seltenen Fällen Informationen zum Entscheidungsprozess enthalten. Die übliche Formel lautet „solemnly adopts", „proclaims" oder „we agree".25 Ob tatsächlich ein Konsens zustande kam oder doch per Abstimmung entschieden wurde, ist nur den Abschlussberichten, den sog. „final reports", zu entnehmen. Aus ihnen geht hervor, dass in der Regel im Konsensverfahren entschieden wird. Dies gilt sogar für Weltkonferenzen, in denen einzelne Themen hochgradig kontrovers waren. Konsens wird in diesem Fall durch ein subtiles Anwesenheitsmanagement sichergestellt. Wer offenkundig eine Minderheitenposition vertritt, demonstriert seinen Dissens durch Abwesenheit und ermöglicht auf diese Weise zumindest die Darstellung von Einmütigkeit. 26 Dass in einem Entscheidungsgremium, das an die 200 Mitglieder umfasst, konsensual entschieden wird, ist keineswegs selbstverständlich. Die ausschlaggebende Erfolgsbedingung ist Interaktion: Es muss so lange verhandelt und umformuliert werden, bis der letzte Einwand stillgelegt ist.27 Das lässt sich 24
Einwände mögen bestehen bleiben, sie werden aber bei der Entscheidung zurückgestellt und in Form von sog. „statements" oder „reservations" in den Abschlussbericht ausgelagert. 25 Dieses Verschweigen von Dissens begann bereits mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948. Mit der Formel „The General Assembly Proclaims" (Präambel) suggeriert der Text zwar konsensuale Einigung, faktisch waren aber viele Paragraphen so umstritten, dass trotz Verwendung von Kompromissformeln, die den Universalitätsgedanken erheblich ausdünnten, über sie abgestimmt werden musste. Zur Vorgeschichte der AEMR Davy (2015). 26
Auf der Herstellungsse ite ist es allerdings so, dass die Entscheidungen in solchen Fällen politisch wenig Bedeutung haben. Das bekannteste Beispiel sind die drei AntiRassismuskonferenzen 1978, 1983 und 2001. Vor allem westliche Länder blieben den Konferenzen entweder von Anfang an fern oder sie verließen sie, wie etwa die USA 2001 in Durban, unter Protest und machten sich damit eine Kommunikationsmethode zu eigen, die bereits auf den vormodernen Reichstagen praktiziert worden war (vgl. Abschnitt 3).
nicht schriftlich bewerkstelligen und auch nicht mit Hilfe ausgeklügelter Kommunikationstechnologien. Vielmehr braucht es dazu die spezifischen Ressourcen der Interaktion, die ich im zweiten Abschnitt beschrieben habe. 28 Die Interaktion vollzieht sich vor allem als Verhandlung über einen Text. Die Entscheidungsvorlage - der „draft" - ist üblicherweise ein Text, der mit Klammern durchsetzt ist, in denen alternative oder zusätzliche Formulierungsvorschläge stehen. Ein Beispiel dafür ist der vom „preparatory committee" vorgelegte Entwurf für die Abschlusserklärung der Menschenrechtskonferenz in Wien 1993: „Express concern over all forms of violation of human rights, including manifestations of racial discrimination, racism, [anti [Arab] semitism,] apartheid, [colonialism, foreign aggression and occupation, and the establishment of illegal settlements in occupied territories, as well as the recent resurgence of neo-nazism, xenophobia, [and] „ethnic cleansing",] [torture, summary executions and disappearances]" (A/ CONF. 157/ P C / 98). Wie die Textstelle zeigt, wurde der ursprüngliche Vorschlag bereits im Vorbereitungsprozess verändert und durch eine minutiöse Auflistung weiterer Menschenrechtsverletzungen erweitert. Im entsprechenden Paragraphen des Abschlusstextes wird die Liste weiter ergänzt. Sie umfasst nun „torture and cruel, inhuman and degrading treatment or punishment, summary and arbitrary executions, disappearances, arbitrary detentions, all forms of racism, racial discrimination and apartheid, foreign occupation and alien domination, xenophobia, poverty, hunger and other denials of economic, social and cultural rights, religious intolerance, terrorism, discrimination against women and lack of the rule of law" (A/CONF. 157/23, OP 30). Antisemitismus, Kolonialismus, Neonazismus und illegale Siedlungen in besetzten Gebieten werden nicht mehr erwähnt, während die Verurteilung ethnischer Säuberungen einen eigenen Paragraphen erhält. In den Verhandlungen wird Satz für Satz über den Entwurfstext und die vorgelegten Alternativvorschläge diskutiert. Im Idealfall werden die Sätze so lange umformuliert, bis ein Konsens erreicht ist. Angesichts der Tatsache, dass Abschlusserklärungen oder Konventionstexte in der Regel oft sehr lang sind, ist dieses minutiöse Aushandeln von Formulierungen mehr als erstaunlich. Wie gelingt es, nahezu 200 Staaten dazu zu bringen, sich in einigermaßen nützlicher Frist freiwillig auf einen Text zu einigen,
27
Gelingt dies nicht, gilt die Weltkonferenz als gescheitert. Bei Konventionen wird die Entscheidung in der Regel vertagt und auf ein neues Treffen verschoben.
28
Zur Bedeutung von Interaktion in diplomatischen Beziehungen exemplarisch Jönsson & Hall (2003).
Bettina Heintz: Die Unverzichtbarkeit von Anwesenheit
auch wenn sie mit einzelnen Passagen vielleicht nicht einverstanden sind? Auf diese Frage gibt es verschiedene Antworten. Die eine und allgemeinere Antwort schließt an Luhmanns Verfahrenstheorie an. Ähnlich wie es Luhmann beschrieben hatte, entfalten auch UN-Gremien ein „Eigenleben" und erzeugen ihre eigene Geschichte: „In dem Maße, als das Verfahren sich entwickelt, ziehen die Handlungsmöglichkeiten der Beteiligten sich zusammen. Jeder muss auf das Rücksicht nehmen, was er schon gesagt oder zu sagen unterlassen hat. Äußerungen binden" (Luhmann 1969/1983: 45). Was ein Regierungsvertreter sagte und wie er es sagte, wurde von allen, auch dem Publikum, gehört und teilweise protokollarisch aufgezeichnet. Äußerungen stehen damit als „Datum" zur Verfügung, auf das man sich im weiteren Verlauf beziehen kann, um auf Inkonsistenzen und Ungenauigkeiten hinzuweisen. Auf diese Weise wird das Verhaltensspektrum der Einzelnen sukzessiv eingeengt, ein Positionswechsel bedarf einer guten Begründung. Die zweite und spezifischere Antwort bezieht sich auf die konkreten Techniken, die eingesetzt werden, um Konsensbildung zu ermöglichen. Wie das oben genannte Beispiel deutlich macht, besteht eine Technik in schlichter Addition. Anstatt über Alternativvorschläge zu streiten, werden sie hintereinander in den Text eingefügt, oft nach dem Prinzip der Gabe und Gegengabe: Wir verzichten auf „anti [Arab] semitism", dafür verzichtet ihr auf „colonialism". Eine weitere Konsenstechnik besteht darin, Formulierungen zu verwenden, die offen und vage gehalten sind: „striving for" ist konsensfähiger als „as soon as possible, preferably by 2005" (Merry 2006: 38). Dieser auf Kompromiss setzende Umgang mit Texten ist ein wesentlicher Grund dafür, weshalb Abschlusstexte oft repetitiv, vage und widersprüchlich sind. Der Dissens wird über Kompromissformeln stillgelegt mit der Folge, dass die Texte unterschiedliche Auslegungen erlauben und den Staaten bei der Umsetzung der Verträge erhebliche Freiräume eröffnen. Diese doppelte Funktion der Kompromissbildung Konfliktbeilegung auf zwischenstaatlicher Ebene und Ermöglichung von Handlungsspielräumen im nationalen Rahmen - ist beispielhaft für die prekäre Balance zwischen dem Souveränitätsprinzip und der Selbstdarstellung der Staatengemeinschaft als eigenständiger und handlungsfähiger Einheit. Staaten arbeiten einerseits am Bild einer Staatengemeinschaft, die über den Partikularinteressen der Einzelstaaten steht, und pochen andererseits auf der Souveränität und Gleichheit aller Staaten, so etwa wenn der Su-
245 dan von Namibia Konzessionsbereitschaft mit der Begründung verlangt: „since we are all sovereign states here" (Merry 2006: 39). Es ist eine Balance, die, weil sie so prekär ist, immer wieder bekräftigt werden muss. Eine weitere Technik der Konsensbildung besteht darin, Formulierungen zu verwenden, die bereits beschlossen wurden. Der Rekurs auf eine „agreedupon language" ist der Grund dafür, weshalb Abschlussdokumente oft Passagen aus früheren UN-Dokumenten enthalten, vorzugsweise aus der UN-Charta und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die im Kontext der U N einen nahezu sakralen Charakter haben. Zudem stehen eine Reihe von Sozialtechniken zur Verfügung, die darauf zielen, den Gegner unter Wahrung seiner Selbstdarstellung auf die eigene Seite zu ziehen. Dazu gehört ein reiches Repertoire an subtilen Interaktionsritualen, die sich nicht grundsätzlich von den vormodernen Interaktionsritualen unterscheiden, mit dem gewichtigen Unterschied allerdings, dass die Ehrerbietung weniger den Personen als vielmehr den Staaten gilt, die sie repräsentieren. Die zumindest im offiziellen Verkehr praktizierte strikte Trennung von Person und Rolle, die in der Stratifikationsordnung der Vormoderne noch undenkbar gewesen wäre, zeigt sich anschaulich darin, dass Regierungsvertreter nicht mit ihrem persönlichen Namen aufgerufen werden, sondern unter dem Namen des Landes, für das sie sprechen (Merry 2006: 39; Niedner-Kalthoff 2012: 171 ff.). Goffmans berühmte Formulierung, dass das Selbst „ein zeremonielles, geheiligtes Objekt ist, das man mit angemessener, ritueller Sorgfalt behandeln muss" (Goffman 1986b: 100), erfährt im Kontext zwischenstaatlicher Verhandlungen eine Erweiterung: Nicht die Personen, sondern die Staaten sind die geheiligten Objekte, die man mit ritueller Sorgfalt behandeln muss. Deshalb findet man im diplomatischen Verkehr ein besonders reiches Repertoire an Interaktionsritualen und Gesten der Ehrerbietung (Chilton 1990 mit expliziter Bezugnahme auf Goffman). Sie adressieren zwar Personen, richten sich aber vor allem an die Staaten, die durch diese vertreten werden. Zu diesen Interaktionsritualen gehören Höflichkeitsgesten und taktvolles Verhalten. Takt bedeutet, dass man den anderen (bzw. den durch ihn vertretenen Staat) bei dessen Selbstdarstellung unterstützt, und verlangt von den Beteiligten Raffinesse im Umgang mit Erwartungserwartungen. „Die Funktion des Taktes besteht darin, zwischen den Bedürfnissen der Selbstdarstellung und dem Interesse des sozia-
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len Systems an Fortsetzung der Kontakte zu vermitteln" (Luhmann 1964: 360). Insofern überbrückt taktvolles Verhalten Meinungsdifferenzen und ermöglicht damit die Proklamation von Konsens. Ein Beispiel dafür ist die ungeschriebene Regel, das Verhalten von Staaten nicht explizit zu werten. Die Einhaltung dieser Regel wird durch die Doppelrolle der staatlichen Repräsentanten erheblich erleichtert: Sie sind Vertreter ihres Landes und gleichzeitig Angehörige derselben Profession. Während sie als politische Repräsentanten divergente Interessen vertreten, können sie als Professionsangehörige auf geteilte Erfahrungen und gemeinsame Interaktionsregeln rekurrieren, was den Aufbau einer explizit auf Konsens hin angelegten Interaktionsordnung erheblich erleichtert. Die Regeln der Interaktionsordnung sind nicht ein für alle Mal gegeben, sondern müssen durch interaktive Praktiken permanent hergestellt und bestätigt werden. Auch dafür braucht es die Kommunikation unter Anwesenden.
5. Ausblick Auf globaler Ebene ist Selbstbindung und die Generalisierung von Folgebereitschaft besonders prekär. Es gibt keine Letztinstanz, die kollektiv bindende Entscheidungen fallen und durchsetzen kann. Ich habe im Anschluss an Luhmanns Verfahrenstheorie und kulturhistorische Studien zur Verfassungsgeschichte der Vormoderne die These vertreten, dass interaktive Einbindung ein zentraler Mechanismus ist, um Entscheidungen mit Legitimation zu versehen und auf diese Weise Bindungskraft herzustellen. Es sind mit anderen Worten weniger die formalen Verfahrensregeln als vielmehr die performative und symbolische Verstrickung in das Verfahren, die Legitimation erzeugt. Einen zusätzlichen Beitrag liefert das Prinzip konsensualer Einigung. Es ist jedenfalls auffallend, dass Entscheidungen in vielen globalen Verfahrenssystemen nicht über Mehrheitsbeschluss, sondern über Konsens zustande kommen. Das Konsensprinzip erfüllt verschiedene Funktionen. 1. Zum einen verstärkt eine konsensuale Einigung die Bindungskraft von Entscheidungen. Was beschlossen wird, sollte auch umgesetzt werden, aber wo Sanktionsmöglichkeiten fehlen, ist die Umsetzungsbereitschaft prekär. Die Einbindung in das „Rollenspiel des Verfahrens" (Luhmann 1969 / 83: 87) und das öffentlich dokumentierte Mittragen einer konsensualen Entscheidungsfindung erschwert eine nachträgliche Distanzierung. Ob die Entschei-
dung auch innerlich mitgetragen wird oder nicht, ist im Prinzip belanglos. Es geht um kognitive Erwartungen, nicht um normative, um kommunikative Akte, nicht um persönliche Motive. 29 2. Zum andern dient das Konsensprinzip dazu, die Existenz einer allen gemeinsamen Sozialwelt zur Anschauung zu bringen. Was im Konsensverfahren beschlossen wird, wird der Staatenwelt als Ganzer zugeschrieben und lässt sie als Einheit jenseits der Partikularinteressen der Einzelstaaten erscheinen. Dass eine solche Zuschreibung gelingt, hängt wesentlich mit der örtlichen Konzentration des Ereignisses zusammen, also damit dass Vertreter unterschiedlicher Länder und Kulturen an einem Ort zusammenkommen und durch ihre gemeinsame Anwesenheit symbolisch eine „Weltgesellschaft" im Kleinen zum Ausdruck bringen, über die man berichten und die man vor allem auch sehen kann. Wenn die Ethnologin Sally Eagle Merry bei ihrer Beobachtung der „Peking + 5"-Konferenz feststellt: „I felt I was watching the creation of a new order, with its rich cultural system of procedures, protocols and practices of lawmaking" (Merry 2006: 37), dann gilt das erst recht für Laienbeobachter, die das Geschehen vor Ort oder am Bildschirm verfolgen. Insofern sind Weltkonferenzen und Plenarsitzungen (auch) eine Weltbühne, auf der „the world as a whole" (Robertson 1992:8) zur Darstellung gebracht wird. Für beide Funktionen ist Interaktion unverzichtbar. Verbindliche Entscheidungen werden im Rahmen von Interaktionssystemen ausgehandelt und bestätigt. Organisationen setzen zwar den Rahmen, die Entscheidung selbst ist aber das Ergebnis eines Interaktionsprozesses, der seine eigene Dynamik entwickelt. Gleichzeitig dienen globale Interaktionssysteme dazu, die Emergenz einer neuen globalen Ordnung, einer „Weltgesellschaft", symbolisch darzustellen, ganz ähnlich wie die solennen Akte der Vormoderne die Existenz und Einheit des Reiches trotz - oder besser: wegen - der Brüchigkeit politischer und rechtlicher Institutionen sinnlich wahrnehmbar zum Ausdruck brachten und dadurch bekräftigten. In den meisten soziologischen Theorien steht das Interaktive für das Kleine, Lokale und Folgenlose und hebt sich damit unvorteilhaft vom Großen, GlobaDie Differenz zwischen psychischer und kommunikativer Ubereinstimmung — oder in der Terminologie von Alois H a h n (2000): zwischen Konsens und Verständig u n g - ist den Beteiligten allerdings nicht immer bewusst. Vgl. die von Niedner-Kalthoff (2012: 115 ff.) beschriebene Debatte über den Unterschied zwischen „true consensus" and bloßer Einigung. 29
Bettina Heintz: Die Unverzichtbarkeit von Anwesenheit len und Relevanten ab. Anstatt an dieser Hierarchisierung festzuhalten, habe ich zu zeigen versucht, dass auch „lokale" Interaktionen „global" sein können und dass das Interaktive durchaus gesellschaftlich wirkungsmächtig ist. Angesichts der Bedeutung und Verbreitung globaler Interaktionssysteme täte die Weltgesellschaftstheorie deshalb gut daran, sich vermehrt an Luhmanns Theorie sozialer Differenzierung zu orientieren und Interaktionen einen angemessenen theoretischen und empirischen Raum zu verschaffen. Die interaktionstheoretische Mikrosoziologie bietet dazu allerdings noch wenig Hilfe. Entweder sie beschränkt sich weiterhin aufs Lokale und lässt globale Interaktionszusammenhänge außer acht oder sie befasst sich mit global ausgreifenden Interaktionen, aber unter Aufgabe des Kriteriums der Kopräsenz (vgl. Abschnitt 2., S. 237 und in diesem Band Hirschauer). Es ist jedenfalls erstaunlich, dass es zwar eine Mikrosoziologie globaler Telekommunikationen gibt, nicht aber eine Mikrosoziologie globaler Interaktionen. Der Aufsatz versteht sich als Beitrag zur Entwicklung einer solchen Mikrosoziologie globaler Interaktionen. Er orientiert sich an Luhmanns Systemtypologie, nicht aber an der mit dem Ebenenmodell assoziierten Vorstellung, dass das Interaktive „unten" ist und das Gesellschaftliche „oben" und das eine gewichtiger ist als das andere. Dieses Bild mag dazu beigetragen haben, dass die Systemtheorie Weltgesellschaftsforschung mit ausschließlich gesellschaftstheoretischen und organisationssoziologischen Mitteln betreibt. Aber Interaktionen finden nicht nur am Familientisch, im Klassenzimmer oder in der Arztpraxis statt, sondern auch in globalen Zusammenhängen: auf Konferenzen, Bischofssynoden und Weltsozialforen, in internationalen Gerichtsverfahren, Standardisierungsgremien und Weltkonferenzen. Die Anzahl und Vielfalt global formatierter Interaktionssysteme ist immens. Es gibt Verfahrenssysteme und Interaktionssysteme, in denen keine Entscheidungen getroffen werden (z.B. wissenschaftliche Konferenzen), es gibt Interaktionssysteme, die weltweite Inklusivität beanspruchen (Weltsozialforen) und solche, die exklusiv sind (das Weltwirtschaftsforum in Davos), und es gibt weltweite Treffen, die öffentlich beobachtet werden (Weltkonferenzen), und solche, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden (Standardisierungsgremien). Die Verbreitung und Prominenz solcher globalen Interaktionssysteme ist erklärungsbedürftig. Wie eine solche Erklärung aussehen könnte, habe ich am Beispiel von globalen Verfahrenssystemen skizziert.
247 Die von mir beschriebenen Verfahrenssysteme sind Interaktionsgeschehnisse, die eine doppelte Leistung erbringen. Es sind Foren, auf denen Normen mit weltweitem Anspruch festgeschrieben und mit Legitimation versehen werden, und es sind gleichzeitig weltöffentliche Bühnen, auf denen die Existenz einer gemeinsamen Sozialwelt dargestellt und damit auf einer symbolischen Ebene auch hergestellt wird. Ähnlich wie auf den Reichstagen des Alten Reiches bedingen sich beide Komponenten gegenseitig. So lange weltgesellschaftliche Strukturen noch wenig institutionalisiert sind, müssen sie, um Geltung zu erreichen, immer wieder aufs Neue zur Anschauung gebracht werden. Das leisten global formatierte Interaktionssysteme - auch.
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250
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 229-250
Autorenvorstellung Bettina Heintz, geb. 1949 in Zürich. Studium der Soziologie und Sozialgeschichte in Zürich. 1981-1988 Redakteurin am Schweizer Radio DRS. Promotion 1991 in Zürich; Habilitation 1996 an der FU Berlin. 1997-2013 Professorin für Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie an den Universitäten Mainz und Bielefeld; seit 2013 Professorin für soziologische Theorie an der Universität Luzern. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, Weltgesellschaftstheorie, Soziologie des Vergleichs und der Quantifizierung. Ausgewählte Publikationen: Die Innenwelt der Mathematik. Zur Kultur und Praxis einer beweisenden Disziplin, Wien u.a. 2000; Emergenz und Reduktion. Neue Perspektiven auf das Mikro/Makro-Problem, KZfSS 56, 2004: 1-31. Weltgesellschaft. Theoretische Zugänge und empirische Problemlagen. Stuttgart: Lucius & Lucius 2005 (Hrsg. mit R. Münch & H. Tyrell); „Numerische Differenz". Überlegungen zu einer Soziologie des (quantitativen) Vergleichs, ZfS 39, 2010: 162-181.
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft, 2014, S. 251-270
Gleichzeitigkeit unter Abwesenden1 Zu Globalisierungseffekten elektrischer Telekommunikationstechnologien Simultaneity across Distance. On Globalization Effects of Telecommunication Technologies Tobias Werron Universität Luzern, Soziologisches Seminar, Frohburgstrasse 3, Postfach 4466, 6002 Luzern [email protected] Zusammenfassung: Der Beitrag analysiert Globalisierungseffekte elektrischer Telekommunikationstechnologien aus einer historisch-soziologischen Perspektive. Eine gemeinsame Eigenschaft aller Technologien dieses Typs — von der elektromagnetischen Télégraphié im mittleren 19. Jahrhundert bis zu den heutigen Digitaltechnologien — kann man darin sehen, dass sie zeitlich nicht oder kaum verzögerte Kommunikation auch unter Abwesenden ermöglichen (,enträumlichte Gleichzeitigkeit', John B. Thompson). Der Aufsatz schlägt vor, die hierin angelegten Globalisierungspotentiale im Licht der Unterscheidung Interaktion (Kommunikation unter Anwesenden) und Gesellschaft (Kommunikation auch unter Abwesenden) näher zu bestimmen. Zu diesem Zweck unterscheidet er zunächst vier Gleichzeitigkeitspotentiale von Telekommunikationstechnologien in der Kommunikation unter Abwesenden: (1) quasi-interaktive Fernkontakte (operative Dimension); (2) zeitnahe Zentralisierung von Daten (Zentralisierungsdimension); (3) gleichzeitige Verbreitung (Redundanzdimension); (4) unterstellte gleichzeitige Verbreitung (Unterstellungsdimension). Anschließend entwickelt er die These, dass Telekommunikationstechnologien diese unter Anwesenden relativ undifferenziert gegebenen Gleichzeitigkeitspotentiale unter Abwesenden voneinander zu trennen und neu miteinander zu kombinieren erlauben — und dadurch seit der Mitte des 19. Jahrhunderts neuartige Globalisierungsdynamiken in Gang setzen. Schiagworte: Globalisierung; Telekommunikationstechnologien; Mediensoziologie; Gleichzeitigkeit; Interaktion / Gesellschaft Summary: From a historical-sociological perspective, this contribution analyzes globalization effects of electric telecommunication technologies. A common characteristic of these technologies - ranging from the electromagnetic telegraph in the mid-19th century to today's digital technologies - is that they enable (virtually) simultaneous communication across spatial distance ("despatialized simultaneity," John B. Thompson). The contribution proposes to analyze the globalization effects of this kind of simultaneity in light of the distinction between interaction systems (face-to-face communication) and society (communication also among people not physically co-present). It distinguishes four dimensions of simultaneity across distance: (1) quasi-face-to-face interaction (operative dimension); (2) simultaneous centralization of data (centralization dimension); (3) actual simultaneous dissemination of data (redundancy dimension); (4) taken-forgranted simultaneous dissemination of data (institutionalization dimension). On this basis, the paper argues that telecommunication technologies, by separating and recombining these different dimensions of simultaneity, have enabled new kinds of globalization dynamics since the mid-19th century. Keywords: Globalization; Telecommunication Technologies; Media Sociology; Face-to-Face Interaction; Simultaneity
1.
Einleitung
Z u den Gemeinplätzen der neueren Globalisierungsdebatte gehört die A n n a h m e , dass Globalisierungsprozesse u n d Telekommunikationstechnologien u n 1
Ich danke Bettina Heintz und Hartmann Tyrell, zwei anonymen Gutachterinnen der Zeitschrift für Soziologie sowie Barbara Kuchler für hilfreiche Hinweise zu einer früheren Fassung dieses Aufsatzes.
trennbar z u s a m m e n h ä n g e n . Diese A n n a h m e hat Thesen von ganz unterschiedlicher sachlicher u n d historischer Reichweite inspiriert - von der These, dass die Regulierungskräfte von Nationalstaaten gegenüber einer computertechnologisch beschleunigten globalen Ö k o n o m i e ins Hintertreffen gerieten (Strange 1996), über die These, dass die Welt d u r c h Computertechnologien u n d weltweite Verkabelung insgesamt i m m e r .flacher' werde (Friedman 2005), bis hin zu zeitdiagnostischen U m b r u c h s t h e -
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sen, die mit digitalen Technologien den Ü b e r g a n g zu einer ,Netzwerkgesellschaft' (Castells 2001) oder zur ,nächsten Gesellschaft' (Baecker 2007) verbinden. Auch in stärker historisch orientierten Globalisierungstheorien spielt die Vorstellung, dass die Globalisierungsschübe der letzten Jahrzehnte oder J a h r h u n d e r t e entscheidend mit einer sich wandelnden technologischen K o m m u n i k a t i o n s i n f r a s t r u k tur zu t u n haben, eine zentrale Rolle (Robertson 1990; Holton 2005). Angesichts dieses bemerkenswert breiten Konsenses fällt jedoch u m s o m e h r auf, dass dieser historische Z u s a m m e n h a n g selbst noch k a u m im Detail analysiert worden ist u n d dass insbesondere die konzeptionellen Ressourcen der soziologischen Theorietradition noch k a u m zu seiner E r k l ä r u n g genutzt worden sind (für eine wichtige A u s n a h m e , auf die ich z u r ü c k k o m m e , vgl. KnorrCetina & Brügger 2002). Der vorliegende Aufsatz versucht, zur Schließung dieser Forschungslücke beizutragen, indem er zwei bislang separat betriebene theoretische Perspektiven auf die Mediengeschichte kombiniert u n d mit den Ergebnissen der neueren Globalisierungs- u n d Weltgesellschaftsliteratur in Kontakt bringt: (1) Die K o m m u n i k a t i o n s - u n d Differenzierungstheorie Niklas L u h m a n n s , hier insbesondere mit ihrer Unterscheidung zwischen Interaktion ( K o m m u n i kation unter Anwesenden) u n d Gesellschaft (Kommunikation auch unter Abwesenden). (2) Eine historisch orientierte R i c h t u n g der Medienforschung, die m a n - zur Abgrenzung von gängiger Medienwirkungsforschung - auch ,Mediumtheorie' nennen k a n n . Der Singular ,Medium' zeigt die Absicht an, Typen von Kommunikationstechnologien in Abgrenzung von anderen Typen u n d von face-to-face-Interaktion u n d zunächst unabhängig von bestimmten Kommunikationsinhalten formal zu bestimmen, u m ihre langfristigen sozialen Effekte genauer zu studieren (vgl. Meyrowitz 1997: 61). Die Kombination dieser Perspektiven im Licht neuerer Globalisierungsforschung soll hier zu einer historischen Soziologie der Globalisierung beitragen, deren empirischer Schwerpunkt auf einem im mittleren 19. J a h r h u n dert beginnenden u n d bis heute fortdauernden .langen 20. Jahrhundert' liegt (hierzu auch Heintz & Werron 2011; Werron 2012a, 2012b, 2012c; Bühler & Werron 2013; Koloma Beck & Werron 2013; Werron 2013). Ausgehend von diesem Forschungsinteresse konzentrieren sich die folgenden Überlegungen auf einen allgemeinen Typus elektrischer Telekommunikationstechnologien, der Technologien von der elektromag-
netischen Télégraphié im mittleren 19. J a h r h u n d e r t bis zu den heutigen Digitaltechnologien übergreift. 2 Ihr Ziel ist die Entwicklung einer historisch-soziologischen Forschungsperspektive auf Globalisierungseffekte dieser Technologien, basierend auf einer vergleichenden Analyse von Gleichzeitigkeitspotentialen in der K o m m u n i k a t i o n unter Anwesenden einerseits, unter Abwesenden andererseits. D a f ü r stelle ich (1) zunächst Niklas L u h m a n n s historische Thesen zur Differenzierung von Interaktion u n d Gesellschaft in der M o d e r n e sowie den diesbezüglichen Forschungsstand in der gesellschafts- u n d differenzierungstheoretisch inspirierten (Massen-) M e d i e n f o r s c h u n g k n a p p vor. D e r zweite Abschnitt (2) problematisiert diesen Forschungsstand im Licht neuerer Globalisierungs- u n d Weltgesellschaftsforschung, die auf ein dort bislang vernachlässigtes Potential dieser Technologien a u f m e r k s a m macht: ihr Potential, zeitlich nicht oder kaum verzögerte Kommunikation unter Abwesenden zu ermöglichen (.enträumlichte Gleichzeitigkeit', J o h n B. T h o m p son). Der folgende Abschnitt (3) vergleicht Gleichzeitigkeitsaspekte in der ,Nahsynchronisation' unter Anwesenden mit solchen in der ,Fernsynchronisation' unter Abwesenden u n d unterscheidet vier Gleichzeitigkeitsdimensionen unter Abwesenden: (a) Quasi-interaktive Fernkontakte (operative Dimension), (b) zeitnahe Zentralisierung von D a t e n (Zentralisierungsdimension), (c) faktische gleichzeitige Verbreitung (Redundanzdimension) u n d (d) unterstellte gleichzeitige Verbreitung (Unterstellungsdimension). (4) Der anschließende Abschnitt macht diese Analytik globalisierungstheoretisch fruchtbar. Er entwickelt die These, dass Telekommunikationstechnologien seit der M i t t e des 19. J a h r h u n d e r t s neuartige Globalisierungsdynamiken in G a n g setzen, indem sie es erlauben, diese unter Anwesenden relativ undifferenziert gegebenen Gleichzeitigkeitspotentiale in der K o m m u n i k a t i o n unter Abwesenden zu trennen u n d neu miteinander zu kombinieren. Der Schlussabschnitt (5) resümiert die A r g u m e n t e u n d kehrt zu diesem Zweck noch
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Von elektrischen, nicht elektronischen, Technologien ist hier die Rede, weil dies erlaubt, elektronische Technologien im engeren Sinne (Digitaltechnologien) und frühe elektrische Formen wie Télégraphié, Telefon und drahtlosen Rundfunk in einem Typus zusammenzufassen (hierzu näher Abschnitt 2). Zugleich grenzt der Begriff den Gegenstand .nach hinten' historisch ab, insbesondere von der optischen Télégraphié, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine gewisse militärische und ökonomische Bedeutung hatte (Flichy 1995; Wobring 2005).
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einmal zu Luhmanns historischen Thesen zur Interaktion / Gesellschaft-Beziehung zurück.
2. Interaktion/Gesellschaft und ,Massenmedien' in der soziologischen Differenzierungstheorie Niklas Luhmanns soziologische Systemtheorie kombiniert zweierlei Differenzierungstheorien' (Tyrell 2006): eine Theorie gesellschaftlicher Differenzierung und eine Theorie sozialer Differenzierung. Die Theorie gesellschaftlicher Differenzierung, die wohl prominentere von beiden, unterscheidet Differenzierungsformen von Gesellschaftssystemen wie segmentare, stratifikatorische und funktionale Differenzierung (Schimank 1996; Tyrell 1998). Weniger bekannt ist die Theorie sozialer Differenzierung, die die drei Systemebenen .Interaktion, Organisation, Gesellschaft unterscheidet, Gesellschaft als einen Typus sozialer Ordnungsbildung neben Interaktion und Organisation begreift und damit die Autonomie und Eigendynamik dieser Typen betont (Luhmann 1975b). Diese Theorie sozialer Differenzierung, und das macht sie für unsere medienhistorische Fragestellungen besonders interessant, will aber mehr sein als eine Typologie sozialer Ordnungsformen, nämlich eine gesellschaftstheoretische Alternative zu Mikro-/ Makro-Unterscheidungen (Luhmann 1987a), die auf langfristigen historischen Wandel in den Beziehungen zwischen diesen Typen aufmerksam machen soll. Hinsichtlich des Verhältnisses der Systemebenen Interaktion und Gesellschaft war Luhmanns historische Hauptthese, dass sich beide im Zuge der Entstehung der modernen (Welt-) Gesellschaft zunehmend auseinander entwickelten und füreinander unzugänglich würden. Diese These setzt zwei spezifische, kommunikationstheoretisch konzipierte Begriffe von Interaktion und Gesellschaft voraus: Einen Begriff von Interaktion als Kommunikationssystem unter Anwesenden (Luhmann 1975a; Kieserling 1999) sowie einen Begriff von Gesellschaft als umfassendem Kommunikationssystem, das „alles Soziale in sich einschließt und infolgedessen keine soziale Umwelt kennt" (Luhmann 1984: 555). Um Luhmanns historische These zum Wandel der Beziehungen zwischen beiden Systemtypen zu verstehen, empfiehlt es sich, zwei aufeinander aufbauende Argumente zu unterscheiden: (1) Ein universalhistorisches Argument: Um Dauer und Stabilität zu gewinnen, müssen gesellschaftliche (Erwartungs-) Strukturen einzelne Situationen
253 der Kommunikation unter Anwesenden überdauern können. Daher gingen und gehen auch Gesellschaftsordnungen, denen keine Kommunikationstechnologien zur Verfügung stehen, nicht in der Summe ihrer face-to-face-Situationen auf: Immer sind Kommunikationsformen (Sprache, Sinnschemata) erforderlich, die über Abwesendes und über Abwesende - wenn auch nicht mit diesen - zu kommunizieren erlauben. Umgekehrt sind Interaktionssysteme immer auch „Episoden des Gesellschaftsvollzugs" (Luhmann 1984: 553), die gesellschaftliches Leben vor Beginn und nach Ende jeder Interaktion voraussetzen. (2) Von diesen universalhistorischen Annahmen zu unterscheiden sind spezifische historische Argumente, die begründen sollen, dass es in einer langen historischen Entwicklung, insbesondere aber in der Moderne, zu einer Verschärfung der Trennung von Interaktion und Gesellschaft gekommen sei. Luhmann vermutet diesbezüglich, „daß als historisch diversifizierende, Einschnitte bildende Faktoren hauptsächlich die Entwicklung von interaktionsfrei benutzbaren Kommunikationstechniken (Schrift, Buchdruck) und die Änderung der Differenzierungsformen des Gesellschaftssystems in Betracht kommen" (Luhmann 1997: 819). Seine historische Spezifikation der Interaktion/Gesellschaft-Differenz stellt also erneut auf zwei Teilannahmen ab: auf den Einfluss von Kommunikationstechnologien (die er in medientheoretischen Zusammenhängen auch .Verbreitungsmedien' nennt, ich komme darauf zurück) und auf Folgen von Umstellungen der Differenzierungsform von Gesellschaftssystemen. Historisch konkretisiert haben Luhmann und andere Autoren diese Annahmen vor allem (a) an Schrift und Buchdruck, (b) an der historischen Ausdifferenzierung einzelner Funktionssysteme sowie (c) an einem - auf funktionale Differenzierung reagierenden - Plausibilitätswandel gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen in der Moderne. Die Bedeutung der Schrift für die Interaktion-Gesellschaft-Beziehung sieht Luhmann vor allem darin, dass sie ein Mittel zur Desynchronisation von Kommunikation - d.h. zur zeitlichen Entkopplung von Mitteilungs- und Verstehensakt - bietet (Luhmann 1997: 821-823). Sie vertieft damit die .natürliche' Distanz zwischen Interaktions- und Gesellschaftsebene, indem sie Kommunikation auch unter nicht zur selben Zeit am selben Ort befindlichen Kommunikationspartnern - füreinander Abwesenden - ermöglicht: „Dadurch wird, verglichen mit mündlicher, interaktions- und gedächtnisge-
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bundener Überlieferung, immens ausgeweitet und zugleich eingeschränkt, welche Kommunikation als Grundlage weiterer Kommunikation dienen kann" (Luhmann 1984: 221). Gleichwohl, und dies ist ein für den historischen Medienvergleich wichtiger Vorbehalt, setzt Luhmann die Bedeutung der Schrift als solcher mit Blick auf die Trennung von Interaktion und Gesellschaft eher niedrig an. Bis in die frühe Neuzeit sei Gesellschaft primär von der Interaktion her begriffen worden und der Bedarf für Schriftgebrauch gering geblieben, weshalb sich noch die frühe Neuzeit zu einem gewissen Grad plausibel als ,Anwesenheitsgesellschaft' beschreiben lässt (so Schlögl 2004). Erst infolge einer allmählichen Umstellung auf funktionale Differenzierung und der wachsenden Eigendynamik gesellschaftlicher Funktionssysteme wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, usf. habe die Gesellschaftsebene eine Dynamik und Komplexität hinzugewonnen, die es zunehmend ausschlossen, sie von der Interaktion her zu begreifen (vgl. Kieserling 1999: 391 ff.). Welche Rolle spielen .moderne' - auf die Schrift folgende - Kommunikationstechnologien beim Auseinandertreten von Interaktion und Gesellschaft? Erörtert worden ist diese Frage bisher vor allem am Buchdruck, und tatsächlich dürfte sich die These einer zunehmenden Differenzierung zwischen Kommunikation unter Anwesenden und Kommunikation (auch) unter Abwesenden kaum besser illustrieren lassen als an allein in Studierstuben und Bibliotheken sitzenden Autoren und Lesern, die einander auch ohne jede persönliche Begegnung - und gerade deshalb Zugang zu komplexesten Gedankenwelten verschaffen können (Luhmann 1997: 291 ff.; Bohn 1999; für eine neuere Spurensuche zur frühen Neuzeit Schlögl 2008:201 ff.). Untersuchungen zur Geschichte einzelner Funktionsbereiche haben diese These vielfach untermauert, namentlich am Weg der frühneuzeitlichen Wissenschaft von der Briefkultur der ,res publica literaria' zum heutigen disziplinär differenzierten wissenschaftlichen Zeitschriftenwesen (Stichweh 1984), sowie an der Ausdifferenzierung moderner Kunst auf Basis gedruckter Selbstbeschreibungen in Kunstkritik und ästhetischer Theorie (Luhmann 1986), oder an den auf Gesetzestexte, juristische Dogmatik und Fallkasuistik angewiesenen Konsistenzansprüchen des modernen Rechts (Luhmann 1993). Solche Analysen führen zu dem plausiblen Schluss, dass man sich heute weniger als je zuvor vorstellen kann, „daß das Gesellschaftssystem aus Interaktionen zusammengesetzt sei, und weniger als je zuvor sind Theorien adäquat, die Gesellschaft als .commerce', als Tausch, als
Tanz, als Vertrag, als Kette, als Theater, als Diskurs zu begreifen versuchen. Sowohl das Gesellschaftssystem als auch die Interaktionssysteme bleiben auf die Differenz von Gesellschaft und Interaktion angewiesen" (Luhmann 1984: 584). Angesichts dieser ausführlichen und weithin überzeugenden Auseinandersetzungen mit den langfristigen Folgen des Buchdrucks ist es umso auffälliger, dass elektrische Telekommunikationstechnologien (von der Télégraphié aufwärts) von Luhmann nur noch zur knappen Bestätigung dieser am Buchdruck gewonnenen Diagnose herangezogen wurden: „Daß ein interaktionsfreier Bereich gesellschaftlichen Handelns entstanden ist und mit den Techniken der Massenkommunikation dieses Jahrhunderts von der Schrift auch auf Ton und Bild übergreift, ändert daran nichts, sondern zieht das Prozessieren der Interaktionen und die gesellschaftliche Evolution nur noch weiter auseinander" (Luhmann 1984: 584). Wie sich dieses ,nur-noch-weiter-Auseinanderziehen' vollzogen hat, ist von Luhmann und anderen Autorinnen nicht mehr im Einzelnen erörtert worden. Für diese Forschungslücke scheint es mir zwei wesentliche Gründe zu geben. Der erste und wichtigere Grund ist wohl, dass sich differenzierungstheoretische Arbeiten zu elektrischen Medien im Anschluss an Luhmann weitgehend auf die Untersuchung eines eigenständigen Funktionssystems der ,Massenmedien' (Luhmann 1996a), der ,Publizistik' (Marcinkowski 1993), des Journalismus' (Blöbaum 1994) oder der Öffentlichkeit' (Gerhards & Neidhardt 1991; Görke 2003) konzentriert haben. Diese Untersuchungen sind in vielen Hinsichten fruchtbar gewesen. Sie sind jedoch stark von den Leitproblemen der Medien- und Kommunikationswissenschaften, insbesondere der NachrichtenwertForschung, geprägt, und daher dominiert in ihnen das Interesse an Selektivitäten und Einflussmöglichkeiten der journalistisch-professionellen Medienproduktion (deutlich ist diese Einschränkung seit Luhmann 1975c; für Differenzierungsvorschläge im Umgang mit ,den Massenmedien' vgl. aber Göbel 2006; Ziemann 2007). Eine Ausnahme bilden explizit spekulative Überlegungen zum Einfluss von Computer und Internet auf soziales Gedächtnis und Zeitstrukturen in der Moderne (Esposito 2002; Brosziewski 2003) sowie zu einer kommenden .Computergesellschaft' (Baecker 2007). Die Forschungslücke könnte - zweitens - aber auch damit zu tun haben, wie die Differenz von interaktiver und kommunikationstechnologisch vermittelter Kommunikation bei Luhmann konzipiert ist. Dies
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nachzuvollziehen hilft ein Blick auf das heuristische Verfahren, mit dem Luhmann Kommunikationstechnologien - unter dem Begriff der ,Verbreitungsmedien - in seine Medientheorie eingeordnet hat (vgl. vor allem Luhmann 1974, 1981). Er führt sie dort im Rahmen einer Dreier-Typologie von Kommunikationsmedien ein, die er an drei ,Unwahrscheinlichkeiten der Kommunikation entwickelt: Auf das Problem der Unwahrscheinlichkeit des Verstehens reagiere das Medium Sprache-, auf das Problem der Unwahrscheinlichkeit des Erfolgs (der Akzeptanz einer Sinnzumutung) reagierten symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien wie Wahrheit, Macht, Geld, Liebe oder Kunst; und auf das Problem der Unwahrscheinlichkeit des Erreichens reagierten Verbreitungsmedien wie Schrift, Buchdruck, Radio, Fernsehen usf. Im Rahmen dieser Typologie vermitteln Verbreitungsmedien gewissermaßen zwischen den beiden anderen Medientypen: Sie setzen die grundsätzliche Lösung des ,Verstehensproblems' durch Sprache voraus und verschärfen zugleich das .Erfolgsproblem', indem sie den Adressatenkreis für verständliche Kommunikation auf Abwesende ausweiten. Das Bezugsproblem von Verbreitungsmedien sieht Luhmann dementsprechend darin, das faktische Erreichen räumlich oder zeitlich distanzierter Kommunikationspartner (.Abwesender') sicherzustellen. Diese Einordnung stützt sich auf eine Kontrastierung von Kommunikation unter Anwesenden und Kommunikation unter Abwesenden, die voraussetzt, dass in Interaktionssystemen durch reflexive Wahrnehmung „in praktisch ausreichendem Maße Aufmerksamkeit für Kommunikation garantiert [ist]", während unter Abwesenden gilt: „in anderen Situationen haben die Leute etwas anderes zu tun" (Luhmann 1981: 26). Danach sind Verbreitungsmedien auf ein grundlegendes Bezugsproblem der .Erreichbarkeit' ausgerichtet, das sich nur außerhalb von Interaktionssystemen stellt. Dass in Interaktionssystemen Aufmerksamkeit in praktisch ausreichendem Maße garantiert' ist, ist jedoch eine voraussetzungsvolle Annahme, insbesondere im Fall größerer Interaktionssysteme, die auf gleichzeitige Inklusion zahlreicher Teilnehmer angewiesen sind - man denke an große Versammlungen wie einen Parteitag. Hier kann man schon fraglich finden, ob reflexive Wahrnehmung an sich praktisch ausreichende' Aufmerksamkeit garantiert (ζ. B. wegen Lärm, Ablenkung durch Nebenleute, Verstrickung in Seitengespräche usw.). Vor allem aber verfügen Interaktionssysteme auch über Verfahren, Aufmerksamkeitsmängel zu verkraften und zu überspielen, Aufmerksamkeit also weniger zu ga-
rantieren als partiell entbehrlich zu machen. Diesen Einwand formuliert Luhmann implizit selbst, wenn er Interaktionssystemen zuschreibt, sich nicht nur auf faktische reflexive Wahrnehmung, sondern auf die Unterstellung der Wahrnehmbarkeit alles Interaktionsgeschehens zu stützen (ζ. B. Luhmann 1997: 814). Umgekehrt könnten an den Technologien, die Luhmann Verbreitungsmedien nennt, nicht nur ihre Verbreitungspotentiale, sondern, wie hier gezeigt werden soll, auch ihre Gleichzeitigkeitspotentiale von Interesse sein. Diese Problemhinweise sprechen für eine soziologische Perspektive auf die Geschichte der Telekommunikationstechnologien, die an differenzierungstheoretischen Denkfiguren festhält, ohne das Forschungsinteresse auf ein Funktionssystem der Massenmedien, Publizistik, des Journalismus usf. zu beschränken und ohne diese Technologien auf ihre Verbreitungsfunktionen zu reduzieren. Dass ein solcher Ansatz fruchtbar sein könnte, ist bisher vor allem in Andreas Ziemanns Analysen zum Verhältnis von ,Medienkultur und Gesellschaftsstruktur' (2011) sowie in Urs Stähelis Arbeiten zum .Populären' angedeutet worden (Stäheli 2004a, 2007). In seinen Studien zum Populären greift Stäheli gelegentlich auch die Interaktion/Gesellschaft-Unterscheidung auf, insbesondere wenn er die Interaktion als eine Art operativer Basis der ,Masse' und als Gegenbild gesellschaftlicher Imaginationen des .Publikums' beschreibt: „Könnte es sein, daß die Masse nicht zuletzt deshalb so bedrohlich wirkt, weil sie Gesellschaft zu einem buchstäblich massiven Interaktionsereignis verdichtet und inszeniert?" (Stäheli 2004a: 179, Fn. 24) Von solchen vereinzelten Hinweisen abgesehen spielt die Unterscheidung Interaktion/Gesellschaft in der differenzierungstheoretischen Forschung zu elektrischen Verbreitungsmedien jedoch bislang keine prominente Rolle; insbesondere ist sie noch nicht genutzt worden, um Globalisierungseffekte dieser Technologien zu erklären.
3.
Telekommunikationstechnologien im Licht neuerer Globalisierungs- und Weltgesellschaftsforschung
Der Verdacht, dass dieser Forschungsstand der gesellschaftstheoretischen Relevanz von Telekommunikationstechnologien noch nicht gerecht wird, verstärkt sich bei der Lektüre neuerer Globalisierungs- und Weltgesellschaftsliteratur. Drei Problemverschiebungen und Denkbewegungen scheinen mir hier von besonderem Interesse zu sein:
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(1) Umstellungs- vs. Expansionsprobleme: Soweit sie sich mit historischen Fragen befasst hat, steht die gesellschaftstheoretisch inspirierte Medienforschung im Bann eines Forschungsinteresses, das man als Interesse an ,Umstellungsproblemen' überschreiben kann. Seine Leitfragen sind: Wie vollzieht sich die Umstellung von der stratifikatorisch differenzierten frühmodernen zur funktional differenzierten modernen Gesellschaftsordnung? Welche Kommunikationscodes, Programme, Eigenwerte und Rollen bilden einzelne Funktionssysteme, darunter ,die Massenmedien', im Zuge dieser Umstellung aus? Wie grenzen sich eigenständige Funktionsbereiche aus, wie stabilisieren sie sich historisch, welche Umweltbeziehungen (.strukturelle Kopplungen') nehmen sie auf? Solche Fragen bewegen sich innerhalb eines europäisch-atlantischen oder in seinen räumlichen Grenzen nicht näher problematisierten Forschungskontextes, der gut an die traditionelle kommunikationswissenschaftliche Nachrichtenwertforschung sowie an gesellschaftskritische Analysen der .Kulturindustrie' anschließen kann, weniger gut jedoch an die neuere Globalisierungs- und Weltgesellschaftsliteratur. Berücksichtigt man dagegen die Ergebnisse der Letzteren, so rückt ein anderer Typ von Fragen in den Vordergrund, die auf,Expansionsprobleme' gerichtet sind (vgl. Werron 2012a): Wie weiten sich .moderne' Strukturen seit dem 19. Jahrhundert zu .globalen' Strukturen aus? Wie plausibel ist es überhaupt, Globalisierung primär als einen Prozess der Ausweitung oder Ausbreitung in Europa und Nordamerika entstandener Strukturen zu begreifen? Wie verhalten sich globale und lokale Strukturen zueinander? Unter welchen Voraussetzungen kann man von einer .Weltgesellschaft' sprechen, die lokale Strukturen gleichsam von oben prägen und beeinflussen kann? Müssten die ,Ausdifferenzierungsgeschichten' von Funktionssystemen möglicherweise neu geschrieben werden, wenn man die globalen Vernetzungs- und Beobachtungsbedingungen genauer berücksichtigt, unter denen sie entstanden sind und sich verbreitet haben? Könnten solche Untersuchungen vielleicht sogar Anlass geben, das Bild .der Moderne', mit dem man solche Untersuchungen beginnt (und in Ermanglung von Alternativen wohl beginnen muss), insgesamt zu modifizieren? (2) ,Globale Gleichzeitigkeiten seit Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts·. Im Licht dieser Fragen fallen bei der Lektüre neuerer Globalisierungsforschung und Globalgeschichtsschreibung wiederholte Hinweise auf ein in der Mitte des 19. Jahrhundert beginnendes
.langes 20. Jahrhundert' auf, für dessen Analyse Telekommunikationstechnologien ähnlich konstitutiv zu sein scheinen wie es der Buchdruck für klassische Aufklärungs- und Modernisierungsnarrative war (Robertson 1990; Geyer & Bright 1995; Holton 2005). Die Etablierung der entsprechenden technologischen Infrastruktur ist von den kanadischen Medienhistorikern Dwayne Winseck und Robert Pike vor einigen Jahren sorgfaltig rekonstruiert worden (Winseck & Pike 2007). Winseck und Pike sprechen von einem .global media system', das sich zwischen etwa 1850 und 1920 stabilisierte — anfangs vor allem bestehend aus Telegraphennetz, Nachrichtenagenturen und internationalen Organisationen zur Regulierung des Post- und Telegraphenverkehrs - und das im 20. Jahrhundert durch weitere Technologien, vom drahtlosen Rundfunk bis zu digitalen Computertechnologien und Mobiltelefonie, erweitert und konsolidiert wurde. Diese globale medientechnologische Infrastruktur war mit einer Reihe qualitativ neuartiger Globalisierungsdynamiken verbunden, die sich bis in die Mitte des 19. Jahrhundert zurückverfolgen lassen. Ihre neue Qualität bestand vor allem darin, dass sich nun neben globaler Diffusion von Gütern, Personen und Ideen, wie sie schon seit Jahrtausenden üblich war, die Möglichkeiten gleichzeitiger bzw. quasi-gleichzeitiger globaler Beobachtung vermehrten. Das konnte .friedliche' ebenso wie ,konfliktive' Folgen haben, sich ζ. B. in Gründungen internationaler Organisationen auswirken, aber auch in Rüstungswettläufen und Kriegen; in imperialen und zivilisationsmissionarischen Expansionsbemühungen, aber auch in anti-kolonialen und anti-imperialen Abwehrbewegungen; in intensiviertem ökonomischen Austausch und in der Verbreitung liberalen Freihandelsdenkens, aber auch in der Verbreitung von nationalistischem Protektionismus und ökonomischen Autarkiebestrebungen (exemplarisch Murphy 1994; Bayly 2004; Manela 2007; Hill 2008; Osterhammel 2009; Headrick 2010). Diese knappe Aufzählung genügt bereits, um zu sehen, dass sich dieses seit Mitte des 19. Jahrhunderts formierende .globale Mediensystem' nicht auf ein Funktionssystem der Massenmedien reduzieren lässt, sondern auch als technologische und soziokulturelle Infrastruktur von Globalisierungsdynamiken politischer, ökonomischer, religiöser, künstlerischer und sonstiger Art ernst genommen und untersucht werden will. (3) ,Enträumlichte Gleichzeitigkeit': Wie lässt sich die Neuartigkeit dieser Globalisierungsdynamiken theoretisch fassen? Als konsensfahig kann zunächst
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Tobias Werron: Gleichzeitigkeit unter Abwesenden gelten, dass Telekommunikationstechnologien das Tempo lies Kommunikationsverkehrs vom Tempo des Güter- und Personenverkehrs entkoppelt haben. Informationen konnten bis ins 19. Jahrhundert immer nur so schnell reisen wie die Gegenstände, auf denen sie aufgezeichnet waren (Bücher, Journale) bzw. so schnell wie die Menschen, Tiere und Transportmittel, die sie von einem Ort zum anderen brachten (Boten, Pferde, Postkutschen). D a s änderte sich ansatzweise mit der optischen Télégraphié im frühen 19. Jahrhundert, nachhaltig und strukturprägend jedoch mit dem Ausbau des elektromagnetischen Telegraphennetzes seit den 1840er Jahren. Der Globalhistoriker Roland Wenzlhuemer hat diese Abkopplung des Kommunikations- vom Verkehrstempo treffend als ,Dematerialisierung der K o m m u nikation' charakterisiert und z . B . an neuen Möglichkeiten zur Koordination des Fernhandels oder am Zusammenwirken von Eisenbahn- und Telegraphienetz veranschaulicht (vgl. Wenzlhuemer 2010; auch Carey 1989). Zugleich kritisiert Wenzlhuemer viel zitierte Formeln wie .Zerstörung von R a u m und Zeit' zu Recht dafür, dass sie nicht berücksichtigen, dass die Entkopplung von Kommunikationstempo und Verkehrstempo gerade zu einer Aufwertung des Faktors Zeit sowie zu Neukonfigurationen des R a u m s geführt hat (Wenzlhuemer 2013: 30 ff.). Z u den Konsequenzen dieser ,Dematerialisierung der Kommunikation' sind im Zusammenhang mit der neueren Globalisierungsdebatte eine Reihe anregender Thesen vorgetragen worden, mit deren Hilfe sich die Frage nach den langfristigen Globalisierungseffekten von Telekommunikationstechnologien schrittweise präzisieren lässt: Eine erste interessante Analyse stammt von dem Philosophen Hermann Lübbe: Er beschreibt Telekommunikationstechnologien als maßgebliche Kraft der Entwicklung hin zu einer ,Welteinheitszivilisation' seit dem 19. Jahrhundert, wobei er die entscheidende Zäsur in der Ablösung der .Informationsnetze' von den , Verkehrsnetzen im mittleren 19. Jahrhundert sieht (Lübbe 1996, 2005). Anthony Giddens (1990) betont dagegen die Herauslösung moderner Strukturen aus lokalen Zusammenhängen, die er als ,disembedding' (Entbettung) und ,time-space distanciation' bezeichnet (abstrakte und standardisierte Begriffe von R a u m und Zeit, verbunden mit der Lösung von Raum/space und Ort/locale), und weist an anderer Stelle auch auf einen - von ihm selbst dann jedoch nicht näher analysierten - Zusammenhang dieser Trends mit den ,dematerialisierenden' Effekten von Telekommunikationstechnologien hin (Giddens
1991: 26). Rudolf Stichweh bezeichnet die Herauslösung globaler Strukturen aus lokalen Bezügen gleichsinnig mit Anthony Giddens' ,disembedding' als ,Dekontextualisierung', macht ebenfalls auf die Abkopplung des Kommunikations- vom Verkehrstempo im mittleren 19. Jahrhundert aufmerksam, 3 und folgert daraus, dass Telekommunikationstechnologien neben funktionaler Differenzierung und formalen Organisationen zu den zentralen Innovationen der Weltgesellschafi gehörten, deren Geschichte erzählen müsse, wer eine Theorie der Weltgesellschaft schreiben wolle (Stichweh 2 0 0 0 ; zu weiteren Kandidaten für .globale Strukturmuster' vgl. Stichweh 2008b). Schließlich ist der Mediensoziologe John B. Thompson zu nennen, der die grundlegenden Effekte von Telekommunikationstechnologien auf die prägnante Formel ,enträumlichte Gleichzeitigkeit' (,despatialized simultaneity') gebracht hat (Thompson 1995: 33). Thompsons Formulierung ist hier von besonderem Interesse, weil sie nicht nur die Entkopplung von Kommunikations- und Verkehrstempo betont, die sie voraussetzt (bei Thompson ,uncoupling of time and space'), aber auch nicht sogleich langfristige gesellschaftliche Effekte unterstellt (wie ,disembedding' oder ,Dekontextualisierung'), sondern auf einen vermittelnden Effekt abzielt: auf neuartige Gleichzeitigkeitserfahrungen unter Abwesenden. D a s verweist auf die globalisierungstheoretische Relevanz der Unterscheidung Kommunikation unter Anwesenden vs. Kommunikation auch unter Abwesenden und stellt damit eine interessante Verbindung zur oben erörterten Unterscheidung Interaktion vs. Gesellschaft her. Dass Gleichzeitigkeitserfahrungen unter Abwesenden vor der Einführung von Telekommunikationstechnologien gänzlich ausgeschlossen waren, mag man zwar bezweifeln. 4 Die oben zitierten Erträge der Globalisierungs- und Weltgesellschaftsforschung sprechen aber dafür, dass Telekommunikationstechnologien neue Gleichzeitigkeitspotentiale für die Kommunikation unter Abwesenden erschlossen haben. U m die dadurch ermöglichten Globalisierungsdynamiken in den Blick zu nehmen, möchte ich die Interaktion / Gesellschaft-Unterschei-
Im Zusammenhang mit einer Erläuterung des Begriffs ,Weltkommunikation' interessant Stichweh 2005. 4 Benedict Andersons Untersuchungen der Entstehungsgeschichte des Nationalismus im späten 18. / frühen 19. Jahrhundert deuten beispielsweise darauf hin, dass Gleichzeitigkeitserfahrungen überlokalen Typs bereits von Buchdruck und Zeitschriftenpresse vermittelt werden konnten (Anderson 2006: 22fF.). 3
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dung im Folgenden heuristisch fruchtbar machen. Zu diesem Zweck unterscheide ich zunächst an der .Nahsynchronisation' in Interaktionssystemen unterschiedliche Dimensionen der Gleichzeitigkeit, die ich anschließend nutze, um auch die von Telekommunikationstechnologien erschlossenen Gleichzeitigkeitspotentiale in der,Fernsynchronisation' unter Abwesenden genauer zu analysieren und eine historische Forschungsperspektive auf langfristige Effekte dieser Technologien zu entwickeln. 5
4. Gleichzeitigkeitspotentiale von Tele-Kommunikationstechnologien 4.1
Nahsynchronisation: Cleichzeitigkeitsaspekte in der Kommunikation unter Anwesenden
Wie von Erving Goffman, Niklas Luhmann und anderen vielfach beschrieben, setzt die Bildung von Interaktionssystemen Kopräsenz voraus, d.h. gleichzeitige Anwesenheit mehrerer Kommunikationsteilnehmer. N u r wenn sich Kommunikationsteilnehmer zur selben Zeit am selben O r t befinden, können sie sich gegenseitig in einer gemeinsamen Umwelt
5 Die Begriffe N a h - u n d Fernsynchronisation sind hier in einem räumlich-zeitlichen Sinne zu verstehen, analog zu einer Variante der Unterscheidung Sozialintegration vs. Systemintegration, wie sie A n t h o n y Giddens vorgeschlagen hat: Sozialintegration bezieht sich bei Giddens auf „Reziprozität von Praktiken zwischen Akteuren in Situationen von Kopräsenz", Systemintegration auf „Reziprozität zwischen Akteuren oder Kollektiven über weite Spannen von R a u m u n d Zeit jenseits von Situationen der Kopräsenz" (Giddens 1995: 431 f.; ähnlich, hier unter den Begriffen direkte vs. indirekte soziale Beziehungen, C a l h o u n 1992). Bei L u h m a n n k o m m e n die Begriffe N a h u n d Fernsynchronisation ebenfalls vor, sie haben bei ihm jedoch einen ausschließlich temporalen Sinn: .Synchronisation bezieht sich bei L u h m a n n auf das zeitliche Problem, wie ein Bewusstseinssystem (psychisches System) Vergangenheit u n d Z u k u n f t in der .specious presence' der W a h r n e h m u n g unterscheidet (,Nahsynchronisation') u n d auf weiter ausgreifende Vergangenheits- u n d Z u k u n f t s horizonte ausweitet (,Fernsynchronisation'), indem es das, was zeitlich .abwesend' ist, weil es in Vergangenheit oder Z u k u n f t liegt, durch Vorstellungs- u n d Sinnleistungen gegenwärtig verfügbar macht ( L u h m a n n 2005: 110). Diese Unterscheidung lässt sich auf soziale Systeme nicht direkt übertragen u n d passt auch nicht auf die hier aufgegriffene räumlich-zeitliche Fragestellung. Bei L u h m a n n leistet sie d a f ü r einen Beitrag zu seiner Theorie des Gedächtnisses; zu dieser ausführlicher L u h m a n n 1996b.
wahrnehmen (reflexive Wahrnehmung) und kann eine selbstreferentielle Abfolge von Kommunikationsbeiträgen einsetzen, die ein für alle aktuelles Thema bestimmen, zwischen anwesend und abwesend unterscheiden usf. (im Einzelnen Luhmann 1975a; Kieserling 1999). Endet die Kopräsenz, endet auch das Interaktionssystem. Diese Gleichzeitigkeitqua-Gleichräumlichkeit soll hier zu heuristischen Zwecken - um einen auf .Gleichzeitigkeiten' bezogenen Vergleich zwischen der Kommunikation unter Anwesenden und der Kommunikation unter Abwesenden vorzubereiten - in vier Teilaspekte zerlegt werden, von denen zwei sich primär auf die zeitliche Ordnung des Interaktionsprozesses selbst beziehen, die beiden anderen auf Fragen der Verbreitung (Redundanz) der dabei erzeugten Informationen. (1) Operative Dimension: Der erste Aspekt betrifft das sequentielle Tempo von Interaktionsprozessen, ihr „hohes Tempo des Prozessierens" und die damit verbundene „annähernde Gleichzeitigkeit" des ,turn-taking' in der Interaktion (Luhmann 1984: 561). Gleichzeitigkeit in diesem Sinne meint Kürze der zwischen einzelnen Kommunikationsakten verstreichenden Zeit, insbesondere Nichtüblichkeit längerer Pausen, die zur Folge hätten, dass die Interaktionssituation abbricht bzw. eine neue Situation (ein neues Interaktionssystem) beginnen müsste. Diese temporal-operative Eigenschaft der Interaktion fällt vor allem im Kontrast mit schriftlicher und gedruckter Kommunikation auf, die u. U. jahrhundertelange Pausen zulässt. Da sie sich auf das Tempo der Verkettung einzelner kommunikativer Operationen bezieht, soll sie hier operative Dimension genannt werden. (2) Zentralisierungsdimension: Zweitens Gleichzeitigkeit in dem Sinne, dass die Interaktionsteilnehmer in einem gleichzeitig-gemeinsamen Wahrnehmungsfeld agieren. Fehlt es daran, etwa weil die Aufmerksamkeit der Teilnehmer auf Unterschiedliches gerichtet ist, kann trotz körperlicher Kopräsenz kein Kommunikationssystem unter Anwesenden in Gang kommen (hierzu näher Heintz, in diesem Band). Unter dem Gesichtspunkt der Gleichzeitigkeit interessiert an dieser Dimension, dass sie ein gemeinsames Wahrnehmungszentrum konstituiert, das es allen Interaktionsteilnehmern erlaubt, sich auf eine gleichzeitig-gemeinsam erfahrbare Umwelt und auf ein gleichzeitig-gemeinsames Thema zu beziehen. Sie soll hier Zentralisierungsdimension genannt werden. Operative Dimension und Zentralisierungsdimension erläutern Aspekte der Zeitlichkeit des Interaktionsprozesses selbst. Daneben lassen sich aber auch
Tobias Werron: Gleichzeitigkeit unter Abwesenden
die Voraussetzungen der gleichzeitigen
Redundanz
(oder Verbreitung) der in diesem Prozess mitgeteilten Informationen genauer studieren. Fokussiert man auf diese Aspekte der Kommunikation unter Anwesenden, fällt ein M e r k m a l von Interaktionssystemen auf, das André Kieserling unter dem Titel u n d i f f e -
renzierte Öffentlichkeit behandelt: In der Interaktion „gibt es keine Geheimnisse" (Kieserling 1999: 48), d. h. was immer signalisiert oder gesagt wird, ist al-
len sofort zugänglich. .Undifferenziert' ist die Interaktionsöffentlichkeit, weil jedes Interaktionssystem nur über eine, in sich nicht weiter difFerenzierbare Öffentlichkeit verfügt. An dieser undifferenzierten Interaktionsöffentlichkeit lassen sich zwei weitere Gleichzeitigkeitsaspekte in der Kommunikation unter Anwesenden unterscheiden: (3) Redundanzdimension: Die Interaktionsöffent-
lichkeit ermöglicht faktische gleichzeitige
Redundanz
aller Beiträge, da unter Anwesenden alles, was signalisiert oder gesagt wird, allen sofort zugänglich ist, d . h . sofort gehört oder gesehen werden kann und daher in der Regel sogleich allen Anwesenden bekannt ist. Das eröffnet Anschluss- und Kontaktmöglichkeiten auch für passive Teilnehmer der Interaktion, die auf früher Gesagtes später zurückkommen können, und es ermöglicht die Etablierung eines für alle verbindlichen gleichzeitig-gemeinsamen Themas (das ich oben unter dem Titel Zentralisierungsdimension berührt habe); denn nur wenn alles Gezeigte / Gesagte tatsächlich allen gleichzeitig zugänglich ist, kann sich ein gleichzeitig-gemeinsames Thema herausbilden, an dem sich alle gleichzeitig orientieren können. Diese Gleichzeitigkeitsdimension in der Interaktion sei hier Redundanzdimension genannt. (4) Unterstellungsdimension: Die Interaktionsöffentlichkeit ermöglicht und plausibilisiert schließ-
lich auch die Unterstellbarkeit der gleichzeitigen Redundanz aller Beiträge. .Unterstellung' verweist auf eine Art mitlaufende Arbeitshypothese gleichzeitiger Informiertheit, ein fiktives Moment der Interaktionsöffentlichkeit, das es erlaubt, auch gelegentlich Unaufmerksame oder Vergessliche als informiert zu behandeln, so dass die Interaktionssituation nicht ständig durch .Aufmerksamkeitsversicherungsbeiträge' gestört werden muss. Da es hier weniger auf realistische Einschätzung denn auf erfolgreiche Uberschätzung' der Aufmerksamkeit anderer ankommt, könnte man auch von einer Institutionalisierungsdimension der Interaktion sprechen (in Anlehnung an L u h m a n n 1987b: 71). Sie soll hier Unterstellungsdimension genannt werden.
259 Redundanz- und Unterstellungsdimension sind analytisch gut unterscheidbar, gehören empirisch aber untrennbar zusammen, da die Unterstellung gleichzeitiger Redundanz auf Dauer nur plausibel bleiben wird, wenn sie sich auf faktische Redundanz abstützen kann, d . h . wenn Interaktionsteilnehmer tatsächlich gehört und gesehen haben, was gesagt worden ist, und auf eine dies bestätigende oder implizierende Weise reagieren. Solange die faktische Redundanz nicht in Frage steht, gilt jedoch die Unterstellung, dass alles Gesagte von allen Anwesenden wahrgenommen und verstanden worden ist - und zwar auch dann, wenn dies de facto nur eingeschränkt der Fall ist. Die empirische Undifferenziertheit (bei analytischer Unterscheidbarkeit) zeichnet letztlich das Verhältnis aller dieser Gleichzeitigkeitsdimensionen in der Kommunikation unter Anwesenden aus: Alle vier Dimensionen müssen mit jedem Interaktionsbeitrag vorausgesetzt und regeneriert werden, damit die Interaktion stabilisiert und fortgesetzt werden kann. Danach ergibt sich folgende Übersicht von Gleichzeitigkeitsdimensionen, die in der Kommunikation unter Anwesenden stets, aber relativ undifferenziert gegeben sind: 6 Fig. 1: Gleichzeitigkeitspotentiale in Interaktionssystemen Operative Dimension „Annähernde Gleichzeitigkeit" aneinander anschließender Beiträge
Zentralisierungsdimension Gemeinsam-gleichzeitiges Wahrnehmungszentrum u. Interaktionsthema
Redundanzdimension Gleichzeitige Wahrnehmbarkeit jedes Interaktionsbeitrags
Unterstellungsdimension Unterstellung gleichzeitiger Wahrnehmbarkeit jedes Interaktionsbeitrags
4.2 Fernsynchronisation: Gleichzeitigkeitspotentiale von Telekommunikationstechnologien in der Kommunikation unter Abwesenden Diese Analytik soll nun genutzt werden, u m auch an sozialen Prozessen, in denen Kopräsenz als Garant von Gleichzeitigkeit fehlt, verschiedene Gleichzeitigkeitsdimensionen zu unterscheiden und die Rolle von Telekommunikationstechnologien bei der Herstellung von ,Fernsynchronisation' unter Abwesenden in ihrem Licht genauer zu bestimmen. Ich gehe zunächst auf zwei häufig untersuchte Gleichzeitigkeitspotentiale kurz ein, die sich auf die oben sogenannte 6
Diese tabellarische Darstellung dient hier allein der Übersichtlichkeit des Arguments; sie erhebt nicht den A n s p r u c h einer systematisch vollständigen .Kreuztabelle'.
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Kontakt- und Redundanzdimension beziehen, dann ausführlicher auf zwei seltener beschriebene, aber für die Analyse von GlobalisierungsefFekten besonders bedeutsame Potentiale, die sich auf Zentralisierungsund Unterstellungsdimension beziehen. (1) Quasi-interaktive Fernkontakte (operative Dimension): Auch unter Abwesenden kann Gleichzeitigkeit ein Aspekt der .nahezu gleichzeitigen' (Luhmann) operativen Verkettung einzelner Beiträge zum Kommunikationsprozess sein, also dessen, was ich oben mit Bezug auf Interaktionssysteme operative Dimension genannt hatte. Technologien wie Telefonie oder Videotelefonie gewährleisten dies, indem sie die .response presence' unter Abwesenden durch audiovisuelle Kontakte teilweise substituieren. Auf dieser Grundlage lässt sich die spezifische Temporalität von Interaktionsprozessen - das unmittelbare Anschließen einer Mitteilung an die andere, die Unüblichkeit längerer Pausen - unter Abwesenden nachbilden. Mit weiteren Einschränkungen kann man Gleichzeitigkeit in diesem Sinn auch an ,chats' und ähnlichen Kommunikationsformen in den sog. Social Media beobachten. Freilich bleiben wichtige Unterschiede zur .echten' Kommunikation unter Anwesenden, die mit dem Fehlen eines unmittelbaren audiovisuellen Wahrnehmungszentrums zu tun haben (hierzu ausführlich Heintz, in diesem Band), und damit, dass technische Restriktionen das Ausmaß der Interaktionskontrolle stark limitieren können, auch weil sie erlauben, sich auf angebliche Restriktionen und Defekte zu berufen. Man ist wohl auf der sicheren Seite, wenn man sagt, dass Telekommunikationstechnologien quasi-interaktive Fernkontakte ermöglichen können. (2) Gleichzeitige Verbreitung unter Abwesenden (Redundanzdimension): Ein zweites häufig beschriebenes Gleichzeitigkeitspotential von Telekommunikationstechnologien liegt darin, dass sie das gleichzeitige Erreichen eines abwesenden Empfängerkreises, also Redundanz der mitgeteilten Informationen bei diesem Empfängerkreis, ermöglichen können. Diese Leistung ist bislang vor allem an klassischen Massenmedien (Zeitungen, Radio, Fernsehen) untersucht worden, in der Medienwirkungsforschung häufig verbunden mit einem Interesse am Zusammenspiel von Medienberichterstattung und nichtöffentlichen Formen der Anschlusskommunikation (.two-step theory'). Eine globalisierungstheoretisch interessante Dynamik dieser Art hat Rudolf Stichweh (2008a) als .Medienereignis' analysiert: den Fall, dass eine Veröffentlichung - z. B. die sog. Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung Jylland-Posten 2005 — in anderen
Massenmedien aufgegriffen wird und eine Art öffentliche Ansteckungsdynamik von Zeitung zu Zeitung, Internetseite zu Internetseite auslöst. Ähnliche Fälle sind in letzter Zeit immer wieder zu beobachten, etwa wenn ein Youtube-Video über die Zahl der Clicks eine gewisse Prominenzschwelle überschreitet und dann auch in anderen, .klassischen' Massenmedien gehäuft vorkommt (Bsp. .Kony 2012'). Beschleunigte Verbreitungseffekte dieser Art lassen sich aber auch an alltäglicheren Phänomenen wie wissenschaftlichen Zitationsketten,,viral marketing' oder zirkulären Beziehungen zwischen politischen Wahlkampagnen, lokalen Meinungsbildungsprozessen und Meinungsumfragen beobachten. Zwei weitere Gleichzeitigkeitspotentiale von Telekommunikationstechnologien betreffen Motive, wie ich sie oben an der Kommunikation unter Anwesenden unter den Begriffen Zentralisierungsdimension und Unterstellungsdimension angedeutet hatte. Da sie in der Literatur seltener beachtet worden sind, sollen sie hier etwas ausführlicher rekonstruiert werden. (3) Zeitnahe Zentralisierung von Daten (Zentralisierungsdimension): Telekommunikationstechnologien können dafür sorgen, dass Kommunikationsteilnehmer trotz räumlicher Trennung sich auf ein gleichzeitig-gemeinsames Thema sowie auf eine gleichzeitig-gemeinsam erfahrbare Umwelt beziehen können. Das Gleichzeitigkeitspotential von Telekommunikationstechnologien beruht hier nicht auf der temporalen Ordnung der Kommunikationsanschlüsse (operative Dimension) oder der gleichzeitigen Verbreitung von Informationen an zahlreiche Kommunikationsteilnehmerinnen (Redundanzdimension), sondern auf der Synchronisation wechselseitiger Beobachtung. Was unter Anwesenden durch Kopräsenz und gleichzeitig-gemeinsame Wahrnehmung garantiert wird, setzt unter Abwesenden technologische Kapazitäten voraus, die räumlich getrennt anfallende Mitteilungen in Kommunikationsknoten zeitnah zu sammeln und auszuwerten erlauben, kurz: sie synchronisierend zentralisieren? Einen ähnlichen Gedanken berührt Bruno Latour mit seinem Begriff .Center of calculation': „Jeder Ort, an dem Inskriptionen kombiniert werden und eine Form von Berechnung ermöglichen. Es kann sich um ein Laboratorium handeln oder um eine statistische Einrichtung, um die Dateien eines Geographen oder eine Datenbank usf." (Latour 2000: 379). Die hier unter .Zentralisierungsdimension' versammelten Motive kombinieren solche wissenschafts- und technologiesoziologischen Denkfiguren mit einem kommunikationstheoretisch geführten Interesse an sozialen Praktiken des Vergleichens. 7
Tobias Werron: Gleichzeitigkeit unter Abwesenden
Die technologischen und soziokulturellen Voraussetzungen dieses Gleichzeitigkeitspotentials seien an den Arbeiten Karin Knorr Cetinas und Urs Brüggers erläutert, denen wir die bisher wohl genaueste Beschreibung der Temporalisierungseffekte von Telekommunikationstechnologien verdanken. Knorr Cetina und Brügger analysieren die von Finanzdienstleistungsunternehmen wie Thomson Reuters betriebenen elektronischen Informationssysteme globaler Währungsmärkte (.Electronic Broker Systems', EBS), die Kommunikation unter Händlern in Finanzzentren wie Zürich, London, Frankfurt, Tokio oder New York praktisch ohne Zeitverlust erlauben (Knorr-Cetina & Brügger 2002; Knorr Cetina 2007). Dabei unterscheiden sie zwei konstitutive Funktionen dieser Systeme: (1),Networking' bezieht sich auf einen Bereich der Bildschirmoberfläche, der für bilaterale Transaktionen und zum persönlichen Austausch von Informationen genutzt werden kann, daher innerhalb der hier vorgeschlagenen Analytik der operativen Dimension zugeordnet werden kann. (2) .Scoping' bezieht sich dagegen auf einen weiteren Bereich des Bildschirms, auf dem laufend neue Informationen über Preise sowie weitere potentiell preisrelevante Ereignisse ausgewertet und reflektiert werden, insbesondere Wechselkurse (Marktpreise), in die alle Einzel-Transaktionen fast ohne Zeitverzögerung durch ein Finanzdienstleistungsunternehmen eingerechnet werden. Diese reflexive Scoping-Funktion, die in der hier vorgeschlagenen Terminologie der Zentralisierungsdimension zuzuordnen ist, macht die spezifische zeitliche Dynamik dieser Systeme aus. Karin Knorr Cetina plädiert daher zu Recht dafür, EBS-Systeme nicht primär als Netzwerk-Systeme, sondern als .reflex systems' zu begreifen (Knorr Cetina 2003: 20). Neben rein technischen Voraussetzungen hat diese synchronisierende Zentralisierung unter Abwesenden auch komplexe soziokulturelle Voraussetzungen, die im Detail noch kaum erforscht sind. Insbesondere erfordert sie die Bildung von Vergleichskategorien und Vergleichskriterien (Heintz 2010), die den technologisch zentralisierten Daten einen zusätzlichen Informations wert hinzufügen, indem sie diese Daten unter bestimmten Gesichtspunkten als vergleichbar behandeln (Vergleichskategorien), zum Beispiel als Transaktionen', und unter weiteren Gesichtspunkten unterscheiden und bewerten (Vergleichskriterien). Ein Beispiel für ein Vergleichskriterium in diesem Sinne ist ein .Marktpreis' oder .Währungskurs', der als das Resultat eines elektronisch gesteuerten Vergleichs räumlich verstreut anfallender Transaktionen
261 verstanden werden kann, die reflektiert - gesammelt, verglichen und in Mittelwerte umgerechnet - werden. Sieht man die sinnstiftend-orientierende Leistung solcher Vergleichskategorien und -kriterien im Zusammenhang mit der zentralisierend-synchronisierenden Leistung von Telekommunikationstechnologien, so fällt auf, dass sie nicht nur Qualitäts-, Leistungs- und Wertmaßstäbe einführen können, sondern auch einen potentiell globalen Gleichzeitigkeitssinn unter Abwesenden, der umso wichtiger wird, je mehr Informationen verrechnet werden und je schneller sich die so ermittelten Werte ändern: Ein gleichzeitig für alle Händler weltweit informativer .Marktpreis' ist eine Wertgröße mit sofortigem Verfallsdatum; schon Sekunden später kann ein anderer Preis gelten, der dann ebenfalls - solange er gilt gleichzeitig für alle Händler verbindlich ist. (4) Unterstellung gleichzeitiger Verbreitung (Unterstellungsdimension): Gleichzeitigkeit unter Abwesenden kann sich schließlich auch über die Unterstellung eines gleichzeitig erreichbaren Publikums realisieren (oder, technischer formuliert, über öffentliche Fiktionen gleichzeitiger Redundanz). Auch diese Dimension sei in Anlehnung an Karin Knorr Cetinas Arbeiten zu globalen Währungsmärkten erläutert. Dabei gilt zunächst: Die .Scoping'-Funktion dieser Systeme zentralisiert und reflektiert nicht nur zeitnah sämtliche auf dem Markt anfallenden Transaktionen (Zentralisierungsdimension), sie sorgt auch für die gleichzeitige Verbreitung der zentralisierten Informationen, insbesondere aktueller Marktkurse, unter allen Teilnehmern (hier begrenzt auf einen vorab definierten Kreis von Händlern akkreditierter Banken). Sie kombiniert also Zentralisierungs- und Redundanzdimension. Dieser Analyse können wir mit Hilfe der hier vorgeschlagenen Analytik nun eine weitere Nuance hinzufügen: die Einsicht, dass die Temporalität dieser EBS-Systeme (wie aller Systeme dieser Art) nicht allein auf der faktischen Verbreitung der .gescopten' Informationen beruht, sondern auch auf der institutionalisierten Unterstellung, dass alle auf der Scoping-Seite zugänglichen Informationen im Augenblick ihres Erscheinen allen Teilnehmern bekannt sind. Diese Unterstellung führt ein reflexives Gleichzeitigkeitsmoment in den Kommunikationsprozess ein, das auf Finanzmärkten eine besondere — häufig als .krisenhaft', .irrational' oder .panisch' beobachtete - Dynamik auslösen kann, da sie bewirkt, dass sich die Teilnehmer nicht nur an den tatsächlichen, sondern auch an den vermuteten Reaktionen aller anderen orientieren (müssen). Wo immer sich solche
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Unterstellungen gleichzeitiger Informiertheit einspielen, regen sie Kommunikationsteilnehmerinnen zu Spekulationen über gleichzeitige Reaktionen anderer an, und zu weiteren Handlungen, die ohne sie möglicherweise ganz anders ausfallen würden. Der Gleichzeitigkeitssinn, von dem oben mit Bezug auf die Zentralisierung von Daten die Rede war, kehrt hier also wieder, nun aber mit Bezug auf die unterstellte Verbreitung dieser Daten. Insgesamt ergibt sich damit folgende Analytik der von Telekommunikationstechnologien erschlossenen Gleichzeitigkeitspotentiale unter Abwesenden. Fig. 2: Gleichzeitigkeitspotentiale von Telekommunikationstechnologien (unter Abwesenden) Operative Dimension Quasi-interaktive Fernkontakte
Zentralisierungsdimension Zeitnahe Zentralisierung von Daten
Redundanzdimension Faktische gleichzeitige Verbreitung
Unterstellungsdimension Unterstellte gleichzeitige Verbreitung
5. Globalisierungspotentiale von Telekommunikationstechnologien Diese Analytik soll nun zu einer globalisierungstheoretischen These ausgebaut werden, die besagt, dass sich ein Kommunikationszusammenhang umso effektiver aus lokalen Bezügen lösen und eigenständige Globalisierungsdynamik entfalten kann, je effektiver es ihm gelingt, diese unterschiedlichen Gleichzeitigkeitspotentiale voneinander zu trennen und neu miteinander zu kombinieren. Diese These impliziert, dass die Globalisierungsdynamik, die Kommunikationszusammenhänge erreichen können, nicht nur von abstrakten Funktionen und Eigenlogiken der Selbsterhaltung und -entfaltung abhängt (so Luhmann 1987b: 334), sondern auch von historisch kontinenten Allianzen mit spezifischen Telekommunikationstechnologien. Ich erläutere die These zunächst am Beispiel von Finanzmärkten und wissenschaftlichen Disziplinen, anschließend verdeutliche ich ihr historisches und sachliches Differenzierungsvermögen an einigen weiteren Beispielen. 5.1 Zur Trennung und Rekombination der Gleichzeitigkeitspotentiale von Telekommunikationstechnologien Wie sich diese Gleichzeitigkeitspotentiale unter Abwesenden trennen und rekombinieren lassen und welche spezifischen Globalisierungsdynamiken dies
auslösen kann, sei zunächst erneut an Karin Knorr Cetinas und Urs Brüggers Unterscheidung von ,Networking' und ,Scoping' auf computergestützten Finanzmärkten erläutert. Zur Erinnerung: während die ,Networking'-Seite des Bildschirms den individuellen Austausch und Handel zwischen weltweit verstreuten Händlern erlaubt, stellt die ,Scoping'Seite die sich daraus ergebenden Handelsinformationen in reflektierter (gesammelter, verglichener, evaluierter) Form, insbesondere in Form von Marktpreisen/Währungskursen, noch einmal anders und für alle gleich dar. Das Zusammenspiel dieser beiden Funktionen lässt sich auch so beschreiben, dass sie auf ein- und demselben Bildschirm getrennt und zugleich zusammengeführt und kombiniert werden. In die hier vorgeschlagenen Analytik übersetzt: solche Systeme trennen und kombinieren die operative Dimension und die Zentralisierungsdimension von Telekommunikationstechnologien. Zugleich trennen und kombinieren sie auf der Scoping-Seite des Bildschirms auch die Redundanz- und Unterstellungsdimension, indem sie dafür sorgen, dass die Verbreitung von Währungskursen und anderen Informationen im Moment ihres Erscheinens als bekannt unterstellt werden kann bzw. muss - auch wenn dies stets nur eingeschränkt der Fall sein wird. Infolgedessen kann auf Finanzmärkten heute jeder private Handel von Wertpapieren (operative Dimension) fast ohne Zeitverzögerung in die Berechnung von Preisen/ Kursen eingehen (Zentralisierungsdimension), die von Systemen wie EBS oder Xetra verbreitet werden (Redundanzdimension) sowie einem gleichzeitigglobalen Publikum als bekannt unterstellt werden können (Unterstellungsdimension), was neuerlichen Handel, neuerliche Sammlung und Bewertung der Daten, neuerliche Veröffentlichung und Unterstellung zur Folge hat usf. Es ist der mit dieser Rekombination verschiedener Gleichzeitigkeitspotentiale verbundene, auf Unterstellungen globaler Informiertheit beruhende globale Gleichzeitigkeitssinn, der die berühmt-berüchtigte Globalisierungsdynamik heutiger Finanzmärkte (im Vergleich zu historischen Vorgängern ohne entsprechenden telekommunikationstechnologischen Unterbau) wohl am besten erklärt. Diese Neukombination unterschiedlicher Gleichzeitigkeitsdimensionen kann sich freilich nicht nur auf Währungs- und Finanzmärkten einspielen. Das sei hier exemplarisch an (natur-) wissenschaftlichen Disziplinen erläutert. Allgemein gilt hier, dass die Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Disziplinen auf der Basis von Publikationen (Stichweh 1994) durch
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Telekommunikationstechnologien stabilisiert und beschleunigt werden kann, ζ. B. in der operativen Dimension durch Telefon oder Email, in der Zentralisierungsdimension durch elektronische Datenbanken, in der Redundanzdimension durch Ε-Journals und in der Unterstellungsdimension durch öffentlich zugängliche Datenbanken. Dadurch ergeben sich neue Möglichkeiten der Trennung und Kombination aller vier Dimensionen: Je mehr .operative' Aktivität Austausch, Kooperation, auch Streit - es gibt (operative Dimension), desto mehr Thesen und Gegenthesen, Theorien und Methoden können .zentralisiert' werden (Zentralisierungsdimension; Datenbanken, Zitationsstatistiken bis hin zu Universitätsrankings), und je systematischer die Resultate dieser Beobachtungen in wissenschaftlichen Publikationen referiert und veröffentlich werden (Redundanzdimension), desto plausibler kann die Unterstellung eines weltweit einheitlichen, für alle Wissenschaftlerinnen einer Disziplin verbindlichen Forschungsstandes oder Leistungsniveaus sein (Unterstellungsdimension). Diese Unterstellungen können weitere ,operative' Aktivität in Gang setzen - beispielsweise eine Forschergruppe motivieren, anderen bei der Lösung eines Problems zuvorzukommen - , und so zu neuen Forschungsresultaten führen, die erneut veröffentlicht, zentralisiert, verbreitet und als bekannt unterstellt werden können, usf. Das Resultat dieser Trennung und Rekombination kann erneut ein globaler Gleichzeitigkeitssinn sein, der sich im Idealfall darin ausdrückt, dass sich sämtliche Forscherinnen einer Disziplin tatsächlich weltweit an einem gemeinsamen Forschungsstand orientieren. Welche Dynamik auf diese Weise entstehen kann, lässt sich idealtypisch an digitaltechnologischen Formen der Forschungskooperation („Collaboration in Ε-Research") zeigen, die in einem Zweig der .Science and Technology Studies' seit einigen Jahren untersucht werden (vgl. Olson, Zimmerman & Bos 2008; Anandarjan & Anandarjan 2010; Ribes & Lee 2010; Nielsen 2012). Diese Forschung zeigt, dass Digitaltechnologien, hier unter Begriffen wie „Cyberinfrastructure", „eScience" oder „elnfrastructure" behandelt, einer Sub-Disziplin bzw. Scientific Community ähnliche Trennungs- und Rekombinationsmöglichkeiten von Gleichzeitigkeitspotentialen und dadurch ähnliche Globalisierungspotentiale erschließen können wie Datendienstleister auf digitalen Finanzmärkten, obschon auf der Basis anderer Technologien sowie mit anderen Zielen und Effekten: Email- und Videotelefonie-¥unkúontn erlauben allen Mitgliedern der Kollaborationsgemeinschaft
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unabhängig vom Standort des angeschlossenen Rechners, jederzeit zu allen anderen Mitgliedern Kontakt aufzunehmen, Ideen auszutauschen sowie Material gemeinsam zu analysieren (operative Dimension; zur kollaborativen Videoanalyse vgl. etwa Fraser et al. 2006); Online-Datenbanken erlauben es, Forschungsergebnisse zu einer bestimmten Fragestellung zeitnah zu zentralisieren, d.h. zu sammeln, zu vergleichen und zu bewerten (Zentralisierungsdimension; für Beispiele aus Medizin und Astronomie vgl. Nielsen 2012: 91 ff.); öffentliche Blogs und Online-Foren erlauben es, Forschungsergebnisse gleichzeitig an alle anderen Mitglieder einer Community bzw. an ein unbeschränktes Publikum zu verbreiten (Redundanzdimension);8 und Kombinationen von Archiv- und Forumsfunktionen sorgen dafür, dass sich in einer Scientific Community die Unterstellung eines gleichzeitig-globalen Wissens- bzw. Forschungsstandes etablieren kann (Unterstellungsdimension). Idealtypisch realisiert und miteinander kombiniert werden alle diese Gleichzeitigkeitsdimensionen in öffentlichen Online-Communities wie Linux oder in einem öffentlichen, webbasierten Programmierwettbewerb wie MathWorks (vgl. Gulley 2004). In der Forschung über digitale wissenschaftliche Kommunikation findet sich ein Sinnspruch, der das Zusammenspiel zwischen diesen Dimensionen in der digitalen Wissenschaftskommunikation - und insbesondere das Unterstellungsmoment - gut auf den Punkt bringt: „A collaboration needs to know what the collaboration knows" (Nielsen 2012: 67). Auch hier verdichtet sich die Dynamik mit dem Zusammenspiel mehrerer solcher Funktionen: Ein unterstellter gemeinsamer Forschungsstand kann einzelne Mitglieder der Community zu erneuter Kontaktaktivität motivieren, die zu weiteren forschungsstandbezogenen Vergleichen von Forschungsergebnissen, weiterer Verbreitung dieser Vergleiche und neuerlicher Unterstellung eines gemeinsamen Forschungsstands führen kann usf. Alle vier Dimensionen leisten einen eigenen Beitrag zur Schließung und Verstärkung dieses Zirkels, und je effektiver die Gleichzeitigkeitspotentiale innerhalb eines wissenschaftlichen Kommunikationszusammenhangs getrennt und rekombiniert werden, desto deutlicher wird sich ein für alle verbindlicher globaler Gleichzeitigkeitssinn herausbilden. Umgekehrt gilt freilich ebenso: Wird der Zirkel unter8
Ein spektakuläres Beispiel hierfür ist das PolyMathProjekt, ein experimentelles Blog mit breiter Beteiligung in der M a t h e m a t i k ; vgl. Gowers & Nielsen 2009.
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brochen, fehlt es z. B. an der Verbreitung von Publikationen oder wird die Zentralisierung von Daten durch beschränkte technologische oder humane Ressourcen limitiert (zu einer daraus entstandenen Krise des Linux-Forums vgl. Nielsen 2012: 49 ff.), werden auch die Unterstellung eines gemeinsamen Publikums, die dadurch angeregten Beobachtungsdynamiken und der durch das Zusammenspiel der Gleichzeitigkeitspotentiale erzeugte globale Gleichzeitigkeitssinn an Plausibilität verlieren. Und was für Währungsmärkte und Scientific Communities gilt, könnte ebenso für Kunstformen, Sportarten, Religionen und andere globale Kommunikationszusammenhänge gelten. 5.2 Trennung und Rekombination von Gleichzeitigkeitspotentialen: Historische Vergleichs- und Forschungsperspektiven Wann und wie haben sich diese Trennungs- und Rekombinationsverfahren historisch eingespielt, welche Bedeutung haben sie in unterschiedlichen Kommunikationszusammenhängen erlangt? Auch dieses historisch-vergleichende Interesse kann an Karin Knorr Cetinas Arbeiten zu Scoping-Systemen anknüpfen: Hatte sie in den oben zitierten Texten zu EBS-Systemen und Währungsmärkten zunächst die Neuheit dieser Systeme betont, so hat sie in neueren Arbeiten auch auf die Möglichkeit hingewiesen, die Networking / Scoping-Unterscheidung zu historisieren und auf frühere Medienkonstellationen zu erweitern. Explizit geschehen ist dies in einem Vergleich mit einer Medienkonstellation an Börsen etwa seit den 1870er Jahren, wo der individuelle Handel und Kontakte in den outcry exchanges - eine Form des .Networking' - neben und mit dem Börsenticker (,stock ticker') existiert haben (dazu historisch Preda 2006). Den Börsenticker interpretiert Knorr Cetina als eine historische Vorform des ,Scoping', weil er die Handelsdynamik noch einmal in einer reflektierten Form wiedergab, die eine telegraphisch vermittelte Zentralisierung und Auswertung von Daten voraussetzte, ähnlich wie heutige EBS-Systeme die Zentralisierung und Auswertung von Handelsdaten durch Datendienstleistungsunternehmen voraussetzen. Die Besonderheit der heutigen elektronischen Broker-Systeme sieht sie im historischen Vergleich dementsprechend (nur) darin, dass sie die „price and transaction recording capacities of the ticker" mit den Interaktionsmöglichkeiten in „open outcry exchanges" auf einer gemeinsamen Bildschirmfläche kombinieren und dadurch noch einmal erheblich
beschleunigen (Knorr Cetina 2007: 709). Die neuartige Leistung der Télégraphié lag dabei weniger in der Herstellung quasi-interaktiver Kontakte: die Télégraphié verringerte zwar Verzögerungen im Kommunikationsverkehr im Vergleich zum Güter- und Personenverkehr enorm, reduzierte sie aber, anders als später Telefon oder Videotelefon, nicht auf Null (zur Bedeutung kleinerer Zeitdifferenzen im Telegraphieverkehr vgl. Wenzlhuemer 2011). Sie bestand vielmehr in der synchronisierend-zentralisierenden Leistung des Börsentickers, die es erlaubte, eine Vielzahl von Handelsinformationen gleichzeitig in die Preisbildung und -Veröffentlichung einfließen zu lassen. In den hier vorgeschlagenen Begriffen: nicht erst digitale Systeme, sondern bereits das Telegraphennetz - hier vermittelt über den Börsenticker - erlaubte die Trennung und Rekombination verschiedener Gleichzeitigkeitspotentiale von Telekommunikationstechnologien. Die historische Kontinuität erscheint sogar noch plausibler, wenn man berücksichtigt, dass der Börsenticker - im Unterschied zu den EBS-Systemen, die nur einer kleinen Zahl akkreditierter Banken offenstehen - tatsächlich im engeren Sinne öffentlich, d. h. für alle zugänglich war.9 Nach der Veröffentlichung von Börsenkursen und anderen Informationen in den entsprechenden Systemen mussten daher im Prinzip alle Nutzerinnen des Tickers unterstellen, dass die Kurse allen anderen bekannt waren. So gesehen, sowie mit Blick auf seine tatsächliche allgemeine Verwendung und Popularität (Stäheli 2007), muss der Börsenticker weniger als ein Vorgänger der EBS-Systeme denn von Computersystemen wie ,Xetra' (Frankfurter Börse) gelten, die einem unbeschränkten Adressatenkreis offenstehen. Und obschon digitale Systeme den Informationsumschlag zweifellos enorm beschleunigt haben, folgen sie im Prinzip derselben Operationslogik: Sie werten sämtliche Handelstransaktionen aus, rechnen sie in ,Kurse' um und machen sie einem allgemeinen Börsenpublikum zugänglich. In den hier vorgeschlagenen Begriffen lassen sich diese Einsichten wie folgt reformulieren: Der Börsenticker des späten 19. Jahrhunderts und heutige 9 An diese Eigenschaft des Tickers knüpft eine weitere Wirkungsdimension an, auf die Urs Stäheli (2004b) hingewiesen hat: Die Rolle des Tickers als Popularisierungsinstrument und .Massenmedium' mit auch sinnlichen (und in diesem Sinne .medialen', performativen) Qualitäten. Die hier vorgelegte Analyse bleibt im Rahmen dessen, was Stäheli unter .Zugänglichkeit' fasst, d.h. sie beschränkt sich auf die informative Seite der Technologie.
Tobias Werron: Gleichzeitigkeit unter Abwesenden
öffentliche digitale Börsensysteme haben gemeinsam, durch Ausdehnung des Adressatenkreises auch die Dynamik der Trennung und Rekombination von Redundanz- und Unterstellungsdimension erweitert und dadurch die Globalisierungsdynamik von Finanzmärkten nochmals erheblich intensiviert zu haben. Sie lassen sich daher als Anfangs- und vorläufiger Endpunkt einer gemeinsamen Geschichte begreifen, die im späten 19. Jahrhundert beginnt und von der temporalisierten Globalisierung allgemein zugänglicher Finanzmärkte erzählt, und von einem globalen Gleichzeitigkeitssinn, der im Zusammenspiel von Zentralisierungs-, Redundanz- und Unterstellungsdimension dieser Telekommunikationstechnologien entstanden ist. Finanzmärkte und Ticker sind ein prominentes Beispiel für diesen im mittleren 19. Jahrhundert beginnenden Trend zur Trennung und Rekombination von Gleichzeitigkeitspotentialen. Ein weiteres anschauliches Beispiel ist der moderne Sport: Hier erlaubte es die telegraphisch beschleunigte Berichterstattung über einzelne Wettkämpfe (operative Dimension), verbunden mit der .Zentralisierung' von Wettkampfinformationen in neuen statistischen Darstellungsformen wie Tabellen (Zentralisierungsdimension) im Prinzip seit dem 19. Jahrhundert, jeden Wettkampf in einem Vergleichszusammenhang weiterer Wettkämpfe zu integrieren und die so reflektierten Wettkampfdaten an ein universales, potentiell globales Publikum zu verbreiten (Redundanz- und Unterstellungsdimension). Das geschah zunächst in einem primär nationalen Rahmen in den USA und Großbritannien und wurde bald in einen globalen Rahmen - in ,Weltsportarten' - übersetzt (vgl. Werron 2009). Auch im Sport sind die Anfänge dieser Trennungsund Rekombinationsverfahren demnach im mittleren bis späten 19. Jahrhundert zu verorten, damals vor allem gestützt auf eine Allianz von Telegraphennetz, Nachrichtenagenturen und Zeitungspresse, und sie führten innerhalb weniger Jahrzehnte zur Bildung neuartiger Strukturen wie Ligasystemen, vereinheitlichten Regeln, Weltereignissen, die noch heute für den modernen Wettkampfsport typisch sind (ausführlich Werron 2010). Ein wichtiger Ausdruck und zugleich Antrieb dieses Wandels war ein neuer Begriff des ,Rekords', der sich seit den 1860er Jahren durchsetzte: Bezog sich Rekord früher einfach auf eine Leistungsaufzeichnung (engl.: „to record"), bezeichnet er von nun an auch eine zu einem bestimmten Zeitpunkt - und überall auf der Welt - noch nicht übertroffene Wettkampfleistung
265 (Mandell 1976). Dieses neue Verständnis von Rekorden war wohl der prägnanteste Ausdruck für den in diesem Prozess neu entstandenen globalen Gleichzeitigkeitssinn, der im 20. Jahrhundert auf zahlreiche Sportarten übertragen wurde und längst zu einer selbstverständlichen Hintergrundvorstellung aller modernen Wettkampfsportarten geworden ist. Er stützte sich in diesen und anderen Bereichen auch auf eine neue Infrastruktur: die telekommunikationstechnologische Zentralisierung von Nachrichten in Zeitungen und Zeitungsredaktionen, die ebenfalls im mittleren bis späten 19. Jahrhunderts begann, basierend auf einer Allianz von Télégraphié und Presse und einem weltweiten Oligopol von Nachrichtenagenturen (zur Formation der hierzu passenden universalistischen Kategorie von ,news' vgl. Rantanen 1997). Wie, seit wann und in welchen Feldern sich dieser globale Gleichzeitigkeitssinn durchsetzte und wie er sich auf sie auswirkte, müsste auf der Basis der hier vorgeschlagenen Analytik erst noch im Detail erforscht werden. Dabei wird es auf sorgfältige Differenzierung sozialer Felder und deren je spezifische Nutzung von Telekommunikationstechnologien ankommen. Denn die genannten Beispiele sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Rolle, die diese Gleichzeitigkeitseffekte in verschiedenen Kommunikationszusammenhängen spielten und spielen, erheblich variieren kann - zwischen wie auch innerhalb von Funktionsbereichen. Das Spektrum der Möglichkeiten lässt sich zunächst gut an Finanzmärkten einerseits und der Schulerziehung andererseits illustrieren. Während auf Finanzmärkten heute in der Tat im Prinzip jeder jederzeit mit jedem Geschäfte machen kann und dabei jedes Geschäft sogleich in die globale Preisbildung eingehen und zudem - in dieser zentralisierten' Form - anschließend als bekannt unterstellt werden kann, spielt die Rekombination von Gleichzeitigkeitsdimensionen im Erziehungsbereich offenbar eine wesentlich geringere Rolle. Man kann heute durchaus von einer Art Welterziehungssystem sprechen, integriert von globalen Erziehungsexperten, die universale Erziehungsmodelle propagieren und an Staaten, Schulen und Universitäten überall in der Welt herantragen (etwa in Form von PISA- oder Universitätsrankings, vgl. Hazelkorn 2011), wie auch wohl von einer Art Welt-ErziehungsöfFentlichkeit, die dieses System als einheitlichen globalen Kommunikationszusammenhang seit Ende des 19. Jahrhunderts hervorgebracht und stabilisiert hat (so Sobe & Ortegón 2009). Dies hat aber offensichtlich nicht dazu geführt,
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dass Klausurergebnisse von Datendienstleistungsu n t e r n e h m e n aus Klassenzimmern u n d Hörsälen zusammengezogen, zeitnah zentralisiert u n d an alle zurückgespiegelt werden, oder dass gar Lehrer, D o zenten, Schüler u n d Studenten ständig wie gebannt vor Bildschirmen sitzen, u m sich zu pädagogischen Innovationen u n d größeren Lernanstrengungen (oder zu geschickteren Täuschungsmanövern) inspirieren zu lassen. A u f g r u n d der n u r losen Verknüpf u n g des nichtöffentlichen Erziehungsalltags m i t der ihn überwölbenden globalen Öffentlichkeit fehlt es hier offenbar an der f ü r F i n a n z m ä r k t e u n d die anderen oben e r w ä h n t e n Bereiche typischen Rekombination von Gleichzeitigkeitspotentialen. Solche Unterschiede verlaufen zudem nicht allein, wie dieses Beispiel suggerieren mag, entlang den Grenzen von Funktionssystemen. Vielmehr k a n n die ,Gleichzeitigkeitsempfindlichkeit' auch innerhalb von Funktionsbereichen, von Subsystem zu Subsystem, erheblich variieren. A n den oben ber ü h r t e n Beispielen veranschaulicht: P r o d u k t m ä r k t e erreichen häufig d u r c h gegenseitige Imitation von Konkurrenten, ,Nischen-Bildung u n d Besetzung von Nischen d u r c h M a r k e n eine ausgeprägte Stabilität (Leifer & W h i t e 1987), so dass die globale Gleichzeitigkeitsdynamik digitaler Technologien weniger unmittelbar auf das ,operative' G e s c h ä f t durchschlagen k a n n als auf Finanzmärkten; in den Naturwissenschaften herrscht in der Regel eine viele dichtere T a k t u n g der Produktion, Beobachtung u n d Veröffentlichung von Forschung vor - u n d spielen „eScience" u n d „Cyberinfrastruture" d e m entsprechend wichtigere Rollen - als in den Geistes- u n d Sozialwissenschaften; u n d w ä h r e n d sich Sportler u n d P u b l i k u m in m a n c h e n Sportarten an Rekorden, Weltranglisten u n d anderen gleichzeitig f ü r alle verbindlichen Leistungsindikatoren orientieren (können), sind W e t t k a m p f p r a x i s u n d Weltöffentlichkeit in anderen Sportarten wesentlich lockerer miteinander verknüpft. Diese Beispiele bestätigen erneut, dass die hier analysierten Gleichzeitigkeitspotentiale nicht allein mit Blick auf die E n t s t e h u n g eines globalen Systems ,der Massenmedien' relevant sind, sondern auch mit Blick auf die Formation bereichsspezifischer Öffentlichkeiten, die eine unterschiedliche D y n a m i k entwickeln sowie mit spezifischen Globalisierungsdynamiken verbunden sein k ö n n e n (Heintz & Werron 2011). D a r ü b e r hinaus machen sie darauf aufmerksam, dass die soziologische Analyse von Telekommunikationstechnologien auch genuin historische Fragen a u f w i r f t , die sich nicht allein mit Verweis
auf F u n k t i o n e n , Kommunikationscodes, typische Rollenkonstellationen u n d andere abstrakte Eigenschaften von Funktionssystemen beantworten lassen. Angesichts solcher Varianzen gilt es vielmehr, auf historische Allianzen zwischen einzelnen Telekommunikationstechnologien und spezifischen Kommunikationszusammenhängen (Märkten, Disziplinen, K u n s t f o r m e n , Sportarten, Religionen usf.) zu achten u n d diese auch auf ihre je spezifischen Verfahren der T r e n n u n g u n d Rekombination der Gleichzeitigkeitspotentiale von Telekommunikationstechnologien zu untersuchen.
6. Zusammenfassung und Schlussbemerkung Dieser Aufsatz hat vorgeschlagen, vier Gleichzeitigkeitspotentiale von Telekommunikationstechnologien zu unterscheiden u n d mit H i l f e dieser Analytik die Globalisierungseffekte jener Technologien - von der elektromagnetischen Télégraphié im mittleren 19. J a h r h u n d e r t bis zu den heutigen Digitaltechnologien - näher zu b e s t i m m e n . Die Analyse m ü n d e t e in die These, dass sich ein K o m m u n i k a t i o n s z u s a m m e n h a n g u m s o effektiver aus lokalen Bezügen lösen u n d eine eigene Globalisierungsdynamik entfalten k a n n , je effektiver es i h m gelingt, diese unterschiedlichen Gleichzeitigkeitspotentiale - quasi-interaktive Fernkontakte (operative Dimension), zeitnahe Z e n tralisierung von D a t e n (Zentralisierungsdimension), gleichzeitige Verbreitung (Redundanzdimension), unterstellte gleichzeitige Verbreitung (Unterstellungsdimension) - voneinander zu trennen u n d neu miteinander zu kombinieren. Zugleich ist deutlich geworden, dass das A u s m a ß , in d e m dies geschehen k a n n , nicht allein von abstrakten F u n k t i o n e n u n d systematischen Eigenschaften gesellschaftlicher Teilbereiche a b h ä n g t , sondern auch von historisch kontingenten Allianzen zwischen spezifischen K o m munikationszusammenhängen und Telekommunikationstechnologien. Insofern versteht sich diese Analyse auch als Plädoyer f ü r eine historische Soziologie der Globalisierung /Weltgesellschaft, die auf die Ressourcen der soziologischen Theorietradition vertraut, aber auch auf enge Kooperation mit historischer Globalisierungsforschung angewiesen ist (Werron 2012a). Vor diesem H i n t e r g r u n d sei z u m Abschluss noch einmal auf L u h m a n n s These z u r ü c k g e k o m m e n , dass Telekommunikationstechnologien die I n t e r a k t i o n / Gesellschaft-Differenzierung nach d e m B u c h d r u c k
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Tobias Werron: Gleichzeitigkeit unter Abwesenden nicht mehr grundsätzlich veränderten, sondern „das Prozessieren der Interaktionen und die gesellschaftliche Evolution nur noch weiter auseinander(ziehen)" (Luhmann 1 9 8 4 : 584). W a s ist aus der hier entwickelten Perspektive zu dieser These zu sagen? Viele der hier analysierten Gleichzeitigkeitspotentiale von Telekommunikationstechnologien erinnern auf den ersten Blick an die Dynamik der Kommunikation unter Anwesenden: Sie ermöglichen ,quasi-interaktive' Kontakte unter Abwesenden, die der a n n ä hernden Gleichzeitigkeit des Operierens' in Interaktionssituationen ähneln (operative Dimension); sie ermöglichen beschleunigtes Zentralisieren von Beobachtungen, das die f ü r Interaktionssysteme typische gemeinsame Orientierung an einer für alle gleichzeitig wahrnehmbaren Umwelt und einem aktuellen Kommunikationsthema nachstellt (Zentralisierungsdimension); sie verbreiten Informationen an ein großes Publikum von Abwesenden (Redundanzdimension) und sie machen dadurch Unterstellungen gleichzeitiger Informiertheit auch unter Abwesenden plausibel (Unterstellungsdimension). W i e hier deutlich geworden sein sollte, führen diese Ähnlichkeiten aber gerade nicht zu einer Annäherung oder gar Verschmelzung von Interaktions- und Gesellschaftsebene (etwa im Sinne eines .globalen
Dorfes'). Telekommunikationstechnologien
vergrö-
ßern vielmehr die Distanz zwischen Interaktion und Gesellschaft, indem sie Gleichzeitigkeitsdimensionen, die unter Anwesenden relativ undifferenziert gegeben sind, auf der Gesellschaftsebene zu trennen und zu rekombinieren erlauben und dadurch Globalisierungsdynamiken in Gang setzen, die unter Anwesenden gerade nicht möglich wären. Kurz und paradox formuliert: Sie nähern beide Ebenen
einander an, indem sie sie noch stärker voneinander distanzieren. Luhmanns These einer zunehmenden
Trennung von Interaktion und Gesellschaft in der Moderne wird durch die hier vorgelegte Analyse also nicht widerlegt, sondern bestätigt, aber zugleich erheblich verkompliziert. Genaueres müssen Studien zeigen, die Trennungs- und Rekombinationsverfahren verschiedener .Gleichzeitigkeiten' an historischen Globalisierungsprozessen und einzelnen Telekommunikationstechnologien seit der Mitte des 19. Jahrhunderts im Detail untersuchen. Zu solchen Studien anzuregen und sie begrifflich vorzubereiten, war das Ziel dieses Aufsatzes.
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Autorenvorstellung Tobias Werron, geb. 1970, Studium der Rechtswissenschaften in Heidelberg und Berlin; 2003-2006 im Graduiertenkolleg „Weltbegriffe und globale Strukturmuster" in Bielefeld; 2006-2009 wissenschaftlicher Assistent in Luzern, dort Promotion 2008 mit einer Arbeit zur Autonomie und Entstehung des modernen Sports; von 2009-2014 Akad. Rat a. Z. an der Universität Bielefeld, seit 2014 Oberassistent am Soziologischen Seminar der Universität Luzern. Forschungsschwerpunkte: Globalisierungs-/Weltgesellschaftstheorie, Soziologie der Konkurrenz, historische Soziologie, Medien- und Sportsoziologie. Ausgewählte neuere Publikationen: Wettbewerb als historischer Begriff. In: Ralph Jessen (Hrsg.): Konkurrenz in historischer Perspektive. Frankfurt a. M.; New York: Campus 2014, S. 59-93; On public forms of competition. Cultural Studies Critical Methodologies 14, 2014: 62-76. Schlüsselprobleme der Globalisierungs- und Weltgesellschaftstheorie. Soziologische Revue 35, 2012: 99-218; Wie ist Globalisierung möglich? Zur Entstehung globaler Vergleichshorizonte am Beispiel von Wissenschaft und Sport" (mit Bettina Heintz), Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 63, 2011: 359-394. Zuletzt in dieser Zeitschrift: Worum konkurrieren Nationalstaaten? Zu Begriff und Geschichte der Konkurrenz um ,weiche' globale Güter. Zeitschrift für Soziologie 41, 2012: 338—355.
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft, 2014, S. 271-293
Soziale Ordnungsbildung durch Kollektivität: Luhmanns ,Ebenenunterscheidung' und die moderne Weltgesellschaft Self-help Groups as Mediators of Social Inclusion. Luhmann's "Ebenenunterscheidung' and Modern World Society Bettina Mahlert Institut für Soziologie, RWTH Aachen, Eilfschornsteinstraße 7, 52062 Aachen [email protected] Zusammenfassung: Dieser Aufsatz argumentiert, dass Luhmanns Systemtypologie von Interaktion, Organisation und Gesellschaft weiterentwickelt werden muss, um wichtige weltgesellschaftliche Fragestellungen beantworten zu können. Spezifisch geht es hier um die Frage der Inklusionsvermittlung. Während der Systemtheorie zufolge in der modernen Gesellschaft primär Erwerbsarbeitsorganisationen für Inklusionsvermittlung zuständig sind, übernehmen weltweit auch Selbsthilfekollektive zentrale Inklusionsfunktionen. Am Beispiel von Sparzirkeln, Schwesternschaften und Migrantenassoziationen wird exemplarisch aufgezeigt, dass Luhmanns Systemtypologie die Besonderheiten dieser sozialen Gebilde nicht gut analytisch greifbar machen kann. Als Lösung wird vorgeschlagen, die mittlere Ebene der Systemtypologie mit dem Begriff der Kollektivität neu zu definieren. Die dafür relevanten Überlegungen werfen auch grundlegendere sozialtheoretische Fragen auf, die sich auf Variationen in der Autonomie sozialer Systeme beziehen. Zum anderen ergeben sich Anschlüsse an Diskussionen über mögliche Transformationen westlicher Wohlfahrtsstaaten. Schlagworte: Inklusion; Weltgesellschaft; Organisationen; Assoziationen; Selbsthilfe; Kollektivität; funktionale Differenzierung; Systemtheorie; Autonomie; Mitgliedschaft; Wohlfahrtsstaat. Summary: This contribution deals with the capacity of systems theory to analyze organizations or groups that mediate social inclusion, that is, those that give people access to vital resources. Today, self-help groups are important mediators of social inclusion in many regions of the world. But these associations are likely to be overlooked by systems theory due to its focus on formalized work organizations. By looking at different empirical cases (mutual savings organizations, sisterhoods, migrant associations), the paper highlights the specific characteristics of self-help associations as compared with formalized work organizations. "Collectives" is proposed as an umbrella term that encompasses both work organizations and self-help groups, and that opens up to systems theory a genuine understanding of the latter. The paper raises more general questions relating to the autonomy of social systems. It also refers to debates on possible future transformations of welfare states. Keywords: Social Inclusion; World Society; Organization; Self-Help Groups; Collectivity/Collectives; Functional Differentiation; Systems Theory; Autonomy; Membership; Welfare State.
1. Einleitung1 Typologien sind ein wichtiges Instrument soziologischer Analyse. Sie bringen Ubersicht in die verwirrende Vielfalt sozialer Phänomene, und sie dienen dazu, diese Phänomene in ihrer je besonderen Eigenart besser zu verstehen. Eine fundamentale 1 Zu Vorversionen dieses Aufsatzes habe ich viele hilfreiche Hinweise erhalten. Mein Dank dafür geht an zwei anonyme Gutachter(innen), Bettina Heintz, André Kieserling, Stefan Kühl, Simon Schlimgen, Volker Schmidt, Hartmann Tyrell, Tobias Werron und die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Kolloquiums .Weltgesellschaftsforschung' an der Universität Bielefeld im Herbst 2011.
und zugleich kontrovers diskutierte Typologie bildet Luhmanns Unterscheidung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft (Luhmann 2005c). Diese Typologie sozialer Systeme verknüpft begriffliche Einfachheit mit extremer Reichweite sowohl ihres empirischen Gegenstandsbereichs als auch der aus ihr heraus entwickelten Sacheinsichten (vgl. Kieserling 1999; Luhmann 1964, 2005d). Die Trias von Interaktion, Organisation und Gesellschaft schließt die kleinsten und die größten Sozialsysteme ein und reicht von den flüchtigsten Begegnungen bis zur unfassbar ,großen Weltgesellschaft; gleichzeitig identifiziert sie jeden der drei Typen anhand eines einfachen Kriteriums - eines je eigenen Prinzips der „Grenzziehung und Selbstselektion" (Luhmann
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2005d: 13). Außerdem ist Luhmanns Typologie sozialer Systeme nicht nur als Typen-, sondern zugleich auch als .Ebenenunterscheidung' gedacht. Interaktion, Organisation und Gesellschaft sollen unterschiedliche ,Ebenen' sozialer Ordnungsbildung darstellen. Was genau damit gemeint ist, darüber gibt es sowohl bei Luhmann als auch in der Rezeption seiner Typologie unterschiedliche Interpretationen (vgl. Kauppert & Tyrell, in diesem Band). In jedem Fall aber läuft das Ebenenkonzept darauf hinaus, die drei Typen nicht nur jeweils für sich selbst zu beschreiben, sondern sie darüber hinaus auch zueinander ins Verhältnis zu setzen - beispielsweise in ein Verhältnis wechselseitiger Differenzierung. Die Trias von Interaktion, Organisation und Gesellschaft ist aber auch auf Widerspruch gestoßen. Häufig wurde eingewendet, dass sie der Vielfalt sozialer Phänomene nicht gerecht werde. An diese Kritik schließen verschiedene Vorschläge an, die Typologie um weitere Systemtypen zu ergänzen, darunter Gruppen, Netzwerke und Familien (Kühl 2011, 2012 und in diesem Band; Tyrell 1983a, 1983b; Wimmer 2007). Auch dieser Beitrag zielt auf eine Weiterentwicklung von Luhmanns Systemtypologie. Er teilt die Überzeugung, dass diese Typologie erweitert werden muss und kann, um wichtige soziale Phänomene konzeptionell greifbar zu machen und stärker als bisher in den Fokus der Systemtheorie zu rücken. Der im Zentrum dieses Aufsatzes stehende Bedarf für eine solche Weiterentwicklung stellt sich mit der ,globalen Herausforderung', das heißt: mit der Tatsache, dass sich in der Moderne eine globale Sozialordnung herausgebildet hat (vgl. Greve & Heintz 2005). Daraus resultiert für die Soziologie die doppelte Aufgabe, zum einen diese Sozialordnung zu verstehen und zum anderen bei beliebigen Themen die potentielle Relevanz globaler Verflechtungen und Einbindungen zu berücksichtigen. Zwar sind begriffliche Eckpfeiler für ein solches globales Verständnis in der Systemtheorie schon seit langem verfügbar. So postulierte Luhmann bereits in den 1970er Jahren, dass Gesellschaft heute nur noch als Weltgesellschaft zu verstehen sei (Luhmann 2005a, 2005d). Die Herausbildung dieser Weltgesellschaft stehe in engem Zusammenhang mit dem Prinzip funktionaler Differenzierung und näherhin mit der Kombination von funktionaler Spezifität und Universalismus, die als Grundstruktur der Funktionssysteme gelten könne. Diese Annahmen zum Zusammenhang von funktionaler Differenzierung und Weltgesellschaft haben der Systemtheorie instruktive Starthypothesen für ihren Einstieg in
die Globalisierungsforschung eröffnet. Für ein empirisch gesättigtes Verständnis der Weltgesellschaft bedarf es allerdings noch vieler grundlegender Analysen. So weisen beispielsweise Heintz & Werron (2011) daraufhin, dass die Globalisierung von Funktionssystemen sich nicht quasi-automatisch aus deren Grundstrukturen ergibt, und sie zeigen exemplarisch auf, wie und unter welchen Bedingungen die zwei Funktionssysteme Wissenschaft und Sport global werden konnten. Im Zentrum dieses Aufsatzes steht die Aufgabe, die Systemtheorie für die nichtwestlichen Weltregionen zu öffnen und sie von möglichen eurozentrischen Bestandteilen zu befreien. Dies ist notwendig, weil Luhmann die Systemtheorie der modernen Gesellschaft und ihrer funktionalen Differenzierung exklusiv am Beispiel der Region Westeuropa entwickelte. Von hier aus soll das Prinzip funktionaler Differenzierung expandieren und andere Weltregionen unter Anpassungsdruck setzen - beispielsweise durch immer stärkere Dominanz von Geld als Tauschmedium oder durch den extern gegebenen Formzwang des Nationalstaates (vgl. Stichweh 2009). Aber wenn dies zutrifft: Was bedeutet es konkret für die verschiedenen davon betroffenen Weltregionen, und was bedeutet es für die übergreifende Ordnung der Weltgesellschaft und ihre Differenzierung? Wie reagieren Regionen in Afrika oder Asien auf den durch funktionale Differenzierung induzierten Anpassungsdruck? Wie ist das gesellschaftliche Leben in nichtwestlichen Weltregionen überhaupt geordnet, und welche sozialen Wandlungsprozesse vollziehen sich dort? 2 Auf diese Fragen mit systemtheoretischen BegrifFlichkeiten antworten zu können, wäre aus verschiedenen Gründen wünschenswert und notwendig. Um nur zwei von ihnen zu nennen: Erstens könnten sich in die .allgemeine' Theorie funktionaler Differenzierung Komponenten eingeschlichen haben, die kein notwendiges und allgemeines Merkmal dieses Ordnungsprinzips darstellen, sondern Teil einer kontingenten, nämlich europäischen Respezifikation dieses Prinzips sind. Die Auseinandersetzung mit nicht-europäischen Weltregionen
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Systemtheoretische Beiträge zu nicht-westlichen Welt-
regionen sind beispielsweise Holzer ( 2 0 0 6 , 2 0 0 7 ) ; Luhm a n n (1995, 2 0 0 5 e ) ; Mascarefto (2012); Neves & Voigt (2007).
Der Begriff .peripher' wird im Folgenden
in
Anführungszeichen verwendet, weil er im systemtheoretischen Kontext nicht ausreichend ausgearbeitet ist, um seine selbstverständliche Verwendung zu rechtfertigen.
Bettina Mahlert: Gleichzeitigkeit unter Abwesenden
könnte Varianten im Schema funktionaler Differenzierung aufzeigen und damit auch die Theorie funktionaler Differenzierung selbst vertiefen (vgl. Holzer 2006). Zweitens finden in Asien, Afrika und Lateinamerika seit einigen Jahrzehnten radikale Wandlungsprozesse statt (vgl. Schmidt 2007). Diese Veränderungen könnten auf eine Angleichung an die westlichen Weltregionen hinauslaufen. Es ist aber auch denkbar, dass hier neuartige Strukturbildungen entstehen oder schon entstanden sind, die zukünftig im System der Weltgesellschaft Einfluss gewinnen und ihr Gesicht prägen werden (Ahuja 2004). Solange sie sich nicht für diese Weltregionen interessiert, läuft die Systemtheorie Gefahr, die Weltgesellschaft mit Denkweisen und Begriffsschablonen abzusuchen, die sich einer vergangenen Zeit verdanken, aber der Gegenwart nicht angemessen sind. Damit würde sie genau jenen Fehler begehen, den Luhmann durch seine eigene Weiterentwicklung der Systemtheorie zu vermeiden suchte, nämlich ,alteuropäisch' zu werden. Es ist also notwendig, dass die Systemtheorie sich noch mehr als bisher für nicht-westliche Weltregionen interessiert. Dazu soll der Aufsatz an einem spezifischen Themenbereich beitragen, nämlich am Thema der Inklusion (vgl. Stichweh 2005a). Als Inklusion wird in der Systemtheorie die Art und Weise bezeichnet, in der Menschen als Personen in sozialen Systemen Berücksichtigung finden (Stichweh 2005a: 1). Ein wichtiger Aspekt von Inklusion, der gleichwohl in der Systemtheorie noch nicht systematisch reflektiert ist, liegt in der Tatsache, dass die Mitglieder einer Gesellschaft durch Inklusion in soziale Systeme zugleich auch den Zugang zu Gütern finden, die für ihre Lebensführung wichtig sind (vgl. Bommes 2001). Inklusion kann prinzipiell an allen sozialen Systemen auf allen Ebenen sozialer Ordnungsbildung thematisiert werden. Der Aufsatz wendet sich den Inklusionsformen auf der mittleren Ebene sozialer Ordnungsbildung zu. Auf dieser Ebene stehen in der Systemtheorie Erwerbsarbeitsorganisationen im Vordergrund, beispielsweise Schulen, Krankenhäuser oder Kanzleien. Diese Organisationen vermitteln ganz offenbar im westeuropäischen Raum dem einzelnen seine Inklusion in die verschiedenen Teilsysteme und gleichzeitig den Zugang zu für seine Lebensführung (potentiell) bedeutsamen Gütern - Bildung, medizinische Versorgung oder rechtlichen Beistand. In vielen Ländern existieren daneben jedoch weitere inklusionsrelevante Einbindungen. Der Aufsatz nimmt eine spezifische Gruppe solcher Einbindungen in den Blick und diskutiert
273 ihre theoretische Relevanz für die Systemtheorie. Dabei handelt es sich um Mitgliedschaften in so genannten Selbsthilfekollektiven. Will man diese sozialen Gebilde systemtheoretisch fassen und in ihrer Inklusionsrelevanz würdigen, so stößt man auf konzeptuelle Begrenzungen. Die in der Literatur zahlreich belegten Selbsthilfekollektive passen nicht gut in das Raster, das die Dreiertypologie von Interaktion, Organisation und Gesellschaft entwirft. Ein wichtiger Grund dafür besteht in einem besonderen Zuschnitt des Organisationsbegriffs auf die Autonomie der Organisation gegenüber den Motivlagen ihrer Mitglieder, wie sie für Erwerbsarbeitsorganisationen typisch ist. Für die angesprochenen Selbsthilfekollektive ist demgegenüber ein enger Zusammenhang zwischen Mitgliedschaftsmotivation und System konstitutiv. Um diesen und weiteren Unterschieden Rechnung zu tragen, wird eine Modifikation der Ebenenunterscheidung vorgeschlagen. Diese besteht darin, die mittlere Ebene statt mit dem Organisationsbegriff mit einem breiteren Begriff der Kollektivität zu definieren. Dieser Begriff schließt Organisationen ein, umfasst daneben aber noch andere Formen sozialer Ordnungsbildung, beispielsweise Kleingruppen. Der übergreifende Kollektivitätsbegriff erlaubt es, den systemtheoretischen Organisationsbegriff und die mit ihm verbundenen Erkenntnisgewinne intakt zu halten und gleichzeitig jene .peripheren Inklusionsvermittler in den Fokus zu rücken, die sich nicht gut als Organisationen beschreiben lassen. Diese Erweiterung der mittleren Ebene der Systemtypologie baut auf Vorüberlegungen von Wil Martens (2000) und Stefan Kühl (2011) auf und stützt sich auf Talcott Parsons' Begriff sozialer Kollektive. Der vorliegende Aufsatz bezieht sich durchweg auf das Frühwerk Luhmanns und seine Begriffe. Die Durchführung des Argumentes im Rahmen der späteren Theorie würde eigene Überlegungen erfordern, die den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würden. Zu prüfen wäre insbesondere, ob unterschiedliche Grade an Autonomie sozialer Systeme gegenüber den Motivlagen ihrer Mitglieder im Rahmen der späteren Theorie in demselben Umfang analysiert werden könnten, wie das im Frühwerk Luhmanns geschieht, und wie es für die Thematik der Inklusionsvermittlung unerlässlich erscheint. Eine weitere Beschränkung ergibt sich aus dem Interesse dieses Aufsatzes an nichtwestlichen Weltregionen. Einige der diskutierten Selbsthilfekollektive gibt es auch in Westeuropa, ohne dass dies hier systematisch berücksichtigt wird. Es wäre zu diskutieren, wo etwa
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hinsichtlich der Verbreitung und der Ausprägung von Selbsthilfekollektiven genau die Unterschiede zwischen verschiedenen Weltregionen liegen. 3 Der folgende Abschnitt setzt mit einer Rekonstruktion von Parsons' KollektivitätsbegrifF ein und zeigt, dass und warum dieser Begriff in der Systemtheorie Luhmanns durch den Organisationsbegriff ersetzt wurde (2.). Vor diesem Hintergrund werden systemtheoretische Beiträge rekonstruiert, die Erwerbsarbeitsorganisationen und Netzwerke als Inklusionsvermittler in so genannten peripheren Ländern beschreiben, und es werden Selbsthilfekollektive als ein weiterer Träger dieser Funktion identifiziert (3.). Der vierte Abschnitt diskutiert die theoretischen Probleme, die diese .peripheren' Inklusionsvermittler aufwerfen, und erläutert den Kollektivitätsbegriff, der sie lösen kann (4.). In den darauffolgenden Abschnitten wird die heuristisch-analytische Funktion des Kollektivitätsbegriffs exemplarisch an vier Fallbeispielen illustriert (5.-8.)· Abschließend werden die gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst und perspektivisch mit weiterführenden Überlegungen verknüpft, die den Blick wieder zurück auf die Region Westeuropa lenken und zu diesem Zweck auch den Nationalstaat als eine Form kollektiver Ordnungsbildung thematisieren (9.).
2. Von Parsons zu Luhmann: Kollektive und Organisationen in der Systemtheorie Parsons entwickelte einen allgemeinen Begriff sozialer Kollektive, der von Familien über Kleingruppen und Organisationen bis hin zur Nation eine breite Palette sozialer Systeme einschließt (Parsons 1969: 318; vgl. Parsons 2000: 20 ff.). Diesen Begriff knüpfte er an die zwei miteinander zusammenhängenden Merkmale der Solidarität und der Fähigkeit zu kollektiv bindendem Entscheiden. Als Solidarität
Die Entdeckung dieser Lücke verdankt sich der Entstehungsgeschichte des Aufsatzes: Ihm liegt das Vorhaben zugrunde, die Systemtheorie für nichtwestliche Weltregionen zu öffnen. Dieses Vorhaben führte auf Phänomene hin, die offenbar auch in Westeuropa existieren, nur in der Systemtheorie bisher nicht berücksichtigt wurden. Der Modifikationsbedarf der Systemtheorie hätte also auch ohne den Bezug auf nichtwestliche Weltregionen begründet werden können. Dies führt zu einer gewissen Schieflage im Aufsatz, bestätigt aber etwas Wichtiges: Dass man durch den Blick über den Tellerrand auch die eigene Weltregion besser zu verstehen lernt. 3
bezeichnete er ein gegenüber den Mindestanforderungen für soziale Systeme gesteigertes Maß an normativer Integration: Wenn die in einen gemeinsamen Handlungszusammenhang involvierten Personen bereit sind, eigene Interessen zugunsten der Konformität mit den systemeigenen Normen und damit der Integrität des Systems zurückzustellen, dann sprach Parsons von Solidarität (Parsons 1966b: 96 ff.). Diese bilde die Grundlage für die Fähigkeit zu „kollektiver Erreichung kollektiver Ziele", d.h. für die Fähigkeit, durch bindendes Entscheiden Ressourcen zu mobilisieren, um so systemeigene Ziele zu erreichen (Parsons 1969; vgl. Luhmann 2005b: 218, Anm. 17). Dieser Kollektivitätsbegriff hatte für Parsons den Status einer allgemeinen sozialtheoretischen Begrifflichkeit, die an keine Epoche der Menschheitsgeschichte und an keine spezifische Gesellschaft exklusiv gebunden ist. Im Gegenteil: Gesellschaften selbst waren für ihn nur als Kollektive überhaupt denkbar, und in jeder Gesellschaft existierte ihm zufolge eine Vielzahl weiterer Kollektive (Parsons 1966a: 16 ff.). Wie ist dieser KollektivitätsbegrifF in der Systemtheorie Luhmanns weiterentwickelt worden? Die entscheidenden konzeptuellen Änderungen nahm Luhmann bereits in den 1960er und frühen 1970er Jahren vor. In dieser Schaffensphase experimentierte er mit verschiedenen Möglichkeiten, unterschiedliche Typen sozialer Systeme zu identifizieren und voneinander abzugrenzen (vgl. Tyrell 2006). Das Ergebnis dieser Überlegungen ist die im Jahr 1975 erstmals systematisch präsentierte Dreiertypologie von Interaktion, Organisation und Gesellschaft (Luhmann 2005c) - eine Dreiertypologie, die Luhmann später nicht mehr um weitere Typen ergänzte, wenngleich auch er niemals explizit einen Vollständigkeitsanspruch mit ihr verband. Das Nachfolgekonzept für Parsons' KollektivitätsbegrifF im Rahmen dieser Systemtypologie bildet ganz offenbar der OrganisationsbegrifF. 4 Luhmanns Organisationen teilen mit Parsons' Kollektiven die Fähigkeit zu kollektiv bindendem Entscheiden, während dieses Merkmal den anderen beiden Systemtypen der Interaktion und der Gesellschaft fehlt (Luhmann 1972: 62, 2005a). Damit ersetzt Luhmann Parsons' Kollektivitätsbegriff durch ein engeres Konzept. Organisationen waren für Parsons ja nur eine unter mehreren Formen kollektiver Ordnungsbildung ne-
Ein zweites Nachfolgekonzept, auf das im Schlussteil eingegangen wird, bildet der Begriff des politischen Systems (vgl. Luhmann 2005b).
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ben Familien, Gruppen und Nationen. Diese letztgenannten Formen werden in Luhmanns Systemtheorie entweder aus der Systemtypologie herausgekürzt, so die (Klein)Gruppe, oder auf anderen Ebenen der Systembildung verortet, so die Familie (Kieserling 1994). Insgesamt treten die sozialen Phänomene, die Parsons neben Organisationen als Kollektive betrachtete, in der Aufmerksamkeit der neueren Systemtheorie in den Hintergrund. Wie erklärt sich diese Engführung des KollektivitätsbegrifFs auf den Organisationsbegriff? Ein zentrales Motiv dafür liegt auf der Ebene der Sozialtheorie, nämlich in Luhmanns Entscheidung, Parsons' analytischen SystembegrifF durch einen konkreten Systembegriff zu ersetzen (Luhmann 1980: 9). Während Parsons soziale Systeme als nichtbeliebigen Zusammenhang analytischer Elemente verstand, setzt Luhmann die Unterscheidung von System und Umwelt als Leitunterscheidung seiner Theorie und versteht dabei Systemgrenzen als empirischen oder konkreten, nicht analytischen Tatbestand. Dies „besagt, daß sich Systeme mittels dieser für sie konstitutiven Differenz (von System und Umwelt, BM) selbst in die Welt einschreiben und daß alles, was nicht in die sich vollziehende Systembildung eingeht, Teil der Umwelt des Systems wird" (Stichweh 1999: 208 f.). Aus dieser Fassung des Systembegriffs entsteht bei Luhmann ein Interesse an der Ausdifferenzierung, (relativen) Autonomie und Eigenlogik sozialer Systeme im Verhältnis zu ihrer sozialen und nichtsozialen Umwelt (vgl. Luhmann 2005b, 1984) - ein Interesse, das dann seinerseits die Engführung des Kollektivitätskonzeptes auf den Organisationsbegriff bedingt zu haben scheint. So verfügen Organisationen über ein besonders starkes Prinzip der Autonomisierung, welches in der Formalisierung der Mitgliedschaft liegt. Formalisierung der Mitgliedschaft bildet im Frühwerk Luhmanns das Definitionsmerkmal von Organisationen, wobei die Formalisierung darin besteht, dass die Mitgliedschaft an Bedingungen geknüpft wird (Luhmann 2005c: 13; vgl. Luhmann 1964: 13, 29 ff.). Durch diese Konditionierung können soziale Systeme gegenüber den Motivlagen ihrer Mitglieder und damit gegenüber wichtigen Umweltausschnitten Autonomie gewinnen. Der Schlüssel dafür liegt im Arbeitsvertrag. Er realisiert einen Tausch von Autoritätsunterwerfung gegen Gehalt und trennt damit die Motive zur Mitgliedschaft von den formalisierten Verhaltenserwartungen. Weil sich ihre Mitgliedschaftsmotivation auf das Gehalt richtet, entsteht bei den Mitgliedern mit Blick auf das, was
die Organisation von ihnen fordert, eine „zone of indifference" (Barnard 2002: 161 ff.) - und damit eine Bereitschaft auch zu artifiziellen, anstrengenden oder langweiligen Engagements, für die .natürliche' Motive fehlen. Formalisierung entlastet also die Organisation von der Notwendigkeit, die unterschiedlichen Ausführungen der Rolle jeweils direkt zu motivieren. Es können beispielsweise „Anordnungen gegeben werden, ohne daß gleichzeitig ihre Durchführung besonders entgolten werden muß. Nicht jede Mitteilung muß genau in dem Maße, als sie belastet, mit Vorteilen oder Vergünstigungen befrachtet werden, mit Drohungen gestützt werden oder emotional ansprechen" (Luhmann 1964: 94 f.). Durch Generalisierung der Motivation gewinnt die Organisation Unabhängigkeit und Flexibilität im Aufbau ihrer eigenen institutionellen Ordnung.5 Es kann ein komplexes Gefüge von Amtern und Aufgaben mit eindeutiger Verteilung von Rangansprüchen und Rechenschaftspflichten etabliert und es können verschiedene Kommunikationstypen wie „Weisung, Entwurf, Mitzeichnung, Entscheidung" bestimmt werden, die „in den verschiedenen Situationen je anders angewandt werden und ihren Sinn zu unterschiedlichen Ausprägungen entwickeln lassen" (ebd.: 82). An den anderen der von Parsons als Kollektive verbuchten Phänomene erkennt Luhmann kein gleichwertiges Prinzip der Autonomie ermöglichenden Selbstselektion. So zeigt Tyrell (2006), wie Luhmann sich in seinen frühen organisationssoziologischen Arbeiten noch intensiv mit der (Klein-) Gruppensoziologie auseinandersetzte, den Gruppenbegriff seit den 1970er Jahren dann aber aufgab. In einem Vorlesungsmanuskript gibt er als einen Grund dafür an, dass die „Gruppe letztlich doch immer aus Menschen bestehend gesehen" werde (zitiert in Tyrell 2006: 305) - mit anderen Worten: dass an ihr nur wenig Autonomie und Eigen-Ordnung gegenüber den psychischen Systemen ihrer Mitglieder erkennbar werde. Luhmanns Interesse an Eigenlogik und relativer Autonomie sozialer Systeme hat aber noch eine zweite Konsequenz, die den Organisationsbegriff selbst betrifft: Dieser Begriff ist asymmetrisch konzipiert (vgl. Stichweh 2000). Der „Organisationsmechanismus" der Formalisierung (Luhmann 2005c: 14) kann
Vgl. dazu die Definition von Autonomie bei Luhmann (2005b: 197) als „Grad der Freiheit, mit dem die Beziehungen zwischen System und Umwelt durch die selektiven Kriterien des Systems selbst geregelt werden können". 5
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nämlich von sozialen Systemen in unterschiedlichem M a ß e z u m A u f b a u einer E i g e n o r d n u n g genutzt werden. 6 Die daraus resultierenden Ungleichheiten im Formalisierungsgrad u n d d a m i t im Autonomiegewinn verortet L u h m a n n entlang der geläufigen Unterscheidung von Erwerbs- oder Arbeits- bzw. Erwerbsarbeitsorganisationen einerseits u n d Interessenorganisationen, Assoziationen oder Vereinen andererseits (vgl. S c h i m a n k 2002; Stichweh 2 0 0 0 ; Tacke 2009). In beiden Fällen handelt es sich u m Organisationen, da die Mitgliedschaft formalisiert ist. N u r Erwerbsarbeitsorganisationen entlohnen jedoch ihre Mitglieder d u r c h ein Gehalt u n d schöpfen d a m i t das im Formalisierungsmechanismus liegende O r d n u n g s p o t e n t i a l in ungleich höherem M a ß e aus als Interessenorganisationen, Vereine oder Assoziationen (im Folgenden: Assoziationen). Weil sie ihre Mitglieder weder d u r c h ein Gehalt belohnen noch über Z w a n g rekrutieren, gibt es in diesen Organisationen - in Fußballvereinen oder Kleintierzüchtervereinigungen - einen engen Z u s a m m e n h a n g zwischen der Mitgliedschaftsmotivation u n d den S t r u k t u r e n der Organisation. Die Mitgliedschaft muss i m m e r auch d u r c h den Systemzweck m i t m o tiviert werden. 7 Daraus resultieren „Schwierigkeiten (...) komplexere formale S t r u k t u r e n auszubauen, über Mitgliederbeiträge hinaus Geld zu mobilisieren u n d sich von Personen u n a b h ä n g i g zu machen" (Apelt/Tacke 2012: 15; vgl. L u h m a n n 1964: 100). Vor diesem H i n t e r g r u n d eines geringeren Spielraums z u m A u f b a u einer a u t o n o m e n Eigenordnung ist es nicht erstaunlich, dass sich das organisationssoziologische Interesse bei L u h m a n n u n d allgemein in der Systemtheorie bisher vorwiegend auf Erwerbsarbeitsorganisationen konzentrierte (vgl. Goeke 2010: 22). Erwerbsarbeitsorganisationen sind aber in der Systemtheorie nicht nur unter d e m sozialtheoretischen Gesichtspunkt der relativen A u t o n o m i e gegenüber Assoziationen ausgezeichnet, sondern auch unter gesellschaftstheoretischen Aspekten: Sie genießen innerhalb der m o d e r n e n Gesellschaft eine besondere Bedeutung. Der Organisationsmechanismus der Formalisierung bildet nämlich eine Möglichkeits-
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Ein System ist „formal organisiert in dem Maße, als seine Erwartungen formalisiert sind" (Luhmann 1964: 38, Hervorhebung BM). 7 Zumindest, so Stichweh (2000), müssen die Mitglieder ein Interesse an dem Organisationszweck darstellen - beispielsweise Golfspielen. Insgeheim kann es ihnen dabei um etwas ganz Anderes gehen - beispielsweise um Netzwerkkontakte.
b e d i n g u n g f ü r die AusdifFerenzierung von Funktionssystemen u n d f ü r den A u f b a u von deren eigenen komplexen S t r u k t u r e n (vgl. L u h m a n n 2005c; S c h i m a n k 2 0 0 0 : 170 fF.). Die P r o g r a m m i e r u n g der jeweiligen Sachbezüge der Funktionssysteme, die i m m e r bessere u n d leistungsstärkere Bearbeitung ihrer je spezifischen Leitprobleme wie beispielsweise die H e i l u n g von Krankheiten oder die ,Bildung' von Menschen erfordern genau jene artifiziellen Engagements von Berufsspezialisten, die der Arbeitsvertrag d u r c h Etablierung einer IndifFerenzzone ermöglicht. Erwerbsarbeitsorganisationen bilden m i t h i n eine tragende Säule f u n k t i o n a l e r Differenzierung. I m Vergleich d a m i t räumte L u h m a n n Assoziationen, anders als Parsons, in der m o d e r n e n Gesellschaft n u r eine marginale u n d letztlich schwindende Bed e u t u n g ein ( L u h m a n n 1964: 100). Diese Einschätzung m a g f ü r Westeuropa seit den beiden Weltkriegen zutreffend sein - aber es ist eine Frage, ob sie im globalen Kontext u n d in längerfristiger Perspektive Bestand hat. U m dies in den folgenden Abschnitten zu diskutieren, muss noch eine weitere wichtige Bed e u t u n g von Erwerbsarbeitsorganisationen e r w ä h n t werden, auf die die Systemtheorie hingewiesen hat, n ä m l i c h ihre I n k l u s i o n s f u n k t i o n . Erwerbsarbeitsorganisationen .übersetzen' nicht n u r die abstrakten Leitprobleme der Funktionssysteme in konkrete Lösungen u n d Leistungen; sie vermitteln diese Leistungen auch an die Mitglieder der Gesellschaft u n d inkludieren diese so in die verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme (vgl. B o m m e s 2001). Dies geschieht z u m einen durch die Leistungsrolle als Organisationsmitglied: Der einzelne b e k o m m t f ü r seine .indifferente' Handlungsbereitschaft als Arzt, Lehrer oder Buchhalter ein Gehalt, das i h n in das Wirtschaftssystem inkludiert. Z u m anderen vermitteln Erwerbsarbeitsorganisationen ihre spezifischen Leistungen an Nichtmitglieder. Hier tritt die einzelne Person als K u n d e , als Klient - kurz: als ein E m p f ä n g e r oder eine E m p f ä n g e r i n der Leistungen der betreffenden Organisationen auf.
3. Von Luhmann in die Weltgesellschaft: Organisationen und Netzwerke jenseits des westeuropäischen Raumes W e n d e n wir uns n u n von d e m westeuropäischen Kontext ab u n d einigen systemtheoretischen Beiträgen zu, die sich mit d e m gesellschaftlichen Leben außerhalb dieser Weltregion auseinandergesetzt haben u n d dabei auch Fragen der Inklusion thematisieren.
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Luhmann (1995, 2005e) und Holzer (2006, 2007) rekonstruieren beobachtbare Unterschiede zwischen verschiedenen Weltregionen als Differenzen in den dort jeweils realisierten Mustern der Inklusion in die globalen Funktionssysteme. Diese Rekonstruktion lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Im Zuge nachholender Modernisierung dringen Funktionssysteme und ihre organisationalen Träger etwa in Gestalt einer monetarisierten Ökonomie oder staatlicher Bürokratien gleichsam von außen in .periphere' Regionen ein. Dort setzten sie bestehende Sozialstrukturen außer Kraft, könnten aber selbst nicht voll funktionsfähig umgesetzt werden. Sie würden nur oberflächlich realisiert, weil die ihnen entsprechenden Tiefenstrukturen - grundlegende Erwartungsmuster wie die für Organisationen so zentrale Trennung von Amt und Person — nicht institutionalisiert seien. „Wenn voraussetzungsvolle Programme, die im Westen das Resultat langer Evolution waren, direkt übernommen werden, hat das (...) zur Folge, dass an die Stelle eben noch legitimer Institutionen und tribaler oder ständischer Loyalitäten ziemlich unvermittelt der Universalismus und Individualismus der Funktionssysteme tritt. Entsprechende Erwartungen können zwar - in Form von Gesetzen und Organisationsprogrammen - leicht normiert werden. Wenn diese Normen aber mit gegenläufigen partikularistischen Orientierungen konkurrieren und sie deshalb alles andere als selbstverständlich erscheinen, fehlt ihnen der Rückhalt eines unterstellten allgemeinen Konsenses. Sie sind dann nicht oder unzureichend institutionalisiert, trotz zeitlicher Stabilisierung fehlt ihnen also die soziale Unterstützung" (Holzer 2007: 436). Unter diesen Gegebenheiten entstehe eine Aufspaltung in eine formale und eine informale Ebene der Kommunikation. Auf formaler Ebene werde der Trennung von Amt und Person, formalen Organisationsprogrammen und weiteren Korrelaten funktionaler Differenzierung durch Lippenbekenntnisse Respekt gezollt, während auf informalen Ebenen die von Organisationen bereitgestellten Ressourcen nach partikularistischen Kriterien verteilt würden. Die Güter, die jedem eigentlich nach Maßgabe von Sachkriterien und universalistischen Standards zuteil oder nicht zuteil werden sollen, würden von den Leistungsrollenträgern in den betreffenden Organisationen abgezweigt und im Rahmen ihrer persönlichen Netzwerkkontakte weitergegeben. Wer in solche Netzwerke nicht eingebunden sei, der werde zur „Unperson, die niemand kennt, und die eben deshalb trotz aller formalen Berechtigungen auch
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keinen Zugang zu den Funktionssystemen findet" (Luhmann 2005e: 236). Inklusion in Funktionssysteme erfolge hier also über Inklusion in „Reziprozitätsketten" (ebd.: 235) oder gar nicht. Holzer (2007) schlägt vor, entlang der damit aufgezeigten Differenzen in den Inklusionsregimen Zentrum, Semiperipherie und Peripherie der Weltgesellschaft voneinander zu unterscheiden. Das Zentrum sei dann durch die hierzulande gewohnte Form funktionaler Differenzierung definiert, in der Erwerbsarbeitsorganisationen die Inklusion in Funktionssysteme vermitteln; semiperipher seien Regionen oder auch Lebenslagen, wenn diesen Organisationen vorgeschaltete Netzwerke den einzelnen in die Funktionssysteme inkludieren. Zur Peripherie gehörten all jene Bereiche, in denen die Menschen ganz aus den Funktionssystemen exkludiert sind. Konsultiert man einschlägige anthropologische und soziologische Literaturbestände, so lassen sich an dieser Stelle Bedarfe und Möglichkeiten einer weiteren Ausarbeitung identifizieren. Es wird hier nämlich auf weitere Träger der Inklusionsvermittlung hingewiesen, die in der systemtheoretischen Literatur noch nicht berücksichtigt sind und die weder als Erwerbsarbeitsorganisationen noch als Netzwerke verstanden werden können. Zu ihnen gehören so genannte Hometown Associations, die Schulen, Gesundheitsleistungen, Wasser und Desinfektionsbäder für Nutzvieh bereitstellen, Gebetsgruppen, Bruder- und Schwesternschaften, Beerdigungsgesellschaften, ländliche oder städtische Kreditzirkel und andere ökonomische Selbsthilfegruppen. 8 Von den für Holzers Semiperipherie konstitutiven Netzwerken unterscheiden sich diese Inklusionsvermittler durch eine stabile und eindeutige Mitgliedergrenze und die Fähigkeit zu kollektiv bindendem Entscheiden. So teilen Beerdigungsgesellschaften und Kreditzirkel mit Netzwerken zwar das wichtige
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Vgl. allgemein Eckert (2006) sowie exemplarisch Bahre (2007); Barnes (1975); Bratton (1989); de Soto (1989); Holzer & M u t z (2011); H o n e y & O k a f o r (1998); Salamon & Anheier (1997); Tripp (1997). Ein hier besonders interessanter Beitrag ist der vielbeachtete Aufsatz von Peter E. Ekeh über die „Zwei Öffentlichkeiten" in Nigeria (Ekeh 1975). Weil viele der hier beschriebenen sozialen Gebilde ethnisch basiert sind, teilweise mit askriptiver Positionszuweisung entlang von Alters- oder Verwandtschaftskriterien, hatte die klassische Modernisierungsforschung sie als ein U b e r g a n g s p h ä n o m e n im Eintritt in die M o d e r n e begriffen (vgl. Geertz 1962). Neuere Beiträge zeigen aber, dass sie fortexistieren oder sogar ein Revival erfahren haben (Osaghae 2003: 9).
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 271-293
M e r k m a l , dass die Bereitstellung von Ressourcen ihr zentrales ,Thema' bildet; diese Bereitstellung erfolgt jedoch mithilfe je unterschiedlicher sozialer .Techniken'. Netzwerke verteilen Ressourcen tauschförmig, über zeitlich generalisierte Reziprozität. Demgegenüber verwenden Kreditzirkel oder Beerdigungsgesellschaften die Technik des Pooling: 9 N a c h Regeln, die sich von Fall zu Fall unterscheiden mögen, stellen alle oder einige Mitglieder d e m System Ressourcen zur Verfügung, die zunächst gesammelt u n d d a n n redistribuiert werden. Dies setzt die Fähigkeit zu kollektiv b i n d e n d e m Entscheiden u n d d a m i t einen klar abgegrenzten Bestand von Mitgliedern voraus - ein M e r k m a l , das diese Gruppierungen mit Organisationen teilen. In Netzwerken setzt sich demgegenüber der Kreis derer, die dazugehören, von jedem Knoten aus anders zusammen. Es handelt sich in diesem Sinne u m soziale Gebilde o h n e klare Mitgliedergrenze, die in alle R i c h t u n g e n hin ausfransen (vgl. Fuhse 2006). Gleichzeitig haben wir es bei Kreditzirkeln, H o m e town Associations u n d Bruderschaften aber nicht mit Erwerbsarbeitsorganisationen zu t u n . Ihre Mitglieder sind keine Angestellten, die über ein Gehalt entlohnt werden; u n d ihre inklusionsvermittelnden Leistungen werden nicht an Nichtmitglieder verteilt, sondern an die Mitglieder selbst. Die von den durch das System oder Sozialgebilde generierten Ressourcen Profitierenden sind hier keine Klienten oder Kunden, sondern sie sind als Mitglieder des Systems zumeist an der Generierung der Ressourcen selbst beteiligt. Sofern wir es mit Organisationen zu t u n haben, h a n delt es sich also u m Assoziationen, genauer noch: u m Selbsthilfeassoziationen, f ü r die Blau & Scott (1962) den Begriff der „mutual benefit organizations" eingef ü h r t haben. Viele der in der Literatur beschriebenen Gebilde sind aber auch nicht formal als Organisationen konstituiert, sondern haben einen ausgesprochenen Kleingruppencharakter. Ihre Fähigkeit zu kollektiv bindendem Entscheiden legt es nahe, diese informalen G r u p p e n mit den formalisierten Selbsthilfeassoziationen in einer Kategorie zusammenzufassen. Deshalb werden beide hier übergreifend als Selbsthilfekollektive bezeichnet. Bevor exemplarisch vier solcher Selbsthilfekollektive ausführlicher beschrieben werden, diskutiert der folgende Abschnitt ihre theoretische Relevanz f ü r die Systemtheorie.
9
Vgl. zu Tausch und Pooling als zwei verschiedenen Typen von ökonomischen Transaktionen Sahlins (1972: 188).
4. Kollektivität als Prinzip sozialer Ordnungsbildung Will m a n die in der Literatur beschriebenen Selbsthilfekollektive systemtheoretisch fassen u n d in ihrer Inklusionsrelevanz würdigen, so stößt m a n auf konzeptuelle Probleme. Diese Probleme betreffen zunächst einmal den Organisationsbegriff, der die mittlere Ebene von L u h m a n n s Systemtypologie belegt. I m Kern werfen sie aber grundlegendere Fragen auf, die sich auf die Systemtypologie als ganze g e n o m m e n beziehen. Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen legt einen erneuten Rückgriff auf Parsons' Begriff des Kollektivs nahe. Z u n ä c h s t einmal haben wir es hier offenbar mit einigen derjenigen von Parsons' Kollektiven zu tun, die in der neueren Systemtheorie L u h m a n n s in den H i n t e r g r u n d getreten sind oder ganz aus d e m Repertoire sozialer Systeme herausgekürzt w u r d e n (Assoziationen, Kleingruppen). M a n könnte versuchen, entsprechend L u h m a n n s E n g f ü h r u n g auf den Organisationsbegriff, diese Kollektive als Organisationen zu analysieren. Dieses Unterfangen w ü r d e jedoch in mindestens zwei Hinsichten auf Grenzen stoßen. Z u m einen trifft der Organisationsbegriff zwar die formal als Assoziationen konstituierten Selbsthilfekollektive, nicht jedoch kleingruppenartige Kollektive, die keine Formalstruktur aufweisen. Z u m anderen profilieren sich viele der hier im Fokus stehenden Selbsthilfekollektive durch eine ausgesprochen enge Verbindung zwischen Systemzweck u n d Mitgliedschaftsmotivation. Die Sparziele eines Kreditzirkels oder die Schutzfunktionen von Schwesternschaften haben geradezu existenzielle Bedeutung f ü r ihre Mitglieder. Von diesem engen Z u s a m m e n h a n g zwischen Systemzweck u n d Mitgliedschaftsmotivation ,leben' diese sozialen Gebilde, u n d deshalb müsste dieser Z u s a m m e n h a n g bei ihrer Analyse in den Vord e r g r u n d gestellt werden. Dazu scheint der Organisationsbegriff nur bedingt geeignet. M i t d e m Formalisierungskonzept rückt er ja gerade die Funktionen u n d Folgen eines Autonomiegewinnes gegenüber der Umwelt in den Fokus. Das in einer engmaschigen Verbindung mit der psychischen Umwelt der Mitglieder liegende Ordnungspotential d ü r f t e sich aber nicht einfach als logische Kehrseite des mit hoher Autonomie erlangten Ordnungspotentials darstellen, beispielsweise als Mangel an struktureller Flexibilität oder Eigenselektivität. Diese Probleme k ö n n e n noch genauer aufgeschlüsselt werden. Der Rückblick auf Parsons u n d der Seitenblick in die .Peripherie' der Weltgesellschaft
279
Bettina Mahlert: Gleichzeitigkeit unter Abwesenden haben nämlich deutlich gemacht, dass sich hinter
denen die Systemtypologie nicht gleichzeitig konse-
den Schwierigkeiten bei der Anwendung des Orga-
quent folgen kann. J e nachdem, welcher Fragerich-
nisationsbegriffs eine breitere Problematik verbirgt:
tung sie folgt, müssen auch die Definitionskriterien
Es gibt ein Spannungsverhältnis
zwischen
zwei
für die verschiedenen Ebenen unterschiedlich ge-
verschiedenen Erkenntnisinteressen, die beide mit
wählt werden. Es ist gegenwärtig eine offene Frage,
Luhmanns Typologie verbunden sind, aber nicht
mit welchem Interesse die Trias von Interaktion,
gleichzeitig maximal bedient werden können. Das
Organisation und Gesellschaft belegt sein soll, und
erste dieser Erkenntnisinteressen ergibt sich aus dem
es könnte zu ihrer weiteren Profilierung beitragen,
Universalitätsanspruch der Systemtheorie. Die Sys-
über diese Frage zu diskutieren.
temtheorie versteht sich als eine Supertheorie, die
Das
Merkmal
der
die soziale Realität erschöpfend erfasst ( L u h m a n n
Formalisierung benennt einen Mechanismus
der
1984: 33). Dementsprechend könnte die Systemty-
Autonomisierung von Sozialsystemen. Demgegen-
Organisationen
definierende
pologie mit dem Ziel entwickelt werden, zu diesem
über orientiert sich dieser Aufsatz an dem Ziel eines
umfassenden Verständnis beizutragen. Ein zweites
umfassenden Verständnisses der sozialen Realität in
zentrales
Systemtheorie
ihrer ganzen Diversität: E r will Lücken schließen,
Autonomisierung
die aus einer alleinigen und noch dazu selektiven Be-
von Sozialsystemen. M i t Blick auf dieses Interesse
trachtung westeuropäischer Verhältnisse entstanden
könnte die Ebenenunterscheidung als Typologie von
sind. Dieses Erkenntnisinteresse gegeben, muss eine
Mechanismen der Autonomisierung von Sozialsys-
adäquate Weiterentwicklung der Ebenenunterschei-
temen angelegt werden.
dung darin bestehen, ihre mittlere Ebene durch ein
richtet
Erkenntnisinteresse
sich
a u f Prozesse
der
der
W i r haben oben gesehen, dass L u h m a n n s Interesse an der Autonomie sozialer Systeme aus seiner Entscheidung für einen konkreten Systembegriff entstanden ist. Diese Entscheidung hat sich als sehr produktiv erwiesen. Parsons musste die Funktionsweise sozialer Systeme immer auch in der .moralischen Bindung ihrer Mitglieder an die systemeigenen Normen verorten und fand so nur in sehr engen Grenzen einen Zugriff auf die spezifische Eigenlogik des Sozialen. Aus diesen Beschränkungen befreite L u h m a n n die Systemtheorie mit der Folge erheblicher Einsichtsgewinne beispielsweise in die D y n a m i k von Funktionssystemen, in die Funktionen und Folgeprobleme von formaler Organisation und in den prozesshaften Charakter des Sozialen. N u n hat jedoch die Suche nach inklusionsvermittelnden
Sozialsystemen
in
der
Weltgesellschaft
erneut darauf aufmerksam gemacht, dass das Interesse an Autonomisierung nicht unbedingt auch zu einem umfassenden Blick auf die soziale Realität im Allgemeinen und die moderne Gesellschaft im Besonderen führt. D e n n diese umfasst neben relativ autonomen Sozialsystemen auch soziale Gebilde, die sehr nah an der Motivation ihrer Mitglieder gebaut sind. 1 0 Die Existenz solcher wenig autonomer Sozialordnungen gegeben, definieren ,Autonomie' und .Universalität' zwei verschiedene
Fragerichtungen,
allgemeineres M e r k m a l als das der Formalisierung zu definieren - ein Merkmal, das Systeme mit hohen und Systeme mit geringen Graden an Autonomie symmetrisch behandelt und insbesondere geeignet ist, Letztere in den Fokus zu rücken. Ein solches Merkmal bietet bei adäquater Anpassung Parsons' Begriff sozialer Kollektive. E r erlaubt es, die durch das Interesse an Autonomisierung erzielten organisationssoziologischen Erkenntnisgewinne zu bewahren und Formen sozialer Ordnungsbildung gleichwertig in den Fokus zu rücken, die mit ihrer Umwelt in einem engmaschigen
Zusammenhang
stehen. M i t der Fähigkeit zu kollektiv bindendem Entscheiden benennt dieser Begriff ein Merkmal, das für Erwerbsarbeitsorganisationen
zentral ist,
zugleich aber auch für Selbsthilfekollektive,
und
das beide zugleich von vielen anderen sozialen Systemen unterscheidet. Dieser Begriff kann zudem so reformuliert werden, dass er a u f den konkreten Systembegriff Luhmanns zugeschnitten ist. Aus diesem Grunde wird hier vorgeschlagen, die mittlere Ebene der Systemtypologie statt durch das Merkmal der Formalisierung durch das M e r k m a l der Kollektivität zu definieren und dadurch in ihrem Gegenstandsbereich zu erweitern. Organisationen
sind
dann weiterhin a u f der mittleren Ebene angesiedelt, aber nur als eine Realisationsform kollektiver Ordnungsbildung neben anderen. D e r Schlüssel zu dieser Modifikation liegt in der Einsicht, dass Formali-
10
Das bestreitet natürlich die Systemtheorie nicht; viel-
mehr hat sie selbst derartige Fälle schon beschrieben, so etwa Familie und Intimbeziehungen (vgl. u. a. Kieserling 1994; L u h m a n n 1982).
sierung sozialen Systemen die Fähigkeit zu kollektiv bindendem Entscheiden verleiht, aber die Fähigkeit zu kollektiv bindendem
Entscheiden
umgekehrt
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nicht unbedingt Formalisierung voraussetzt. Beide Merkmale können daher getrennt werden, um die mittlere Ebene anhand der Fähigkeit zu kollektiv bindendem Entscheiden neu zu definieren.11 Der Kollektivitätsbegriff lässt sich durch drei aufeinander aufbauende Merkmale definieren: 1. Prozesse kollektiver Ordnungsbildung setzen ein, wenn eine Unterscheidung zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern dauerhaft etabliert wird. Diese Grenzziehung ist konkret zu verstehen: In den betreffenden kommunikativen Prozessen wird zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern unterschieden, und zwar unabhängig davon, ob diese gerade anwesend sind oder nicht. So können bei den Treffen eines Sparzirkels auch Nichtmitglieder anwesend sein. Diese werden aber in der Interaktion als Nichtmitglieder identifiziert, während andere abwesende Personen als Mitglied behandelt werden. Für den Sparzirkel ist diese Grenzziehung identitäts- und bestandskritisch, da ohne sie nicht bestimmbar wäre, wer wann wie viel Geld einzuzahlen hat oder umgekehrt ausgezahlt bekommt. Damit ist bereits ein zweites Merkmal von Kollektivität benannt: 2. Entlang der dauerhaft etablierten Mitgliedergrenze werden différentielle Erwartungen an Mitglieder und Nichtmitglieder herausgebildet. In diesen Erwartungen liegt das Äquivalent für Parsons' Solidaritätskonzept. Anders als bei Parsons kann es sich hier jedoch neben normativen auch um kognitive Erwartungen handeln (vgl. Luhmann 1969). So erwarten die Mitglieder einer Shanghaier Schwesternschaft normativ wechselseitige Schutzleistungen voneinander und rechnen gleichzeitig kognitiv bei Nichtmitgliedern mit Gewaltbereitschaft.
11 Dieser Vorschlag stützt sich auf zwei Vorüberlegungen. Ein Beitrag von Martens (2000: 282), auf den mich Simon Schlimgen hingewiesen hat, zeigt die Differenz zwischen Formalisierung und der Fähigkeit zu kollektiv bindendem Entscheiden auf: „Mit der Mitgliedschaftsregel wird ohne Zweifel ein wichtiger Differenzierungs- und Festlegungsmechanismus moderner Organisationen benannt. Sie wird aber nicht nur in Organisationen, sondern auch in anderen sozialen Systemen — wie Familie und Freundeskreis — zur Differenzierung verwendet. N u r können diese Systeme nicht so leicht - oft fast gar nicht - über den Inhalt dieser Regel und ihre Anwendung auf Personen entscheiden und sie so formal etablieren." Diese Einsicht wird hier verbunden mit dem Vorschlag von Stefan Kühl (in diesem Band), auf der mittleren Ebene der Systemtypologie neben Organisationen weitere Systeme anzusiedeln.
3. Auf dieser Grundlage einer klaren Mitgliedergrenze und entlang daran gebildeter Erwartungen kann sich die Fähigkeit zu kollektiv bindendem Entscheiden herausbilden. Kollektiv bindendes Entscheiden bildet Luhmanns Nachfolgekonzept für Parsons' Begriff kollektiver Zielerreichung, und es ist gegeben, wenn eine Entscheidung für die Mitglieder des Kollektivs „Prämisse weiteren Verhaltens" wird (Luhmann 2005b: 200). Diese drei Merkmale sind sowohl für Erwerbsarbeitsorganisationen als auch für Selbsthilfeassoziationen von konstitutiver Bedeutung. Gleichzeitig sind sie gegenüber dem erreichten Grad an Formalisierung neutral. Sie treffen hochgradig formalisierte Erwerbsarbeitsorganisationen ebenso wie Systeme, die die Mitgliedschaft gar nicht unter Bedingungen stellen, so etwa die Familie mit ihren askriptiven Mitgliedschaftskriterien für die Kinder. Hier liegt ein wichtiger heuristischer Effekt des Kollektivitätsbegriffs: Er privilegiert Erwerbsarbeitsorganisationen nicht analytisch gegenüber nur gering formalisierten und damit weniger autonomen Sozialsystemen und verleiht Letzteren daher in der Systematik sozialer Phänomene ein höheres Maß an Sichtbarkeit. Dies könnte ein instruktives Signal sein, weil sich die Systemtheorie der modernen Gesellschaft ja intensiv mit der Autonomie(sierung) von Sozialsystemen beschäftigt hat. Angesichts der dabei angefallenen reichen Erkenntnisse könnte es heute profitabel sein, verstärkt Aufmerksamkeit auf soziale Phänomene mit geringen Graden an Autonomie zu richten. Zumindest gilt das für das Ziel, die Bedeutung von Selbsthilfekollektiven für die Inklusion in der modernen Weltgesellschaft zu verstehen. Nach allgemeinem Verständnis ist die vorgeschlagene Modifikation der Systemtypologie allerdings nur dann akzeptabel, wenn gezeigt werden kann, dass der Kollektivitätsbegriff zumindest zwei Anforderungen erfüllt (vgl. Luhmann 2005c; Tyrell 1983a; Wimmer 2007): 1. Ist der Systemcharakter der über Kollektivität definierten .sozialen Gebilde' gegeben? 2. Stellt .Kollektivität' ein eigenes Prinzip der Grenzziehung und der Selbstselektion sozialer Systeme dar - ein Prinzip, das Kollektive überhaupt erst zu einem eigenen Systemtypus macht? Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten ist klar, dass diese beiden Anforderungen selbst erst einmal diskutiert werden müssen. Denn je nachdem, ob die Ebenenunterscheidung einem Interesse an Autonomisierung oder einem Interesse an einem umfassenden Zugriff auf die soziale Realität dienen
Bettina Mahlert: Gleichzeitigkeit unter Abwesenden
soll, sind unterschiedliche Kriterien für die Definition von Typen oder Ebenen sinnvoll. Mit Blick auf das hier relevante Interesse an einem umfassenden Verständnis des Sozialen ist gegenüber den beiden genannten Anforderungen eine gewisse Distanz angemessen.
281 Auch diese Frage kann hier nicht auch nur ansatzweise beantwortet werden. Das empirische Material zeigt jedoch, dass Kollektivität in dem hier zugrunde gelegten Sinne in einigen Fällen einen Aufbau sozialer Systeme induziert, in anderen Fällen aber auch effektive Ordnungsstrukturen hervorbringt, die sich nicht oder allenfalls ansatzweise im Sinne der Systemtheorie Luhmanns als soziale Systeme verstehen lassen. Das Ebenen definierende Merkmal der Kollektivität ist daher nicht als ein Prinzip der Selbstselektion sozialer Systeme zu verstehen, sondern als eine Form oder ein Prinzip sozialer Ordnungsbildung.
Erstens stellt sich nämlich die Frage, ob sich alle sozialen Systeme auf der Grundlage eines eigenen Prinzips der Selbstselektion bilden müssen, das in seinem Ordnungspotential den an Interaktion, Organisation und Gesellschaft definierten „Formeln" der Anwesenheit, der Formalisierung und der kommunikativen Erreichbarkeit gleichwertig ist (Luhmann 2005c: 14). So ist an Familien eine solche Es folgen nun vier Fallbeispiele kollektiver OrdFormel nicht unmittelbar erkennbar, und doch sind nungsbildung, die die vorangegangenen Überlesie als soziale Einheiten gesellschaftlich ubiquitär gungen am empirischen Material exemplarisch illusund bedeutsam (vgl. Kieserling 1994; Tyrell 1983b). trieren. Dabei stehen drei Aspekte im Vordergrund: Dafür kann hier keine allgemeingültige Lösung geA) Kollektivität·. An den Fallbeispielen wird gezeigt, funden werden. Der Kollektivitätsbegriff jedenfalls dass Kollektivität im eben aufgezeigten Sinne die benennt kein dem der Formalisierung gleichwerGrundlage und notwendige Voraussetzung für den tiges Prinzip der Selbstselektion. Dies ergibt sich Aufbau dieser Gebilde darstellt - dass sie das ermögschon daraus, dass er sehr verschiedenartige soziale licht, was sie ausmacht. Phänomene zusammenfasst, darunter die über die B) Autonomie und Formalisierung·. Die Besonderspezifische Formel der Formalisierung definierten heiten einiger Fälle werden mit Blick auf ihren Organisationen. Kollektivität ist daher als ein sehr geringen Grad an Autonomie einerseits und ihren allgemeines Prinzip sozialer Ordnungsbildung zu (möglichen) Rückgriff auf den Autonomie ermögliverstehen, das einerseits Bestimmtes ermöglicht und chenden Mechanismus der Formalisierung andereranderes ausschließt, darüber hinaus aber auf sehr seits beschrieben. unterschiedliche Weise genutzt werden kann. C) Inklusion: Schließlich wird geprüft, ob und in Auch hinsichtlich der Anforderung, einen Systemwelche Funktionssysteme die jeweiligen Formen charakter nachzuweisen, sind gewisse Vorbehalte kollektiver Ordnungsbildung ihre Mitglieder inangesagt. Ganz unabhängig von den mit der Syskludieren und zu welchen Gütern sie ihnen Zugang temtypologie verbundenen Problemstellungen fällt eröffnen. ja auf, dass nicht auf alle als soziale Systeme behandelten Phänomene der jeweils zuständige Systembegriff in gleicher Weise angewendet werden 5. Schwesternschaften in Shanghai: konnte. So gehört beispielsweise Religion zu den Kieingruppen im Kontext einsetzender anerkannten Funktionssystemen, ist aber gleichzeitig hinsichtlich seines Systemcharakters schwer zu Industrialisierung greifen, schon gar, wenn es sich dabei um ein globales Funktionssystem handeln soll (vgl. Petzke 2013). Bruder- und Schwesternschaften bilden eine sehr Und so haben Kleingruppen wie etwa ein Lesezirkel alte Form des sozialen Zusammenschlusses, der eine eindeutige Mitgliedergrenze, während ihr Syswahrscheinlich in verschiedenen Regionen der Welt isoliert entstanden ist. Das europäische Mittelalter temcharakter kontrovers geblieben ist (vgl. Wimmer kannte christliche Bruderschaften, die neben reli2007). Damit stellt sich die Frage, ob eine auf ein giösen Funktionen zahlreiche Aufgaben der Daumfassendes Verständnis angelegte Typologie überseinsvorsorge für ihre Mitglieder übernahmen (vgl. haupt als Typologie sozialer Systeme angelegt sein sollte — oder ob Definitionskriterien für ihre einzel- Tyrell 1997: 200). In China lässt sich die Existenz kleiner, an Verwandtschaftsnetzwerke und gemeinnen Ebenen denkbar und vielleicht sogar instruktiv same Herkunft angelehnter Schwestern- und Brudersind, die zu Graden an Systemhaftigkeit gleichsam schaften bis in die Tang-Dynastie im 7. Jahrhundert querstehen. zurückverfolgen (Ownby 1996: 529). Erstaunlicherweise haben diese traditionellen Schwestern- und
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 271-293
Bruderschaften zumindest bis vor einigen Jahren
Art. Darüber hinaus führen viele der Schwestern-
gerade auch in den städtischen Modernitätszentren
schaften eine Schwesternschafts-Gebühr ein, die sie
Chinas überlebt (Ownby 1996). Besonders sichtbar
auf einem Bankkonto deponieren, u m von dem da-
sind in der heutigen Weltgesellschaft
raus gebildeten Kapital außerordentliche Ausgaben
Bruderschaften wie etwa die global
islamische operierende
Muslimbruderschaft. Diese erfüllen äußerst viel-
im Falle von Krankheit, Todesfällen in der Familie oder Hochzeiten zu bezahlen.
fältige politische, ökonomische und soziale Funk-
D e n zentralen Bestandteil der lebenslänglich ge-
tionen. In dieser Hinsicht könnte man sie sinnvoll
schworenen Solidarität bildet jedoch wechselseitiger
mit weiteren islamischen politisch-religiös-sozialen
Beistand im Arbeitskontext und Wohnumfeld - bei-
Organisationen wie der Hisbollah vergleichen, die
spielsweise, indem man vorübergehend die Arbeit der
keine an familiäre Beziehungen angelehnten Selbst-
anderen übernimmt, u m ihr eine Pause zu ermögli-
bezeichnungen aufweisen, ihnen aber hinsichtlich
chen. Die Schwestern begleiten sich auf dem gefahr-
ihrer Zielsetzungen und Funktionen ähnlich sind.
vollen Weg zur Arbeit und stehen einander bei, wenn
Die hier behandelten Schwesternschaften sind die-
konfliktnahe Situationen im Arbeitskontext entste-
sen großen und tendenziell weltweit operierenden
hen. Z u diesem Zweck werden stets auch zwei bis drei
Bruderschaften jedoch genau entgegengesetzt: Sie
ältere Frauen und ein M a n n als Mitglieder zu gewin-
sind allenfalls am Rande religiös und klein. Sie ent-
nen gesucht; die gesamte Schwesternschaft' ist dann
standen in Shanghai in der Mitte des 2 0 . Jahrhun-
zehn Personen stark. O h n e die älteren Frauen und
derts als multifunktionale Gebilde aus informellen
den M a n n hätte die Gruppe keine „Kraft, sich selbst
Gruppen von Arbeiterinnen in der Baumwollindus-
zu verteidigen" (Honig 1986: 708). Die Schutzleis-
trie (Honig 1 9 8 6 , 1992). 1 2 I m hier gegebenen Zu-
tungen der ,Big Ones' vergelten die .Kleineren' durch
sammenhang sind sie interessant, weil sie eindeutige
Geschenke. An den egalitären und kleingruppenar-
und starke Formen inklusionsvermittelnder kollek-
tigen Kern der Schwesternschaft ist so eine Struktur
tiver Ordnungsbildung darstellen, gleichzeitig aber
asymmetrischer Reziprozität angelagert.
nicht auf Formalisierung basieren und sich allenfalls
Diese zusammengesetzten Gebilde realisieren mul-
in einem sehr schwachen Sinne als soziale Systeme
tiple Inklusions- oder Leistungsbezüge. M i t ihrer
konstituieren. Ausschlaggebend dafür ist ihr klein-
Schwesternschaftsgebühr suchen sie für ihre Mit-
gruppenartiger
glieder Inklusion in die Ökonomie sicherzustellen,
und zusammengesetzter
Charak-
ter. 13
aber natürlich auch Zugang zum Gesundheitssys-
Zu den Shanghaier Schwesternschaften gehören jeweils Arbeiterinnen, die aus demselben Herkunftsort nach Shanghai migriert waren. Viele dieser informellen Gruppen konstituieren sich nach einiger Zeit als Schwesternschaften. Dies geschieht, indem die Mitglieder sich, üblicherweise im R a h m e n eines Rituals, lebenslänglich Solidarität schwören. Sie bezeichnen sich dann als Schwestern (,Große Schwester', .Zweite Schwester', .Dritte Schwester' etc.). U m ihre Einheit auszudrücken, tragen sie gerne eine selbst angefertigte Uniform, wenn sie zusammen unterwegs sind. Solche Anlässe sind geselliger
tem. D e r wechselseitige Schutz vor gewaltsamen Aggressionen anderer vermittelt den Zugang zu einer Leistung - physische Sicherheit - , für die mit dem Gewaltmonopol des Staates das politische System als zuständig gilt. Schließlich bieten die persönlichen Beziehungen unter den,kleinen Schwestern' auch ein Substitut für ihre familiären Beziehungen, die durch die Migration in die Stadt unterbrochen sind. Für alle diese Leistungen ist der kollektive Charakter der Schwesternschaft zentral. Das gilt zunächst einmal für das Beziehungsgefüge zwischen
den
.kleinen Schwestern', das typische Merkmale von Kleingruppen aufweist. Die Schwestern begegnen sich zunehmend in „persönlich gefärbten und als
12
O b sie heute noch existieren, geht aus der hier heran-
gezogenen Literatur nicht hervor. Die Studie von Honig
persönlich erlebbaren Beziehungen" (Tyrell 1983a: 79). Ihre wachsende Nähe hebt sie füreinander aus
bildet jedoch meines Wissens eine der wenigen — ihrer-
der Menge der vielen anderen Arbeiterinnen heraus.
seits auch recht kurzen - Fallstudien zum Thema (van der
J e mehr eine solche Mitgliedergrenze Kontur ge-
Linden 1996: 18) und wird deshalb hier herangezogen. I m übrigen sind die Schwesternschaften im Kontext von Industrialisierung und Urbanisierung entstanden und damit offenbar kompatibel mit auch heute zentralen Merkmalen von Modernität. 13
A u f derartige .Verschachtelungen
hin.
weist Kühl (2012)
winnt, desto mehr gehen die .kleinen Schwestern' dazu über, Vorhaben durchzuführen, die wechselseitige Koordination und gemeinsame Abstimmung per Entscheidung erfordern, so etwa, wenn sie eine Uniform wählen und anfertigen, oder wenn
Bettina Mahlert: Gleichzeitigkeit unter Abwesenden sie kollektiv Geld sparen. Ähnlich basiert auch der die .großen Schwestern' einschließende Tausch von Sicherheit gegen Geschenke auf differentiellen Erwartungen an Mitglieder und Nichtmitglieder. Er unterstellt die Existenz von Nichtmitgliedern, die den Mitgliedern mit Aggression und Gewalt begegnen. Und er erfolgt nicht in dyadischen Reziprozitätsbeziehungen. Vielmehr wird er im Rahmen einer schwesternschaftsinternen Öffentlichkeit etabliert, die alle Mitglieder einschließt und bindet. Dies mag die Bindungswirkung des Schutzversprechens erhöhen: Jede weiß, dass die anderen wissen, dass sie sich zur Schutzleistung bzw. zu entsprechenden Gegengeschenken verpflichtet hat. Die Schwesternschaft ist jedoch nicht formalisiert, wie sich an dem Treueschwur gut illustrieren lässt. Er verleiht der Solidarität zwischen den Schwestern durch seinen expliziten Charakter Festigkeit und Verbindlichkeit, so dass man ihn als eine Formalisierungsschwelle interpretieren könnte. Dies wäre aber falsch, weil das Solidaritätsversprechen nicht den Charakter einer Mitgliedschaftsregel hat. Es stellt keine Bedingung für den Ein- und Austritt dar, und es hat nicht die Funktion, die Identität des Systems auch bei wechselnden Mitgliedern intakt zu halten. Vielmehr liegt sein Sinn darin, die persönliche Bindung der Schwestern als Grundlage der wechselseitigen Solidarität zu bekräftigen. Die terminologischen Bezüge auf die Familie symbolisieren dabei die Nichtersetzbarkeit der Mitglieder: Als Schwestern ist man - lebenslänglich, quasi-askriptiv - aneinander gebunden (vgl. Tyrell 1983b). Schließlich lässt es insbesondere der zusammengesetzte Charakter der Schwesternschaft als zweifelhaft erscheinen, diese als System zu begreifen. Bei den Schwesternschaften stehen gesellige Interaktionen unter exklusiver Beteiligung der .kleinen Schwestern recht unverbunden neben Schutzhandlungen, die zwischen den .großen Schwestern' und Nichtmitgliedern stattfinden und von denen die Kleinen möglicherweise niemals erfahren - beispielsweise wenn ein älteres Mitglied einem Nichtmitglied bei Strafe droht, die .kleinen Schwestern' nicht zu belästigen. Es fällt nicht leicht, diese verschiedenen .Aktualisierungen' der die Schwesternschaft konstituierenden Erwartungen als einen einzigen sich reproduzierenden Zusammenhang wechselseitig aufeinander bezogener Handlungen zu denken (vgl. Luhmann 1969). Schon gar nicht lässt sich den Anforderungen der späteren Theorie entsprechend eine systemkonstituierende Operation identifizieren.
283
6. Masifunde: Ein Sparzirkel am Rande des Existenzminimums Sowohl dieses als auch das nachfolgende Beispiel entnehme ich einer von Erik Bähre (2007) vorgelegten Studie zu Assoziationen der finanziellen Selbsthilfe in Indawo Yoxolo, einem Township in Kapstadt. Indawo Yoxolo ist vorwiegend von schwarzen Migranten aus dem Umland bewohnt und bildet für die meisten seiner Bewohner ein feindliches Umfeld. Sie fürchten Mord, Diebstahl und Vergewaltigung; sie kennen ihre Nachbarn nicht, haben wenige Freunde und keine Familie vor Ort, und überall werden sie mit rassistischer Kommunikation konfrontiert. Allein die vage Aussicht auf Geld führt sie nach Indawo Yoxolo (Bähre 2007: 1). Jedoch ist es angesichts hoher Arbeitslosenquoten auch dort keinesfalls einfach, an Geld zu gelangen. Auch ist es schwierig, dieses aufzubewahren und vor Diebstahl, vor dem Zugriff durch Verwandte oder vor den eigenen dringenden Bedarfen zu schützen. Um diesen Problemen zu begegnen, gründen die Migranten so genannte Financial Mutuals. Financial Mutuals ist ein Sammelbegriff für Selbsthilfevereinigungen im ökonomischen Bereich (vgl. van der Linden 1996). Indem Financial Mutuals zur Zahlungsfähigkeit ihrer Mitglieder beitragen, vermitteln sie ihnen Inklusion in das weltweit zunehmend durchmonetarisierte Wirtschaftssystem der modernen Gesellschaft. Ein Zusammenhang zwischen der Modernisierung der Ökonomie und den Financial Mutuals ist in historischer Perspektive leicht erkennbar: Sie sind weltweit überall dort entstanden, wo durch Monetarisierung Subsistenzwirtschaft aufgelöst wurde und breite Bevölkerungsschichten für die Sicherung ihres Lebensunterhaltes vom Zugang zu Geld abhängig geworden sind. In Westeuropa wurden die im Zuge dieses Prozesses zahlreich entstandenen Selbsthilfevereinigungen nach und nach durch Erwerbsarbeitsorganisationen verdrängt - durch kommerzielle Banken und Versicherungen, durch die sozialen Sicherungsleistungen des Staates und durch betriebliche Versicherungssysteme. Jedoch hat dieser Substitutionsprozess in anderen Regionen nicht stattgefunden. Selbst dort, wo staatliche und kommerzielle Versicherungen ihre Dienste anbieten, bestehen kleine Financial Mutuals oft weiter fort, beispielsweise in Afrika und Asien (Bähre 2007; Ownby 1996). Obwohl genaue zahlenmäßige Einschätzungen schwer sind, gehen Studien beispielsweise davon aus, dass in Südafrika etwa ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung Mit-
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glied in mindestens einer solchen Gruppe ist (Bähre 2007: 9). Im Zuge internationaler Migration werden Financial Mutuals seit einigen Jahren auch nach Europa und Nordamerika importiert' (de Swaan & van der Linden 2006). Die meisten dieser Selbsthilfeassoziationen operieren auf der Grundlage sehr einfacher Techniken (Bähre 2007: 9 ff.). Am einfachsten funktionieren so genannte ROSCAs („Rotating Savings and Credit Associations"). Man trifft sich regelmäßig, sammelt dabei von jedem Mitglied einen festgesetzten Beitrag ein und zahlt das gesammelte Geld turnusmäßig an eines der Mitglieder aus. Nachdem das letzte Mitglied an der Reihe war, ist die ROSCA aufgehoben. Ganz ähnlich funktionieren ASCRAs („Accumulating Savings and Credit Associations")· Sie sammeln ebenfalls regelmäßig Beiträge ein, zahlen diese aber nicht direkt an die Mitglieder aus, sondern bilden einen Kapitalstock, der verwaltet werden muss. Dieser kann als Versicherung dienen, oder er wird nach einem bestimmten Zeitraum aufgelöst und unter den Mitgliedern aufgeteilt. Die erste der beiden im folgenden beschriebenen Financial Mutuals, „Masifunde", ist eine ASCRA, die zweite, „Zolani Club", ist eine ROSCA. Als Financial Mutuals verfügen Masifunde und Zolani Club zweifellos über das Merkmal der Kollektivität. Beide Systeme generieren durch Pooling Ressourcen und verteilen diese an ihre Mitglieder. Dies kann nur auf der Grundlage kollektiv bindenden Entscheidens geschehen. Gleichzeitig sind diese Financial Mutuals geringfügig formalisiert. Sie verfügen über einfache Mitgliedschaftsregeln wie beispielsweise die regelmäßige Einzahlung von Spareinlagen. Unproblematisch ist auch ihr Systemcharakter. So können beispielsweise die regulären Treffen als basale systemreproduzierende Ereignisse interpretiert werden. „Masifunde" - was so viel bedeutet wie „Lasst uns lernen" - wurde von einem Dutzend Frauen in Indawo Yoxolo im Frühjahr 1998 gegründet und bestand bis Jahresende. Der Name gibt den offiziellen Zweck des Zusammenschlusses wieder: Die Kinder der teilnehmenden Frauen sollen durch sie lernen, mit Geld umzugehen. Die meisten Kinder sind jedoch bei den regelmäßigen Treffen nicht anwesend; manche leben bei Verwandten an anderen Orten. Manche Frauen erfinden Kinder, die sie gar nicht haben. Die wichtigste Mitgliedschaftsregel besteht in der wöchentlichen Einzahlung von 10 Südafrikanischen Rand (R) pro angemeldetem Kind. Außerdem kann jedes Mitglied Kredite in festgelegter Höhe aufnehmen,
und im übrigen wird von den Teilnehmerinnen erwartet, dass sie sich an die gemeinsam - per Abstimmung - getroffenen Entscheidungen halten. An geringfügig formalisierten Organisationen wird häufig ein Mangel an Flexibilität hervorgehoben (vgl. Apelt/Tacke 2012). An Masifunde lässt sich demgegenüber zeigen, dass die überaus enge Verbindung von Systemzweck und Mitgliedschaftsmotivation eine eigene Systemdynamik produziert, die nicht (nur) in Termini von Flexibilitätsdefiziten interpretiert werden kann. Gerade auch auf Folgeprobleme seiner Eigendynamik konnte Masifunde recht flexibel reagieren. Dabei nutzte sie den geringen Grad an Autonomie auch gegenüber ihrer sozialen Umwelt zur Erreichung ihres Systemzwecks. Entscheidend für das enge wechselseitige Zusammenspiel von Systemdynamik und Mitgliedschaftsmotivation ist die Tatsache, dass der Systemzweck von Masifunde existenzielle Bedeutung für ihre Mitglieder hat. Alle Mitglieder von Masifunde hatten ein hohes eigenes Interesse an dem Erfolg der Organisation - also daran, mindestens das selbst eingezahlte Geld zurückzuerhalten - , und für jedes von ihnen war die Teilnahme mit hohen persönlichen Risiken verbunden. Diese Risiken lagen in einer Veruntreuung des ihnen anvertrauten oder zur Verfügung gestellten Geldes durch einzelne Mitglieder, insbesondere durch die Schatzmeisterin - eine Veruntreuung, die im schlimmsten Falle Nahrungsmangel zur Folge haben konnte. Paradoxerweise steigt das Risiko der Veruntreuung und damit des Scheiterns in Sparzirkeln in dem Maße, in dem die Organisationen sich der erfolgreichen Umsetzung ihres Zweckes nähern. Als wiederholte Beitragszahlungen und Zinsen für aufgenommene Kredite die in Masifunde zirkulierende Geldmenge immer größer werden ließen, stieg mit ihr nämlich nicht nur die am Ende auszuzahlende, sondern auch die veruntreubare Geldmenge. Eine Veruntreuung konnte Masifunde jedoch effektiv verhindern. Zunächst reichte es dazu, das Geld teilweise auf ein Bankkonto einzuzahlen und einen anderen Teil in kleinen Krediten an die Mitglieder auszuzahlen.14 „Breaking up the money into smaller portions through loans reduced the likelihood of default. It was easier for the women to repay a small loan and it was hardly worthwhile absconding with a relatively small amount of money. Moreover, giv-
14 D e r hier gültige Zinssatz betrug ganze 2 0 % pro M o nat, war damit aber immer noch erheblich niedriger als der kommerzieller Geldverleiher.
Bettina Mahlert: Gleichzeitigkeit unter Abwesenden ing loans to everybody strengthened the interdependencies of the participants, which in turn increased social control" (Bähre 2007: 119). Vermehrt auftretende Zahlungsausfälle drohten jedoch nach einigen Monaten das Vertrauen in das System aufzulösen. Viele Frauen fürchteten insgeheim, ihr eingesetztes Geld nicht mehr wiederzuerhalten und nahmen ihrerseits einen Kredit auf, um im Falle eines Scheiterns der Organisation wenigstens nicht ganz leer auszugehen. Damit trugen sie jedoch selbst zu jener Abwärtsspirale ausufernder Kreditnahme bei, vor der sie sich schützen wollten. Durch verschiedene Maßnahmen konnte diese Dynamik unterbrochen werden. Z u m einen wurden die Rücklagen erhöht und die Kreditvergabe restriktiv gehandhabt. Dies erhöhte die Motivation der Mitglieder, zum weiteren Erfolg des Systems beizutragen, da sie ja sonst riskierten, von einer erheblichen Geldmenge ausgeschlossen zu werden. Z u m anderen wurden einige Systemstrukturen flexibel und andere rigide gehandhabt (Bähre 2007: 132): Durch Ad-hoc-Verlängerung der Rückzahlungsfristen für Kredite ermöglichte man den Mitgliedern, ihre Schulden zurückzuzahlen. Gleichzeitig hielt man an der Regel fest, dass Kredite zurückgezahlt werden müssen und Beiträge nicht erlassen werden. In letzter Instanz griffen die Mitglieder dazu auf negative Sanktionen verschiedener Art zurück, die von gestreuten Gerüchten bis zu physischer Gewalt und Konfiszierung von persönlichem Eigentum reichten (ebd.: 133). So machte sich Masifunde die Tatsache zunutze, dass sich ihre Mitglieder in zahlreichen Alltagskontexten ihres Wohnumfeldes wiederbegegneten und in diesem Umfeld viele Bekannte miteinander teilten.
7. Zolani Club: Eine Assoziation, die fiktive Verwandtschaftsbeziehungen generiert Obwohl auch eine finanzielle Selbsthilfeorganisation, unterscheidet der „Zolani Club" sich von Masifunde erheblich. Er existierte zu derselben Zeit wie Masifunde in einem benachtbarten Township und bildete eine 31 Mitglieder starke Teilorganisation einer großen ROSCA. „Zolani Club" bedeutet so viel wie „die, die cool bleiben". Dies erreichten die Mitglieder, indem sie sich wechselseitig Geld gaben (Bähre 2007: 144). Der Club lässt sich am besten als eine Selbsthilfeassoziation verstehen, die Möglichkeiten zum Geben und Nehmen kreierte (Bähre
285 2007: 146), indem sie fiktive Verwandtschaftsverhältnisse zwischen ihren Mitgliedern schuf. Für diese Verwandtschaftsverhältnisse waren Tauschbeziehungen zentral. Diese unterschieden sich in ihrer Eigenart deutlich von Tauschverhältnissen in Erwerbsarbeitsorganisationen, und sie stehen hier im Mittelpunkt. An ihnen kann gezeigt werden, dass die besonderen Strukturen von Zolani Club zwar Formalisierung voraussetzen, aber nicht durch die spezifischen Ordnungspotentiale des Formalisierungsmechanismus geprägt werden. Formalisierung bildete hier nur eine Art Sprungbrett für den Aufbau einer ganz ,anderen, eigenwilligen Ordnung eben der fiktiven Verwandtschaftsbeziehungen (vgl. dazu Kühl 2012: 18 f.). Auch im Zolani Club waren die meisten Mitglieder Frauen. Bei ihrem Eintritt musste jede von ihnen ein anderes Mitglied als Mutter aussuchen. Aus der wiederholten Anwendung dieser spezifischen Mitgliedschaftsregel auch über die Grenzen der einzelnen Teilorganisationen hinweg entstand ein Beziehungsgefüge, in dem jedes Mitglied unter den anderen Mitgliedern zugleich auch eine Mutter, oft eine Großmutter, Tanten, manchmal sogar eine Urgroßmutter, Schwestern und Töchter hatte. Heiraten waren allerdings nicht erlaubt mit der Folge, dass es im Zolani Club keine Schwieger-Beziehungen gab. Ganz offensichtlich war diese selektive Rezeption von Verwandtschaftsrollen durch den Wunsch geleitet, die emotional befriedigenden Seiten verwandtschaftlicher Zugehörigkeiten zu isolieren und allein für sich zu realisieren. Das wichtigste systemreproduzierende Ereignis, das dies leisten sollte, bildeten die bei jedem Treffen gefeierten fiktiven Geburtstage. Der Zolani Club war eine ROSCA, bildete also keinen eigenen Kapitalstock. Die bei jedem Treffen gesammelten Beiträge wurden sofort und im Turnus an eines der Mitglieder ausgezahlt, und dieser Umverteilungsprozess wurde als Geburtstag dargestellt und gefeiert. Neben den regulären Beiträgen erhielt das Geburtstagskind Geschenke, deren Umfang und Wert von dem Verwandtschaftsgrad zu der jeweiligen Schenkenden und der bisherigen Geschichte ihrer Beziehung abhing. Diese Geschenke mussten auf dem nächsten Geburtstagsfest der jeweiligen Verwandten mit Geschenken von mindestens gleichem Wert erwidert werden. Mit Blick auf diese Reziprozitätsregel kann man Zolani Club als eine Assoziation bezeichnen, deren Systemzweck die „Ermöglichung des Tauschens" (Luhmann 1964: 340) bildete - ähnlich Philatelistenvereinen, jedoch in Form zeitlich generali-
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sierter Reziprozität. Hier liegt ein wichtiger Unterschied sowohl zu Philatelistenvereinen als auch zu Erwerbsarbeitsorganisationen. Zunächst einmal ist f ü r Letztere eine innerorganisatorische Tauschbeziehung konstitutiv, nämlich der Tausch von Gehalt gegen die Bereitschaft zur Mitwirkung am Erreichen des Systemzwecks. Dieser Tausch hat die Funktion, die Organisation von weiteren Tauschbeziehungen freizuhalten. Für Tauschverhältnisse, so Luhmann, sei nämlich „im offiziellen Denken" der Organisation kein Raum, weil sie prätendiere, dass „alle Mitglieder denselben Zweck verfolgen, sich auf ihn geeinigt haben und mit den Sachmitteln ausgerüstet werden, die notwendig sind, u m ihn zu erreichen". Tausch setzt demgegenüber eine „erkannte Divergenz von Zwecken voraus und macht sie sichtbar" (Luhmann 1964: 338). Daher kommen Tauschbeziehungen in Organisationen zwar „überall" vor, jedoch auf der Ebene informaler Kommunikation, in nicht rationalisierter Form und am Rande der Illegalität (Luhmann 1964: 338 ff). Eine Ausnahme davon bilden Organisationen, deren Systemzweck das Tauschen ist. Diese Organisationen dienen geradezu dazu, die f ü r den Tausch konstitutive „Divergenz von Zwecken" zu erkennen und sichtbar zu machen. So ermöglicht es der Philatelistenverein den Briefmarkenliebhabern, durch Tausch eine bestimmte Marke zu erhalten, während der Zweck ihrer Tauschpartner gerade darin besteht, in den Besitz einer anderen Marke zu gelangen. Noch anders verhält es sich beim Zolani Club: Er organisierte den Tausch um seiner selbst willen. Er war keine Tauschbörse, sondern er feierte das Geben und Nehmen. Zolani Club ermöglichte nicht nur den bloßen Besitzwechsel von Geld und materiellen Objekten, sondern er zelebrierte die Geburtstage, auf denen sich der Tausch vollzog, als eine (teilweise) gesellige Interaktion spezifischer Art. Das Geburtstagskind wurde nicht nur mit zahlreichen Geschenken überhäuft, sondern auch lautstark besungen. Neben diesen quasi-familiären Kontakten ermöglichte der Zolani Club schließlich auch den Konsum von Objekten, die sonst unerschwinglich für seine Mitglieder waren. Eine Frau etwa erhielt zu ihrem ,Geburtstag' ein ganzes Doppelbett mit Nachttischkonsolen. Auf diese Weise schufen sich die Frauen eine Insel der kurzzeitigen Erholung von ihrem anstrengenden, entbehrungsreichen, gefährlichen Leben - eine Insel, in der sie ihre Träume von einem guten Leben für kurze Zeit realisieren konnten. Dabei verstrickten sie sich jedoch auch in ein Netz wechselseitiger Abhängigkeiten, das nicht nur ange-
nehme Seiten hatte. In Philatelistenvereinen gibt es je fallweise Tauschbeziehungen, die mit dem Vollzug des Tausches zum Abschluss kommen. Dauerhafte Beziehungen, die sich darüber hinaus zwischen den Briefmarkenliebhabern entwickeln mögen, liegen auf informalen Ebenen der Organisation u n d sind Privatangelegenheit'. Demgegenüber generierte im Zolani Club jeder Akt des Schenkens - der stets akribisch in doppelter Ausfertigung schriftlich festgehalten wurde - zukünftige formalisierte Pflichten und band die Mitglieder so in ein dauerhaftes Reziprozitätsverhältnis ein. Diese Beziehungen wurden durch die formale Organisation des Zolani Clubs gestiftet und waren mit ihrer formalen Struktur direkt verknüpft, entwickelten dann aber eine eigene Geschichte und eigene Merkmale, die sich nicht aus der Eigenlogik der Formalisierung heraus begreifen lassen. Bereits die Auswahl der jeweiligen Mütter unterlag dem Belieben der einzelnen Mitglieder, während ja Stellenstruktur und formale Kommunikationsflüsse in einer Erwerbsarbeitsorganisation üblicherweise durch eigene programmierende Stellen etabliert werden. Und während die Ämterstruktur des Zolani-Clubs sich auf die einfache Differenzierung zwischen regulären Mitgliedern und den Schatzmeisterinnen beschränkte, entstand die für das Erleben der Mitglieder wohl zentrale Kommunikationsstruktur durch die selbstgewählten Verwandtschaftsbeziehungen. Diese ethnographisch schwer zugänglichen Beziehungen entwickelten unter der H a n d auch die weniger angenehmen Seiten des Familienlebens, die ja durch den Ausschluss von Schwiegerbeziehungen gerade vermieden werden sollten. Es entstand Neid zwischen .Geschwistern, die von der ,Mutter' in ungleicher Weise mit Geschenken bedacht wurden; es entstanden ,Dankespflichten', die kaum mehr abgegolten werden konnten; es entstand die f ü r Familien und Verwandtschaftsnetzwerke typische Unentrinnbarkeit der Beziehungen. 15 Je stärker man in das Netz fiktiver Verwandtschaftsbeziehungen eingebunden war, desto schwieriger war es, aus der Organisation auszutreten. So stabilisierte Zolani Club die Mitgliedschaftsmotivation durch das von ihm gestiftete, aber seiner Kontrolle entzogene Geflecht von Gaben und Gegengaben.
15 Ein Mitglied beispielsweise bat seine Verwandten u n d insbesondere die Mutter, sie nur mit kleinen Geschenken zu bedenken, u m unerfüllbare Reziprozitätslasten zu vermeiden. Diese W ü n s c h e fanden jedoch kein Gehör — das Mitglied wurde mit u m s o größeren Geschenken bedacht.
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Diesem Geflecht kann man einen zweifachen Inklusions- oder Leistungsbezug zuschreiben. Zweifellos trug Zolani Club zur Inklusion seiner Mitglieder in das Wirtschaftssystem bei. Daneben kann man seine merkwürdige Kombination von Elementen formaler Organisation und stark,expressiven', Gemeinschaft' zelebrierenden proto-familiären Interaktionen und Beziehungen als Inklusion in das systemtheoretisch allerdings noch kaum erforschte Funktionssystem .Familie' interpretieren.
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Migrantenassoziationen: Multiple Inklusionsvermittlung über Grenzen hinweg
Mit Migrantenassoziationen behandelt das letzte Beispiel einen Fall multipler Inklusionsvermittlung. Gleichzeitig wird mit diesem Fall der Bogen vom .globalen Süden' der Weltgesellschaft zurück in ihren .globalen Norden' geschlagen. Zunächst einmal sind Migrantenassoziationen seit langer Zeit ein wichtiger Bestandteil des zivilgesellschaftlichen Lebens in .peripheren' Ländern, so beispielsweise in Schwarzafrika. Hier löste die Kolonialisierung zahlreiche Migrationsbewegungen aus, die ihrerseits einen Bedarf nach neuen Formen der Sozialorganisation schufen. Personen, die ihren Herkunftsort verließen, hielten intensive Beziehungen zu diesem Ort aufrecht und definierten sich weiterhin als ihm zugehörig. Die typische Form, in der diese Zugehörigkeit neu geordnet wurde, bilden so genannte Hometown Associations. In Nigeria sind sie heute überall vorhanden und stellen die wohl prominenteste Form assoziationalen Lebens dar (Honey & Okafor 1998: 4). Aber Migrantenassoziationen sind nicht nur ein altes Phänomen, sondern auch eine rezente, dynamische und zahlenmäßig schnell wachsende Form weltgesellschaftlicher Strukturbildung. Als solche haben sie zunächst in der Entwicklungsforschung und dann zunehmend in der Transnationalismusforschung Aufmerksamkeit gefunden (vgl. Caglar 2006; Guarnizo 1998). Dabei sind vor allem solche Assoziationen in den Blick gekommen, die Zielländer der Migration im westeuropäisch-atlantischen Raum mit Herkunftsländern verbinden, zu denen ein Wohlstandsgefölle besteht - so etwa Assoziationen im Grenzbereich Mexiko - USA. Insgesamt unterscheiden sich diese Assoziationen hinsichtlich ihres Formalisierungsgrades, ihrer Größe und ihres Alters erheblich voneinander. Wie bei
Schwestern- und Bruderschaften, so reichen auch hier die Formbildungen von Organisationen mit mehreren hundert Mitgliedern bis hin zu informalen Kleingruppen. 16 Die Literatur gibt allerdings sehr wenige Einblicke in die genaue Funktionsweise und strukturelle Ausgestaltung dieser sozialen Gebilde. Dies ist für diesen Beitrag jedoch irrelevant, weil hier die grundlegenden und multiplen Inklusionsfunktionen der Migrantenassoziationen interessieren (vgl. dazu Pries 2010). Sie werden am Beispiel von Migrantenassoziationen in Barcelona und Madrid anhand eines Beitrages von Margit Fauser diskutiert (Fauser 2010). Spanien gehört zu den ,neuen' Einwanderungsländern Europas mit auf breiter Ebene erst in den 1990er Jahren einsetzender Migration. Seit 2000 ist der Anteil von Migranten an der Wohnbevölkerung Spaniens von 2,5 % auf knapp 9 % angewachsen. Parallel dazu nahm auch die Zahl der Migrantenassoziationen zu. Das nationale Vereinsregister registrierte im Jahr 1990 19, im Jahr 2000 200 und im Jahr 2008 über 680 Organisationen, womit aber nur ein Bruchteil der tatsächlich existierenden Assoziationen erfasst sein dürfte (ebda.: 280). Eine Besonderheit, die die spanischen Migrantenassoziationen mit ihren Counterparts in vielen anderen Ländern teilen, liegt in ihrem doppelten - transnationalen Engagement sowohl im Herkunfts- als auch im Einwanderungsland. Diese Engagements werden in der Literatur unter den beiden Inklusionsformeln der Entwicklung (Herkunftsland) und Integration (Einwanderungsland) thematisiert. Insbesondere das integrationsbezogene Engagement der Assoziationen im Einwanderungsland ist dabei äußerst umfassend und gerade für Neuankömmlinge vielfach elementar. Die Migrantenassoziationen beraten Neuankömmlinge juristisch, helfen ihnen im Umgang mit Behörden und Arbeitgebern, „organisieren Job-Börsen und andere soziale Leistungen" (ebda.: 281). Sie führen für ihre Mitglieder auf ehrenamtlicher Basis Sprachkurse durch oder organisieren solche Kurse. Sie bieten ihnen psychologische Beratung an und vermitteln Wohnungen (Fauser 2010: 282). Migrantenassoziationen in Barcelona und Madrid vermitteln also Inklusion 16
A R P A D („The Culture and Mutual Aid Organization of those from Bozlu") beispielsweise wurde als türkischdeutsche Hometown Association im Jahr 1999 in Berlin gegründet und hatte im Jahr 2 0 0 6 bereits 2000 Mitglieder in ganz Europa (Caglar 2006); vgl. zu Migrantenassoziationen mit kleingruppenartigem Charakter Waldinger & Fitzgerald (2004).
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in das Bildungssystem, das Wirtschaftssystem, das Gesundheits-, das Rechts- und das politische System. In den meisten Fällen geschieht dies durch Zubringer-Aktivitäten, welche den Erwerbsarbeitsorganisationen gleichsam vorgeschaltet sind, die die Migranten dann operativ als Klienten oder Leistungsrollenträger in die betreffenden Funktionssysteme inkludieren. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die Assoziation Kontakte zu Arbeitgebern oder Juristen herstellt, aber nicht selbst als Arbeitgeber oder Kanzlei tätig ist. Andere Aktivitäten der Migrantenassoziationen vermitteln allgemeinere Voraussetzungen für Inklusion in verschiedene Funktionssysteme, darunter sprachliche Fähigkeiten und persönliche Kontakte. Der älteren migrationssoziologischen Literatur waren Migrantenorganisationen als ein optimalerweise „transitorisches Stadium in einem längeren und komplexen gesamtgesellschaftlichen Integrationsprozess" erschienen (Pries 2010: 19). Diese Perspektive hat sich in der neueren Transnationalismusforschung grundlegend gewandelt. Für die behandelten spanischen Migrantenassoziationen lässt sich zeigen, dass diese mit zunehmender Integration ihrer Mitglieder in Spanien fortbestehen und sogar ihre Engagements ausweiten. Je erfolgreicher diese Assoziationen zudem „als Integrationsakteure etabliert sind, desto intensiver sind sie offenbar transnational aktiv" (Fauser 2010: 283). M i t Migrantenassoziationen scheinen sich also im euro-atlantischen R a u m Organisationen der Selbsthilfe als dauerhafte Inklusionsvermittler zu stabilisieren. Ein zunehmend wichtiger Aspekt dieser Stabilisierung liegt in der Umwelt dieser Selbsthilfeorganisationen. Die Migrantenassoziationen in Barcelona und M a d r i d sind umgeben von einem breiten Spektrum von Akteuren, die auf ihr transnationales Engagement aufmerksam geworden sind und dieses ihrerseits fördern. Dazu gehören staatliche Organisationen sowie Stiftungen, NGOs, Universitäten, Think Tanks, kirchliche Organisationen und Gewerkschaften. Ein zentraler Bestandteil der spanischen Migrationspolitik ist seit einigen Jahren ähnlich wie in anderen europäischen Ländern auch das ursprünglich französische Konzept der Ko-Entwicklung. Dieses Leitkonzept bezieht sich zum einen auf das transnationale Engagement der Migranten in ihren Herkunftsländern. Es fasst eine Reihe von M a ß n a h m e n zusammen, u m „die in Europa lebenden Migranten bei ihrem Engagement für die Verbesserung und Entwicklung der Situation in ihren Herkunftsländern zu unterstützen, z.T. auch
erst ein solches Engagement zu initiieren" (Fauser 2010: 276). Statt Entwicklungshilfe in anderen Ländern selbst durchzuführen, will der Staat also dazu beitragen, dass Migranten selbst zu „Entwicklungsagenten" werden, und bildet sie mit genau diesem Ziel aus (ebd.: 277). Gleichzeitig soll durch Ko-Entwicklung aber auch das Bemühen der Migranten um Integration vor Ort in Spanien gestärkt werden. Integration wird „sowohl als Voraussetzung wie als eines der Ergebnisse des Entwicklungsengagements konzipiert" (ebd.: 278). Staatliche Migrationspolitik wird im euro-atlantischen R a u m also zunehmend von der Prämisse her formuliert, dass Selbsthilfeorganisationen ein dauerhafter und unterstützenswerter Mechanismus der Inklusionsvermittlung sind. Dies ist ein relativ rezentes Phänomen, dessen zukünftige Tragweite heute noch nicht abgeschätzt werden kann.
9. Von peripheren' Selbsthilfekollektiven zu westlichen Wohlfahrtsstaaten: Zusammenfassung und Ausblick Dieser Aufsatz schlägt vor, den Organisationsbegriff als Definitionsmerkmal der mittleren Ebene von Luhmanns Systemtypologie durch das allgemeinere Konzept kollektiver Ordnungsbildung zu ersetzen. Dieses Konzept schließt Organisationen ein, trifft daneben aber auch Selbsthilfekollektive, die in vielen Ländern der Weltgesellschaft existieren und dort als Inklusionsvermittler fungieren. Luhmanns Organisationsbegriff ist in besonderem M a ß e auf Erwerbsarbeitsorganisationen zugeschnitten; und ein wichtiges Ziel der hier vorgeschlagenen Modifikation besteht darin, die mittlere Ebene der Systemtypologie von diesem ,Bias' zu befreien. Damit soll der Kollektivitätsbegriff eine Reihe von Merkmalen sichtbar machen, durch die sich Selbsthilfekollektive von Erwerbsarbeitsorganisationen unterscheiden (können). Diese Merkmale wurden an vier Fallbeispielen illustriert: 1. Selbsthilfekollektive verfügen über einen engen Zusammenhang zwischen Mitgliedschaftsmotivation und Systemstruktur. Anders als Erwerbsarbeitsorganisationen leiten sie die Mitgliedermotivation nicht auf,andere' Güter um, die mit ihren eigenen genuinen Produkten oder Themen nichts zu tun haben. Vielmehr ist das, was diese Kollektive generieren, für die (meisten) Mitglieder wichtig. Die Relevanz dieser engen Bindung für die eigene Strukturlogik der Selbsthilfekollektive
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wurde insbesondere am Beispiel der Masifunde illustriert. Als ein letztlich erfolgreicher Sparzirkel durchlief sie während ihres einjährigen Bestehens eine spezifische krisenhafte Dynamik, die von dem existenziellen Interesse der Mitglieder an dem Erreichen des Systemzwecks - dem kollektiven Sparen - vorangetrieben wurde. 17 Selbsthilfekollektive können, aber müssen nicht formalisiert sein. Die Shanghaier Schwesternschaften sind ein Selbsthilfekollektiv, das sich ohne jegliche Formalisierung als Kleingruppe mit familienähnlichem Charakter konstituiert. Bei ihnen beruht die Fähigkeit zur kollektiven Generierung von Ressourcen statt auf Formalisierung auf intimer Personenkenntnis, dem darauf gründenden Vertrauen und einem regelmäßigen Kontakt im Arbeits- und Wohnumfeld, der soziale Kontrolle schafft. Die Shanghaier Schwesternschaften sind außerdem ein Beispiel für deutlich abgrenzbare und effektive Kollektivität, an der sich ein Systemcharakter allenfalls mit Schwierigkeiten nachweisen lässt. Viele Selbsthilfekollektive nutzen Formalisierung nicht, um eine komplexe und autonome Formalstruktur aufzubauen. Vielmehr verwenden sie sie als eine einfache soziale Technik, um Sozialbeziehungen zu kreieren, die einer ganz anderen Logik folgen als der der Formalisierung. So schuf Zolani Club durch Formalisierung ein dichtes Netz fiktiver Verwandtschaftsbeziehungen. Formalisierung bildet also (auch) eine einfache soziale Technik, die zu vielfältiger Formbildung verwendet werden kann. Ein wichtiger Unterschied zu Erwerbsarbeitsorganisationen könnte darin liegen, dass solche einfachen Formen von Formalisierung psychisch und sozial sehr voraussetzungsarm und daher nahezu universell einsetzbar sind.18 Selbsthilfekollektive sind für die Weltgesellschaftsforschung relevant. Angesichts ihrer vergleichsweise geringen Grade an Autonomie könnte man zwar versucht sein, sie als Ausdruck noch nicht vollzogener Modernisierung in der ,Peripherie' der Weltgesellschaft zu begreifen gelten doch Differenzierung und Autonomisierung als Insignien von Modernität schlechthin. Mit Financial Mutuals und Migrantenassozia-
17 In ähnlicher Stoßrichtung beschreibt Tyrell (2001) die Eigenlogik von Familienkonflikten als eine Logik, die sich der hohen Personennähe dieser Sozialsysteme verdankt. 18 Vgl. dazu Abschnitt 3 oben.
289 tionen wurden jedoch Selbsthilfekollektive beschrieben, deren Zahl erstens weltweit zunimmt, und die zweitens keine Substitute zu den Erwerbsarbeitsorganisationen der verschiedenen Funktionssysteme darstellen. Vielmehr bestehen ihre inklusionvermittelnden Leistungen gerade darin, den Kontakt zu diesen auch in der so genannten Peripherie lokal vorhandenen Organisationen als Klient oder als Mitarbeiter zu vermitteln. In dieser Funktion etablieren sich Migrantenorganisationen drittens zunehmend gerade auch in den westeuropäischen ,Kernzonen' funktionaler Differenzierung. Selbsthilfekollektive sind also auch für die Auseinandersetzung mit der Region Westeuropa relevant, und sie können ein wichtiges Strukturmerkmal einer funktional differenzierten Gesellschaft bilden. Dieser Bezug zur Region Westeuropa und zur Theorie funktionaler Differenzierung wird abschließend in weiterführender Perspektive hergestellt. Dazu muss zusätzlich der Nationalstaat berücksichtigt werden. Bislang wurden am Beispiel Europas ausschließlich die spezialisierten Erwerbsarbeitsorganisationen der verschiedenen Funktionssysteme thematisiert, der Nationalstaat als ein wichtiger Inklusionsvermittler in dieser Weltregion jedoch gar nicht berücksichtigt. Tatsächlich ist der Nationalstaat jedoch nicht nur ein Inklusionsvermittler. Er ist als solcher darüber hinaus von besonderem Interesse, weil er sich in wichtigen Hinsichten als funktionales Äquivalent für die .peripheren' Formen kollektiver Ordnungsbildung begreifen lässt (vgl. Eckert 2006). Beide teilen miteinander, dass sie grundlegende Voraussetzungen für die Inklusion ihrer Mitglieder bereitstellen, während Organisationen wie Schulen, Krankenhäuser oder Gerichte diese Inklusion dann faktisch vollziehen. Und zumindest mit einigen der beschriebenen Kollektive - mit den Migrantenassoziationen und den Shanghaier Schwesternschaften - teilt der Nationalstaat, dass dies in einer umfassenden, multidimensionalen Weise geschieht. „Inklusion und Exklusion in die sozialen Systeme der modernen Gesellschaft erweisen sich als hoch voraussetzungsvoll und riskant. Wohlfahrtsstaaten zielen mit ihren Entscheidungen auf die politische Moderation dieser Bedingungen der Inklusion und Exklusion. Sie richten ihre Aufmerksamkeit historisch zunächst auf die Bearbeitung der Exklusionsrisiken des Arbeitsmarktes und weiten sie sukzessive auf die Exklusionsrisiken des Erziehungs-, Rechts-, Politik- und Gesundheitssystems sowie der Familiensysteme aus" (Bommes 2001: 250).
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Sollte man vor dem Hintergrund dieser Äquivalenzen auch den Nationalstaat als eine Form kollektiver Ordnungsbildung begreifen? Zwar ist er in der Systemtheorie als Segment des weltpolitischen Systems auf der Ebene der Gesellschaft, nicht auf der mittleren Ebene der Systemtypologie angesiedelt. Dennoch fällt es nicht schwer, ihm das Merkmal der Kollektivität zuzusprechen. Ganz offensichtlich weist er die drei Merkmale einer klaren Mitgliedergrenze, auf deren Grundlage gebildeter Erwartungen sowie des kollektiv bindenden Entscheidens auf. Diese Merkmale nutzt der Nationalstaat, u m die genannten Inklusionsfunktionen nach Möglichkeit zu erfüllen. So unterscheiden sich fast alle Funktionssysteme von Organisationen darin, dass sie keine Mitgliedergrenze etablieren. Wer etwa in das Wirtschaftssystem inkludiert ist und wer draußen bleibt, ist f ü r die Operationen und Programmstrukturen dieses Systems nicht von Belang und ist ihm unbekannt. Das politische System hingegen verfügt mit dem Staat über Suchmechanismen, mit deren Hilfe es alle Personen zu erfassen sucht, „die in seinen Inklusionsbereich fallen: Geburts- und Melderegister, Volkszählungen als Vollerhebungen, die eventuell mit diesen Registern abgeglichen werden können; Ausweispapiere; das Eintragen körperlicher Identifikationsmerkmale in diese Ausweispapiere u n d viele andere Mechanismen mehr, die heute beim sogenannten genetischen Fingerabdruck angekommen sind" (Stichweh 2005b: 77). Die auf dieser Grundlage identifizierten Personen werden mit Rechten und Pflichten ausgestattet, die f ü r sie gelten, nicht aber für den Rest der Weltbevölkerung - beispielsweise: Steuerzahlungen. Der Mitgliedergrenze der Nation korrelieren also handfeste Erwartungen, die vielfach auf Inklusion zielen. Uber diese Erwartungen wird mit kollektiver Bindungswirkung politisch entschieden. 19 Diesen funktionalen und strukturellen Gemeinsamkeiten von Nationalstaat und Selbsthilfekollektiven kann man Rechnung tragen, wenn man den Nationalstaat nicht (nur) auf der Gesellschaftsebene
19 Dass ihre Mitgliedergrenze f ü r Nationalstaaten heute in handfesten Hinsichten problematisch ist u n d schon immer war, stellt diese Interpretation nicht in Frage, sondern bestätigt sie. Die zahlreichen Versuche, durch E i n f ü h r u n g unterschiedlicher Kategorien (Migranten, Asylanten, Heimatvertriebene etc.) den politischen Status von Personen zu bestimmen, die keine eindeutigen Mitglieder der N a t i o n sind, aber eben auch keine eindeutig nichtrelevanten Nichtmitglieder, belegen die Relevanz einer Mitgliedergrenze für den Nationalstaat.
verankert, sondern (auch) auf der mittleren Ebene der Systemtypologie, und ihn so aus seiner Verflechtung mit dem Begriff des politischen Systems löst. Dadurch ergeben sich Blickverschiebungen f ü r die Theorie funktionaler Differenzierung und Bezüge zu den seit längerem laufenden Debatten über die Erosion europäischer Wohlfahrtsstaaten (vgl. Lessenich 1995). W e n n der Nationalstaat innerhalb der Systemtypologie auf der obersten Ebene der Gesellschaft lokalisiert wird, dann wird damit tendenziell invisibilisiert, dass es seine inklusionsvermittelnden Leistungen sind, die bestimmte Typen von Selbsthilfeassoziationen in Europa überflüssig machen. Dass L u h m a n n freiwillige Vereinigungen unter Bedingungen funktionaler Differenzierung für gesamtgesellschaftlich bedeutungslos hielt, mag daher daran liegen, dass er die umfassende Inklusionsfunktion des Wohlfahrtsstaates als selbstverständlichen Bestandteil einer funktional differenzierten Gesellschaft voraussetzte. Verortet man den Wohlfahrtsstaat zusammen mit Selbsthilfekollektiven auf der mittleren Ebene der Ebenenunterscheidung, dann fällt es leichter, diese Prämisse aufzugeben, da dann die funktionale Äquivalenz von Wohlfahrtsstaat und Selbsthilfekollektiven in den Blick rückt. Die europäische Verschränkung eines inklusionsvermittelnden Staates mit einer Vielzahl je funktionssystemspezifischer Erwerbsarbeitsorganisationen erscheint dann als Bestandteil einer regionalen Respezifikation des Prinzips funktionaler Differenzierung, neben der es auch andere mögliche Respezifikationen gibt. So bietet das Konzept der Kollektivität eine konkrete begriffliche Handhabe, um die Umgangsweisen peripherer' Weltregionen mit funktionaler Differenzierung systemtheoretisch zu normalisieren oder umgekehrt das europäische Modell zu denormalisieren. Dies scheint deshalb wichtig, weil sich ja alle Regionen in der sich verändernden Weltgesellschaft .weiterentwickeln'. Mit Blick auf diese Entwicklungen könnte der Kollektivitätsbegriff der Systemtheorie Anschlüsse an die laufende Debatte über die Z u k u n f t des Wohlfahrtsstaates eröffnen. Viele gehen davon aus, dass die umfassende wohlfahrtsstaatliche Stabilisierung des Lebenslaufs eine Episode in der Geschichte Europas war, die sich heute bereits ihrem Ende entgegenneigt (Lessenich 1995: 55; Stichweh 2005b). Auch wird die Frage gestellt, welche Inklusionsregime die damit anstehenden Transformationen hervorbringen mögen (vgl. H a l f m a n n 2002). Es ist durchaus denkbar, dass in diesen Inklusionsregimen
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teresse an weniger a u t o n o m e n F o r m e n kollektiver O r d n u n g s b i l d u n g k o m b i n i e r t , k a n n die
System-
theorie zu dieser Frage vielleicht einen instruktiven Beitrag leisten.
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Autorenvorstellung Bettina Mahlert, geb. 1974 in Quierschied. Studium der Politischen Wissenschaft, Ethnologie und Soziologie in München. Promotion in Bielefeld. Von 2007-2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bielefeld und Geschäftsführerin des Instituts für Weltgesellschaft. Seit 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der R W T H Aachen. Forschungsschwerpunkte: Weltgesellschaft, Entwicklung und Quantifizierung, soziale Ungleichheit, soziologische Theorie. Wichtigste Publikationen: Talcott Parsons: A Sociological Theory of Action Systems, in: D. Arnold (Hrsg.), Traditions of Systems Theory: Major Figures and Developments, London / New York 2013; Nationalstaat und Familie. Zu den globalen Bezügen des Klassenbegriffs von Talcott Parsons. S. 89-104 in: P. Berger & Α. Weiß (Hrsg.), Transnationalisierung sozialer Ungleichheit, Wiesbaden 2008.
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft, 2014, S. 294-317
Religion im Schema von Interaktion, Organisation und Weltgesellschaft. Der Fall des pfingstlich-evangelikalen Christentums1 Religion in the Theoretical Schema of Interaction, Organization, and World Society. The Case of Evangelical Christianity Martin Petzke Universität Luzern, Soziologisches Seminar, Frohburgstrasse 3, CH-6002 Luzern [email protected]
Z u s a m m e n f a s s u n g : Der Artikel n i m m t sich der Religion unter den Gesichtspunkten funktionaler Differenzierung u n d der Differenzierung von Interaktion, Organisation u n d (Welt-)Gesellschaft an. Ausgangspunkt ist die f r ü h e religionssoziologische Studie L u h m a n n s (1972), die beide Differenzierungstheorien in ein systematisches Verhältnis setzt u n d dabei f ü r die Religion in der modernen Gesellschaft ein desintegriertes Verhältnis der Ebenen Interaktion, Organisation u n d gesellschaftlichem Funktionssystem konstatiert. L u h m a n n s Befunden, die sich auf den deutschen Protestantismus beziehen, wird die religiöse Situation der USA gegenübergestellt, die hinsichtlich beider differenzierungstheoretischer Perspektiven ein weitaus .dynamischeres' Bild abgibt. Dies bildet den H i n t e r g r u n d f ü r die Betrachtung des pfingstlichevangelikalen Christentums, das im R a h m e n seines Weltmissionsunterfangens eine amerikanische Logik interreligiöser Beobachtung u n d Konkurrenz auf die Ebene der Weltgesellschaft projiziert u n d dabei organisatorische Rationalitäten an den Tag legt, die L u h m a n n der Religion nicht zugetraut hatte. Im R a h m e n dieser Analyse wird eine Systematik zur V e r k n ü p f u n g der Theorien funktionaler Differenzierung, der Ebenendifferenzierung u n d der Weltgesellschaft vorgeschlagen, die stärker dem operativen Akzent der jüngeren Systemtheorie gerecht zu werden versucht. Schlagworte: Differenzierung; Interaktion; Organisation; Weltgesellschaft; Religion; Mission; USA; Pfingstbewegung; Evangelikaiismus; Systemtheorie. S u m m a r y : This contribution focuses on religion f r o m the perspective of a theory of functional differentiation and the differentiation of interaction, organization, and (world) society. It takes L u h m a n n s early study on religious organization (1972) as its point of departure, which sets b o t h theories of differentiation in relation to each other and postulates a disintegrated relationship of interaction, organization, and societal subsystem for religion in m o d e r n society. L u h m a n n ' s study implicitly refers to G e r m a n Protestantism. As a contrast, the present contribution offers a brief sketch of the religious situation in the U.S., which is far more d y n a m i c in regard to b o t h approaches to differentiation. This serves as the backdrop for an analysis of Pentecostal Evangelicalism, which, in its endeavor of world evangelization, projects an American logic of interreligious observation and competition onto the realm of world society while exhibiting an organizational rationality which L u h m a n n did not deem possible for religion. In this regard, the contribution offers a systematic conception which relates the three theories, viz. functional differentiation, differentiation of interactionorganization-society, and world society, and which is, consequently, more in line with the more recent operative emphasis of systems theory. Keywords: Differentiation; Interaction; Organization; World Society; Religion; Mission; USA; Pentecostalism; Evangelicalism; Systems Theory.
1 Bei d e m vorliegenden Aufsatz handelt es sich u m ein A r g u m e n t , das ich ausführlicher in Petzke (2013) entwickelt habe. Für hilfreiche A n m e r k u n g e n d a n k e ich den Herausgebern dieses Sonderheftes sowie den beiden a n o n y m e n Gutachtern.
Martin Petzke: Religion im Schema von Interaktion, Organisation und Weltgesellschaft Der Religion kommt unter den Gesellschaftsbereichen, die Luhmann als Funktionssysteme in den Blick genommen hat, gleich in zweierlei Hinsicht eine werkgeschichtliche Sonderstellung zu. Zum einen wird in einem frühen Aufsatz an ihrem Beispiel funktionale Differenzierung aufs engste mit der Differenzierung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft in Berührung gebracht (vgl. Luhmann 1972). Damit steht sie unter den Funktionssystemen weitgehend allein da. Zum anderen ist „Die Religion der Gesellschaft" (Luhmann 2000), wie Rudolf Stichweh (2002: 290) bemerkt, „unter den späten Büchern das am stärksten von der Weltgesellschaft her gedachte"; hier wird dezidiert von der weltgesellschaftlichen Einheit der Religion ausgegangen. 2 An die Ebenendifferenzierung wird dabei allerdings nicht mehr angeschlossen. Auch der vorliegende Beitrag will die Theorien der Ebenendifferenzierung und der funktionalen Differenzierung für die Religion fruchtbar machen, sie gleichzeitig aber auch an weltgesellschaftstheoretische Überlegungen heranführen. Die pfingstlich-evangelikale Strömung im Christentum bildet hierfür einen geeigneten Fall. Als jüngerer Zweig des amerikanischen Evangelikaiismus entspringt sie einem regionalen Kontext, in dem der Religion eine besondere Dynamik zukommt. Der ,denominationale Pluralismus' in den USA lässt sich als gesellschaftlicher, i. e. makrostruktureller Zusammenhang fassen, innerhalb dessen religiöse Organisationen in gemeinsamer Anerkennung einer religionsspezifischen Form des Wettbewerbs um Anhänger konkurrieren. Seit den Erweckungsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts hat hier zudem die Interaktionsebene eine zentrale Rolle in der Mission eingenommen. Die pfingstlich-evangelikale Bewegung zeichnet sich nun insbesondere dadurch aus, dass sie im Zusammenhang ihrer Weltbekehrungsambitionen diese typisch amerikanische Sinnstruktur auf eine globale Ebene projiziert. Alle anderen Religionen der Welt werden als konkurrierende .Denominationen bzw. Mitgliedschaftsreligionen beobachtet und daraufhin mit entsprechenden organisatorisch hochgerüsteten Missionsstrategien konfrontiert. Diesem globalen konversions- und konkurrenzbezogenen Sinnhorizont, der einerseits durch eine organisatorisch auf Dauer gestellte Missionsbeobachtung getragen wird, andererseits missionarisch
2 Vgl. dazu auch den Aufsatz mit dem bemerkenswerten Titel „Die Weltgesellschaft und ihre Religion" (Luhmann
1995).
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aktive Organisationen orientiert, gilt es hier unter dem Gesichtspunkt „zweierlei Differenzierung" (Tyrell 2006) nachzugehen. Die Religion wird dabei indes nicht, wie es Luhmann (2000) tut, als ein weltgesellschaftliches Teilsystem im Singular vorgestellt. Vielmehr wird hier nachgezeichnet, wie die pfingstlich-evangelikale Bewegung selbst aus ihrer partikularen Perspektive einen solchen globalen Zusammenhang religiöser Vielfalt konstruiert und ihm eine operative .Realität' verleiht, indem sie an stetig aktualisierte Verteilungen religiöser Anhänger mit weltweiten Missionsaktivitäten anschließt.3 Dabei soll im Weiteren wie folgt vorgegangen werden. Zunächst gilt es einen Blick auf die bereits angesprochene frühe religionssoziologische Erörterung Luhmanns aus dem Jahre 1972 zu werfen (1). Hier sind zum einen die systematischen Überlegungen zu markieren, die Luhmann an dieser Stelle zum allgemeinen Verhältnis von Ebenendifferenzierung und funktionaler Differenzierung anstellt. Zum anderen ist der religionssoziologische Befund darzulegen, der für die Religion ein problematisches Verhältnis zur funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft konstatiert und die Probleme vor allem an der Ebenendifferenzierung deutlich macht. In dem daran anschließenden Abschnitt soll eine analoge Analyse hinsichtlich der religiösen Situation in den USA skizziert werden (2). Dabei zeigt sich, dass die pessimistischen Befunde der frühen Studie Luhmanns in der Hauptsache dem - mehr oder minder impliziten — Blick auf den deutschen Protestantismus zuzuschreiben sind. So hat man für den U.S.-amerikanischen Raum religionsbezogen gerade hinsichtlich des Verhältnisses von Interaktion, Organisation und Gesellschaft bzw. gesellschaftlichem Teilsystem ein deutlich dynamischeres Bild zu zeichnen. Die frühe Studie ist indes nicht nur in regionaler, sondern auch in werkgeschichtlicher Hinsicht zu kontextualisieren. Entsprechend wird in einem dritten Teil eine mögliche Aktualisierung der Verknüpfung der beiden Differenzierungstheorien vorgeschlagen, die die jüngere operative Wendung des Luhmannschen Ansatzes berücksichtigt (3). In diesem Zusammenhang gilt es zudem weltgesellschaftstheoretische Perspektiven aufzunehmen. Vor diesem Hintergrund nimmt der vierte Abschnitt schließlich die pfingstlich-evangeli-
Einer Definition von Religion und der Diskussion von Religionsbegriffen will ich mich dabei enthalten. Hier soll es allein darum gehen, das Religionsverständnis des pfingstlich-evangelikalen Christentums selbst und die darauf aufruhende Konstruktion eines globalen Zusammenhangs der Religionen nachzuzeichnen. 3
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 294-317
kale Bewegung in den Blick (4). Hier ist aufzuzeigen, inwieweit die spezifische religiöse Sinnstruktur der USA im Rahmen der Missionsbeobachtungen und Missionsaktivitäten der pfingstlich-evangelikalen Bewegung auf eine globale Ebene getragen wird. Die abschließenden Bemerkungen bieten neben einer Zusammenfassung des Arguments noch einen kurzen Blick auf einige Reaktionen anderer Religionen, die aus den ,Sinnzumutungen' und der missionarischen Konfrontation seitens der pfingstlichevangelikalen Bewegung hervorgehen (5).
1. „Die Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen" (Luhmann 1972) Luhmann hat 1972 einen Aufsatz zur „Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen" vorgelegt, der nicht zuletzt deshalb nahezu einmalig ist, weil hier beide Differenzierungsformen, funktionale und Ebenendifferenzierung, am Fall eines konkreten Funktionssystems zueinander in Beziehung gesetzt werden. 4 Dabei werden schon im ersten Absatz der Studie „funktional ausdifferenzierte Teilsysteme" (Luhmann 1972: 245) für die allgemeine Ebenenunterscheidung von Organisation und Gesellschaft in Beschlag genommen: Die Tatsache, dass Funktionsbereiche wie Wirtschaft, Politik und Religion nicht vollständig ,organisierbar' seien, dass die Fülle funktionsspezifischen Erlebens und Handelns sich nicht unter das Dach einer Organisation ziehen lasse, spreche für „eine prinzipielle Differenz der Funktionsebenen des Gesellschaftssystems und organisierter Sozialsysteme" (ebd.).5 Es schließt daran ein kurzer Abriss über die Charakteristika der verschiedenen Ebenen an, wie sie auch aus dem später erschienenen Aufsatz „Interaktion, Organisation, Gesellschaft" (Luhmann 1975 / 2005) bekannt sind. Allerdings: Anders als in dem späteren Aufsatz ist hier auch den Funktionssystemen ein eigener Abschnitt gewidmet, der sich zwischen die Diskussion von Gesellschaft und Organisation einfügt. Dabei wird nun auch für Funktionssysteme eine ,Eigentypik' geltend gemacht: Die Abhebung gegenüber der Organisationsebene vollzieht sich demzufolge über eine emergente „Institutionalisierung besonderer Rollenzusammenhänge", die „nicht ohne weiteres den Charakter von
4
Vgl. für eine aktuelle Diskussion dieser frühen Studie auch die Beiträge in Hermelink & Wegner 2008. 5 Vgl. zu diesem Gedanken schon Luhmann 1969.
Organisationen haben" (Luhmann 1972: 247). An der £>rastelligkeit der Ebenendifferenzierung und damit der Zugehörigkeit der Funktionssysteme zur Gesellschaftsebene wird gleichwohl festgehalten. So wird der letzte Fall der „einfachen Sozialsysteme" am Schluss dieses Abrisses ausdrücklich als .dritter' Fall eingeführt (vgl. ebd.: 248). Zu dieser Systematik wird, gerade was ihre rollentheoretische Fassung anbelangt, an späterer Stelle noch etwas zu sagen sein. Was den religionssoziologischen Gehalt anbelangt, so liegt dieser Studie, wie auch der wenige Jahre später erschienenen Monographie „Funktion der Religion" (1977), die Frage einer Kompatibilität der Religion mit den strukturellen Gegebenheiten der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft zugrunde. 6 Den Ausgangspunkt bildet dabei die Funktionsbestimmung der Religion. Das Bezugsproblem wird in den grundlegenden Reduktionen des Gesellschaftssystems ausgemacht. Als selektive „Strukturfixierung" (Luhmann 1972: 250) blieben selbst jene noch durchsetzt mit Verweisungen auf andere Möglichkeiten. Religion hat hier für Luhmann „die Funktion, die an sich kontingente Selektivität gesellschaftlicher Strukturen und Weltentwürfe tragbar zu machen, das heißt ihre Kontingenz zu chiffrieren und motivfähig zu interpretieren" (ebd.: 250 f.). In Anbetracht der kaum noch sinnvoll zu deutenden Komplexität der funktional differenzierten Gesellschaft sei diese Funktion der Religion indes „ferngerückt, ja unbehandelbar geworden" (ebd.: 255). Dieser Befund einer „Funktionsdefizienz" (ebd.: 249) veranlasst Luhmann zu der Frage, ob auf der Ebene der Organisation kompensatorisch nachgeholfen werden kann bzw. inwieweit „Kirche als Organisation religiöse Funktionen im Gesellschaftssystem erfüllen kann" (ebd.). Der Organisationsstatus falle der Kirche dabei gleichsam qua Zumutung zu, insoweit einerseits religiöse Zugehörigkeiten unter modernen Bedingungen .entscheidbar' werden, andererseits ,weltliche' Funktionsbereiche und Einzelpersonen im Umgang mit der Religion verbindliche Entscheidungskompetenzen erwarten (vgl. ebd.: 255 ff, 263 ff). Hinsichtlich des Ausmaßes, in dem die Kirche die ihr .aufgezwungene' Rolle der Organisation erfüllen kann, gibt sich Luhmann nun eindeutig skeptisch. Anders als typische Organisationen könne die Kirche ihre Strukturen nicht ohne weiteres va-
6
Vgl. nur das Vorwort zu „Die Funktion der Religion" (Luhmann 1977: 8): „Die Frage, ob Religion noch möglich ist, wird (...) zum Leitmotiv aller Kapitel".
Martin Petzke: Religion im Schema von Interaktion, Organisation und Weltgesellschaft
riieren, um potentielle Mitglieder zum Beitritt zu bewegen (vgl. Luhmann 1972: 257). Infolge der zuvor diagnostizierten Funktionsdefizienz vermisst Luhmann hier den Halt an einem „hinreichend eindeutigen Prinzip funktionaler Identifikation" (ebd.: 258), einer spezifischen Zweckformel etwa, wie sie im Falle der Wirtschaft beispielsweise das Profitmotiv oder in der Politik der Wahlerfolg bilden. Religiöse Identität gewinne die Kirche somit allein an ihrer Dogmatik; diese habe aber gerade keine „Entscheidungsgeltung, sondern historische Geltung" (ebd.: 262). Sie könne damit nicht ohne weiteres zum Gegenstand von Änderungen gemacht werden. Die Kompatibilitätsprobleme organisatorischer und religiöser Strukturen offenbaren sich Luhmann (1972: 258 ff.) auch in einer (auf den deutschen Kontext zu relativierenden) Differenzierung von Mitgliederkreisen: den Amtsträgern, den aktiv teilnehmenden Mitgliedern und den rein rechnerischen Mitgliedern, die als Kirchensteuerzahler nur .zahlen und zählen'. Allein dem Verhalten der amtlichen Mitglieder gesteht Luhmann zu, im engeren Sinne organisatorisch konditionierbar und disponibel zu sein. Was die übrigen Mitglieder in den .Publikumsrollen' anbelangt, so lasse sich hier religiöses Erleben und Handeln nicht leicht als Entscheidung behandeln. Zwar könne der Kircheneintritt als Entscheidung zugerechnet und als Bekundung einer generalisierten Unterstützungsbereitschaft interpretiert werden. Es folgten daraus aber keine Anweisungen und Programmierungen für weiteres Entscheiden, das Teil einer organisatorischen „Entscheidungsverknüpfung" (1977: 295) werden könnte. Programmatische Unschärfen werden aber auch beim engeren Kreis der kirchlichen Amtsträger ausgemacht. Die geringen Respezifikationspotentiale der ,defizienten' Funktionsperspektive wirken sich nach Luhmann (1972: 280 ff.) auf dieser Ebene als „Programmierproblem" aus. Die Kirche stoße hier auf Schwierigkeiten, kirchenamtliches Handeln so zu spezifizieren, dass Kriterien für Erfolg und Misserfolg benennbar und Änderungen darauf bezogen werden könnten. Programmierungsdefizite sieht Luhmann schließlich auch auf die Interaktionsebene durchschlagen. Als Organisation habe die Kirche die Aufgabe, als „Umschaltebene" (Luhmann 1972: 277) zwischen Gesellschaftsebene und Interaktionssystemen zu fungieren. Damit ist von Seiten Luhmanns nicht geleugnet, dass religiöses Erleben auch ohne organisatorische Vermittlung auskommen kann. Gleichwohl gilt ihm dies als „eine Art .gesellschaftspolitischer Zufall'" (ebd.). Die Funktion der Organisation verortet Luh-
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mann hier in „Umweltangeboten": Kirchliche Organisationen sollten religiöses Erleben und Handeln in einfachen Systemen dadurch ermöglichen, dass sie hierfür die nötigen Interpretationsleistungen und Sinnbezüge anbieten, die dann in den Interaktionen nicht jeweils neu ausgehandelt und eingerichtet werden müssen. Dafür brauche es allerdings organisatorische Kriterien des Gelingens, anhand derer die Organisation den Interaktionserfolg kontrollieren und lernbereit auf die Adäquanz der organisatorischen Programmvorgaben schließen könnte (vgl. Luhmann 1972: 282). Auch in diesem Zusammenhang redet Luhmann (ebd.: 282 f.) kirchenbezogen von „enormen Schwierigkeiten", die in der „gesellschaftlichen Unbestimmtheit von Religion" gründen; „die gesellschaftliche Funktion der Religion und die gesellschaftliche Adäquität religiöser Vorstellungen [sind] auf der Ebene der Interaktion nicht zureichend meßbar" (Luhmann 1977: 302). Die Studie schreibt der Religion in der Gesellschaft folglich eine weitreichende .Desintegration' der Ebenen Interaktion, Organisation und Gesellschaft zu. Der Blick ist dabei allerdings spürbar auf die evangelische Kirche in Deutschland gerichtet. Für den amerikanischen Kontext dagegen mag man gerade, was die Organisationskompatibilität von Religion anbelangt, zu ganz anderen Schlüssen kommen. Patricia M.Y. Chang (2003: 128f.) etwa räumt nicht zuletzt mit Blick auf die USA ein, dass hier religiöser Sinn durchaus mit hoher organisatorisch-instrumenteller Rationalität zusammengehen kann. Wie noch zu zeigen sein wird, zeichnet dies gerade auch die pfingstlich-evangelikale Bewegung aus, die von den USA ihren Ausgang nimmt. Ein in differenzierungstheoretischer Hinsicht vergleichender Blick auf den amerikanischen Kontext dürfte also lohnen.
2. Religiöse Differenzierung in den USA Bereits Alexis de Tocqueville (1835/2000: 348 ff.) hat die religiösen Unterschiede zwischen Europa und den USA ausführlich gewürdigt: Er zeigte sich dabei nicht nur hinsichtlich des großen Einflusses des christlichen Glaubens und des damit verbundenen religiöses Eifers in den USA beeindruckt; die Überraschung galt gerade auch der mesosozialen Ebene und der sich hier präsentierenden .unzählbaren' Menge an verschiedenen Sekten.7 Talcott Parsons spricht 7
Heutige Betrachter der religiösen Unterschiede zwischen den USA und Europa plädieren zunehmend dafür, umgekehrt in der europäischen Situation die Ausnahme
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hinsichtlich des amerikanischen Musters religiöser Organisation' von „denominational pluralism" (vgl. Parsons 1960). Mit dem Begriff der Denomination hatte H . Richard Niebuhr (1929) seinerseits die auf Troeltsch und Weber zurückgehende Kirchen / Sekten-Typologie erweitert. Denominationen nehmen dabei eine Zwischenstellung zwischen Kirchen und Sekten ein. Sie haben mit Sekten das voluntaristischpluralistische Prinzip der Assoziation gemein, allerdings nicht das Moment asketischer Weltverneinung. Mit den Kirchen wiederum teilen sie das differenzierungsbezogene Arrangement zwischen weltlicher und religiöser Interessenssphäre, allerdings nicht den Anspruch einer gesellschaftlichen Alleinzuständigkeit (vgl. Parsons 1967: 413 f.). Die Differenzierung zwischen Makro- und Mesoebene wird in den USA durch die religiöse Organisation folglich mitvollzogen; sie sieht sich als eine Organisation unter vielen innerhalb einer umfassenden religiösen Sphäre, so wie dies auch für die organisatorischen Verhältnisse innerhalb anderer gesellschaftlicher Teilsysteme gilt. Dynamisiert wird das Feld durch eine interdenominationale Konkurrenz (vgl. Parsons 1960: 313). Wie in der Wirtschaft ruht diese auf gemeinsam anerkannten Werten auf, etwa der Wahlfreiheit des Individuums und der Nicht-Einmischung der Politik, die notfalls auch als Gesamtheit gegen eine außerreligiöse Umwelt vertreten werden (vgl. dazu Geser 1999: 54). In dieser von Parsons in den Blick genommenen organisationsübergreifenden Konkurrenzlogik liegt letztlich die systemspezifische Eigendynamik, die man hier - anstelle der Luhmannschen Funktionsbestimmung - der Gesellschaftsebene zuzurechnen hätte. 8
zu sehen (Davie 2002; Berger et al. 2008); vgl. zu den Unterschieden Berger et al. 2008: 15; Casanova 1994: 29ff.; ferner M a r t i n 1978. 8 Auch Parsons (1960: 302) schreibt der Religion freilich eine F u n k t i o n zu; sie liegt in der „regulation of the balance of the motivational c o m m i t m e n t of the individual to the values of his society". So mag m a n die ,makrostrukturelle' Verankerung hier auch in der zivilreligiösen G r u n d i e r u n g der Gesamtgesellschaft sehen, der sich die D e n o m i n a t i o nen, aber auch „säkulare H u m a n i s t e n " verpflichtet f ü h len; vgl. Parsons 1967; dazu auch Geser 1999: 45. Der Differenzierungstheorie L u h m a n n s steht indes der Blick auf die ausdifferenzierenden Eigendynamiken u n d operativen Schließungen einer interdenominationalen Konkurrenzlogik näher. Die Frage nach einer religiösen F u n k t i o n u n d überhaupt der Notwendigkeit funktionaler Bestimm u n g e n in der Differenzierungstheorie L u h m a n n s soll im Folgenden entsprechend beiseitegelassen werden; vgl. zu Letzterem S c h i m a n k 1998.
Dieses eigentümliche Zusammengehen von wechselseitiger Toleranz u n d lebhafter Konkurrenz hat seine Wurzeln nicht zuletzt in der einzigartigen Siedlungsgeschichte der Vereinigten Staaten. 9 Tatsächlich gab es auf dem amerikanischen Kontinent in den Kolonien zum Teil durchaus ,Staatskirchen' wie auch entsprechende Versuche, Andersgläubige zu unterdrücken bzw. zu einem konformen Glauben zu zwingen. Wie Mead (1963 /1987) herausstellt, bot der scheinbar grenzenlose R a u m Nordamerikas religiösen Abweichlern allerdings stets die Gelegenheit, weiter zu ziehen und in ausreichender Entfernung ihrem Glauben unbehelligt nachzugehen - und darin anderen gar noch zum Vorbild zu werden. Das Prinzip des - politisch durchgesetzten - Zwangs konnte unter diesen Bedingungen kaum die Kirchenteilnahme garantieren. Mit den Erweckungsbewegungen, die sich von der Mitte des 18. Jahrhunderts an in den Kolonien entfalteten, setzten sich entsprechend andere Methoden der Gewinnung von Anhängern durch, die bis heute die religiöse Landschaft in den USA dynamisieren': Es sind solche, die auf die reine Kraft der Überzeugung setzen (ebd.: 36 ff., 113 ff.; Mead 1956a). W o Zwangsmittel fehlten, blieb auch den europäischen Traditionskirchen in den Kolonien keine andere Wahl, als mit den .Sekten nach deren Regeln zu konkurrieren und sich auf die bloße Wirkung der Uberzeugung zu verlassen. Dieses Werben u m die Z u s t i m m u n g des Einzelnen verlieh zum einen der Mission durch ,Evangelisation' ihren ausgezeichneten Stellenwert. Z u m anderen bildete n u n weniger die Konformität mit einer kirchlichen Tradition, sondern der freiwillige Zusammenschluss auf der Basis eines Privaturteils das entscheidende Prinzip der religiösen Assoziation; dabei macht sich ein pietistischer Einfluss in dem Akzent auf die persönliche Glaubenserfahrung bemerkbar. Auf diesem ,voluntary principle' gründen nicht zuletzt die freimütigen Neugründungen von christlichen Religionsgemeinschaften, die das religiöse Feld von Organisationen in den USA so reich bestücken und die Differenz von Kirche und Sekte letztlich obsolet werden lassen. Das verfassungsmäßige Prinzip der Glaubensfreiheit wird dabei von religiöser Seite vor allem aus Erwägungen vertreten, die auf den eigenen Fortbestand zielen. So hat keine Kirche eine ausreichende Anhängerschaft, u m als Staatskirche in Frage zu kom9
Ich halte mich im Folgenden eng an Mead (1963 /1987). Klassisch ferner Ahlstrom (1972), der allerdings in Bezug auf den denominationalen Pluralismus wenig liefert, sowie Sweet (1930/1950).
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men. 10 Zwar finden sich durchaus theologische Positionen, die den damit einhergehenden Pluralismus auch religiös legitimieren." Die philosophische' Begründung kommt indes in der Hauptsache von den Gründervätern und damit von politischer Seite. So verwies man etwa darauf, dass sich der Pluralismus gerade hinsichtlich der Bewahrung von Ruhe und Ordnung in den Kolonien bewährt hatte; zum Teil spielte auf dieser Seite auch die rationalistische Vorstellung von .natürlicher Religion' eine Rolle, die allen Religionen eine in der menschlichen Vernunft gründende Wahrheit zuschreibt (vgl. Mead 1963 /1987: 83). Die Tatsache, dass die entscheidenden Legitimationen eher von politischer Seite geliefert wurden, bedeutet nun zugleich: Auf religiöser Seite war das Zugeständnis von Glaubensfreiheit an andere und die Toleranz ihrer Existenz nicht ohne Weiteres gleichbedeutend mit der Toleranz oder gar Anerkennung der jeweils anderen doktrinären Positionen. Vielmehr wurzelt die typisch amerikanische Konkurrenzdynamik gerade darin, dass hier die Anerkennung der anderen als Denomination mit der exklusivistischen Annahme eines eigenen Wahrheitsprivilegs zusammengehen kann (vgl. hierzu Mead 1963 / 1987: 134 ff.). So schreibt auch Hall (1997: 121) hinsichtlich der amerikanischen Trennung von Staat und Kirche: „On the whole the Protestant churches accepted the distinction, seeing it not as a disadvantage but as enabling each of them to evangelize at will". Diese Konkurrenzdynamik konnte sich dabei insbesondere zwischen 1776 und 1850 in einem einzigartigen Prozess der ,Seelenernte' entfalten; befeuert durch das „Second Great Awakening" wurde hier die junge Nation gerade auch gen Westen in die verschiedenen religiösen Organisationen inkludiert (vgl. Mathews 1969; Butler 1990).12 Insbesondere die Baptisten und Methodisten konnten hier nachhaltige Erfolge erzielen (vgl. Finke & Stark 1989,2005). 10 Während folglich in Europa die Ausdifferenzierung eines pluralistischen Religionssystems eher ,fremdgesetzt' wird (dazu L u h m a n n 1977: 43), wird sie in den USA durch die Religion mitvollzogen und gewissermaßen von ,innen' abgesichert. 11
So etwa beim puritanischen Prediger Roger Williams (c. 1603-1683), auf den Jellinek (1895) in weiten Teilen seine These vom religiösen Ursprung der Menschenrechte stützt. Siehe dazu auch Troeltsch (1912: 760 f.), der in Bezug auf Jellinek hier auch auf den Beitrag der Baptisten und Quäker aufmerksam macht. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Joas 2003: 260 ff. 12 Z u m „Second Great Awakening" siehe insbesondere McLoughlin 1978: 98 ff.
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Dabei geriet die eigentliche Evangelisationsabsicht nicht selten gegenüber dem kompetitiven Vergleich ins Hintertreffen, wie ein von Mead (1963 /1987: 137) zitierter Ausspruch eines baptistischen Erweckungspredigers pointiert zum Ausdruck bringt: „Wir gewannen in der vergangenen Nacht nur zwei Seelen, aber gottseidank gewannen die Methodisten von der anderen Straßenseite gar keine!" Auch darüber hinaus traten religiöse Aktivitäten und Predigtthemen ohne Konversionsbezug zunehmend hinter den Bekehrungseifer zurück: ,,[W]hen pietistic sentiments and revivalistic techniques swept to the crest of evangelicalism in America, the conversion of souls tended to crowd out other aspects of the minister's work" (Mead 1956b: 244). Wie noch deutlich werden wird, ist diese - gerade für die frühe Periode des ,revivalism' charakteristische — ,Zweckverschiebung' auch ein wesentliches Merkmal des pfingstlich-evangelikalen Christentums, das sich bis heute den Geist einer solchen ,Erweckungsbewegung' zu bewahren sucht. Konkurrenz steht damit im Zentrum des freikirchlichen Systems der USA, ohne dabei freilich Formen der Kooperation und interdenominationale Organisationsbildungen, gerade auch in der damals schon global agierenden Missions- und Evangelisationsarbeit, auszuschließen. Der genuin religiöse Charakter dieser Konkurrenzdynamik bleibt dabei insofern gewahrt, als ihr widerstreitende Ansprüche auf .religiöse Wahrheit' zugrunde liegen und den Wettbewerb mit entsprechenden semantischen Bezügen ausstatten. 13 Anders als im europäischen Raum liefert hier das religiöse Teilsystem mit seiner Logik der Konkurrenz um Bekehrungen der missionarisch aktiven Organisation folglich einen klaren, gar noch quantifizierbaren Zweck, auf den hin sich die eigenen Organisationsprozesse rationalisieren lassen. Die charakteristische „Geschichtslosigkeit" (Mead 1963/1987: 113) der amerikanischen Religiosität, die zuvorderst auf das Privaturteil statt auf kirchliche Traditionen setzt, erlaubt die dafür notwendige strukturelle Beweglichkeit. Ein prominentes Beispiel einer solchen Zweckorientierung sind die sogenannten ,New Measures'
13
So konnten, wie Mead (1963/1987: 134 ff.) mit Bezug auf Bacon (1900: 404) konstatiert, die christlichen Denominationen die faktische Konkurrenzsituation nicht zuletzt deshalb affirmieren, weil ,,[t]he presumption is of course implied, if not asserted in the existence of any Christian sect that it is holding the absolute right and truth, or at least more nearly that than other sects; and the inference, to a religious mind, is that the right and true must, in the long run, prevail".
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des Evangelisten Charles G . Finney (1792-1875), eine Zusammenstellung wirkungsvoller u n d erprobter Techniken in der Bekehrung. 1 4 Die theologischen Voraussetzungen d a f ü r lieferten Lehren, die - entgegen der traditionell calvinistischen D o k t r i n - die Möglichkeit menschlichen Z u t u n s u n d die Rolle des freien Willens in der Erlösung betonten u n d sich im Laufe des „Second Awakening" z u n e h m e n d durchsetzten. 15 Die Evangelisationsveranstaltungen in der Tradition Finneys n a h m e n dabei ganz gezielt die Potentiale der Interaktionsebene f ü r den Bekehrungszweck in Beschlag. D a h i n t e r stand die U b e r z e u g u n g , dass eine unmittelbare emotionale E r r e g u n g in der V e r s a m m l u n g eine besondere Empfänglichkeit f ü r das Evangelium herzustellen vermag: „ M e n are so sluggish, there are so m a n y things to lead their m i n d s off f r o m religion a n d to oppose the influence of the gospel that it is necessary to raise an excitement a m o n g t h e m till the tide rises so high as to sweep away the opposing obstacles" (Finney 1835, zit. n. M c L o u g h l i n 1959: 87). N i c h t n u r die Gesellschafts- u n d Organisationsebene, sondern auch die Organisations- und Interaktionsebene stehen hier folglich in einem integrierten Verhältnis: Dies zeigt sich z u m einen in der sorgfältigen Planung u n d Vorbereitung solcher Veranstaltungen - insbesondere der Evangelist D w i g h t L. M o o d y setzte hier neue M a ß s t ä b e (hierzu Evensen 1999). Es zeigt sich z u m anderen aber auch an den organisatorischen Lernprozessen, mit denen auf d e m Experimentierfeld der Interaktion zweckrationale Techniken der Mission herauspräpariert u n d auf D a u e r gestellt w u r d e n : .„When the blessing evidently follows the introduction of t h e measure itself, t h e proof is unanswerable that the measure is wise.' .Success', in terms of the n u m b e r of converts is (.. .),a safe criterion'." 16 Die L u h m a n n s c h e (1972) Beobachtung eines sterilen Z u s a m m e n h a n g s zwischen den Ebenen religiöser Interaktion, Organisation u n d Gesellschaft ist hier folglich zu relativieren. Für den amerikanischen Kontext liefert die teilsystemspezifische 14
Vgl. zu Finney McLoughlin (1959). Neben dem Methodismus tat sich in dieser Sache insbesondere die „New Haven Theology" hervor, die u.a. durch Nathaniel W. Taylor (1786-1858) und Lyman Beecher (1775-1863) vertreten wurde; vgl. hierzu Mead 1942; McLoughlin 1959: 3 ff. Die Theologie des Arminius hatte zuvor bereits eine solche Lehre vertreten; vgl. hierzu auch Harrison 1990: 23 ff. 16 McLoughlin (1959: 100); die Zitate beziehen sich auf Finney (1835: 175, 178; 1876: 83). 15
S i n n s t r u k t u r einer Konkurrenz u m Bekehrungen der Organisation ein klares Erfolgskriterium, f ü r das sich auch die Interaktionsebene organisatorisch einspannen lässt. Dies soll der folgenden Betrachtung der pfingstlich-evangelikalen Bewegung als Hinterg r u n d dienen. Das amerikanische' Ebenenverhältnis ist auch für diese bestimmend. Allerdings wird die Sinnstruktur einer interdenominationalen Konkurrenz u m Bekehrungen in den pfingstlich-evangelikalen Sinnentwürfen — kontrafaktisch - auf die religiöse Landschaft der Weltgesellschaft ausgedehnt. Für die weitere Betrachtung gilt es folglich z u m einen ein weltgesellschaftstheoretisches Vokabular zu m o bilisieren. Z u m anderen ist auch das systematische Verhältnis von Ebenendifferenzierung u n d f u n k t i o naler Differenzierung, wie es L u h m a n n im f r ü h e n religionssoziologischen Aufsatz andeutet, an den aktuellen Stand der Theorie h e r a n z u f ü h r e n . Der weiteren Untersuchung sind folglich einige allgemeine theoretische Überlegungen voranzustellen.
3. Zur systematischen Verknüpfung der Theorien funktionaler Differenzierung, der Ebendifferenzierung und der Weltgesellschaft L u h m a n n s f r ü h e Studie ist nicht n u r in regionaler Hinsicht zu relativieren. Zugleich ist ihr theoretischer Kontext werkgeschichtlich einzuordnen: So ist hier der operative Akzent, den die Theorie nach der ,autopoetischen W e n d e ' gewinnt (vgl. hierzu Luhm a n n 1984), noch nicht präsent. W i e gesehen, wird die gesellschaftliche Situierung von Funktionssystem e n (als Systemen, nicht als DifFerenzierungsform!) an ihren emergenten Rollengefügen festgemacht. Zugleich ist die These der Weltgesellschaft, die von Gesellschaft im weltweiten Singular ausgeht, zwar angedeutet (vgl. L u h m a n n 1972: 247, siehe dazu 1 9 7 1 / 2 0 0 5 ) ; auf etwaige Implikationen, die sich daraus f ü r die Konzeption gesellschaftlicher Teilssysteme ergeben, wird aber nicht eingegangen. Für das weitere Vorgehen ist es also geboten, die Verk n ü p f u n g von Ebenendifferenzierung u n d f u n k t i o naler Differenzierung einerseits auf den Stand einer operativen Sozialtheorie zu bringen u n d andererseits den Anschluss an weltgesellschaftstheoretische Überlegungen zu suchen. H i e r f ü r lässt sich das Konzept des funktionsspezifischen „Letztelements" ( L u h m a n n 1988: 17) bzw. „Elementarakts" (Stichweh 1987: 462) heranziehen. D a m i t sind die (durch das System im Verweisungszusammenhang eigener
Martin Petzke: Religion im Schema von Interaktion, Organisation und Weltgesellschaft
Operationen) selbst konstituierten elementaren Ereignisse bezeichnet, die die eigentliche' Autopoiesis im Sinne einer Rekonfiguration der weiteren Möglichkeiten des systemspezifischen Erlebens und Handelns vollziehen. Es sind die zeitfixierten, in ihrer Aktualität augenblicklich verblassenden,Taktungen' des Systems, für deren Reproduktion kontinuierlich gesorgt werden muss. Hierzu zählen etwa Zahlungen in der Wirtschaft (vgl. Luhmann 1988: 14), Publikationen in der Wissenschaft (vgl. Luhmann 1990: 432), Rechtsentscheidungen im Rechtssystem (vgl. Luhmann 1993: 108) und politische Entscheidungen in der Politik (vgl. Luhmann 1991/2004: 182). Diese Elemente unterscheiden sich von anderen funktionsspezifisch codierten Kommunikationen durch ihre gesellschaftsweite Anschlussfahigkeit: „Diese eigene elementare Operation muß (...) die Ordnungsvorgaben des Gesellschaftssystems nutzen können und darf mit Möglichkeiten des Kontakts über innergesellschaftliche Systemgrenzen nicht inkompatibel sein" (Stichweh 1987: 459). Es lässt sich folglich gerade an dem operativen Verbund funktionsspezifischer Elementarakte die Emergenz der Funktionssysteme gegenüber den Ebenen der Organisation und Interaktion und damit ihre ,Makroverankerung' festmachen. Die basalen Elemente instituieren einen Operationszusammenhang, der sich weder auf Interaktionszusammenhänge noch auf einzelne Organisationen reduzieren lässt. Das schließt nicht aus, dass Elementarakte mit Kommunikationen innerhalb von Interaktionen und Organisationen zusammenfallen. Schließlich wird auch eine Reihe von Entscheidungen in Organisationen im Rahmen von interaktiven Situationen getroffen. Die Organisation richtet sich allerdings als geschlossener, ,mesosozial' situierter Zusammenhang auf der Basis vielfältiger solcher in Interaktionen oder auch interaktionsfrei gefasster Entscheidungen ein. Analoges gilt für Funktionszusammenhänge auf der Basis funktionsspezifischer Elementarakte: Diese installieren einen kommunikativen, nach Maßgabe eigener Logiken operierenden Zusammenhang, der zum Teil Interaktionen und Organisationen in Anspruch nimmt, ohne aber auf diese rückführbar zu sein. So können wirtschaftliche Zahlungen mit Zahlungsentscheidungen in Organisationen zusammenfallen, die wiederum im Rahmen von Interaktionssystemen, etwa Vorstandskonferenzen, beschlossen werden. Ausgehend von dieser „operativen Kopplung" (vgl. hierzu Luhmann 1993: 440 f.) dreier .Ebenen' wird nun aber in dreierlei Hinsicht weiter prozessiert: nach Maßgabe der Situation, nach Maßgabe von daraus hervorgehenden Prämissen für
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weiteres Entscheiden und nach Maßgabe einer Neuverteilung von Kapital und den damit verbundenen, für alle Marktteilnehmer sich neu darstellenden Möglichkeiten, wirtschaftlich zu handeln. Die wirtschaftliche Autopoiesis richtet sich dabei selbstorganisierend' und gleichsam emergent ,oberhalb' von Interaktionen und Organisationen ein. Alle drei Systeme bilden folglich Umweltsysteme füreinander, ohne deshalb strukturelle Rahmungen und operative Kopplungen auszuschließen.17 Die .vertikale' Ordnung der drei Ebenen ergibt sich dabei daraus, dass sich umgekehrt Interaktionen kaum auf der Basis organisatorischer Entscheidungen einrichten können, wie auch die Entscheidungsverkettung in Organisationen keine Verkettung von Elementarakten darstellt — etwa indem eine wissenschaftliche Publikationsentscheidung an eine politische Entscheidung und diese an einen Richterspruch anschlösse. An dieses Konzept des Elementarakts lassen sich nun auch weltgesellschafistheoretische Überlegungen anbauen. Geht man von dem Charakteristikum einer gesellschaftsv/eiten Anschlussfahigkeit von Elementarakten und gleichzeitig von Gesellschaft als Weltgesellschaft aus, so wäre die Globalität von Funktionssystemen an einer weltweiten Verknüpfung von Elementarakten festzumachen. Analog zum weltgesellschaftlichen Singular des Gesellschaftssystems wäre hier einem weltweit einzigen Anschlusszusammenhang elementarer Kommunikationen nachzugehen, der einen einzigen systemspezifischen Möglichkeitshorizont reproduziert. Es käme bei den Funktionssystemen folglich auf die Totalität eines ausdifferenzierten Sinnzusammenhangs an, die alle ihr sachlich zugehörigen Operationen unabhängig von deren räumlichen Situierung einzubeziehen vermag. Von einer Weltwissenschaft etwa ließe sich dann sinnvoll sprechen, wenn wissenschaftliche Publikationen unabhängig von ihrem Entstehungs- und Publikationsort kontinuierlich einen gemeinsamen Forschungstand reproduzieren, der vorzeichnet und global durchgreifend einschränkt, welche weiteren Forschungsfragen möglich und sinnvoll sind. Diese theoretischen Vorschläge sollen die Grundlage für die weiteren Überlegungen bilden. Es gilt hier nachzuzeichnen, wie die pfingstlich-evangelikale Bewegung die religiöse Dynamik und institutionelle Logik des amerikanischen Kontextes auf die ,Ebene' der Weltgesellschaft hochprojiziert — wenn auch einseitig im Rahmen pfingstlich-evangelikaler 17
Vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch Kneer 2001: 414ff.
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Sinnkonstruktionen. Sie verleiht dabei in ihren Beobachtungen der „Konversion" die Qualität einer elementaren Operation, die neue Ausgangspunkte für die Mission liefert und so einen Sinnhorizont einer globalen Konkurrenz von Religionen reproduziert.18 Es werden alle religiösen Wechsel der Welt als Bekehrungen registriert und auf dieser Basis aktuelle weltweite religiöse Zugehörigkeitsverhältnisse bilanziert, an denen sich ein breites Feld pfingstlichevangelikaler Organisationen in seiner Agenda der Weltmission orientiert. 4.
Die pfingstlich-evangelikale Bewegung im Schema .zweierlei Differenzierungen'
Die pfingstlich-evangelikale Bewegung ist eine Strömung im Evangelikaiismus, deren Ursprung für gewöhnlich auf das Asuza-Street-Revival 1906 in Los Angeles, USA, zurückgeführt wird.19 Wie den Evangelikaiismus im Allgemeinen zeichnet auch die pfingstlichen Evangelikaien im Besonderen aus: der Glaube an die Irrtumsfreiheit der Bibel als des „Wortes Gottes"; die endzeitliche Erwartung einer persönlichen, sichtbaren Wiederkunft Christi; die Betonung persönlicher Bekehrung, die sich in einer „christlichen" Lebensführung niederschlägt; ferner die Überzeugung, dass individuelles Heil ausschließlich durch das Bekenntnis zu Jesus Christus erlangt werden könne und anderenfalls ewige Verdammnis drohe. Von nicht-pfingstlichen Evangelikaien heben sie sich durch die besondere Emphase ab, die sie den Geistesgaben wie etwa dem Zungenreden, der Heilung und der Prophetie beilegen. Die Grenzen sind indes fließend und werden auch im Kontext dieser Untersuchung nicht scharf gezogen. Für den vorliegenden Zusammenhang ist die pfingstlich-evangelikale Bewegung insbesondere aufgrund ihres dezidierten Missionseifers von Interesse.20 Be-
18 Vgl. zur evangelikalen Bekehrung aus systemtheoretischer Perspektive, allerdings ohne differenzierungstheoretische Interessen, auch Stolz 2000. 15 Vgl. die allgemeinen Darstellungen in Anderson 2004, Cox 1995, Hollenweger 1997, Reimer 1994, Zimmerling 2009; speziell zur Globalisierung des Pentekostalismus Anderson 2007, Brouwer et al. 1996, Martin 2002; vgl. zum amerikanischen Evangelikaiismus allgemein Soper 1994. 20 Freilich darf hier nicht das Bild einer einheitlichen Bewegung entstehen, hat man es doch vielmehr mit einem fragmentierten Konglomerat von Denominationen und
feuert von der Annahme einer unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft Christi, bildet die dezidiert auf Bekehrung setzende Weltmission seit Anbeginn ein wesentliches Zentrum der Bewegung. Gerade darin profiliert sie sich gegen das dominante protestantische Missionsverständnis, das den exklusivistisch motivierten Bekehrungsakzent zugunsten eines stärker humanitären Engagements im Laufe des 20. Jahrhunderts deutlich abgeschwächt hat.21 Tatsächlich hat das Pfingstchristentum seit seiner Entstehung ein beachtliches, weltweites Wachstum an den Tag gelegt. Der Missionserfolg betrifft dabei außerhalb Nordamerikas vor allem die Kontinente Südamerika (insbesondere Brasilien, Chile, Argentinien und Guatemala), Asien (insbesondere Südindien, Indonesien und Südkorea) und Afrika (insbesondere Nigeria, Ghana, Simbabwe, Kenia und Sambia) (vgl. Anderson 2004). Gegenwärtig werden mehr als 600 Millionen Menschen zu den Pfingstlern gezählt (vgl. Johnson & Crossing 2014). In Europa ist der Erfolg indes vergleichsweise bescheiden. Die lokalen Pfingstkirchen gewinnen dabei rasch eine weitreichende Unabhängigkeit, ohne jedoch ihre .amerikanische' Grundprägung zu verlieren; diese macht sich nicht zuletzt in ,eigenen' überregionalen und transkontinentalen Bekehrungsunterfangen bemerkbar (dazu schon Pate 1989). Die pfingstlich-evangelikale Weltmission ist im Folgenden im Schema von .zweierlei Differenzierung' zu analysieren. Ein religionsspezifischer ,makrostruktureller' Sinnzusammenhang ruht in entscheidender Hinsicht auf den Konstruktionsleistungen von Organisationen auf, die sich rein auf die globale Beobachtung von Religionen unter dem Gesichtspunkt der Mission spezialisieren und die Mission geographisch dirigieren (4.1). An diesem religionsspezifischen Sinnhorizont orientieren sich missionierende pfingstlich-evangelikale Organisationen, die für ihre Missionszwecke insbesondere die Potentiale der Interaktionsebene nutzbar machen und dabei ebenfalls an Traditionen des amerikanischen Evangelismus anschließen (4.2).
Gemeinden unterschiedlicher Größe, sozialer Zusammensetzung und Akzentuierungen der religiösen Praktiken zu tun; vgl. dazu auch Schäfer 2 0 0 6 . 21 Vgl. hierzu aus evangelikaler Perspektive Glasser & McGavran 1983.
Martin Petzke: Religion im Schema von Interaktion, Organisation und Weltgesellschaft
4.1 Organisation und Weltgesellschaft: Die Konstitution eines globalen Sinnhorizonts Innerhalb des Evangelikaiismus finden sich heute eigens ausdifferenzierte Organisationen, die sich auf missionswissenschaftliche Betrachtungen spezialisieren. Eine der bedeutenderen Einrichtungen ist etwa das 1947 von Charles Fuller gegründete Fuller Theological Seminary in Pasadena, Kalifornien.22 Die interdominationale Einrichtung beherbergt die von Donald McGavran in den 1960er Jahren ins Leben gerufene School of World Mission (heute School of Intercultural Studies), die gemeinhin als das Zentrum der „Church Growth "-Perspektive gilt. Ferner zu nennen sind hier das U.S. Center for World Mission, ebenfalls ansässig in Pasadena, Kalifornien, und gleichermaßen spezialisiert auf „advancing new insights in mission".23 Ihr ist das „Joshua Project" zugehörig - ein Unternehmen, das religionsstatistisches Material im Internet für Missionszwecke zur Verfügung stellt.24 Neben mittlerweile zahlreichen anderen Einrichtungen dieser Art zeichnen sich diese Institute durch die Anwendung sozialwissenschaftlicher und kulturanthropologischer Perspektiven mit dem erklärten Ziel einer Rationalisierung missionarischer Methoden aus. War die Gemeindewachstumsbewegung ursprünglich ein Unterfangen des nicht-pfingstlichen Evangelikalismus, so rückt sie spätestens mit C. Peter Wagner, der sich zur sog. „Dritten Welle" des Pentekostalismus bekennt, weit in das pfingstliche Lager hinein; nicht zuletzt der beachtliche Wachstumserfolg der pfingstlich-evangelikalen Bewegung mag dabei eine Vermählung nahegelegt haben (vgl. Kern 1997: 379). Die Gemeindewachstumsbewegung vertritt eine konsequent quantitative Perspektive auf die Mission; das Ziel ist die Optimierung des numerischen Erfolgs (vgl. McGavran 1955, 1990). Dieser Akzent auf Quantifizierung erhält seinen religiösen Bezug im Wesentlichen durch die im evangelikalen Lager vorherrschenden prä- und postmillenaristischen Eschatologien. Diesen ist die Vorstellung gemein, dass mit der Verkündung des Evangeliums an alle Menschen der Erde und ihrer Bekehrung die Wiederkunft Christi beschleunigt werde. Ein numerisch-statistischer Überblick über das noch zu Leistende liegt hier entsprechend nahe.
22
Vgl. zur Geschichte des Seminars Marsden 1987.
23
So der zeitweilige Slogan des Internetauftritts auf http://
www.uscwm.org/, zuletzt abgerufen am 3 0 . 0 1 . 2 0 1 4 . 24
Vgl. http://www.joshuaproject.net/, zuletzt abgerufen
am 3 0 . 0 1 . 2 0 1 4 .
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Dabei wird eine Pragmatik an den Tag gelegt, die keinerlei Hemmung zeigt, das .sakrale' Geschäft der Mission unter .profane' Effizienzgesichtspunkte zu stellen und dabei den Bekehrungszweck die Mittel .heiligen' zu lassen (vgl. Stafford 1986: 21). Der 2011 verstorbene Missionsstatistiker David B. Barrett nahm in dieser Hinsicht eine besonders prominente Position ein. Ursprünglich ein Missionar der anglikanischen Kirche in Afrika, gründete Barrett dort 1965 das World Evangelization Research Centre, das er 1985 nach Richmond, Virginia (USA), verlagerte. An der von dem Pfingstevangelikalen Pat Robertson gegründeten Regent University hielt Barrett zwischenzeitlich den Lehrstuhl für .Missiometrics' inne. 1982 gab er eine erste umfangreiche Bestandsaufnahme zur Weltchristenheit als „World Christian Encyclopedia" heraus. Daran schlossen in den Jahren 1985-1990 kontinuierliche Aktualisierungen in einer Publikationsreihe „Global Evangelization Movement: The AD 2000 Series" an, die ab 1990 an einer monatlichen Publikation „AD 2000 Global Monitor" (ab 1995: AD 2025 Global Monitor") fortgeführt wurden (vgl. Barrett, Johnson et al. 2001: 435). 2001 erschien schließlich die zweite, aktualisierte und in ihren Beobachtungen erheblich erweiterte Auflage der „World Christian Encyclopedia" (Barrett, Kurian et al. 2001), die Barrett unter anderem gemeinsam mit Todd M. Johnson, damals Direktor der pfingstlich-evangelikalen Missionsgesellschaft „Youth with a Mission", herausgab. Erläuterungen zu diesem Kompendium und weitergehende Betrachtungen finden sich in der parallel erschienenen Publikation „World Christian Trends" (Barrett, Johnson et al. 2001). Kontinuierliche Aktualisierungen der Daten aus der „World Christian Encyclopedia" (im Folgenden WCE) und „World Christian Trends" (im Folgenden W C T ) finden sich in der elektronischen Datenbank „World Christian Database" (im Folgenden WCD). Diese wird mittlerweile von dem „Center for the Study of Global Christianity" am Gordon-Conwell Theological Seminary, South Hamilton, Massachusetts, betreut, dem Johnson als Direktor voransteht und auch Barrett zuletzt angehörte. Diese - allerdings kostenpflichtige - Datenbank hat zum Teil wöchentliche Updates.25 In der Missionszeitschrift „International Bulletin of Missionary Research" liefern die Autoren seit den 1980er Jahren jährliche Aktualisierungen der wichtigsten Daten, allerdings 25
S o die Verkaufsinformation im Fachhandel; siehe z. B.:
http://www.digento.de/titel/105621.html, zuletzt abgerufen am 3 0 . 0 1 . 2 0 1 4 .
304
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 294-317 Country Table 1. Religious adherents In Singapore, AD 1900-2025. Year
1900
Name
Adherents
Chinese tofk-fßligionists Muslims Buddhists Christians PROFESSION professing Christiane AFFILIATION unaffiliated Christians affiliated Christians Roman Catholics Protestants Independents Anglicans Marginal Christians CHthodox Trans-megabtoc gioupmgs Evangelicals Pentecoslals/Chansmatics Great Commission Christians Hindus Nonreligious New-Religiomsta Sikhs Baha'is Atheists Shtntosis Ethnoreligiorosts
123,300 49 5 55,000 220 42.500 17 0 10,000 4.0
Other religionists World A (unevangelized persons) World Β (evangelœed non-Chmbans) World C (Christians) Country's population
1970 %
¡
mid-1990 %
Adherents
1,125000 54 2 373 000 180 200,000 96 161,700 7.8
1.330,134 552,000 430.000 352.000
Adherents
Annual
change.
1990-2000
mld-1995
Natural
Conversion
44 1 183 143 11.7
24.262 10,085 7,856 6.431
•5,146 238 733 2,128
19,116 10323 8559
1 35 1 73 1.84 220
Total Rate
Adherents
mid-2000 %
1,428,870 430 610,000 18 4 480.000 145 400,000 121
Adherents
mid-2025 %
1 521,289 655,231 515 894 437,593
42 7 184 14 5 12.3 12.3
10,000
40
161,700
78
352,000
11 7
6,431
2,128
8559
2 20
400,000
12.1
437,593
1,450 8,550 5.000 2,500 0 1,000 0 50
06 34 20 10 00 04 00 00
19,081 142.619 80,000 35467 16 300 10,000 650 202
09 6.9 39 1 7 08 05 00 00
27.300 324.700 119.500 100 000 74 000 27.000 3000 1,200
09 10.8 40 33 25 09 01 00
499 5.932 2,183 1,827 1.352 493 55 22
237 1,892 167 827 648 207 45 -2
736 7.824 2,350 2654 2.000 700 100 20
2 41 2.18 1 81 238 242 233 292 1.55
31,982 368,018 132,425 114,513 85,630 30,700 3,450 1,300
10 11 1 40 35 26 09 01 00
34,657 10 402,936 11.3 143,000 40 36 126,536 94,000 2 6 34,000 10 4,000 0 1 1400 00
1.644 2,094 4.184 2,740 2.284 959 256 80 62 13 11 11 13 19,141 29,488 6,431 55,063
1.156 1,046 2,166 344 1.613 69 -91 28 51 4 5
2 000 0 8 0 00 8.000 3.2 16,200 6 5 0 00 00 0 2.500 10 0 00 0 00 0 00 0 00 0 00 0 00 200,000 800 40.000 160 10.000 40
30,000 15 10.000 0 5 100.000 4.8 120.000 58 62.000 30 10 000 OS 20 000 10 700 0 0 2,000 0 1 0 00 i 0 00 400 oo : 200 00 ; 1.078,792 520 834.108 40 2 : 161.700 78
250.000 1000
2,074,600 100.0
90 000 3 0 114 600 3 8 229,000 7.6 150 000 8 0 125 000 4 1 52.500 1 7 14,000 05 4,400 02 3,400 0 1 700 00 600 00 580 0 0 686 00 1,049,568 "34 8 1,614.432 53 5 352 000 11 7 3016,000 1Ó0.0
25 -26 738 24.610 2,128 0
2.800 275 3140 245 6.350 2.48 3.084 1 89 3,897 2 75 1.028 1 80 165 1 12 108 2 22 113 290 17 217 16 237 10 1 57 38 4 47 -7,594 -0 75 54.098 2.93 8,559 2 20 55,063 1.69 [
108,932 3 3 131,217 40 259,000 7.8 167,000 50 150,000 4.5 58,200 18 14.600 04 5,100 0 2 4,100 01 810 00 700 0 0 630 00 990 00 1,009,490 304 1,911,203 57 6 400 000 120 3,320,694 100.0 I
118000 146,000 292,499 180,836 163,965 62,783 15,650 5,482 4525 868 758 678 1062 973.791 2155,616 437,593 3,567,000
33 41 8.2 5 1 46 1 8 04 02 01 00 00 00 00 273 604 123 100,0 ]Í
Adherents
I %
1458.300 350 780 000 18 7 650.000 156 660,000 158 660,000 158 42,000 10 618,000 14.8 210,000 50 200 000 4 8 150,000 36 50,000 1.2 6,000 0 1 2 000 0 1 190,000 260 000 412,000 2500«) 250 000 78 000 19,500 9,000 8,000 1,500 900 800 2000 900,288 2,607 712 660,000 4,168.000
46 62 99 60 60 1.9 05 02 02 00 00 00 01 216 826 158 100.0 j
Quelle: Barrett, Kurian et al. (2001: I, 661). Abb. 1 „Religious adherents in Singapore, AD
1900-2025"
vornehmlich für die christliche Religion. 26 In diesen Materialien sind die vielfältigen Perspektiven und Konzepte der Gemeindewachstumsbewegung spürbar aufgegriffen; sie können folglich als repräsentativ angesehen werden. Eine ausführliche Analyse der darin zum Tragen kommenden Semantiken kann hier nicht geleistet werden; es ist allein anzudeuten, inwieweit diese Beobachtungsmuster einen globalen, wenn auch einseitig getragenen Sinnzusammenhang auf der Ebene eines gesellschaftlichen Teilsystems begründen. Die W C E / W C T / W C D strebt eine Voll Inventarisierung der Religionen der Welt an. Dabei wird ein Verständnis von Religion zugrunde gelegt, das diese vornehmlich als Organisation oder Assoziation von Individuen fasst; als ,Mitgliedschaftsreligion' also, der Anhänger exklusiv und zählbar zugehören: „A religion is defined here as a religious community of believers or adherents who hold there to be something unique in their beliefs, and who give their primary religious allegiance and loyalty to that religion" (WCE: II, 3).
26
Was diese globale Missionsbeobachtung anbelangt, scheint dem amerikanischen Standort in der pfingstlichevangelikalen Bewegung gewissermaßen eine .Monopol-' bzw. .Oligopolstellung' zuzukommen. Auch wenn die Gemeindewachstumsbewegung ein transkontinentales Netzwerk mit prominenten Vertretern in zahlreichen Ländern darstellt, so ist im Geschäft des Zählens und Bilanzierens meistens nicht nur eine ideelle, sondern auch eine personelle Nähe zu den nordamerikanischen Unternehmungen zu konstatieren.
Religion wird hier folglich als voluntary association' verstanden, als Zusammenschluss von Individuen mit ähnlicher Glaubenserfahrung. Unter dem Gesichtspunkt der Mission gilt das zentrale Interesse dieses Kompendiums nun den quantitativen Anhängerverhältnissen unter den Religionen und ihrer Veränderung durch individuelle Wechsel religiöser Zugehörigkeit. Hierfür wird das Konzept der Konversionsentscheidung seines partikular-christlichen Gehalts entleert und ausdrücklich auf jede Form von religiöser Mobilität erweitert (vgl. WCT: 476). Es wird damit in der Beobachtung auch auf jene Religionen übertragen, die sich traditionellerweise nicht die Form einer Mitgliedschaftsreligion geben. Die globalen interreligiösen .Verschiebungen' werden mitunter in Einzelübersichten für alle Nationen der Welt präsentiert (vgl. WCE: I, 47 ff.). Hier wird jeweils eine Tabelle geliefert, die die lokalen Religionsverteilungen verschiedener Jahre ab 1900 mit Extrapolationen bis 2025 angibt (vgl. Abb. 1 für das Beispiel Singapur). Für die Jahre zwischen 1990 und 2000 werden dabei jährliche „Konversions"-Bewegungen, d.h. jährliche so Zu- bzw. Abnahmen an Anhängern für jede im Land präsente Religion angegeben. Diese sind statistisch von den rein demographisch bedingten Zuwächsen bereinigt. Das Missionsinteresse, das diesen Darstellungen zugrunde liegt, macht sich dabei auch in Angaben bemerkbar, die den Anteil „unevangelisierter Personen" an der Bevölkerung wiedergeben — derjenigen also, die von dem Evangelium bislang noch keine Kenntnis erhalten haben und folglich noch keine Ge-
Martin Petzke: Religion im Schema von Interaktion, Organisation und Weltgesellschaft
legenheit zu einer Konversionsentscheidung hatten. Die amerikanische Prägung dieser Sinnkonstruktion tritt dabei nicht nur in der zugrunde liegenden Religionsdefinition hervor. So suggeriert zum einen schon die Tabellenförmigkeit in der Auflistung der verschiedenen im Land präsenten religiösen Gruppierungen gewissermaßen die typisch ,denominationale' horizontale Struktur unter den Religionen. Vor allem aber wird hier mit der statistisch interpolierten .operativen Taktung durch sogenannte „Konversionen" eine Logik des freimütigen „denominational switching" (Wuthnow 1988: 88 ff.) konstruiert, wie sie für den amerikanischen Kontext, nicht aber für außeramerikanische Regionen kennzeichnend ist.27 Die charakteristische Konkurrenzlogik kommt dabei in dem Summenkonstanzprinzip zum Vorschein, das den interreligiösen Verhältnissen hier unterlegt wird, wie auch in einer Semantik des ,Verlusts' als Kehrseite der Konversion: „The figures given here add up to zero for each country, because conversions to one religion or religious grouping must always mean defections or losses from another religion or religious grouping" ( W C T : 476).
Diese Bilanzierungen zeichnen nun die Möglichkeiten weiterer Mission klar vor: Dort, wo der Anteil an Christen gering und die Population zahlreich ist, ist Evangelisationsarbeit dringend geboten. In diesem Zusammenhang liefern weitere Tabellen mit Indikatoren der missionsbezogenen ,Responsivität' der Bevölkerung sowie der aktuellen Sättigungsgrade hinsichtlich des missionarischen Angebots noch zusätzliche Orientierungen (vgl. etwa WCE: II, 30 ff.). Die Globalität der Perspektive macht sich hier darin bemerkbar, dass alle als Konversionen zugerechneten religiösen Wechsel in der Welt - zumindest dem Anspruch nach - kontinuierlich registriert und in die Reproduktion einer globalen Zugehörigkeitsverteilung einbezogen werden, die sich dann wieder regional entfalten lässt. In der Online-Datenbank der W C D sowie auf Internetplattformen wie www.jos huaproject.net sind entsprechende Aktualisierungen
weltweit einsehbar.28 Von der globalen Sinnorientierung zeugt auch die Tabelle „Today's globe each 24 hours: daily worldwide statistical changes in 75 major secular, religious, Christian, non-Christian characteristics" (WCE: I, 5). Hier werden weltweite Gewinne und Verluste an Anhängern für eine Auswahl von Weltreligionen in durchschnittlichen Tagesraten angegeben: Der aktualisierten Variante von 2014 zufolge gewinnt das Christentum täglich im Schnitt 84.000 Anhänger (davon 40.000 in pfingstlichcharismatischen Gemeinden); 83.000 Bekennende wachsen pro Tag dem Islam zu, 38.000 dem Hinduismus, eintausend dem Sikhismus und einhundert dem Judentum (vgl. Johnson & Crossing 2014). Die hier zum Tragen kommenden Konzepte der religiösen Zugehörigkeit, der Konversionsentscheidung etc. sind solche, die offensichtlich zunächst in der Hauptsache die organisatorische Ebene betreffen. Erst die interorganisationelle bzw. interreligiöse Relationierung richtet den Zusammenhang auf der Gesellschaftsebene ein. Hier hat man es mit einem „globalen Vergleichshorizont" (Heintz & Werron 2011) zu tun, der sich über ein spezifisches Elementarereignis reproduziert: die statistisch registrierte Konversionsentscheidung. Gerade die quantitative Perspektive vermag es hier, in einem auf Dauer gestellten Vergleich qualitativ heterogener Religionen fortlaufend neue Informationen zu generieren.29 „Konversionen" überführen globale Verteilungen religiöser Anhänger kontinuierlich in neue Zustände, die im Rahmen dieses Missionsverständnisses in der weiteren Mission in Rechnung zu stellen sind. Es konstituiert sich so eine Art,Marktstruktur' religiöser Zugehörigkeiten, die einerseits von spezialisierten Organisationen kultiviert wird und an der sich andererseits missionsinteressierte Organisationen orientieren.30 Ähnlich wie aktuelle Kapitalverteilungen in der Wirtschaft, Forschungsstände in der Zu den kartographischen Formaten solcher Bestandsaufnahmen vgl. Petzke 2 0 1 2 . 28
Vgl. zu den soziologischen Implikationen der Quantifizierung Espeland & Stevens 1998; Heintz 2 0 1 0 ; Werron 2005. 3 0 W i e einleitend bemerkt, weiche ich hier folglich von der Darstellung ab, die Luhmann ( 2 0 0 0 ) von der Religion in der Weltgesellschaft gibt. Statt Religionen von vornherein als Binnensysteme eines einzigen Systems zu .setzen', wird hier die global orientierte Konstruktion religiöser Diversität eines ausgewählten religiösen Beobachters rekonstruiert. A u f eine Kritik der These Luhmanns ( 2 0 0 0 ) , nach der Religionen als segmentare Binnendifferenzierung eines Gesamtsystems zu verstehen seien, kann hier nicht eingegangen werden; vgl. aber Tyrell 2 0 0 5 : 4 4 . 29
Anhand von Daten der Gallup-Erhebung kann Wuthnow (1988) in den späten 1980ern für die USA zeigen, dass jede dritte Person mindestens einmal ihre religiöse Zugehörigkeit gewechselt hat. Sogar unter denen, die als Juden bzw. Katholiken erzogen worden sind, wird für 15 bzw. 17 Prozent eine solche religiöse Mobilität konstatiert. Wuthnow (1988: 71 ff) hat in derartiger Mobilität einen Rückgang des Denominationalismus gesehen; vgl. aber Casanova (1992: 2 9 f.), der dies unter Bezugnahme auf Wuthnow umgekehrt als die eigentliche Verwirklichung des denominationalistischen Prinzips bezeichnet. 27
305
306
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 294-317
Wissenschaft, geltendes Recht und Präzedenzen in der Justiz, Rekorde im Sport, Machtverhältnisse in der Politik etc. schränken Religionsverteilungen im Rahmen dieser Sinnkonstruktion die Beliebigkeit weiteren sinnspezifischen — hier bekehrungsorientierten - Erlebens und Handelns organisationsübergreifend ein. Wo es etwa kaum noch ,NichtChristen zu bekehren gibt, ist Mission weniger sinnvoll als dort, wo man vom Evangelium gar noch nicht einmal gehört hat. Solche strukturellen ,Vorzeichnungen' kondensieren dann nicht selten in Formeln wie die des „10/40-Window". Damit wird im evangelikalen Diskurs die Region zwischen dem 10. und 40. Grad nördlicher Breite als die Gegend mit dem weltweit größten Vorkommen bislang „unevangelisierter" Individuen ausgewiesen (hierzu auch Mézié 2008: 78 ff.). So zeigt sich hier die Differenz von Organisation und Gesellschaft zugleich daran, dass im Rahmen der interreligiösen Beobachtung des pfingstlichevangelikalen Christentums nicht allein die Zugehörigkeit zur eigenen Denomination im engeren Sinne relevant ist, sondern gerade auch die Zugehörigkeit zum Christentum per se interessiert, hier verstanden als Aggregat der Anhängerzahlen der verschiedenen sich als christlich ausweisenden Denominationen. Auch die pfingstlich-evangelikale Bewegung erscheint innerhalb dieser Perspektive in der Hauptsache als numerisches Konstrukt. Sie lässt sich schwerlich als Organisationssystem o.ä. fassen, sondern ist ebenfalls als ein Konglomerat von Gemeinden und Denominationen anzusehen, die sich anhand einer bestimmten religiösen Semantik als pfingstlich klassifizieren lassen. Anders als die katholische Kirche, die ihre Einheit in der Tat qua Organisation konstituiert, wird die .Einheit' der pfingstlich-evangelikalen Bewegung nicht zuletzt über derartige statistische Aggregationen sichtbar gemacht. Auf die Beobachtung solcher quantitativen Relationen lässt sich dann eine Vielzahl missionsinteressierter Organisationen ,einnorden'; diese richten daran wiederum ihr je unterschiedliches organisatorisches Handeln aus. Als Überorganisationelle Struktur lässt sich ein solcher Sinnhorizont folglich nicht auf die Organisationsebene reduzieren. In dieser Hinsicht übernehmen die hier skizzierten Religionsstatistiken ähnliche Funktionen, wie sie Urs Stäheli (2004) dem Börsenticker in der Wirtschaft bescheinigt: Dieser konsolidiert eine Ausdifferenzierung von Zahlungskommunikation auf der Gesellschaftsebene, indem er einem potentiell gesellschaftsweiten Publikum Anschlussmöglichkeiten
an aktuelle Marktlagen vermittelt: „Erst das vom Ticker beschriebene Endlosband macht die Finanzkommunikationen jenseits von Interaktionskontexten beobachtbar und wird dadurch zur Grundlage für räumlich verstreute Anschlussoperationen" (Stäheli 2004: 252, m. Herv.).31 Auch über die Religionsstatistiken werden an sich unsichtbare religiöse Wechsel beobachtbar gemacht und können so zum Ausgangspunkt missionarischer Intervention werden. Gleichwohl werden hier nicht einfach faktische Konversionsentscheidungen über ihre Interaktionskontexte hinaus gesellschaftsweit verbreitet. .Konversionen werden hier vielmehr in der Auswertung von staatlichen Zensusbefragungen, Gemeindebefragungen, religionswissenschaftlichen Materials etc. weitreichend ,fingiert' (vgl. zu den Quellen WCT: 468); das gilt auch für die dabei implizit mitunterlegten Interaktions- und Organisationskontexte, wie sie dem evangelikalen Konzept der Konversionsentscheidung semantisch zugehören, aber der Selbstauslegung nicht-christlicher Traditionen weitgehend entgegenstehen. Weder die kulturelle Vorstellung einer individuellen Wahlfreiheit und exklusiven Zugehörigkeit im Bereich der Religion noch ihre rechtlich-institutionellen Voraussetzungen lassen sich hier ohne Weiteres vom amerikanischen Kontext auf andere Re(li)gionen und Kulturen der Welt übertragen. Für die hier registrierten „Bekehrungen" ist zunächst also festzuhalten, dass es sich um bloße Konstrukte einer partikularen Beobachtungsperspektive handelt. Nur wenige Vertreter der hier beobachteten religiösen Traditionen dürften ihrerseits ihr Erleben und Handeln gleichsinnig und kongruent auf diesen spezifischen Sinnhorizont ausrichten. Die verzeichneten .Konversionen' sind folglich nicht als Elemente eines globalen Funktionssystems Religion im Sinne Luhmanns (2000) zu nehmen. Als Elementarakte reproduzieren sie lediglich eine einseitig getragene, partikulare Makrostruktur, die sich neben alternativen Konstruktionen weltreligiöser Vielfalt behaupten muss. In letzterer Hinsicht kommt diesen Elementarereignissen allerdings sehr wohl eine operative .Realität' zu: So geben Konversionsraten und aktuelle Zugehörigkeitsverteilungen Anstoß zu tatsächlichen missionarischen Interventionen und Evangelisationsaktivitäten, die sich an solchen Bestandsaufnahmen religiöser Affiliationsverhältnisse ausdrücklich orien-
31 Eine ähnliche Funktion lässt sich dem leistungsvergleichenden „Publikum" im Sport zuschreiben; vgl. dazu Werron 2010.
Martin Petzke: Religion im Schema von Interaktion, Organisation und Weltgesellschaft
tieren. Als ein Sinnhorizont, der sich beständig durch die Dokumentation religiöser Wechsel reproduziert, bilden solche Inventarisierungen Missionsziele für diejenigen Organisationen des pfingstlich-evangelikalen Lagers ab, die nicht auf missionarische Beobachtung, sondern missionarisches Handeln spezialisiert sind - i.e. die zahlreichen Missionsgesellschaften wie auch die Organisationen, die sich der globalen Verbreitung des Evangeliums in verschiedenen medialen Formaten widmen. Die Prominenz der oben erwähnten geostrategischen Formel des „10/40-Window" unterstreicht dies; diese fehlt auf kaum einem missionsbezogenen Internetauftritt innerhalb der Bewegung. ,Bodenkontakt' erhalten solche Konstruktionen dabei nicht nur durch die faktische Missionstätigkeit, die sie anzukurbeln und zu dirigieren vermögen. 32 Die davon ausgehenden Evangelisationsbemühungen können zudem tatsächliche, zählbare Bekehrungen erwirken oder konstituieren zumindest bilanzierungswürdige Missionsunternehmen, die sich in aktualisierten Indikatoren über die missionarische ,Versorgung' und ,Responsivität' in einzelnen Regionen niederschlagen; so ist die ,Rekursivität' der Struktur garantiert. Indem die registrierten Konversionen und Z u g e h ö rigkeiten' dabei stets auf vergangene Verteilungen religiöser .Anhänger' zurückweisen und zukünftige Möglichkeiten und Dringlichkeiten der Bekehrung vorzeichnen, richtet sich ein globaler Operationsverbund religiöser Mobilität als ,Abschattungskontinuität' .oberhalb' der Organisations- und Interaktionsebene ein. In einem phänomenologischen Sinne darf hier folglich von einer operativen .Vernetzung' der Konversionen die Rede sein. 33 Dabei ist es nicht so
32
Vgl. erneut Petzke 2012 zu den visuellen Mitteln solcher Mobilisierungen und Orientierungen. 33 So ist auch bei Luhmann hinsichtlich solcher Verweisungszusammenhänge stets von einer rekursiven ,Vernetzung der Operationen die Rede: vgl. nur Luhmann 1990: 30. Es stellt sich von daher angesichts des "Iheorievorschlags von Heintz & Werron (2011) die Frage, ob sich „Vernetzungsdimension" tatsächlich als Gegenbegriff zur „Beschreibungsdimension" der Globalisierung eignet, insoweit sich die Autoren, was die letztere Dimension anbelangt, ebenfalls einer phänomenologischen Perspektive verpflichtet zeigen. Meines Erachtens wäre dort, wo „öffentliche Diskurse (...) Einzelereignisse (z.B. sportliche Wettkämpfe, Publikationen) zueinander in Beziehung setzen und in einen Vergleichszusammenhang bringen" (ebd.: 375) in phänomenologischer Hinsicht und ganz im Sinne Luhmanns von Vernetzung zu sprechen: (Beobachtete) Sinneinheiten reproduzieren hier eine gemeinsame Geschichte und einen gemeinsamen Möglich-
307
sehr der konstruierte Charakter der Bekehrungen, der diesen Operationszusammenhang von dem anderer Teilsysteme unterscheidet; auch letztere sind in ihrem Operieren auf kontingente Formen der Selbstreflexion, kommunikative Zurechnungen und beobachtende Synthesen angewiesen. 34 Der Unterschied liegt vielmehr in der Tatsache, dass jene Konstruktion religiöser Wirklichkeit in erheblichem Maße von den Konstruktionen religiöser Anderer divergiert. Es handelt sich hier allerdings um eine Divergenz, die sich, wie die anhaltende Registratur und die darauf aufbauenden missionarischen Aktivitäten zeigen, weitreichend gegen alternative Auslegungen weltreligiöser Vielfalt abseits von Semantiken religiöser Wahl und Zugehörigkeit zu immunisieren vermag. Um die eigentlichen missionarischen Aktivitäten soll es im Folgenden gehen; getragen werden sie von solchen Organisationen, die das Verhältnis von Organisation und Weltgesellschaft nicht durch die Konstitution eines spezifischen Sinnhorizonts, sondern durch ihre Missionsaktivität bis an die Grenzen kommunikativer Erreichbarkeit zum Ausdruck bringen. Hier sollen zwei Organisationstypen näher betrachtet werden: die Missionsunternehmen, die in der Weltmission die traditionelle Evangelisationsveranstaltung einsetzen, sowie die kirchliche Gemeinde selbst. Bei beiden soll es nun nicht um das Verhältnis von Organisation und Gesellschaft gehen, sondern um die eigentümliche Verschaltung von Organisation und Interaktion, die gleichwohl dem soeben skizzierten bekehrungsfokussierten Sinnhorizont verpflichtet bleibt; es gilt hier zu zeigen, wie hinsichtlich des Konversionszwecks die spezifischen Potentiale der Interaktionsebene organisatorisch eingespannt werden.
keitshorizont von Forschungsresultaten bzw. sportlichen Leistungen. Sie sind insofern in einem Verweisungszusammenhang ,strukturell vernetzt', als sie kontinuierlich eine Sinnstruktur rekonfigurieren, die weitere mögliche sportliche Leistungsiiberbietungen bzw. Forschungsergebnisse einschränkt und vorzeichnet. In der theorieimmanenten Unterscheidung einer phänomenologischen Beschreibungsdimension und einer (eher netzwerktheoretischen) Vernetzungsdimension der Globalisierung führen die Autoren somit eigentlich zwei Theorieparadigmen zusammen, die unterschiedliche Vernetzungsbegriffe mit je unterschiedlichen Bezugspunkten der Vernetzung führen: Bedeutungselemente oder Sinnakte im einen Fall, Akteure (z. B. Personen, Organisationen) im anderen Fall. 34 Siehe etwa für den Weltsport abermals Werron 2010.
308
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 2 9 4 - 3 1 7
4.2 Organisation und Interaktion: Die konversionsorientierte Inbeschlagnahme interaktiver Dynamiken D i e weltgesellschaftliche Konkurrenz
um
Sinnkonstruktion
Bekehrungen
.schlägt'
langen, oft anderthalb Stunden währenden ,Aufwärmphase', in der dem Publikum Hymnen und Lieder beigebracht werden, die dann kontinuierlich
einer
bei
der
pfingstlich-evangelikalen Bewegung bis zur Interaktionsebene .durch'. Die amerikanische Prägung macht sich hier im organisierten Einsatz von Interaktionsdynamiken
für
bemerkbar. So
sich zum einen bei vielen
findet
den
Bekehrungszweck
Missionsorganisationen die traditionelle Evangelisationsveranstaltung, die gezielt auf interaktionsgebundene Effekte setzt (1). Zweitens werden innerhalb der Gemeinden die spezifischen D y n a m i k e n von Interaktionskontexten und die Bindungswirkungen
von
Interaktionszusammenhängen
bzw.
Kleingruppen bewusst dafür eingesetzt, um Konvertiten ,bei der Stange zu halten' (2). Drittens wird im R a h m e n der pfingstlich-evangelikalen
Bewe-
gung in der Regel von allen Gemeindemitgliedern erwartet, missionarisch tätig zu werden (3). Dabei k o m m t eine Art,Karrierestruktur' zum Tragen, die nicht a u f theologische Qualifikation, sondern ganz auf Rekrutierungserfolge in Interaktionszusammenhängen setzt.
zu singen sind. Das Publikum wird emotional a u f gepeitscht' und zu einem spontanen Ausleben von Gefühlsregungen ermutigt. Daran schließt ein längerer Predigtteil an, der schließlich in einer Massenbekehrung kulminiert („Now the most holy moment o f this evening has come"). Die Menschen werden aufgefordert, ihre Augen zu schließen und ihre H ä n de zu heben, schließlich auch aufzustehen, wenn sie ,gerettet' werden wollen. M i t ihnen spricht B o n n k e das Erlösungsgebet („prayer o f salvation"), das von der Menge der Konversionswilligen im Publikum laut nachgebetet
wird.
Die vorgebeteten
Worte
Bonnkes sind hochemphatisch („I say Y E S ! Y E S ! Y E S ! to Jesus"). I m Publikum eingestreut sind tausende „Counsellors"; dies sind Mitarbeiter und Freiwillige der lokalen Gemeinden, die im Vorfeld für die Aufgabe der unmittelbaren Nachbetreuung im Anschluss an die Konversionsentscheidung geschult werden. 37 Sie verteilen an diejenigen, die die Arme gehoben haben und das Erlösungsgebet mitgesprochen haben, sogenannte „decision cards", anhand derer die Konversionsentscheidung objektiviert wird. 3 8 Die Karte besteht aus zwei Teilen; einer davon enthält einige weitergehende Anweisungen („Now that
4.2.1 Organisierte .Efferveszenz': Die Evangelisationsveranstaltungen der pfingstlich-evangelikalen Bewegung
you are saved...") und bleibt beim Konvertiten; der
Eine für die pfingstlich-evangelikale Bewegung typische Methode, Individuen zu bekehren bzw. Konversionsentscheidungen zu efFektuieren, besteht in der Evangelisationsveranstaltung. 35 Diese zentriert sich in der Regel um einen charismatischen ,Wanderprediger' bzw. Evangelisten und zeichnet sich durch ihren hochspektakulären, emotional aufgeladenen und auf Massenbekehrung konzentrierten Charakter aus. Die .Crusades' bzw. ,Gospel-Crusades' des deutschen Pfingstevangelisten Reinhard Bonnke, der mit seiner Organisation „Christ for All Nations" vornehmlich auf dem afrikanischen Kontinent tätig ist
sich dann seiner weiteren Betreuung und Schulung
und z . T . Hunderttausende von Menschen bei einer Veranstaltung versammelt, seien hier exemplarisch herangezogen. 3 6 Sie beginnen in der Regel mit einer
Vgl. hierzu auch Kern 1997: 213 f.: „Die Charismatiker haben mit der Evangelisation einen Typus von Veranstaltung entwickelt, dessen einzelne Komponenten sie gezielt nutzen und gestalten, um bei den Besuchern ein Bekehrungserlebnis herbeizuführen" (Herv. i. O.). 36 Vgl. hierzu und zum Folgenden Gifford 1987, Brouwer et al. 1996: 157 f. Zur allgemeinen Struktur pfingstlich-
35
andere Teil mit den Daten des Konvertiten wird einer der teilnehmenden Lokalgemeinden zugespielt, die annimmt. 3 9 Daran schließt in der Veranstaltung nicht selten ein Segment an, in dem die Geistestaufe zelebriert wird. In einem letzten Teil werden dann in der Regel Heilungen am Publikum exerziert.
evangelikaler Evangelisationsveranstaltungen siehe auch Kern 1997: 213 ff. Einige der folgenden Charakterisierungen basieren auch auf eigenen Beobachtungen von Teilen der Crusade in Kochi, Kerala, Indien, die auf YouTube verfügbar sind, sowie der verschiedenen webcasts auf http://www.cfan.org. Vgl. hierzu http://www.bonnke.net/cfan/en/cfan/functioning-of-cfan, zuletzt abgerufen am 30.01.2014. Diese Technik der Einstreuung von Mitarbeitern ins Publikum wandte schon Charles G. Finney an; dazu McLoughlin 1959: 98 f. 38 Der Einsatz von solchen „decision cards" lässt sich bis zum amerikanischen Evangelisten Edward Pay so η Hammond (1831-1910) zurückverfolgen; vgl. McLoughlin 1959: 156 f. 39 Hier und im Weiteren ist mit der Nennung der männlichen Form von Konvertit die weibliche Form stets mitgemeint. 37
Martin Petzke: Religion im Schema von Interaktion, Organisation und Weltgesellschaft
Diese Skizze mag bereits verdeutlicht haben, inwieweit hier besondere Potentiale der Interaktion dem Konversionszweck der Veranstaltung dienlich sind. Schon die rasche Sequentialität und das hohe Tempo des interaktiven Geschehens dürften dazu führen, dass ein reflektiertes Innehalten und die sorgfältige Abwägung eigener Reaktionen und Kommunikationsbeiträge entgegen spontaner Gefühlsregungen kaum gelingt. Auf einen ähnlichen Punkt stellt auch Detlef Pollack (1998) in seiner Analyse der Evangelisationsveranstaltung der evangelikalen Missionsorganisation ProChrist ab. Er sieht eine Funktion der dichten und pausenlosen Rede des Evangelisten darin, dass durch den „Ansturm der Kommunikation" (ebd.: 464) auf das Bewusstsein der Raum für mögliche eigene Reflexion, aus der Zweifel und Skepsis erwachsen könnten, weitgehend besetzt wird. Von nicht minder großer Bedeutung scheint mir indes der Atoi»charakter der Veranstaltung zu sein. Zur Masse finden sich klassische Perspektiven bei Gustave Le Bon (1895/1982), Gabriel Tarde (1901/1969), Georg Simmel (1890/1989: 210ff.) sowie — religionssoziologisch zugespitzt - bei Emile Durkheim (1912/1981: 296ff), die sich unter dem Gesichtspunkt der Interaktion eng an die Ebenenunterscheidung heranführen lassen. So stehen bei allen Autoren emergente Nachahmungs- und Ansteckungsdynamiken im Zentrum, die an körperliche Kopräsenz und wechselseitige Wahrnehmung gebunden sind. Darin gründet die „Verstärkung eines Eindrucks oder Impulses dadurch, daß er zugleich eine große Anzahl von Einzelnen trifft" (Simmel 1890/ 1989: 211). Entscheidend ist dabei die vorbewusste Übernahme der jeweils am Körper des anderen abgelesenen Befindlichkeiten, auf der dann entsprechende Wechselwirkungen und Rückkopplungen unter den Anwesenden aufruhen. 40 Die Kopräsenz entfaltet hier folglich nicht so sehr wegen der Reflexivität der Wahrnehmung, d. h. der Wahrnehmung des Wahrgenommenwerdens, ihre spezifische Wirkung, sondern vielmehr wegen der Reziprozität der Wahrnehmung anwesender Körper: Schon die emotionale Reaktion eines Einzelnen kann so über die Dynamik der Nachahmung und Wechselwirkung die gesamte Masse rasch in einen Zustand heftigster Erregung versetzen: „Daher lacht man im Theater und in Versammlungen über Scherze, die uns im Zimmer sehr kühl lassen würden, daher ge-
lingen die spiritistischen Manifestationen am besten in ,Zirkeln'" (Simmel 1908/1992: 206). Die pfingstlich-evangelikale Evangelisationsveranstaltung bildet einen fruchtbaren Nährboden für solche Massendynamiken. So zieht Rey (1985) die massenpsychologischen Nachahmungs- und Ausbreitungseffekte zur Erklärung des charismatischen „Ruhens im Geist" heran, das sich im um sich greifenden, entzückten Zu-Boden-gehen der Veranstaltungsteilnehmer manifestiert. 41 Hier sei es „wichtig, daß zunächst einige fallen - der Sturz der anderen folgt mit Sicherheit - oder daß jemand geheilt wird, damit durch Nachahmung andere ebenfalls geheilt werden" (Rey 1985: 80). Auch die Evangelisationsveranstaltung Bonnkes legt es offensichtlich darauf an, dass die Bekehrungswilligen ihren Gemütszustand zum Ausdruck bringen und in körperlichen Handlungen objektivieren. Zudem schaffen die farbenfrohe, bilderreiche Predigt über Konversionsund Heilungserfahrungen und die eigenen testimonies' bereits Konvertierter und Geheilter Identifikations- und Ansteckungspotentiale, über die sich dann die entsprechenden Reaktionen im Publikum ausbreiten können. Der choreographierte Charakter dieser Veranstaltungen macht dabei deutlich, dass die hier genannten Interaktionspotentiale nicht einfach zufällig ,nebenherlaufen', sondern durch einen dahinter stehenden organisatorischen Apparat für die Evangelisation und Bekehrung zweckvoll eingesetzt und stimuliert werden. 42 Interaktionsdynamiken werden hier beinahe ,sozialtechnologisch' in den Dienst des organisatorischen Ziels der Massenbekehrung genommen. Die Organisationsebene macht sich allerdings nicht allein in den .routiniert' eingesetzten Interaktionselementen bemerkbar, die auf eine zugrunde liegende Programmstruktur schließen lassen. Sie kommt gleichzeitig in dem massiven organisatorischen Aufwand in der Vorbereitung und im Hintergrund der Veranstaltung zum Tragen. So geht den Evangelisationsveranstaltungen Bonnkes eine lange Planungsphase voraus.43 Bereits Monate im Vorfeld wird mit den lokalen Gemeinden 41
Diese und ähnliche körperliche Manifestationen wie unkontrolliertes Lachen usw. sind seit den 1990er Jahren auch als Toronto-Segen bekannt geworden, nachdem sie gehäuft innerhalb der Toronto Airport Vineyard Gemeinde auftraten; hierzu Kern 1997: 339 ff. 42
40
Stäheli (2009: 401 f.) sieht hier mit Bezug auf Tarde Parallelen zum systemtheoretischen Gedanken der Selbstreferenz.
309
Vgl. zu diesem gezielten Einsatz „suggestiver Mittel" auch Hutten 1982: 372. 43 Vgl. hierzu und zum Folgenden http://www.bonnke. net/cfan/en/cfan/functioning-of-cfan und http://www.
310
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 294-317
Kontakt aufgenommen und gemeinsam mit interessierten lokalen Pastoren ein Planungskommittee eingerichtet. Gleichzeitig findet eine intensive Schulung der Counsellors statt, die dann, wie gesehen, gezielt in den Versammlungen zum Einsatz kommen. Ein umfangreiches Team von Elektrikern, Administratoren, Lastwagenfahrern, IT-Experten und Video-Technikern ist bereits Wochen vorher mit der technischen Vorbereitung und schließlich D u r c h f ü h r u n g der Evangelisationsveranstaltungen betraut. Daneben sorgt ein breit angelegter Werbefeldzug mit Plakaten, Transparenten und Medienmitteilungen lange im Vorfeld dafür, dass bei der eigentlichen Veranstaltung tatsächlich mit einem großen Publikum gerechnet werden kann. 4 4 Die ,spontan-enthusiastische' Interaktion der Evangelisationsversammlung hat folglich ein organisatorisch hochgerüstetes Substrat. Es handelt sich bei diesem Verhältnis von Interaktion und Organisation nicht einfach um ,Interaktion in Organisationen, wie man es etwa für Fakultätssitzungen, chirurgische Eingriffe oder Verkaufsverhandlungen konstatieren würde. Vielmehr wird hier nahezu der ganze organisatorische Apparat in seiner arbeitsteiligen Struktur und den detaillierten und erprobten Programmvorgaben in den Dienst einer möglichst enthemmten, hochemotionalen Interaktionssituation gestellt. Es handelt sich hier, so könnte man in Anlehnung an Durkheim sagen, um die .Organisation von Efferveszenz' - dies allerdings nicht als Selbstzweck, sondern als Strategie hinsichtlich des nach wie vor übergeordneten Organisationszwecks der Bekehrung möglichst vieler. Genau auf diesen strategischen Einsatz von „Heilungsversammlungen als die wirksamsten Missions- und Bekehrungsmittel" weist auch Hutten (1982: 374, Herv. i.O.) hin. Doch nicht nur in struktureller Hinsicht sind Organisation und Interaktion hier eng verzahnt. Es lässt sich in diesem Zusammenhang auch auf die operativen Kopplungen zwischen Interaktion, Organisation und Gesellschaft aufmerksam machen und dabei die oben vorgeschlagene Konzeption zum systematischen Verhältnis der Ebenen am konkreten Fall der Konversionsentscheidung illustrieren. So bildet die Konversion in ihrer objektiven Kundgabe durch das Erheben der Hände und schließlich das
bonnke.net/cfan/en/cfan/history, zuletzt abgerufen am 30.01.2014. 44 Vgl. auch Pollack (1998: 4 4 8 ff.) z u m konkreten organisatorischen A u f w a n d hinter den Evangelisationsveranstaltungen von ProChrist.
Ausfüllen der „decision card" ein zentrales Element der Interaktionssituation und hat hier besondere Anschlüsse zur Folge: Die umstehenden Menschen nehmen die kommunikative Äußerung wahr, lassen sich möglicherweise dadurch beeinflussen und folgen dem Beispiel, möglicherweise wird sie von dem Evangelisten mit Lobpreisungen kommentiert etc. Als Entscheidung ist diese Konversion zugleich organisatorisches Element. Mit der Unterzeichnung der .decision card' vollzieht der Konvertit faktisch seinen Beitritt zu einer der lokalen Gemeinden; diese Mitgliedschaftsentscheidung wird dann Prämisse weiteren Entscheidens: Es wird entschieden, wer sich innerhalb der Gemeinde der weiteren Betreuung und Schulung des Konvertiten annimmt, gleichzeitig können dem Konvertiten selbst eigene organisatorische Handlungen und Entscheidungen abverlangt werden, etwa das eigene Evangelisieren, zu dem jedes neue (und alte) Mitglied der Pfingstgemeinden angehalten wird, wie sogleich zu erörtern sein wird. Drittens schließlich konstituiert die Konversionsentscheidung einen Elementarakt des oben beschriebenen konversionsbezogenen Makrozusammenhangs. Als schriftlich dokumentierte Konversion wird sie mit hoher Wahrscheinlichkeit - wenn auch mit Verzögerung - in den Registrations- und Bilanzierungsprozessen der beobachtenden Organisationen Berücksichtigung finden, die einen interreligiösen Vergleichs- und Beobachtungszusammenhang kultivieren und so einen Möglichkeitshorizont weiteren bekehrungsorientierten Handelns reproduzieren. Die Ebenen der Interaktion, Organisation und Gesellschaft sind folglich für den Augenblick der objektiven Manifestation der Konversionsentscheidung .operativ gekoppelt', um in der Folge wieder in je eigene, interaktive, organisatorische oder teilsystemspezifische Anschlüsse auseinander zu fallen. 45 4.2.2 Die Bindungswirkungen der Interaktion Die Dynamiken der Interaktion werden auch dort organisatorisch eingespannt, wo es um die dauerhafte Bindung der Konvertiten an die pfingstlich-evangelikale Gemeinde geht. So wird von den Konvertiten erwartet, im Anschluss an ihre Konversion .Zeugnis' über die Gotteserfahrung vor der versammelten Gemeinde sowie vor Freunden und Familie abzulegen. Meredith McGuire (1977) hat darin die Funktion gesehen, den Rückfall in alte Lebensgewohnheiten
45
Mit Stolz (2000) ließe sich viertens auch noch eine mögliche operative Kopplung mit einem innerpsychischen Bekehrungserlebnis konstatieren.
Martin Petzke: Religion im Schema von Interaktion, Organisation und Weltgesellschaft bzw. die Rückkehr zum alten Leben zu erschweren. Die Konsistenzerwartung, die sich an die Selbstdarstellung haftet, verleiht der interaktiv manifestierten Konversionsentscheidung eine Bindungswirkung insbesondere dann, wenn sie vor Personen erbracht wird, denen man mit großer Wahrscheinlichkeit wiederbegegnen wird. Mit diesen Effekten wird von Seiten der Organisation durchaus kalkuliert; sie sind zumindest von der Gemeindewachstumsbewegung klar erkannt. So konstatieren Read et al. (1969: 316) in ihrer Studie „Latin American Church Growth" in Bezug auf chilenische Konvertiten: „By public testimony he identifies himself as an Evangelical. This
public identification
makes it more difficult for him to
recant or return to the world" (m. Herv.). Interaktionsbedingte Bindungen lassen sich allerdings nicht allein hinsichtlich Selbstdarstellungen ausmachen. Insbesondere wenn Interaktionen als Kleingruppen Stabilität gewinnen, gehen mit der zunehmenden emotionalen Färbung der face-toface-Beziehung zusätzliche Bindungswirkungen einher.46 Das Moment der Zusammengehörigkeit und des Wir-Gefiihls drängt auf Dauer und auf Fortsetzung der Beziehung und lässt dann die Abwesenheit einzelner auffallig und in hohem Maße legitimationsbedürftig werden (vgl. Tyrell 1983: 83). Zugleich betrifft die Zugehörigkeit keine sachlich begrenzte Rolle. Vielmehr darf alles Persönliche samt der externen Rollen des Individuums thematisch werden. Die eigene Identität ist hier folglich in die besondere Geschichte und Sonderwelt der Kleingruppe nicht nur in hohem Maße eingeflochten; sie wird in Primärgruppen dieser Art überhaupt erst .gespiegelt' und garantiert. Gerade darin gründen Motive für die Aufrechterhaltung der Gruppenbeziehung: „Trennung würde (...) immer auch Selbständerung und Verlust oder Umdeutung der eigenen Geschichte bedeuten". 47 Diese Bindungswirkungen von Kleingruppen werden nun durch die Gemeinde-Organisationen innerhalb der pfingstlich-evangelikalen Bewegung zum Teil ganz gezielt in Anspruch genommen. Insbesondere die größeren Gemeinden implementieren in der Regel ein Organisationsmodell, das die Gemeinde in kleinere ,Zellgruppen' unterteilt (vgl. Read et al. 1969: 67 f.; Wagner 1974: 53 ff.; Bergunder 1999: 76 u. passim). Hier spielt sich ein Großteil der reli-
Vgl. zur Gruppe unter Gesichtspunkten der Ebenendifferenzierung Tyrell 1983. 4 7 So Luhmann (2008: 60) in Bezug auf Liebesbeziehungen. 46
311
giösen Aktivitäten unter ,face-to-face'-Bedingungen ab. Wie Miller & Yamamori (2007: 193) bemerken, sind die Gespräche in diesen Gruppen tatsächlich sehr intim und persönlich; sie betreffen zumeist aktuelle familiäre, berufsbezogene, gesundheitliche oder ähnliche Probleme. Das Zellgruppenmodell geht im Wesentlichen auf den koreanischen Pfingstpastor Yonggi Cho zurück (vgl. etwa Cho & Hostetier 1981); er selbst ist ein wichtiger Vertreter der Gemeindewachstumsbewegung. Dabei wird in der Zusammenstellung der Gruppen bewusst einem „Homogenitätsprinzip" gefolgt. Die Gruppen werden nach Gesichtspunkten größtmöglicher Ähnlichkeit in ethnischer, sozio-ökonomischer bzw. beruflicher Hinsicht etc. aufgeteilt. In diesem Zugeständnis an menschliche ,Homophilie' wird gezielt auf die effektive Steigerung von bindungswirksamen „Wir-Gefühlen" gesetzt. So schreibt Cho (1984: 51): „There is one basic principle that must be maintained for cell groups to be successful. That principle is homogeneity. (...). I have discovered that groups based on geographical considerations alone tend to bring people together who have little in common (...). So much time and energy will be spent trying to develop a feeling ofoneness that the main purpose of reaching the lost and caring for the sheep will not be as effective" (m. Herv.). „Gemeinschaftliche" Gefühle in Interaktionszusammenhängen werden somit auch hier durch organisatorische Programmstrukturen strategisch gefordert. Im Übrigen wird damit organisatorisch rational an die oben erörterten Evangelisationsveranstaltungen angeschlossen. Die dort gewonnenen Konvertiten lassen sich im Zuge des ,follow-ups' durch die lokalen Gemeinden schon in den Tagen danach in einen Kleingruppenzusammenhang hineinstellen und folglich über bloß situativ bedingte Stimmungen hinaus an das Christentum binden. 4.2.3 Die bekehrungsorientierte Karrierestruktur und ihr Verhältnis zur Interaktion Wie oben gesehen, gab sich Luhmann (1972) bezüglich der Organisierbarkeit von Religion auch deshalb skeptisch, weil für den breiteren Mitgliederkreis aus der Mitgliedschaft in der Regel keine spezifizierten Anweisungen und Programmierungen für weiteres Verhalten folgen. Auch in dieser Hinsicht heben sich die Pfingstgemeinden typischerweise von der .europäischen Traditionskirche' ab. So ist auch das engere Gemeindeleben hochgradig von dem Konversionsziel bestimmt. Nahezu alle Aktivitäten in der Gemeinde tragen eine Referenz auf Evangelisation und Bekehrung (vgl. auch Kern 1997: 314). Entsprechend gilt
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zumindest die formale Erwartung an jedes Mitglied, einen Beitrag zur Evangelisation und Missionierung zu leisten (vgl. Kern 1997: 210; Read et al. 1969: 317). Daran koppelt sich eine Karrierestruktur, die auf Rekrutierungserfolge in Interaktionen setzt. Nicht theologische Qualifikationen bedingen hier einen Aufstieg in einer bestimmten Stellenhierarchie, sondern: „effective communication of the gospel" (Read et al. 1969: 320). 48 Schon beim Zeugnis nach der Konversion werden dabei die relevanten Fähigkeiten auf die Probe gestellt und lassen je nach Bewährung die Leitung einer Bibelgruppe, später die Eröffnung einer eigenen Predigtstätte in der Nachbarschaft und schließlich, nach vielen weiteren Zwischenstufen, das Amt des Pastors folgen (vgl. Lalive D'Epinay 1969: 75).49
Organisatorisch kontrollierte Interaktionen dienen jedoch nicht nur der Entwicklung und Entdeckung charismatischer Persönlichkeiten. Auch neue Techniken und Strategien der Evangelisation, die hier zum Zuge kommen und sich als erfolgreich erweisen, werden ohne weiteres in die Programmstrukturen der Organisationen aufgenommen (vgl. Miller 1997: 154 f.). Mit Luhmann (1972: 282) lässt sich in diesem Zusammenhang von einem „sekundären Lernen" der Organisation sprechen: „man lernt aus den Lernprozessen der Interaktion". Die dafür notwendige Flexibilität wird durch eine etwaige .historische Geltung' der Dogmatik kaum eingeschränkt, sind doch Spontanität und innovatives Wirken des .Heiligen Geistes' selbst Teil dieser Dogmatik (vgl. Read et al. 1969: 322).51
Die hohe Integration von Interaktion und Organisation zeigt sich hier daran, dass die Organisation klare Erfolgskriterien für die Interaktion liefert, anhand derer sie diese beobachten und in der Stellenstruktur entsprechend reagieren kann: ,,[S]uccess will be the necessary proof and sufficient proof of his calling, since people are convinced that it is not the man who makes conversions, but the power of god which dwells in him." 50 In diesen Zusammenhängen wachsen dann auch Evangelisten heran, die sich, nicht selten mit eigenen Missionsorganisationen, überdenominationalenEvangelisationsveranstaltungen widmen. Prominente Evangelisten werden dabei überregional und zum Teil global für solche Veranstaltungen angefragt. Dabei zirkuliert innerhalb der Bewegung entsprechendes Video- und Audiomaterial, aber auch Broschüren und eigene Literatur der Evangelisten; die pfingstlich-evangelikale Bewegung bringt hier eine Reihe von „Stars" hervor, die dann weltweit auf ,efferveszente' Interaktion hin eingeladen werden. Rosalind Hackett (1996) berichtet in diesem Zusammenhang etwa von einem intensiven Austausch zwischen Asien und Afrika.
Die pfingstlich-evangelikale Gemeindeorganisation lässt sich folglich nicht nur durch die klar spezifizierte Zweckformel des numerischen Wachstums von der unterbestimmten Zweckorientierung absetzen, die Luhmann (1972) in dem frühen Religionsaufsatz dem traditionellen Protestantismus bescheinigt hatte. Sie gewinnt noch ein zusätzliches Profil durch ihre weitgehende Unbekümmertheit in der Änderung ihrer Organisationsstrukturen, die sich von den historisch-dogmatischen Einschränkungen, die Luhmann (1972) für die problematische Immobilität der Kirchen verantwortlich gemacht hatte, ganz unbelastet zeigt. Hier zeigt sich erneut die amerikanische Prägung des pfingstlich-evangelikalen Christentums. Die Pfingstgemeinde ist folglich in weitaus engerem Sinne Organisation', als dies für die europäischen bzw. deutschen Traditionskirchen gilt. Dies zeigt sich gerade in der zweckrationalen Verschaltung von Organisation und Interaktion, die entsprechende Rückkopplungsmöglichkeiten von der Interaktion auf die Organisationsstrukturen unter Gesichtspunkten effizienter Bekehrung vorsieht.52
48
Die Assemblies of God bilden hier insoweit eine Ausnahme, als sie für das Amt des Pastors i. d. R. weitere Qualifikationen voraussetzen; vgl. für Südindien Bergunder 1999: 239. 45 In diesem Prinzip der Entstehung weiterer, weitreichend unabhängiger Gemeinden liegt wiederum eine deutliche Nähe zur denominationalen Struktur amerikanischer Religion. 50 Der kommunikative Erfolg steht nicht zuletzt auch deshalb im Vordergrund, weil Kirchenzehnte und das Spendenaufkommen der Gemeinde in der Regel die einzige Finanzierungsgrundlage des Pastors darstellen; vgl. Bergunder 1999: 252; Lalive D'Epinay 1969: 76.
51 Vgl. hierzu auch Hollenweger 1972: 345; Parker 1996; Wacker 2001: 114. 52 Zur evangelikalen „Megakirche" als Organisation jetzt auch Kern & Schimank 2013. Die Autoren kommen, was deren organisatorische Flexibilität und Rationalität anbelangt, zu den gleichen Konklusionen; das dabei zugrunde gelegte systemtheoretische Instrumentarium ist indes nicht die Systemtypologie, sondern die organisationsbezogene Unterscheidung von Programm-, Kommunikationsund Personalstrukturen.
Martin Petzke: Religion im Schema von Interaktion, Organisation und Weltgesellschaft
5. Abschließende Bemerkungen Wie der Aufsatz gezeigt hat, etabliert die pfingstlichevangelikale Mission eine globale Sinnstruktur, die sich im Schema zweierlei Differenzierungbcobzchten lässt. Hinsichtlich funktionaler Differenzierung fällt die Ausdifferenzierung eines religiösen Vergleichszusammenhangs ins Auge, der weltweit,konversionsbedingte' Wechsel zwischen den Religionen unter dem Gesichtspunkt der Konkurrenz beobachtet. Hinsichtlich der Ebenendifferenzierung ist einerseits die Kultivierung dieses teilsystemspezifischen Sinnhorizonts in einer organisatorisch auf Dauer gestellten Missionsbeobachtung hervorzuheben, andererseits die diesem Sinnhorizont verpflichtete Bekehrungsorientierung missionierender Organisationen, die für den Missionszweck Dynamiken der Interaktion organisatorisch in Anspruch nehmen. In dieser unproblematischen Anpassung an beide Differenzierungsformen - funktionale Differenzierung und die Differenzierung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft - lässt sich die pfingstlich-evangelikale Bewegung im Besonderen und die religiöse Situation in den USA im Allgemeinen gegen die frühen Diagnosen Luhmanns (1972, 1977) profilieren, die der Religion hier eher schlechte Kompatibilitätschancen bescheinigen. Diese spezifisch amerikanische Form der Integration von religiöser Interaktion, Organisation und gesellschaftlichem Teilsystem erhält in der pfingstlich-evangelikalen Bewegung ein weltgesellschaftliches Format. Allerdings, so hat der Aufsatz geltend gemacht, ist hinsichtlich dieser Sinnstruktur, die Religionen als Mitgliedschaftsreligionen beobachtet und sich unter diesem Gesichtspunkt für religiöse Wechsel interessiert, kaum von einer global geteilten Konstruktion religiöser Vielfalt auszugehen. Als operativer Verweisungszusammenhang, an dem sich ein pfingstlich-evangelikales Feld missionsinteressierter Organisationen orientiert, hat diese Konstruktion zwar durchaus ihre ,Realität'. Es ist für die nicht-evangelikale Seite indes nicht mit einer konvergenten bzw. gleichsinnigen Beobachtung der religiösen Welt zu rechnen. Die hier dargestellte quantitative, konversionsfokussierte Perspektive ist eine partikulare Form interreligiöser Beobachtung, die folglich nicht für ein Weltfunktionssystem Religion zu nehmen ist, wie es etwa die unhinterfragten Konstruktionen globaler Zahlungs- und Bilanzierungszusammenhänge für eine Weltwirtschaft sind. Die Globalität dieses Sinnzusammenhangs liegt folglich nicht in der globalen Konvergenz der Auslegungen religiöser
313
Vielfalt, sondern allein in seiner potentiell ,totalen' Berücksichtigung aller mutmaßlichen Konversionen und der damit einhergehenden erschöpfenden Beobachtung aller Religionen der Welt. Wie hier abschließend nur angedeutet werden kann, lassen sich aber für diese Sinnkonstruktion einer globalen Konkurrenz um religiöse Anhänger durchaus auch auf nicht-evangelikaler Seite reale Folgen verzeichnen. 53 Es erwachsen aus ihr Missionskontakte, die gerade durch ihren offensiven, ,exklusivistisch' auf Bekehrung setzenden Charakter die Aufmerksamkeit anderer ,Religionen' auf sich ziehen und hier Reaktionen provozieren. So hat bereits die christliche Mission des 19. Jahrhunderts in bestimmten Kontexten zu religiösen Rekonfigurationen gerade auf der Organisationsebene geführt und bisweilen ein, wenn auch defensiv orientiertes Interesse an religiösen Mitgliedschaften' geweckt. 54 Die gegenwärtigen Konfrontationen mit der pfingstlich-evangelikalen Bewegung, die der Missionsperspektive des 19. Jahrhunderts weitgehend verpflichtet bleibt, lassen diese Verhältnisse in den entsprechenden Kontexten in mancherlei Hinsicht neu aufleben (vgl. Berkwitz 2008; Perera 1998; Sharkey 2003; Zavos 2001). Dabei .konvergieren' die interreligiösen Perspektiven insofern, als auch auf nicht-evangelikaler Seite die (christliche) Bekehrung bisweilen die Beobachtungen zu strukturieren vermag und zum Ausgangspunkt religiöser Intervention wird. 55 Zu nennen sind hier etwa die hinduistischen .Rekonversionskampagnen', die in Indien gegenwärtig insbesondere durch den Welthindurat (VHP) durchgeführt werden (vgl. nur Kim 2003: 139 ff). In Einzelfällen führt dies gar zur Imitation der pfingstlich-evangelikalen Missionsstrategien: Ein prominentes Beispiel im Islam bildet etwa der 2005 verstorbene südafrikanische Muslim Ahmed Deedat, der mit seiner Organisation „Islamic Propagation Center International" eine muslimische Variante der Evangelisationsveranstaltung prägte und
53
Vgl. dazu ausführlicher Petzke 2013: 391 ff. Ich verweise hier für den Hinduismus im indischen Kontext nur auf Jones 1976, 1981; für den singhalesischen Buddhismus auf Bond 1988, Gombrich & Obeyesekere 1988, Malalgoda 1976; für den Islam in Afrika auf Sharkey 2006, 2008. 55 Einen bemerkenswerten Fall bilden hier die Schriften der hinduistischen Intellektuellen Shourie (1994, 2000) und Swarup (1985, 1988), die die pfingstlich-evangelikalen globalen Missionsstatistiken ihrerseits beobachten, um Rückschlüsse auf das missionarische Interesse und Vorgehen der ,Christen' in Indien zu ziehen. 54
314
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damit in der Vergangenheit Bonnkes „Crusades" in A f r i k a mit einer A r t „Gegenpropagandaprogramm" (Abun-Nasr & Loimeier 2 0 0 5 : 4 4 7 ) begleitet hat. Die pfingstlich-evangelikale Konstruktion religiöser Pluralität lässt somit im daraus hervorgehenden Missionskontakt das religiöse Erleben und Handeln anderer Traditionen durchaus nicht unberührt.
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Autorenvorstellung Martin Petzke, geb. 1980 in F r a n k f u r t / M a i n . Studium der Soziologie, Psychologie und Informatik an der Universität Trier. Von 2 0 0 7 - 2 0 1 0 Mitglied des DFG-Graduiertenkollegs „Weltgesellschaft - Die Herstellung und Repräsentation von Globalität" der Universität Bielefeld. 2012 Promotion in Bielefeld. Seit 2010 wissenschaftlicher Assistent am Soziologischen Seminar der Universität Luzern. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, Religionssoziologie, Weltgesellschaftsforschung. Wichtigste Publikationen: Weltbekehrungen. Zur Konstruktion globaler Religion im pfingstlich-evangelikalen Christentum. Bielefeld 2013; zuletzt in dieser Zeitschrift: Hat Bourdieu wirklich so wenig ,Klasse'? Replik auf André Kieserlings Aufsatz „Felder und Klassen. Pierre Bourdieus Theorie der modernen Gesellschaft", in: Z f S 38, 2009: 514—520.
Die Ebenenunterscheidung im empirischen Test
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft, 2014, S. 321-345
„Metaphysik der Anwesenheit". Zur Universalitätsfähigkeit soziologischer Interaktionsbegriffe1 "Metaphysics of Presence." How Universal Are Sociological Concepts of Interaction? Christian Meyer Institut für Kommunikationswissenschaft, Universität Duisburg-Essen, 45141 Essen [email protected]
Zusammenfassung: Der vorliegende Beitrag reflektiert den für die Luhmann'sche Ebenendifferenzierung zentralen Begriff der Interaktion anhand neuerer kulturvergleichender und mediensoziologischer Forschungen auf sein Universalitätspotential hin. Wie sich zeigen wird, operiert Luhmann ebenso wie Schütz, Goffman und die Konversationsanalyse mit einem partikularen Interaktionsbegriff, der nicht in allen Aspekten universell anwendbar ist. Diese Feststellung wird anhand einer Reihe empirischer Forschungen sowohl über kulturelle Unterschiede in Interaktionspraktiken als auch über Interaktionsformen in den neuen Medien belegt. Aus dem Befund, dass die bestehenden soziologischen Interaktionsbegriffe nur begrenztes Universalitätspotential besitzen, werden im Fazit zwei Konsequenzen gezogen: Erstens die Formulierung der Notwendigkeit einer globalen Soziologie und zweitens die Forderung nach einer partiellen Revision des Interaktionsbegriffes. Schlagworte: Interaktion; Kultur; Universalität; Anwesenheit; Fokus; Geselligkeit; Interaktionstheorie. Summary: This contribution reflects the concept of interaction which is so central to Luhmann's differentiation of levels in regard to its potential of universality. As will be seen, Luhmann as well as Schütz and Goffman, and conversation analysis in general, adopt a particularistic concept of interaction, which is not universally applicable in all of its aspects. This finding has been demonstrated in a number of recent empirical studies both ones on cultural differences in interactional practices as well as ones on forms of interaction in the new media. Based on the finding that the current sociological concepts of interaction have only limited potential for universality, two conclusions are drawn: First, there is a need for a global sociology and, second, for a partial revision of the concept of interaction. Keywords: Interaction; Culture; Universality; Presence; Focus; Sociability; Theory of Interaction.
1.
Einleitung
Der Interaktionsbegriff gehört seit Jahrzehnten z u m Kernbestand des theoretischen I n s t r u m e n t a r i u m s der Soziologie. Interaktion wird dabei nicht n u r als ein gegenständlicher Teilbereich der soziologischen Forschung angesehen, sondern vor allem als ein Konzept, das die F u n d a m e n t e sozialtheoretischer A n n a h m e n über das Wesen von Gesellschaft betrifft. Bereits die f r ü h e n formatorischen Schriften der Soziologie diskutieren den ontologischen Stellenwert von Interaktion f ü r Gesellschaft (ζ. B. C o o ley 1902, 1909; Simmel 1908). Die Frage, ob Gesellschaft als A n s a m m l u n g einzelner Interaktionen 1 Ich danke den Herausgebern dieses Sonderheftes sowie Stefan Hirschauer und einem zweiten (anonymen) Gutachter der Zeitschrift für Soziologie für wertvolle Hinweise zu früheren Versionen dieses Textes.
oder als eine von diesen unabhängige Entität mit eigenen Gesetzmäßigkeiten zu sehen ist, wird bis heute diskutiert. L u h m a n n s Ebenenunterteilung schließt sich bekanntlich ebenso wie G o f f m a n der zweiten Sichtweise an, w ä h r e n d andere mikrosoziologische Ansätze wie die Schütz'sche Sozialphänomenologie, die Garfinkel'sche Ethnomethodologie oder die Konversationsanalyse im Sinne der ersten A n n a h m e von der Primordialität von Interaktion f ü r die Gesellschaft ausgehen. 2 Trotz der von Luh-
2
Goffman und Luhmann begreifen die „Interaktionsordnung" wie bereits Durkheim (1895, 1897) als (emergente) Realitätsebene „sui generis", während Schütz, die Ethnomethodologen und Konversationsanalytiker sowie jüngst besonders radikal Collins (1981a, 1981b, 1988, 2004) allein konkrete Interaktionsmomente als die Instanzen ansehen, durch die Kultur und Gesellschaft im Großen erzeugt und modifiziert werden (bzw. aus denen
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 321-345
mann angenommenen „Nichtidentität von Gesellschaft und Interaktion" (1984: 552) ist aber auch für die soziologische Systemtheorie jede Interaktion zugleich ein Vollzug von Gesellschaft, auch wenn Gesellschaft sich nicht (mehr) nur durch Interaktion allein reproduziert und insbesondere Interaktion nicht determiniert. 3 Dass der Begriff der Interaktion eine Rückübersetzung des englischen interaction ist, das seinerseits als Ubersetzung des Konzepts der „Wechselwirkung" von Georg Simmel durch die Gründerväter der Chicagoer Schule der Soziologie (zuerst Albion Small) Einzug in das soziologische Begriffsinventar gehalten und dadurch semantische Veränderungen erfahren hat, soll an dieser Stelle nicht weiter thematisiert werden (vgl. dazu Smith 1989; Bergmann 2011). Vielmehr soll ein anderer Gedanke von Georg Simmel als Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen dieses Aufsatzes gewählt werden. Im Exkurs über die Soziologie der Sinne spricht Simmel von der Bedeutung der menschlichen Sinne, insbesondere des Blickens, für die Formen sozialer Wechselwirkung: „Unter den einzelnen Sinnesorganen ist das Auge auf eine völlig einzigartige soziologische Leistung angelegt: auf die Verknüpfung und Wechselwirkung der Individuen, die in dem gegenseitigen Sich-Anblicken liegt. Vielleicht ist dies die unmittelbarste und reinste Wechselbeziehung, die überhaupt besteht. [...] Und so stark und fein ist diese Verbindung, daß sie nur durch die kürzeste, die gerade Linie zwischen den Augen getragen wird, und daß die geringste Abweichung von dieser, das leiseste Zurseitesehen, das Einzigartige dieser Verbindung völlig zerstört. [...] [D]er ganze Verkehr der Menschen [...] wäre in unausrechenbarer Weise geändert, wenn der Blick von
sie bestehen). Vor diesem Hintergrund wird den zweiten Ansätzen von Ersteren „Reduktionismus" vorgeworfen, während die Ersteren von den Zweiten der „Reifizierung" bzw. - in Whiteheads Formulierung - des „Fehlschlusses der unangebrachten Konkretheit" geziehen werden (vgl. Sharrock & Anderson 1986; Rawls 1987, 1988, 1989, 1990, 1992; Schegloff 1987, 2005; Fuchs 1988, 1989a, 1989b; Wiley 1988; Levine 1989; Hilbert 1990, 1992; Mouzelis 1992; Heintz 2004; Levinson 2005, 2006a). 3
L u h m a n n sagt: „Gesellschaftssysteme sind nicht Interaktionssysteme (...) und [können] auch nicht einfach als Summe der vorkommenden Interaktionssysteme begriffen werden" (Luhmann 1984: 552). Interaktionssysteme setzen jedoch Gesellschaft voraus, denn sie können „ohne Gesellschaft weder begonnen noch beendet werden" (ebd.).
Auge zu Auge nicht bestünde. [...] [H]ier [ist] die vollkommenste Gegenseitigkeit im ganzen Bereich menschlicher Beziehungen hergestellt" (Simmel 1992 [1908]: 723-24). Zwar spricht Simmel in seinem Exkurs auch über die sozialen Bedeutungen anderer Sinne, insbesondere des Gehörs, er hebt aber ausdrücklich die Bedeutung des Blickens für das Etablieren einer Interaktionsbeziehung hervor: Nur durch den Blick, sagt er, können Menschen auf eine Weise zueinander in Beziehung treten, dass eine reine Wechselseitigkeit entsteht, während sich das Ohr „durch den Mangel jener Reziprozität, die der Blick zwischen Auge und Auge herstellt", auszeichne (Simmel 1992 [1908]: 729). Wenn das visuelle Medium wegfällt, dann habe dies unausrechenbare Folgen für die Wechselseitigkeit der Interaktion. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass auch in späteren Ansätzen eine solche, auf der starken Betonung des wechselseitigen visuellen Beobachtens basierte „visuelle Rationalität" den Interaktionsbegriff durchzieht, oft jedoch weniger explizit als bei Simmel. Diese visuelle Rationalität führt zu einer spezifischen und verengten Semantik des Interaktionsbegriffes, die ihn ungeeignet macht, universelle Geltung in einer globalen und medialisierten Gesellschaft beanspruchen zu können. Doch der Blick ist nicht das einzige Element, das für einen universell brauchbaren Interaktionsbegriff nicht angemessen erscheint: Ein zweiter, nicht weniger hinderlicher theoretischer Baustein ist - wie im Folgenden ebenfalls gezeigt werden soll - der Gedanke des stets klar zuzuordnenden oder adressierten thematischen Anschlusses. Um diese beiden Aspekte des Interaktionsbegriffes vor dem Hintergrund globaler kultureller Differenzen und aktueller technologischer Entwicklungen zu diskutieren, sollen im Folgenden zunächst exemplarisch die Interaktionsbegriffe von Alfred Schütz, Erving Goffman, der Konversationsanalyse und Niklas Luhmanns notwendigerweise knapp dargestellt werden. Die Auswahl dieser vier interaktionstheoretischen Ansätze begründet sich zum einen dadurch, dass sie sämtlich Universalitätsansprüche für ihre Modelle geltend machen: Schütz mit seiner (zumindest nach Luckmann'scher Lesart) protosoziologischen, nach Aprioris suchenden Wesensschau (vgl. Luckmann 1993; Eberle 1993), der späte Goffman (1981: 14-16) mit seiner Formulierung von „sheer physical" und „culture free" Anforderungen jeglichen Kommunikationssystems, die Konversationsanalyse Schegloffscher Prägung mit ihren Universalitäts- und Primordialitätsannahmen
Christian Meyer: „Metaphysik der Anwesenheit" (Schegloff 2012) und Luhmann (1984: Vorwort) mit seiner modernisierungs- und systemtheoretischen Ambition. Alle vier Ansätze stellen zudem, anders etwa als der symbolische Interaktionismus, eine Reihe von empirisch leicht zu überprüfenden Begriffen bereit und Behauptungen auf, die im folgenden dargestellt werden. Drittens schließlich handelt es sich bei ihnen um Theorien, die eine Prüfung durch die Anwendung mikroskopischer Methoden an konkretem Datenmaterial ermöglichen, wie es aus videographisch gestützten Untersuchungen zu Interaktionen in unterschiedlichen Kulturen - darunter auch meine eigenen Studien zu den Wolof Senegals - vorliegt. Im Anschluss an ihre Darstellung werden die vier Modelle einer kritischen Prüfung anhand empirischer Daten aus einigen kulturell differenten Gesellschaften unterzogen, darunter an prominenter Stelle der Wolof Nordwestsenegals, bei denen ich seit 1992 extensive Feldforschungen 4 durchgeführt habe. Auch Untersuchungen zur Nutzung neuer Medien sollen zum Zuge kommen. Darauf folgen im Fazit einige theoretische und methodologische Folgerungen.
2. Vier soziologische Interaktionsbegriffe 2.1 Alfred Schütz' phänomenologischer Ansatz Da Alfred Schütz sich - im Gegensatz zu den im Anschluss dargestellten kommunikationstheoretischen Modellen - aus einer handlungstheoretischen Perspektive für die Grundstrukturen und Konstitutionsbedingungen des menschlichen Zueinanderin-Beziehung-Tretens interessierte, hat er zunächst keinen Begriff der Interaktion im Sinne einer situational über die beteiligten Individuen (und ihre Bewusstseine) hinausgehenden kommunikativen Ebene gebildet. 5 Mit der „umweltlichen sozialen Be4 Insgesamt habe ich dazu mehr als zwei Jahre im Senegal verbracht. Die Erkenntnisse des vorliegenden Textes wurden im Wesentlichen bei Forschungen von 13 Monaten zwischen 2004 und 2007 in einem von der Volkswagenstiftung finanzierten Forschungsprojekt gewonnen und in meiner Habilitationsschrift „Seif, Sequence, and the Senses: Universal and culture-specific aspects of conversational organization in a Wolof social space" (Bielefeld 2011) niedergelegt. 5 In einem späteren Text spricht er dann allerdings explizit von Interaktion, die er als „set of interdepent actions of several human beings, mutually related by the meaning which the actor bestows upon his action and which he
323 ziehung", in der, so Schütz, (1932: 227, 234 f.), ego und alter „räumlich und zeitlich koexistieren" und dadurch einander „in Erlebnisnähe" zugekehrt sind, hat er jedoch bereits zu Beginn ein Konzept erarbeitet, das dem heutigen Interaktionsbegriff relativ nahe kommt. 6 In der umweltlichen sozialen Beziehung bietet alter durch seine Leibhaftigkeit ein Ausdrucksfeld mit einem „Maximum der Symptomfülle" (1932: 235), das ego beobachten kann und sowohl vorsätzliche, als auch unwillkürliche Modalitäten umfasst (Bewegung, Gesichtsausdruck, Gesten, Rhythmus und Intonation usw.; Schütz & Luckmann 2003: 106). Die „betroffenen Sinnesmodalitäten" hängen von der jeweiligen Stufe der Unmittelbarkeit der Beziehung ab (vgl. Schütz & Luckmann 2003: 106). Ausgehend von dieser „beobachtete[n] Leibesbewegung" des anderen hat ego dann in einem Spiegelungsprozess Zugang zu dessen „gemeintem Sinn" (1932: 142)7 In der umweltlichen sozialen Beziehung, in der „ich mich dir zuwende, wie auch du dich mir" (Schütz & Luckmann 2003: 102), verbinden sich Ich und D u zu einem Wir. 8 Allerdings genügt es nicht, „dass ich dem Mitmenschen zugewandt bin und dass ich sehe, dass er mir zugewandt ist. Darüber hinaus muss ich mehr oder minder genau erfassen, wie er mir zugewandt ist. In der Gemeinsamkeit von Raum und Zeit, in der leibhaftigen Gegenwart des Mitmenschen gelingt mir dies durch unmittelbare Beobachtung" (Schütz & Luckmann 2003: 104-05). supposes to be understood by his partner" (1964: 160) definiert. 6 Dass schon der frühe Schütz durchaus von einer starken Wechselseitigkeit von Individuen in unmittelbaren sozialen Beziehungen ausging, zeigt sich in seiner Konzeption der „reinen Wirbeziehung" (auch: „lebendige umweltliche Beziehung", 1932: 219), in der die „Aufeinandereingestellten ihr Gegenüber" (1932: 229) erleben. Sie entspricht letztlich einer Art primordialer menschlicher Sozialität, denn, wie er sagt, „streng genommen ist die reine Wirbeziehung der umweltlichen Einstellungs- oder Wirkensbeziehung vorgegeben. Was die reine Wirbeziehung konstituiert, ist nichts anderes als die wechselseitige reine Dueinstellung, in der das umweltliche alter ego intentional als ein Selbst erfaßt wird" (1932: 233). 7
Schütz (1932: 234-35) nimmt diesbezüglich Graduierungen und Differenzierungen etwa in Bezug auf Intimitätsgrade und Auffassungsperspektiven vor. 8 In einer solchen Einheit kann das Ich, wie Schütz (1932: 236-37) sagt, „gleichzeitig auf die phasenweise sich aufbauenden Erlebnisse seines eigenen Bewusstseins und auf die phasenweisen Abläufe im Bewusstsein des Du hinsehen und beide Abläufe als einen einzigen erleben, als den des gemeinsamen Wir".
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Wie Schütz feststellt, erlaubt also erst der Blick ein wechselseitiges Verzahnen der Beziehungspartner und das Herstellen von Intersubjektivität. Er sagt: „Dieses Ineinandergreifen von wechselseitig einander fundierender Blickwendungen auf das Bewusstsein des Du, dieser Blick gleichsam in einen in tausend Facetten geschliffenen Spiegel, von dem mein Ich im Bilde zurückgeworfen wird, konstituiert überhaupt erst die Besonderheit der umweltlichen sozialen Beziehung" (1932: 236). 9 Und einzig diese Form der Beziehung ist daher auch in der Lage, „die Ergebnisse meiner Deutung fremder Bewusstseinsprozesse zu verifizieren" (1932: 238), und zwar indem sie permanent durch die weiteren Aktivitäten oder Reaktionen des anderen überprüft werden. Schütz hat diese Annahme, dass die Beobachtung der Beobachtungen und die Interpretation der Interpretationen des anderen konstitutiv für das soziale Leben sei, mit der Generalthese der Reziprozität der Perspektiven (1962: 12; Schütz & Luckmann 2003: 99) als allgemeines Gesetz formuliert. 10 Diese Generalthese umfasst zwei Idealisierungen, die in der Alltagseinstellung des Menschen wirksam sind, nämlich, erstens, die Idealisierung von der Vertauschbarkeit der Standpunkte, d. h. die Annahme, dass, wäre ich dort, wo mein Partner jetzt ist, ich die Dinge in gleicher Perspektive, Distanz, Reichweite erfahren würde wie er; und wäre er hier, wo ich jetzt bin, er die Dinge in gleicher Perspektive erfahren würde wie ich. Die zweite Idealisierung ist die der Kongruenz der Relevanzsysteme: Solange, bis sich etwas anderes herausstellt, kann ego davon ausgehen - und dabei annehmen, dass sein Gegenüber ebenfalls davon ausgeht - , dass der Unterschied in den biographischen Hintergründen beider nicht relevant für die gegenwärtigen praktischen Zwecke ist, sondern dass ego und alter - mit anderen Worten das „Wir" - unter der Prämisse handeln und sich verständigen, dass die „Objekte in Reichweite" für beide die identische Bedeutung haben (Schütz 1962: 11 f.). Es wurde deutlich, dass Schütz die Lebenswelt der unmittelbaren Begegnung, der Wirbeziehung und umweltlichen sozialen Beziehung stark in visuellen 9
Schütz (1932: 238) sagt sogar: Die „soziale Beziehung ist erst d a n n gegeben, wenn das umweltliche D u , in welcher Weise immer, auf mich hinblickt". 10 In einer früheren Version heißt sie „Generalthesis des alter ego in der natürlichen Anschauung". Sie besagt, „daß auch das D u Bewußtsein überhaupt habe, daß es dauere, daß sein Erlebnisstrom die gleichen Urformen aufweise wie der meine" (Schütz 1932: 138)
Begriffen beschreibt: Zum einen spricht er von den für Sozialität konstitutiven Prozessen des wechselseitigen Beobachtens, ohne die Aufeinanderbezogenheit und letztlich Verständigungssicherung nicht möglich seien. Nur indem ich sehe, wie andere sich sichtbar verhalten und ob und wie sie mich beobachten, kann ich überhaupt ein verzahntes, wechselseitiges „Wir" erzeugen, Intersubjektivität herstellen und meine Deutung auch durch Beobachtung der sichtbaren Reaktionen von alter verifizieren. Zum anderen betont Schütz, wie wichtig die menschliche Fähigkeit zur Antizipation der Perspektivgebundenheit der Wahrnehmung von alter sowie von dessen Antizipation der eigenen Perspektivgebundenheit ist.11 Selbst in einer Studie zum gemeinsamen Musikmachen, in der Schütz die Bedeutung der nichtvisuellen Synchronisierung der inneren Zeitlichkeit als Koordinationsinstrument und des wechselseitigen auditiven Aufeinandereinstimmens („mutual tuning-in") für die soziale Beziehung am stärksten hervorhebt, 12 betont er noch die Rolle des gemeinsamen Raumes und der visuellen Wahrnehmung des Gegenübers in selbigem: „The Other's facial expressions, his gestures in handling his instrument, in short all the activities of performing, gear into the outer world and can be grasped by the partner in immediacy" (1964: 176). Die Nutzung des Blicks bleibt ihm auch hier selbstverständlich für die Etablierung eines interaktionalen „Wirs".
11 Diese visuelle Tendenz in der Begrifflichkeit hat Schütz nicht von Simmel (vgl. Schmidt 2009), sondern von seinem Mentor E d m u n d Husserl übernommen. Husserl verwendet sehr viele Metaphern des Sehens, Schauens, und Blickens, um damit Erkenntnisprozesse zu beschreiben, so z.B. das so genannte „unmittelbare .Sehen' (noein)", das für ihn „nicht bloß das sinnliche, erfahrende Sehen, sondern das Sehen überhaupt als originär gebendes Bewußtsein welcher Art immer" und „die letzte Rechtsquelle aller vernünftigen Behauptungen" darstellt und mit der phänomenologischen Methode durch die so genannte eidetische Reduktion (wörtlich: „die Reduktion auf das zu Sehende") erreicht wird (Husserl 1950: 44). 12
Schütz generalisiert diese musikalische Metapher sogar für Interaktion überhaupt: „all possible communication presupposes a mutual tuning-in relationship between the communicator and the addressee of the communication. This relationship is established by the reciprocal sharing of the Other's flux of experiences in inner time, by living through a vivid present together, by experiencing this togetherness as a ,We" (1964: 177).
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2.2 Erving Goffmans Interaktionsbegriff Erving Goffman, dessen Name heute wohl paradigmatisch für die Interaktionssoziologie steht, hatte das innovative Anliegen, Prozesse der Interaktion von Angesicht zu Angesicht nicht mehr als Symptom oder direktes Resultat von etwas anderem Gruppendynamiken oder Hierarchieformen etwa zu begreifen, sondern als grundlegende menschliche Aktivität mit einer Strukturlogik eigenen Rechts detailliert zu erforschen. Zentrales definitorisches Merkmal von Interaktion ist für Goffman, dass es sich dabei um eine soziale Beziehungsform handelt, die unter der Bedingung von Kopräsenz entsteht.13 Wesentlich ist also, dass - nicht unähnlich zu Schütz - der Mensch seinem Gegenüber über Sinneserfahrungen zugänglich ist, dass sich die Interaktionspartner wechselseitig wahrnehmen - dies nennt Goffman (1963: 13) mutual monitoring und es ihnen gelingt, die jeweilige Perspektive des Gegenübers einzunehmen (vgl. Smith 1989: 29). Goffman (1959: 13-14) betont dabei - basierend auf seiner Beschäftigung mit der Ethologie Julian Huxleys - stärker als Schütz, dass das Gegenüber in der Interaktion sowohl willkürliche als auch unwillkürliche Informationen übermittelt („give" / „giveoff"). Willkürliche Informationen bestehen vorwiegend aus Gesprochenem, während unwillkürliche Informationen durch körperlichen Ausdruck, etwa Mimik, weitergegeben werden.14 In einem zwischen handlungs- und kommunikationstheoretischen Vorstellungen schwankenden Ansatz (vgl. dazu Schegloff 1988) hat Goffman (1963: 13-22) die Interaktion unter der Bedingung von Kopräsenz und wechselseitiger Wahrnehmung in direkte und indirekte sowie zentrierte und nicht-zentrierte (sowie multizentrierte und monozentrierte) Interaktionen differenziert. Für die direkte Interaktion von Angesicht zu Angesicht ist nicht nur wechselseitige Wahrnehmung zentral, sondern auch ein gemeinsam aufrecht erhaltener Fokus: Während einfache Zusammenkünfte (gatherings) schlicht durch Kopräsenz und wechselseitige Wahrnehmung organisiert sind, erfordern Begegnungen (encounters, von 13 Interaktion ist für ihn „the class of events which occurs during co-presence and by virtue of co-presence" (Goffman 1959: 15), in der „the reciprocal influence of individuals upon one another's actions when in one another's immediate physical presence" (Goffman 1967: 1) geschieht. 14 Je nach der vorherrschenden Definition der Situation wird mit Information Goffman zufolge allerdings selektiv umgegangen, sowohl im Geben als auch im Empfangen.
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Goffman auch „face engagement", „jointly focused gathering", oder „situated-activity system" genannt) ein gemeinsames, kooperatives Engagement, in dem beide Teilnehmer einen einzigen Fokus der kognitiven und visuellen Aufmerksamkeit (Goffman 1963: 89) unterhalten und so ein Gefühl von einer einzigen gemeinsamen Aktivität erzeugen, der sie ein privilegiertes kommunikatives Recht einräumen. Ein solcher gemeinsamer Fokus könne vor allem im Falle einer wechselseitigen körperlichen Anwesenheit erzeugt werden, denn dann sind Individuen „admirably placed to share a joint focus of attention, perceive that they do so, and perceive this perceiving" (Goffman 1983: 3). Goffman (1959: 9-10) spricht auch von einem Arbeitskonsens, den man in der Interaktion eingeht, um sich auf eine gemeinsame Unternehmung zu fokussieren. Während die nicht-zentrierte Zusammenkunft vom einfachen „body to body starting point" (Goffman 1983: 2), einer gemeinsamen körperlichen Anwesenheit, ausgeht, ist die zentrierte Interaktion durch ein „eye-toeye ecological huddle" (1963: 95), also ein über eine Blickökologie organisiertes Wahrnehmungsgeflecht, charakterisiert.15 Besonders in seinen späten Schriften hat Goffman darauf aufmerksam gemacht, dass Interaktion als kommunikationssystemische Erfordernisse u.a. einen Sende- und Empfangskanal, Rückmeldekanäle, Signale zum Eröffnen und Schließen eines Kanals und Ubergabesignale, mit denen Rollenwechsel angezeigt werden, benötigt (Goffman 1981: 14 f.). Diese systemischen Erfordernisse hält er für universelle, kulturfreie Arrangements (Goffman 1981: 14). Gerade für seine Kritik am traditionellen thematisch (informational) strukturierten Sprecher-Hörer-Botschaft-Modell der Kommunikation benötigt Goffman die Feststellung, dass die Bedeutung des simultan zur Kommunikation stattfindenden Blickens und Blickbeobachtens für die interaktionale Vergesellschaftung wesentlich ist: „the terms .speaker' and .hearer' imply that sound alone is at issue, when, in fact, it is obvious that sight is organizationally very significant [...]. For the effective conduct of talk, speaker and hearer had best be in a position to watch each other" (1981: 129 f.; Hervorheb. im Orig.). 15 Dies erläutert Goffman (1963: 89) wie folgt: „Face engagements comprise all those instances of two or more participants in a situation joining each other openly in maintaining a singlefocus of cognitive and visual attention — what is sensed as a single mutual activity, entailing preferential communication rights" (Hervorh. hinzugefügt).
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An anderer Stelle hebt G o f f m a n darüber hinaus hervor, dass die Erkenntnis und Zuschreibung von Intention, wie wir heute sagen würden (d.h., mit Schütz gesprochen, die Identifikation des gemeinten Sinns), nicht ohne das Beobachten des anderen und seiner Blicke möglich sei: „Once individuals - for whatever reason - come into one another's immediate presence, a fundamental condition of social life becomes enormously pronounced, namely, its promissory, evidential character. It is not only that our appearance and manner provide evidence of our statuses and relationships. It is also that the line of our visual regard, the intensity of our involvement, and the shape of our initial actions, allow others to glean our immediate intent and purpose, and all this whether or not we are engaged in talk with them at the time. Correspondingly, we are constantly in a position to facilitate this revealment, or block it, or even misdirect our viewers" (Goffman 1981: 3). G o f f m a n betont damit stärker noch als Schütz die Rolle des Blickes für die Kopräsenz von Interaktionspartnern, auch wenn er zuweilen auch anderen Modalitäten eine tragende Rolle zuweist. So geht er etwa auf interkorporale Praktiken wie das Händchenhalten (hand-holding) von Liebespaaren ein, dies jedoch nicht unter interaktionstheoretischen Gesichtspunkten, sondern unter dem Thema des „mutual involvement" (1963: 169, A n m . 5), d. h. dem öffentlichen Anzeigen der wechselseitigen Verbundenheit bzw. der „tie-signs" (1971: 2 2 8 - 3 6 ) , der Verbundenheitssignale, die der öffentlichen Performanz von Zusammengehörigkeit (d. h. einer gemeinsamen Gesichtspflege) dienen. Zwar findet sich bei G o f f m a n immer wieder eine starke Betonung nonverbaler und körperlicher Interaktionsmechanismen für fokussierte Begegnungen, also Interaktionen im engeren Sinne, aber ihm zufolge können sie nicht ohne entsprechende Fokussierungstechniken, darunter prominent der Blick, auskommen.
2.3 Der Interaktionsbegriff der Konversationsanalyse Die Konversationsanalyse hat nie einen expliziten Interaktionsbegriff entwickelt, da sie im Wesentlichen auf die Ethnomethodologie (Garfinkel 1967) zurückgeht und damit auf die Identifikation der Methoden und Praktiken zielt, mit denen Interaktionspartner auf intersubjektive Weise in permanenter gemeinsamer Abstimmung soziale Wirklichkeit herstellen. Die u.a. von Schütz inspirierte ethnomethodologische G r u n d a n n a h m e ist, dass die In-
teraktionspartner ständig selbst mit dem Problem konfrontiert sind, die Handlungen ihrer Gegenüber (richtig) zu verstehen, und daher selbst permanent Methoden einsetzen, ihre eigenen Handlungen ihren Gegenübern verstehbar zu machen. Sie vollziehen aus dieser Perspektive nicht einfach nur H a n d lungen, sondern sie machen simultan dazu auch intersubjektiv kenntlich, was sie tun. Harvey Sacks (1984) hat dieses ethnomethodologische „Identitätsprinzip", d. h. den doppelten Charakter praktischer Handlungen, den Menschen grundsätzlich zur Anwendung bringen, als „doing" bezeichnet. Doings werden als Formen inkarnierter Sozialität verstanden, d. h. ihr Einsatz hängt weniger von der realen Anwesenheit eines Gegenübers ab, sondern ist vielmehr ein reflexives Grundmerkmal menschlichen Daseins. Interaktion wird hier also von Anfang an von der sozialen Situation und nicht vom Individuum, das nur hin und wieder in Interaktion tritt, ansonsten aber isoliert ist, her gedacht. Die zentrale, empirisch gesättigte konversationsanalytische Auffassung ist, dass Interaktionen sich durch eine überwältigende Geordnetheit auszeichnen, die es den Interaktionspartnern erlaubt, ihre Einzelbeiträge wechselseitig zu koordinieren und eine gemeinsame Aktivität auszuüben. Hierzu zählen etwa das Sprecherwechselsystem, die Phänomene der „minimalen Pause" und „minimalen Überlappung" und die Maxime des „Nur ein Sprecher auf einmal" (vgl. Sacks et al. 1974; Bergmann 1988: 2; Schegloff 1988: 134, A n m . 10). Schegloff(1988: 98) erweitert dieses Geordnetheitsproblem auf das Thema der sozialen Koordination überhaupt: „If, in a gedankenexperiment, one imagines a society with no turn-taking system, it (...) would be one in which the very possibility — the assured possibility - of coordinated action through talk had been lost, for example the sense of one action as responsive to another" (Herv. im Original). Für die interaktionale Koordination spielen — wie insbesondere Charles Goodwin (1979, 1980, 1981) gezeigt hat - vor allem visuelle Kommunikationsvorgänge eine wichtige Rolle. 16 W e n n etwa der H ö rer seinen Blick nicht an den richtigen sequenziellen Stellen auf den Sprecher richtet und dadurch sein Aufmerksamkeitsfokus unklar wird, dann k o m m t es zu Stockungen im Redefluss, bis die Aufmerk-
16
G o o d w i n , selbst GofFmanschiiler, hat damit gewisserm a ß e n zu einer „Goffmanisierung" des konversationsanalytischen Interaktionsbegriffs beigetragen. Vgl. zur Bedeutung des Blicks aber auch Schegloff 2000: 8.
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Christian Meyer: „Metaphysik der Anwesenheit" samkeit wieder klar signalisiert wird. „Das Auge entschleiert dem Andern, ob er bei der Sache ist", sagt Bergmann (2011: 141). Ein zweites Instrument, dass nach konversationsanalytischer Auffassung dazu dient, Interaktionen als geordnete gemeinsame Aktivitäten zu gestalten, besteht in der zeitlichen Abfolge von interaktionalen Handlungen. Interaktionen sind in sich geordnet, weil die einzelnen Akte von reflexiven sozialen Akteuren insofern logisch miteinander in Beziehung gestellt werden, als spätere Akte sich auf frühere Handlungen als ihr kontextuelles Umfeld beziehen (Schegloff 2007: 1-3). Die Konversationsanalyse spricht hier von Sequenzen. Eine Äußerung kann sequenzielle Implikationen für nachfolgende Äußerungen haben, indem sie determiniert, wer spricht und welcher Typ von Äußerung folgt (vgl. Bergmann 1988: 14; Schegloff 2007: 15). Hierfür hat die Konversationsanalyse den Begriff der „konditionellen Relevanz" (zuerst Sacks 1966: 89 zit. in Bergmann 1988: 18; Schegloff 1968: 1085) geprägt, der die Macht adressiert, die eine Gesprächshandlung auf die Gesprächspartner ausübt, an sie anknüpfende Anschlusshandlungen auszuführen (Bergmann 1988: 22). 1 7 Auf Ersthandlungen müssen normativ zwingend Zweithandlungen (ζ. B. auf eine Frage eine Antwort, auf einen Gruß ein Gegengruß, auf eine Einladung eine Annahme oder Ablehnung) folgen, die sich auf sie beziehen. Die Zweithandlungen würden ohne die Ersthandlungen keinen Sinn machen — andererseits würde ihr Auslassen auffällig sein und selbst wiederum eine soziale Handlung darstellen. 18 Zur lokalen Handhabung von Interaktionen zählen ferner der rezipientenspezifische Zuschnitt von Äußerungen {recipient design) und die Reparatur (repair) vorhergehender Äußerungen (Bergmann 1988: 3 9 - 4 6 ) . Wechselseitige Verständigung und Koordination oder, genereller formuliert, Intersubjektivität werden aus Sicht der Konversationsanalyse vornehmlich durch derartige Instrumente gesichert, die zeigen, dass eine Äußerung verstanden wurde. Intersubjek17 Die Definition von Schegloff (1968: 1085) lautet: „By conditional relevance o f one item on another we mean: given the first, the second is expectable; upon its occurrence it can be seen to be a second item to the first; upon its non-occurrence it can be seen to be officially absent all this provided by the occurrence o f the first item." 18 Das Auslassen eines Redezugs ist daher nur in Bezug auf eine vorhergehende Äußerung „officially absent" (Schegloff 1968: 1083) oder „noticeably absent" (Sacks 1992: 2 9 3 - 9 4 ) .
tivität ist damit eine Konsequenz des sequenziellen Charakters von Interaktion (vgl. Schegloff 2007: 252, 264). Ohne Sequenzialität - so die konversationsanalytische Grundannahme - wäre weder soziale Ordnung noch soziales Handeln möglich (Heritage 2 0 0 8 : 305). Die Konversationsanalyse konzentriert sich damit, auch wenn gegenwärtig ein verstärktes Interesse an der körperlichen Dimension entsteht, vor allem auf die sequenzielle Aufeinanderbezogenheit als wichtigstes, Interaktionen verzahnendes Phänomen. 2.4 Niklas Luhmanns systemtheoretische Interaktionstheorie Niklas Luhmann hat in seiner Ebenendifferenzierung Interaktionen als elementare, d.h. flüchtige, „einfache Sozialsysteme" (1972) systemtheoretisch gefasst. Dazu hat er Goffmans definitorisches Kriterium der Ko-Präsenz übernommen, es aber nicht einfach als etwas verstanden, das direkt aus der räumlichen Nähe der Interaktanten resultiert und dadurch etwas extern oder kontextuell Gegebenes ist. Luhmann hat vielmehr betont, dass Ko-Präsenz eine aktive Hervorbringung der Interaktionsteilnehmer selbst ist (vgl. Luhmann 1984: 560, 1997: 815). Ein Interaktionssystem konstituiert sich für Luhmann daher erst, sobald es zwischen Personen zu reflexiver Wahrnehmung kommt und sie sich als anwesend und damit als Teil eines gemeinsamen Systems behandeln. Andere körperlich präsente Personen können als Abwesende behandelt und dadurch aus der Interaktion ausgeschlossen werden. Unterschiedliche Gästegruppen in Restaurants z. B. behandeln einander meist als Nicht-Teilnehmer ihrer jeweiligen Interaktion, ebenso wie Reisende in Zügen. Interaktionssysteme mit einer größeren Anzahl von Teilnehmern können sich, wie z.B. auf dem Schulhof oder bei Cocktail-Partys, durch „schisming" in eine Pluralität von räumlich koexistierenden Interaktionssystemen differenzieren, von denen ein jedes die anderen als Umwelt behandelt. Stellenweise fusionieren einige oder alle möglicherweise wieder zu einem einzigen System. Innerhalb eines jeden Interaktionssystems können nur Anwesende, nicht aber Abwesende direkt adressiert und zu einer Reaktion ermuntert werden. Andererseits können bisweilen auch physisch Abwesende als anwesend behandelt werden, so z. B. in Telefonkonferenzen oder durch televisionäre Zuschaltung in Gesprächsrunden, die eine der Interaktion unter Anwesenden nahekommende Form von Kommuni-
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kation über große Entfernungen hinweg ermöglicht. Unter den physisch Abwesenden werden so einige in der laufenden Interaktion als Anwesende adressierbar. Interaktionssysteme sind also in der Lage, ihre Grenzen zu variieren und ihre Grenzziehung immer wieder neu auszurichten. Die Grenzziehung des Interaktionssystems geschieht damit zum einen über wechselseitige Wahrnehmung und Wahrnehmung von Wahrnehmung (Luhmann 1997: 814; vgl. auch Kieserling 1999: 62-85, bes. 6 4 - 6 6 ) . An dieser Stelle wird die Bedeutung des Blicks für Luhmanns Modell besonders deutlich, etwa wenn er sagt: „In sozialen Situationen kann Ego sehen, dass Alter sieht; und kann in etwa auch sehen, was Alter sieht" (Luhmann 1984: 560). 19 Die Annahme, dass man unter Anwesenheit nicht nicht kommunizieren kann, wie Luhmann (1984: 562) im Anschluss an Watzlawick, Beavin und Jackson konstatiert, gilt also auch für Luhmann insbesondere dann, wenn Alter kontinuierlich visuelle Informationen über Ego einholt. Dass jedoch die unterschiedlichen Wahrnehmungskanäle mit verschiedenen Systembildungsmodalitäten verbunden sind, wird nicht thematisiert. Als zweites Instrument der System-Umwelt-Abgrenzung der Interaktion dient der „wahrnehmbare Sinn als Selektor" (1984: 563). Die Systemgrenzen werden neben Wahrnehmungswahrnehmung also zusätzlich durch thematische und Sinnselektion definiert. Die Vorgabe für den autopoietischen, sich selbst und seine Grenzen seiegierenden Charakter des Interaktionssystems, die Luhmann (1984: 564) mit der von ihm selten erwähnten Konversationsanalyse teilt, ist somit, dass die relevanten Ereignisse sequenziell erfolgen müssen und u. a. nicht mehrere Anwesende gleichzeitig reden dürfen, sondern in der Regel nur einer auf einmal. 20 Dies wiederum impli-
19 Kieserling (1999: 110) sagt zwar: „Die beteiligten Personen müssen einander hören und sehen können." Wahrnehmung heißt aber auch für ihn vor allem Sehen: „ M a n kann sehen, dass man gesehen wird, und speziell der erwiderte Blick ist durch genau diese Reflexivität der Wahrnehmung charakterisiert" (1999: 117).
Luhmann (1984: 564, A n m . 19) betont, dass es sich hier nicht um „einen besonderen Typus von Interaktionssystem neben anderen", sondern um „ein Leistungssteigerungserfordernis der Systembildung" handelt. Auch Kieserling geht durchweg davon aus, dass die Grenzen des Interaktionssystems zwar extrem variabel und flexibel sind (eine „eigentümliche Beweglichkeit" aufweisen, 1999: 68), aber dass sie dennoch immer interaktionsintern klar gezogen werden (1999: 6 8 - 6 9 ) . Dies liege daran, 20
ziert, dass Interaktionen „wenig Möglichkeiten [haben,], simultan operierende Subsysteme zu bilden", sondern sich allein „zeitlich in Episoden" (1984: 566) gliedern. Laut Luhmann (1984: 560) wird also innerhalb der Interaktion unter den Anwesenden entschieden und durch simultanes Blickverhalten oder durch sequenzielle Anschlusskommunikationen zum Ausdruck gebracht, „was als anwesend zu behandeln ist und was nicht". Dabei fungiert - nicht unähnlich zu Schütz und Goffman - die Wahrnehmung der (unwillkürlichen Regungen der) beteiligten Körper in der Interaktion als „interne Umwelt" (Luhmann 1984: 563), die - mittels der Symptomfülle zusätzlicher, unwillkürlich gegebener Informationen, wie sie nur unter körperlicher Ko-Präsenz möglich sind - den Fortgang der Kommunikation stützt, gegebenenfalls aber auch korrigiert. 2.5 Zur visuellen Rationalität des soziologischen Interaktionsbegriffs Wie wir gesehen haben, kann bei allen vier diskutierten Ansätze trotz ihrer jeweils unterschiedlichen sozialtheoretischen Verortung eine Betonung des Visuellen als Instrument der interaktionalen Wechselseitigkeit, eine visuelle Rationalität, beobachtet werden. Schütz, Goffman, die Konversationsanalyse (Goodwin, Schegloff) und Luhmann sind sämtlich der Auffassung, dass dem Blickverhalten eine zentrale Rolle bei der Etablierung der für Interaktion wesentlichen Wechselseitigkeit zukommt, also der Tatsache, dass nicht nur wahrgenommen, sondern auch Wahrnehmung und Wahrgenommen-Werden wahrgenommen wird und Perspektivenverschränkung entsteht. Vor allem durch Blick wird erkannt, „wer wem zugewandt ist" (Schütz), „wer mit wem in fokussierter Interaktion steht" (Goffman), „wer mit wem die Sprecherwechsel-Maschinerie am Laufen hält" (Konversationsanalyse) und „was als anwesend zu behandeln ist und was nicht" (Luhmann). Fällt der Blick weg, dann entstehen die Simmel'schen „unausrechenbaren" Folgen. Daneben haben besonders die Konversationsanalyse und Luhmann, aber auch Schütz und der späte Goffman darauf aufmerksam gemacht, dass auch sequenzielle Anschlusshandlungen definieren, dass Interaktionen stattfinden und sich die Interaktionspartner wechselseitig (hier in der Regel: auditiv) wahrnehmen.
„dass es nur ein Zentrum der Konvergenz von Aufmerksamkeit geben kann" (1999: 37).
329
Christian Meyer: „Metaphysik der Anwesenheit" Sie zeigen an, „auf welche konditionelle Relevanz nächstpositionierte Redezüge reagieren" (Schegloff) und „woran Anschlusskommunikationen anschließen" (Luhmann). Im Folgenden sollen die vier dargestellten Ansätze auf den empirischen Prüfstand gestellt werden, um zu eruieren, inwieweit sie sich in der Empirie bewähren. Dabei möchte ich daran erinnern, dass Schütz und Luhmann zur Entwicklung ihrer Theorien keine eigenen empirischen Forschungen durchgeführt haben, und Goffman seine Begriffe vorwiegend in den USA der 1960er und 70er Jahre entwickelt hat, während die Konversationsanalyse sich zwar einem streng empirischen Programm verschrieben hat, dieses bislang aber weitestgehend in westlichen Ländern umgesetzt hat.
3. Die Probe aufs empirische Exempel 3.1 Das Problem der kulturellen Differenzen in den Interaktionsformen Ein Befund der neueren kulturübergreifenden Interaktionsforschung ist, dass in vielen Gesellschaften Interaktionen vollzogen werden, in denen der Blick wenig, anders oder gar nicht zur Koordination verwendet wird. Interaktionsanalytische Untersuchungen, d.h. Forschungen, die detailliert Blickverhalten und sequenzielle Anschlusskommunikationen in Interaktionen anhand von Videoaufzeichnungen analysieren, haben eine den zuvor dargestellten Interaktionstheorien entsprechende Blick- und Sinnorganisation nur zum Teil bestätigt - so etwa in westlichen Gesellschaften21, aber auch in Papua Neuguinea. 22 Untersuchungen in anderen Gesellschaften in Mittel- und Südamerika, 21
Dass die basalen westlichen Normalitätsmodelle keinesfalls stets universal sind, sondern die westlichen (Western), gebildeten (Educated), industrialisierten (Industrialized), reichen (Rieh) und demokratischen (Democratic) (= WEIRD) Gesellschaften in vielen Hinsichten sonderbar (engl.: weird) und Studien über sie daher keineswegs generalisierbar sind, zeigen Henrich et al. 2010. 22 Belegt ist dies zumindest für die Vereinigten Staaten (Goodwin 1979, 1980, 1981; Frankel 1983; Robinson 1998; Garcia & Jacobs 1999; Kidwell 2006, 2009), Australien (Filipi 2009; Neville 2010), Papua-Neuguinea (Rossano et al. 2009), Japan (Hayashi et al. 2002), Kanada (Sidnell 2007) und zahlreiche europäische Länder (s. z.B. Heath 1986; Egbert 1996; Ruusuvuori 2001; Rhodes et al. 2008; Rossano et al. 2009; Koutsombogera & Papageorgiou 2009).
Afrika und Nordaustralien jedoch haben sie widerlegt - Blick spielt hier keine Rolle zur prozeduralen Gestaltung von Interaktion. 23 In letzteren haben wir empirischen Zugang zu den von Simmel so genannten „unausrechenbaren Folgen", die entstehen, wenn der Blick oder der thematische Sinnanschluss als Koordinationsinstrumente wegfallen - z. B. weil Blick als aggressiv, konfrontativ oder übermäßig intim gilt und direkte, klar adressierte kommunikative Anschlüsse aufgrund des Standardfalles der Mehrpersonen-Interaktionen selten sind. Die Untersuchungen der Gesellschaften, in denen der Blick als Instrument der prozeduralen Interaktionsgestaltung wegfällt, legen zwei Szenarien nahe.
3.1.1 Das Ziehen der Interaktionsgrenzen durch andere semiotische Ressourcen Die erste Möglichkeit ist, dass Blick durch andere Modalitäten wie etwa auditive oder taktile Signale ersetzt wird. Interaktion wird dann über Berührungen oder auditive Feedbacksignale organisiert und koordiniert, und das Wir, der Fokus, das System werden hierüber hergestellt. Um anzuzeigen, dass er zuhört, äußert der Interaktionspartner in diesem Fall z. B. auditive Verstehenssignale. Im Deutschen kennen wir, dass neben dem Nicken, das nur dem visuellen Sensorium zugänglich ist, auch mit auditiven Feedbacksignalen (den so genannten Continuers wie ,ja', ,mhm' usw.; vgl. dazu für das Amerikanische Schegloff 1982, 2010) operiert wird. In anderen Sprachen und Kulturen - gut beschrieben ist das für die Maya Mexikos - werden hingegen längere Wiederholungen von Satzfragmenten oder ganzen Sätzen geäußert. Oder es werden die letzten Worte des Hauptsprechers wiederholt, um Interaktionsbeteiligung zu signalisieren und Intersubjektivität zu sichern. Dies ist in seiner Redundanz nicht unähnlich übrigens zu manchen Gesprächen über Funk, in denen Wiederholungen Verständigung sichern.24 Im folgenden Beispiel von den Tzeltal Maya Mexikos ist sichtbar, wie ein Gespräch aussehen kann, in dem - wie auch die entsprechende, hier allerdings nicht zugängliche Videoaufzeichnung zeigt - rein über auditive Wiederholungssignale Verständigung
23
Z.B. bei nordaustralischen Aborigines (Walsh 1991, 1995; Gardner & Mushin 2007; Mushin & Gardner 2009), in Mexiko (Brown 1998; Rossano et al. 2009), Brasilien (Graham 1993, 1995), West- (Meyer 2008, 2011a), Zentral- (Kimura 2001, 2003) und dem südlichen Afrika (Marshall 1961). 24 Dazu Sanders 2003; Szymanski 2006.
330
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 321-345
erzielt wird. Das Erfassen des Blicks des Gegenübers u n d seiner sichtbaren Reaktionen (Nicken, etc.) wird hier nicht verwendet, u m A u f m e r k s a m k e i t , Z u h ö r e n u n d Verstehen zu signalisieren: 01 A I'd just come b a c k from fetching those g r e e n s just this morning. 02 Β These g r e e n s here. 03 A I'd come back from fetching them. 04 Β Ah. 05 A So that's how it was. We got r a i n e d on o n the w a y here. 06 Β Eh! So y o u got it o n the w a y here. 07 A We did. 08 Β You did. It was this morning. 09 A It was. 10 Β It was. 11 A It was. 12 Β So it w a s y o u just r e t u r n e d then. 13 A Just returned then. 14 Β Returned. 15 A Returned. (Brown 1998: 2 0 3 - 0 4 ; vereinfacht) Diese Strategie, Verständigung über auditive Signale (bes. Wiederholungen) zu sichern, steht im E i n k l a n g mit der konversationsanalytischen u n d L u h m a n n ' s c h e n Vorstellung, dass verbale A n schlusskommunikationen sequenziell das Interaktionssystem konturieren. W e n n die interaktive Etablierung von Anwesenheit überwiegend mit auditiven oder taktilen 2 5 Mitteln vollzogen wird, 2 6 d a n n hat dies allerdings zwei Konsequenzen. Erstens wird A u f m e r k s a m k e i t p u n k t u e l l u n d nicht wie beim Blick kontinuierlich angezeigt, was dazu f ü h r t , dass die wechselseitige V e r z a h n u n g der Interaktionspartner nicht durchgängig gegeben ist u n d die Interaktionsgrenzen zumindest in Zwis c h e n m o m e n t e n u n k l a r werden. Zweitens unterliegen auditive I n f o r m a t i o n e n stärker der Selbstkontrolle der K o m m u n i k a t o r e n , so dass unwillkürlich gegebene Informationen, die ζ. B. Schütz, G o f f m a n u n d L u h m a n n f ü r wesentlich halten, a b n e h m e n . D a s folgende (S. 331) Transkript zeigt die abweichende Blickorganisation bei den Wolof Senegals. Die Wolof bilden die größte ethnische G r u p p e des 25
Etwa Berührungen, mit denen die Aufmerksamkeit des Gegenübers gelenkt oder der Sprecherwechsel koordiniert wird. Visuelle Informationen über andere Dinge können dabei durchaus eingeholt werden, aber ihre Funktion für die prozedurale Interaktionskoordination fallt weg. 26 Die beiden anderen denkbaren menschlichen Sinne, Geschmack und Geruch, fallen weg, da sie nicht spontan variiert und daher auch nicht kommunikativ eingesetzt werden können.
heutigen Senegal, u n d ihre Sprache wird von ca. 8 0 % der Bevölkerung gesprochen (vgl. ausführlich Meyer 2011b). D e n Bewohnern der beiden Dörfer, in denen ich geforscht habe, dient Blick nicht zur D e m a r k a t i o n des Interaktionssystems, so dass M o m e n t e entstehen, in denen dessen Konturier u n g verunklart wird. In der dargestellten Sequenz sprechen zwei Personen gleichzeitig zu zwei anderen Anwesenden, blicken sich dabei aber wechselseitig an, so dass u n k l a r ist, wen sie jeweils genau adressieren - tatsächlich adressieren beide Sprecher beide Hörer gleichzeitig — u n d wer m i t w e m ein Wir, einen Fokus bzw. ein System bildet. D a die Ä u ß e r u n g e n nicht eindeutig auf vorherige Einzelaussagen individueller Personen, sondern auf die Gesamtdiskussion reagieren, ist auch die konditionelle Relevanz (der sequenzielle Anschluss) nicht ausreichend, u m das Interaktionssystem zu demarkieren. In d e m Gespräch diskutieren Fati (FT), Seex (SX), Njaate ( N T ) u n d Gora (GT) darüber, was mit dem Inhalt zweier Säcke geschehen soll, die zwischen ihnen liegen u n d in denen sich eine M i s c h u n g aus Hirse, Reis u n d Bohnen befindet. W ä h r e n d Njaate u n d Gora das ganze f ü r Pfusch halten u n d an die A r m e n spenden wollen, sind Fati u n d Seex dafür, es zu verkaufen. In Z . 113 beginnt eine verbale Überlappung zwischen den beiden Sprechern Seex u n d Fati, die sich mit kleinen Unterbrechungen bis Z . 121 fortsetzt. W ä h r e n d dieser Zeit blickt Fati durchgehend auf Seex, w ä h r e n d Seex seinen Blick zwischen den Säcken vor i h m u n d Fati hin- u n d herschweifen lässt. Erst im allerletzten M o m e n t (Z. 123) wendet Fati seinen Blick zu Njaate, der z u s a m m e n mit Gora als O p p o n e n t der eigentliche Adressat der Ä u ß e r u n g e n ist (vgl. ausführlicher Meyer 2011). Die Interaktionskonstellation (vgl. Abb. 1) sieht dementsprechend wie folgt aus: Zwei Sprecher sprechen gleichzeitig zu jeweils zwei H ö r e r n , d . h . von beiden Sprechern sind jeweils beide Hörer adressiert. Dies ist möglich, weil die Interaktionspartner rein auditiv operieren u n d der Blick des jeweiligen Sprechers nicht den jeweiligen Adressaten festlegt. Die Grenzen des jeweilig dyadischen Interaktionssystems werden d a d u r c h unklar; vielmehr entsteht innerhalb eines einzigen Interaktionssystems eine sim u l t a n operierende Binnendifferenzierung. W i r haben es also mit einem Fall zu t u n , in d e m entgegen L u h m a n n s (1984: 566) B e h a u p t u n g ein Interaktionssystem nicht sequenziell in Episoden geordnet ist u n d sich nicht allein zeitlich gliedert.
331
Christian Meyer: „Metaphysik der Anwesenheit" Auszug aus dem Transkript „Pfusch" (3. Juli 2 0 0 6 ) 113
FT
114
SX
116
FT
117
FT
buleen ko sikk[loo lenn daal] |Blick auf ~»SX wertet es doch [nicht so ab] [ki kay bo ko- b o ko-] -•Blick auf Säcke [also das wenn du- wenn du-] aa? -»Blick auf SX hm? [ana nga waajile buleen ko sikkale si lenn waay] -»Blick auf SX [hörst du mein
118
freund wertet es wirklich nicht so ab] [bo ko doore ñaari kuur def ko ci ein ko ko jox m u lekk ko de] |Blick auf -»FT |Blick auf -»Säcke [wenn du es zermahlst und in einen topf tust dann wird es jeder es gibst essen] kii kay ana nga (0.3) lepp la m a n -»Blick auf SX also das- hörst du (0.3) damit kann man alles mögliche machen waawaw lepp [de m ë n na ko] -»Blick auf Säcke genau alles [mögliche kann man damit machen] [ana nga leppa la m ë n -»Blick auf SX [hörst du alles mögliche kann man damit machen] aawaw
SX
119
FT
120
SX
121
FT
122
SX
dem
du
Blick auf -»Säcke ganz genau 123
FT
124
NT
leppa la mën Bl. -»SX-|Blick auf -»NT alles mögliche kann man damit machen (xam naa mën na) laax de |Blick -»nach vorne (vielleicht kann) man hirsebrei damit
machen
3.1.2 Das komplette Wegfallen semiotischer Feedbackkanäle
„Pfusch"
Dies führt mich zum zweiten möglichen Szenario: Adressaten
W e n n der Blick als M e d i u m der Signalisierung von Wechselseitigkeit nicht durch andere Modalitäten ersetzt wird, sondern einfach komplett wegfällt
s. X
.
Ν y - _ \ s y Verbale ^ - _ Ν Adressierung ^ ^4
-
z . B . durch Konventionen oder Tabuisierung, durch 4 /
sensorische Restriktionen und Medien oder durch die physische Umgebung und Sitzordnung 2 7 - , dann Konventionen wurden bereits beschrieben. Bisweilen spiegeln sie sich auch in kulturellen Konzepten wider: Cise (wörtlich: wechselseitiges Erblicken) heißt im Wolof ζ. B. eine „intime Begegnung". Tabuisierung betrifft in vielen Gesellschaften das Meidungsgebot (darunter v. a. direktes Anblicken) von Schwiegerverwandten. Sensorische Restriktionen können durch äußere Umstände (ζ. B. Dunkelheit) oder durch Medien (ζ. B. Telefon), aber auch durch Behinderungen (z.B. Blindheit) entstehen. 27
Mithörer
Abb. 1: Interaktionskonstellation in der Aufnahme „Pfusch"
332
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 3 2 1 - 3 4 5
entstehen Interaktionen, in denen Anwesende durchgehend unter der B e d i n g u n g der U n b e s t i m m t h e i t u n d Diskontinuität wechselseitiger W a h r n e h m u n g u n d W a h r n e h m u n g s w a h r n e h m u n g interagieren. In diesen Fällen ist d u r c h körperliche Ko-Präsenz zwar das Potential zur K o m m u n i k a t i o n mit erreichbaren G e g e n ü b e r n gegeben, aber in vielen M o m e n t e n herrscht über das Z u h ö r e n , die A u f m e r k s a m k e i t der Hörer (d. h. im L u h m a n n ' s c h e n Sinne über Verstehen), aber auch die Adressierung des Sprechers, d . h . über Anwesenheit insgesamt, vollkommene U n klarheit. O b an K o m m u n i k a t i o n e n angeschlossen wird, wird sich erst später, vielleicht nie, erweisen. Der Sprecher k a n n also den tatsächlichen Erfolg seiner Mitteilung (d.h. ihren E m p f a n g seitens des Adressaten) nicht einschätzen. 2 8 Eine solche Situation tritt in d e n Gesellschaften, in denen der visuelle Sinn nicht zur Interaktionskoordination genutzt wird, insbesondere d a n n auf, w e n n MehrpersonenInteraktionen g e f ü h r t werden - die meistens der Standardfall sind, w ä h r e n d Zweipersonengespräche untypisch sind u n d als „Geheimniskrämerei" oder „Flüstern" bezeichnet werden (vgl. Meyer 2007a). In diesen Mehrpersonen-Interaktionen werden oft mehrere K o m m u n i k a t i o n s a n g e b o t e simultan ausgesendet. D u r c h die Abwesenheit des Blicks zeigen die Anwesenden dabei nicht zwingend u n d konstant an, welcher der simultan ablaufenden K o m m u n i k a t i o nen sie jeweils folgen. Auch hier sind - wie oben A n s c h l u s s k o m m u n i k a t i o n e n nicht i m m e r klar einer einzigen vorherigen Ä u ß e r u n g bzw. einem einzigen vorherigen Sprecher zuzuordnen, da sie auf von mehreren Personen zuvor in unterschiedlichen sim u l t a n laufenden Subkonversationen geäußerte Redebeiträge reagieren. 2 9 M a n c h e Ä u ß e r u n g e n setzen w i e d e r u m völlig neue Themen, auf die im Anschluss d a n n wieder mehrere Teilnehmer ζ. T. simultan re-
Die physische Umgebung (ζ. B. ein Sichtschutz) oder die Sitzordnung, die nicht nur Face-to-face-Formationen (wie im westlichen Wohnzimmer), sondern auch andere Konstellationen erzeugen, sind weitere Einflussgrößen, die die Verwendung spezifischer semiotischer Ressourcen befördern oder behindern. 28 Dies gilt im Übrigen auch für die Momente, in denen die Grenzen des Interaktionssystems immer wieder für längere Zeiträume verschwommen bleiben, da sie über auditive oder taktile Mittel nur punktuell und nicht kontinuierlich ratifiziert werden können. 29 Möglicherweise nehmen sie zeitweise mehrere Kommunikationen zugleich (ob Menschen diese Fähigkeit haben, ist umstritten; vgl. Charron & Koechlin 2010) oder gar keine wahr (etwa wenn sie dösen). Dies bleibt jedoch systematisch unklar.
agieren. Es ist, mit anderen W o r t e n , meistens vollk o m m e n unklar, welchem Interaktionssystem sich Ä u ß e r u n g e n zuordnen (bzw. wen sie tatsächlich als an- u n d abwesend behandeln), w e n n dieses im L u h m a n n ' s c h e n Sinne dyadisch-sequenziell verstanden wird. Das W i r / d e r Fokus / d i e Systemgrenzen werden in diesem Fall weder d u r c h wechselseitige Wahrnehmung und Wahrnehmungswahrnehmung, noch d u r c h Sequenzierung u n d thematische Aufeinander-Bezogenheit definiert (vgl. L u h m a n n 1984: 564). Vielmehr sind (bei N i c h t n u t z u n g von Blick) stets mehrere S t i m m e n gleichzeitig zu hören, die thematisch u m verwandte Gegenstände kreisen u n d keine spezifischen Partizipanten adressieren. Derartige Unklarheiten werden nicht zwangsläufig t h e m a tisiert, da sie in den Gesellschaften, in denen Blick als Koordinationsinstrument wegfällt, den Interaktionsfortgang nicht stören. D a ausreichend viele Personen als potentielle Z u h ö r e r körperlich kopräsent sind 3 0 (in der Regel zwischen acht u n d 15 Personen), stellt dies kein gesprächsorganisatorisches Problem dar, u n d keiner der Sprecher muss davon ausgehen, dass er ins Leere spricht, selbst w e n n dies bisweilen sogar der Fall sein sollte. D a m i t ist f ü r die Interaktionsteilnehmer in diesen Situationen durchaus irrelevant, ob kopräsente Personen in einer Interaktion als anwesend oder abwesend zu behandeln ist. I m folgenden wird ein Beispiel f ü r ein Gespräch gegeben, in d e m die Abwesenheit des Blicks wie das Fehlen eindeutiger k o m m u n i k a t i v e r Anschlüsse dazu f ü h r t , dass keine fokussierten Wir-Interaktionssysteme entstehen, sondern ein lockeres, geselliges Z u s a m m e n s e i n , in d e m Beiträge geäußert werden, die an alle gerichtet sind, o h n e dass eine konkrete A n s c h l u s s k o m m u n i k a t i o n erwartet w ü r d e . Insbesondere ab Z . 191 unterhalten sich die anwesenden Interaktionspartner fast simultan über die Arbeit des Aussäens in feuchter Erde. W ä h r e n d ein Gesprächsstrang zwischen GY, PX, D R u n d zuerst M T (in den Z . 187, 189, 193, 205, 208, 210) z u m Thema „Pferd" als thematisch abgegrenztes Interaktionssystem gelten k a n n , überlappen sich die Ä u ß e r u n g e n der anderen Sprecher (IB, LY, NJ, Y O u n d später M T in den restlichen Zeilen) derart häufig, dass unter ihnen
30
Wer körperlich anwesend ist, wissen die Personen auf dem Wolof-Dorfplatz, da sie gesehen haben, wer angekommen oder gegangen ist bzw. wer da war, als sie selbst eingetroffen sind. Allerdings wissen sie nicht, in welchem Wachheitsgrad sie sich jeweils befinden (schläft X oder hält er nur die Augen geschlossen?) bzw. wie ihre Aufmerksamkeit aktuell dosiert ist (welchem der laufenden Gespräche/wie intensiv hört er zu?).
Christian Meyer: „Metaphysik der Anwesenheit"
Auszug aus dem Transkript „Feldbau" (23. Juli 2005) 187
GY
188
IB
189
MT
190
LY
191
IB
192
GY
193 194
PX NJ
195
LY
197
NJ
198
LY
199
YO
200
IB
201
MT
202
LY
203
MT
204
NJ
205
GY
206 207
IB LY
208
DR
209
??
210
GY
[fas wuy do[x laa wax de juroomi fann (xxxxxxxxxxx) [ein pferd d[as zum beispiel fünf tage läuft (xxxxxx) [ahaa [hmhm [(fofu) nag [na la leer ne ab jiyug (xxx) bala ngko mëna doxal [also da [muss dir klar sein dass die Saat (xxx) bevor du sie kay da nga am fo koy jaarale für deine zwecke einsetzen kannst [kon nag lu mu neew neew doole faraasoo gêna sedd ci [also dann wie schwach schwach es auch ist ist die mom njiyum baqq= aussaat in feuchter erde= =baqq- ba[qq baqq waawaw =feuchte [erde feuchte erde feuchte erde genau [fas wo xam ne si (bës bu nekk su ko neexe si) juroomi [ein pferd das (jeden tag wenn du willst fünf) tage [(xxxxxxxxxxxxxxxxxxxtx) [aa! baqq [kay moom maafradaytaali [ach! feuc[hte erde wirklich um himmels willen [faraasu mo gêna sedd ci [die aussaat ist leichter njiyum [baqq (xxx) (aha (lacht)) beim ρf[lügen in feuchter erde (xxx) (aha (lacht)) [faraasu kay dangay rëdd ni di dem rekk [beim aussäen da gehst du einfach nur geradeaus [aaawaw [genau [faraasu [rekk [einfach [aussäen [faraasu [moom deel (seet) si suuf si rekk [aussäen [da richtest du (deine äugen) einfach auf den boden [faraasu du dara s[aussäen ist gar nichts sfaraasu moom aussäen wirklich [faraasu du dara s- dinga mena xey faraasu bu dee baqq, mën nga [aussäen ist gar nichts s- du kannst frühmorgens aussäen wenn der ca am ñaari fann=l boden feucht ist du kannst zwei tage damit verbringen=l [mungi mei ni nga yor sab- faraasu moom mungi mei ni nga yor sab [es ist einfach so dass du deinen- aussäen ist einfach so dass du gopp ni rekk rëdd di dem [noon rekk la mel=2 deinen pflüg nimmst, eine Unie ziehst [und losgehst so einfach ist das=2 [aa'a juroomi fanu faraasu yo ligeey waay yow! [eheh fünf tage musst du für die aussaat schon arbeiten! [(xxxxxxxxxxxxxxx) [mo gêna sedd njiyum baqq [l=waawaw [in feuchter erde aussäen ist leichter [l=genau [(xxxxxxxxxxxxxxxxxxx [xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx) [2=aawaw [2=genau [afeer bufi munta fey amul (mbër)um fas nga yor ko, di- di xalaat [es gibt nichts besseres was du kaufen könntest als ein starkes lenn pferd wenn du es hast dann- dann denkst du schon an ein zweites
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11 (4.6) Adressierung, Zuhören und Anschluss nicht sequen12 Τ Really good-t ziell (und auch nicht über Blickorganisation) geord13 (3.4) net sind (vgl. Meyer 2008). Keine der Äußerungen 14 Τ E go r:ighd up la chu:rch etabliert eine Grenze des Interaktionssystems. He goes right up to the church Walsh (1991, 1995), der über eine Aborigine-Gesell15 (2.6) 16 Τ E li:sten schaft (Murrinh-Patha) in Nordaustralien, bei denen He listens sich eine ähnlich divergente Praxis findet, geforscht 17 (1.6) hat, führt diese vom westlichen Standardmodell ab(Mushin & Gardner 2 0 0 9 : 2 0 3 8 - 3 9 ; vereinfacht) weichenden Formen der Interaktionsorganisation auf differierende Voraussetzungen (im phänomenoW i e zu sehen ist, entstehen immer wieder relativ logischen Sinne) in Bezug auf Interaktion zurück. lange Pausen. Im Gegensatz zu westlichen KonverInteraktionen werden hier erstens „polyzentrisch" sationen, in denen es eine maximale Pausenlänge (non-dyadic) geführt, d. h. sie sind im Gegensatz zumvon etwa einer Sekunde gibt, bevor die Pause für westlichen Modell nicht dyadisch fokussiert (was die Teilnehmer zum unangenehmen Schweigen auch die Blickorganisation umfasst: die Teilnehmer wird (vgl. Jefferson 1983), entsteht hierdurch kein schauen sich nicht wechselseitig an, vgl. Walsh 1991: gesprächsorganisatorisches Problem. Uns erscheint 2 - 3 ) , sondern stellen ein Teilnahmepotential für alle das Gespräch als schleppend, auch weil die Äußekörperlich präsenten Personen dar. Wichtiger noch rungen wenig konditioneile Relevanz erzeugen. ist aber, dass sie zweitens zugleich „fortlaufend" (conSelbst bei Fragen, die generell eine hohe konditiotinuous) sind, d . h . Interaktionskanäle müssen nicht nelle Relevanz aufweisen, sind relativ lange Pausen immer wieder für jede fokussierte Interaktion explizit nicht selten, was aus Sicht der Konversationsanalyse neu eröffnet werden (bzw. systemisch durch die Difnoch ungewöhnlicher ist (vgl. hierzu Stivers et al. ferenz von Anwesenden und Abwesenden etabliert 2009): werden), etwa durch explizites Adressieren. Vielmehr 01 Κ Winjawa nan' kang:aroo sehen die Teilnehmer die Kanäle als fortwährend ofWhere's that kangaroo? fen an, so dass die Interaktion auch nach längeren 02 (1.4) Zeiten des Schweigens oder anderer Beschäftigungen 03 ? A boil up It's being boiled up (sogar nach dem Schlafen in der Nacht, das ebenfalls nicht als Abwesenheit definiert ist) problemlos (Mushin & Gardner 2 0 0 9 : 2041; vereinfacht) reaktiviert und weitergeführt werden kann. „Talk is Walsh (1991: 7) spricht den Aborigine-Gesellbroadcast" (Walsh 1991: 4), d . h . es werden immer schaften (und dies würde vermutlich auch für andewieder Mitteilungen an die Gemeinschaft gemacht, re Gesellschaften, in denen Blick zur Interaktionsauf die reagiert werden kann, aber nicht muss. koordination nicht genutzt wird, gelten) aufgrund Dass diese Interaktionsweise auch in Gesprächen ihrer spezifischen polyzentrischen und fortlauzwischen zwei Personen zur Anwendung kommt, fenden Interaktionsweise eine kulturelle Affinität zeigt ein Beispiel, das von einer anderen Gruppe in zu bestimmten Technologien zu. Sie bevorzugen Nordaustralien, den Garrwa, stammt: Konferenztelefone, bei denen mehrere Personen miteinander durchgehend verbunden sind und lange 01 Τ But I bin- (0.2) tinking about Pausen entstehen können, ohne dass dies zu einem gu dar on'na l'Elliot bud e: gesprächsorganisatorischen Problem wird („Bist eight tubalI was thinking about going to Du noch dran?"), während die „Australian W h i t e Elliot, but he's alright now Middle Class" lieber mit den gängigen dyadischen 02 (0.8) Telefonen operiere, die ihrer fokussierten und nicht 03 E Yindi? fortlaufenden Interaktionsform kongenial seien. Really? 04 05 Τ 06 07 Τ 08 09 Τ 10 Ε
(0.2) Yea:h. hhh
(3.3)
Rea:lly good na-
to.9)
tk hh- [he go:in la'] chu:rch imself He's going to the church himself [°K u: r d a°] Poor thing
3.1.3 Interaktionen ohne visuelle Rationalität? Die in den angeführten Beispielen konstatierte geringere Bedeutung des Blicks in vielen (nicht-westlichen) Gesellschaften der Welt lässt freilich an die vielen Theoretiker denken, die der westlichen Welt „Okulozentrismus" (vgl. etwa Levin 1993) vorgeworfen haben: die Fixiertheit auf visuelle Formen der
Christian Meyer: „Metaphysik der Anwesenheit" Wahrnehmung und visuelle Metaphern für Erkenntnisprozesse und die damit verbundene Vernachlässig u n g oder gar Abwertung anderer Epistemologien. 3 1 Hier soll jedoch auf andere mögliche Gründe für diese Sachlage aufmerksam gemacht werden. Z u m einen finden viele Interaktionen unter Bedingungen der Dunkelheit statt und Licht ist keine ubiquitär verfügbare Ressource. Blick kann deswegen nicht immer erfolgreich zur Interaktionskoordination eingesetzt werden. Zweitens spielt eine kulturelle Präferenz für bestimmte sensorische Praktiken eine Rolle (vgl. ausführlich Meyer 2011). Drittens muss daran erinnert werden, dass in vielen der Gesellschaften, die eine von den soziologischen Modellen abweichende Interaktionsordnung aufweisen, das Zusammenleben wegen räumlicher Nähe und der Hellhörigkeit von Wohnräumen (z. B. Strohhütten) durch weniger Privatsphäre ausgezeichnet ist, so dass die Vermeidung des An- und Hinblickens auch als eine Form der „civil inattention" (Goffman 1963: 83) angesehen werden kann, mit der dem anderen nicht nur seine eigene interaktionale Freiheit, sondern auch individueller Freiraum in Bezug auf die Intentionen, die mittels des Blicks in die Augen des Anderen potenziell enthüllt werden können, gelassen wird (vgl. dazu Emery 2 0 0 0 ; Tomasello 2 0 0 8 ; Meyer 2011). 3 2 Neben den möglichen Erklärungen für die abweichende interaktionale Praxis scheint eine weitere Beobachtung von besonderer Relevanz zu sein: Die genannte Eigenschaft der potenziellen Unklarheit der Interaktionssystemgrenzen gilt insbesondere für Interaktionen, deren Fokus nicht von vorneherein etwa durch die Definition einer Aktivität in einem Arbeitszusammenhang etabliert ist, sondern in denen Themen, Redelänge und Sprecherwechsel lokal, also während des Vollzugs selbst, hervorgebracht werden. Es handelt sich damit u m Situationen, in denen die Verstehensprozesse nicht durch Rekurs auf extern vorgegebene oder wahrnehmbare Referenzen erzeugt werden, sondern allein kommunikativ hergestellt werden. Mit anderen Worten: in diesen Interaktionen kommen insbesondere „WeilMotive" (Schütz 1932: 122; Schütz & Luckmann 2 0 0 3 : 471-75) bzw. „bottom-up goals" (Tomasello
Häufig verwendetes Beispiel hierfür ist Piatons Höhlengleichnis. 3 2 Darüber hinaus ist die Bildung von Subsystemen bzw. eine regelrechte funktionale Differenzierung entlang der in der Interaktion verwendeten semiotischen Ressourcen möglich; etwa kann ein Ehepaar am Abendtisch über Berührungen mit der Hand simultan zur verbalen Konversation mit dem eingeladenen befreundeten Paar interagieren.
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2 0 0 8 : 158) zum Tragen. Es handelt sich u m Situationen der „Geselligkeit" (Simmel 1999 [1917] 33 ) bzw. des „grundlosen und programmlosen Beisammenseins (nur weil es auch keinen Sinn hat, sonst irgendwo zu sein)" (Luhmann 1984: 572). In ihnen spielt daher weniger die effektive, Verständnis- oder aktivitätsorientierte Kommunikation eine Rolle als das „dramaturgische soziale Handeln" (Habermas 1986: 1 3 5 - 4 1 in Bezug auf Goffman), das der Selbst-(re-)präsentation und „Gesichtspflege" des Individuums vor einem Publikum dient. Im Fall der Wolof ist dies die Performanz des selbstbewussten und vitalen Individuums innerhalb der Peergruppe der älteren Männer auf dem Dorfplatz, hinter denen es nicht zurückliegen möchte. Vor allem in diesem dramaturgischen Typus der Interaktion ist in den besprochenen Gesellschaften die Systembildung aufgrund der spezifischen Blickund Redeorganisation aufgehoben: Kontinuierliche wechselseitige Wahrnehmung ist nicht gegeben, so dass sich das grenzbildende Kriterium dieses Typus von System nicht mehr auf Anwesenheit, sondern auf die schiere Potenzialität von Kommunikation mit erreichbaren Gegenübern reduziert. Wechselseitige Fokussierung ist möglich, aber nicht zwingend, obwohl die Kommunikatoren kopräsent sind. Inklusion und Exklusion bleiben unbestimmt. Im Gegensatz hierzu stehen Situationen, in denen starke Aufmerksamkeit erforderlich ist und ein Fokus vorgegeben wird, wie etwa in kooperativen praktischen Aktivitäten und Arbeitsvollzügen. Dies sind dementsprechend Situationen, die durch Rekurs auf extern vorgegebene oder wahrnehmbare Referenzen oder einen den Akteuren bekannten Plan (oder Entwurf) erzeugt werden, d. h. in denen „Um-Zu-Motive" (Schütz 1932: 115; Schütz & Luckmann 2 0 0 3 : Simmel (1999 [1917]: 117) sagt z.B. in Hinblick auf die gesellig erzählte Geschichte, sie sei „die Gabe eines einzelnen an die Gesamtheit, aber eine solche, hinter der der Gebende sozusagen unsichtbar wird: die feinste, gesellig erzählte Geschichte ist die, bei der der Erzählende seine Person völlig zurücktreten lässt; die ganz vollendete hält sich in dem glücklichen Gleichgewichtspunkt der sozusagen geselligen Ethik, in dem sowohl das subjektiv Individuelle wie das objektiv Inhaltliche sich völlig in den Dienst an der reinen Geselligkeitsform aufgelöst haben." Vgl. zur historischen Semantik des Begriffs und zur soziologischen Diagnose des Phänomens auch Kieserling 1999: 421-23, 4 3 2 - 3 6 . Simmel hatte Geselligkeit am Beispiel der bürgerlichen Selbstdarstellung beschrieben. An dieser Stelle ist jedoch weniger ihre Rolle für die Herausbildung des Bürgertums als ihr Moment der Selbstorganisation und internen Motivation von Bedeutung. 33
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471-75) bzw. „top-down goals" (Tomasello 2008: 156) zum Tragen kommen. Hier sind wechselseitige visuelle Wahrnehmung und sequenzieller Anschluss meist notwendig, um die Aktivität zielgerichtet und erfolgsorientiert zu koordinieren. Die Systembildung ist hier auf die strikte Unterscheidung von Anwesendem und Abwesendem durch visuelle Wahrnehmung und Wahrnehmungswahrnehmung angewiesen, um die Aufgabe zu erfüllen. Es ist anzunehmen, dass diese Situationen strukturell den Modellen des Luhmann'schen Interaktionssystems wie auch des Goffman'schen „encounters" und der konversationsanalytischen „ordinary conversation" besser entsprechen, als die geselligen Interaktionen, die eigentlich ihre Prototypen bilden. Denn während Situationen des zwanglosen Beisammenseins eine potenzielle Verunklarung oder gar die Unnötigkeit der Systembildung befördern, erfordert insbesondere das erfolgreiche Ausführen gemeinsamer Aktivitäten eine solche. Mit anderen Worten: die vier genannten soziologischen Interaktionstheorien sind in besonders deutlicher Weise für kooperative Aktivitäten anwendbar, während sie für Situationen des zwanglosen Beisammenseins nur bedingt gelten. 34 N u n könnte man, wie es einige soziologische Theorien tun, einfach davon ausgehen, dass es sich bei den Gesellschaften, in denen Blick als interaktionales Koordinationsinstrument wegfällt, und auch bei der geselligen Nichtfokussierung von Interaktionen um vormoderne, archaische Phänomene handelt, die durch Modernisierungsprozesse ohnehin verschwinden werden, so dass es sich bei dem auf die Interaktionstheorie bezogenen empirischen Problem, das gegenwärtig noch existieren mag, um ein vorübergehendes und mittelfristig verschwindendes handelt.
die eine Audiokommunikation mit dem telefonischen Gesprächspartner simultan zur gestischen Kommunikation etwa beim Bestellen eines Coffee to go zulassen 35 - ist diese Interaktionsordnung nicht nur abhängig von der gesellschaftlichen Organisation. Sie scheint vielmehr auch mit den Medien und sensorischen Kanälen, die in der Interaktion verfügbar sind, überhaupt zu tun zu haben. Die Situation in den Konversationen bei den Wolof, so fremd sie zunächst erscheinen mag, ist nicht unähnlich zur Kommunikation in virtuellen ChatRooms, da in diesen das Anblicken sowohl zum Adressieren als auch zum Vergewissern über die Aufmerksamkeit des Gesprächspartners technisch verhindert ist und zeitnahe sequenzielle kommunikative Anschlüsse und auditive Adressierungs- und Feedbacksignale zwar möglich sind, aber nicht immer genutzt werden. Hierzu ein Beispiel: 1
(SPOOKY)
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(Findalf)
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(Arktikus)
4 desertstorm 5 ruebennase 6
(GFi)
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(SPOOKY)
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(Hausdrache)
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(Arktikus)
3.2 Die Herausforderungen liminaler Interaktivität Wie wir allerdings am Beispiel einer Chat-Kommunikation sehen werden - und es gibt zahlreiche weitere Beispiele wie ζ. B. das zunehmende Interagieren in gesplitteten Kanälen durch Handys mit Headset, 34
Unter dem Label „kooperative Aktivität" soll freilich gerade nicht nur instrumentelles Handeln verstanden werden. Ähnlich zur hier getroffenen Unterscheidung zwischen „kooperativer Tätigkeit / Aktivität" und „zwanglosem geselligen Zusammensein" ist auch die Unterscheidung zwischen „Arbeit" und „Interaktion" bei Habermas (1968), die allerdings auch aus seiner Perspektive unbefriedigend bleibt und deren Zwischenformen noch näher zu beschreiben sind.
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(Arktikus)
Irgendwie ist jetzt a n mir w a s vorbeigeschossen Hausdrache, nö, u n d ja, er ist scheiß langsam! GFi : *ggg*...hmm.. der aiuch...auff jden Fall zu K A r n e v a l *s* betritt d e n Raum, langweilt sich immer noch.... Karneval in Herne? har.. Hallo ruebennase, wieso langweilst d u dich ? Hat j e m a n d ne Ahnung, wie ich C a r p e D i e m p e r Mail erreiche?? SPOOKY: so froh, d a ß D u ein Hausgesit bist u n d kein menschliches Wesen sonst wäre das wohl n o c h insAuge gegangen.. :-) sei froh..solte es heissen
Derzeit scheinen wir uns diesbezüglich in einer Übergangsphase zu befinden und die Interaktionsordnung scheint sich diesen neuen Formen noch nicht vollständig angepasst zu haben, so dass es noch immer zu Missverständnissen in Bezug auf derartige Praktiken kommt, die den durch die Unsichtbarkeit des Handys, das nicht mehr an das Ohr gehalten wird, erweckten Eindruck des adressatenlosen Selbstgesprächs für einen Einweisungsgrund in eine psychiatrische Anstalt halten lassen. Leider existieren bislang noch keine empirischen Forschungen zu diesem Thema. Dieser Gedanke wurde im Gespräch mit Jörg Bergmann entwickelt.
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spooky, aha und was war das? sah es aus wie text?*g* 12 (ruebennase) spooky, weil keiner mit mir chattet (Storrer 2001: 10) Wie sichtbar wird, herrscht ein ständiges Ankommen von Mitteilungen, von denen einige unspezifisch an alle im Chat-Room „Anwesenden" (Z. 5, 6, 8), andere durch namentliche Markierungen nur an spezifische Besucher gerichtet sind (Z. 2, 9, 11, 12). Auf die unspezifischen Mitteilungen wird z.T. manchmal gar nicht reagiert (Z. 8), und wenn reagiert wird, dann häufig mit erneut unspezifischen Anschlusskommunikationen, die wieder eher als generelle Beiträge an alle zu verstehen sind, denn als spezifische Antworten auf konkrete Beiträge (Z. 6, 9, 11, 12). Besonders in dieser permanent wiederkehrenden Unklarheit von Adressierung und Kommunikationsannahme sind die Chatkommunikationen ähnlich zu den oben untersuchten Interaktionen bei den Wolof: Auch hier werden grenzziehende Maßnahmen nicht immer durchgeführt und es bilden sich keine Systeme heraus, obgleich Kommunikation stattfindet. Gerade neue Medien ermöglichen also Interaktionsformen, in denen die physisch-körperliche Ko-Präsenz, die in zwei der genannten Interaktionstheorien vorausgesetzt wird, in der Tat reduziert werden kann, ohne dass die Interaktionsprozesse wesentlich eingeschränkt werden, und in denen sich Formen der Sozialität und Interaktivität je nach den verfügbaren Interaktionsbedingungen ausbilden. Hierauf haben in den letzten Jahren Interaktionsforscher wie z.B. Karin Knorr Cetina mit den Theoremen der postsozialen Interaktion (2001) und der synthetischen Situation (2012) hingewiesen. Insbesondere der für alle vier Interaktionsmodelle grundlegend bedeutsame Perspektivenwechsel wird zu einer hochgradigen Herausforderung für die menschlichen Teilnehmer, etwa wenn mit technisch generierten Gegenübern interagiert wird. 36 Die sich globalisierende Gesellschaft vollzieht sich zudem immer häufiger in Interaktionen innerhalb von semiotisch reduzierten und bis zu einem gewissen Grad auch virtuellen und künstlichen Umgebungen: Ein Beispiel sind Interaktionen mit dem computerisierten internationalen Finanzmarkt etwa, in denen der Andere, insbesondere mediale Technologien reduzieren die Kommunikationskanäle wiederum derartig, dass völlig neue Formen von Interaktionen auch zwischen Menschen entstehen. 36
Händler einer Fülle von herunterscrollenden Informationen auf Monitoren, den Stimmen anderer Anwesender, dem Telefon usw. ausgesetzt ist und über unterschiedliche Raumsphären hinweg kotemporal, aber nicht mehr kopräsent mit technisierten oder personalen Gegenübern interagiert und dabei ununterbrochen erreichbar ist (Knorr Cetina 2012: 85-94). Neue Medien reproduzieren also durch ihre technischen Bedingungen in gewissen Hinsichten Praktiken, die in nicht-westlichen Gesellschaften bereits im Alltag ausgeübt werden. Zum Abschluss des empirischen Teils des Aufsatzes soll noch ein Beispiel genannt werden, das die praktischen Konsequenzen kulturspezifischer Interaktionsbegriffe deutlich macht. Die Entwicklung von Robotern stützt sich bislang allein auf die genannten Interaktionstheorien, für die Blick und thematischer Anschluss zentral sind. Dementsprechend werden Roboter so konstruiert, dass sie diese Art von Interaktionsorganisation simulieren können. In Japan etwa funktioniert dies hervorragend, wie das folgende Beispiel einer Interaktion zwischen einem Roboter (R) und zwei Menschen (A, B) zeigt. 1 R: do:shite (Pause) do:shite why why 2 A: xBlick zu R xBlick zu R Β: do:shite? why? xBlickzuR R: (Pause) fuchinshi ga shizumunoka a cartesian diver sinks (Kuzuoka et al. 2008: 203; vereinfacht) Der Roboter verwendet Restarts (Z. 1) und Pausen (Z. 2), wie sie von Goodwin (1979, 1980, 1981) für die Interaktion in Nordamerika beschrieben wurden, um die Aufmerksamkeit der beiden Menschen zu erhalten, was ihm auch gelingt, da die beiden ihm umgehend ihre Blicke (und damit ihre Aufmerksamkeit) zuwenden. Da die genannten Instrumente allerdings - wie oben gezeigt wurde - nicht universell gültig sind, sind diese Roboter nur für die Gesellschaften der Welt nutzbar, in denen der Blick auch tatsächlich als interaktionales Koordinationsinstrument eingesetzt wird. Für die Entwicklung kulturübergreifend nutzbarer Technologien wäre also eine Entwestlichung der genutzten Theorien, Modelle und Begriffe notwendig, wie sie im Folgenden skizziert werden soll.
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4. Fazit: Zur schwindenden Rationalität soziologischer Interaktionsbegriffe ein Reparaturversuch Um es noch einmal kurz zusammenzufassen: in den Interaktionen der Gesellschaften, die Blick als Koordinationsinstrument nicht nutzen, aber auch in medial vermittelten Interaktionen in anderen Gesellschaften muss unter den Anwesenden nicht immer klar entschieden und deutlich zum Ausdruck gebracht werden, „wer wem zugewandt ist" (Schütz), „worauf fokussiert wird" (Goffman), „von wem zu wem konditionelle Relevanz erzeugt wird" (ScheglofF) und „was als anwesend zu behandeln ist und was nicht" (Luhmann). Aus diesem empirischen Befund sollen im Folgenden einige Konsequenzen skizziert werden. Zunächst erscheint eine Relativierung des Interaktionsbegriffs notwendig. Nach Jahrzehnten einer sehr engen und anspruchsvollen Definition stehen wir nun vor der Herausforderung, den Begriff angesichts der Globalisierung von Kommunikationskulturen und des medialen Wandels wieder zu erweitern (vgl. Wang 2011). Für eine der aktuellen Situation tatsächlich gerecht werdende Begriffs- und Theoriebildung sind generell verstärkt empirische Forschungen nötig, mit denen soziologische Grundbegriffe vor der Kontrastfolie der globalen Gesellschaft, aber auch aktueller technischer und medialer Entwicklungen geprüft und adaptiert werden. Während Interaktionen in Situationen kooperativer Aktivität möglicherweise reibungsloser funktionieren können, scheinen nicht extern motivierte Geselligkeit und dramaturgisches Handeln in der Weltkommunikation weit problematischer und von fundamentaleren Differenzen - nicht nur auf der semantischen, sondern bereits der leiblichen und formal-praktischen Ebene - gekennzeichnet zu sein als gedacht. Weitere Forschungen zur Materialität von Körpern und Medien sowie den Praktiken der Sinne in der weltkommunikativen Interaktion sind daher angeraten. Eine Soziologie, die sich dem Thema der Globalisierung oder sogar der Weltgesellschaft - in der immerhin, wie auch Luhmann (1984: 574) zugesteht, „[gesellschaftliche Kommunikation in weitem Umfange (..) als Interaktion durchgeführt [wird]" stellt, sollte als Kontrastfolie für die Diagnosen zur eigenen, zeitgenössischen Gesellschaft und deren Trends nicht mehr hauptsächlich die vormoderne, archaische, segmentare, feudale, ständische Gesellschaft wählen. Vielmehr sollten zur Bildung sozio-
logischer Begriffe und Theorien die - um hier den Eisenstadt'schen (2002) Begriff zu verwenden - simultan miteinander koexistierenden „multiplen Modernitäten" ( m u l t i p l e modernities) ebenso wie „neue Medialitäten" genutzt werden, in denen widersprüchliche Temporalitäten sowie Tendenzen der gesellschaftlichen und medialen Entwicklung aufeinander treffen und in der Forschung identifiziert werden können. Aus einem solchen Versuch folgt nicht zwangsläufig eine absolute Relativierung jeglicher Begrifflichkeiten; vielmehr können auf der Basis des Vergleichs robuste Begriffe gewonnen werden, die universalitätsfähig sind. Aus der empirischen Probe und dem ersten Befund folgt zwar, dass der Interaktionsbegriff in seiner gegenwärtig vorliegenden Gestalt nicht universalitätsfähig ist. Statt den Begriff jedoch komplett aufzugeben und etwa durch „Praxis" o.ä. zu ersetzen, erscheint mir eine partielle Revision des soziologischen Interaktionsbegriffs möglich, die es erlaubt, mit ihm unterschiedliche Formen sozialen Beisammenseins in allen Kulturen des Globus zu beschreiben. Wie wir gesehen haben, ist die Bildung von fokussierten, mit konditioneller Relevanz ausgestatteten „Wir"-Interaktionssystemen, die in den vier besprochenen theoretischen Ansätzen der Standard-Fall sind, nicht die einzige menschlich mögliche und auch nicht die global vorherrschende Form von Interaktion. Das visuell und sequenziell basierte soziologische Interaktionsmodell bezieht sich damit nicht auf eine anthropologische Universalie des Interagierens, sondern hat eine kulturspezifische sinnlich-semiotische und sinnhaft-thematische Organisation zur Voraussetzung.37 Wird die Verwendung der visuellen, permanent Beteiligung anzeigenden Ressource verhindert oder vermieden (z. B. durch Konventionen, im starken Fall Tabuisierung, oder durch äußere Umstände) und fallt auch die Konturierung durch kommunikativen Anschluss weg, dann verschwimmen die Systemgrenzen und es entstehen Interaktionen auf körperlich-kopräsenter Ebene, deren Grenzen nicht durch aktuelle Verzahnung (wechselseitige reflexive Wahrnehmung und thematische Fokussierung), sondern durch einfaches „broadcasting" ohne gezielte Adressierung,
Luhmann (1984: 567) geht demgegenüber wie Schütz, Goffman, die Konversationsanalyse u.a. davon aus, dass „Interaktion wegen ihrer Doppelbasierung in Wahrnehmung und Kommunikation, historisch gesehen, relativ voraussetzungsfrei, okkasionell, natürlich und situationsabhängig möglich gewesen" ist. 37
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also die wesentlich unklarere 38 Möglichkeit bloßer potenzieller kommunikativer (hier: akustischer) Erreichbarkeit gebildet werden. Interaktionen sind in diesen Kontexten nicht mehr durch einen gemeinsamen Fokus, ein Wir, konditioneile Relevanz oder Systemizität gekennzeichnet, sondern durch die permanente Offenheit der Empfangskanäle, durch eine Potentialität. 39 Eine Revision erscheint umso dringender, als auch andere sensorische oder mediale Beschränkungen schon immer den Standardfall der Interaktion mitgeprägt haben. Spezifische soziale Situationen, Medien oder Akteure, bei denen per definitionem z. B. der Blick als Koordinationsinstrument wegfällt, sind z.B. Interaktion in der Dunkelheit, am Telefon oder unter Blinden. Da Interaktion nicht nur bei absoluter multisensorischer Kopräsenz ablaufen, sondern auf einzelne semiotische Kanäle reduziert werden kann, wie die hier gezeigten Beispiele zeigen, erscheint mir vor allem das Element der Ko-Temporalität als Interaktionsbedingung entscheidend: So lange simultan oder zumindest in minimal verzögerter Zeitnähe aufeinander reagiert werden kann - egal mit welchen semiotischen Mitteln - , kann interaktionale Wechselseitigkeit entstehen. Körperliches Beisammensein ist dazu ebenso wenig zwingend notwendig wie wechselseitiges Anblicken. Denn wesentlich für Interaktion ist wechselseitige reflexive Wahrnehmung unabhängig von der semiotischen Ressource: Es müssen nicht nur die Äußerungen des Sprechers für den Hörer, sondern auch die Reaktionen des Hörers für den Sprecher in irgendeiner Form wahrnehmbar (hörbar, spürbar, sichtbar) sein. Eine Forderung der physischen Anwesenheit von ganzen Körpern statt ihrer semiotischen Ausdrucksmöglichkeiten, käme einer Mystifizierung des Körpers gleich. Das für Interaktion definitorische Kriterium der Kopräsenz ist daher als Ko-Temporalität zu spezifizieren. Die Kerndefinition von Interaktion, die von der konzentrierten und mit allen sensorischen und kognitiven Ressourcen vollkommen auf das Gegenüber fokussierten Beschäftigung und einem normalen, wachen Erwachsenen als Gegenüber ausgeht, ist Vgl. zur kommunikativen Erreichbarkeit auch Luhmann, in diesem Band: 15 fF.. 3 9 Eine an dieser Diagnose orientierte Kommunikationstheorie haben bereits 1951 Gregory Bateson und Jürgen Ruesch — inspiriert von Norbert Wiener - im Ansatz formuliert. Die gesellschaftliche Gewalt, die darin liegt, Botschaften ohne Urheber und Adressaten zu zirkulieren, haben sie ebenfalls erkannt. Vgl. dazu Schüttpelz (2004). 38
historisch möglicherweise aus einer ganz spezifischen Periode hervorgegangen, die ihre Semantik bestimmt. Dies könnte der kurze bürgerliche Zeitraum des 19. und 20. Jh. gewesen sein (vgl. ähnlich Lindemann 2 0 0 9 : 17). Ähnlich wie Simmeis Begriff der Geselligkeit, der die kultivierte Unterhaltung als Selbstzweck setzt, oder der „alten Klage, dass die Massen Zerstreuung suchen, die Kunst aber vom Betrachter Sammlung verlangt" (Benjamin 1977: 166) 4 0 , scheint auch der Interaktionsbegriff mit normativen Vorstellungen in Hinsicht auf das Gegenüber und die Form aufgeladen, die auf die bürgerliche Gesellschaft zurückgehen. Wache, normale Erwachsene unterhalten sich konzentriert und schenken sich dabei wechselseitig volle B e f r a c h tung und (visuelle) Aufmerksamkeit. Es ist das Spiel der Fassaden, in der das Individuum als sakrales Objekt der Moderne zelebriert wird. Die Idee der gesammelten und fokussierten Aufmerksamkeit erinnert auch an das Konzept des kontemplativen Gebets, das nur als wirksam angesehen wird, wenn es auch von Herzen kommt, mit hingegebenem Geiste gesprochen, ernsthaft und authentisch gemeint wie gesagt und besinnlich und voller Sammlung vollzogen wird (zur Semantik des neuzeitlichen Begriffs des commerciums bzw.,Verkehrs', der mit der heutigen Interaktion, dem Handel und dem Gebet drei Aspekte des aktuellen Kommunikationsbegriffs umfasste, vgl. Tyrell 2010: 319 ff.).41 Benjamin (1977: 166) sagt dazu: „Zerstreuung und Sammlung stehen in einem Gegensatz, der folgende Formulierung erlaubt: Der vor dem Kunstwerk sich Sammelnde versenkt sich darein; er geht in dieses Werk ein, wie die Legende es von einem chinesischen Maler beim Anblick seines vollendeten Bildes erzählt. Dagegen versenkt die zerstreute Masse ihrerseits das Kunstwerk in sich." Benjamin verurteilt die der Zerstreuung dienende Kunstrezeption (als deren Prototyp er das seinerzeit neue Konsumieren des Genres Film ansieht) nicht, sondern konstatiert nüchtern die allgemeine Popularisierung des Kunstgenusses und einen damit einhergehenden Wandel in der Rezeptionsform. Diesen Hinweis verdanke ich Jörg Bergmann. 40
Eine solche Auffassung der konzentrierten Interaktion mit Gott im Gebet, die innere Sammlung und Besinnung verlangt, spiegelt sich z. B. in Martin Luthers berühmten Spruch aus den Tischreden: „Ein Geist, der mit verschiedenen Geschäften umgeht, kann sich nicht sammeln"; in Zwingiis Aussagen zum „frommen inwendigen Gebet" und der dabei notwendigen „mentis devotio" in De vera et falsa religione; oder in Calvins Empfehlungen zur Gebetsgesinnung und dem Herzen als dem eigentlichen Tempel Gottes in der Institutio christianae religionis. Vgl. dazu Schenkel (1851). 41
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Da das Konzept der Interaktion - wie empirisch gesehen - so eng nicht gehalten werden kann, sondern die Ubergänge zwischen der Interaktion unter konzentrierten Erwachsenen und sensorisch bzw. medial reduzierten Formen fließend sind, erscheint es notwendig, den InteraktionsbegrifF so zu gestalten, dass er sowohl dyadische Fokussierung (mit Anwesenhchsunterstellung) als auch zweckfreies, geselliges Zusammensein (mit - wenn überhaupt - bloßer Anw e s e n h e i t s h o f f n u n g ) , sowohl Situationen der multisensorischen, körperlich kopräsenten und kotemporalen Anwesenheit als auch medial wie sensorisch reduzierte und vielleicht sogar zusätzlich auch noch zeitlich versetzte Interaktionen und sowohl Situationen starker Sozialität mit „wachen und normalen Erwachsenen" (Schütz & Luckmann 2003: 29) als auch schwache Sozialitäten mit Wesen mit abgestufter Normalität, Wachheit und Erwachsenheit (ζ. B. Kinder, Tiere, Menschen mit Demenz, Roboter, Geister, etc. - vgl. Meyer 2007b, 2010, 2013, 2014) fassen kann. 4 2 W i e kann ein an Ko-Temporalität ausgerichteter InteraktionsbegrifF formuliert werden, bei dem Unbestimmtheit anstelle klarer Grenzziehung konstitutives Moment ist? Aufgrund der Sachlage erscheint es sinnvoll, zwischen einer schwachen und einer starken Variante von Interaktivität zu unterscheiden, zwischen denen es vielerlei graduelle Abstufungen und aufeinander aufbauende Dimensionen geben kann (vgl. Meyer 2014). Die starke Variante von Interaktivität entsteht bei der fokussierten und (kon-)zentrierten Interaktion, während die schwache Form bereits beim zwanglosen, nichtfokussierten und un-(kon-)zentrierten Beisammensein besteht und auch immer wieder längere Momente der abgeschwächten oder gar fehlenden reflexiven Wahrnehmung und / oder thematischen Fokussierung zulässt, ohne dabei zu zerfallen. 4 3 Ein InteraktionsbegrifF, der Robustheit statt Fragilität voraussetzt, lässt solMax Weber hat mehrfach auf das Wachheitsprinzip (u. a. der Puritaner) und seine Bedeutung für die Rationalisierung der modernen Gesellschaft hingewiesen (Weber 1922: 354). Zugleich haben sowohl Weber als auch Alfred Schütz und Thomas Luckmann auf Graduierungen von „Wachheit" im sozialen Alltagsleben hingewiesen, Weber (1922: 3) aus methodischer Perspektive in Bezug auf „sinnfremde Vorgänge und Gegenstände" wie Altersdemenz, die Hilflosigkeit der Kindheit, Traum und Euphorie, Schütz in Hinblick auf unterschiedliche Sinnprovinzen sowie mittlere und große Transzendenzen der Lebenswelt (Schütz & Luckmann 2003). 42
Auch hierauf haben Bateson und Ruesch bereits 1951 hingewiesen (s. Schüttpelz 2 0 0 4 : 151). 43
che Momente schwacher Interaktivität zu, wie sie in der empirischen Forschung identifiziert wurden. Die Ambiguitätstoleranz von Interaktionen scheint damit höher zu sein, als von den soziologischen Interaktionstheorien (bes. GofFman, Konversationsanalyse, L u h m a n n ) angenommen. Die Bildung fokussierter Interaktionssysteme kann damit auch nicht als notwendige Konsequenz reflexiver W a h r n e h m u n g gelten 4 4 ; vielmehr scheint die Systembildung und Fokussierung in noch stärkerem M a ß e eine aktive Leistung zu sein, als angenommen: Sie erfolgt nur in Momenten und sozialen Situationen, die dies auch erfordern. Ansonsten kann eine nicht-systemische Interaktion bestehen, die unbestimmt bleibt, aber dennoch robust ist. Diese schwache Form der Interaktion, wie sie in den Gesellschaften, in denen das Visuelle als interaktionales Koordinationsinstrument nicht genutzt wird, bereits unter Bedingungen der physisch-körperlichen Kopräsenz besteht und in anderen Gesellschaften in der Nutzung neuer Medien durch deren sensorische Beschränkungen erzeugt wird, bildet gewissermaßen eine „Stand-by"-Potentialität für stärkere Varianten von Interaktion. Systembildung ist damit als aktive Hervorbringung der Teilnehmer 4 5 ein starker Sonderfall von InterakEntgegen etwa Luhmann (2011: 12), der sagt, Interaktionssysteme bildeten sich „zwangsläufig, wo immer Personen zusammentreffen und einander wahrnehmen. Anwesenheit im Horizont wechselseitiger Wahrnehmung löst nichtsprachliche bzw. sprachliche Kommunikation aus, und Kommunikation selegiert Systemstrukturen". 44
Vielversprechender, als von Individuen (bzw. psychischen Systemen) auszugehen, die in Interaktion treten, erscheint daher, von der stets bereits interaktional vorstrukturierten sozialen Praxis auszugehen, wie es ethnomethodologische und Meadsche Alternativkonzepte tun, die Interaktivität als primordiale Sozialität begreifen. Mead legt seinem Interaktionskonzept dementsprechend auch keine visuelle Rationalität zugrunde. Blick und Blickkontakt sind bei ihm nur ein interaktionales Instrument unter vielen (vgl. Mead 1934: 14, 97). Interaktionen zeichnen sich für ihn zudem (auch wenn er von „Handlungsphasen" spricht) weniger durch Sequenzialität als durch die Quasi-Simultaneität von Geste und Reaktion („Imitation") aus (vgl. 1934: 45 ff.). Bei Garfinkel meint accountability demgegenüber allerdings nicht zuletzt, dem Gegenüber das eigene Handeln beobachtbar und visuell zugänglich zu machen (vgl. Garfinkel 1967: 1). Mit seinem Fokus auf die Frage „What to do next?" (1967: 12) hat er zudem die Grundlage für die konversationsanalytische Aufmerksamkeit auf Sequenzialität gelegt. Nichtsdestotrotz kann er mit der Betonung des eingefleischten und reflexiven Charakters der Auf-d/ftr-Gerichtetheit ( a c c o u n t a 45
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tion, der abhängig vom Zweck und den Bedingungen (ζ. B. dem Handlungsdruck) der Interaktionssituation ist. Daneben ist eine solche Systembildung auch normativ aufgeladen: Wie wir gesehen haben, ist die Kultur, mittels eines gewissen Grades an „civil inattention" gegenüber dessen Symptomfülle dem Gegenüber selbst in der Ko-Präsenz Privatsphäre zuzugestehen und das gerade unwillkürlich gegebene Informationen entlarvende „Kleben der Blicke" (Luhmann 1984: 570) von ihm fernzuhalten, ohne dabei die Aufeinander-Bezogenheit vollkommen aufzulösen, eine normativ angeleitete Praxis in einigen Gesellschaften. In Bezug auf die Luhmann'sche Ebenendifferenzierung muss dementsprechend das Theorem der „interaktionsnahen Gesellschaften" modifiziert werden (vgl. auch Kieserling 1999: 223-29). Gesellschaften, denen eine „interaktionsnahe gesellschaftliche Realität" (Luhmann 1984: 567, 576) zugeschrieben wird, die „noch nicht formgebend auf die Interaktionen einwirkt, sondern mit deren Vollzug laufend revidiert wird" (1984: 567), und deren „Grenzen, soweit sie nicht mit dem Wahrnehmungs- und Bewegungsraum der Beteiligten gegeben sind, unklar" (1984: 576) bleiben, sind vor dem Hintergrund eines starken Interaktionsbegriffs, der einen gemeinsamen systembildenden Fokus voraussetzt, im eigentlichen Sinne nicht „interaktionsnah". Denn eine evolutionäre Primordialität von bereits durch kontinuierliche wechselseitige Wahrnehmung gebildeten und durch klare Grenzbildung gekennzeichneten Interaktionssystemen steht in Frage. 46 Bereits auf der Interaktionsebene kann sowohl mittels Anwesenheit (starke Interaktion) als auch potenzieller unvermittelter kommunikativer Erreichbarkeit (schwache Interaktion) selegiert werden - wie oben gezeigt, ist dies situations- oder aktivitätsspezifisch. Die Grenzziehung wird von den Akteuren selbst aktiv und reflexiv je nach situativer Erfordernis hervorgebracht. Entscheidendes Kriterium ist, ob - wie oben ausgeführt - ein gemeinsamer Fokus vorab oder lokal (d. h. während des Vollzugs) etabliert wird. Das Typische an den ver-
meintlich interaktionsnahen Gesellschaften scheint damit vielmehr ihre Medienlosigkeit zu sein. 47 Die Luhmann'sche Ebenendifferenzierung macht die Tatsache, dass Interaktionen unter der Bedingung von Anwesenheit der (starke) Sonderfall sind, jedoch nicht unplausibler, da sich an dem Verhältnis der Systemebenen untereinander dadurch nichts ändert. Was allerdings in Frage steht, ist die klare Definition von Interaktionssystemen als soziale Systeme, die sich stets nur über Anwesenheit ausbilden. Vielmehr legt die vorliegende Untersuchung nahe, dass sich schon auf Interaktionsebene die Grenzziehungsinstrumente auf einem Kontinuum zwischen eindeutiger Anwesenheit (reflexive Wahrnehmung und gemeinsame Fokussierung) und (nicht oder kaum medialisierter) weniger distinkter semiotischer Erreichbarkeit bewegt. 48 Gesellschaft als kommunikative Erreichbarkeit ist damit (ähnlich wie bei der „neuzeitlichen Besiedlung Nordamerikas", s. Luhmann, in diesem Band: 39) im Kleinen stets schon in der Interaktion vorhanden und kann dann mittels Medien von ihr weggehend ausgeweitet werden (vgl. aber Luhmann 1975).
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47
Diesen Hinweis verdanke ich H a r t m a n n Tyrell. L u h m a n n s A n n a h m e über die archaische Situation trifft damit offensichtlich in wesentlich generellerem M a ß e zu: „Bei [.] geringem Grade der Differenzierung können [.] die Systemtypen nicht in selbständiger Ausprägung erwartet werden; sie vermischen ihre Eigenarten, färben aufeinander ab" (Luhmann, in diesem Band: 18), während seine A n n a h m e , dass das „Ausmaß an Differenzierung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft [der bürgerlichen Gesellschaft] [..] historisch ohne Parallelen ist" (Luhmann, in diesem Band: 22), problematisch geworden ist. 48
bility) menschlichen Handelns als einer der theoretischen Gewährsleute einer primordialen Interaktivität gelten. Eine interaktive Komponente wohnt diesen Konzeptionen zufolge jeglicher Äußerung als reflexives Moment genuin inne, so dass der „Interaktionsmotor" (Levinson 2006b) als Potentialität gewissermaßen immer mitläuft. 46 Vgl. dazu auch L u h m a n n 1997: 816-17. Vielmehr könnten Interaktion und Gesellschaft zu Beginn noch nicht differenziert gewesen sein, wie es der frühe Luhm a n n (ζ. B. 1975) noch angenommen hatte.
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Autorenvorstellung Christian Meyer, geb. 1971 in Darmstadt. Studium der Ethnologie, Soziologie, Politikwissenschaft und Erziehungswissenschaft in Heidelberg, Montpellier und Mainz. Promotion in Mainz, Habilitation in Bielefeld. Von 1 9 9 8 - 2 0 0 7 wissenschaftlicher Mitarbeiter in Mainz und von 2 0 0 8 - 2 0 1 2 Akademischer Rat und Oberrat an der Universität Bielefeld. 2 0 1 2 Vertretungsprofessor für Allgemeine Soziologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2 0 1 2 - 2 0 1 3 Senior Fellow am Center for Global Cooperation Research (Käte Hamburger-Kolleg) an der Universität Duisburg-Essen; 2 0 1 3 - 2 0 1 4 Vertretungsprofessor für Medientheorie an der Universität Siegen; seit dem Wintersemester 2 0 1 4 / 2 0 1 5 Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Interaktionstheorie, Grundlagen menschlicher Sozialität, Kultursoziologie, Soziologie des Körpers. Wichtigste Publikationen: The Rhetorical Emergence of Culture (Hrsg. mit F. Girke), New York 2011; Sozialität in Slow Motion (Hrsg. mit R . Ayaß), Wiesbaden 2013; Hermeneutische Praxis. Eine ethnomethodologische Rekonstruktion sozialwissenschaftlichen Sinnrekonstruierens (mit C . Meier zu Verl), sozialersinn 14 (2013): 207—34 .
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft, 2014, S. 3 4 6 - 3 6 8
Kopräsenz und Körperlichkeit im Sport: Zum Verhältnis von face-to-face-lnteraktion und sozialer Praxis am Beispiel des Fußballspiels Presence and Corporeality in Sports: The Relationship between Face-to-Face Interaction and Social Practice while Playing Soccer Marion Müller* Universität Trier, Fachbereich IV - Soziologie, Universitätsring 15, 5 4 2 8 6 Trier [email protected]
Z u s a m m e n f a s s u n g : Ausgehend von der Feststellung, dass der sportliche Leistungsvergleich trotz prinzipiell globaler Reichweite in den meisten Sportarten auf die körperliche Kopräsenz der Athleten angewiesen bleibt, wird am Beispiel des Fußballs versucht, sowohl die soziale Situiertheit als auch die körperliche Materialität sportlicher Bewegungsformen mit Hilfe interaktions- u n d praxistheoretischer Ansätze zu analysieren. A n h a n d ethnographischer Beobachtungen aus d e m Bereich des Profifußballs wird zunächst gezeigt, dass die Interaktionsebene im Sport eine deutlich stärkere Ausprägung hat als in anderen Gesellschaftsbereichen. D a r ü b e r hinaus wird deutlich, dass sich viele Situationen beim praktischen Vollzug des Fußballspiels mit d e m kommunikationstheoretischen Konzept der face-to-face-lnteraktion nicht angemessen erfassen lassen, sondern besser mit Hilfe praxistheoretischer Ansätze beschrieben werden können. Eine praxistheoretische Perspektive berücksichtigt jedoch weder die Eigengesetzlichkeit sozialer Interaktionen noch die Angewiesenheit auf Kopräsenz beim sportlichen W e t t k a m p f . D a m i t w i r f t der Beitrag die in der Theoriediskussion bisher k a u m beachtete Frage nach dem Verhältnis der beiden Konzepte soziale Interaktion u n d Praxis auf. Schlagworte: Soziale Interaktion; Soziale Praxis; Körperlichkeit; Sport; Interaktionstheorie; Praxistheorie. S u m m a r y : Most of the literature which is focused on the sociological analysis of sports ignores the fact that "doing" sports is a situated activity. Using the example of soccer this contribution analyzes situatedness and corporeality in sports in terms of "face-to-face interaction" and "social practice." In addition, it inquires into the relationship between the latter two sociological concepts, something which has not yet been undertaken in theoretical discussions. Ethnographic data from professional soccer show that the level of social interaction is of particular importance in comparison to other areas of society and that there is even something like a special order within this interaction: a "grammar of doing sports." All the same, many of the activities engaged in when playing soccer, e. g. m a k i n g passes, cannot be properly described in terms of communication nor of interaction. Rather, these special kinds of conduct can be understood much better by means of practice theories. All that notwithstanding, a practice-theoretical perspective is obviously not concerned with the autonomy of interaction nor the particular significance of the physical presence of players in sports. Consequently, this contribution raises the previously largely ignored question about the relationship between the concepts of social interaction and practice. Keywords: Face-to-Face Interaction; Practice Theory; Corporeality; Social Practice; Sports.
Einleitung
M i t diesen W o r t e n beschrieb G e r d Müller, der erfolgreichsten deutschen
Fußballspieler
einer aller
Zeiten, seinen Siegtreffer gegen H o l l a n d im Finale
„Der Ball k a m von Rainer Bonhof in den Strafraum, ich lief mit zwei Holländern vor, d a n n wieder zurück, weil der Pass in meinen Rücken gespielt wurde. Der Ball sprang mir auch noch vom linken Fuß, ich drehe mich ein wenig u n d plötzlich war der Ball drin."
lichen Relevanz dieses Treffers, d u r c h d e n D e u t s c h -
(Gerd Müller) 1
s c h e n K o n z e p t e sich d a s T o r e S c h i e ß e n a n g e m e s s e n
Ich d a n k e Bettina Heintz u n d H a r t m a n n Tyrell sowie den beiden Gutachtern f ü r ihre ausgesprochen hilfreichen Anregungen u n d K o m m e n t a r e zu einer älteren Version dieses Beitrags.
1 Gerd Müller zitiert nach: http://de.fifa.com/classicfoot ball/players/player=174790/index.html (letzter Zugriff a m 8.03.13)
d e r W e l t m e i s t e r s c h a f t v o n 1974. J e n s e i t s d e r s p o r t l a n d W e l t m e i s t e r w u r d e , stellt sich a u s s o z i o l o g i s c h e r Perspektive die Frage, mit H i l f e welcher theoreti-
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beschreiben und analysieren lässt. Zunächst einmal hat man es beim Fußballspielen mit einer sozialen Situation zu tun, d. h. die beteiligten Akteure sind gleichzeitig anwesend, können sich wechselseitig wahrnehmen und aufeinander reagieren. In diesem Sinne ist also davon auszugehen, dass es sich bei der beschriebenen Situation um eine soziale Interaktion handelt. Mehr noch: Die gleichzeitige Kopräsenz beider Mannschaften auf dem Spielfeld stellt eine basale Voraussetzung dafür dar, dass das Spiel überhaupt stattfinden kann. Betrachtet man jedoch die konkrete Ausübung des Fußballspielens genauer, stellt sich die Frage, inwiefern das Zupassen eines Balls ohne direkten Blickkontakt oder auch ein intuitiv ausgeführter Schuss auf das Tor überhaupt unter den Interaktionsbegriff subsumiert werden können. Bei sportlichen Bewegungsformen hat man es mit einem Tätigkeitsmodus zu tun, der sich durch kommunikationstheoretische Konzepte nur bedingt erfassen lässt. Fußballspielen besteht nämlich nicht nur aus der Deutung der Verhaltensweisen der Spieler als Zeichen, sondern auch aus einer Art präreflexiv habituellem Verhalten, das sich bewussten Wissensstrukturen entzieht und eher intuitiv abläuft. Wie Gerd Müllers etwas hilflos klingende Beschreibung zeigt, sind die Spieler gar nicht in der Lage genau zu erklären, wie der Ball ins Tor gelangte, sondern können lediglich sagen, dass es eben „irgendwie" geschehen ist. Gerd Müller beschreibt das Geheimnis seiner Torerfolge folgendermaßen: „Instinkt musst du haben. Tore schießen kannst du nicht lernen. D u musst einfach schnell reagieren. Wennst denkst, is's eh zu spät." 2 Zur Beschreibung und Analyse derartigen intuitiven körperbasierten Verhaltens, wie es im Sport besonders augenfällig ist, wird daher seit einiger Zeit zunehmend auf praxistheoretische Ansätze zurückgegriffen (vgl. Alkemeyer 2009; Brümmer 2010; Gugutzer 2012). Allerdings wurde dabei bislang nicht berücksichtigt, welche Rolle der besonderen Situation der Kopräsenz im Rahmen einer praxistheoretischen Perspektive zukommt. Darüber hinaus wird nicht zwischen verschiedenen Analyseebenen von Sozialität unterschieden und somit die Eigengesetzlichkeit der Interaktionsebene nicht beachtet oder sogar geleugnet. Auf der anderen Seite wird innerhalb interaktionstheoretischer Analysen in der Regel nicht
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Gerd Müller zitiert nach: http://www.conti-online.com /generator/www/de/de/contisoccer world/themes/02_fan zone/04_stars/10_dfb_stars/09_dfbstar_1974_mueller_ de.html (letzter Zugriff am 8.03.13)
über unterschiedliche Tätigkeitsmodi reflektiert, sondern auf Kommunikation als Letztelemente der soziologischen Analyse zurückgegriffen und nicht auf soziale Praktiken. Die bislang ungeklärte Frage nach dem Verhältnis von sozialer Interaktion und Praxis steht im Mittelpunkt dieses Beitrags und soll am Beispiel des Fußballs genauer erläutert werden. Beginnen soll die Analyse jedoch mit der Ausgangsbeobachtung, dass es ohne körperliche Kopräsenz kein Fußballspiel und damit auch keinen sportlichen Leistungsvergleich geben kann. Tatsächlich scheint die physische Kopräsenz eine Grundbedingung für den Vergleich körperlicher Leistungen bzw. die Durchführung eines sportlichen Wettkampfs zu sein. Das gilt nicht nur für den Fußball, sondern auch für die meisten anderen Mannschaftssportarten und erst recht für viele antagonistisch strukturierte Individualsportarten, in denen mit- oder gegeneinander gespielt bzw. gekämpft wird. Und sogar in den Meter-Gramm-Sekunde-Sportarten wird auf die physische Kopräsenz der konkurrierenden Athleten häufig nicht verzichtet, obwohl der „Gegner" weder anwesend noch aus Fleisch und Blut sein muss, sondern auch eine abstrakte messbare Größe, wie Zeit, Gewicht oder Metermaß sein kann und demzufolge die individuellen Leistungen theoretisch unabhängig voneinander ermittelt werden könnten. Mit dieser Präferenz für unmittelbare Anwesenheit unterscheidet sich der Sport von anderen Gesellschaftsbereichen, in denen physische Kopräsenz nicht so bedeutsam oder sogar grundsätzlich ersetzbar zu sein scheint. So lassen sich z.B. in der Wirtschaft Zahlungen problemlos ohne direkte Begegnung vornehmen, und wissenschaftliche Wahrheiten können auch alleine am Schreibtisch produziert werden. 3 Für das spezifische Kerngeschehen des Sports, die Beobachtung und den Vergleich körperlicher Leistungen, wird damit Kopräsenz zu einer Notwendigkeit. In dieser starken Fokussierung auf die Körper der beteiligten Akteure liegt ein weiterer Unterschied zu den meisten anderen Funktionsbereichen moderner Gesellschaften. Entsprechend gilt der Sport als 3
Der Sport unterscheidet sich aber auch von den sog. professionalisierten Funktionssystemen, die ebenfalls auf unmittelbare Anwesenheit der Akteure angewiesen sind, wie ζ. B. Erziehung oder Krankenbehandlung; vgl. Stichweh 1996; Oevermann 1996. Anders als in den Professionen besteht das Kerngeschehen im Sports nicht aus der Begegnung zwischen Klienten und Professionellen, sondern der Interaktion der Leistungsrollenträger selbst: der Athleten.
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Bereich des „body processing" und wird als „fundamental körperbasierter Sozialbereich" beschrieben (vgl. Bette 1989; Gugutzer 2006: 41). Mit dieser hochgradig sichtbaren Körperlichkeit verbunden ist auch die Frage, ob sich sportliches Handeln überhaupt mit Hilfe kommunikationstheoretischer Konzepte beschreiben lässt. So wird der Körper in den meisten soziologischen Theorieansätzen nur selten systematisch berücksichtigt. Seit Ende der 1980er Jahre wurde der Körper zwar zunehmend als Forschungsgegenstand der Soziologie thematisiert, aber seine Bedeutung als Basis und Voraussetzung von Sozialität sowie die tatsächliche Einbeziehung der Körperlichkeit in die Theorie- und Begriffsbildung hat bislang nicht stattgefunden (vgl. Gugutzer 2006; Lindemann 2005; Schroer 2005; Hirschauer 2008). Stattdessen wird der Körper meist zur bloßen Randbedingung sozialer Phänomene degradiert: Er gilt nicht als Bestandteil der Kommunikation, sondern lediglich als „eine allgemeine (und insofern theoretisch triviale) Prämisse sozialen Lebens" (Luhmann 1987: 334).4 Da auch interaktionstheoretische Analysen als Letztelemente von Sozialität i. d. R. auf Kommunikation zurückgreifen, ist es fraglich, inwiefern der Interaktionsbegriff überhaupt geeignet ist, den praktischen Vollzug körperbetonter Praktiken, wie sie im Sport typisch sind, angemessen zu erfassen. So fokussiert das Konzept sozialer Interaktion doch vor allem die
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Die systematische Ausblendung des Körpers in der soziologischen Handlungs- und Kommunikationstheorie findet ihre Entsprechung in damit einhergehenden evolutionstheoretischen Annahmen über die zunehmende Distanzierung und Entfremdung des menschlichen Körpers im Lauf der Prozesse gesellschaftlicher Modernisierung, AusdifFerenzierung und Zivilisierung (vgl. Elias 1976; Foucault 1977, 1983; Horkheimer & Adorno 1981; Stichweh 1995). Aus einer differenzierungstheoretischen Perspektive verläuft die Entkörperlichung parallel zumWandel von der „Anwesenheitsgesellschaft" der Vormoderne hin zur funktional differenzierten und weitgehend von unmittelbarer Anwesenheit "entkoppelten" (Welt)Gesellschaft, in der der Körper nur noch einen „kommunikativen Unsicherheits- und Störfaktor" darstellt (Schlögl 2005: 558; 2008; Luhmann 1998: 825ff.). Das Auseinandertreten von Interaktion und Gesellschaft impliziert außerdem einen gewissen Bedeutungsverlust der Interaktionsebene, die nur noch als „primitive Stufe der Systementwicklung" verstanden wird (Schroer 2005: 14; vgl. Luhmann 1987: 579, 585; 2011; vgl. auch Boden & Molotch 1994). Das anhaltende Angewiesen-Sein auf Kopräsenz wird schließlich nur noch als „Technologiedefizit" wahrgenommen (Luhmann & Schnorr 1979, 1981).
Eigengesetzlichkeit sozialer Situationen unter Anwesenheitsbedingungen im Unterschied zu anderen Formen bzw. Ebenen von Sozialität (also z.B. Organisationen). Eine mögliche Alternative, auf die mittlerweile auch in der Sportsoziologie immer häufiger zurückgegriffen wird, bieten praxistheoretische Ansätze, die vor allem auf die inkorporierten Fähigkeiten sowie den praktischen Vollzug von Sozialität abstellen (vgl. Brummer 2010; Gugutzer 2012; Meuser 2004,2006). Allerdings wird bei der Verwendung des Praxisbegriffs in der Regel nicht zwischen Praktiken unter Anwesenheitsbedingungen und anderen Praktiken unterschieden, so dass die Angewiesenheit des sportlichen Wettkampfs auf Kopräsenz mit dem Praxisbegriff nicht erfasst werden kann. Es stellt sich also die Frage nach dem Verhältnis der beiden soziologischen Konzepte sozialer Interaktion und Praxis, deren Anwendung und Kompatibilität am Beispiel sportlicher Kopräsenzsituationen im Fußball diskutiert werden soll. Dazu werden zunächst einige Grundbedingungen des sportlichen Leistungsvergleichs in der Moderne genauer beschrieben und die These von der Angewiesenheit des modernen Sports auf körperliche Kopräsenz mit Blick auf verschiedene Sportarten geprüft (1). Daran anschließend werden interaktions- und praxistheoretische Ansätze als heuristische Instrumente zur Analyse sportlicher Kopräsenzsituationen vorgestellt (2). Dabei sollen möglichst klare Kriterien herausgearbeitet werden, anhand derer im dritten Kapitel einige ausgewählte Situationen aus dem Bereich des Profifußballs diskutiert werden können (3). Ziel des Aufsatzes ist es nicht nur, angemessene Instrumente zur soziologischen Analyse sozialer Situationen im sportlichen Wettkampf zu finden, sondern auch, das Verhältnis zweier bislang kaum miteinander verbundener soziologischer Konzepte genauer zu beleuchten. Auch wenn an dieser Stelle keine vollständige theoretische Aufarbeitung dieser Frage geleistet werden kann, so soll dieses bisher in der Literatur noch weitgehend unbeachtete Problem zumindest explizit formuliert und anhand eines empirischen Beispiels erläutert werden.
1.
Körperliche Kopräsenz als Grundbedingung des sportlichen Wettkampfs
Aus einer differenzierungstheoretischen Perspektive geht es im Sport vor allem um die Beobachtung und den Vergleich körperlicher Leistungen. Anders als vormoderne Bewegungskulturen ist der moderne Sport nicht mehr in andere Sinnbezüge einge-
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bettet, sondern seine spezifische Funktionslogik ist primär auf Leistung bzw. Leistungssteigerung ausgerichtet: Durch den Vergleich der Leistungen im Konkurrenzkampf wird die jeweils beste Leistung ermittelt und in Form von Rekorden auf Dauer gestellt (vgl. Stichweh 1995). Das geschieht, indem die Leistungen gemessen, quantifiziert, in Form von Sportstatistiken aufgezeichnet und so anschlussfähig und vergleichbar gemacht werden mit den Leistungen anderer Athleten, die an anderen Orten und zu anderen Zeitpunkten erbracht wurden (vgl. Hahn 2002; Stichweh 1990; Werron 2005). 5 Auf diese Weise wird der Vergleichshorizont der sportlichen Leistungen auf die ganze Welt ausgedehnt (vgl. Heintz & Werron 2011). Da aber (auch globale) Bestleistungen in praktisch allen Sportarten nur in Form eines Wettkampfs ermittelt werden können, bleibt der Sport gleichzeitig auf die lokal-räumliche Verortung dieser Wettbewerbe und damit die körperliche Kopräsenz der Sportler angewiesen.6 Damit ergibt sich für den modernen (Hochleistungs-)Sport die auf den ersten Blick widersprüchliche Besonderheit, dass hier einerseits der Anspruch eines globalen Vergleichshorizonts gilt, andererseits aber die konkreten Leistungsvergleiche auf die körperliche Kopräsenz der Sportler beim Wettkampf angewiesen bleiben. Es gibt jedoch erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Sportarten: So hängt die Auswahl der genauen Wettkampfform zunächst mit der Messbarkeit sportlicher Leistungen zusammen, denn in der Praxis ist der Vergleich sportlicher Leistungen und damit die Ermittlung der jeweils besten Leistung je nach Sportart unterschiedlich schwierig. Nur in einigen wenigen Sportarten, wie z. B. den MeterGramm-Sekunde-Disziplinen der Leichtathletik lässt sich sportliche Leistung objektiv messen und in Zahlen ausdrücken. Und obwohl die Leistungen hier theoretisch auch ohne die gleichzeitige Anwe5 Diese Funktionslogik gilt nicht nur für den Leistungs-, sondern grundsätzlich ebenso für den Breitensport, bei dem es letztlich auch um die Steigerung der (eigenen) sportlichen Leistungen geht (vgl. Krockow 1974: 43). 6 Diese lokale Verortung des sportlichen Wettkampfes bringt auch die körperliche Kopräsenz der Zuschauer mit sich, die hier aber aus verschiedenen Gründen nicht weiter berücksichtigt wird: Z u m einen ist die wechselseitige W a h r n e h m u n g zwischen Sportlern und Publikum einseitig eingeschränkt, und zum anderen ist die Anwesenheit des Publikums nicht konstitutiv f ü r das Zustandekommen des sportlichen Leistungsvergleichs, wie das Beispiel der ohne Zuschauer ausgetragenen „Geisterspiele" im Fußball zeigt (vgl. dazu GofFman 1973a: 214, FN 67).
senheit der Konkurrenten miteinander verglichen werden könnten, wird auf den direkten Wettkampf zwischen Anwesenden in der Regel nicht verzichtet. 7 Es ist davon auszugehen, dass die Kopräsenz der konkurrierenden Athleten sowie des Publikums die soziale Situation und damit auch den Ausgang des Leistungsvergleichs nicht unerheblich beeinflussen kann. 8 In der Mehrzahl der Sportarten ist eine objektive Messung der Leistung jedoch gar nicht möglich, sondern die Leistungsstärke wird entweder subjektiv beurteilt, z. B. in Sportarten mit Wertungsrichtern, bei denen die Athleten i. d. R. nacheinander antreten (Eiskunstlauf, Dressurreiten),9 oder die Leistung kann nur im direkten Vergleichskampf mit dem Konkurrenten erbracht werden. Zu dieser Kategorie gehören praktisch alle Ball- und Spielsportarten sowie die meisten Kampfsportarten, aber auch Sportarten wie Schach10 oder Tauziehen. Die gleichzeitige Anwesenheit beider Mannschaften an Ort und Stelle ist die Voraussetzung dafür, dass der Leistungsvergleich überhaupt stattfinden kann. Streng genommen bleiben diese Sportarten sogar vollständig auf die konkrete Situation räumlich-zeitlicher Kopräsenz angewiesen, da die in einem bestimmten Spiel erbrachten Leistungen sich nicht von der jeweiligen Situation abstrahieren und auf das Spiel gegen einen anderen Gegner an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit übertragen lassen.11
7
Einige Hinweise auf die mögliche Bedeutung von Kopräsenz beim Mittel- und Langstreckenlauf finden sich in den phänomenologischen Beschreibungen der Sportlerkörper von Hockey u. Allen Collinson (2007, 2010). 8 Es gibt jedoch auch Sportarten, in denen die Leistungen aus technischen Gründen oder wegen Verletzungsgefahr nur nacheinander erbracht werden können (Hochsprung, Ski Alpin). 9 Eine Ausnahme bildet der Tanzsport, bei dem die Paare tatsächlich gleichzeitig antreten und bewertet werden. 10 Die Disziplin des Fernschach stellt allerdings eine Ausnahme dar, da die Gegner nicht anwesend sein müssen und die Züge postalisch oder elektronisch übermittelt werden. 11 Die Notwendigkeit zur Kopräsenz der Athleten (nicht nur der Konkurrenten, sondern auch der Teamkollegen) besteht ebenfalls in Mannschaftssportarten, wobei man hier unterscheiden muss zwischen reinen Mannschaftssportarten (Fußball), Formationen, d . h . Sportarten, die auch einzeln betrieben werden können (Rudern), Staffeln und der bloßen Mannschaftswertung, bei denen lediglich die Einzelergebnisse addiert werden und somit auch keine Notwendigkeit zur Kopräsenz besteht.
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Die räumlich-zeitliche Verankerung des Wettbewerbs in einer konkreten sozialen Situation erhöht aber auch die für den Sport typische Ungewissheit über den Ausgang des Wettkampfs und die dadurch erzeugte Spannung. D e n n dadurch können die Tagesform der Spieler, mögliche Umwelteinflüsse, wie das Wetter oder Bodenunebenheiten und nicht zuletzt Zufälle resp. Glück den Ausgang beeinflussen. 12 Diese hohe situative Kontingenz ist zwecks Spannungserhöhung f ü r das Publikum durchaus erwünscht und wird in den Regel- und Wettkampfstrukturen vieler Sportarten auch mitberücksichtigt, wenn ζ. B. in Fußballligen die Turnierform des Doppelrundenturniers mit H i n - und Rückspiel präferiert wird. Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit körperlicher Kopräsenz für die Austragung sportlicher Leistungsvergleiche werden im folgenden Kapitel zwei Konzepte für die soziologische Analyse des Sports vorgestellt: face-to-face-Interaktion und soziale Praxis.
2.
Face-to-face-Interaktion und soziale Praxis: Instrumente zur Analyse des sportlichen Leistungsvergleichs
2.1 Face-to-face-Interaktion Die Bedeutung des mittlerweile in der Soziologie weitgehend einheitlich verwendeten Interaktionsbegriff geht vor allem auf die Arbeiten von Erving Goffman zurück und bezeichnet soziale Situationen, in denen zwei oder mehr körperlich anwesende Individuen in die Wirkzone (response presence) des anderen gelangen, sich wechselseitig wahrnehmen und aufeinander reagieren (Goffman 1994: 55, 69). Sie endet, wenn der vorletzte den R a u m verlässt (vgl. G o f f m a n 1971: 29). Soziale Situationen sind häufig in einen größeren Ereignisrahmen (social occasion) eingebettet, der zeitliche und räumliche Grenzen sowie eine bestimmte Ausstattung vorgibt (Goffman 1971: 29). Die W a h r n e h m u n g des Wahrgenommenwerdens f ü h r t dabei zu einer Art (Selbst-) Darstellungs- bzw. Kommunikationszwang: Da es praktisch unmöglich ist, keinen Eindruck bei an-
12 Die Sportarten lassen sich auch nach der Ungewissheit des Ausgangs kategorisieren. So gelten ζ. B. Ballsportarten, wie Fußball a u f g r u n d der hohen Anzahl der Spieler, des direkten Gegnerkontakts u n d des schwer kontrollierbaren Balles als „Sportarten mit extrem h o h e m Unsicherheitsniveau" (Alkemeyer 2009: 185).
deren anwesenden Personen zu erzeugen, setzen die beteiligten Akteure gezielt verschiedene Techniken der Eindrucksmanipulation (impression management) ein, u m mit Hilfe interpersoneller Alltagsrituale die innerhalb der Interaktionen entwickelten Selbstbilder (images) zu etablieren und zu schützen (vgl. G o f f m a n 1971: 27; 1998: 18; H a h n 2002). Anwesenheit und wechselseitige W a h r n e h m u n g fungieren dabei als Auslöser praktisch unausweichlicher sozialer Prozesse, an deren Ende Kommunikation und damit auch Interaktion stehen (vgl. L u h m a n n 1972, in diesem Band: 7 ff.). „Als Interaktion soll dasjenige Sozialsystem bezeichnet sein, das sich zwangsläufig bildet, wenn immer Personen einander begegnen, das heißt w a h r n e h m e n , daß sie einander w a h r n e h m e n u n d dadurch genötigt sind, ihr H a n d e l n in Rücksicht aufeinander zu wählen" ( L u h m a n n 1979: 237).
Indem Ego wahrnimmt, wie Alter registriert, was Ego wahrnimmt, orientiert Ego sein eigenes Verhalten nahezu unweigerlich an der vermuteten Interpretation seines Verhaltens von Alter - und umgekehrt. Es entstehen also Erwartungen und Erwartungserwartungen. L u h m a n n (1987: 165) verdichtet die von G o f f m a n beschriebene Ausgangsbedingung der sozialen Situation zum Problem doppelter Kontingenz, bei dem alle Beteiligten ihr eigenes Handeln vom Handeln der anderen abhängig machen und deshalb keiner anfangen kann. „Wenn Alter w a h r n i m m t , daß er w a h r g e n o m m e n wird u n d d a ß auch sein W a h r n e h m e n w a h r g e n o m m e n wird, m u ß er davon ausgehen, d a ß sein Verhalten als darauf eingestellt interpretiert wird; es wird d a n n , ob i h m das paßt oder nicht, als K o m m u n i k a t i o n aufgefaßt (...)" (Luhm a n n 1987: 561).
Auch wenn es sowohl bei L u h m a n n als auch bei G o f f m a n nicht immer explizit gemacht wird, gehen doch beide von Kommunikation als Letztelement und Voraussetzung f ü r das Zustandekommen von Interaktion aus. 13 Dabei ist bereits die „Anwesen13 G o f f m a n (1973c: 8) verwendet ebenso wie L u h m a n n in seinen f r ü h e n Arbeiten neben .Kommunikation' auch Begriffe wie .Handeln' oder .Aktivität' zur Beschreibung der Tätigkeiten in Interaktionen. Anders als L u h m a n n entwickelt G o f f m a n keinen klar definierten K o m m u n i kationsbegriff u n d ordnete seine Analysen auch nicht in einen größeren theoretischen Z u s a m m e n h a n g ein; vgl. G o f f m a n 1972: 11. L u h m a n n (2005c) zufolge besteht K o m m u n i k a t i o n aus der Synthese drei verschiedener Selektionen: Information, Mitteilung u n d Verstehen. Entscheidend ist vor allem das Verstehen, das sich durch die Unterscheidung von Mitteilung u n d Information realisiert.
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heit im reziproken Wahrnehmungsfeld immer schon Kommunikation" (Luhmann 1972: 53 f.)·14 Im Rahmen dieses sehr breiten Verständnisses von Interaktion stellt sich lediglich die Frage, inwiefern Ereignisse nur zufällig in sozialen Situationen passieren {merely situated) oder „situationell gebunden" sind (.situational) und tatsächlich nur unter Bedingungen körperlicher Kopräsenz stattfinden können (Goffman 1994: 56; 1971: 32 ff; Lenz 1991: 31 f.). Der hier verwendete Kommunikationsbegriff ist jedoch keineswegs gleichbedeutend mit Sprache (linguistic signs), die im Prinzip gar nicht auf Kopräsenz angewiesen ist. Tatsächlich sind auch andere Formen körpergebundener non-verbaler Kommunikation gemeint (expressive signs), die jeder Mensch gewollt oder ungewollt aufgrund seiner Anwesenheit in einer Situation preisgibt und mittels der verbale Kommunikation modalisiert werden kann („indirekte Kommunikation") (vgl. Luhmann 1987: 563; Kieserling 1999: 147 ff). Obwohl Goffman hierzu auch „habituelle Leibkundgaben" zählt, wie das Erscheinungsbild (Fassade) sowie unkontrollierbare physiologische Vorgänge, wie Niesen, Erröten und Schwitzen, bleibt er in seiner Begrifflichkeit stark auf das Gesichtsfeld reduziert (face-to-face) (vgl. Goffman 1971: 24f.; 1998: 6f.; Lenz 1991: 34).15 Unter Anwesenden fungiert der Körper sowohl als Wahrnehmungsinstrument als auch als Mitteilungsorgan, mit dem wir unser Gegenüber mit allen Sinnen erfahren können, ihm gleichzeitig aber auch eine große Anzahl Informationen gewollt oder ungewollt übermitteln (signs given vs. given o f f ) (vgl. Hahn 2000). Die wechselseitige Wahrnehmung unter Anwesenden ermöglicht dabei eine besonders hohe Komplexität bei der Informationsaufnahme 14 Diese Position vertritt L u h m a n n zumindest in seinen frühen Arbeiten. Eine deutlichere Abgrenzung zwischen W a h r n e h m u n g und Kommunikation findet sich bei Kieserling (1999: 118), der Phänomene, die primär auf wechselseitiger W a h r n e h m u n g basieren, lediglich als „präkommunikative Sozialität" bezeichnet und nicht unter den Interaktionsbegriff subsumiert; ähnlich auch L u h m a n n 2005b; 1987: 336. 15 L u h m a n n ist sich der Bedeutung des Körpers in sozialen Interaktionen zwar ebenfalls bewusst, findet aber keinen Platz f ü r dessen systematische Berücksichtigung in seiner Theoriearchitektur, die auf einem entsubjektiviserten und damit auch körperlosen Systembegriff aufbaut. Seine Beschreibungen von Kommunikation bleiben implizit auf Sprache fixiert. Die „organische Infrastruktur" wird bei ihm lediglich in einigen wenigen Funktionssystemen in Form sog. „symbiotischer Mechanismen" berücksichtigt (Luhmann 2005a: 264).
und -Verarbeitung vor allem bezüglich non-verbaler Äußerungen, die im Gegensatz zu verbaler resp. expliziter, als Handlung zurechenbarer Kommunikation nicht sequentiell, sondern gleichzeitig und thematisch ungeordnet übermittelt und behandelt werden können (vgl. Luhmann 1972: 5 4 f f , 1987: 561, in diesem Band: 7 ff). Goffman unterscheidet zwischen zentrierten und nicht-zentrierten Interaktionen: Während die Anwesenden im Fall der zentrierten Interaktion (focused interaction, conversational encounter, full-focused gathering) ihre Aufmerksamkeit auf eine gemeinsame wechselseitige Aktivität richten und sich vorrangige Zugangsrechte einräumen, wie z.B. in einem Gespräch, erfolgt die Absonderung von Informationen in nicht-zentrierten Interaktionen nicht adressiert und eher unbewusst, da es nur um die „Handhabung bloßer gemeinsamer Anwesenheit" geht, die mit höflicher Gleichgültigkeit (civil inattention) zur Kenntnis genommen wird, wie z.B. zwischen Passanten auf der Straße (Goffman 1971: 35; 1994: 69; vgl. auch Kendon 1988: 24 ff). Zusammenfassend müssen also folgende Merkmale vorliegen, um von sozialer Interaktion sprechen zu können: Voraussetzung ist die gleichzeitige körperliche Anwesenheit von mindestens zwei Personen sowie wechselseitige Wahrnehmung. Bereits unter diesen Bedingungen setzt zwischen den Anwesenden eine Art „Basisrauschen nicht-verbaler Kommunikation" ein, von dem ausgehend sich auch fokussierte Interaktionen entwickeln können (Geser 1996: 22). Entscheidend ist dabei vor allem, dass die beteiligten Akteure infolge ihrer wechselseitigen Wahrnehmung Erwartungen entwickeln, die sich auf die Erwartungen der anderen beziehen, und so letztlich ihr Verhalten wechselseitig aneinander orientieren. So lässt sich das Zustandekommen von Interaktion empirisch vor allem anhand des beobachtbaren Verhaltens der Beteiligten feststellen, insofern sich dieses als Reaktion auf Erwartungserwartungen der anderen verstehen lässt. D. h. Kommunikation und damit auch Interaktion realisieren sich nur, wenn einer der Anwesenden (Ego) die von seinem Gegenüber (Alter) absichtlich oder unabsichtlich abgesonderten Zeichen so deutet, dass er sein eigenes Verhalten daran ausrichtet. 16
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Sowohl bei G o f f m a n als auch bei L u h m a n n wird also das Modell von Interaktion letztlich ausgehend vom Adressaten (hier Ego) bzw. dem bei ihm entstandenen beobachtbaren (!) Eindruck (impression) seines Gegenübers (hier: Alter) entwickelt.
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Für eine empirische Analyse sozialer Interaktion gilt es also, vor allem die Wahrnehmung des Wahrgenommenwerdens sowie die Herausbildung komplementärer Erwartungen und Erwartungserwartungen innerhalb sozialer Situationen beobachtbar zu machen. Gleichzeitig sollte im Blick behalten werden, inwiefern es sich um ein situationeil gebundenes Phänomen handelt, das tatsächlich nur unter Anwesenheitsbedingungen zustande kommen kann. Dieser Versuch einer Operationalisierung macht deutlich, dass aus einer interaktionstheoretischen Perspektive vor allem die Entstehung einer gewissen Eigengesetzlichkeit im Vordergrund steht und nicht die Beschreibung eines bestimmten Modus sozialen Verhaltens. Kommunikation ist hier lediglich eine Art austauschbares Grundelement für die Entstehung einer spezifischen Ebene sozialer Ordnung unter der Bedingung körperlicher Anwesenheit. Entsprechend wird Interaktion sowohl von Goffman als auch von Luhmann als emergente Ebene des Sozialen beschrieben, die bestimmte konstitutionelle Restriktionen und Möglichkeiten mit sich bringt, und sich deutlich von anderen „Sphären" sozialer Organisation unterscheidet (vgl. Goffman 1994; Luhmann 1975).17 Mit Blick auf die Frage, ob der Interaktionsbegriff auch die ganz zu Anfang von Gerd Müller beschriebene Art intuitiven sozialen Verhaltens erfasst, kann man zunächst feststellen, dass derartige Tätigkeiten sich zwar nur bedingt mit dem bis hierin beschriebenen Verständnis von Kommunikation vereinbaren lassen, aber sehr wohl in Goffmans Interaktionsanalysen vorkommen, z. B. in Form „habitueller Leibkundgaben" oder des inkorporierten Sinnes für Grenzen und Zugehörigkeiten (sense of one's place) (vgl. Goffman 1971: 43; 1951: 297). Tatsächlich werden Unterschiede zwischen diesen verschiedenen Tätigkeitsmodi innerhalb sozialer Interaktionen aber bei Goffman kaum reflektiert. 18 Dafür stehen 17 Die hierbei unterschiedenen sozialen Ebenen lassen sich letztlich als Ergebnis langfristiger gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse verstehen. D . h . Interaktionstheorie impliziert immer auch evolutionstheoretische A n n a h m e n , wie z. B. die Vorstellung, dass es im Zuge von Modernisier u n g u n d funktionaler Differenzierung zu einem Auseinandertreten von Interaktion u n d Gesellschaft gekommen ist. Insofern k a n n m a n Interaktion sogar als differenzierungstheoretisches Konzept verstehen, denn letztlich war auch G o f f m a n (1994) die historische Kontingenz der Interaktionsebene durchaus bewusst, auch w e n n er sich f ü r die H i n t e r g r ü n d e dieser Entwicklung nicht interessierte. 18 So verweist G o f f m a n auf die Unangemessenheit des Kommunikationsbegriffs zur ethologischen Beschreibung
derartige Formen von Sozialität im Mittelpunkt praxistheoretischer Ansätze. Und damit kommen wir zum zweiten potentiellen Analysekonzept für die Untersuchung sportlicher Wettkampfsituationen: dem Konzept sozialer Praxis und der Frage nach eben jenem Phänomenbereich, der mit dem Kommunikationsbegriff nur unzureichend erfasst werden kann.
2.2 Soziale Praxis Auch wenn bisweilen von einem „practice turn" in der soziologischen Theorie gesprochen wird und immer mehr Autoren ganz unterschiedlicher theoretischer Ausrichtungen retrospektiv zu den Vertretern 19 einer „soziologischen Praxistheorie" bzw. „Theorie sozialer Praktiken" gezählt werden, muss man zunächst klarstellen: „there is no unified practice approach" (Schatzki 2001: 2; vgl. Schatzki et al. 2001; Reckwitz 2003: 289; Bongaerts 2007). Die verschiedenen Ansätze lassen sich höchstens als „loses Bündel familienähnlicher Theorien und Forschungsrichtungen" beschreiben (Schmidt 2012: 26). Dennoch besteht Einigkeit hinsichtlich der Kritik an den herkömmlichen Konzepten von Handlung und Kommunikation, deren mentalistisch-intentionalistischen Verkürzungen und der unzulänglichen Verortung von Sozialität jenseits der menschlichen Körper in Texten, Diskursen und Sprache (vgl. Hirschauer 2008; Schatzki 2002: 60 ff.; Reckwitz 2003: 288 f.). Die Analyse sozialer Praktiken zielt also auf die Rekonstruktion weder von Sinn noch von kommunikativen Erwartungsstrukturen, sondern es geht eher um eine „empirische Spezifikation" der Tätigkeiten beim praktischen Vollzug von Wirklichkeit (ongoing accomplishment) (vgl. Hirschauer 2004: 73; Garfinkel 1967). Prinzipiell besteht zwar der Anspruch praxistheoretischer Analysen, alle vorkommenden Tätigkeitsmodi erfassen zu können (vgl. Bourdieu 1993: 99), aber Fokus und Erklärungsprimat des des unter Anwesenheitsbedingungen stattfindenden Informationsaustauschs (z.B. G o f f m a n 1981: 9; vgl. auch Crossley 1995: 139). Auch bei L u h m a n n , dessen Theorie noch viel enger als bei G o f f m a n an den K o m m u n i k a tionsbegriff gebunden ist, finden sich gewisse Zweifel gegenüber der Subsumtion derartiger Formen „intuitionsgeleiteter W a h r n e h m u n g " unter das Interaktionskonzept ( L u h m a n n 2005d: 245). 19 Die Liste der Autoren, die der Praxistheorie zugerechnet werden, variiert zwar, regelmäßig vertreten sind aber Pierre Bourdieu, A n t h o n y Giddens, Harold Garfinkel u n d Michel Foucault.
Marion Müller: Kopräsenz und Körperlichkeit im Sport
Praxisbegriffs liegen vor allem auf der Art sozialer Tätigkeiten, die mehr oder weniger präreflexiv ablaufen (doings and sayings) und auf inkorporierten und kaum explizit artikulierbaren Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Deutungsschemata beruhen (vgl. Schatzki 1996: 89). Derartige soziale Praktiken lassen sich auch als habituelle Dispositionen beschreiben, deren körperliche Aneignung resp. Einverleibung weniger durch bewusstes Training als durch praktisches Begreifen und kontinuierliche Anwendung erfolgt (vgl. Schatzki 2001; Wacquant 1995, 2003; Schindler 2011). Dabei fungiert der Körper als Speicher des Sozialen, und die Akteure erwerben durch die Verinnerlichung der materiellen Strukturen, Regeln und Anforderungen eines bestimmten (Um-) Felds eine Art inkorporierten Orientierungssinn 20 , durch den sie in der Lage sind, das Geschehen sowie situationale Gegebenheiten in diesem Feld intuitiv zu erfassen und angemessen zu reagieren. Bourdieu (2001: 184 f.) weist daraufhin, dass der vorherrschende Typus sozialer Verhaltensweisen je nach Situation und Tätigkeitsbereich variiert und dass vor allem im Sport ein besonders hohes Maß dieser „körperlichen Intelligenz" notwendig sei (vgl. auch Franke 2004). 21 So geht es im Sport um ausgesprochen komplexe körperliche Tätigkeiten, die sehr schnell ausgeführt werden müssen und deren Abläufe sich nicht intellektuell, sondern nur im Vollzug begreifen lassen.22 Die Koordination der Bewegungen erfolgt dabei „ohne den Umweg (...) über abstraktes Denken und strategisches Kalkül", sondern direkt von Körper zu Körper (Wacquant 2003: 100 f.). Bourdieu beschreibt das als „Sinn für das Spiel" (sens pratique), mit dessen Hilfe die „fast perfekte Vorwegnahme der Zukunft in allen konkreten Spielsituationen" gelinge (Bourdieu 1993: 122). „Ein Spieler, der im Spiel aufgeht, vom Spiel gepackt ist, stellt sich nicht auf das ein, was er sieht, sondern auf das, was er vorhersieht, (..) indem er nämlich den Ball nicht dorthin abgibt, wo sich sein Mittelstürmer gerade befindet, sondern an den Punkt, den dieser — vor dem ihn
353 deckenden gegnerischen Verteidiger - sogleich erreichen wird. Dabei n i m m t er Vorwegnahmen der gegnerischen Mannschaft, oder gar, wie beim Täuschen, Vorwegnahmen von Vorwegnahmen vorweg. Er entscheidet nach objektiven Wahrscheinlichkeiten, (..) die er in ihrem potentiellen Werden erfaßt. U n d dies, wie es heißt, ,.auf der Stelleaugenblicklich und in der Hitze des Gefechts, d . h . unter Bedingungen, unter denen Distanzgewinnen, Zurücklehnen, Überschauen, Abwarten, Gelassenheit ausgeschlossen sind." (Bourdieu 1987: 149 f.)
Insgesamt scheinen praxistheoretische Ansätze also offenbar besonders gut geeignet für die Analyse sportlicher Bewegungsformen zu sein. Es stellt sich allerdings die Frage, ob Praxistheorien auch der Angewiesenheit des sportlichen Wettkampfs auf Kopräsenz und der Eigengesetzlichkeit sozialer Interaktionen Rechnung tragen können und wollen. Inwiefern sind Praxis- und Interaktionstheorie also kompatibel? Die Antwort auf diese Frage variiert je nach praxistheoretischem Ansatz. Einig ist man sich lediglich in der Ablehnung methodologisch-individualistischer Erklärungsansätze, stattdessen werden relationale Methodologien bevorzugt. Dabei besitzen „soziale" Praktiken jedoch keineswegs notwendigerweise eine intersubjektive oder interaktive Struktur, sondern es sind auch selbstbezogene Praktiken denkbar (vgl. Reckwitz 2003: 292; Bongaerts 2007: 249 f.). Die gleichzeitige Anwesenheit der Akteure gilt i. d. R. nicht als notwendige Voraussetzung für die Ausübung sozialer Praktiken und wird von den meisten Autoren nicht einmal erwähnt, genauso wenig wie die Eigengesetzlichkeit sozialer Interaktionen. 23 Bourdieu (1998: 378 f. FN20) stellt eine der wenigen Ausnahmen dar, er hält die Emergenz und Eigengesetzlichkeit von face-to-face Interaktionen jedoch für einen „interaktionistischen Irrtum" und geht stattdessen davon aus, dass die Akteure selbst in die zufälligsten Interaktionen (...) alle ihre Eigenschaften und Merkmale [selbst mit einbringen, M. M.] - und es (...) die jeweilige Position innerhalb der sozialen Struktur (oder eines spezifischen Feldes)
20
Andere Autoren nennen es „embodiment", „tacit knowledge" (Polanyi), „knowing how" (Ryle), „embodied skills" (Garfinkel), „verkörperte Intelligenz" (Alkemeyer) oder „Habitus" bzw. „praktischen Sinn" (Bourdieu); vgl. Hirschauer 2008: 977. 21
Das bedeutet jedoch nicht, dass Körperpraktiken nicht auch in anderen stärker auf verbale Kommunikation ausgerichteten sozialen Feldern vorkommen (vgl. Schmidt 2012). 22 Beispielhafte Analysen zur Einprägung und Ausführung dieser Abläufe beim Boxen und beim Cricket finden sich bei Wacquant (1995, 2003) und Sutton (2007).
23
Lediglich Hillebrandt (2009a: 390) plädiert für die Anwendung der Praxistheorie „auf allen Aggregationsebenen der Sozialität - also von der Interaktion über die Organisation bis zur Gesellschaft". Er konkretisiert diesen Gedanken jedoch nicht weiter. Reckwitz (2003: 289 f.) versucht den PraxisbegrifF einerseits als „kleinste Einheit des Sozialen" in Abgrenzung von Kommunikation und Interaktion zu etablieren, andererseits verweist er aber auch darauf, dass Praktiken „eine emergente Ebene des Sozialen" bilden würden. Es gelingt ihm jedoch nicht, diese Behauptungen zu plausibilisieren.
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[ist], die die jeweilige Position im Rahmen der Interaktion determiniert." Nicht zuletzt aufgrund seiner starken ungleichheitssoziologischen Ausrichtung betrachtet Bourdieu also soziale Interaktionen lediglich als Reproduktionsinstanzen gesellschaftlicher Strukturen (vgl. dazu Bohn 1991: 99 ff; Hillebrandt 2009a: 390f.; 2009b: 88 ff). Und dennoch scheint prinzipiell nichts gegen die Kompatibilität von interaktions- und praxistheoretischen Forschungsperspektiven zu sprechen. Das beste Beispiel hierfür liefert kein geringerer als Erving Goffman selbst, der hier zwar als Gründungsvater der Interaktionstheorie eingeführt wurde, dessen Werk aber auch praxistheoretisch rezipiert wird (vgl. Hirschauer 2004, 2008; Schmidt 2012). 24 Goffmans Vorstellung von Kommunikation umfasst ganz selbstverständlich und ohne weitere Differenzierung der Begriffe auch den körperlichpraktischen Vollzug. 25 Im Vordergrund seiner Analysen steht die körperliche Materialität sozialer Interaktionen (embodiment): das Management des Körpers unter den Bedingungen von Gleichörtlichund Gleichzeitlichkeit (vgl. Crossley 1995; Reuter 2004). Er beschäftigt sich eben keineswegs nur mit der bewussten Umsetzung geplanter Strategien der Eindrucksmanipulation, sondern auch mit den bereits erwähnten präreflexiv ablaufenden und kaum kontrollierbaren spontanen Leibesmanifestationen und dem einem Instinkt ähnlichen Gespür für die eigene Position {sense of one's place16). Insgesamt liegt sein Fokus jedoch vor allem auf der Funktion des Körpers als Mitteilungsorgan, während praxistheoretische sowie phänomenologisch inspirierte Analysen stärker auch die Prozesse körperlicher Wahrnehmung einbeziehen. Außerdem interessiert sich Goffman kaum für die Unterschiede zwischen den verschiedenen Tätigkeitsmodi von Kommunikation und inkorporierten Praktiken; in seiner Beschreibung erscheinen sie kaum widersprüchlich, sondern eher als verschiedene Facetten seiner ethologischen Betrachtensweise, ähnlich zwei Punkten auf einem
Kontinuum, zwischen denen es einen Ubergang gibt.
Im Folgenden werden Anwendung und Kompatibilität der beiden vorgestellten Konzepte am Beispiel ausgewählter Situationen aus dem Fußballsport diskutiert.
3. Kopräsenz und Praxis beim Fußballspielen Das für die folgenden Analysen verwendete Datenmaterial stammt u.a. aus einer ethnographischen Studie in drei Fußball-Bundesligamannschaften (Herren), die zwischen 2004 und 2006 durchgeführt wurde (vgl. Müller 2009). Es handelt sich sowohl um dichte Beschreibungen sozialer Situationen, die von mir als nicht-teilnehmender Beobachterin 27 angefertigt wurden, als auch um Auswertungen von Gruppendiskussionen und leitfadengestützten Interviews mit Profi-Fußballern und Sportfunktionären. Ziel der Analyse ist es, die soziale Praxis des Fußballspielens sowohl in Bezug auf dessen soziale Situiertheit als auch in seiner körperlichen Materialität angemessen zu erfassen. Dazu werden die zuvor vorgestellten interaktions- und praxistheoretischen Überlegungen verwendet. Die Präsentation der Daten folgt dabei zunächst der Dramaturgie des Fußballspiels, angefangen vom Auflaufen der Spieler auf den Platz sowie ihren Berührungsritualen vor dem Anpfiff und während des Spiels bis hin zum Elfmeterschießen. Gleichzeitig nähern sich die Beschreibungen damit aber nicht nur schrittweise dem eigentlichen fußballerischen Spielgeschehen an, sondern auch den Grenzen des Kommunikationsbegriffs und damit dem bisherigen Verständnis von Interaktion.
3.1 Fußball als soziale Interaktion: Soziale Situierung und interpersonelle Rituale „Das Wichtigste beim Fußballspiel ist der Gegner. Keiner mag ihn, aber ohne ihn geht's nicht los."
24
Allerdings wird dabei i. d. R. nicht reflektiert, dass sich Goffmans (praxistheoretische) Analysen eben ausschließlich auf die Interaktionsebene beschränken. 25 Ganz ähnlich auch bei Mead (1973) und Garfinkel (1967). 26 Diesen Begriff hat Bourdieu von Goffman übernommen, ohne jedoch zu berücksichtigen, dass es sich um ein im Kontext interaktionstheoretischer Überlegungen entwickeltes Konzept handelt; vgl. z. B. Bourdieu 1998: 754, FN 21.
fließenden
(Fußballsprichwort)
27
In den meisten Fällen wurden die Beobachtungen unter situativen Präsenzbedingungen durchgeführt - also vom Spielfeldrand oder von der Tribüne aus. Einige der beschriebenen Situationen, wie z. B. das Elfmeterschießen beim Viertelfinale der Weltmeisterschaft 2006, wurden nur anhand der Analyse von Videomaterial ausgewertet.
Marion Müller: Kopräsenz und Körperlichkeit im Sport Fußball als Situationen gebundene Aktivität Ein Fußballspiel ist ein „situationeil gebundenes" Ereignis, das ohne die körperliche Kopräsenz beider Mannschaften gar nicht stattfinden könnte. Die einzelnen Fußballspiele sind jedoch in der Regel in einen größeren Veranstaltungsrahmen eingebettet, wie die Meisterschaft in einem Ligasystem, durch die auch bestimmte strukturelle Vorgaben erfolgen, wie z. B. die durch die Fußballverbände abgefassten Regelwerke. Auch die zeitlichen und räumlichen Grenzen der Situation sind vorgegeben, indem ein Spiel auf zweimal 45 Minuten beschränkt wird und die genauen Abmessungen des Spielfelds festgelegt sind (vgl. Müller 2 0 0 9 : 147 ff.; H u g h e s / I n g l i s 2002). 2 8 Der Pfiff des Schiedsrichters und die auf den Rasen gezeichneten weißen Linien bilden die Grenzen zur äußeren Welt, während den Ereignissen innerhalb der Linien und zwischen den Pfiffen ein besonderer Sinn zugewiesen wird: Die Eigengesetzlichkeit von Interaktionen und ihre Abgrenzung zur Umwelt mittels „metaphorischer Membrane" wird durch diese Linien praktisch sichtbar gemacht (Goffman 1973b: 30). Die weißen Markierungen geben genau vor, wessen Körper sich wann wo aufhalten darf; die Seiten- und Torlinien markieren die Außengrenzen des Spielgeschehens, und das Überschreiten dieser Linien durch den Ball oder Personen führt in aller Regel zu einer Spielunterbrechung. Trotz dieser expliziten Regelvorgaben und Einschränkungen bleibt die Situation aber stets ein Stück weit unberechenbar, und es kommt nicht selten vor, dass alle Vorgaben durch komplexe Interaktionsdynamiken außer Kraft gesetzt werden. So kann es passieren, dass Ersatzspieler, Trainer und sogar Zuschauer nicht innerhalb der vorgegebenen Grenzen bleiben, sondern während des Spiels auf den Platz rennen und es zu Rangeleien kommt. Derartige Eskalationen können häufig nur durch den Abbruch der Spiels beendet werden: Die Spieler müssen den Platz verlassen und die Anwesenheitssituation wird aufgelöst. Spieler und ihre Eindrücke Alle Menschen, die während des Spiels auf dem Spielfeld sind, können als präsent im Sinne Goffmans gelten: Sie sind gleichzeitig anwesend und
Die Architektur der Fußballstadien sorgt ebenfalls für eine Vorstrukturierung der sozialen Situation, z. B. bezüglich der Blickordnung; vgl. Schroer 2008. 28
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zwar so, dass sie sich wechselseitig wahrnehmen bzw. wahrnehmen, dass sie wahrgenommen werden, was sie u.a. durch bestimmte Formen der Selbstdarstellung deutlich signalisieren. Spätestens wenn die Spieler den Platz betreten haben, handelt es sich also u m eine nicht-zentrierte Interaktion. Den Spielern ist bewusst, dass sie sowohl vom Publikum, 2 9 der Presse als auch von ihren Mitspielern und den Spielern der gegnerischen Mannschaft beobachtet werden und dass sie aufgrund ihres körperlichen Verhaltens gewisse Eindrücke bei den anderen hervorrufen. Welche Erwartungen sie an sich gerichtet glauben, signalisieren sie anhand der verschiedenen Formen der Eindrucksmanipulation, die sie spätestens beim Betreten des Platzes zeigen. D a s lässt sich a m besten in dem Moment beobachten, wenn die Spieler aus den Umkleidekabinen kommen und im Tunnel darauf warten, ins Stadion einmarschieren zu dürfen. Hier hat man es mit dem Übergang von der Hinter- zur Vorderbühne zu tun, und man kann praktisch dabei zusehen, wie die Akteure in ihre Rollen schlüpfen (vgl. G o f f m a n 1998: 112). Seit einigen Jahren wird diese Situation sogar auf die Bildschirme im Stadion übertragen (vgl. Müller 2 0 0 9 : 167). Hier kann man dann beobachten, wie die Spieler auf und ab hüpfen, wie sie die nötige Körperspannung für das Spiel aufbauen. Es gibt zwar hin und wieder kurze Begrüßungsszenen oder gegenseitiges Abklopfen, aber die meiste Zeit stehen die Spieler hintereinander und jeder scheint mit sich selbst allein zu sein. Die Gesichter sind angespannt und konzentriert, signalisieren Ernst und Entschlossenheit. Hier spiegeln sich die Erwartungen und Erwartungserwartungen des Publikums sowie des eigenen Trainers an die Spieler. Mangelndes Engagement wird im Fußball regelmäßig negativ sanktioniert: Der Trainer bestraft unmotiviert wirkende Spieler mit Auswechslung oder Verweigerung der „Einsatzprämie", die Zuschauer pfeifen solche Spieler aus, und die Pressebeobachter verfassen hämische Kommentare. So betreten die Spieler den Platz entschiedenen Schrittes und machen sich warm. D a s Publikum ignorieren sie weitgehend, sie geben sich konzentriert und angespannt. Lediglich beim Aufmarsch direkt vor Spielbeginn oder wenn der Stadionsprecher die Spieler namentlich vorstellt und die Zuschauer jubeln (oder pfeifen), reagieren die Spieler für einen kurzen Moment auf das Klatschen In der Bundesliga und in internationalen Wettbewerben, die vom Fernsehen übertragen werden, gilt das auch für das Publikum zuhause vor den Bildschirmen. 29
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des Publikums mit Winken oder Lächeln. Vor dem Anstoß traben sie locker auf ihre Positionen, manchmal hopsen sie dann dort noch ein wenig herum und zeigen, wieviel Kraft sie haben, indem sie auf der Stelle hochspringen. Dabei dürfen sie aber auf keinen Fall zu angespannt oder nervös wirken, so als hätten sie Angst vor dem Gegner. U m zu zeigen, wie sehr sie von ihrer Rolle erfasst sind und wie ernst sie das bevorstehende Spiel nehmen, müssen die Spieler ihren Kampfeinsatz und auch ihre Enttäuschung bei Nichtgeiingen einer Aktion gut sichtbar inszenieren. Das tun sie, indem sie ζ. B. nach einem Schuss, der das Tor nur knapp verfehlt hat, die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, sich dramatisch die Haare raufen, das Gesicht verziehen und laut aufstöhnen (Müller 2009: 180 f.). Mit derartigen „response cries", wie Goffman sie nennt, versucht ein Akteur das Urteil über ihn zu beeinflussen, indem er einen vermuteten inneren Zustand für alle sichtbar inszeniert (Goffman 2005: 162 ff.). Bei einem solchen Verhalten handelt es sich also keineswegs um den Verlust der Selbstkontrolle, sondern es ist ein weiterer Beleg dafür, wie bewusst den Spielern ist, dass sie aufmerksam beobachtet werden (vgl. Goffman 2005: 166, F N 9). Im Anschluss an eine solche dramatische Geste der Enttäuschung kann man oft beobachten, dass ein Spieler kurz erschlafft, sich dann wieder zusammenreißt und locker auf seine Position zurückzutrabt, wobei er in der Regel seine Umwelt gar nicht wahrzunehmen scheint und mindestens einmal lässig auf den Rasen spuckt. Dadurch signalisiert er seine Kämpfernatur, er hat die Enttäuschung abgeschüttelt und ausgespiehen, er lässt sich nicht entmutigen, sondern macht sich auf den Weg zur nächsten Chance. Infolge offensichtlicher wechselseitiger Wahrnehmung, bei denen der Körper - ob gewollt oder ungewollt — Informationen preisgibt, kommt es also zu anhaltenden Selbstinszenierungen der Spieler oder mit anderen Worten: Es kommt zu non-verbaler Kommunikation und damit zu Interaktion. 30
Körper und ihre Personen Vergleicht man ein Fußballspiel mit anderen sozialen Alltagssituationen, fallt auf, dass die Körper der Spieler sich häufig sehr nahe kommen und sogar berühren (vgl. Müller 2009: 154 ff). Das gilt sowohl für die Spieler gegnerischer Mannschaften, die sich Kieserling (1990: 120 f.) zufolge handelt es bei derartigen Formen der Selbstdarstellung nicht um Kommunikation, sondern nur um „Personenbeobachtung". 30
im Spielverlauf bei der Jagd nach dem Ball oft in die Quere kommen, als auch für die Spieler einer Mannschaft, die vor allem in den Spielpausen verschiedene ritualisierte Berührungsformen praktizieren. Aus einer interaktionstheoretischen Perspektive erfolgt die Organisation sozialer Situationen unter anderem über den Anspruch und die Verteidigung bestimmter Territorien, die je nach Kontext sehr unterschiedlich ausfallen können (vgl. Goffman 1982). Der Körper fungiert hierbei in der Regel als „Symbol und Container von Personen", insofern lässt sich bereits die Platzierung von Körpern im Raum als non-verbale Kommunikation deuten (Hirschauer 2004: 79). Während des Spiels und vor allem dort, wo der Ball ist, scheinen die Spieler aber praktisch über keinen persönlichen Raum mehr zu verfügen, denn selbst das Zusammenprallen mit dem schweißnassen Körper eines Gegners wird offenbar nicht als territoriale Übertretung, Gesichtsverlust oder als Kontaminierung empfunden. Im Vollzug der Wettkampfsituation sind die alltäglichen Distanzregeln zwischen den Akteuren aufgehoben, und es agieren nur noch Körper miteinander - ohne Personen. Beim Kampf um den Ball scheinen sich die Spieler auch gar nicht als Personen wahrzunehmen, sondern nur als störende Fremdkörper bzw. Hindernisse, so dass sogar die verletzende Kollision der gegnerischen Körper im Spiel (Foul) nicht „persönlich" genommen wird (vgl. Alkemeyer et al. 2010: 237). Ein Foul mag zwar regelwidrig sein und vom Schiedsrichter bestraft werden (oder auch nicht), in der Wahrnehmung der Spieler bleibt es aber „nur" eine Körper-Verletzung und eben kein Personen-Schaden. Diese Aufhebung der alltagsweltlichen Kopplung von Körper und Person gilt jedoch nicht während des ganzen Spiels: Sobald der Ball nicht mehr in der Nähe oder das Spiel kurz unterbrochen ist und ein Spieler von einem Gegner zu sehr bedrängt oder angerempelt wird, fungiert der Körper wieder als Symbol für die Person und territoriale Grenzüberschreitungen oder Kontaminationen (z. B. Bespucken) werden wieder als persönliche Beleidigung gedeutet. Diese schnell wechselnde Wahrnehmung zwischen der Erfassung bloßer Körper und von Körpern mit Personen erschwert den Umgang der Spieler miteinander und ist möglicherweise eine Ursache für das manchmal unberechenbare Ausbrechen gewalttätiger Konflikte auf dem Spielfeld. Während also im einen Moment ein Stoß in die Rippen als Reaktion auf ein Tackling oder das Blocken des Balls praktisch unbeachtet bleibt, wird demselben Verhalten einen
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Moment später, wenn der Ball weg ist, eine Mitteilungsabsicht unterstellt, die sich unmittelbar in der wütenden Reaktion des Gegners und aller anderen Anwesenden zeigen kann. Bei der Beschreibung und Differenzierung dieser Verhaltensweisen stoßen wir erstmals an die Grenzen des Kommunikationsbegriffs und damit auch des Verständnisses von Interaktion. Kommunikationstheoretisch lässt sich nicht differenzieren zwischen Verhaltensweisen, bei denen nur die Körper der Anwesenden miteinander agieren bzw. aufeinander reagieren, es aber nicht zur Übermittlung expressiver Botschaften kommt, und Situationen, in denen der Körper als Kommunikationsmedium fungiert, wie z.B. bei den Körperritualen zwischen Mannschaftskollegen, die man vor allem vor und nach dem Spiel bzw. während der Spielunterbrechungen beobachten kann (vgl. Müller 2009: 154). Anders als die präreflexiv ablaufenden Körperkontakte beim Kampf um den Ball fungieren diese Berührungen als Ausdruck von Vertrautheit und Beziehungszeichen (Goffman 1982b: 82). Es existiert ein regelrechtes „Berührungssystem", in dem die Spieler einer Mannschaft sozusagen das Privileg haben, ihre Körpergrenzen wechselseitig zu überschreiten. Und das tun sie schon vor dem Spiel, wenn sie sich gegenseitig Glück wünschen, wobei offenbar Worte nicht ausreichen, sondern eine Art Berührungszwang besteht, der die Spieler dazu bringt, mit jedem einzelnen Mannschaftsmitglied zumindest kurz Körperkontakt herzustellen, z. B. durch Abklatschen oder das Tätscheln von Kopf und / oder Po. Häufig kann man auch beobachten, dass die ganze Mannschaft noch einmal zusammenkommt, einen Kreis bildet, sich eng umarmt und eine Art Mannschafts-Körper bildet. Der Berührungszwang wird besonders offensichtlich, wenn ein Tor gefallen ist, dann scheint jeder Spieler den Torschützen zumindest kurz anfassen zu müssen. Sie umarmen ihn, küssen ihn, heben ihn hoch oder bespringen ihn. 31 Bisweilen werfen sich die Spieler sogar auf ihn, und er wird unter den Körpern der anderen Spieler begraben. Auf diese Weise partizipieren die anderen nicht nur an seiner Leistung, sondern transformieren letztlich eine Einzel-
leistung in eine Mannschaftsleistung (vgl. Müller 2009: 155 f.).32 Vor diesem Deutungshintergrund wird auch das häufig zu beobachtende Verhalten eines Torschützen direkt nach dem Tor verständlich, wenn er versucht, seine Teamkollegen abzuschütteln und vom Publikum Anerkennung für seine Leistung fordert, z. B. indem er in Richtung Tribüne bzw. zu den Kameras rennt und sein Trikot auszieht oder Freudentänze vollführt. 33 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Rolle des Körpers in den beobachteten Fußballszenen durchaus vielfältig ist und offenbar im Kontext sportlicher Wettbewerbe grundsätzlich andere körperliche Umgangsformen gelten als in anderen sozialen Begegnungen. Auffallend sind vor allem die häufigen Überschreitungen üblicher Körpergrenzen, die sowohl im Kampf um den Ball als auch in den Spielunterbrechungen passieren, wobei sich offenbar nur letztere mit Hilfe eines kommunikationsbasierten Interaktionsbegriffs genauer analysieren lassen. Es fällt auf, dass die bisher vorgestellten Analysen sich noch kaum mit dem eigentlichen Spielgeschehen beschäftigt haben, also dem Schießen von Toren, dem Passspiel etc. 34 Lediglich der direkte Kampf um den Ball wurde bereits erwähnt, konnte aber mit dem bisher erarbeiteten Verständnis von Interaktion nur unzureichend beschrieben werden. Im Zentrum des folgenden Abschnitts stehen nun diese elementaren Vorgänge des Fußballspiels, die mit Hilfe praxistheoretischer Überlegungen genauer untersucht werden sollen.
32
Die Zurechnung der sportlichen Leistung erfolgt also auch innerhalb der sozialen Situation und zwar durch die Spieler selbst und keineswegs nur in der (verbalen) Kommunikation darüber. 33 Eine besondere Variante derartigen Verhaltens konnte m a n bei der Europameisterschaft 2012 beobachten, als der italienische Fußballstar Mario Balotelli im Halbfinale nach seinem zweiten Tor gegen Deutschland sich das Trikot vom Körper riss und mit grimmigem Blick vor dem Publikum seine Muskeln spielen ließ und posierte. Seine jubelnden Mannschaftskollegen ließ er einfach abtropfen, ohne zunächst seine Position oder seinen starren Blick zu ändern. 34
31
Obwohl derartige Formen des Körperkontakts zwischen Männern in unserer Gesellschaft außerhalb von Intimbeziehungen eher unüblich sind, gilt im Herrenfußball (anders als im Frauenfußball) nach wie vor ein H o mosexualitätstabu. Z u r Frage, warum die Fußballer dennoch als Inbegriff (heterosexueller) Männlichkeit gelten; vgl. Müller 2010.
Tatsächlich befassen sich nur die wenigsten der zahlreichen soziologischen Untersuchungen zum Fußball mit der Analyse konkreter Spielsituationen. Ausnahmen von dieser Regel bilden Essers satirische Analyse des D o p pelpasses (Esser 1991), spieltheoretische Simulationen zum Elfmeterschießen (z.B. B e r g e r / H a m m e r 2007) sowie phänomenologische Beschreibungen des Passspiels (Hughson / Inglis 2002; Hemphill 2007).
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3.2 Fußball als soziale Praxis: automatisierte Schusstechnik und Spielintelligenz Von der Kunst des Elfmeterschießens oder: „Wennst denkst, is's eh zu spät." Bei einem „Elfmeter" handelt es sich eigentlich um einen Strafstoß, über den der Schiedsrichter entscheidet, wenn ein Spieler im eigenen Strafraum eine von zehn bestimmten Regelverletzungen begangen hat. 3 5 Der ausführende Spieler versucht dann den Ball von der Strafstoßmarke elf Meter vor dem Tor mit einem Schuss ins Tor zu treten, während der Torwart des gegnerischen Teams, der auf der Torlinie zwischen den Pfosten stehen bleiben muss, bis der Ball getreten ist, versucht, eben das zu verhindern. Die übrigen Spieler müssen dabei außerhalb des Strafraums vor dem Tor bleiben. 3 6 Es stehen sich also nur Schütze und Torwart gegenüber, und für beide stellt sich ein ähnliches Problem, denn sie müssen beide entscheiden, in welche Ecke des Tores sie schießen bzw. springen wollen, ohne dabei zu wissen, was der jeweils andere vorhat bzw. welche Erwartungen und Erwartungserwartungen er hat. Aufgrund der Geschwindigkeit des Balls und der Größe des Tors muss der Torwart bereits im Moment der Schussabgabe losspringen, ohne dass er mit Sicherheit sehen kann, wohin der Ball fliegt (vgl. Johanni & Tschacher 2005). D a s bedeutet aber auch, dass der Schütze vor seinem Schuss ebenfalls nicht weiß, wohin der Torwart springen wird. Gleichzeitig machen beide aber ihr Handeln vom Handeln ihres Gegenüber abhängig, denn der Torwart will ja in die Ecke springen, in der der Spieler schießt, und der Spieler in die Ecke schießen, in die der Torwart nicht springt. 3 7 Damit ist Elfmeterschießen ein idealtypisches Beispiel für eine Situation doppelter Kontingenz (vgl. Berger & H a m m e r 2007). U m handeln zu können, versuchen beide Akteure Erwartungen über das Verhalten des Gegenübers zu entwickeln. Problematisch hierbei ist allerdings, dass der andere sein Verhalten natürlich an diese Erwartungen anpassen kann und entsprechend seine Handlungswahl ändert. Beide versuchen, ihre eigeDie zehn strafstoßwürdigen Regelverletzungen findet man hier: http://www.dfb.de/fileadmin/user_upload/ 2012/06/DFB_Fussballregeln_2012_2013.pdf, S. 80 3 6 Zu den Regelfeinheiten der Ausführung vgl. die aktuellen Fußballregeln des D F B für die Saison 2012/13, U R L : http://www.dfb.de/fileadmin/user_upload/2012/06/ DFB_Fussballregeln_2012_2013.pdf, S. 99 3 7 Anschauliche Beschreibungen der „Angst des Tormanns beim Elfmeter" finden sich bei Handke (1972: 105). 35
nen Absichten vor dem anderen zu verschleiern, und die vom Körper abgesonderten Zeichen bestmöglich zu kontrollieren. Letztlich blockieren sie sich gegenseitig, und es könnte theoretisch eine Art Endlosschleife entstehen, die in der Praxis jedoch durch den Pfiff des Schiedsrichters beendet wird, der damit den Schuss freigibt. Häufig kann man auch beobachten, dass der Schütze anläuft, dann aber vor dem Abschuss kurz verzögert. 3 8 A u f diese Weise kann der Spieler manchmal herausfinden, in welche Ecke der Torwart springen möchte, denn der bewegt sich in Erwartung des Schusses meistens schon in die eine oder andere Richtung. In diesem Fall hat der Schütze jedoch bewusst eine falsche Information geliefert und kann nun den Ball gezielt in die andere Ecke treten, denn die Reaktionszeit auf Seiten des Torwarts reicht in der Regel nicht aus, u m diese erste Reaktion noch zu korrigieren. Die Gefahr bei dieser Verzögerungstaktik ist jedoch, dass der Schütze durch das plötzliche Abstoppen selbst aus dem Tritt kommt bzw. sich zu sehr auf die Reaktion des Torwarts konzentriert und den Ball zu schwach bzw. zu unpräzise abschießt. Beim Elfmeterschießen handelt es sich also zweifelsfrei u m eine zentrierte Interaktion. Die Komplexität der Deutung von Erwartungserwartungen anhand absichtlich oder unabsichtlich abgesonderter Informationen wird im Folgenden anhand des legendären Elfmeterschießens 3 9 zwischen der deutschen und der argentinischen Mannschaft im Viertelfinale der Weltmeisterschaft 2 0 0 6 beschrieben. D a s Besondere an der damaligen Situation war, dass unmittelbar vor Beginn des Elfmeterschießens der Torwarttrainer dem deutschen Torwart, Jens Lehmann, für alle sichtbar einen kleinen Zettel überreichte. Alle und zwar auch die argentinischen Schützen - dürften wohl vermutet haben, dass auf dem Zettel die Schussgewohnheiten der gegnerischen Spieler vermerkt waren. Die Reaktionen der argentinischen Schützen darauf fielen sehr unterschiedlich aus. Der erste, Julio Cruz, ließ sich nichts anmerken, mied
Legendär für diese Taktik war der neuseeländische Fußballspieler Wynton Rufer. 3 5 In diesem Fall handelte es sich um Elfmeterschießen als Vorgehensweise zur Ermittlung eines Siegers, wie es bei bestimmten Turnierformen üblich ist, wenn sich auf herkömmlichem Weg kein Ergebnis erzielen lässt. Bei dieser Art Elfmeterschießen kommt es zu einer besonderen Dramatisierung des Duellcharakters zwischen Schütze und Torwart, da sich alle anderen Feldspieler nicht nur außerhalb des Strafraums, sondern viel weiter entfernt, nämlich im Mittelkreis befinden müssen. 38
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jeden Blickkontakt mit Lehmann und schoss den Ball ohne Zögern und mit großer Wucht in seine gewohnte Ecke (oben links). Lehmann sprang zwar in die richtige Ecke, bekam den Ball aber nicht. Als der zweite Schütze, Roberto Ayala, noch auf dem Weg vom Mittelkreis zum Tor war, holte Lehmann aus seinem rechten Kniestrumpf noch mal den kleinen Spickzettel des Torwarttrainers hervor und lief in dessen Lektüre vertieft auf der Torlinie entlang. Beide wussten, dass Ayala das gesehen haben musste und vermutlich darüber nachdachte, was über ihn auf dem Zettel stand. Er ließ sich auf Blickkontakt mit Lehmann ein und zeigte erste Zeichen von Verunsicherung: Er nahm besonders langen Anlauf und wartete auch noch nach dem Pfiff des Schiedsrichters einen Moment, bevor er den Ball nur sehr schwach in Richtung rechte Ecke trat. Sein Bewegungsablauf war nicht besonders flüssig, und man hatte den Eindruck, dass er bis zum letzten Moment selbst noch nicht recht wusste, in welche Ecke er schießen sollte. Entsprechend schlecht fiel der Schuss aus, und Lehmann, der wieder in die richtige Ecke sprang, konnte ihn halten. Der dritte Schütze, Maxi Rodríguez, blickte, nachdem er sich den Ball zurechtgelegt hatte, nur zum Schiedsrichter und nicht zu Lehmann. Er schoss den Ball in die untere linke Ecke, und Lehmann konnte das Tor nicht verhindern, obwohl er auch diesmal in die richtige Ecke sprang. Auf dem vierten Schützen, Esteban Cambiasso, lastete großer Druck, da Deutschland bereits 5 : 3 führte und sein Schuss nun entscheidend war. 40 Während er sich noch den Ball zurechtlegte, stand Lehmann ihm gegenüber auf der Torlinie und zog in aller Ruhe erneut den Zettel aus seinem Kniestrumpf. Auch Cambiasso dürfte nicht entgangen sein, dass Lehmann bisher bei allen Schüssen in die richtige Ecke gesprungen war. Er vermied den Blickkontakt mit Lehmann und absolvierte sogar den Weg zum Anlaufnehmen, denn die Spieler sonst meist rückwärtsgehen, vorwärts mit dem Rücken zu Lehmann. Nach einem relativ großen Anlauf schoss er in die Mitte des Tores, und Lehmann hielt. Deutschland stand im Halbfinale. 41 40
Bevor Cambiasso antrat, gab es auch noch eine Provokation der Argentinier durch den letzten deutschen Elfmeterschützen, T i m Borowski. 41 Es ist zwar für die soziologische Analyse der Situation unerheblich, was genau auf dem Zettel stand, aber nichtsdestotrotz interessant und soll hier nicht unerwähnt bleiben. Einige Monate später erzählte der Regisseur Sönke W o r t m a n n , der die deutsche Nationalmannschaft für ei-
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Man kann vermuten, dass der Zettel bei den argentinischen Spielern eine Art Denkschleife über ihre eigene Schusstechnik ausgelöst hat. Die meisten Spieler können wahrscheinlich sagen, welches ihr bevorzugtes Schussbein ist, aber bei der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Anlauflänge und Platzierung des Schusses (also der Ecke, in die der Ball geschossen wird) wird es schon schwieriger, und vermutlich sind die meisten Spieler nicht in der Lage, ihren genauen Bewegungsablauf, Schrittlänge etc. beim Elfmeterschießen anzugeben. Und so kann es passieren, dass die bewusste Reflexion über eine in Fleisch und Blut übergegangene Fähigkeit den praktischen Vollzug behindert. Man könnte auch sagen, dass das viele Nachdenken darüber, wie man anlaufen und wo man hinschießen soll, den automatisierten Bewegungsablauf unterbricht, der sich durch bewusste Entscheidungen nicht ohne weiteres wieder in Gang setzen lässt. Entsprechend lässt sich auch Gerd Müllers Hinweis zur Technik des Tore Schießens deuten: „Wennst denkst, is's eh zu spät." Gerade beim Versuch des Schützen, eine Schussrichtung nur anzutäuschen bzw. den Schuss zu verzögern, kann man häufig beobachten, dass der dann folgende tatsächliche Schuss nicht mehr richtig klappt und bisweilen sogar das Tor verfehlt oder gehalten wird. Während sich also das wechselseitig aufeinander bezogene Verhalten von Schütze und Torwart vor dem eigentlichen Schuss bzw. Sprung relativ problemlos als non-verbale Kommunikation deuten lässt, ist das beim Vollzug des Elfmeters schon schwieriger. Hierbei scheint es sich um einen anderen Tätigkeitsmodus zu handeln, der präreflexiv abläuft und auf inkorporiertem und nicht explizierbarem Wissen beruht, mit anderen Worten: Der Schuss aufs Tor lässt sich nicht mehr als Kommunikation, sondern viel eher als soziale Praxis beschreiben. 42 Nicht nur der Schuss des Spielers,
nen Dokumentarfilm über zwei Jahre begleitet hatte, was wirklich auf dem Spickzettel von Jens L e h m a n n stand (vgl. SPIEGEL Online 2006). D e m n a c h handelte es sich um einen Notizzettel aus dem Hotel, auf dem tatsächlich die Anlauf- und Schussgewohnheiten sieben argentinischer Spieler vermerkt waren, von denen aber lediglich zwei Spieler, nämlich Ayala und Rodríguez, zum Elfmeterschießen angetreten waren. 42
Bestehende Versuche einer kommunikationstheoretischen Formulierung, in denen dem Anlauf des Schützen eine Mitteilungsabsicht unterstellt wird, auf den der Torwart mit einem Sprung in die entsprechende Richtung reagiert, wirken angesichts der Schnelligkeit und Reflexhaftigkeit der Bewegungen artifiziell und wenig überzeugend (so z.B. Pethes 2011: 180). Ähnlich konstruiert wirkt auch
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sondern auch der Sprung des Torwarts basiert auf inkorporierten Fähigkeiten, die sich in Form extrem schnell ausgeführter körperlicher Reaktionen vollziehen. 43 Die Koordination der Bewegungen erfolgt dabei ausschließlich über die wechselseitige Wahrnehmung des anderen, wobei es sich aber offenbar nicht nur u m eine visuelle, sondern auch eine Art sinnlicher Wahrnehmung handelt: Die Bewegungen werden mit dem ganzen Körper erspürt. Daher gewinnt m a n insgesamt den Eindruck, es handele sich eher u m eine body-to-body- als eine face-to-faceInteraktion. 4 4 D a s wird noch deutlicher, wenn man sich nicht nur eine solche aus dem Spielgeschehen herausgehobene, sozusagen retardierte Situation wie das Elfmeterschießen anschaut, sondern die Schüsse aufs Tor während des laufenden Spielgeschehens. Hier bleibt den beteiligten Akteuren überhaupt keine Zeit zum Nachdenken, sondern ihre Körper müssen die Situation unmittelbar erfassen und beurteilen und sofort auf die Bewegungen der anderen Spieler reagieren. G a n z ähnliche Ansprüche an Reaktionsgeschwindigkeit und Körperkoordination gelten für den direkten K a m p f u m den Ball und das schnelle Passspiel. Improvisation und Spielintelligenz D a es das erklärte Ziel des Spiels ist, Tore zu schießen, verwenden die Spieler insgesamt relativ viel Zeit darauf, den Ball auf die eine oder andere Art in Richtung des gegnerischen Tors zu bewegen. D a sie den Ball nicht tragen dürfen, treten sie den Ball häufig in kurzen Stößen vor sich her. Bei diesem so genannten Dribbeln 4 5 kommt es oft vor, dass der ballführende Spieler versucht, mit dem Ball an einem oder auch mehreren gegnerischen (Abwehr-)
Stichwehs (1990: 378 ff.) Interpretation des Speerwurfs als Kommunikation. 4 3 Tatsächlich scheinen Torhüter durch jahrelange Praxis besondere Fähigkeiten bei der Beobachtung des Bewegungsablaufs eines Spielers vor einem Elfmeterschuss entwickelt zu haben, mit deren Hilfe sie die Flugbahn des Balls besser antizipieren können als Spieler oder Laien (vgl. Tomeo et al. 2012). Zur Kritik an der Dominanz der visuellen Wahrnehmung gegenüber dem leiblichen Spüren, die im Begriff der face-to-face-Interaktion impliziert ist, vgl. Böhle und Weihrich 2010 sowie Meyer in diesem Band. 4 5 Das Dribbeln ist sozusagen konstitutives Merkmal des modernen Fußballspiels („dribbling game"), mit dem man sich in den 1860er Jahren vom Rugby („running game") abzugrenzen begann; vgl. Mason 1980. 44
Spielern bzw. dem Torwart vorbeizukommen, z. B. u m sich eine Gelegenheit zum Schuss aufs Tor zu erspielen. Ein entgegenkommender Abwehrspieler muss dann herausfinden, auf welcher Seite der Angreifer ihn umlaufen will, denn nur dann kann er ihm den Weg versperren und den Ball abnehmen. D a z u vollzieht er die Bewegungen des anderen Spielers spiegelbildlich nach. Ein gegnerischer Spieler, der den dribbelnden Spieler verfolgt und von hinten oder der Seite angreift, versucht ebenfalls die Bewegungen des anderen zu antizipieren, u m an den Ball zu gelangen. Gelegentlich versucht der ballführende Spieler seinen Angreifer auch mit einem so genannten Übersteiger zu verwirren: Dabei umkreist er abwechselnd mit dem linken und dem rechten Fuß den rollenden Ball und macht es auf diese Weise unmöglich, vorherzusehen, in welche Richtung er laufen bzw. schießen will. A n welcher Seite er dann schließlich an seinem Gegenüber vorbeigeht, hängt in hohem Maße von der Reaktion des Abwehrspielers ab. Alle diese Bewegungsabläufe sind sehr schnell, die Körper der Spieler kommen sich dabei in der Regel sehr nahe, wobei sie sich aber nicht ins Gesicht schauen, sondern auf den Ball bzw. die Füße des anderen. Wechselseitige Wahrnehmung liegt hier zweifellos vor - und zwar nicht nur visuell und akustisch, sondern auch taktil und olfaktorisch, denn die Spieler stoßen beim K a m p f u m den Ball mit ihren Körpern gegeneinander, verklammern sich ineinander und können dabei den Körper ihres Gegners spüren. Uber diese Wahrnehmung koordinieren sie ihr körperliches Verhalten und machen jeweils ihre eigenen Handlungen in hohem Maße von den Bewegungen des anderen abhängig. Wir haben es hier also mit Situationen gleichzeitiger Anwesenheit, wechselseitiger Wahrnehmung sowie wechselseitig aneinander orientiertem Verhalten und einem gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus zu tun. Dennoch scheint der Begriff der zentrierten Interaktion nur bedingt zur Beschreibung des Geschehens geeignet: Anders als bei den hauptsächlich von G o f f m a n beschriebenen face-to-face-Interaktionen geht es hier weder um Gesichtswahrung noch Eindrucksmanipulation. Wie bereits beschrieben, fungieren Körper in diesen Situationen gar nicht als Kommunikationsmedien, weil sie als von der Person entkoppelt wahrgenommen werden. Die Koordination des wechselseitigen Verhaltens basiert auf inkorporiertem Wissen und scheint zwischen den Körpern direkt ohne den Umweg über das diskursive Bewusstsein - also body-to-body — abzulaufen.
Marion Müller: Kopräsenz und Körperlichkeit im Sport G a n z Ähnliches gilt für das Zuspielen des Balls an einen Spieler der eigenen Mannschaft, das so genannte Passspiel. Ziel eines Passes ist es meistens, den Ball näher ans Tor der gegnerischen Mannschaft zu bringen u n d / oder im Ballbesitz zu bleiben. U m einen erfolgreichen Pass zu spielen, muss ein Spieler in der Lage sein, sowohl die Bewegungen (Laufwege, Schnelligkeit) und die Absichten des angespielten Spielers als auch diejenigen potentieller Angreifer zu antizipieren. Er muss den Ball im richtigen Moment (Timing) mit der richtigen Technik (abhängig von Fußstellung, Körperhaltung und Ballposition) und Stärke so schießen, dass dieser seinen Mitspieler im L a u f und möglichst noch auf dem richtigen Schussbein erreicht. Dabei müssen außerdem Bodenbeschaffenheiten, wie Nässe, Unebenheiten und Rasenhöhe berücksichtigt werden. Der Vorgang ist enorm komplex und erfordert große Körper- und Ballkontrolle. A u f Nachfrage sind die Spieler häufig nicht in der Lage zu erklären, woher sie wissen, wohin und wie genau sie den Ball spielen müssen, häufig ist dann die Rede von „Instinkt", „Intuition" oder „Spielintelligenz" (vgl. Müller 2 0 0 9 : 239 f.; Grégoire 2011). E s geht beim Passspiel aber keineswegs nur u m Spieltechnik, sondern auch u m eine Art sozialer Verschaltung der Spielerkörper miteinander. So sind die angespielten Mitspieler räumlich meistens zu weit entfernt, u m bei dem üblichen Lärmpegel im Fußballstadion verbal zu kommunizieren und auf diese Weise das Zuspiel anzukündigen. Häufig genügt ein kurzer Blick, u m einen Pass zu spielen. Meistens gibt es aber gar keinen Blickkontakt zwischen den Spielern, da zu wenig Zeit ist, und gelegentlich befindet sich der angespielte Mitspieler noch nicht einmal im Sichtfeld des Passgebers ( N o - L o o k Pass), so z. B. wenn ein Spieler den Ball im L a u f nach hinten kickt und ein Mannschaftskollege den Ball im vollen L a u f annimmt und weiterführt. Eine weitere bezüglich der wechselseitigen Koordination besonders anspruchsvolle Variante des Passspiels ist der Doppelpass. Hierbei wird der Ball zwischen zwei Spielern mehrfach direkt und sehr schnell hin und her gespielt. D a es dabei in der Regel wieder u m Raumgewinn geht, bleiben die Spieler dazu aber nicht stehen, sondern befinden sich im L a u f Richtung gegnerisches Tor. Spieler A schießt den Ball im L a u f zu Spieler B, der ihn sofort wieder in den L a u f von Spieler A zurückspielt. Auch beim Doppelpass ist in der Regel keine Zeit für einen Blickkontakt oder eine Geste des abgebenden Spielers, dass er den Ball gerne sofort wieder zurückgespielt bekommen
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möchte. Insofern lässt sich das Passspiel auch kaum als Kommunikation deuten. 4 6 Vielmehr reagieren hier primär kopräsente Körper aufeinander und miteinander. Spieler Β stoppt den Ball also nicht, schaut sich erst mal u m und überlegt, was er jetzt damit macht, sondern er tritt ihn praktisch im Moment der Ballannahme umgehend wieder zurück zu Spieler A (one touch). Ein solch schnelles und präzises Zusammenspiel setzt eine Art intuitives bzw. blindes Verstehen und das Wissen u m die Erwartungen und Erwartungserwartungen der Mitspieler auf den anderen Spielpositionen voraus. 4 7 Es stellt sich allerdings auch die Frage, ob es sich bei diesem Zusammenspiel u m eine Art einstudierter Choreographie handelt oder ob man solche Spielsituationen überhaupt vorhersehen und proben kann. Lässt sich Passspiel also trainieren bzw. handelt es sich bei der Fähigkeit zum GutePässe-Geben überhaupt u m eine vom praktischen Spiel abstrahierbare individuelle Fähigkeit oder ist sie nicht vielmehr untrennbarer Bestandteil eines konkreten Spiels? Tatsächlich werden Passspiel und einzelne Spielzüge zwar häufig trainiert, aber aufgrund der Komplexität eines Fußballspiels lassen sich Abläufe nicht vorhersehen und nur selten wiederholen. Insofern besteht Fußballspielen auch weniger aus Routinen, sondern vor allem aus variablem technisch-taktischem Spielvermögen, dessen Entwicklung dann auch das erklärte Ziel des Trainings ist (vgl. Alkemeyer 2009). Die Spieler lernen, Spielsituationen schnell zu erfassen und richtig zu reagieren. Es geht also weniger u m technische Abläufe von Körperbewegungen mit dem Ball als vielmehr darum, diese Bewegungen und Verhaltensweisen in konkrete soziale Situationen angemessen einzupassen und in Abstimmung mit den Mitspielern anzuwenden. Der Spieler muss also zum kreativen Einsatz und zur Variation seines praktischen Könnens in Abhängigkeit von der Situation und seinen Mitspielern in der Lage sein. M a n könnte hier auch von der Fähigkeit zur Improvisation oder „responsive openness" sprechen (vgl. Collins 2001; Hemphill 2005: 109). Dieser spontan miteinander harmonisierende Spiel-Instinkt, der in der Lage ist, sich antizipatorisch denjenigen Situationen anzupassen, deren Produkt er ist, bildet sich offenbar erst durch langjährige Erfahrung auf dem
Eine andere Ansicht vertritt Pethes 2011: 182. Sehr aufschlussreich dazu auch Esser (1991). 4 7 Vgl. dazu Meads (1973:194 ff.) Beschreibungen zur Rollenübernahme beim Baseball. 46
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Fußballfeld, dem Umgang mit dem Ball und der Auseinandersetzung mit den Anforderungen an eine bestimmte Position in einer Mannschaft heraus (vgl. Bourdieu 2001: 186; Hughson & Inglis 2002). Ein ehemaliger Mittelfeldspieler des FC Bayern München beschreibt die sprachlose Verständigung im Zusammenspiel folgendermaßen: „Und wenn ich weiß, ich bin linker Verteidiger in einer Mannschaft, dann weiß ich, was der Trainer meint, egal, ob ich ihn verstehe, weil wenn ich die Qualität habe, auf der Position zu spielen (...), dann weiß ich, was mich dort erwartet. (..) Mit Bizente Lisarazou, mit dem ich sechs Jahre zusammengespielt habe, habe ich mich vielleicht nur vier Sätze unterhalten. Aber wenn wir auf dem Fußballplatz waren, wussten wir genau, was wir zu tun haben. Da braucht man die Sprache aus meiner Sicht nicht. (...) da sind wir auch wieder beim Thema Spielintelligenz. Wenn ich dieses ... mitbringe, dann weiß ich, was gemeint ist. Dann verstehe ich das auch auf Grund dessen, dass ich einfach nur was sehe und beobachte und meine eigenen Erfahrungen habe. Wenn ich natürlich 18 bin und keine Erfahrung habe, dann ist die Sprache wichtig. (...) Beim Fußball insgesamt (...) da geht es darum, ,wie hoch ist die Qualität des Spielers, die ich habe' und ,wie hoch ist die Spielintelligenz'... zu erfühlen, was meine Kollegen wollen und was die Mannschaft am Ende braucht und was sie will." (Quelle: eigenes Datenmaterial) Das hier beschriebene Zusammenspiel der beiden Spieler funktionierte also auch ohne eine gemeinsame gesprochene Sprache reibungslos. Demnach hat ein guter Spieler die Erwartungen und Erwartungserwartungen seiner Mitspieler vollkommen verinnerlicht - und zwar ohne bewusste Absprachen. Diese Beschreibungen entsprechen also ziemlich genau dem Konzept des „praktischen Sinns" oder „tacit knowledge". Er begründet dieses „wortlose Verstehen" mit dem Verweis auf eine zugrundeliegende „Spielintelligenz", die ein Spieler allerdings erst durch jahrelange Erfahrung im Spiel und auf einer bestimmten Position erwerben muss. Entsprechend spielt zu Beginn einer Spielerkarriere auch noch die Sprache und vermutlich das intellektuelle Begreifen, welche Bewegungen und Abläufe vollzogen werden müssen, eine wichtige Rolle. Erst im Laufe der Jahre werden dann die positionsspezifischen Erwartungen und Erwartungserwartungen verinnerlicht, so dass das Handeln des anderen automatisch begriffen und nahtlos in das eigene Handeln eingepasst werden kann. Der Spieler deutet hier also eine Art Institutionalisierungsprozess an, bei dem der praktische Vollzug des Passspiels sowie die wechselseitigen Erwartungen der Mitspieler zunächst begriffen und bis hin zur vollkommenen Inkorporierung verinnerlicht werden müssen.
4. Ein vorläufiges Fazit: Interaktionen und ihre Praktiken Ausgangspunkt und erklärtes Ziel des Beitrags war es zunächst, das von Gerd Müller zu Beginn beschriebene typische soziale Verhalten beim Fußballspiel genauer zu analysieren. Dafür wurden sowohl interaktions- als auch praxistheoretische Überlegungen verwendet und hinsichtlich ihrer Kompatibilität diskutiert. Dem hier zugrundegelegten relativ breiten Interaktionsverständnis zufolge, realisiert sich Kommunikation unter Anwesenden dann, wenn Ego und Alter ihre wechselseitige Wahrnehmung wahrnehmen, Erwartungserwartungen bilden und ihr Verhalten an den bewusst oder unbewusst abgesonderten Zeichen des anderen orientieren. Anhand ausgewählter Beispiele aus dem Fußball wurde deutlich, dass mit Hilfe eines kommunikationsbasierten Interaktionsbegriffs nur bestimmte Ausschnitte eines Fußballspiels, z.B. Körperrituale und Selbstinszenierungen der Spieler, erfasst werden können, während der eigentliche praktische Vollzug des sportlichen Leistungsvergleichs, wie der Kampf um den Ball, das Passspiel oder auch der Schuss aufs Tor, nicht zufriedenstellend analysiert werden können. Derartige präreflexiv ablaufenden Tätigkeiten, die auf praktischem gegenseitigem Verstehen basieren und das Produkt einverleibter Erwartungserwartungen sind, lassen sich kaum mehr als Kommunikation und damit auch nicht als Interaktion beschreiben. Grundsätzlich gehören zwar auch solche Körperpraktiken zu Goffmans (1994: 68) „interaktivem Zoo", im Vordergrund seiner Analysen stehen aber doch vor allem Techniken der Imagepflege ( f a c e work), bei deren Erforschung er insbesondere die visuelle Wahrnehmung (face-to-face) fokussiert, während die Wahrnehmungsfähigkeiten des restlichen Körpers und die damit verbundene körperliche Reaktionsfähigkeit ohne Beteiligung des diskursiven Bewusstseins ( b o d y - t o - b o d y bzw. beim Fußball vielleicht besser foot-to-footAi) nicht systematisch bearbeitet werden. Goffman schenkt diesen Unterschieden in Tätigkeits- und Erkenntnisform bei seinen Analysen jedoch nur wenig Beachtung. An eben dieser Stelle setzen praxistheoretische Ansätze an, die sich vor allem mit der Frage nach dem Wie bzw. dem Vollzug sozialer Wirklichkeit beschäfErste Überlegungen zur haptischen Wahrnehmungsfähigkeit der Füße finden sich bei Ingold 2004 und Allen Collinson & Hockey 2010: 337.
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tigen. Die Unfähigkeit der Spieler, klar zu artikulieren, wie genau ein Tor zustande kommt, hat offenbar weniger mit intellektuellen Defiziten der Sportler als mit dem speziellen Tätigkeitsmodus sozialer Praktiken zu tun. Genau wie ein Jazzpianist nur darauf verweisen kann, dass die Finger die Tasten wie von selbst finden (vgl. Sudnow 1978), bleibt Gerd Müller wenig mehr zu sagen, als „... und plötzlich war der Ball drin." 49 Aufgrund langer Erfahrung im Umgang mit dem Ball, einer Position auf dem Feld und im Zusammenspiel mit seinen Mannschaftskollegen und Gegnern wird eine spezielle Form von Wissen inkorporiert, die dann die Bewegungen des eigenen Körpers auf dem Feld und im Einklang mit den Bewegungen der anderen Spieler anleitet. Im Fußball scheint man ein Bewusstsein dafür zu haben, dass es sich bei dieser Fähigkeit um einen besonderen Tätigkeitsmodus handelt, der sich auch vom alltagstheoretischen Handlungsverständnis unterscheidet, deshalb spricht man hier von „Spielintelligenz" oder auch vom „Torinstinkt".
363 ballers aus München nahelegen, ist z. B. auch eine Art Institutionalisierungsprozess denkbar, in dessen Verlauf Kommunikation sowie die wechselseitigen Erwartungserwartungen zunehmend verinnerlicht und inkorporiert werden, bis die Bewegungen schließlich im Laufe der Zeit vollkommen habitualisiert sind und einem praktischen gegenseitigen Verstehen zwischen den verschiedenen Mannschaftsmitgliedern entspringen (vgl. dazu auch Luckmann 1992: 131 ff.).
Mit Hilfe der soziologischen Konzepte von Interaktion und Praxis lassen sich letztlich also immer nur Teilaspekte der Situation erfassen. Beide Ansätze haben komplementäre Stärken und Schwächen: Während mit der Verwendung einer interaktionstheoretischen Perspektive der praktische Vollzug des Fußballspiels nur unzureichend beschrieben werden kann, übersehen praxistheoretische Ansätze, dass es sich beim Fußball um ein situationell gebundenes Phänomen handelt. Daher empfiehlt es sich aus einer forschungspragmatischen Perspektive beide Theoriestränge stärker miteinander zu verknüpfen. Wie bereits die Analysen Goffmans zeigen, handelt es sich bei Kommunikation und sozialer Praxis keineswegs um Tätigkeits- und Erkenntnisformen, die sich gegenseitig ausschließen, sondern lediglich um zwei verschiedene Formen sozial situierter Aktivität, die sich auch als zwei Punkte auf einem Kontinuum beschreiben lassen. Während am einen Endpunkt explizite verbale Kommunikation steht, befinden sich am anderen Ende voll habitualisierte körperliche Praktiken. Dazwischen gibt es dann zahlreiche Abstufungen des praktischen Vollzugs verbaler, non-verbaler Kommunikation und embodied practiced Wie die Beschreibungen des ehemaligen Fuß-
Neben den Unterschieden im Tätigkeitsmodus sollte bei der Analyse sozialer Begegnungen aber auch berücksichtigt werden, inwiefern eine soziale Situation nur zufällig unter Anwesenheitsbedingungen stattfindet oder ob sie situationell gebunden ist. So konnte für den Funktionsbereich des Sports im Allgemeinen bzw. den Fußball im Besonderen gezeigt werden, dass die Durchführung sportlicher Leistungsvergleiche auf Kopräsenz angewiesen ist und zu großen Teilen in Form inkorporierter sozialer Praktiken, sozusagen body-to-body, vollzogen wird. Im Gegensatz dazu kann man z. B. für den Bereich der Wissenschaft vermuten, dass verbale Kommunikation vorherrscht, die nicht an Anwesenheit gebunden ist. Mit diesem Befund liefert die vorliegende Arbeit also einen empirischen Beitrag zu der bisher kaum bearbeiteten Frage nach dem Zusammenhang zwischen funktionaler und sozialer Differenzierung. Darüber hinaus lässt sich vermuten, dass das Vorherrschen eines bestimmten Tätigkeitsmodus unter den Bedingungen körperlicher Kopräsenz Auswirkungen auf die Struktur der Interaktionsordnung hat. So scheinen sich im Sport auf der Basis funktionsspezifischer Vorgaben und der Dominanz von body-to-body Praktiken besondere Regelstrukturen herausgebildet zu haben, die deutliche Unterschiede zu der von Goffman beschriebenen „allgemeinen" Interaktionsordnung aufweisen. Diese sportliche Interaktionsordnung - man könnte sie auch als „Grammar of Sporting" 51 bezeichnen - beinhaltet Regeln und Formen zur Organisation des sportlichen Leistungsvergleichs unter Anwesenden. Die Form der Wettkampfsituationen unter der Bedingung körperlicher Kopräsenz lässt sich dabei als standardisierte organisatorische Praxis des sportlichen Leistungsvergleichs beschreiben. 52 Durch
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G a n z ähnlich unspezifisch auch die typische FußballPhrase: „den Ball rein machen". 50 Ähnlich unterscheidet Goodwin (2000) zwischen verschiedenen Formen von Aktivität resp. „semiotischen Feldern" innerhalb sozialer Situationen.
Inspiriert durch den von Tyack und Tobin (1994) geprägten Begriff „Grammar of Schooling". 52 Eine weitere organisatorischer Praxis des Leistungsvergleichs ist die Unterteilung der Athleten in Leistungsklassen; vgl. Müller 2006.
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die außeralltägliche Ereignishaftigkeit und die Inszenierung von Ungewissheit sowie die besondere räumlich-zeitliche Dichte von Entscheidungen werden sportliche Wettbewerbe als schicksalhafte Situationen mit großer Emotionalität wahrgenommen (vgl. Goffman 1973a: 164 ff.). Dazu trägt nicht zuletzt auch die Unkontrollierbarkeit unmittelbarer Interaktionen bei. Insofern erscheint die strukturelle Prägung des Sports durch das „Technologiedefizit" ihrer Angewiesenheit auf face-to-face-Interaktionen ein nicht unerwünschter Nebeneffekt für das Publikum zu sein, wird doch auf diese Weise die Unvorhersehbarkeit und damit auch die Spannung bezüglich des Ergebnisses gesteigert. Eine weitere Besonderheit dieser sportspezifischen Interaktionsordnung scheinen die beschriebenen Regeln für den körperlichen Umgang miteinander im Rahmen sportlicher Begegnungen zu sein: Durch die für den Leistungsvergleich notwendige Beobachtung von Körpern kommt es vermehrt zu bestimmten Formen körperlicher Selbstdarstellung sowie zur Aufhebung der üblichen Körpergrenzen. Zwischen den Sportlern entstehen regelrechte Berührungssysteme sowie eine besondere Form körperlicher Intimität. Es ist zu vermuten, dass die Angewiesenheit des sportlichen Wettkampfs auf unmittelbare Interaktion und die damit verbundenen Unsicherheiten auch für andere Ebenen sportlicher Sozialität nicht folgenlos bleiben. Auch wenn an dieser Stelle kein Platz für eine ausführlicher Erörterung dieses Zusammenhangs ist, soll doch zumindest auf eine mögliche Konsequenz bezüglich der Ebene der formalen Organisationen des Fußballs hingewiesen werden. So ist zu vermuten, dass die für das Publikum so lustvoll spannungsreiche situationsbedingte Kontingenz von Spielverlauf und Spielausgang zu erheblichen Schwierigkeiten bei den Planungs- und Steuerungsprozessen der Fußballklubs führt. Sportlicher Erfolg ist im Fußball kaum planbar, sondern unterliegt den Unwägbarkeiten direkter Interaktion, wodurch die Rationalität von Fußballklubs strukturell eingeschränkt und die organisatorisch geplante Steuerung sportlicher Wettkämpfe erheblich erschwert wird. Eine Möglichkeit zur Kaschierung dieser Unsicherheiten und Steuerungsprobleme bieten vermutlich hastige und drastische personalpolitische Entscheidungen. Entsprechend werden Trainer im Fußball so schnell entlassen wie in kaum einer anderen Branche, so dass es im internationalen Fußball mittlerweile eine Art Rotationssystem für Fußballtrainer zu geben scheint. Dadurch wird die
interaktionsbedingte Unsicherheit sportlicher Leistungsvergleiche letztlich auf die Ebene organisationaler Entscheidungen verschoben.53 Abschließend bleibt nur darauf hinzuweisen, dass die hier vorgestellten Ergebnisse sich lediglich auf Daten aus dem professionellen (Herren-)Fußball stützen und daher vergleichende Untersuchungen in anderen Sportarten sowie anderen Leistungsund Geschlechtsklassen wünschenswert sind. Hier stellt sich die Frage nach den Unterschieden im Vergleich zu Sportarten, die weitaus weniger als das Fußballspiel auf Kopräsenz und die Beobachtung von Körpern angewiesen sind, wie ζ. B. im Schach. Findet man hier ebenfalls Hinweise auf eine eigene sportliche Interaktionsordnung, in der sich die besondere Bedeutung der körperlichen Dimension des Geschehens widerspiegelt? Und inwiefern werden verschiedene Sportarten von unterschiedlichen Modi situierter Aktivität dominiert? Die Frage nach dem Verhältnis der beiden sozialtheoretischen Konzepte Interaktion und soziale Praxis, die hier am Beispiel des Fußballs illustriert wurde, bedarf sicher noch weiterer theoretischer Aufarbeitung. Neben der Sportsoziologie könnte das gerade neu auftauchende interdisziplinäre Forschungsfeld der „interactional mobility studies", das sich mit der Schnittstelle zwischen unmittelbarer Interaktion und Bewegung befasst, eine mögliche Anschlussstelle für weitere Überlegungen bieten (ζ. B. Haddington et al. 2013; Mondada 2013; Adey 2010). Hier finden sich u.a. Interaktionsanalysen sportlicher Praktiken, in denen unterschiedlichen Aktivitätsformen multimodaler Interaktion sowie das situated accomplishment kollektiver hochkomplexer Bewegungsformen untersucht werden. Die Ergebnisse derartiger Analysen könnten den Hintergrund bilden für weitere begriffliche und theoretische Klärungen des Zusammenhangs von Interaktion und Praxis.
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Z u den Auswirkungen auf die Spielerrekrutierung in den Fußballklubs vgl. Müller 2009: 223ff.
Marion Müller: Kopräsenz und Körperlichkeit im Sport
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Autorenvorstellung Marion Müller, geb. 1973 in Mainz. Studium der Soziologie und Kulturanthropologie in Mainz. Promotion in Bielefeld. Von 2 0 0 2 - 2 0 0 4 wiss. Mitarbeiterin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und von 2 0 0 4 - 2 0 1 3 wiss. Mitarbeiterin an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld; seit 2013 Juniorprofessorin für Soziologie mit den Schwerpunkten Kultur- und Wissenssoziologie an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Interaktionssoziologie, Körper- und Sportsoziologie, Geschlechtersoziologie, Soziologie der Ethnizität. Wichtigste Publikationen: Fußball als Paradoxon der Moderne: Historische und ethno-graphische Analysen zur Bedeutung ethnischer, nationaler und geschlechtlicher Differenzen im Profifußball, Wiesbaden 2009; Wissenssoziologische Perspektiven auf ethnische Differenzierung und Migration: eine Einführung (mit D. Zifonun) in: M . Müller & D. Zifonun (Hrsg.), Ethnowissen. Soziologische Beiträge zu ethnischer Differenzierung und Migration, Wiesbaden 2010; zuletzt in dieser Zeitschrift: „The evils of racism and the wealth of diversity" - Zum Bedeutungswandel der Rassenkategorie in den UN-Weltkonferenzen gegen Rassismus, in: Zeitschrift für Soziologie 43 (2014), 6.
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft, 2014, S. 3 6 9 - 3 8 9
Die Arbeit an den Positionen - Zur Mikrofundierung von Politik in Abgeordnetenbüros des Deutschen Bundestages The Work on Positions - The Micro-Foundation of politics in MPs' offices of the German Bundestag Thomas Scheffer Soziologie mit Schwerpunkt Interpretative Sozialforschung, Johann Wolfgang Goethe-Universität [email protected]
Zusammenfassung: Der Beitrag rekonstruiert die methodische Fertigung politischer Sachpositionen auf der Grundlage ethnographischer Feldaufenthalte in Abgeordnetenbüros des Deutschen Bundestages. Zentral für die Analyse sind die Serien von Arbeitsepisoden, die in Positionen investiert werden. Das jeweilige Positionsvorhaben liegt den Mitarbeitern als ein formatives Objekt vor, anhand dessen diese ihre Beiträge anbringen, Abstimmungen vornehmen, Bearbeitungsbedarfe sichten, etc. In der Abfolge der Arbeiten werden sukzessive Probleme, Maßnahmen und Haltungen zu einer Einheit integriert / geformt. Diese Ausformung leistet immer wieder neu die Mikrofundierung des politischen Systems. Quer zur Ebenen-Unterscheidung von Interaktion-Organisation-Gesellschaft zeigt sich so der immense praktische Aufwand, der nötig ist, um kollektiv verbindliche, inhaltliche Festlegungen für die Teilnahme an der massendemokratischen Konkurrenz bereit zu stellen. Hier erweist sich zunächst die integrierte politische Position - nicht schon die Macht - als generalisierendes Medium. Sie wird einerseits zur situativen Positionierung im politischen Diskurs (Verfahren, Debatte, ein Politikfeld) genutzt; sie bestückt andererseits das politische Archiv und dessen übergreifende, kritische Abgleiche der Positionen. Schlagworte: politische Positionen; formatives Objekt; generalisiertes Medium; Ethnographie; trans-sequentielle Analyse; politisches System Summary: The article reconstructs the methodical fabrication of political positions on the basis of ethnographic fieldwork in MPs' offices within the German parliament. The analysis focusses on series of work episodes that are invested into positions. The office workers deal with the concrete position-project as a formative object. The object allows them to contribute here/ now, to coordinate their work, to assess the current state, etc. In the succession of object-work, the workers integrate / form a unity of problem, measure, and conviction. This formation realizes a continuous micro-foundation of the political system. Not within, but across interaction, organization and society do we learn how much practical effort is required, in order to provide for the collectively binding resolutions necessary to take part in the mass-democratic competition. It is, first of all, the political position — not power already — that serves as generalized medium. On the one hand, it serves as a means for situated positioning (in a procedure, a debate, a policy); on the other hand, it equips the political archive and its cross-cutting critical reception of positions. Keywords: Political Position; Formative Object; Generalized Medium; Ethnography; Trans-Sequential Analysis; Political System.
1.
Einführung
Praxisanalyse. Andererseits richtet sie den F o k u s a u f situierte Vollzüge gegenüber
Systemtheorie u n d E t h n o g r a p h i e sind A n t i p o d e n .
systemtheoretischen
R a h m u n g e n . I m M i t t e l p u n k t der systemtheoretisch
Ihr Verhältnis ist von wechselseitigen Vorbehalten
informierten (nicht: systemtheoretischen!)
geprägt. E t h n o g r a p h i s c h e s gilt Systemtheoretikern
graphie steht d a n n die Frage, wie g e n a u i m Parla-
als gesellschaftsvergessen u n d theoriefern; System-
mentsbetrieb vollwertige Beiträge z u m politischen
theoretisches gilt E t h n o g r a p h i n n e n als holzschnitt-
S y s t e m erarbeitet werden.
artig u n d empiriefern. D i e hier präsentierte S t u d i e
D i e s e Frage nach der M i k r o f u n d i e r u n g des politischen Systems n i m m t drei M o t i v e auf, die N i k l a s
zur Arbeit der A b g e o r d n e t e n b ü r o s i m deutschen B u n d e s t a g s c h l ä g t eine andere B e z i e h u n g vor. Einerseits mobilisiert sie L u h m a n n ' s c h e M o t i v e f ü r ihre
Ethno-
L u h m a n n seiner Disziplin als „soziologische A u f k l ä r u n g " a u f t r u g : die P e r f o r m a n z von Gesellschaft-
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lichkeit (a), die Selbst-Strukturierung dieser Performanz entlang von Operationsweisen (b) und die vorselektierende Medialität des sozialen Austausches (c). Im Einzelnen: (a) Auch die scheinbar stabilen, weitreichenden kommunikativen Zusammenhänge müssen fortwährend unterhalten werden. Luhmann interessiert, wie unter diesen Bedingungen die Reproduktion von Systemen wahrscheinlich wird. 1 (b) Den Eigensinn der Systeme verortet Luhmann nicht im subjektiv gemeinten Sinn oder den Routinen der Praktiker, sondern allein entlang der Operationsweise, d. h. der Verknüpfung von selektierenden Kommunikationen, (c) Strukturierend wirkt die Medialität der Operationen, insofern sie Engführungen vermittelt und stabilisiert. Die Medialität spezifiziert, was ab jetzt überhaupt noch anschlussfähig wäre. So reduzieren generalisierte Kommunikationsmedien den Fortgang auf eine binäre Wahl. Es sind die mediierten Operationen, die fortwährend und gleichzeitig je eigensinnige Bereinigungen von Mehrdeutigkeit leisten sowie verengen, was sich (noch) systemrelevant kommunizieren lässt. Was ist demgegenüber die Rolle der ethnographischen Mikrofundierung? Anders als Luhmanns Fokus auf je systemeigene Operationsweisen mit ihren Vergangenheiten und Zukünften in Differenz zu anderen, systemfremden Operationsweisen fragt die Mikrofundierung nach der schrittweisen Fabrikation differenzierter rechtlicher 2 , wissenschaftlicher 3 , ökonomischer 4 oder wie hier politischer Kommunikationen. Sie vollzieht nach, wie die Teilnehmerinnen (in welchen Konstellationen und womit) adäquate Beiträge fertigen (können): entscheidbare Fälle, unterschriftsreife Verträge, zitierfähige Fachaufsätze oder wie der Parlamentsbetrieb: kollektiv bindende Sachpositionen.5 Die Mikrofundierung 1 Jüngere systemtheoretische Beiträge suchen in der Notwendigkeit zur Performanz die Nähe zur Praxeologie (Nassehi 2008) und Ethnomethodologie (Schneider 2008). 2 Vgl. die rechtsanthropologischen Arbeiten bei Flood 1983 oder Scheffer 2010. 3 Vgl. die Laborstudien bei Latour & Woolgar 1979, Latour 1999 oder Knorr 2003 sowie die Arbeiten zum Review Verfahren bei Hirschauer 2004. 4 Vgl. Ethnographien zur Finanzökonomie bei Knorr & Bruegger 2002, Callón & Muniesa 2005 oder Kalthoff 2007. 5 Mit „Positionen" sind hier nicht, wie bei L u h m a n n (1986), Ämter gemeint. Nach L u h m a n n geht es in der Politik „um Innehaben bzw. Nichtinnehaben der Position, in denen öffentliche Gewalt ausgeübt werden kann und von denen aus sich regulieren lässt, wer politischen Einfluss hat, in welchen Angelegenheiten und wie viel." (ebd.:
vermag Luhmanns Idee des dauernden, gleichzeitigen Operierens in je systemeigenen Medien empirisch zu fassen und zu respezifizieren. Erste Hinweise auf diese Diskursbeiträge als relevante Orientierung des Personals der Abgeordnetenbüros notierte der Feldforscher6 als „analytisches Memo" (Emerson 2011) in der zweiten von vier Feldphasen. Die Feldnotiz ist - wie die anderen Notizen zu Arbeitsepisoden - nummeriert, um spätere Rückbezüge in der transsequentiellen Analyse zu erleichtern: (1) Ich höre hier nur noch „Position": „Das Büro Meier hat dazu eine andere Position!" „Die haben dazu noch keine dezidierte Position!" „Wir müssen Position beziehen!" „Positionen" haben offenbar verschiedene Gegenstände, Arenen und Abnehmer. Die Mitarbeiter beziehen zugleich alles Mögliche auf eine Position: sei es die .Änderung der Tagesordnung', die Verfahrensverschleppung im Fachausschuss', die .ausweichende Antwort des Staatssekretärs' etc.
Welchen systemischen Stellenwert haben diese Positionen? Positionen, so eine generelle Antwort, sind hier von grundlegender Bedeutung als kollektive Festlegungen zu Sachfragen, die als politische Diskursbeiträge gegen andere öffentlich zum Zuge kommen. Mittels dieser formulieren Abgeordnete im Namen der Fraktion öffentliche Beiträge, etwa zur Klimadebatte oder zur Rentenfrage. Die Mikrofundierung erkennt in Positionen unwahrscheinliche Resultate einer organisierten und methodischen Arbeit der Büros.7 Der emische Begriff der Position ist deshalb schwer zu fassen, weil er diese in unterschiedlichsten Stadien ihrer Verfertigung
170) Es geht hier auch nicht um das „positioning" von Individuen in strategischen Situationen im Sinne der Positionierungstheorie (vgl. Davies & Harre 1991; Harré 1999 sowie Nullmeier et al. 2003; Pritzlaff 2003). Der Fokus auf das „positioning" verfehlt die Relevanz der Sachpositionen als Medium der Politik. 6 Ich möchte mich bei Elisa Bertuzzo für ihre ergiebige Feldforschung im letzten der vier Abgeordnetenbüros bedanken. Viele Ideen lieferten die Mitstreiterinnen des Berliner Arbeitskreises „Politische Ethnographie": neben Lydia-Maria O u a r t , Jan Schänk, Thomas Schmidt-Lux und Mirjam Staub vor allem Matthias Michaeler, Martina Kolanoski und Eva Kiefer. Außerdem gilt mein D a n k den konstruktiven Gutachtern der ZfS sowie dem unermüdlichen H a r t m a n n Tyrell. 7
Damit folgt die Mikrofundierung nicht der systemtheoretischen Strategie von Japp u n d Kusche (2004), die die Unterscheidung von Herstellung und Darstellung als Selbstbeobachtung des Systems untersuchen, also danach fragen, wo im politischen System diese Differenz kommuniziert wird.
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Thomas Scheffer: Die Arbeit an den Positionen
bezeichnet: von der ersten Idee in kleiner Runde bis zur öffentlichen Manifestation im Plenum des Bundestages. Ich will im Folgenden die Arbeit der Büros an den Sachpositionen über Entwicklungsstadien hinweg nachvollziehen und auf diese Weise die Mikrofundierung des politischen Systems im Parlamentsbetrieb skizzieren. 1.1 Zur Mikrofundierung Die Mikrofundierung untersucht die Herbeiführung von Positionen, bevor sie in einer politischen Öffentlichkeit kommuniziert werden. Diese Perspektive auf Positionen-im-Werden bricht mit zwei systemtheoretischen Perspektivierungen: (a) der auf die medial erreichte Konnektivität systemspezifischer Operationen und (b) der auf die ausschließenden Qualitätsschwellen der Systemebenen. Zu (a): Luhmann unterscheidet soziale Systeme entlang der verknüpften Kommunikationen: Äußerungen unter Bedingungen der Kopräsenz (Interaktion), Entscheidungen durch /für Mitglieder (Organisation), generalisierte Kommunikationsmedien (Gesellschaft). Diese bilden einen je „selbstreferentiell geschlossenen Zusammenhang aneinander anschließender Operationen gleichen Typs" (Schneider 2008: 470). Für die Politik geht es dann primär um die Leistungsfähigkeit ihres generalisierten Kommunikationsmediums, der Macht, als Potentialität für kollektiv bindende Entscheidungen (Nassehi 2009). Zu (b): Betont werden mit der Systemtrias Anschluss- oder Qualifizierungsschwellen: etwas ist Wahrnehmung, aber noch nicht Interaktion (also nicht für ein Gespräch verfügbar); etwas ist Interaktion, aber noch nicht Entscheidung (also nicht für die Organisation verfügbar); etwas ist Entscheidung8, aber noch nicht - mit Blick auf die Politik - Macht (also nicht zur Regierung verfügbar). Die Schwellen verfrachten alles Weitere in die Systemumwelt. Sie bestimmen, was nicht zählt. Luhmanns Perspektiven auf den systemischen Eigensinn fügt die Mikrofundierung ein praxeolo„Als Vollzug von Gesellschaft muss das Entscheiden als Kommunikation vollzogen werden. Es geht also nicht um innerpsychische Prozesse der Willensbildung und auch nicht um das .private' Bewusstsein der Auswahl zwischen Alternativen" (Luhmann 2 0 0 2 : 2 3 4 ) und weiter: „Ausschlaggebend ist, dass eine Kommunikation früher oder später als (geplante, vermiedene, vollzogene) Entscheidung gelesen werden kann." (ebd.) Die Entscheidung hat ihre Vorgeschichte nur in früheren Entscheidungen, nicht in dem Streben von Entscheidungsträgern und M a c h t h a b e r s 8
gisch-rekonstruktives Moment hinzu: die Überund Herbeiführung von Operationen auch über Qualifizierungsschwellen hinweg. Hier übersetzen die Teilnehmer in wechselnde Medialitäten, etwa die „schweigsame Sozialität" (Hirschauer 2001) in Wortbeiträge, das gesprochene Wort in Dokumente, Dokumente in Entscheidungen etc. Die Einheit der Untersuchung bilden dann formative Objekte, die in gereihten Episoden ausgeformt und relevant gemacht werden. Die Mikrofundierung stellt soziale Situationen als Arbeitsepisoden ins Zentrum der Analyse: in ihrer Gegenwärtigkeit und in ihrem produktiven Niederschlag.9 Welche Aspekte von Politik geraten in den Blick, wenn wir den Fokus auf die Ebenen übergreifende Fertigung von Systembeiträgen legen und nicht auf je eine funktionierende Operationsweise und ihre Umweltverhältnisse? Es ist der ,verdeckte' Parlamentsbetrieb mit den lokalen Arbeitsvollzügen wie Schreibsessions, Bürobesprechungen, Koordinationstreffen etc. Es sind die Büros als Zulieferer des kommunikativen Zusammenhangs der Politik. Um die situierten Vollzüge als produktive Episoden zu erkunden10, schlage ich einen Begriffsapparat vor, der auf Übersetzungen zwischen Modalitäten und Medialitäten abhebt. Dieser stellt sich im Vergleich zur systemtheoretischen Dogmatik wie folgt dar: Von Interaktion zu situativen Episoden: Wir beobachten, statt selbstbezüglicher Interaktionssysteme, „soziale Situationen" von „Moment zu Moment" (Goffman 1981). In deren Verlauf vermögen Teilnehmer die Bezugsrahmen inklusive der Adressatenkreise wie der Relevanzen zu variieren. Es erwachsen Episoden für einen Prozess durch Rück- und Vorgriffe, die auch Abwesende einbeziehen.
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Knorr reformuliert diese Ausblendung kritisch: Dem-
nach blendet das systemtheoretisch bereinigte (Untersuchungs-)Feld wesentliche Teile des „realzeitlichen Geschehens" (1992: 4 0 7 ) und „internen Funktionierens" (ebd.: 4 0 6 ) aus. 10 Auch hier bleibt Luhmanns Analyse der Operationsweise und ihren Umweltverhältnissen verpflichtet. Demnach bindet die Organisations- oder Gesellschaftsgeschichte „nicht ohne weiteres auch die Interaktion" (Luhmann 2011: 13). Eine Vorbedingung dieser Autonomie „scheint zu sein, dass Interaktionssysteme zwar gleichzeitig operieren mit den Systemen, deren Strukturen sie aufzulösen suchen, aber in anderen Zeithorizonten. Sie teilen mit den betroffenen Systemen die Gegenwart, sonst wäre keine Kommunikation möglich, aber nicht die Vergangenheit und nicht die Zukunft" (ebd.). Der Preis für die Autonomie besteht in der relativen Irrelevanz.
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Von Organisation zu organisierenden Prozessen: Wir beobachten, statt einer selbstbezüglichen Organisation, die Verkettung von Arbeitssituationen als Episoden einer Fertigung. Im Zuge der Fertigung verfestigt sich das Gefertigte zur Gegebenheit. Der Raum für Modifikationen verengt sich. Elemente sind zusehends integriert und unverrückbar. Der je aktuelle Bearbeitungsstand des (Zwischenprodukts moderiert die arbeitsteiligen Verrichtungen der Mitglieder. Von Gesellschaft zum Kommunikationszusammenhang: Wir beobachten, statt eines selbstbezüglichen gesellschaftlichen Funktionssystems, einen je gegenwärtigen „Kommunikationszusammenhang" (Nassehi 2008) mit je spezifischen Reichweiten. Das politische System als Ganzes operiert per Kompaktmedium, das mit seinen Anschlüssen den Zusammenhang raumzeitlich erschließt und integriert. Dieser lose BegrifFsapparat erlaubt die Rekonstruktion der Verfertigung und Qualifizierung von politischen Diskursbeiträgen über „Systemebenen" (Tyrell 2008) hinweg und ohne einen funktionalistischen Gelingensbias. Viele Fertigungen bleiben tatsächlich auf der Strecke bzw. werden, statt zum Fall des politischen Betriebs, zu seinem Abfall. Das Zurückgelassene lässt sich mit Blick auf eine Relevanzkarriere einordnen: Demnach gerät nicht jede Idee auch zum Auftrag; nicht in jeden Auftrag investieren die Büros genügend Zeit und Mühe; nicht jedes Resultat der Bemühungen vermag die Gruppierung hinter sich zu scharen; und schließlich: Nicht jede kollektive Repräsentation setzt sich gegen die Konkurrenz durch. Die Arbeitsepisoden sortiere ich im Folgenden entlang dieser Selektivität und Qualifizierung hin zum vollwertigen Beitrag. 1.2 Zur transsequentiellen Analyse Die Mikrofundierung des politischen Systems erschließe ich in Anlehnung an die für juristische und administrative Verfahren entwickelte „transsequentielle Analyse" (Scheffer 2012).11 Die TSA nimmt Grundpositionen der Ethnomethodologie auf, indem sie Bedeutung im Vollzug verortet. Et-
11 Untersucht wurde z.B. die Fallarbeit des englischen Prozessanwalts, des Barrister, über die Momente eines Gerichtstages hinweg (Scheffer 2 0 1 0 ) oder die Karriere eines Alibis in den Momenten seiner Äußerung und Verwendung (ebd.). Eine weitere Anwendung der T S A bezieht sich auf das Asylverfahren, mit dem Protokoll als formativem Objekt (Scheffer 2001).
was gewinnt Relevanz im Hier und Jetzt (Garfinkel 1967). Gleichzeitig hat das relevante Stück seine eigene Geschichte und Zukunft. Es ist also geworden, gegenwärtig und vorgreifend. Die TSA schließt vier methodische Schritte zusammen, um die raumzeitliche Expansion als Ubersetzungsprozess zu rekonstruieren: a) sie qualifiziert Situationen als transsequentiell insofern hier/jetzt Anknüpfungen an „Importe" (Luhmann 2004) und Vorgriffe auf „Exporte" (ebd.) obligatorisch sind; b) sie fragt, wie und vor allem mittels welcher Medialitäten die Teilnehmer transsituativ an einen Vorlauf anknüpfen und eine Verfügbarkeit für Weiteres offerieren; c) sie rekonstruiert Schritt für Schritt die situierte Arbeit am Diskursbeitrag, in deren Verlauf Materialien 12 zusammengestellt und manipuliert werden; d) sie rekonstruiert die Relevanzkarriere des so geschöpften formativen Objekts entlang der je situierten Schritte und Stufen seiner Verfertigung und Verwertung. Die TSA kombiniert hier Ereignis- und Prozessanalyse (Scheffer 2008) zu einer komplexen Rekonstruktion der politischen Arbeit. In der Serie der Ereignisse erwächst das formative Objekt. Es erweist sich als formiert, formierend und formatiert. Zur Orientierung im multimodalen Datenwust aus Feldnotizen, Textversionen und Dokumenten nutzt die TSA die praktische Orientierung der Teilnehmer: Denn auch sie beobachten den ,Stand der Dinge' im „Projekt" (Linell 2012); auch sie schätzen, wie weit etwas schon gediehen ist; auch sie stellen fest, wie die eigene Sache voranzubringen sei. Die folgende Analyse offeriert eine überblickende „focused tour" (Spradley 1980). Sie wählt und sortiert Büro- und Sitzungsepisoden entlang der Fertigung und Verwertung von Positionen; sie kombiniert die nötigen Investitionen in das formative Objekt; sie skizziert die Karrierestufen hin zur vollwertigen Position; sie bestimmt die Leistungen der Position als Medium des politischen Zusammenhangs. Schlussendlich erscheint die politische Position als kompaktes Leitmedium, das mit seinen multiplen Anschlussoptionen im gesamten Kommunikationszusammenhang der Politik operiert.
12 Diese Materialien (etwa die Stellungnahmen eines Verbandes oder das Positionspapier einer Gruppe innerhalb der Fraktion) sind selbst gefertigte Beiträge, die sich ihrerseits trans-sequentiell rekonstruieren lassen.
Thomas Scheffer: Die Arbeit an den Positionen
1.3 Das Feld Aus Gründen der Anonymisierung verzichte ich auf die Rekonstruktion bloß einer Position: zum Biokraftstoff, zur ländlichen Entwicklung, zum Internetzugang etc. Statt des Wortlauts stehen die hier investierten Materialien (Programmausschnitte, Verbandsschriften etc.) und Zwischenprodukte (Ideenskizzen, Sprechzettel etc.) im Mittelpunkt: Woran wird womit gearbeitet? Die Studie begnügt sich damit, anhand der sukzessiven Abstimmung und Festlegung, die Stadien des formativen Objekts hin zur vollwertigen Position zu bestimmen. Derart zeichnet sich eine Musterkarriere ab. Der Eindruck eines linearen Aufstiegs ist allerdings eher dem Anspruch auf einen Uberblick geschuldet. Tatsächlich wird das Gros der Vorhaben abgebrochen, umgewidmet oder aufgeschoben. Im Folgenden sortiere ich Episoden der Fertigung und Verwertung von Positionen quer zu vier relativ intensiv beobachteten Abgeordnetenbüros. In einem dieser Büros (IV) führte Elisa Bertuzzo, in drei anderen Büros (I—III) der Autor selbst über je 3 bis 4 Wochen teilnehmende Beobachtungen durch. In diesen Feldphasen ging es darum, neben vollzugsnahen Feldnotizen vor allem „natürliche Daten" zu sammeln: die im Bürobetrieb anfallenden Semiprodukte sowie den Dokumentenabfall laufender Fertigungen. 13 Bei den vier Büros handelt es sich aufgrund der erreichten Feldzugänge durchweg um Büros der Oppositionsfraktionen der Legislaturperiode 2009-2013. Die Büros variieren in der personellen Ausstattung, in den Stellenzuschnitten sowie in der Arbeitsteilung zwischen den Mitarbeitern / -innen (MA) inklusive des / der Abgeordneten (MdB): Büro I: 2 Fachreferentinnen, 1 studentische M A für Besucher, 1 Praktikantin; Büro II: 1 fachpolitisch zuständige persönliche Referentin, 1 Sekretär; Büro III: 1 Büroleiter, 2 Fachreferenten (teilen sich Sekretariatsarbeiten), 1 Praktikantin;
13 Hier werden die Feldforschenden in den .blauen Tonnen' der Büros fündig. Die entsorgten Zwischenversionen sind für die TSA taugliches Material, wo sie Reihen von Vor- und Zwischenversionen zusammenstellen kann. Damit fokussiert diese Feldforschung weder allein auf die Abgeordneten, wie das Gros der ethnographischen Parlamentarismusforschung (vgl. Fenno 1973; Holly 1990; Searing 1994; Schöne 2010), noch auf die Mitarbeiter als Statusgruppe, wie etwa Freudenberg (1986). Es geht u m die vernetzten Büros als Arbeits- und Werkstätten.
373 Büro IV: 1 Sekretärin, 1 M A für Öffentlichkeitsarbeit, 1 Fachreferent. Die unterschiedliche Stellenausstattung ist der Mittelverwendung der MdBs, der Ressourcenverteilung zwischen Bundestags- und Wahlkreisbüro sowie der innerfraktionellen Schwerpunktsetzung geschuldet. 14 Neben der Stellenausstattung unterscheiden sich die Büros auch in ihrer Stellung innerhalb der jeweiligen Fraktionshierarchie. Sie verfügen über engere oder weitere sachlich-abgesteckte Mandate, also über das Recht und den Auftrag hierzu im Namen der Gruppierung zu sprechen. Büro I ist ein klassisches, aufstrebendes Hinterbänkler-Büro. Die Abgeordnete verfügt über ein Direktmandat und muss sich eine thematische Kompetenz erst erarbeiten. Die Büros II—IV haben jeweils unterschiedlich ,weite' Sprecherposten inne, die ihnen direkte Zugänge zur Medienöffentlichkeit eröffnen. Die Relevanz ihrer Publikationen wandelt sich mit den Themenkonjunkturen in Fraktion und Öffentlichkeit. Zur Zeit unserer Feldforschungen hatte das Büro IV mit seinen Themen eine zweitrangige, gar schwindende Bedeutung. Im Fall von Büro II und III sind jeweils traditionelle Fraktionsthemen betroffen, die eine starke Stellung in der Fraktion begründen. Die folgenden Episoden (1-40) der Fertigung und Verwertung abstrahieren von Namen, Funktionen und politischen Inhalten. Zur Anonymisierung .umschreibe' ich die Inhalte wie die Protagonisten. Ich gewinne derart ein analytisch anschließbares Vokabular, um die Frage der Mikrofundierung von Politik fallübergreifend anzugehen. Die Zusammenstellung der Episoden offeriert erste Antworten auf Luhmanns Frage, wie „hohe Komplexität politisch behandelt und auf entscheidbaren Sinn gebracht und doch als bleibendes Strukturmoment erhalten werden kann" (1983: 154). Die Mikrofundierung realisiert, dass das Abarbeiten hoher Komplexität einer aufwendigen, permanenten Diskurspraxis des arbeitsteiligen politischen Betriebs
14 Sie besteht neben der eigenen Entschädigung (ca. 7.500 €) und einer Pauschale für laufende Kosten (3.600 €) aus einem Budget, das sich auf monatlich 13.000 € zur personellen Bürobesetzung (hiermit werden M A / M A für die Bundestags- und Wahlkreisarbeit bezahlt) und auf jährlich 10.000 € zur materiellen Büroausstattung beläuft. Im März 2012 waren insgesamt 4.275 M A beschäftigt, davon 2.116 in Bundestagsbüros. Die Mehrheiten stellen: (a) Frauen (2.207), (b) M A zwischen 2 0 - 3 0 Jahre (2.331) und (c) M A mit einer Verweildauer von bis zu 5 Jahren (2.718).
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entspricht. Politik entschlüsselt die Analyse deshalb weniger im Rahmen einer Operationsweise („Macht") bzw. anhand des Verkehrs fertiger Diskursbeiträge. Die Mikrofundierung entschlüsselt Politik vielmehr mit Blick auf die unfertigen Beiträge und die Stoßrichtung(en) ihrer Ausformung zu Positionen. Diese zeugen von der internen Differenzierung des kommunikativen Zusammenhangs der Politik: Ihren Fachpolitiken, Verfahren und Debatten als korrespondierenden Arenen.
in Relation zu konkurrierenden Positionen. Die Teilnehmenden vermessen die Karriere entlang von Unterstützung, Entschiedenheit 15 und Öffentlichkeit. Sie schätzen derart den Wert einer Position und die nötigen Schritte zu ihrer Auf- oder Abwertung. Die folgenden Abschnitte liefern Einblicke in die Fertigungsschritte von Positionen sowie die Medialitäten zum je aktuellen Stand. Wie verläuft die Arbeit am formativen Objekt?
2.1 Voraussetzung I: Filtern und Kanalisieren
2. Die Schritte zur Position im Parlamentsbetrieb Der Teilnehmerbegriff der „Position" avisiert die Teilnahme an thematisch gerahmten Prozessen der Meinungs- und Willensbildung: per Antrag, Plenarrede, Wortmeldung etc. „Position" bezeichnet gleichzeitig das, was in solchen Beiträgen zum Ausdruck gebracht wird. Rede, Text oder körperliche Manifestationen (etwa die Anwesenheit auf einer Demonstration) vermitteln dann inhaltliche Festlegungen im Namen einer Gruppierung. Die folgende Analyse knüpft an diesen Teilnehmerbegriff an. Demnach existiert eine Position über Medialitäten hinweg. Ja mehr noch: sie wird über mediale Ausdrücke hinweg entfaltet. Im Zuge der Fertigung integrieren die Teilnehmer vormals noch locker verknüpfte Elemente zu einer kollektiv abgestimmten Festlegung gegenüber anderen. Die festgezurrte Position vermag als Sinneinheit über Kontexte hinweg zu zirkulieren und gleichzeitig ihre Identität für eine Rezeption zu wahren. Positionen variieren in ihrer Kollektivität und Bindekraft, was wiederum Karrierestufen bezeichnet. In ihrem generalisierten, systemischen Zuschnitt fungieren sie als Leitmedium der Politik, insofern sie die zulässige und erwartbare Rezeption strukturieren, Maßstäbe für sinnhaft anknüpfende Beiträge festlegen sowie den politischen Kommunikationszusammenhang in seinen historisch gewachsenen raumzeitlichen und semantischen Dimensionen austragen und erneuern. In einem heuristischen Karrieremodell lassen sich Positionen von ersten .verunsicherten Nachfragen und Ideen bis hin zu kollektiven Festlegungen in Gestalt und Gewicht einordnen. Die Karriere umfasst Fertigung und Verwertung. Die Fertigung bezeichnet die Zusammenstellung von Materialien inklusive vorgängiger Positionen sowie die Abstimmung und Festlegung im Kollektiv; die Verwertung bezeichnet die situative Repräsentation der Position
„Wir werden mit Post überschüttet: Emails, Briefe, Bundestagsdrucksachen, Journals, Rundbriefe, und und und" (Büro I). Vor allem die nimmer versiegenden Ströme an Emails machen den Mitarbeiter/innen zu schaffen. „Hier kommt man zu nix. Schau her: Der Account ist schon wieder [nach einer kurzen Besprechung im Büro der Chefin, TS] voll" (Büro I). Die primäre Strategie zur Bewältigung der Emailflut wird unisono genannt: „Delete!". Hier lerne man das Wegschmeißen, Aussortieren, Konzentrieren: „Wer nicht gleich löscht, hat schon verloren" (Büro I). Im Gespräch berichten M A wie Abgeordnete von schmerzhaften Lernprozessen. So würden neue MdBs regelmäßig den Fehler begehen, sich alles noch mal „in Ruhe" anschauen zu wollen; der Betrieb jedoch lässt keine Zeit für eine derartige Sorgfalt. Ein M A (Büro II) blickt „das erste Mal mittags" von der Post hoch: „Jetzt kann die Arbeit beginnen." Andere schaffen das seltener: Im noch jungen Büro I rechnen die M A vor, dass sie zur inhaltlichen Arbeit eigentlich gar keine Zeit finden; es sei denn, sie reservierten sich Spätschichten. Das Zeitproblem verschärfe sich noch in der Sitzungswoche, wenn die Abgeordnete viel Aufmerksamkeit verlangt. Die Emailflut provoziert konzertierte Filter- und Verkehrsregeln. In den Büros findet eine Erstsortierung entlang der Zuständigkeiten und Dringlichkeiten statt: .Brennende' Aufträge werden ausgedruckt und landen in den persönlichen Fächern oder gar direkt auf der Tastatur. Das Ziel der Filterung und Kanalisierung ist für alle vier Büros ähnlich: In der Masse darf kein wichtiges Stück übersehen
15 Manche Positionen betrachten politische Gruppierungen als „unverhandelbar", als Kernstück ihrer Identität bzw. als Markenkern. Beispielhaft hierfür war das Verhältnis der G R Ü N E N zur Atomenergie oder zum Pazifismus. Solche Positionen sind in Debatten präsent, ohne überhaupt noch aktuell vertreten werden zu müssen.
Thomas Scheffer: Die Arbeit an den Positionen werden. Dies können sein: jede erdenkliche Anfrage von Wahlkreisbürgern, Entwicklungen im Politikfeld, Debattenbeiträge mit Gewicht, Fortschritte zu laufenden Projekten, Verfahrensstände im Rahmen der Berichterstattung des Abgeordneten. Bevorzugt erhalten die MA wichtige Post auf ihre reservierten Email-Accounts (Name der MdB plus lfd. Nr.16). Sie halten damit Korrespondenz aus dem überbordenden Hauptaccount heraus. Die Arbeit am Hauptaccount ist angesichts der Anforderungen virtuos und beiläufig zugleich. Sie wird vom Büroleiter erledigt, der damit „alles einmal sieht" (Büro III), von der Sekretärin, die das „meinen Fachleuten gern abnimmt" (Büro II), von Anzulernenden „für den Gesamtüberblick" (Büro I) oder reihum, weil das „gerechter für alle ist" (Büro I & III). Der Email-Eingang erfordert „invisible work" (Star & Strauss 1999) als eine anspruchsvolle Routine. In den Büros größerer Fraktionen und/oder von direkt gewählten Abgeordneten spielt die Wahlkreispost eine tragende Rolle. Das Büro sieht sich mit „Bürger-Anfragen zu allem und jedem" quer zu eigenen inhaltlichen Kompetenzen konfrontiert. Diese Anfragen gilt es, möglichst ohne viel Aufwand, sachgemäß und werbend zu beantworten. Zur lokalpolitischen Positionierung nutzen die MA Grundsatzpapiere der Fraktion, der Partei oder nahestehender kommunalpolitischer Organe. Gelegentlich beklagen MA das Fehlen solcher Festlegungen der Gruppierung. Das Büro muss tagtäglich das „Engpassproblem" (Luhmann 1975) bewältigen, um arbeitsfähig zu bleiben. Es muss die Ströme an digitaler und analoger Post kanalisieren, um Rohstoffe für Positionen zu schöpfen. Ein selektiver Zugriff ist grundlegend, um im Politikfeld auf der Höhe zu sein. Er ist nötig, um in den Debatten, Verfahren und Sachthemen eine Positionennachfrage wie Verwertungsgelegenheiten auszumachen. 2.2 Voraussetzung II: Permanente Sichtungen Wozu und wann muss eine inhaltliche Festlegung erfolgen; wozu und wann gilt es, die Fraktion zu positionieren? Derartige Fragen stellen die Referenten in den Büros an ,ihre' Politikfelder - und zwar Tag 16 Emails gingen dann z.B. an Joschka.fischer.ma02@ bundestag.de. Diese Adressierung ist Teil der unsichtbaren Arbeit der Mitarbeiter, die politikwissenschaftlich mit konstitutionellen Gründen einer repräsentativen Demokratie begründet wird.
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für Tag. In der Summe sollen die Abgeordnetenbüros einer Fraktion mitsamt der Fraktionsbüros ,alles' abdecken. Dies führt je nach Fraktionsstärke zu mehr oder weniger weiten Zuständigkeiten. Im Rahmen der sachlichen Arbeitsteilung gilt es, ,auf dem Laufenden' zu bleiben. Die zuständigen MA überblicken ihre Politikfelder anhand einschlägiger Fachschriften und archivierter Materialien entlang ihrer Fachgebiete. Die MA entwickeln hierbei unterschiedliche Methoden: (2) Büro IV: Zum Arbeitsbeginn öffnet der MA eine Reihe von Blogs und Webseiten, die Neues zu seinem Themengebiet versprechen sowie Rundbriefe mit Berichten zum Download. Außerdem sichtet er monatlich an die 20 vom Büro abonnierte Fachmagazine. Er blättert sie von vorn bis hinten durch - und vermerkt Seitenzahlen auf dem Umschlag. Später, wenn er „mal Ruhe hat", wird das dann kopiert und abgelegt.17 (3) Büro II: Der MA trennt relevante Fundstücke aus den Periodika heraus und scannt sie ein. Andere Ressourcen findet er in Emaillisten und Newsseiten. Sie alle landen als pdf-Dateien in seiner vielschichtigen Datenbank. Heilig ist ihm die systematische Bezeichnung der Datei: der Dateiname beginnt mit JahrMonat-Tag und endet mit Thema und Textform. Auf diese Weise füllt er eine beständig anwachsende Datenbank. „Da finde ich nix", meint die Sekretärin. (4) Büro III: Das arbeitsteilige Büro ohne Sekretärin bearbeitet die Post in mehreren Zügen: Der,Frontmann' schaufelt am Hauptaccount die eingehenden Emails in die Unterkonten der inhaltlich Zuständigen. Analog funktioniert es mit der Post aus der Poststelle. Die derart Adressierten besorgen die weitere Sichtung, Beantwortung und Archivierung.
Die Sichtung dessen, „was läuft", umfasst interne wie allgemeine Debatten, Gesetzgebungsinitiativen (auf Länder- bis EU-Ebene), Konzeptentwicklungen (der Fachleute). Genutzt werden angesichts der Fülle die Zuarbeit und Aufarbeitung politischer Agenturen (Verbände, Stiftungen, Netzwerke etc.). Im Büro I dominiert demgegenüber eine weitgehende Delegation der Sichtungen ans Fraktionsbüro. Statt eines eigenen Archivs finden sich hier lediglich Handordner zu lfd. Bearbeitungen. Für die Büros
17 Das Büro IV unterhält 3 Büroregale mit Ordnern für laufende Verfahren und Ordner für unbestimmte zukünftige Verwendungen. Gut greifbar auf mittlerer Höhe befinden sich Erstere: Ausschussdrucksachen der Wahlperiode, Termine, Antworten auf Anfragen, Veranstaltungen 2006-09, AG, Drucksachen der Fraktion, Haushalt seit 2006, sowie Unterthemen von A - Z . Unten befindet sich das stetig wachsende thematische Archiv in großen Schubfächern.
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I I - I V lassen die Episoden (2, 3, 4) eine Spannung anklingen: Sie organisieren jeweils ein thematischgeordnetes Gedächtnis, das allerdings zu privatisieren droht. Büro II und IV setzen auf Arbeitsteiligkeit und verzichten auf den Anspruch kollektiver Verfügbarkeit. Büro III pflegt die Kollektivität innerhalb der Bürogrenzen. Das Arbeitsgedächtnis ist wesentliches Moment und Mittel der Kompetenz des Büros im Verhältnis zu Partnerbüros. Für Schlüsselthemen suchen die Büros ein kollektives Gedächtnis über Bürogrenzen hinweg durchzusetzen. Solche Versuche (5) ringen mit partikularen Gepflogenheiten: (5) Büro II: Im AG-Kontext diskutieren die MA über die Einführung eines gemeinsamen Laufwerks. Probleme bereiten jeweils eigene Methoden der Dateibezeichnung, z.B. das Datum „2010_09_23" und nicht „100923". Zu lange haben die Büros schon die je eigene Datenkennung praktiziert bzw. ihre Archive geführt. Auch erscheint das gemeinsame Laufwerk als Extraaufwand: ein weiterer Briefkasten, der zu leeren wäre.
Eine Anerkennung von Sachkompetenz erfolgt durch Konsultationen des Umfeldes (7) und der Fraktionskollegen (6). .Kompetente MA' werden in ihrer Themenzuständigkeit angefragt und beteiligt, was wiederum neues Fach- und Insiderwissen generiert: (6) Büro II: Mittags ist der MA fast immer verabredet. Er trifft „Freunde", wie er sagt. Beim Essen wird ausgetauscht, was gerade so ansteht. „Was habt ihr in der Pipeline?" Im Idealfall kommen konzertierte Aktionen dabei heraus. Routinemäßig tauschen die Zwei Papiere, um für die je eigene Sache zu werben. Dazwischen viel Gerüchteküche: wer, was, mit wem! Man verspricht, sich nun regelmäßiger abzusprechen. (7) Büro III: Die Abgeordnete holt den MA dazu. Die Referentin der N G O klappt ihren Koffer auf und zieht Faltblätter für eine neue Kampagne hervor. Fragen zu Hintergründen notiert sie und verspricht Antworten vom hauseigenen Fachreferenten. Zum Ausklang noch Nettigkeiten, insbesondere allgemeine Solidaritätsbekundungen. Wochen später taucht das Ansinnen wieder auf: in der Form einer Pressemitteilung, die von hier über Verteiler zirkuliert wird.
Die Büros nutzen die Aufmerksamkeit des parlamentarischen Umfeldes, insbesondere von affinen Verbänden und Lobbygruppen (6; 7).18 Die Büros 18 Mit den Aufmerksamkeiten sind nicht die „Häppchen", „USB-Sticks" oder „50 € Gutscheine" gemeint, von denen im Spiegel-Artikel „Freibier im Massagestuhl" (1/2012) die Rede ist. Gehandelt wird vor allem Wissen. Und das nicht nur in eine Richtung gleich einer Einflüsterung',
halten sich ein Netz von Beobachtungsposten vergleichbar einer „distributed cognition" (Hutchins 1995). Die so regelmäßig .sichtenden' M A entwickeln sich zu Experten, werden als solche adressiert und eingebunden. Die Position ist hier noch Potentialität·. eine unbestimmte, aber erwartbare Anforderung. Arbeiten richten sich auf die Sichtung der Sachgebiete, die Aktualisierung der Wissensbestände und die Einpflege von Materialien. All dies ist nötig, um bei einer sich abzeichnenden Nachfrage rechtzeitig in die Fertigung einzusteigen. .Rechtzeitig' verweist dabei auf die Dauer der Fertigung in der Gruppierung. 2.3 Karriereeinstieg I: Anlässe und Bedarfe Positionsbedarfe erwachsen mit neuen Sachständen, öffentlichkeitswirksamen Kampagnen, gesellschaftlichen Debatten oder auch mit parlamentarischen Initiativen der Konkurrenz. Ich erfahre durch die Serie meiner Büroforschungen, dass fraktionsübergreifend an identischen Themen gearbeitet wird, ja im Wettlauf Fertigungen vorangetrieben werden. Anlässe zur Fertigung bestimmen Sprecherbüros, Arbeitskreise oder die Fraktionsleitung. Die folgende Episode zeigt, wie das Büro eine Kombination von Anlässen aus Gesetzgebung, Kampagne und Sachlage identifiziert: (8) Büro IV: Der Fraktionsmitarbeiter berichtet über die von der Fraktion mitorganisierte „Großdemonstration zu 10 Jahre XY" - anlässlich einer bundesweiten Konferenz des NGO-Bündnisses. Es soll über die Modalitäten der bevorstehenden ministeriellen Reform diskutiert werden. Dass die Reform nun tatsächlich kommt, wie von der Fraktion lange gefordert, macht eine Neupositionierung nötig. Das meint zumindest der AG-Koordinator: „Hier kann es nicht nur um eine Zurschaustellung dessen gehen, was wir seit 10 Jahren sagen. Es muss eine inhaltliche Idee her!" Der Abgeordnete stimmt zu.
Die Gelegenheit zur Positionierung - hier per Rede auf Konferenz und Demonstration stimuliert inhaltliche Reflexionen: Ist unsere Position noch zeitgemäß? Bedarf es neuer Abstimmungen? Aufforderungen zur Positionen-Überarbeitung sind, anders als die beiläufige Reformulierung einer Beschlusslage, tendenziell dramatisch. Derlei innerhalb der Gruppierung zu fordern, erfordert selbst schon eine Positionierung. wie hier nahegelegt wird: „Für Lobbyisten sind sie (die MA, TS) eine interessante Zielgruppe: Sie genießen das Vertrauen ihrer Chefs, erklären ihnen Zusammenhänge."
Thomas Scheffer: Die Arbeit an den Positionen Auch die Nichtbefassung mit Themen und das Auslassen von Anlässen interpretieren M A als Position. Die M A diagnostizieren dann ζ. B. eine fraktionsinterne Hierarchie der Politikfelder. Randständige Themen liegen brach, beackert nur von Einzelkämpfern auf .verlorenem Posten': (9) Büro II: Der Kollege aus dem benachbarten Büro klagt mir während der Mittagspause sein Leid. Vor ein paar Wochen musste er zu dieser Veranstaltung vom XY-Verband, allerdings ohne dafür ,gefüttert' zu sein. „Diese Frage interessiert bei uns niemanden!". Er hätte nur freundlich nicken können, während gleichzeitig die Konkurrenz einen 10-Punkte Plan mitsamt Faltblatt präsentierte: „Die haben uns schön den Rang abgelaufen."
Die Episode zeigt einen Anlass, der nicht zur Fertigung führt und nicht durch Vorgefertigtes flankiert ist. Die resultierende, individuell erlittene Leerstelle führt die grundsätzliche Relevanz von Positionen vor Augen. Ohne sie ist der Teilnehmer sprachlos; ohne sie fehlt seiner Stimme das politische Mandat. So ergeht es zuweilen Sprechern für Politikfelder, die in eine aktuelle Debatte deshalb nicht eingreifen können, weil ihre Gruppierung nicht liefert. Solche .offenen Flanken' schwächen eine Fraktion gegenüber der Konkurrenz. Eine andere Gruppe von Anlässen bezieht sich auf Initiativen, die aus der Fraktion bzw. einer Gruppe innerhalb der Fraktion ergehen. Hier bringen die Büros ein Thema selbst ins Gespräch bzw. führen Anlässe herbei: von der Expertenanhörung im Arbeitskreis (AK) über eine kleine Anfrage bis hin zum Gesetzentwurf rechtzeitig vor Novellierung und Wahlen. Kampagnen, Verfahren und Debatten bieten allesamt Gelegenheiten, eine Sache zur Sprache zu bringen und Position zu beziehen. Das System der Politik erscheint im Lichte der Anlässe als heterogener Kommunikationszusammenhang. Die Position befindet sich hier im Status einer einzugehenden Verpflichtung. Man versichert einander, in eine Sache Zeit und Mühe zu investieren - und rechtzeitig zu liefern. Inhalte sind hier noch als .motivierende' Anlässe und Ideen umrissen, die es mit Substanz zu füllen gilt.
2.4 Karriereeinstieg II: Auftragserteilung (10) Büro IV: In der montäglichen Bürositzung wird über die bevorstehende Konferenz (s. 8) der Fraktion diskutiert: Wer hält welchen Vortrag? Welche anderen Büros werden eingebunden? Die Abgeordnete will, dass bis dahin ein umfassender Forderungskatalog vorliegt. Der Katalog soll im Laufe der Konferenz
377 verabschiedet und der Öffentlichkeit auf einer Pressekonferenz vorgestellt werden. Die AK-Referentinnen der Fraktion sollen sich darum kümmern. Die Abgeordnete empfiehlt, ihren bewährten Fachmann einzubeziehen. (11) Büro III: In der AG wird das Papier behandelt. Alle 6 Büros sind mit M A vertreten. Drei MdBs sind dabei. Das Büro Helm bekommt ohne weitere Diskussion die „Federführung". Das Sitzungsprotokoll besagt: „Alle Büros überarbeiten bis eine Woche vor der nächsten Sitzung das Papier, schicken es ins Büro Helm. Büro Helm macht daraus Syntheseversion. Strittige und offene Punkte werden in der nächsten AG diskutiert. "
Die Aufträge variieren, insofern sie zwischen der Nutzung schon bestehender Positionen (11) und ihrer Überarbeitung (10) changieren. Die Auftragserteilung führt derlei Unterschiede ins Feld, um mal als überfällig (10), mal als undramatisch (11) zu erscheinen. Dementsprechend hatte der zuständige M A (11) versucht, die Vorbehalte der Kollegen im A K zu zerstreuen. Die Büros sind auf Gremien verwiesen, wollen sie eine tragfähige Arbeitsgrundlage über Bürogrenzen hinweg erwirken. Die Auftragserteilung wird in dieser Weise selbst zum Streitgegenstand. In (12) setzt sich die Abgeordnete mit Verweis auf Veränderungen im Politikfeld für eine Fertigung ein: (12) Büro III: Die Abgeordnete geht mit der Idee einer neuen Position hausieren. Sie trägt ihre Forderung in verschiedene Gremien. Selbst in großer Runde bringt sie das Kunststück fertig, den Punkt anzubringen, obwohl er gar nicht auf der Tagesordnung stand. Sie ringt einem Vorstandsmitglied eine wolkige Erklärung ab, dass man sich darum kümmern wolle. Draußen kommt es bereits zu Debatten zwischen zuständigen M A . Die Aussicht auf einen Auftrag rüttelt am programmatischen Status Q u o .
Schon die Diskussion um eine Auftragsvergabe muss von langer Hand eingefädelt werden. Für überschaubare Vorhaben genügen demgegenüber auch bilaterale Absprachen im Beziehungsnetzwerk (13). Das Nadelöhr stellen jeweils Abgeordnete dar, die ,ihre' M A abstellen sollen: (13) Büro II: Der M A hatte, wie abgesprochen, einen ersten vierseitigen Entwurf geliefert. „Alle Punkte zur Thematik" hatte er aufgeführt und grob sortiert. Den Forderungskatalog soll nun der M A vom Partnerbüro überarbeiten. Die Rücklieferung ließ allerdings auf sich warten. Der M A beschwert sich bei seiner Chefin. Erst nach zwei .heftigen 1 Gesprächen konnte sie den Fraktionskollegen dazu bewegen, seinem M A eine Weisung zu erteilen.
Aufträge ergehen auch von Seiten der Fraktionsspitze direkt an ein Büro (14) — zuweilen gar vorbei
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a m A b g e o r d n e t e n . I m Beispiel soll die n a c h g e f r a g t e R e d e a u f neueste E n t w i c k l u n g e n eingehen — o h n e allerdings die Beschlusslage anzutasten: (14) Büro IV: Der Vorstandssprecher hat fünf Tage vor der Veranstaltung entschieden, selbst zum Thema sprechen zu wollen. Dessen Büro wendet sich an uns, um eine Zuarbeit zu erbitten. Der M A ist nicht begeistert: „So auf die Schnelle?" Er müsse am Forderungspapier für die Konferenz (s. 10) weiterarbeiten, die am selben Tag stattfinde. Mir gegenüber erklärt er: „Der redet über Alles. D a kommt sein Büro gar nicht mehr nach."
Die Auftragsvergabe von oben ist nicht nur Ärgernis. Sie zeigt auch, wie gut ein Büro ,im Spiel' ist. Der Auftrag schmeichelt hier vor allem dem M A : Er genießt in der Sache Vertrauen; ihm wird fachliche Autorität zugesprochen. Jede Auftragsvergabe berührt die intrafraktionelle Ressourcen- und Kompetenzverteilung: Zentrale Aufträge 1 9 ziehen Personalressourcen von unten ab; Selbstbeauftragungen schwächen die Fraktionsspitze. Hier löst die Position als Vorhaben ein Ringen u m Arbeitskapazitäten aus: Wofür wird Zeit aufgewandt; welches Büro ist maßgeblich? Die Auftragsvergabe ergeht mit Subtext: mit inhaltlicher Einfärbung (was gewünscht wird!) und Einhegung (was unmöglich ist!). Die Fertigung soll kontingent und kalkulierbar sein. Bevor es an die eigentliche Formulierungsarbeit geht, sind erste Weichen gestellt.
2.5 Karrieregestaltung I: Positionen recherchieren Problem, Sachstand, konkurrierende wie eigene Positionen - all das wird zum Gegenstand von Recherchen. Recherchen sind mehr oder weniger aufwendig. Aufwendige Recherchen bedürfen konzertierter Aktionen gleich mehrerer Büros auf der Grundlage eines Auftrages. Überschaubare Recherchen etwa zu Bürgeranfragen aus dem Wahlkreis führen die M A oft nur bis ins benachbarte Büro des kundigen Kollegen:
19 Entgegen der Diagnose einer Zentralisierung der Ressourcen bei der Faktionsspitze (Schöne 2010) zeigte sich in mehreren Fraktionen eine Dezentralisierung. Die vernetzten Abgeordnetenbüros und ihre Gremien auf Arbeitsebene gewinnen an Gewicht. Sie bilden Kooperationen und geteilte Zuständigkeiten. Insbesondere kleine, aber auch schrumpfende Fraktionen delegieren, bei gleichzeitig steigender Nachfrage nach Positionen, ihre Aufgaben ,nach unten'.
(15) Büro III: „Hatten wir nicht etwas zum Verbot von ...?" fragt die Fraktionsmitarbeiterin. Der M A antwortet mit einer wortreichen Konsultation des Büroarchivs (2). Er fischt Blätter aus dem Hängeordner, die ihm jedes eine Geschichte von hehren Zielen und gescheiterten Bemühungen erzählt. Er kommt ins Grübeln: „Wie lang wir da schon dran sind!"
O b aufwendig oder überschaubar, die Recherche beginnt mit einer identischen Einstiegsfrage: „Was ist eigentlich unsere bisherige Position?" Die Recherche ergibt hier zuweilen ein unklares oder vielstimmiges Bild. Es finden sich wechselnde Positionierungen aufgrund von Doppelstrukturen (z. B. parallele Zuständigkeiten in A G und Vorstand), durch ungelöste fraktionsinterne Konflikte oder im Rahmen noch laufender Fertigungen. Das Büro kann dann an verschiedene Positionen anknüpfen, je nachdem für welchen Kontext bzw. gegenüber welcher Öffentlichkeit eine Verwertung angepeilt wird. Im Beispiel positioniert sich die Abgeordnete zugunsten des anfragenden Verbandes im Wahlkreis: (16) Büro I: Der ortsansässige XY-Verband klagt über Kostensteigerungen und bittet die lokale Abgeordnete um Hilfe. Für das Büro ist das Thema Neuland. Die M A meint, dass die sozialpolitische Sprecherin sich da mal geäußert hatte. Alternativ gäbe es im Vorstand eine gute Position, die sie vorziehen würde, um den Betroffenen zu helfen: „Fragen wir doch lieber die Schmidt! Die hatte sich letztens sehr kritisch zum X-Modell geäußert."
Beim Einstieg in die Recherche fällt auf, wie die M A intern Halbwissen, Spekulationen und Unsicherheiten äußern (können) und sich so wechselseitig Orientierung verschaffen. Die obligatorischen Elemente einer .richtigen' Position also ein Problem mitsamt Maßnahmen als Ausdruck einer Haltung sind anfangs ferner Anspruch: (17) Büro II: Die Kollegen in der Arbeitsrunde fragen nach: Wie sei das denn nun genau mit der Kostensteigerung? Wer sei betroffen? U m welche Fälle ging es eigentlich? Es werden Antworten zusammengetragen, die aber einen erheblichen Klärungsbedarf verraten. „Und was kann man da jetzt machen?" fragt die eine; „Ist das denn wirklich so schlimm?" erkundigt sich der andere. Auch die Positionen der anderen Fraktionen sind nicht bekannt. Die Runde verteilt Rechercheaufträge. (18) Büro II: Der M A legt die Füße hoch, dreht sich zum Fenster (weg vom PC) und greift zum Hörer. Es folgt eine Telefonsession über fast eine Stunde. Er telefoniert in seinem Netzwerk herum und erfragt Einschätzungen und Hintergründe zum aktuellen Sachstand. Offizielle Erklärungen dienen ihm als Aufhänger, um ins Gespräch zu kommen. Ziel ist ein Überblick, der
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Thomas Scheffer: Die Arbeit an den Positionen Einzelmeinungen einbettet und feststellt, wozu hier überhaupt Stellung bezogen werden soll.
Zur Recherche unterhalten MA eigene Informantinnen-Zirkel, die unterschiedlich weit in die Fachöffentlichkeit hineinreichen. Die MA mobilisieren (18) ihre Kontakte, um Schneisen in die undurchsichtigen, komplexen Sach- und Diskussionsstände zu schlagen. Sie erkunden das Feld per .Experteninterviews'. Wie genau vollzieht sich eine solche Erkundung? Die Telefonrecherche des MA liefert Hinweise: (19) Büro II: D e r M A sammelt .ungeschützte' Einschätzungen, Bewertungen, Überlegungen, auf die die Befragten gerade nicht schriftlich festgeklopft werden. „Die reden am Telefon auch drum herum, nicht nur stur zum Thema!" Was andere als zeitraubend und ineffektiv begreifen, hat für ihn gleich mehrere Funktionen: Er erhält Zusatzinformationen und baut Vertrauensbeziehungen auf. I m Gespräch kann er zurückfragen und eigene Einschätzungen ausprobieren. Er redet sich in die Debatte hinein. Von Telefonat zu Telefonat ist er besser informiert. Er kann Nachfragen zu Punkten stellen, die ihm erst jetzt zu Ohren kommen. Die ersten Telefonate richten sich deshalb an vertraute Zirkel, während die späteren
Um das Urteilsvermögen zu verbessern, konsultiert der MA die Kritiken der anderen: Was ,denken hier die einschlägigen Lobbygruppen, was die anderen Fraktionen? Insgesamt eröffnet die Recherche eine Reihe relationaler Schätzungen. Es wird die sich abzeichnende Konstellation von Positionen erschlossen (wer ist mit welchen Gründen wofür?); es wird diese Voraussicht als Anforderung für die eigene Position ausbuchstabiert (wo profilieren wir uns als Alternative?). Eine rituelle Orientierungshilfe: Gesucht wird die Nähe zu verwandten Positionen affiner Verbände; auf Distanz bringt man sich zu konkurrierenden Positionen im Meinungsspektrum. Die Recherche nutzt die Fachöffentlichkeit als kultivierte „trading zone among multiple agencies with interacting expertise" (Gorman 2002). Verbände, NGOs, Parteigremien etc. - sie alle liefern Vorlagen zur weiteren Verwertung. Positionen sind hier noch Sammlungen von Relevanzen. Die Recherche stellt fest, welche Punkte hier im Wesentlichen sowie der Vollständigkeit halber abzuarbeiten sind. Sie klärt, wozu man sich verhalten muss, um eine vollwertige Position zu schöpfen.
Gespräche weitere Kreise ziehen. Das erhobene W i s sen wird er nutzen, um relevante Dokumente aus dem Netz herunterzuladen.
Der Referent erhebt fachliche Analysen und Bewertungen und testet diese in Anschlussgesprächen. Die Fachleute aus Verbänden, Ministerien, der Partei etc. orientieren ihn dabei vor allem über die Stoßrichtung und Knackpunkte der Gesetzgebung. Die mobilisierten Beziehungen zu den Experten werden dabei mit jeder Anfrage zugleich gepflegt: als Vertrauensbeweis. So schöpft der MA soziales Kapital bzw. „Beziehungen", die mittelfristig das Büro aufwerten. Anhand des erhobenen Sachstandes (19) erstellt der MA erste Skizzen zur geforderten Positionierung: hier einer internen Stellungnahme der Abgeordneten als Berichterstatterin zur Ersten Lesung im Gesetzgebungsverfahren. Es erwächst ein Raster von relevanten Hinsichten und Fragen, die im Zuge der Fertigung abzuarbeiten sind: (20) Büro II: D e r M A unternimmt mit mir ein Brainstorming. Er hält die relevanten Aspekte mit Stichworten und Pfeilen auf dem Poster fest. Was wird debattiert? Welche Facetten sind wichtig? M i c h fragt er, ob ich die Stellungnahmen der Verbände X , Y, und Ζ zum Gesetzentwurf der Regierung auswerten könne. In knapp einer Stunde soll ich schon liefern. Ich trage die Dokumente per Internet-Recherche zusammen und exzerpiere die Argumente für und gegen den Referentenentwurf.
2.6 Karrieregestaltung II: Materialien zusammenstellen Die Recherche trägt Hinweise zu eigenen, bisherigen Positionierungen sowie zum Spektrum der Positionen der relevanten Anderen zusammen. Die MA tragen außerdem Materialien zusammen, die sie für die Fertigung ausschlachten können. Letztere dienen als Vorlagen und Versatzstücke für die Textproduktion: (21) Büro IV: U m 9 . 3 0 U h r setzt sich der M A dran. Bereits um 11.20 U h r telefoniert er mit dem Kollegen beim Fraktionsvorstand über den Tenor des Papiers. In weniger als 2 Stunden hat er 5 Seiten Redetext produziert. M i r sagt er, er sei „fast fertig" — er wolle sich schnell wieder den Konferenzthesen widmen. U m 13 U h r ist er soweit. Es sei alles beisammen: „Ich ziehe heran, was nutzt, vorausgesetzt es sind Originalberichte, keine Presseberichte".
Insbesondere bei starker Nachfrage misst sich die Fähigkeit der MA daran, Beiträge anderer in die eigene Fertigung einzubauen - und damit Teile der (Vor-)Fertigung faktisch auszulagern. Die .Zulieferer' antizipieren diese Nutzung. Sie liefern Textfragmente zur Einarbeitung. In der folgenden Episode übernimmt der MA einige Formulierungen der nahestehenden und einflussreichen Lobbygruppe im Politikfeld:
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(22) Büro III: Das Positionspapier habe er fast vollständig auf der Grundlage einer Erklärung des Verbandes erstellt. Da sei im Prinzip von der Debatte her alles Wesentliche schon drin gewesen. Zwei „zu sehr zugespitzte Punkte" musste er allerdings abschwächen. Der Vorteil: mit dem Papier hätte er sich die Inhalte von Seiten der tonangebenden NGO zu eigen gemacht: „Die gucken bei uns eh genau hin, was wir machen!"
Berichte des Wissenschaftlichen Dienstes etc. zum neuen Beitrag montieren.
Ähnlich wie in (21), so findet sich auch hier (22) ein erwünschtes, routinemäßiges Plagiieren. Der fachpolitische Forderungskatalog des Verbandes soll/will übernommen werden. Die Texte taugen als Schreibvorlagen dank importfreundlicher Formate wie Spiegelstriche, Diagramme, Statistiken etc. Derart fädeln Lobbyisten ihre Forderungen in parlamentarische Prozesse der Fertigung ein.
2.7 Karrieregestaltung III: Kollektive Textarbeit
Aus der Sicht des M A besteht die Kunst, nach Sammlung der Vorlagen, in der Kombination und Homogenisierung der disparaten Texte. Der M A formt die Textfragmente zu einem Ganzen, d.h. glättet Stile, vereinheitlicht Wortwahl, nivelliert den Ton. Zuliefertexte werden übernommen, deren Spuren verwischt: (23) Büro II: Der M A hat die sieben Stellungnahmen zum Gesetzentwurf geöffnet und kopiert nun Textstellen in ein Zentraldokument. Die Dokumente hatte er eigens eingescannt und auf das Bürolaufwerk unter neuem Dateinamen nach Datum, Absender, und Thema abgespeichert. Sein Hin und Her zwischen Text und Vorlagen wird lediglich durch Formatierungsprobleme ausgebremst, über die er sich „tierisch aufregt". (24) Büro I: Die M A formuliert die kleine Anfrage mithilfe von drei Dokumenten. Letztere sind in Fächer zurechtgelegt und werden im Schreibvorgang herangezogen. Sie will die angestrichenen Passagen aus den Dokumenten zu einem Fließtext zusammenfügen. Sie stöhnt ob der Telefonate („Gerade schlecht!") und Bürobesuche („Jetzt nicht!"), die ihr immer wieder .dazwischen kommen. Ihr Dialog mit den Materialien wird jedes Mal unterbrochen und muss mühsam wieder aufgenommen werden. Die Schreibtische der M A verdeutlichen die Vorgehensweisen. Mal wird die Arbeitsfläche mit Texten bedeckt, mal werden Letztere zu Handakten gebündelt, mal sind Materialien griffbereit in der Ablage geschichtet (24). Die M A zieht ein Dokument nach dem anderen, um anhand der markierten Passagen im Schreibprozess voranzuschreiten. Andere M A erweitern den Schreibplatz „virtuell", indem sie Texte im PC-Bildschirm (23) auffächern. So lassen sich vielfältige Bausteine - neben den Lobby-Stellungnahmen auch BT-Drucksachen, Online-Journals,
Die Position ist hier noch Collage aus anderweitigen Positionsfragmenten. Sie teilt mit diesen Problematisierung und Maßnahmen. Im Weiteren werden die Fragmente der anderen vollständig vom Text geschluckt, d. h. eingeebnet und überschrieben.
Systematische Unterschiede in der Fertigungsweise zeigen sich anhand der Organisation von Schreibprozessen zwischen den Büros. W i e fertigen die Büros Texte gemeinsam? Grob lassen sich „bottom up"und „top down'-Methoden unterscheiden. Erstere zeichnen frühzeitige, laufende und uneinheitliche Abstimmungen zwischen den Büros aus: (25) Büro III: Der Text hat viele Untiefen, die Aufmerksamkeit erfordern. Der MA A ist seit dem AK-Beschluss (s. 11) nun auch offiziell Hauptverantwortlicher für die Erstellung des Papiers. Bei ihm sollen die Fäden zusammenlaufen: aus der Wirtschafts-, Energie-, Agrar-, Verkehrs- und Finanzpolitik." So ein Papier, schätzt er für mich, brauche „einfach immer diese vier Monate". Zunächst trifft er sich separat mit C vom Büro Schmidt. Sie formulierte die Einleitung. C bringt ihre Streichungen, Umformulierungen und Kommentierungen mit: „Zu weit weg vom eigentlichen Thema", „Ist das wichtigfür die regionale Wertschöpfung?", „Finde ich zu weitführendfür das Papier". Ein Resultat: den „Wirtschaftskreisläufen" müssten „regionale Wertschöpfungsketten" vorangestellt werden. Beide konstatieren sie divergierende Fertigungsstände der Abschnitte: Während manche Teile schon weit gediehen seien, seien andere noch rudimentär oder bloß dem Parteiprogramm entnommen. Sie versuchen, alle Teile auf denselben Stand zu bringen, ohne zu sehr in Kompetenzbereiche einzugreifen. Das Papier gleicht einem Flickenteppich. Jeder Abschnitt erfordert eine ganz eigene textliche, fachliche und soziale Fürsorge. Wichtig ist die richtige Mischung aus Vorpreschen und Zurückhaltung: A und C realisieren die Sensibilitäten der Partnerbüros. In einem Fall ist ein Unterkapitel nahezu unantastbar. A ist gezwungen, geduldig auf deren nächste Teillieferung zu warten. Bei anderen Teilen sind Co-Autoren dankbar, wenn man ihnen Arbeit abnimmt. In allen Fällen beschwören A und C die bloß „redaktionellen Änderungen" gegenüber den sachzuständigen Büros. Das Papier wächst in unterschiedlichen Tempi. Es existieren parallele Textversionen, an denen jeweils dezentral mit Word-Funktionen „Änderungen
Thomas Scheffer: Die Arbeit an den Positionen
Nachverfolgen", „Kommentieren", „farbig Markieren" - ,herumgedoktert' wird. Mit jeder Bearbeitungsschleife sollen diese Änderungen Eingang in ein Dokument finden. Hier ist die Position zunächst Liste, die Details unterhalb einer formalen Abstimmungsschwelle versammelt und auf eine Stoßrichtung hin ausrichtet. Das Vorhaben drängt die beteiligten Büros sukzessive zu einem Tempo, in einen Rhythmus - ohne dass die Bearbeitungen der Büros ganz in diesen aufgingen. Der kollektive Schreibprozess vollzieht sich im Stop-and-Go mit bremsenden und vorpreschenden Büros. Je weiter das gemeinsame Papier, umso mehr verpflichtet es die Co-Autoren auf einen geteilten Ausdruck, ein Längenmaß, einen Grad der Detaillierung. Die gemeinsame Arbeit am Text integriert ein temporäres Büro-Netzwerk als „Community of practice" (Wenger 1998) und erneuert Strukturen für zukünftige Kollaborationen. Top-down Prozeduren mobilisieren die Büros weniger als Co-Autoren, die für Teile zuständig zeichnen, denn als Materiallieferanten. Letztere haben nur geringen Einblick in den Schreibprozess bzw. die laufenden Resultate. Die Konsultation ist punktuell. Das beauftragte Fraktionsbüro bildet ein „center of calculation" (Latour 1987), das brauchbare Lieferungen im formativen Objekt anbringt. In der folgenden Episode (26) macht sich die MA an eine solche Lieferung - und mehr: (26) Büro I: Der M A erhält die Anfrage des Fraktionsbüros, sich mit Vorschlägen an einer Sammlung zu beteiligen. Erwachsen soll eine Anfrage, die Politikfelder übergreifend relevante Gesichtspunkte aufführt. Der M A öffnet die Datei mit nunmehr 40 Fragen an die Bundesregierung. Sie checkt den Fragekatalog auf fehlende Aspekte, aber auch auf Dopplungen und Überschneidungen. Ihre Änderungsvorschläge listet sie in einem gesonderten Dokument.
Die Indienstnahme von Büros steht und fallt mit dem Rahmentext. In einem Fall wird hierzu eine „UN-Resolution" mobilisiert, die zugleich Anlass und Ressource darstellt. In anderen Fällen diskutieren Büros den Rahmen als politisch problematisch. Oder das angefragte Büro stellt den Rahmentext aus handwerklicher Sicht infrage. In solchen Fällen fügen dann Büros nicht nur ihre Lieferungen in den ,Lückentext' ein, sondern machen sich an die Korrektur desselben. Dies geschieht z. B. mit einem Text zur großen Anfrage: (27) Büro IV: Mit einem Anfragen-Entwurf des Fraktionsvorsitzenden kämpft der M A einen ganzen Vormittag. Er telefoniert mit Kollegen, diskutiert über inhaltliche Zweifel mit dem Abgeordneten. Der
381 M A notiert schließlich am Rande des ca. 20 Fragen umfassenden Dokuments etliche Kommentare und Kritikpunkte, die er gar mit Zitaten aus Studien belegt. Derart verunstaltet' schickt er das Papier ans Absenderbüro zurück.
In beiden Fällen (26; 27) verweigern sich die Büros einer bloßen Zulieferfunktion. Sie stellen die textliche Vorlage infrage. Diese Verweigerung dynamisiert die hierarchische Beziehung und macht auf eine Parallelstruktur aufmerksam. Büros verfügen immer auch über eine eigene, inhaltlich abgesteckte Kompetenz, die sie in die Waagschale werfen können. Die Indienstnahme ,νοη oben' provoziert Kritik. Die Fertigung bricht ab oder wird mittels sachlich begründeter Relativierung der Autorität sowie einer pragmatischen Reorganisation des Schreibprozesses umgemodelt. Der kollektive Schreibprozess wird auf ein Minimum reduziert, wo eine Zentrale den Büros lediglich die Funktion einer Endkontrolle zuweist. Hier verschwimmen Schreibprozess und Prüfung zu einem letzten Testlauf: (28) Büro I: Auf der Tagesordnung des A K findet sich das Programmpapier aus dem Vorstandsbüro. Die M A checkt die Forderungen und findet das insgesamt „gewagt, aber in Ordnung". Sie macht Punkte aus dem Kompetenzbereich ihrer Chefin geltend. In der Mitarbeiterrunde sagt die Abgeordnete voraus, dass es Probleme geben wird: „Ein sehr ambitioniertes Papier!" Das Fraktionsbüro hat eine halbe Stunde für die Diskussion angesetzt. Hier sollen die Büros Änderungsvorschläge einbringen.
Kollektive Textproduktionen sind nicht entweder zentral oder dezentral, sondern mehr oder weniger dauerhaft und durchgreifend zentralisiert. In allen Fällen etabliert das Kollektiv und sei es nur anlassbezogen eine zentrale Regie und Koordination. Die so angeleiteten Schreibprozesse bemühen die sachliche Zuständigkeit der Abgeordneten und ihrer Büros (von Oertzen 2005). Es zeigt sich eine Präferenz für Sachlisten und -abschnitte als Abbild dieser Zuständigkeiten. Auffallig sind schließlich verschiedene Modi der Konfliktaustragung: Kollektive Schreibprozesse können Kritik mitlaufend per Textarbeit moderieren und/oder diese auf eine finale Sitzung mit Entscheidungscharakter verschieben. Letztere mobilisieren gewichtige Fürsprecher, ja Lager. Die Position verändert im Zuge des Schreibprozesses Charakter und Konsistenz: von einem Sammelsurium zum gemeinsamen Entwurf. Die Inhalte werden zusammen- und festgeschrieben. Die Büros partizipieren an der Textarbeit je nach Stand und Prozedere als Co-Autoren, Lieferanten oder Kritiker.
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2 . 8 V o n Stufe zu Stufe: Pretests und Freigabe Die gemeinsame Abstimmung ist mit dem Schreibprozess eingefädelt, aber noch nicht abgesichert. Der Prozess beinhaltet gesonderte Qualitätsprüfungen, die wiederum unterhalb der Abstimmungsschwelle auf der Arbeitsebene angesiedelt werden. Bevor etwas als kollektive Position präsentiert wird, muss es Fachprüfungen (29, 30) oder Pretests (31, 32) bestehen: (29) Büro IV: Der MA fragt seinen Kollegen aus dem Finanzressort nach Durchsicht der Haushaltsausgaben, bevor er seine Anfrage anfertigt. Nach dessen Erklärung stellt er fest, dass er sich mächtig verkalkuliert hatte. Er zeigt sich erleichtert, so noch „diesen peinlichen Fehler" vermieden zu haben. (30) Büro III: Das gemeinsame Papier steht kurz vor dem Abschluss. Allerdings insistiert der Koordinator, dass es erst dann in den AK zur Abstimmung überstellt wird, wenn der MA des wirtschaftspolitischen Sprechers „drüber gegangen" sei. Der befindet sich leider im Urlaub, was den Fortgang der Angelegenheit verzögert. (31) Büro IV: Der Kollege kommentiert das provisorische Papier: „Das Thema ist ein Minenfeld!". Damit äußert er einerseits Zweifel am Papier, das er als qualitativ unreif einschätzt, aber andererseits auch an der Position selbst, die er zum jetzigen Zeitpunkt für politisch gefährlich hält. Die Fraktion sei diesbezüglich gespalten. (32) Büro III: Der MA verfasst am Morgen eine Presseerklärung zum Auftritt des Ministers im Ausschuss. Er druckt die „PE" vorsichtshalber noch mal aus, liest sie durch und reicht sie dann der Chefin rein. Sobald sie grünes Licht gibt, kann das raus. Raus heißt: er zirkuliert es in seiner Verteilerliste für Sympathisanten (ca. 500 Adressen). Später ist er erleichtert über ausbleibende Reaktionen: „Erst mal nix. Das ist ein gutes Zeichen." Zur „Realitätsprüfung" (Dewey 1952) werden kritische Leser genutzt: der fachkundige Kollege (31), ausgewiesene Spezialisten der Fraktion (29 / 30), eine wohlwollende Fachöffentlichkeit (32). Die erfolgreich passierten Prüfungen wirken qualifizierend. Die Position ist dann „vom Büro IV unterstützt", „durchgerechnet", „positiv aufgenommen". Mit der bestandenen Prüfung wächst der zuerkannte Wert: Es lohnt, hierfür weitere Zeit und Mühe zu investieren. Zuweilen gehen Testläufe und Vorprüfungen in formale Abstimmungen über: (33) Büro I: Das Fraktionsbüro speist seinen Programmentwurf in die zuständigen Arbeitskreise. Die AKs sollen fachlich Stellung nehmen, meint der Frak-
tionsmitarbeiter einleitend. Der Entwurf stößt im AK auf Ablehnung. Das Gros ,mault': das sei Xfeindlich; es werde ein einseitiges Bild gezeichnet; da könne man ja gleich zur anderen Fraktion wechseln. Ein Abgeordneter regt sich auf, dass nun offenbar die Maßnahme XY in jeder Programmschrift erscheine. Dabei hatte die doch auf dem Parteitag nur eine knappe Mehrheit: „Eine Provokation sei das." Es findet sich kaum jemand, der als Anwalt des Papiers auftritt. Zu sehr müsste man sich dazu ,aus dem Fenster hängen. Die umfassende Ablehnung (33) ist symptomatisch für späte Konsultationen zum Papier. Es kann nur en gros bestätigt oder zurückgezogen werden. In unserem Fall wird die Ablehnung mit einer Fülle an teils widersprüchlichen Wünschen an eine neue Version begleitet. Das Papier provoziert solche Beiträge: Bewertungen durch MdBs und damit „Charakterwettkämpfe" (Goffman 1971) mit großem strukturellem Konfliktpotential. Pretests sind Hürden, die intern konkurrierende Positionierungen heraufbeschwören. Die anderen wollen überzeugt werden. Die Dauer der Debatte ist dabei selbst schon ein Maß für das Gewicht der Sache: N i m m t sich das Gremium Zeit? Gibt es überhaupt ein breites Interesse daran? (34) Büro IV: Der MA rekonstruiert die Geschichte des Antrags der Fraktion zur XY-Reform: Eine erste Version ist im Januar vom AK vorgelegt worden. Die Fraktion verlangte bis Mitte Februar einige Veränderungen und vertraute dies einem Büro des AK an. Die Bearbeitung verzögerte sich bis Ende Februar. Inzwischen vertagte die Fraktion das Thema, angesichts ,sich überschlagender aktueller Ereignisse' gleich mehrmals. Der Kommentar des Mitarbeiters: „Das ist denen nicht mehr wichtig". Eine andere negative Abschlussbewertung kann die Veröffentlichung einschränken. So wird aus einem Papier für ein breites Publikum eine lediglich parteiinterne Schrift: (35) Büro IV: Angesichts des im Arbeitskreis nicht kritiklos aufgenommenen Positionspapiers erklärt die Abgeordnete vor ihren Kollegen, der Text werde erst einmal nur den Partei-Zentralen in den Bundesländern zugeschickt. Mit dieser „Relativierung" der Bedeutung verhindert die Chefin, dass das Papier (schon) mit zu hohen Ansprüchen konfrontiert wird. Es wird zurückgesetzt und beliefert allein die ,eigenen Leute'. In der Gewichtung werden einerseits Rand- von Kernthemen (34) und andererseits befreundete und breite Öffentlichkeiten (35) unterschieden. Wann eine Position im N a m e n der Gruppierung für die Öffentlichkeit publik gemacht wird, hängt damit
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nur zum Teil an intern zuerkannten Qualitäten; die Freigabe hängt außerdem an aktuellen Themenkonkurrenzen 2 0 innerhalb der Gruppierung. Die Fertigung ist hier fast abgeschlossen. Die p o s i tion' tritt nun ein in eine prekäre Karrierestufe. Es müssen nun auch sachfremde Büros der Fraktion gegen andere Themen interessiert und zur Zustimm u n g bewegt werden. 2.9 Realisierung: Verwertungen und Bewertungen Die Karriere der Position ist offen, aber nicht zufällig. Dies gilt gerade auch für den finalen Karriereschritt: die Verwertung der Position in der Öffentlichkeit. Die Verwertung ist indexikal. Sie konkurriert mit anderen Positionen in der politischen Arena. Sie adressiert deren mehr oder weniger kritisches und kundiges Publikum. Die Verwertung erfolgt in diesem Sinne ζ. B. als Beitrag zur Zweiten Lesung im Gesetzgebungsverfahren, als Podiumsbeitrag vor einem Fachpublikum, als Pressekonferenz zur breiten gesellschaftlichen Debatte. Es ist die Leistung der umkämpften Einpassung hier/jetzt, die den notwendigen Freiheitsraum für die Sprecherinnen und Sprecher definiert. Die Positionierung ist an die Position gebunden, ohne von dieser diktiert werden zu können. Die Verwertung sucht den richtigen Zeitpunkt im fokalen diskursiven Prozess. Der richtige Zeitpunkt wird durch pragmatische Erwägungen hinsichtlich der konkurrierenden Positionen, Entwicklungen zum Sachstand oder dramaturgischer Gegebenheiten kalkuliert. In diesem Sinne braucht die Positionierung Vorbereitungen, die zuweilen bis kurz vor dem Auftritt andauern oder gar in diesen hineinragen: M a n stimmt sich mit Vorrednern ab, ändert das Manuskript im Lichte der Vorreden oder streicht Passagen aufgrund veränderter Zeitkontingente. Zuweilen fällt die Positionierung dann sogar aus: (36) Büro I: Die Abgeordnete investiert mit ihrem Team in die Ausarbeitung der mündlichen Anfrage, die zugleich Startschuss für eine kleine Kampagne zum Thema sein soll. Die Gelegenheit erscheint für sie als Berichterstatterin ihrer Fraktion günstig, denn der Hier verhält es sich ähnlich der Bewertungen in PeerReview Verfahren bei Fachzeitschriften (Hirschauer 2004), die die Qualität eines Aufsatzes im Lichte der aktuellen Aufsatzlage beurteilen. Es gibt entsprechend günstige und ungünstige Zeiten für die Einreichung eines Beitrages. Vgl. auch Luhmann (1998: 1096 ff.) zur begrenzten Aufnahmekapazität der Öffentlichkeit. 20
383 Minister kommt in den Fachausschuss und mit ihm eine Schar Journalisten. Doch dann kommt es anders: Ihr AG-Sprecher überreicht einen Zettel, auf dem er sie bittet, vor ihr sprechen zu dürfen. Die Zeit der Fragerunde wird schließlich überzogen. Sie selbst kommt nicht mehr zum Zuge. Ihre Frage geht zu Protokoll. „All die Arbeit für die Katz", ärgert sie sich auf dem Weg zurück ins Büro.
Die Positionierung bleibt trotz aller Vorbereitung an die situative D y n a m i k gebunden. Die Einfädelung im Situationsablauf (36), die Anknüpfungen durch die konkurrierenden Gruppierungen sowie die Rezeption des Publikums begründen eine Kontingenz von Sinn und Relevanz. Selbst die brillante Rednerin weiß nicht, wie hier die Position ,rüberkommt'. Ausdruck findet der offene dramaturgische Charakter der Positionierung in Reaktionen der M A . Hier würdigt der .engste Kreis' die ,gut vorbereitete' Plenarrede: (37) Büro IV: Heute sitze ich mit der M A beim Chef vor dem Bildschirm, um dessen Plenarrede live zu verfolgen. Ihr Fazit: „Das ging doch." Als er zurückkommt, gibt es Lob: „Toll rüber gekommen!" Der Abgeordnete wirkt erleichtert: „Gut, dass wir gestern nochmal drüber gegangen sind." Das Video mit der Rede wird später auf die Webseite des Abgeordneten gestellt. (38) Büro III: „Wieder eine raus!" Der M A kommentiert auch in seiner neuerlichen Presseerklärung die Politik des Ministeriums. Heute zum ausbleibenden Konzept zum Schutz vor ... Er zirkuliert zwei- bis dreimal die Woche solche PE. Zwischen der Anfertigung und der Zirkulation im Presseverteiler liegen oft nur 30 Minuten. Entsprechend positionsarm kommen die Texte daher. Auch dieser folgert aus einer aktuellen Entwicklung, dem Verstreichen einer Deadline, eine zentrale Konsequenz: „Endlich Vorschläge zu unterbreiten!" Eine Position zeichnet sich eher in der Summe dieser Kritiken ab.
Positionierungen sind nicht immer derart dramatisch. Und sie sind nicht immer Ausdrücke einer abgestimmten, festgelegten Position. Es finden sich minimale Positionierungen, die ζ. B. ein Politikfeld mit seinem Fachpublikum mitlaufend .bespielen': Positionierungen treten mit der Position in divergente temporale Beziehungen: mal fungiert die Positionierung als Rückgriff (37) auf einen Prozess der Festlegung und Abstimmung; mal formen Positionierungen als Vorgriff (38) sukzessive die Position. Vorgreifende Positionierungen haben eine taktische, mikropolitische Dimension, insofern sie Vorfestlegungen für eine ausstehende Fertigung kommunizieren. Solche .voreiligen' Positionierungen binden dann Positionen, nicht umgekehrt.
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Die Verwertung zielt je nach politischer Arena auf ein mehr oder weniger spezifiziertes bzw. generalisiertes Publikum. Wichtiger Teil der „overhearing audience" (Atkinson & Drew 1979) ist dabei immer die eigene Gruppierung, die die Positionierung im Lichte der Position bewertet. Plenarreden mobilisieren das eigene Lager, provozieren die Konkurrenz und interessieren das Publikum. In dieser Weise können Positionierungen von der Fraktionsspitze vorab als deviant unterbunden werden. Oder sie können im Nachhinein verurteilt werden, weil sich die Darstellung zu weit von der kollektiven Linie entfernt hat. In Büros machen insbesondere solche devianten Fälle die Runde: Demnach hatte eine Abgeordnete im Namen der Fraktion gesprochen und sich über die „Beschlusslage" hinweggesetzt. Die Verwertung fungiert nicht als Ende der Positionenkarriere, sondern eröffnet ihren Fortgang unter anderen Bedingungen. Ist sie einmal freigesetzt, entzieht sie sich dem Zugriff der Absender. Sie ist den Angriffen der Gegner, den Intuitionen des Publikums und den Unbilden der Sache ausgesetzt. Von Seiten der Büros können jetzt nur noch im Namen der Position Entgegnungen entgegnet und Kommentierungen kommentiert werden. Der Fortlauf der Karriere bemisst sich entlang von Resonanz und Unterstützung, die ihr zuteilwerden:
der Positionen entsprechen einer aufwendigen, methodischen und kontingenten Diskurspraxis kundiger Teilnehmerinnen. Vollwertige Beiträge haben schließlich eine umfassende Karriere hinter sich. Erinnert sei lediglich nochmal an deren Frühphase, wie hier hinsichtlich einer sichtenden Besprechung auf Mitarbeiterebene:
(39) Büro III: Heute, 14 Monate nach der Feldforschung, finde ich Ergebnisse der Fertigung im Netz: aus dem Papier wurde ein Fraktionsbeschluss, eine Fraktionsbroschüre, ein Aufsatz für ein Fachmagazin. Die Bemühungen waren offenbar erfolgreich aber nicht isoliert. Es finden sich parallel konkurrierende Papiere: in der Bundestagsdebatte, der Kampagnenbroschüre des Bundesministeriums, dem Programm zur „Gemeinsamen Agrarpolitik" (GAP) der EUKommission.
Die Perspektive auf das Werden zeigt, wie das formative Objekt im Zuge seiner Relevanzkarriere immer weitere Kreise zieht: vom Schreibtisch zur Bürogemeinschaft, zum Arbeitskreis, bis ins Plenum. Diese Expansion schafft Arbeitssituationen. Sie leisten mit wechselnder medialer Ausstattung und dementsprechend modifizierten Reichweiten eine Wertschöpfung von Vor- zu Zwischen- zu Endprodukten. Die Position erweist sich als ressourcenintensive Hervorbringung vernetzter Büros. Sie entfaltet sich akkumulativ quer zur systemtheoretischen Trias aus selbstbezüglicher Interaktion, Organisation und Gesellschaft.
3. Schluss Ausdifferenzierte Kommunikationszusammenhänge bedürfen der fortwährenden Prozessierung vermittels distinkter Operationen und der Strukturierung qua generalisierter Medien. Diese Grundpfeiler der Luhmann'schen Systemtheorie nimmt die Untersuchung der Mikrofundierung von Politik auf. Allerdings untersucht diese die Systembeiträge, hier: Sachpositionen, nicht primär in ihrer Verkettung von Gleich zu Gleich, sondern ,im Werden. Die Mikrofundierung gelingt dank der regelmäßigen, transsituativen Verfertigungen über je situierte Zwischenstände hinweg. Fertigung und Verwertung
(40) MAI: „Ist das aus eurer Sicht gut oder schlecht?" MA2: „Also aus unserer Sicht ist das ok." MA 1: „Sind das Vertragsnaturschutzflächen oder richtige Naturschutzflächen?" MA 2: „Das muss ich mal, das weiß ich jetzt nicht." MA 3: „Und haushälterisch, wie stellt sich das dann dar?"
Problematisierung, Bewertungsmaßstab, Schlussfolgerung - selbst diese Anbahnungen zur Position sind anfänglich noch unklar. Ein spekulatives Vorsortieren dominiert. Der Kontrast zur verwerteten Position in Plenardebatte oder Pressekonferenz könnte kaum größer sein. In der Arena sind schließlich alle Unklarheiten zugunsten einer entschlossenen, wettbewerbenden Positionierung gewichen. Die Rednerin fordert mit Entschiedenheit ,diese überfälligen Maßnahmen' gegen die ,falsche Politik der anderen'. 3.1 Die Fertigung und Verwertung im Überblick
Die folgende Tabelle bietet ausgehend von den Arbeitsepisoden einen Uberblick, wie und woraufhin die jeweiligen Büros Positionen sukzessive ausformen. Die Tabelle sortiert die verorteten Arbeitsepisoden entlang von Karriereschritten und den bedienten politischen Prozessen (Debatte, Policy, Verfahren). Die Arbeiten hantieren mit der Sachposition als formativem Objekt im je aktuellen Entwicklungsstand. Sie zehren von den Vorleistungen, sind gebunden an erreichte Qualitäten und richten sich auf anstehende Erfordernisse:
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Debatte 1. Sichtungen
1
2. Anlässe
2
7'" giv
3" 4'" 6" 9"
12'" [10 l v -
-14,v-
11'"
4. Recherchen
16'
i
15'"
5. Materialien
22'"
-21,v]
3. Aufträge
32'"
31' v
Die angeordneten Episoden umfassen eine Vielzahl von Positionen-im-Werden. Einige Episoden knüpfen hier unmittelbar aneinander an. Die Markierungen heben solche Serien einer Fertigung hervor: 1 0 - 1 4 - 2 1 und 2 8 - 2 9 (Büro IV), 1 8 - 1 9 - 2 9 - 2 3 (Büro II) sowie 25 / 31 (Büro III). Jede dieser Serien ließe sich zur Einzelfallstudie ausbauen. Der Einzelfall würde transsequentiell nachvollziehen, wie genau anhand eines formativen Objekts und den an seinen Zwischenständen anknüpfenden Praktiken, Schritt für Schritt eine Festlegung und Abstimmung zur Position erfolgt. Was die Tabelle nicht aufschlüsselt, ist die fallweise Varianz in den Fertigungs- und Verwertungsweisen. Varianzen lassen sich anhand des Uberblicks provisorisch an den Büros (1) und den Systemprozessen (2) festmachen: (1) Die Fertigungen der Büros differieren aufgrund der personellen Ausstattung, der Fraktionsstellung und der gehegten Ambitionen 2 1 sowie angesichts der durch regelmäßige Anforderungen kultivierten Arbeitsweisen. Wie eine Fertigung vonstattengeht, wer beteiligt wird oder wer den Ton angibt, variiert mit Büro-eigenen Arbeitsweisen. D a s Personal tradiert in vielfachen Fertigungen bewährte Präferenzstrukturen.· eine eher situative oder institutionelle Arbeitsteilung, eine eher projektbezogene oder -übergreifende Zentrierung, eine eher sachliche oder personale Streitkultur. Selbst die Verwertung der Position variiert, insofern Sprechern mehr oder
Die Karrieren unterscheiden sich auch je nach Rang und Ambition des federführenden Büros. Während sich einige Büros mit dem Wahlkreisbezug oder fachpolitischen Spezialthemen begnügen, zielen andere Büros auf bundespolitische Debatten. Die dabei jeweils angepeilte Öffentlichkeit macht einen Unterschied, weil hier mal mehr, mal weniger mit Aufmerksamkeit und Kritik zu rechnen ist. Die Atmosphäre in Hinterbänkler-Büros variiert dementsprechend zu den Büros in .vorderster Front'.
5" 13"
17"
[18"-19"-20"~ 1-23"] 24' 26' [28 IV -29' v ]
30«] 33' 34 IV 35' v 36'"
8. Verwertung
21
40 g IV
[25"'-27'
6. Textarbeit 7. Pretests
Verfahren
Policy IV
37'39"'
38' v
weniger freie H a n d zur Ausgestaltung verliehen wird. Insgesamt haben die Präferenzstrukturen einer Arbeitsweise ihren Sitz nicht primär in den Vorstellungen der Teilnehmer, sondern im entfalteten Arbeitsprozess und formativen Objekt. Die ethnographische Konfrontation mit den komplexen Arbeitsepisoden neigt hier weniger als funktionale Analysen dazu, die Variationen zwischen Büros und Fraktionen zugunsten einer generalisierten Operationsweise einzuebnen. (2) Auch im Hinblick auf die interne Differenzierung des politischen Zusammenhangs konstatiert die Mikrofundierung Variation - und zwar unterhalb der Leitdifferenz von Regierung und Opposition. In den beobachteten Arbeitsepisoden ging es zunächst um ganz Handfestes: Die Mitarbeiterin überfliegt gerade eine Verbandsstellungnahme, ergänzt einen letzten Punkt für die Anfrage oder holt ein anderes Büro mit ins Boot. Die konkrete Aufgabe folgt dabei Anforderungen des laufenden politischen Prozesses: einem Verfahren, einer Debatte oder einer Fachpolitik. Der bediente Prozess tangiert Fertigung wie Verwertung der Position durch seine Dringlichkeiten, Bindungen, Publika. Im Einzelnen: -
Relativ routinisiert sind Fertigungen für eine Policy. Positionierungen fungieren als Updates angesichts veränderter Sachlagen. Sie sollen beim Fachpublikum Kompetenzvertrauen und Austauschbeziehungen aufbauen und sichern. D a s allgemeine Publikum muss für Einzelprobleme interessiert, eine Nachfrage erst erzeugt werden.
-
Relativ dynamisch, ja hektisch und spannend sind Fertigungen für Debatten. Es muss, trotz Zeitdruck, mit größter Aufmerksamkeit und kritischer Rezeption von Seiten der Konkurrenz gerechnet werden. Es wirkt ein hoher Nachfragedruck, weil auch .Schweigen als Positionierung rezipiert wird.
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-
Relativ ritualisiert und formalisiert vollziehen sich Fertigungen zu Verfahren, seien es Anfragen als Akte der Regierungskontrolle oder Beiträge zum Gesetzgebungsverfahren. Die Fertigung muss sich hier auf definierte Fristen und Formerfordernisse einstellen. Im Verfahrensgang ist die Positionennachfrage spezifiziert. Trotz der Variation der Arbeitsweisen und Nachfragen, stiften die Fertigungen und Verwertungen eine Operationsweise und einen kommunikativen Zusammenhang. Die Resultate der Büro-Arbeiten gelten als politisch, insofern sie in einem Medium münden, das eine Struktur an Vorselektionen und Anschlussstellen aufweist: die Position. 3.2 Der Zusammenhang der Politik und sein Leitmedium Der Zusammenhang der Politik lässt sich anhand der Unterscheidung von Position und Positionierung sowie anhand der verschiedenen Systemprozesse - Debatte, Verfahren, Policy - fassen. Die Position fungiert als Leitmedium, insofern sie die Gehalte der Positionierung über den engen Kontext der Verwertung hinaus verfügbar macht; sie integriert den kommunikativen Zusammenhang der Politik in Zeit und Raum. Erste Hinweise auf diese breite Verfügbarkeit liefern strategische Kampagnen, die mittels einer gefertigten Position und ihrer multiplen Ubersetzung sowohl Policy als auch Debatte und Verfahren bedienen. Weitere Hinweise liefern Transfers zwischen den Prozessen. Eine Positionierung im Verfahren kann Debatten stiften, wo die gesellschaftliche Agenda berührt ist; eine Positionierung in einer Debatte dynamisiert eine Policy, wo sie neue Schemata aus Problem und Maßnahme einführt; eine Positionierung im Politikfeld vermag als Position gesetzgeberische Initiativen zu begründen, die wiederum Verfahren nach sich ziehen. Für eine Mikrofundierung der Politik, wie sie sich ausgehend von den Arbeitsepisoden abzeichnet, ist dieser Gesichtspunkt maßgeblich: Die Positionierung offeriert Anschlüsse als Position über die Arenen politischen Wettbewerbs hinweg. Wie kann derart weitreichend an indexikale Positionierungen angeknüpft werden? Die Position verknüpft als Medium mindestens drei vormals noch locker verbundene Hinsichten zu einer festen Einheit (vgl. Heider 2005): Sachverhalt-MaßnahmenHaltung. In dieser Trias ist jedes Element von den beiden anderen eingefasst: Die Formulierung des Sachverhalts verrät Problembewusstsein und mithin
Haltung; der Sachverhalt ist so formuliert, dass er die angepeilten Maßnahmen überhaupt erlaubt und als adäquat erscheinen lässt12; die Maßnahmen aktualisieren die Haltung, d. h. eine systematische Präferenz für bestimmte Lösungen; die Haltung wiederum ist so formuliert, dass sie passable Lösungen für derlei Sachverhalte nahelegt. Die Position kann mittels dieser dreigliedrigen Passung in jeder dieser Hinsichten angesprochen und kritisiert werden: als (wenig) prinzipientreu, angemessen, sachgerecht. Jede Bezugnahme und Modifikation zieht dabei die zwei anderen Elemente in Mitleidenschaft. Auf dieses integrierte Leitmedium, so mein Schluss, zielen die Abgeordnetenbüros mit ihren Arbeiten. Sie verraten diese umfassende Orientierung im Zuge der Fertigung, selbst wenn sie nur eine Ideenskizze, nur e inen Entwurf zur Presseerklärung, ein Redemanuskript oder eine „kleine Anfrage" bearbeiten. Ihr Vorgriff auf Medieneigenschaften der Position ist dabei durchaus realistisch: Denn jeder Beitrag zur Fachpolitik, zum Verfahren oder zur Debatte steht tatsächlich dem weiteren politischen Zusammenhang zur Verfügung. Das Leitmedium schafft die Einheit des politischen Zusammenhangs, indem es quer zu Debatte, Politikfeld und Verfahren inhaltliche Festlegungen der Gruppierungen erinnert, relationiert und bindet. Wie verhält sich diese mediale Bestimmung zur Analyse des politischen Systems bei Luhmann? Genauer: Wie verhalten sich die Sachpositionen als Leitmedium zum generalisierten Kommunikationsmedium der Macht? Drei Verhältnisse erscheinen im Lichte der Mikrofundierung plausibel: (1) Macht als Ressource der Positionen-Fertigung; (2) Macht als generalisierter Ausdruck des politischen Wettbewerbs mit Positionen; (3) Macht als eine Qualität der Position, die sie im Laufe ihrer Karriere erringt/ einbüßt. (1) Die Fertigung von Positionen lässt Schlüsse auf die Relevanz der Ressourcenausstattung zu. Es werden Machtmittel (Personal, Geld, Zugang zu Informationen) investiert, die zwischen Gruppierungen und Lobbygruppen unterschiedlich verteilt sind. Im Falle der Regierung wird Macht in der Form der Ministerialbürokratie auch für die zukünftige Fertigung von Positionen zugeteilt - und damit durch Wahlen eine 22
Hier bedient sich die Politik eingespielter ProblemLösungs-Kombinationen bzw. Kausalitätsschemata (Luhmann 2002: 22), die Wirkungsweisen vereinfachen, Differenzen zuspitzen und Nebenfolgen ausblenden.
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Wettbewerbsverzerrung im Sinne ungleicher Verfügung über Produktionsmittel angeordnet und legitimiert. Der Einfluss auf die Fertigung qua Amt wird allerdings durch den Einfluss von Lobbygruppen relativiert. Sie verhelfen zuweilen auch der Opposition etwa per Gestaltung von Positionen-Vorlagen zu schlagkräftigen Fertigungsnetzwerken. (2) Die Machtverteilung durch Wahlen kann im Sinne der Semantik des demokratischen Wettbewerbs um die Gunst des Wahlvolkes als periodische, generalisierte Bilanz des permanenten Positionenwettbewerbs gelten. Die Verwertung der Position als kollektiven Diskursbeitrag bzw. als Beitrag einer Gruppierung eröffnet dem Publikum die Möglichkeit der Positionen übergreifenden Zurechnung. Das Publikum verleiht/entzieht dann seine Zustimmung als Verfestigung von Stimmungen zur Stimmabgabe im Lichte .relevanter' Debatten, Verfahren und Politikfelder. Erst die Wahlstimmen generieren dann politische Macht bzw. „ein .banking' des Machtvertrauens" (Luhmann 2002: 34), das allerdings immer auch an veröffentlichte Positionen gebunden bleibt. (3) Positionen sind mehr oder weniger machtvoll in Relation zu anderen Positionen. Hier wären rezeptive Stimmungen und Abstimmungen nur Karriereschritte, die die Chancen erhöhen, die Position „als kollektiv bindend" (Nassehi 2009) durchzusetzen. Eine geförderte' Position vermag schließlich selbst den Staat oder multilaterale Bündnisse im Verhältnis zu anderen Kollektiven zu repräsentieren.23 Im Lichte der Positionen diversifiziert sich nicht nur die Machtfrage, sondern zuweilen auch die Gewaltenteilung, wo sich Positionen nicht mehr kategorisch von .politisierten Gesetzen unterscheiden lassen. Ein Gesetz kann dann politisch (nicht juristisch!) als machtvolle Position rezipiert werden. In dieser Weise operiert politische Kommunikation zuweilen über den Parteien-Wettbewerb hinaus. Ob Positionen durch, für oder mit Macht: Aus der Perspektive der Mikrofundierung liefert das generalisierte Medium der Macht nicht schon die operativen Werte des politischen Zusammenhangs. Im „participation framework" (Goffman 1981) der Po-
So, wenn die Kanzlerin auf der internationalen Konferenz die „deutsche Position in der Klimafrage" vertritt oder wenn sich das Parlament auf eine „gemeinsame Position zum Irakkrieg" verständigt. 23
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litik handeln die Teilnehmenden zunächst mit kollektiven Positionen, nicht mit Macht. Dies schließt nicht aus, dass Positionen Macht verausgaben, generieren und binden. Macht formuliert dann zwar die immer schon implizierte und im generellen Strategievorbehalt unterstellte Ambition von Positionen; sie vermag aber nicht den politischen Zusammenhang als eine Diskursformation zu entfalten und zu betreiben. Ohne Positionen (zumindest) keine (demokratische) Politik.
Ausblick .Der konservative Berliner Kreis in der C D U kann sich nicht auf das angekündigte Grundsatzpapier einigen. Steinbrück (SPD) kritisiert wiederholt Merkel für ihre „ständigen Positionswechsel" in der Euro-Frage. Die SPD ringt um eine Linie zur Finanzkrise. Die G R Ü N E N streiten um das Spitzenpersonal für die Bundestagswahl; dies blockiere Kapazitäten für Sachdebatten. Alle kritisieren die Piraten für deren Positionslosigkeit.'
Mit dem Fokus auf die Fertigung und Verwertung von Positionen fallen solche Meldungen (hier vom August 2012) ins Auge. Die Mikrofundierung behauptet jenseits einer bloßen Interaktionsanalyse: die politische Arbeit im Parlamentsbetrieb hat es gerade nicht mit individuellen Meinungen zu Allem und Jedem zu tun. Sie ergeht sich nicht in Egotrips und Machtspielchen. Vielmehr verlangt der politische Diskurszusammenhang mit seinen vielfaltigen Prozessen, Konkurrenzen und Publika seinen Teilnehmern einiges ab. Ihre Beiträge sollen umfassend, sachgerecht und originär sein und die ganze Gruppierung repräsentieren. Die Gruppierung bzw. Fraktion ist gefordert, mit ihrer Fertigungsweise diesen komplexen Anforderungen nachzukommen.24 Sie muss die laufende Abstimmung und Festlegung auf Maßnahmen zu gesellschaftlichen Problemen entlang gemeinsamer Uberzeugungen leisten, kurz: die Lieferung von Sachpositionen ,just in time'.
Webers politische Soziologie (1988 [1919]) sowie die Parteiensoziologie seiner Schüler (z.B. Michels 1911) lässt sich so lesen: als Versuche, den Preis zu bestimmen, den die politischen Teilnehmer (Politiker wie Gruppierungen) durch das „participation framework" des demokratischen Parteienwettbewerbs zu entrichten haben. Ihnen werden Organisationsweisen aufgenötigt. 24
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Aktuell zu beobachtende Umwälzungen der Fertigungsweisen
vom
Produzenten-Konsumenten-
Modell, der Einbindung der Konsumenten 2 5 oder das Outsourcing in Zuträger-Büros deuten sich in den hier angeführten Arbeitsepisoden erst an. Sie mögen als Ausdruck einer erhöhten und beschleunigten Nachfrage nach Positionen gelesen werden, oder auch als kultureller Wandel im Zuge des W e b 2 . 0 und der damit einhergehenden Umverteilung von Produktions- und Rezeptionsmitteln. Für eine Vertiefung der hier begonnen Analyse wird es im Lichte solcher sich andeutender Umwälzungen darauf ankommen, Weisen der Fertigung und Verwertung auch historisch und kulturell einzuordnen. Die politischen Betriebe mit ihren Ausstattungen und Arbeitsweisen sind lange genug zugunsten der politischen Bühnen mit ihren Aufführungen als Basis des demokratischen Wettbewerbs missachtet worden.
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Autorenvorstellung Thomas Scheffer lehrt seit Oktober 2012 als Professor für Interpretative Sozialforschung am Institut für Soziologie der Goethe Universität Frankfurt. Er verbindet Methoden der Ethnographie sowie der Medien- und Diskursforschung zur Analyse demokratischer Kulturtechniken und Staatlichkeit. Scheffer ist Sprecher der Sektion Rechtssoziologie der DGS. Er veröffentlichte u.a. die Ethnographien „Asylgewährung" (2001) und „Adversarial Case-Making" (2010), die vergleichende Ethnographie „Criminal Defense and Procedure" (2010, mit A. Kozin und K. Hannken-Illjes) sowie in der ZfS die Aufsätze „Dolmetschen als Darstellungsproblem" (1997, 2. Preis der Thyssenstiftung) und „Starke und schwache Verfahren" (2008, mit M. Michaeler und J. Schenk).
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft, 2014, S. 3 9 0 - 4 0 7
Finanzkommunikation als Praxis ökonomischen Darsteliens Financial Communication as a Practice of Economic Representation Herbert Kalthoff Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Institut für Soziologie, Jakob-Welder-Weg 12, 55128 Mainz [email protected]
Sonia Köllner Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Institut für Soziologie, Jakob-Welder-Weg 12, 55128 Mainz [email protected] Zusammenfassung: Der vorliegende Beitrag wirft einen Blick auf die Kommunikation in Finanzorganisationen. Gegen eine analytische Trennung von Interaktions- und Organisationssystem skizziert der Beitrag die Überschneidungen und Verknüpfungen der Systemebenen und schlägt daher eine integrierende Perspektive vor. Die Fälle, an denen dieser theoriegeleitete Blick entfaltet wird, sind die Praxis der Produktentwicklung im Bereich des Hedging sowie die Praxis der fernmündlichen Verständigung über den Sinn ökonomischer Investitionen im Bereich der Unternehmensfinanzierung. Der Beitrag nimmt eine kulturtheoretische Perspektive ein und zeigt, dass es die materiellen Formen der Darstellung sind, durch welche Kommunikationen gerahmt und Interaktion und Organisation verknüpft werden. Durch diese Darstellungen werden ökonomisches Wissen verfügbar und Entscheidungen gestaltbar. Schlagworte: Finanzkommunikation; ökonomische Darstellung; Materialität; Hedging; Kreditgeschäft. Summary: This contribution gives an empirical insight into communication within financial organizations. Against the background of an analytical distinction between interaction and organization systems this paper outlines the overlapping and linkage of system levels and proposes an integrative perspective. This theoretical and empirical perspective is developed using two different cases: the design of financial products in the field of hedging and remote, telephonic negotiations about the economic sense of an investment in the field of corporate finance. The paper adopts a culturetheoretical perspective and shows that it is material forms of representation which frame communications and that interaction and organizations are linked by them. Economic knowledge is made available and decisions can be shaped by means of these representations. Keywords: Financial Communication; Economic Representation; Materiality; Hedging; Credit Business.
1.
Einleitung
M a n kann ganz allgemein feststellen, dass jede Finanzorganisation den ökonomischen Sinn der von ihr getätigten Investition plausibilisieren muss. 1 Dies gilt ganz unabhängig davon, auf welchen Märkten die Investition oder die Transaktion erfolgt. Im Zentrum der Plausibilisierung und Legitimierung von Investitionen stehen in aller Regel die Kalkulation ihres ökonomischen Werts und eine Einschätzung durch die Investitionsentscheider. Die Kalkulation erfolgt gewöhnlich auf der Basis homogenisierter und standardisierter Verfahren, die einen formalen Vergleichsrahmen f ü r die quantitative Bewertung des ökonomischen Sinns einer Investition 1 W i r danken Bettina Heintz, Hartmann Tyrell sowie beiden Gutachtern für ihre Kritiken und Hinweise.
schaffen. Hier sind es Zahlen, die Vergleichbarkeit herstellen und darüber Entscheidungen ermöglichen (Heintz 2 0 1 0 ; Espeland 2002). In ihren Entscheidungen beziehen sich Finanzakteure allerdings auch aufweniger gut quantifizierbare Merkmale von Investitionen: Bei Kreditentscheidungen ist etwa die Qualität des Unternehmensmanagements ebenso relevant wie aktuelle Stimmungen auf den Märkten. Die Entscheidung über eine ökonomische Investition gründet daher u. a. auf lokalen Traditionen (etwa einer risikoaffinen oder risikoaversen Organisationskultur) sowie auf dem Vollzug der ökonomischen Bewertung, die ihrerseits Berichte, Darlegungen etc. verwendet, die den berechneten ökonomischen Sinn dokumentieren sollen. Durch diese Bewertung wird einem ökonomischen Gut (etwa einem Produkt) ein W e r t zugeschrieben. Sicherlich ist die Werthaftigkeit eines
Herbert Kalthoff & Sonia Köllner: Finanzkommunikation als Praxis ökonomischen Darstellens
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Bestimmt (.kodiert') wird Finanzkommunikation über die Herausbildung eines Mediums, das sich erfolgreich als zentrales Zahlungsmittel etablieren konnte: das Geld. Wirtschaftsorganisationen reproduzieren sich, so die Annahme, autopoietisch in und durch dieses symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium. Auch wenn betont wird, dass sich die soziale Welt von Wirtschaftsorganisationen nicht im binären Schematismus erschöpft, sondern „im Vorfeld [...] vielfältige Formen .wirtschaftlichen Handelns' möglich" sind (Nassehi 2004: 108), so sind es „ausschließlich Zahlungen und Nicht-Zahlungen, die die Autopoiesis des Systems ausmachen" (Nassehi 2004: 108). „Entscheidend sind Geldzahlungen" (Luhmann 1998: 727) - und ihr Sinn ist es, Zahlungen zu ermöglichen (Luhmann 1994: 52). Das System reproduziert sich folglich über den Schematismus von Zahlung /Nichtzahlung. Das heißt: Nicht die ökonomische Praxis ist von Relevanz, auch nicht die Vorbereitung und Durchführung der Transaktion selbst, sondern letztlich die erfolgte bzw. nicht erfolgte Zahlung, die wiederum beobachtet und an die angeschlossen werden kann. Aber was könnte eine solche .Zahlung' sein? .Zahlung' kann in dieser Perspektive nichts anderes als eine Buchung sein („man blickt in die eigene Bilanz", Luhmann 1994: 307) - und damit eine ökonomische Darstellung, die ihrerseits entsprechend (westlicher) ökonomischer Standards fabriziert worden ist. Man kann somit feststellen, dass der binäre Code der Systemtheorie eine Rangordnung von Praxis und ökonomischer Darstellung vornimmt: Vorrangig ist die Darstellung, nicht die Praxis des Darstellens. Allerdings wird diese Setzung nicht weiter begründet oder 2 Es ist eine wirksame Fiktion, dass die Bewertung eines diskutiert. Schon an dieser Stelle zeichnet sich ein seökonomischen Akteurs auf den Zahlenwerken basiert, die miotisch ausgerichteter Kommunikationsbegriff ab, seinen (Miss-)Erfolg dokumentieren. Der Bewertung geht also — so die A n n a h m e — eine ökonomische Praxis voraus. der in den Darstellungsformaten Anschlussoptionen Hingegen haben soziologische Studien zur Praxis der für weitere Operationen erkennt. ökonomischen Bewertung und Wertzuschreibung (bspw. Gegen diesen hier nur skizzierten KommunikationsBeckert & Musselin 2013; Lamont 2012) auf vielfaltige begriff gibt es aus der Perspektive einer empirischen Weise gezeigt, dass das Beurteilen den Wert konstituiert. Theorie ökonomischer Praxis (Kalthoff 2005; 2015)5 Theoretisch aufschlussreich ist daher eine Perspektive, die sowohl konzeptionelle als auch empirische Einwände. diese Praxis der bankwirtschaftlichen P r ü f u n g und BeVerschiedentlich wurde schon auf die „Unterkomplewertung expliziert. 3 xität" der Differenzierungstheorie hingewiesen und Zu der hiermit verbundenen Frage des organisationalen u.a. betont, dass die Codierungen nur zeitlich beUmgangs mit Unsicherheit vgl. Michel & Wortham 2009. 4 grenzte Perioden beschreiben, die für die Teilnehmer Kommunikation ist zwar vom Systemtypus abhängig,
Produkts nicht stabil und gegen Revisionen gefeit, wie insbesondere Wertberichtigungen .fauler Kredite' belegen. Eine Wertberichtigung ist soziologisch nichts anderes als eine Abschreibung bzw. Refinanzierung des eingesetzten Kapitals, eine Anpassung der (Gewinn-)Erwartung sowie eine Korrektur der Entscheidungsgrundlage: Wertzuschreibungen und Bewertungen müssen dann neu begründet, verhandelt und entschieden werden. Man kann also sagen, dass ökonomische Entscheidungen auf Kommunikation basieren, die zu Entscheidungen und damit (Nicht-)Investitionen führen. 2 Nun weiß die Soziologie seit Niklas Luhmann, dass das Funktionssystem der Ökonomie ein ausdifferenziertes soziales System und damit eine operativ geschlossene Einheit darstellt. Wie in allen anderen Systemen auch, findet hier nicht Handlung, sondern Kommunikation, d.h. Beobachtung statt (Luhmann 1984). Das Wirtschaftssystem respektive Wirtschaftsorganisationen beobachten eigene und fremde Operationen und ermöglichen Anschlüsse an diese Beobachtungen. Auch für Finanzorganisationen gilt, dass sie über die Beobachtung von Märkten, Kunden etc. beobachten, was Märkte, Kunden etc. ihrerseits beobachten (Baecker 1991; 1992).3 Kommunikation, die das Problem der .doppelten Kontingenz' lösen soll, besteht - formal betrachtet - aus drei Operationen: Information, Mitteilung, Verstehen, wobei „Kommunikation [...] tatsächlich erst mit ihrem Abschluss im Verstehen zustande" kommt (Luhmann 1998: 25).4
in dem sie abläuft, stellt aber dennoch so etwas wie eine Basisoperation sozialer und psychischer Systeme dar. In diesem Z u s a m m e n h a n g spricht Bettina Heintz (2004: 24) von einer „kommunikativen .Mikrodeterminiertheit' der Systemeigenschaften". Über den Zuschnitt des KommunikationsbegrifFs bei Niklas L u h m a n n und damit verbundene immanente Theorieprobleme vgl. Lindemann 2014: 108 ff.
5
Wir folgen hier einem PraxisbegrifF, der die U n - / E i n heitlichkeit der Praxis, ihre In-/Kompatibilitäten, A m bivalenzen und ihr Auseinanderdriften ebenso berücksichtigen kann, wie die Passungen des Handelns und die Abstimmungen der Akteure.
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selbst nur eine eingeschränkte Bedeutung besitzen (Knorr Cetina 1992). Auch kommt dieses Konzept einer wesentlich auf Schriftzeichen basierenden Kommunikation ganz ohne soziales Handeln der (Organisations-)Teilnehmer aus - eine posthumane Konzeption von Sozialität und Organisation. 6 Zentrales Merkmal ist ein semiotisch ausgerichteter KommunikationsbegrifF, mit dem die Differenzierungstheorie auch ökonomische Darstellungen (wie etwa Bilanzen, Gewinn- und Verlustrechnungen, Cash Flow-Analysen etc.) fasst. Schaut man sich in diesem Zusammenhang Luhmanns (1998: 249 ff.) Konzeption der Schrift als eines Verbreitungsmediums an, lässt sich Folgendes feststellen: Erstens folgt die Konzeption einem pragmatischen Schriftbegriff, der die Funktion der Schrift auf das Vergessen, Erinnern und Transportieren und damit auf die Herausbildung eines neuartigen sozialen Gedächtnisses festlegt; zweitens werden funktionale Effekte beschrieben, die durch Schrift in Gang kommen (wie etwa die Entkoppelung von Mitteilung und Verstehen, die Ausdehnung der Leserschaft, die Kontinuierung des Gegenstands im Schriftstück); drittens wird die langsame Herausbildung von Beobachtungen höherer Ordnung durch die Rekonfiguration von Anwesenheit und Abwesenheit möglich. Es ist überraschend, dass dieser Schriftbegriff auf die alphabetische Schrift beschränkt bleibt und damit mathematische oder grafische Schriften (etwa Diagramme, Tabellen etc.) nicht zur Kenntnis nimmt. Ferner werden kulturtheoretische Arbeiten zur Performativität der Schrift nicht rezipiert.7 Damit kommen der Differenzierungstheorie Fragestellungen abhanden, die auf die Leistung der (alphabetischen, mathematischen oder grafischen) Schrift als Schrift abzielen. Wir beschreiben und analysieren in diesem Aufsatz eine empirisch beobachtbare Finanzkommunikation in zwei unterscheidbaren Feldern: die Entwicklung eines Finanzprodukts für schon se6 Gleichwohl existieren Parallelen zwischen der mikrosoziologischen Konzeption der Interaktionsordnung (Goffm a n 1980) und der Perspektive auf Interaktionssysteme (Luhmann 2002: 102 ff.; L u h m a n n in diesem Band): etwa in der Betonung physischer Anwesenheit, dem Phänomen der W a h r n e h m u n g und der Erwartung. Differenzen bestehen u.a. in der Betonung der Zeit - und damit der Temporalität von Sozialität. Diese Überlegungen finden sich bei L u h m a n n und nicht so sehr in den Arbeiten Goffmans. 7
Wir knüpfen mit unseren Überlegungen an kulturtheoretische Konzepte an, die einen weiter gefassten Medienbegriff vertreten; vgl. etwa Krämer 2008; Münker / Roesler 2008; Stäheli 2004; Reichert 2009.
lektierte Kunden einerseits, die Entscheidung über Kreditbewilligungen, d. h. die Bewilligung von Finanzmarktprodukten andererseits. Finanztechnisch gesehen gehört der erste Fall in den Bereich von Sicherungsgeschäften {Hedging), der zweite Fall in den Bereich des Risikomanagements im Corporate Banking. Sichtbar wird in unseren empirischen Beobachtungen dieser finanztechnischen Aktivitäten die jeweilige Finanzorganisation mit ihren Regeln, Verfahren und Standards; sichtbar werden aber auch individuelle Mitglieder dieser Organisation, die in der Organisation für die Organisation Produkte designen oder Entscheidungen vorbereiten und begründen. Beobachten lässt sich auch, dass Organisationsmitglieder füreinander zu erkennen geben, dass sie die Argumente der (hörbar) Anwesenden ^erstehen' und dass sie die Kommunikation fortführen können. Systemtheoretisch gesprochen geht es um Interaktions- und Organisationssysteme sowie um deren Bezug zueinander (Luhmann in diesem Band; Luhmann 1998: 812 ff.; 826ff.). Ein Risikoanalyst, der Zahlen liest und in ein Programm eingibt; ein Risikomanager, der einen Bericht über die Qualität einer Unternehmensführung schreibt; ein Produktentwickler, der ein Derivat skizziert; eine Gruppe mittlerer Manager, die Organisationsregeln diskutiert usw. usf. - all diese Handlungen haben zwei Seiten: zum einen ihren situierten Vollzug in einem spezifischen lokalen Kontext, zum anderen die Rahmung dieses Vollzugs durch organisatorische Regeln, Funktionen und materielle Arrangements. Organisationale Kommunikation ist also eine mehrfach gerahmte Interaktion. Auch wenn man Organisationen weder auf Individuen noch auf Interaktion reduzieren kann, erinnern individuelle Akteure, indem sie in ihrem Handeln organisationalen Verfahren, Regeln, Symbole etc. folgen bzw. ihnen Bedeutung verleihen, an eben diese Verfahren, Regeln, Symbolen etc. (Schatzki 2006). Interaktions- und Organisationssysteme sind vielfach miteinander verknüpft - durch Personen und ihre Handlungen, durch gelebte Regeln, Symbole und materielle Arrangements. Die Verbindung wird auch in den schriftlichen Darstellungen sichtbar, die zwischen den verschiedenen Organisationseinheiten zirkulieren. Das heißt: Wenngleich diese Darstellungen das Ergebnis einer situierten Praxis sind, die ihrerseits auch durch organisatorische Vorgaben gerahmt ist, sind sie dennoch transsituativ angelegt und verbinden Organisationsabteilungen systematisch miteinander (Knorr Cetina 1990). Eine empirische Theorie des organisationalen Geschehens
Herbert Kalthoff & Sonia Köllner: Finanzkommunikation als Praxis ökonomischen Darstellens
sucht nach diesen Verkettungen und Verkörperungen der Handlungen, der Teilnehmer und der materiellen Arrangements. Für die hier interessierenden Fragen sind zwei Formen ökonomischer Darstellung wichtig: (a) die ökonomische Darstellung mittels Zeichen und Symbolen sowie (b) die ökonomische Darstellung durch den Körper. Die Darstellung der ökonomischen performance geschieht durch Zeichen und Symbole, die aus dem Repertoire der alphabetischen, mathematischen und grafischen Schrift stammen. Mit anderen Worten: Die ökonomische Welt präsentiert sich in den Finanzorganisationen nicht direkt in dinglicher Form, sondern nur in und durch Repräsentationsmedien, die das Abwesende zur Darstellung bringen. Die Welt des Ökonomischen muss in diesen Darstellungsmedien und damit in semiotischer Form präsent gemacht werden, um für die Akteure überhaupt verfügbar und auch modellierbar zu sein. Es geht also nicht u m den Verlust des Empirischen, sondern um seine Transformation (Kalthoff 2011). Wenn man so will, ist die Darstellung mittels Zeichen und Symbolen ein Hinweis darauf, dass das Ökonomische noch einmal gemacht wird, denn nur in dieser parallelen Zeichen- und Symbolwelt sind weitere Operationen, Uberprüfungen, Handlungen, Tauschakte etc. anschließbar. Dies bedeutet, dass bezogen auf ihre Zeitdimension — schriftliche Darstellungen das geplante Geschäft dauerhafter sichtbar, verfügbar und damit reinspizierbar machen. In Bezug auf ihre Darstellungsleistung bieten sie dem Auge des Beobachters ein Phänomen dar, das dann sowohl mündlich wie schriftlich bearbeitet werden kann. Visualisiert (dargestellt) wird ¿2«/"dem Papier (oder am Bildschirm), aber durch die (alphabetische, mathematische oder grafische) Schrift. 8 Die körperliche Darstellung der Ökonomie verweist hingegen darauf, dass die Teilnehmer ihr Verhältnis zum Markt auch körperlich ausagieren. Dies kann bspw. mündlich durch Interpretationen von Zahlen geschehen oder durch Ausrufe bei stark schwankenden Kursbewegungen. Neben der Sachlichkeit des ökonomischen Rechnens sind regelmäßige mündliche Mitteilungen, aber auch expressives Schreien, Rufen und körperliches Ausagieren von Gefühlen beobachtbar. Die Akteure leiden körperlich angesichts sinkender Kurse und Verluste auf den Märkten oder sie freuen sich über den realisierten Gewinn oder den getätigten Deal (Laube 2012). Diese emo-
tionale Geladenheit ökonomischer Tauschsituationen entsteht dort, wo das Tauschobjekt selbst kein Neutrum, sondern ein affektiv besetztes Objekt ist (Kalthoff 2015). Unser Beitrag konzentriert sich auf die Performanz des Mündlichen. Diese Darstellungen und ihre Medien sind insbesondere in der neuen Finanzsoziologie Gegenstand konzeptioneller Überlegungen und empirischer Forschung geworden (bspw. Callón 1998; MacKenzie 2006; Preda 2009; Lepinay 2011; Pryke 2010; Kalthoff & Vormbusch 2012). In diesen Arbeiten wird wenn auch mit unterschiedlichen theoretischen Akzentuierungen - den genannten Medien eine aktive Rolle bei der performativen Darstellung von Märkten, Transaktionen, Kalkulationen etc. zugewiesen. Sie werden dabei nicht als lineare Repräsentation einer externen ökonomischen Wirklichkeit konzipiert, sondern als reziprokes Verhältnis von Darstellung und Hervorbringung. 9 In diesen und durch diese Darstellungsmedien findet die Selbst- bzw. Fremdbeobachtung von Interaktions- und Organisationssystemen statt. Organisationsgeschehen zu analysieren, heißt für systemtheoretische Arbeiten, formale Entscheidungsverfahren in den Blick zu nehmen. Wir schlagen dagegen eine empirische Analyse organisationaler Kommunikation vor, also des interaktiven Geschehens der Teilnehmer, ihrer Arbeit an und mit ökonomischen Darstellungen, ihre mündlichen Verständigungen über Geschäfte auf der Basis zirkulierender Darstellungen. Wir zeigen damit, wie Entscheidungen in Finanzorganisationen auf der Basis schriftlicher und mündlicher Darstellungen vorbereitet und diskutiert werden. Wir zeigen ferner, wie die schriftlichen Darstellungen performativ auf die Verständigung über den Sinn ökonomischer Investitionen zurückwirken. Damit richten wir zunächst den empirischen Blick auf die Materialität der Zeichen sowie auf deren Medialität. Wir gehen damit der Frage nach, wie diese Medien ihre Darstellung plausibel und glaubwürdig in Szene setzen und damit Wirklichkeit mitgestalten. Diese Frage setzen wir insbesondere in Bezug zur schriftlichen Finanzkommunikation um. Darüber hinaus fragen wir nach den Verknüpfungen beider Darstellungsformen und beschreiben eine translokale Mündlichkeit, die etwa in Telefonkonferenzen sichtbar wird:
9
8 Z u m Verhältnis von ökonomischer Darstellung und ökonomischer Praxis vgl. Rottenburg et al. 2000.
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An dieser Stelle gibt es Verbindungen zu einer Soziologie des Designs, die u. a. die Praxis des Entwerfens sowie die W i r k u n g designter Produkte erforscht; vgl. Boland & Collopy 2004; Moebius & Prinz 2012.
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Hier müssen die Autoren zirkulierender Berichte damit rechnen, auf andere Organisationsakteure zu treffen, die „es besser wissen" (wollen) (Luhm a n n 1998: 276). Beobachten lässt sich in diesen fernmündlichen Finanzkommunikationen u.a., wie organisationale Hierarchien sprachlich wirken und wie Geltungsansprüche behauptet bzw. unterlaufen werden. In Bezug auf das gesellschaftliche Funktionssystem der Wirtschaft gehen wir mit unserem Beitrag somit in eine Finanzkommunikation ,zurück', die ,vor' der Zahlung liegt; in Bezug auf die Ebene der Organisation beobachten wir empirisch, was der (Nicht-)Entscheidung in Organisationen an organisationaler Praxis des Entscheidens vorausgeht. Wir interessieren uns somit theoretisch und empirisch f ü r soziale Phänomene in Organisationen, die der systemtheoretische Blick auf „Organisation und Entscheidung" (Luhmann 2000) ignoriert. Geht man wie die Systemtheorie von (Nicht-)Zahlung und von (Nicht-)Entscheidung als nicht mehr weiter auflösbaren kommunikativen Grundelementen aus, dann entgeht der Soziologie das, was für das faktische Funktionieren des Wirtschaftsystems bzw. wirtschaftlicher Organisationen entscheidend ist. Weder (Nicht-)Zahlungs- noch (Nicht-)Entscheidungskommunikation sind ,Letztelemente', sondern sie müssen (performativ) hergestellt und dargestellt werden. In diesem Prozess der Herstellung und Darstellung werden Interaktion und Organisation bzw. Interaktion und System immer gleichzeitig vollzogen. Wir vertreten also die Auffassung, dass die „monistische Sozialontologie" (Heintz 2004: 24) der Systemtheorie durch eine „theoretische Empirie" (Kalthoff 2008) beobachtbarer Praxisformen zu ergänzen ist, die Zahlungen und Entscheidungen entwerfen und ermöglichen. Zugleich nehmen wir im Gegenzug aber nicht die Perspektive der Mikrodeterminiertheit des Sozialen ein, sondern plädieren für eine Perspektive der Gleichursprünglichkeit (etwa von Interaktion und Organisation). In den Worten Luhmanns (1998: 814): Interaktionssysteme sind, „da sie Kommunikation benutzen, immer Vollzug von Gesellschaft in der Gesellschaft." Hieran angelehnt lässt sich argumentieren, dass Kommunikationen und Interaktionen in Finanzorganisationen nicht allein der gegenseitig wahrnehmbare und reflexive (Mit-)Vollzug dieser Kommunikationen und Interaktionen sind, sondern zugleich die Organisation als diese Organisation und analog dazu Gesellschaft als diese Gesellschaft ausmachen.
Das empirische Material, das wir in diesem Aufsatz präsentieren und diskutieren, stammt aus ethnografischen Beobachtungen in zwei unterschiedlichen Finanzorganisationen. Wir haben dort in verschiedenen Abteilungen Beobachtungen durchgeführt bzw. aktiv am alltäglichen Geschehen teilgenommen (hierzu Breidenstein et al. 2013). Aus dem Materialfundus unserer empirischen Forschung präsentieren wir interne Dokumente und Mitschriften von Kommunikationen. Die Etablierung eines Finanzprodukts besteht - grob betrachtet - aus drei Phasen. Ein Finanzprodukt wird skizziert, entwickelt und designt, es wird erprobt und ggfs. modifiziert, und es wird schließlich operativ verwendet. Wir beobachten in unserem Beitrag zwei Stationen: die Entwicklung und die operative Verwendung von Finanzprodukten. Im Folgenden gehen wir zunächst auf die Entwicklung eines Finanzprodukts ein und zeigen, wie eine komplexe Finanzarchitektur f ü r vermögende Privatkunden konzipiert wird, an der verschiedene Banken beteiligt sind (2.). Die Grundlage der Verwendung von Finanzprodukten sind Darstellungen des Geschäfts sowie mündliche Verständigungen, in denen sich die Teilnehmer — gestützt auf diese Darstellungen des Produkts, des Marktes, der Kunden etc. — ein ,Bild' von den anvisierten Transaktionen machen, dem Produkt zustimmen, Überarbeitungen einfordern oder es ablehnen. Hierzu wechseln wir in das Risikomanagement von Finanzorganisationen (3.).
2. Das Design der Investition Die finanzwirtschaftliche Entwurfs- und Planungsarbeit zeigt sich im Fall der Produktentwicklung als eine vielschichtig aufeinander bezogene Praxis, an der ein Netz verschiedener Akteure beteiligt ist: bankinterne Abteilungen (Marktfolge und Risikomanagement), andere (größere) Finanzinstitutionen sowie Steuerberater und Wirtschaftsprüfer. In unserem Fall geht es den Entwicklern darum, ihrem exklusiven Kundenkreis neue Möglichkeiten zu rentablen Investitionen zu präsentieren und auch zu realisieren. Das Ziel der Entwickler ist es, ihren Kunden nicht nur ein einzelnes Produkt zu verkaufen, sondern durch eine Kombination mehrerer Finanzinstrumente (Zertifikate, Optionen, Kredite) eine komplexe Investitionsstruktur zu vermitteln. Damit verfolgen die Produktentwickler eine Strategie der kumulativen Innovation·. Sie greifen erstens auf finanztechnische Mittel zurück, die schon auf den Finanzmärkten gehandelt werden, und setzen
Herbert Kalthoff & Sonia Köllner: Finanzkommunikation als Praxis ökonomischen Darstellens sie zweitens innovativ zu neuen Investitionsstrategien zusammen. Es geht also um die kreative Kombination verschiedener Finanzprodukte (Zertifikate, Optionen, Kredite), mit dem Ziel, Geldströme so zu lenken, dass - so die Idee und Imagination - alle beteiligten Akteure (Banken, Kunden) gut daran verdienen. Im konkreten Fall wurde die Entwicklung eines Produktes mitverfolgt, dessen grundlegende Geschäftsidee vorsieht, durch das Ausnutzen bestehender rechtlicher Regelungen die Geldströme einer Investition so zu lenken, dass diese steueroptimierende Effekte erzeugen. Entscheidend ist dabei die richtige Investition in eine Kombination mehrerer Finanztitel, deren jeweilige Eigenschaften bestimmte Auszahlungsprofile vorsehen und spezifische Anlagequalitäten aufweisen. Die Schwierigkeit für die Produktentwickler besteht darin, die auf dem Markt befindlichen Instrumente derart mit anderen Finanztiteln zu kombinieren, dass für den Investor gleichzeitig eine nahezu risikolose Investitionsmöglichkeit gewährleistet wird. In unserem Fall bedeutet dies für die Entwickler, Spekulationsgewinne so in physisches Gold zu überführen, dass diese Position nach Ablauf einer Mindesthaltezeit (steuerfrei) vereinnahmt werden kann, ohne dabei Risiken möglicher Verluste aus Kurseinbrüchen des Goldes eingehen zu müssen. U m diese Konzeption umsetzen zu können, müssen die Entwickler einen zusätzlichen Mechanismus in das Produkt einbauen, der diese Risiken minimiert. Bei dieser Arbeit an der Struktur werden die Produktentwickler vor eine Reihe praktischer Probleme gestellt: Sie müssen wissen, ob die in der Struktur enthaltenen Leistungen vom Kunden gewünscht sind, ob die Kosten für die Strukturbestandteile in einem angemessenen Verhältnis zu den durch sie erzeugten Mehrwerten bzw. Risikovermeidungen stehen, und vor allem, ob die so konzipierte Struktur des Produktes in Zusammenarbeit mit den am Geschäft beteiligten Instanzen realisiert werden kann. Die Verflechtung der Entwicklungsprozesse mit anderen Instanzen ist dabei entscheidend: Sie multipliziert Entscheidungen, erfordert die Koordination der Prozesse und die Arbeitsteilung bei der Realisierung eines Produktkonzeptes. Beispielsweise wird zwar die Konzeptentwicklung in der von uns beobachteten Bank vorgenommen, die operative Umsetzung des Produkts hingegen wird von den meist größeren Partnerbanken übernommen. Die kleinere Bank stellt das technische Wissen und den Zugang zur exklusiven Kundschaft zur Verfügung; größere Partnerbanken übernehmen mit ihrer tech-
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nischen Kapazität die Abwicklung des Geschäfts. In diesem Fall bedeutet dies, dass einzelne Bestandteile der konzipierten Investitionsstrategie von den größeren Finanzorganisationen emittiert werden; die das Produkt entwickelnde Bank ist lediglich als depotführende Bank am Geschäft beteiligt. Des Weiteren werden zwischen den beteiligten Parteien Kreditlinien eingeräumt und Konten bzw. Depots eingerichtet, die für die Abwicklung der Emission notwendig sind. Dabei verdienen die Institute an der Bereitstellung dieser Dienstleistungen. Für den Verkauf von Finanztiteln oder für das Gewähren von Krediten erhalten die Bankinstitute eine Provision, die sich nach der Höhe des investierten Volumens bemisst.
Produktentwicklung als Darstellung Die Arbeitseinheit der Produktentwickler setzte sich in der beobachteten Finanzorganisation aus einer kleinen Gruppe von Mitarbeitern zusammen; organisatorisch ist die Arbeitseinheit dem MiddleOffice- Bereich zuzuordnen. Sie steht damit zwischen den Kundenberatern, die den direkten Kontakt mit den Kunden halten (Front-Office), und dem für die Kontrolle geplanter Geschäfte und die Abwicklung geschlossener Geschäfte zuständigen Back Office. Die Tätigkeiten der Produktplaner bewegen sich ständig zwischen den in Zusammenarbeit mit anderen Geschäftspartnern ablaufenden Entwicklungsund Planungsarbeiten und dem bankinternen Management der Implementierung neu entwickelter Konzepte. Wenn Produktentwickler eine neue Investitionsstrategie entwerfen, haben sie zu Beginn grundsätzliche Mechanismen vor Augen, die aus ihrer Sicht genutzt werden könnten. Ein Beispiel für einen solchen Mechanismus können Hedging-Instrumente sein, also Finanzinstrumente, mit denen das Risiko von Wertverlusten aus Kursschwankungen umgangen werden soll. Im beobachteten Fall wurde ein solches Instrument designt (Costless Collar), um die im Laufe der Strategie erworbene Goldposition abzusichern. Hinter dem Hedging-lnsuumcm verbirgt sich ein Finanzgeschäft, das zusätzlich zu einem bestehenden Geschäft, welches Risiken aus schwankenden Wechselkursen oder Handelspreisen birgt, abgeschlossen wird, um dieses risikoreiche Geschäft abzusichern. Hierzu wird - in Form eines Finanztermingeschäftes - das Risiko des bestehenden Geschäftes an einen Dritten weiterverkauft. Auf den ersten Blick erscheinen diese Finanztitel recht spekulativ, obwohl sie zu Absicherungszwe-
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cken eingesetzt werden. Die Schwierigkeit besteht somit darin, in dem geplanten Einsatz der Instrumente und in ihrer Kombination der Ungewissheit hinsichtlich des Ausgangs einer Investition zu begegnen. Im beobachteten Fall wurden im Rahmen des genannten Hedging-lnsuumzms (Costless Collar) Put- und Call-Optionen derart miteinander kombiniert, dass sie als ein wirksames Absicherungsinstrument fungieren können. Mit dieser Kombination will man das Risiko eines Wertverlustes durch sinkende Goldpreise für die exklusive Kundschaft umgehen. Das heißt, das Risiko ist ein Risiko, das durch die Verknüpfung von Finanztiteln kein Risiko mehr ist. Das Resultat der Investition soll - auf die möglichen Szenarien fallender oder steigender Goldpreise reduziert - vorweggenommen werden. Das Prinzip dieses Hedging-lnsttnments sieht dabei vor, dass die Bank von Seiten des Kunden eine CallOption erwirbt, die sie dazu berechtigt, den Kauf einer bestimmten Menge Gold zu einem definierten Preis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu tätigen. Gleichzeitig erwirbt der Kunde von Seiten der Bank eine Put-Option, die ihm das Recht verleiht, seine Goldposition gemäß den gesetzten Bedingungen an die Bank verkaufen zu dürfen. Unabhängig von der Volatilität des Goldkurses ist dem Kunden über den Einsatz des Hedging-lnstiumentts die Kapitalisierung seiner Goldposition in einer bestimmten Höhe im Vorfeld zugesichert. Hierbei sieht die Ausgestaltung vor, dass die zwischen Kunde und Bank eingegangenen Positionen sich betragsmäßig ausgleichen, sodass das Eingehen dieser Position für den Kunden als .kostenlose' Zusatzleistung erscheint. Ein zentrales Problem in der Entwicklungsphase eines neuen Investitionskonzeptes ist die Frage, in welcher Weise die hier nur skizzierten Mechanismen
Dates Observation Date Collar Trade Date Collar Exercise Date Collar Settlement Oate
so darstellbar sind, dass ihr Ineinandergreifen plausibel wird. Für die Entwickler stellte sich wiederholt das Problem, wie sie ihre Arbeit am Konzept zeigen können, d.h. wie sie Geldströme, Prämien, Kurse, den Wechsel von Eigentumsrechten etc. visualisieren können. Neben der Beschreibung in alpha-numerischer Schrift fertigen die Entwickler verschiedene Darstellungen an: Was — wie ein Teilnehmer berichtete - zu Beginn der Planung mit handschriftlichen Notizen und Skizzen auf einem Bierdeckel beginnt, erreicht im Fortgang der Entwicklungsarbeit einen immer höheren Komplexitätsgrad. Im Folgenden werfen wir einen Blick auf jene Darstellungen, die im Zentrum der Arbeit der Produktentwickler standen. Eines dieser komplexeren Dokumente ist eine Excel-Berechnung, in der (1) die im Rahmen der Investitionsstruktur eingesetzten Instrumente definiert, (2) die durch sie entstehenden Cash Flows über mehrere Seiten hinweg dargestellt und (3) in Abhängigkeit unterschiedlicher Szenarien (Auf- oder Abwärtsentwicklung des Marktes) die Ergebnisse für den Kunden errechnet werden. Für die Produktmanager spielt dieses Dokument eine bedeutende Rolle. Mittels der Excel-Tabelle wird sichtbar gemacht, wann welche Zahlungen anfallen, wie hoch die Rendite für den Kunden ist und welche Struktur die einzelnen Bestandteile der Strategie aufweisen. Auf die Tabelle wird zurückgegriffen, wenn die Höhe und Berechnung der einzelnen Zahlungsflüsse nachvollzogen werden sollen. Auch das Hedging-Instrument (Costless Collar) taucht in dieser Tabelle auf: Zu Beginn des ExcelDokumentes etwa werden die Rahmenbedingungen für den Collar dargestellt. Folgende Abbildung zeigt ausschnittsweise, wie das Instrument in zwei Abschnitten beschrieben wird.
Fri Fri Mo We
OTC-Collar Put Strike level in * of Observation Level Call Strike level in % of Observation Level Put Premium (payable) Call Premium (recetvable) Combined Premium (zero cost collar) Abb. 1: Zeitstruktur und Instrumentendefinition des Costless Collar (Auschnitt)
15.01.10 15.01.10 06.02.12 08.02.12
99,SO% 101,70% 534.971,23 C 534.971,23 C 0,00 €
Herbert Kalthoff & Sonia Köllner: Finanzkommunikation als Praxis ökonomischen Darstellens Der erste Abschnitt („Dates") zeigt die Zeitstruktur des Instrumentes. Gegliedert in drei Spalten wird hier dokumentiert, an welchem Tag der Referenzpreis für den zugrunde liegenden Wert festgelegt wird („Observation Date") und wann das Instrument von Seiten des Investors erworben wird („Collar Trade Date"). Anschließend werden sowohl der Wochentag als auch das D a t u m für den Ausübungstag, der Tag also, an dem die Optionen .eingelöst' werden, und der Abrechnungstag festgehalten. In dem darunter erscheinenden Abschnitt werden die Bedingungen notiert, nach denen das Instrument ausgestaltet wurde. Hier stehen die Niveaus, nach denen der Wert der Optionen bemessen wird: Fällt beispielsweise der Goldpreis innerhalb des Beobachtungszeitraumes unter 99,5 % des Anfangswertes, so ist die Verkaufsoption ,im Geld' und kann von dem Investor eingesetzt werden, um die Goldposition zum angegebenen Preis zu verkaufen. Auch sind die zu zahlenden Prämien aufgelistet, die Kosten also, zu denen die Put-Option erworben und die CallOption verkauft werden. Die Tabelle stellt damit eine zahlenbasierte Darstellung der Bauteile der Strategie bereit, die auf eine einheitliche Zeitskala bezogen werden. Die in Abbildung 1 dargestellten Informationen werden in der Excel-Tabelle weiter verwendet. Zur Berechnung der Cash Flows werden große Tabellen angelegt, in denen die Y-Achse die zu erwerbenden Bestandteile auflistet und die X-Achse, die in Form eines Zeitstrahls die relevanten Zeitdaten enthält, die anfallenden Geldströme darstellt. Ferner wird mit der Tabelle das Produkt in einen Zahlenwert übersetzt und kann in der Ubersicht über die Cash Flows verrechnet werden. Der Tabelle liegt dabei das Prinzip der Auflistung zugrunde. In der Tabellenstruktur können alle Details der Strategie und ihrer Bestandteile ausdefiniert werden. Ihr sind dabei grundsätzlich keine Grenzen gesetzt: Zellen können leicht hinzugefügt, weggelassen, verändert und korrigiert werden. Die Funktion der Tabelle ist die hochauflösende Darstellung der (technischen) Details von Investitionsstrategien. Hinzu kommt, dass in die Programmstruktur selbst das Wissen für die Berechnung der Cash Flows eingeschrieben wird. Damit speichert die Tabelle nicht nur das Wissen (womit sie die Produktmanager von den Aufgaben der Berechnung entlastet), sondern automatisiert gleichzeitig den Berechnungsvorgang, wie er in die Struktur der Tabelle einprogrammiert ist. Bewerkstelligt wird dies etwa durch das Anlegen sogenannter .Makros' im Excel-Programm und das Einfügen von .Buttons', mit denen die Berechnung
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aktualisiert werden kann, etwa dann, wenn einige Parameter oder Zahlenwerte sich ändern. 10 Die Tabelle ist darauf ausgerichtet, eine möglichst komplexe und aktuelle Information darüber zu liefern, wie die Rahmendaten des Produktes und die durch es erzeugten Zahlungsflüsse aussehen. Die Architektur der Tabelle übersetzt die Bauweise des Produktes in eine berechenbare Darstellung. Dabei sind die erzeugten Informationen voraussetzungsvoll und setzen ein spezifisches Fachwissen bei den Nutzern der Tabelle voraus - ein Umstand, der durchaus Auslöser von Störungen sein kann. So wird von den Produktmanagern berichtet, dass die Präsentation der Berechnung gegenüber Entscheidungsträgern und Kollegen zu Problemen führten: Die Tabelle sei nicht zu verstehen und man habe das Gezeigte erklären müssen. Die Tabelle zeigt also Informationen, scheint dies aber in einer Weise zu tun, die nicht für alle Beteiligten unmittelbar verständlich ist.
Reduktion von Komplexität: Darstellung und Verstehen Neben der gezeigten Excel-Tabelle verwenden die Produktmanager ein weiteres Dokument, anhand dessen sie das Produkt diskutieren. In diesem wird nicht die Berechnung der Struktur behandelt, sondern der interne Prozessablauf zwischen emittierender Bank, der Depotbank und dem Kunden dokumentiert. Auf die mathematische Definition der Produkte wird hier verzichtet. Stattdessen geht es um die Darstellung der Geldströme und interner Abläufe sowie darum, wie die Umsetzung der Produktstrategie organisiert wird. Hierzu werden die Transaktionen zwischen den für den Ablauf der Investition relevanten Instanzen schematisch erfasst. Dabei werden jeweils unterschiedliche Aspekte des Geschäftes einzeln dargestellt - etwa wie die Emission und Lieferung der einzelnen Bestandteile der Struktur erfolgt, wie sich die Besicherung von Krediten gestaltet oder wie das Instrument des Costless Collar ausgestaltet wird. Die Funktionsweise des //«•^'«^-Instruments zwischen dem Kunden, der emittierenden und der depotführenden Bank, über die das Geschäft spiegelbildlich organisiert werden soll, ist in Abb. 2 dargestellt. Diese Darstellung setzt — im Unterschied zu der tabellenförmigen Darstellung (siehe Abb. 1) - andere grafische Elemente und unterschiedliche Zeichensysteme ein. Anhand der grauen Rechtecke werden die
10 Zur Rolle von Listen und Tabellen als Form der ökonomischen Darstellung vgl. Leyshon & Thrift 1999.
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Cotti«» Collar (DRV) Scénarios
Numbers excluding fees and interest; for itlustrotive purposes onty Kumfc
Bank 2 -90 a)
Goto Pitt« danke schön> dann machen wir das okAY? Der arbeitsunwillige Kunde
Im vergleichsweise komplexen, weil mehrfach konflikthaften dritten Fallbeispiel findet ebenfalls eine Re-Kategorisierung statt. Allerdings verhält sich der Kunde hier .faktisch' wie ein guter Kunde, der von der Fachkraft dennoch als schlechter Kunde bezeichnet wird. Das Beispiel zeigt, dass die Kategorisierung als guter oder schlechter Kunde weniger vom ,realen Kundenverhalten als vielmehr von seiner Wahrnehmung durch die Fachkraft abhängt (in diesem Sinne auch Karl et al. 2011: 103), Der Kunde ist Mitte dreißig. Er berichtet von den Resultaten seiner Eigenbemühungen und legt der Fachkraft ein Angebot eines Arbeitgebers für eine Probearbeit mit möglichem Anschlussvertrag vor sowie eine Zusage für eine unverzügliche Einstellung bei einem privaten Sicherheitsdienst unter der Voraussetzung einer Qualifizierung in Waffenkunde. Die Fachkraft verweigert ihrem Kunden den für die gewünschte Qualifizierung notwendigen Bildungsgutschein und begründet dies mit einem Eintrag in seinem polizeilichen Führungszeugnis wegen Beleidigung, den der interessierte Arbeitsgeber nach Aussage des Kunden jedoch für irrelevant hält. Die Fachkraft dagegen betont im Gespräch, erst sei ein psychologisches Gutachten notwendig, „damit hier auch wirklich nichts passiert" (nicht transkribiert, 3:53 Minute). Dann lenkt sie den Gesprächsverlauf in eine andere Richtung: Sie stellt die grundsätzliche Notwendigkeit einer weiteren Qualifizierung des Kunden infrage und forciert eine Eingliederungsvereinbarung über das Probearbeiten. Der Kunde antwortet mit einem Bericht über ein Vorstellungsgespräch bei anderen Arbeitgebern, denen seine Qualifizierung keineswegs ausgereicht habe. Die Fachkraft glaubt ihm nicht:
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JC 3_FK1_K1 6:15-6:31 1 FK ((räuspert)) (1) «ernergisch> also ich bereite jetzt hier mal das probearbeiten vor>= 2 Κ =nuja ab montag geht es los (—) bis vierzehnten (.) und der arbeitsvertrag 3 erfolgt nach (—) erfolgreicher (—) absolvierung zum fünfzehnten 4 FK (1.5) ;tun sie mir einen gefallen (1) gehn se endlich arbeiten;= Wie aus der Pistole geschossen, liefert der Kunde („=nuja", Zeile 2) die notwendigen Eckdaten für die administrative Vorbereitung des Probearbeitens und benimmt sich damit .eigentlich' wie ein kooperativer, guter Kunde. Doch die Fachkraft kategorisiert ihn, scheinbar unvermittelt, als schlechten, arbeitsscheuen Kunden und entwertet seinen kooperativen Gesprächsbeitrag (Zeile 4). In seiner unmittelbar anschließenden Äußerung protestiert der Kunde gegen seine Bezeichnung als arbeitsunwilliger Kunde („= ((schnauf))". Zeile 5). Dann deutet er an, dass sich seine beruflichen Pläne mit der Schichtarbeit im anvisierten Probearbeitsverhältnis nicht vereinbaren lassen (Zeilen 5 und 7): JC 3_FK1_K1 6:31-6:40 4 FK (1.5) ;tun sie mir einen gefallen (1) gehn se endlich arbeiten;= 5 Κ =((schnauft)) (1) na da kommt ja die abendschule noch dazu=wie soll ick denn det MAchen, 6 FK «hörbares A t m e n » 7 Κ ick mach ja die abendschule nich umSONS Das hörbare Atmen der Fachkraft (Zeile 6) verweist auf ihre Ungeduld, und sie verstärkt ihren Angriff auf die Selbstkategorisierung des Kunden als erwerbsmotivierten, weiterbildungsorientierten Kunden (Zeilen 8-11, 13-21): JC 3_FK1_K1 6:41-8:30 8 FK (1.5) «deutliches Räuspern» (1.5) in ERSter linie (-) kriegen sie im 9 augenblick staatsleistungen=sie sind in erster linie verpflichtet arbeit 10 aufzunehmen (-) jeder andeRe, (—) kann auch ne abendschule besuchen (-) es 11 darf jeder in seiner freizeit machen was er gerne möchte 12 Κ ja aber nicht wenn man in schichten arbeitet 13 FK (.) das ist genau der punkt jetzt (-) sie sitzen HIER weil sie sich das leisten
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Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Interaktion, Organisation und Gesellschaft", 2014, S. 425-441 können=weil der Staat sie finanziert (.) herr χ (.) und N I C H T weil sie sich das besonders gut leisten können=ja (.) sondern sie sitzen hier (.) weil wir arbeitslosengeld zwei ANBIeten (.) ja (--) normalerweise wären sie in arbeit (—) und dann müssten ses auch irgendwie regeln mit ihrer abendschule (.) sondern sie machen das jetzt weil sie das (.) eben (.) können=sie kriegen ja hartz vier und da muss ich nicht arbeiten da gehe ich halt erstmal zur abendschule « k u r z e s hörbares E i n a t m e n » das is η bisschen ein unterschied sie müssen einfach die notwendigkeit sehen in arbeit zu gehen (4) SO (55)
Die Fachkraft erläutert dem Kunden seine formalen Pflichten gegenüber dem Staat, der ihn alimentiert (Zeile 13-18), und klärt ihn damit über das im SGB II festgeschriebene Prinzip des „Forderns und Förderns" als Richtigkeitsbedingung für den weiteren Verlauf der Jobcenter-Interaktion auf. Eine solche explizit-reflexive Struktursicherungsoperation im Beobachtungsmodus zweiter Ordnung ist erforderlich, wenn „bestimmte Elemente oder Deutungsmöglichkeiten ... möglichst unmißverständlich markiert und eliminiert werden sollen" (Schneider 2004: 363; auch Hitzler 2012: 85 f.; ähnlich Karl et al. 2011: 110). Hierzu verlässt sich die Fachkraft allerdings nicht allein auf die Moralisierung der Kundenerwartung. Vielmehr akzentuiert sie mit ihrer Feststellung „sie müssen einfach die notwendigkeit sehen in arbeit zu gehen" (Zeile 21) ihr asymmetrisches Verhältnis zum Kunden; der Kunde versteht diese Feststellung als implizite Sanktionsdrohung. Der Kunde, der „sogar schon einmal das Jobcenter verklagt hat", wie mir die Fachkraft im Anschluss an das Gespräch berichtet,,gehorcht' nun unverzüglich: Auf die Erläuterungen der Fachkraft folgt eine 4-sekündige Pause, die ohne Widerspruch des Kunden verstreicht. Mit einem „SO" (Zeile 21) zeigt die Fachkraft schließlich an, dass für sie die Diskussion beendet ist. Die nächsten 55 Sekunden widmet sie der administrativen Vorbereitung der Probearbeit (Zeile 21). Als sie den Kunden im folgenden Gesprächsausschnitt dann einbezieht, um nähere Informationen abzufragen (Zeile 22-23), kooperiert dieser anstandslos (Zeile 24-25) und stellt sich, wie es sich für einen guten Kunden gehört, als Anknüpfungspunkt für eine von der Fachkraft präferierte Eingliederungsstrategie zur Verfügung:
J C 3_FK1_K1 7:28-8:55 21 F sie müssen einfach die notwendigkeit sehen in arbeit zu gehen (4) SO (55) 22 « T a s t e n k l a p p e r n » gibts η gru:nd, (.) waru:m das Z W E I , wochen stattfinden 23 soll? 24 Κ nee (—) also ick hab ja:: jefragt ob et möglich wäre den uff (.) eene woche zu 25 (-) reduzieren aber ham se jesagt =nee machen wa nich
3. Moral und Macht in der Jobcenter-Interaktion 3.1 Kooperation und Macht in der Jobcenter-Interaktion In den obigen Fallbeispielen wurde gezeigt, wie Fachkräfte in Jobcenter-Interaktionen die Strukturvorgabe „Eingliederungsvereinbarung" einführen und anschlussfähig machen, indem sie die Verwendung moralisch angemessener Personenkategorien zur Bezeichnung ihrer Kunden durchsetzen. Mit der personalen Kategorisierung des Kunden als jemand, der eine (bestimmte) Eingliederungsvereinbarung will, existiert ein Anknüpfungspunkt für eine Eingliederungsstrategie, die von der Fachkraft präferiert wird: Dazu wandelt sich der Kunde vom schlechten zum guten Kunden (Fall 1), reformuliert die Fachkraft den Inhalt ihrer Selbstbindung unter Orientierung an der Personenkategorie vom motivierten Kunden (Fall 2), wird der Machtkampf u m die Kategorisierung des Kunden als arbeits(un)williger Kunde durch die explizite Belehrung über seine Pflichten gegenüber dem Staat entschieden (Fall 3). Immer geschieht diese Kategorisierungsarbeit mithilfe (unterschiedlich gearteter) Struktursicherungsoperationen, die sicherstellen, dass die Interaktion im Medium der Systemmoral verbleibt und die angemessene moralische Kategorisierung der Person des Kunden zum Ausgangspunkt einer (bestimmten) Eingliederungsvereinbarung genommen wird. Auffällig ist der hohe interaktionistische Aufwand, der bei diesem Kategorisierungsvorgang betrieben wird und den Hermann Müller und Stephan Wolff auf den (subordinationsrechtlichen) Vertragscharakter der Eingliederungsvereinbarung zurückführen. Demnach kann die Kategorisierung des Kunden nicht einfach per Direktive erfolgen, sondern muss vom Kunden aktiv mitgetragen werden: Eine „Kategorisierung der Beteiligten als amtlicher Entscheider und Entscheidungsbetroffene" (Müller & Wolff
Christine Weinbach: Verschränkung und Deformation als zwei Seiten einer Medaille
2012: 81) dagegen würde mit dem kooperativen Anspruch an einen Verwaltungsvertrag kollidieren. In der Interaktion ist .„Entscheiden und Befolgen'" demnach „ein Interaktionsmuster, das nicht erwünscht ist"14 (Müller & Wolff 2012: 83). Dass, wie die obigen Beispiele zeigen, die Kategorisierung des Kunden als jemand, der eine (bestimmte) Eingliederungsvereinbarung will, dennoch nicht ohne moralisierende Struktursicherungsoperation möglich ist, verweist darauf, dass eine Eingliederungsvereinbarung „gleichsam freiwillig unfreiwillig vom Kunden abgeschlossen" wird (Müller & Wolff 2012: 80). Reicht die Moralisierung von Erwartungen an die Kundin durch die Fachkraft - wie im dritten Fallbeispiel - nicht aus, kann die Fachkraft die asymmetrische Rechtsbeziehung zum Kunden akzentuieren. Im letztgenannten Fallbeispiel weist sie den Kunden, im moralisierenden Zusammenhang, auf seine Pflichten hin. Der Kunde versteht diesen Hinweis als Sanktionsdrohung und verzichtet auf weiteren Protest. Doch welche Sanktionsmöglichkeiten hätte die Fachkraft laut Gesetz in dieser Situation eigentlich? Formal gesehen könnte sie im Anschluss an § 15 SGB II die Eingliederungsvereinbarung durch einen einseitigen Verwaltungsakt ersetzen. Sanktionen in Form von Leistungskürzungen hat der Gesetzgeber in § § 3 1 - 3 2 SGB II dagegen an konkret definierte Verstöße seitens des Kunden gekoppelt (ζ. B. bei einer Meldeversäumnis oder dem Nichtbefolgen des Inhalts einer abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarung). In der obigen Jobcenter-Interaktion wird also eine Sanktionsdrohung wirksam, obwohl die Fachkraft gar keine rechtlich fundierte Handhabe hätte. Diese Beobachtung lässt sich aufgrund empirischer Forschung (Karl et al. 2011) verallgemeinern, die zeigt, dass der Einsatz von Sanktionen und Sanktionsandrohungen in der Jobcenter-Interaktion primär unter Orientierung am konkreten Interaktionsverlauf statt an den gesetzlichen Vorgaben erfolgt. Genauer gesagt wurde beobachtet, „dass das Aussprechen einer Sanktion im normalen Betrieb der Fallarbeit im Jobcenter nicht nur die Ausnahme, sondern einen möglichst zu vermeidenden Störfall darstellt, der, wenn überhaupt, dann strategisch eingesetzt wird" (ebd.: 121). Zugleich aber sei „das Thema .Sanktionen' in Jobcentergesprächen immer
14 Es ist ein Interaktionsmuster, dass „aber manchmal doch zustande kommt, wenn Κ nicht .mitspielt'" (Müller & Wolff 2012: 83).
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präsent" (ebd.), und es gehe dabei um Praktiken wie die „Drohung mit Sanktionen, die Bezugnahme auf frühere Sanktionierungen, eine Reihe von erstmaligen und wiederholten Sanktionsbelehrungen und mehrere Fälle von aktiver Vermeidung formal möglicher Sanktionierungen" (ebd.). Mit Blick auf Luhmanns Machtbegriff erstaunt dieses - nur scheinbar widersprüchliche - Beobachtungsergebnis jedoch kaum. Macht ist Luhmann (Luhmann 1988) zufolge ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, das die Chance auf die Annahme eines Kommunikationsangebots Egos durch Alter erhöht: Der Machtüberlegene verfügt über Sanktionsmöglichkeiten, deren Einsatz beide Seiten vermeiden möchten, der Machtunterlegene hat daran .lediglich' ein größeres Interesse. Die Machtbeziehung gelingt nur, wenn dieses Spannungsverhältnis von Sanktionsdrohung und Sanktionsausübung ausbalanciert bleibt. Dazu muss auf die Anwendung der Sanktion möglichst verzichtet und sie durch die Sankûonsdrohung gleichsam ersetzt werden: „Das Ausschließen des anwesenden Ausgeschlossenen erfordert laufend symbolische Anstrengungen" (Luhmann 2000: 47 f.). Macht ist also .eigentlich' Drohmacht. Die Praxis einer „gekonnten Strenge" der Fachkräfte und die „gekonnte Vermeidung von Sanktionen" (Karl et al. 2011) sind eine solche Drohmacht; sie dienen beide Anforderungen an eine Machtbeziehung: Sie halten die Sanktion präsent, möglichst ohne sie einzusetzen; und das geschieht bemerkenswerterweise auch dort, wo der Gesetzgeber gar keine Sanktion vorsieht. Die genannte Studie sowie das dritte Fallbeispiel, in dem die Fachkraft mit ihrer Moralisierungsstrategie scheitert und sich schließlich mit einer gesetzlich ungedeckten impliziten Sanktionsdrohung behilft, lassen vermuten, dass in den beiden anderen Fallbeispielen die Anschlussfähigkeit der Eingliederungsvereinbarung ebenfalls mithilfe von Macht und nicht ausschließlich über die Moralisierung von Personenerwartungen hergestellt wurde. Deshalb sollen diese beiden Fallbeispiele im folgenden Abschnitt noch einmal in den Blick genommen werden: Wird auch dort mit Sanktionsandrohungen gearbeitet? An welcher Stelle im Gespräch und auf welche Weise?
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3.2 Der strategische Einsatz von Sanktionsdrohungen: der machtunterlegene Kunde 3.2.1 Der gewandelte Kunde Der Kunde aus dem ersten Fallbeispiel hatte in der Vergangenheit gegen eine Eingliederungsvereinbarung verstoßen und als Sanktion eine - noch laufende - lOOprozentige Leistungskürzung 15 erhalten. Um mit dem Kunden weiterarbeiten zu können, möchte die Fachkraft die gestörte Arbeitsbeziehung reparieren, was, wie gezeigt, über die Wandlung des Kunden vom schlechten zum guten Kunden geschieht: Mit dieser Wandlung wird ein Anknüpfungspunkt für eine Eingliederungsstrategie mit abschließender Eingliederungsvereinbarung in die Interaktion eingeführt. In den Zeilen 11 und 13 des folgenden Gesprächsausschnitts jedoch ist offensichtlich, dass sich die Fachkraft nicht allein auf die Kraft der moralisierten Erwartungen an den Kunden verlässt, sondern diese mit einer impliziten Sanktionsdrohung anreichert. Dazu baut sie in ihre moralische (Achtungs-)Beziehung zum Kunden eine Sanktionsdrohung ein: J C 3_FK3_K1; 17:26 min - 18:13 min 7 FK deswegen sage ick (2) «Schreibger ä u s c h e » ham se schwein=aber jut? (.) die 8 zweite chance sei ihnen jeGONnt hoffen wa dass sies dies ma nich wieder 9 verBOcken 10 Κ =nee=nee (.) dies mal nicht 11 FK (—) ick werd FUChsig sie wissen det 12 Κ =jaja 13 FK « H i n t e r g r u n d g e r ä u s c h e » und denn ham sie: keen spa:ß und ick och: nich (2) 14 « H i n t e r g r u n d g e r ä u s c h e » in der neuen [EINgliederungsvereinbarung 15 Κ [MHm 16 FK (-) die bezieht sich jetzt N U R auf die BERUFsvorbereitung (.) ja? (.) dit heißt 17 wir machen een strich unter allet wat bis DAto war? (2) machen den plan für 18
19 20 21 Κ
den Zeitraum ab sepTEMber mit der
notwendigen VORbereitung « A u s l a s s u n g e n » und im nächsten Jahr haben wir sie inna ausbildung und FErtig =genau
15 Dabei handelt es sich um die Streichung der Leistungen zum Lebensunterhalt bei Aufrechterhaltung der Kosten für Unterkunft und Heizung.
Nicht überraschend ist die Platzierung dieser impliziten Sanktionsdrohung. Sie geschieht unmittelbar nach der Moralisierung von Kundenerwartungen (Zeilen 7-9) und vor der Besprechung der konkreten Inhalte der Eingliederungsvereinbarung (Zeilen 11 und 13). Damit wird die Implementation der Personenkategorie des guten Kunden, die ab Zeile 14 als Anknüpfungspunkt für eine Eingliederungsstrategie fungiert, nicht allein durch die Moralisierung der Kundenerwartungen vorgenommen, sondern durch die implizite Androhung von Sanktionsfolgen zusätzlich abgestützt. Im Unterschied zu dieser impliziten Sanktionsdrohung unmittelbar vor Abschluss der Eingliederungsvereinbarung kommt es während ihres Abschlusses in der unten aufgeführten Zeile 31 zur expliziten Sanktionsdrohung: Die gleichbleibende und gedehnte Intonation der Sanktionsdrohung „rechtsfolgen (—) « R a s c h e l n » sind kla:r" formuliert keine Frage, auch keine sachliche Rechtsfolgenbelehrung des Kunden, wie sie vom Gesetzgeber (§ 31 SGB II) beim Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung vorgeschrieben ist. Der Hinweis auf mögliche Rechtsfolgen bei Verstoß gegen die Eingliederungsvereinbarung erfolgt vielmehr als Feststellung und Warnung für die Zukunft. J C 3_FK3_K1; 17:52 min-18:13 min 28 FK KEIne unentschuldigten FEHLzeiten (-) RECHtzeitiger nachweis der (.) 29 fehlzeiten die entSCHULdigt sind=also wenn sie krank sind (—) GLEIch 30 anrufen bis morgens um neun (—) krankenschein innerhalb von drei tagen zum 31 träger (—) rechtsfolgen (—) « R a s c h e l n » sind kla:r 32 Κ =ja Dieser Gebrauch einer expliziten Sanktionsdrohung während des Abschlusses der Eingliederungsvereinbarung erinnert den Kunden an die noch laufende Leistungskürzung aufgrund seines Fehlverhaltens in der jüngeren Vergangenheit. Bei dieser Sanktionsdrohung zielt die Fachkraft auf das Kundenverhalten außerhalb der laufenden Jobcenter-Interaktion. Diese Strategie hat ihren soziologischen Hintergrund darin, dass Moral in der funktional differenzierten Gesellschaft immer ,nur' Systemmoral ist, dass also die Bedingungen, unter denen die Interaktion über Achtung und Missachtung entscheidet, kontextuell variieren. Eine systemübergreifende Moral existiert nicht. Die zitierte Jobcenter-Interaktion reflektiert also, dass sie nicht wissen kann, wie weit sich der
Christine Weinbach: Verschränkung und Deformation als zwei Seiten einer Medaille
Kunde auch jenseits des laufenden Gesprächs von einem drohenden Achtungsverlusts vor der Fachkraft beeindrucken lässt. Macht dagegen entfaltet sehr viel eher eine über die aktuelle Situation hinausreichende Bindungswirkung, weil die Sanktionsfolgen aus dem konkreten Interaktionskontext,heraus' und in den polykontexturalen Alltag des Kunden ,hineinragen. Mit der expliziten, auf das Gesetz bezogenen Sanktionsdrohung zurrt die Fachkraft den mühevoll hergestellten .Konsens' also noch einmal mit Blick auf die Z u k u n f t fest. 3.2.2 Der motivierte Kunde Auch im zweiten Fallbeispiel vom motivierten Kunden, an dessen fremdsprachliche Leistungsfähigkeit die Fachkraft ihre Erwartungen anpasst, weil sie ihn für einen motivierten Kunden hält, wird eine implizite Sanktionsdrohung verwendet, allerdings auf negierende Weise: Als es zum Abschluss der Eingliederungsvereinbarung kommt — die dazu notwendige Personenkategorie vom motivierten Kunden ist bereits erfolgreich eingeführt - , findet die aktive Verneinung des Einsatzes von Sanktionsmitteln statt. J C 5_FK3_K2 4:23 - 4:36 87 FK und (.) das (.) müssen SIE einmal unterschreiben heute haben wir den 88 dreizehnten E L F T E N (.) und einmal unterschreiben dass sie das auch freiwillig 89 machen=nicht dass wir sie hier noch zwingen ne eine fortbildung zu 90 machen=«leiser>soweit kommts noch> (Mausklicken) 91 Κ das mache ich gerne Laut Sigmund Freud macht sich das Denken mittels „des Verneinungssymbols ... von den Einschränkungen der Verdrängung frei und bereichert sich um Inhalte, deren es für seine Leistung nicht entbehren kann" (Freud 1975: 374). Folgt man dem, dann beschwört die Fachkraft beim Abschluss der Eingliederungsvereinbarung auf indirekte Weise einen gleichsam abwesenden Zwang herauf, dessen es bei diesem Kunden, der den Englischkurs dringend will, .eigentlich' gar nicht bedürfte. Woraus aber ergibt sich dann die Notwendigkeit der aktiven Verneinung von etwas, das für die Sicherstellung der Anschlussfähigkeit einer Eingliederungsvereinbarung irrelevant zu sein scheint? Ein neuerlicher Blick auf die Äußerungen unmittelbar vor der Festlegung der konkreten Inhalte der Eingliederungsvereinbarung (Festlegung ab Zeile 31) ist aufschlussreich:
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J C 5_FK3_K2 0:43-1:08 24 FK beim ersten mal (.) da hab ich gesacht ich will ja N U R sehen dass ne Steigerung is 25 26 Κ hm 27 FK hamse ( - ) oKAY? 28 Κ dank schön danke schön 29 FK dann machen wir das okAY? 30 Κ J a 31 FK okee:: so dann schaun wa ma:l (-) da:s heißt «Schreibgeräusche, Papierrascheln» hm:: bochum müssen 32 wir noch machen « h ö r b a r e s Einatmen durch die Z ä h n e » das:: könn wir nicht 33 mehr machen jetzt machen wir den neu 34 (—) den bildungsgutschein=okay? Die Fachkraft konstatiert mit der Feststellung „hamse (—) oKAY?" (Zeile 27) nicht einfach die Erfüllung einer Bedingung. Die Äußerung trägt vielmehr einen rhetorisch-fragenden Charakterzug: Mit ihr bietet die Fachkraft dem Kunden eine Situationsdefinition an, von der beide wissen, dass es sich um eine aktive Verschiebung der zuvor artikulierten Leistungsanforderungen an die wiederholte Einstufungsprüfung (Steigerung um 5%) zugunsten des Kunden handelt. Der Kunde bedankt sich dafür (Zeile 27) gleichsam (leiser werdend) .unterwürfig'. Er versteht, dass die Fachkraft an der verfehlten Leistungserwartung hätte festhalten können und dass es in ihrer Definitionsmacht liegt, die Konditionen der Leistungsgewährung zu verändern. Das Ergebnis dieser Interaktionssequenz ist die erfolgreiche Selbstkategorisierung der Fachkraft als einer, die über ein gewisses M a ß an Willkür verfügt, weil sie nach Maßgabe eigener Kriterien bestimmen kann, ob der Kunde am gewünschten Englischkurs teilnehmen darf oder nicht. Diese von der Fachkraft herausgestellte Form der Entscheidungsmacht ist nicht gesetzlich abgestützt. Die Fachkraft zweckentfremdet hier vielmehr einen Ermessensspielraum, innerhalb dessen sie laut § 3 SGB II entscheiden soll, ob der Einzelfall eine (bestimmte) aktive Eingliederungsleistung, z.B. eine Maßnahme zur Beförderung der Erwerbsintegration, erfordert (Entschließungsermessen), und ob die spezielle Eingliederungsleistung die erwünschte Zielerreichung erwarten lässt (Auswahlermessen). Die Fachkraft im vorgestellten Beispiel münzt diesen gesetzlich vorgesehenen Ermessensspielraum nämlich in ein gesetzlich ungedecktes Machtverhältnis zum Kunden um, indem sie sich zur willkürlichen Entscheiderin aufschwingt. Das braucht „nicht explizit
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zu geschehen, denn ... hier antizipiert die Macht sich selber" (Luhmann 2000: 261 f.): Die Fachkraft macht deutlich, dass sie wegen ihres Ermessensspielraums und aufgrund des Kundenwunsches (Englischkurs) über ein Sanktionsinstrument verfügt, das sie auch in Abhängigkeit von seinem Verhalten (seinem Testergebnis) einsetzen könnte. Während sie beim Abschluss der Eingliederungsvereinbarung den abwesenden Zwang negierend heraufbeschwört, verkündet sie diese Botschaft: Sie könnte den Kunden zu etwas zwingen, aber sie tut es nicht. Sie betont ihre Machtüberlegenheit gegenüber dem Kunden, und indem dieser sich unterwürfig bei ihr bedankt, anerkennt er seine Machtunterlegenheit. Der Kunde ist damit als motivierter und machtunterlegener Kunden in der Interaktion relevant gemacht.
3.3 Der gute und machtunterlegene Kunde Die Fallbeispiele haben gezeigt, wie durch Moralisierung von Personenerwartungen und Sanktionsandrohungen die Kategorisierung des Kunden als jemand herstellt wird, der eine (bestimmte) Eingliederungsvereinbarung will und sich gegenüber der Fachkraft in einer machtunterlegenen Position befindet. Immer ist damit in der Jobcenter-Interaktion ein Erwartungshorizont geschaffen, der als Anknüpfungspunkt für eine Eingliederungsvereinbarung fungieren kann. Im ersten und dritten Beispiel ist dabei vergleichsweise offensichtlich, im zweiten Beispiel dagegen deutlich subtiler mit der Moralisierung von Erwartungen an den Kunden sowie deren Abstützung durch (implizite oder explizite) Sanktionsandrohungen umgegangen worden. In allen drei Beispielen geschieht die Abstützung der moralisierten Kundenerwartungen durch Sanktionsandrohungen jedoch nicht zufällig unmittelbar vor Abschluss der Eingliederungsvereinbarung: Eine Sanktionsandrohung kann die moralisierte Kundenkategorie zusätzlich abstützen; sie kann des Weiteren darauf abzielen, das Mitmachen des Kunden über die Interaktion hinaus sicherzustellen (erstes Fallbeispiel). Eine Sanktionsandrohung kann aber auch e i n springen, wenn die moralisierte Kategorisierung des Kunden durch die Fachkraft misslingt, und auf diese Weise den Kunden zur Annahme seiner Kategorisierung bewegen (drittes Fallbeispiel). Im zweiten Fallbeispiel, in dem sich Kunde und Fachkraft im Prinzip einig sind über die angemessene Eingliederungsstrategie (Englischkurs), findet die Abstützung moralisierter Erwartungen an den Kunden durch
die Sanktionsandrohung deutlich subtiler statt. Die Moralisierung der Kundenerwartungen wird hier von beiden Seiten aktiv betrieben (Abschnitt 2.2.2): Die Fachkraft konfrontiert den Kunden mit dem (verfehlten) Testergebnis, der Kunde betont, dass er lernen will, die Fachkraft unterstützt diese Äußerung. Die Abstützung der Systemmoral durch die Sanktionsandrohung erscheint als überflüssig und wird dennoch von der Fachkraft vorgenommen: Obwohl die Systemmoral der Jobcenter-Interaktion nicht gefährdet ist, weil der Kunde die Eingliederungsvereinbarung will, führt die Fachkraft eine implizite Sanktionsandrohung an. Dabei markiert sie den Englischkurs als eine Eingliederungsleistung, über deren Zuweisung ausschließlich sie verfügt, was der Kunde, der sich unterwürfig bedankt, versteht: Fachkraft und Kunde einigen sich im Ergebnis auf dessen Kategorisierung als motivierter und machtunterlegener Kunde. Doch wozu dieser anscheinend unnötige Aufwand zur Herstellung aktueller Anschlussfähigkeit durch diese Kategorisierungsarbeit? Weil die Herstellung aktueller Anschlussfähigkeit nicht ausreichte, um „den Fall bearbeitbar zu halten" (Böhringer et al. 2012; meine Herv., C W ) . Die Fallbearbeitung ist demnach nicht nur auf die aktuelle, sondern immer auch auf die generelle Machtunterlegenheit des Kunden angewiesen, weil erst diese die potentielle Anschlussfähigkeit in zukünftigen Interaktionen mit dem Kunden sicherstellt. 16 Hier gilt, was Luhmann verallgemeinernd über die Funktion von Hierarchie konstatiert: „Hierarchie erspart Messungen der Macht, erspart erst recht Kämpfe zur Klärung unklarer Verhältnisse" (Luhmann 1988: 52). Konflikte im Medium einer hierarchischen Beziehung können jederzeit „auf Grund der bestehenden Machtverteilung entschieden werden" (ebd.). Mit der interaktiven Sicherstellung von Hierarchie durch die Interagierenden entsteht also ein Potential, aufgrund dessen die Fachkraft dem Kunden, der eine (bestimmte) Eingliederungsvereinbarung will, jederzeit ein bestimmtes Verhalten abverlangen könnte, auch wenn ihm dieses nicht gefallen sollte. Erst jetzt ist die Systemmoral der Jobcenter-Interaktion über die einzelne Interaktion hinaus sichergestellt.
16 Ähnlich bei Karl et al. (2011); vgl. auch die Beiträge aus dem gleichen Hildesheimer Forschungskontext in Böhringer et al. (2012).
Christine Weinbach: Verschränkung und Deformation als zwei Seiten einer Medaille
4.
Schluss: Verschränkung und Deformation als zwei Seiten einer Medaille
Die empirische Untersuchung im vorliegenden Text hat gezeigt, dass die Systemebenen Politiksystem und Jobcenter-Interaktion durch die gesetzliche Strukturvorgabe „Eingliederungsvereinbarung" verschränkt werden. Dazu wird die gesetzliche Strukturvorgabe in die Jobcenter-Interaktion hineingeholt und befindet sich damit in einem fremden Erwartungskontext. Um interaktiv anschlussfähig zu sein, muss der Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung zu einer personal zurechenbaren Verhaltenserwartung werden. Dies geschieht durch die Kategorisierung der Kundin als jemand, die eine (bestimmte) Eingliederungsvereinbarung will. Diese Kategorisierungsarbeit ist mit einem hohen interaktionistischen Aufwand verbunden, denn die Fachkraft muss diese Personenkategorie in die Interaktion einführen und die Kundin zu ihrer Annahme bewegen. Dazu verwendet sie eine Systemmoral im Sinne einer Gesamtheit von Bedingungen, nach denen in der Jobcenter-Interaktion über Achtung und Missachtung entschieden wird, und gewährleistet so, dass die Strukturvorgabe des Gesetzgebers als personal zurechenbare Erwartung interaktiv relevant wird (Abschnitt 1.2). Darüber hinaus wird die wollende Kundin zugleich als grundsätzlich machtunterlegene Kundin kategorisiert. Mit dieser doppelten Kategorisierung bewältigen die Fachkräfte eine Schwäche der Jobcenter-Moral: Diese funktioniert nämlich nur, wenn die Interagierenden an der Achtung ihres Gegenüber interessiert sind und „die Komplexität und die Entscheidungsfreiheit des jeweils anderen in die eigene Selbstauffassung einbauen" (Luhmann 1987: 323). Es kann angenommen werden, dass Jobcenter-Kundinnen nur bedingt an der Achtung der Fachkräfte interessiert sind; deshalb stützen sich die Fachkräfte zusätzlich auf Sanktionsandrohungen. Aber auch dort, wo die Kundin .kooperiert', bekräftigt die Fachkraft das Machtgefälle zwischen ihnen. Die Analyse hat gezeigt, dass sie eine Hierarchie institutionalisiert, um den „Fall" über die laufende Interaktion hinaus bearbeitbar zu halten (Abschnitt 3.3). Damit drängen sich Fragen im Zusammenhang mit einer Soziologie des Falls (z. B. Bergmann et al. 2014) auf, die hier nicht weiter verfolgt werden können. Vielmehr soll nun auf die andere Seite der Medaille, die sich mit der Verschränkung der Systemebenen Politiksystem und Jobcenter-Interaktion durch die
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Eingliederungsvereinbarung zeigt, geschaut werden, auf ihre Deformation. Die Strukturzwänge der Interaktionspraxis führen nämlich dazu, dass die Strukturvorgabe „Eingliederungsvereinbarung" mit ihrem erfolgreichen Anschluss in der Jobcenter-Interaktion deformiert wird. Worin genau besteht nun die Deformation der gesetzlich verfassten Eingliederungsvereinbarung durch die Jobcenter-Interaktion? Der Gesetzgeber hat die Eingliederungsvereinbarung zweigleisig konzipiert, indem er sie mit einem kooperativen und einem direktiven Element versehen hat. Zwar legt er den Akzent auf das direktive Element, was an keiner Stelle deutlicher wird als da, wo die Fachkraft dem unwilligen Kunden gemäß § 15 SGB II eine angebotene Eingliederungsstrategie als einseitigen Verwaltungsakt zuweisen darf (Abschnitt 1.1). Solcher Direktive muss aber ein „Mindestmaßan realer Verhandlungsbereitschaft'' seitens der Fachkraft vorausgehen (Rixen 2008: §31 Rn. 12b); das kooperative Moment der Eingliederungsvereinbarung muss aus Sicht des Gesetzgebers so weit wie nur eben möglich verwirklicht werden. Die empirische Forschung zeigt aber, dass die „Ziele und Inhalte in den Eingliederungsvereinbarungen" in der Praxis „überwiegend standardisiert, wenig individuell angepasst und ... selten begründet" sind (Schützetal. 2011: 1). Ein eigenes Experteninterview mit einem ehrenamtlichen Richter am Sozialgericht und Sozialberater in einem unabhängigen Arbeitslosenzentrum bekräftigt diesen Befund; demnach komme es beispielsweise immer wieder vor, dass die Kunden zum Unterschreiben einer Eingliederungsvereinbarung unter Sanktionsandrohungen „genötigt" würden. Die vorgelegte Analyse untermauert diese Befunde kleinteiliger. Sie zeigt, wie die Fachkräfte die direktiven Elemente der Eingliederungsvereinbarung zweckentfremden, um die interaktionistischen Anforderungen im Zusammenhang mit der Kundenkategorisierung zu bewältigen. Beispielsweise benutzen die Fachkräfte die direktiven Elemente der Eingliederungsvereinbarung,17 um eine allgemeinasymmetrische Beziehung zum Kunden auch dort durchsetzen, wo sie vom Gesetzgeber nicht vorgesehen ist: Im dritten Fallbeispiel („Der arbeitsunwillige Kunde") kombiniert die Fachkraft die Mo-
17 Z . B. die Möglichkeit des Erlasses eines einseitigen Verwaltungsakt gemäß § 15 S G B II oder die Pflicht zur Sanktionierung in Form von Leistungskürzungen bei Verstoß gegen den Inhalt einer abgeschlossenen Eingliederungsvereinbarung ( § § 3 1 - 3 2 S G B II).
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ralisierung ihrer Kundenerwartungen mit gesetzlich ungedeckten impliziten Sanktionsandrohungen. Im zweiten Fallbeispiel („Der motivierte Kunde") schwingt sich die (eigentlich entgegenkommende) Fachkraft zur willkürlichen Entscheiderin auf, indem sie den zielgenau definierten Ermessensspielraum gemäß § 3 SGB II in ein gesetzlich ungedecktes Machtverhältnis zum Kunden ummünzt. Die Deformation der Eingliederungsvereinbarung durch die Jobcenter-Interaktion stellt sich somit als gesetzlich ungedeckte Übergewichtung ihres direktiven zu Lasten ihres kooperativen Elements dar. Dies korrespondiert in der Jobcenter-Interaktion mit der Kategorisierung des Kunden als allgemein machtunterworfenem Kunden. Die Spannbreite und Formenvielfalt dieser Deformationen ließen sich jedoch erst unter systematischem Einbezug einer weiteren Systemebene, der Jobcenter-Organisation, ausloten.
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Autorenvorstellung Christine Weinbach, geb. 1966 in Duisburg. Studium der Soziologie, Philosophie und Sozialen Arbeit und Erziehung in Duisburg. Promotion in Bielefeld, Habilitation in Potsdam. Zurzeit Vertretungsprofessorin für Geschlechtersoziologie in Potsdam. Forschungsschwerpunkte: Politische Soziologie, Geschlechtersoziologie, Systemtheorie, Theorie der EbenendifFerenzierung. Wichtige Publikationen: Extra-vertragliche Zumutungen im New Public Contractualism: Die doppelte Logik der Eingliederungsvereinbarung und die Rechtsstellung des Klienten im Sozialgesetzbuch II, in: Der moderne Staat 5, 2012: 377-399; zuletzt in dieser Zeitschrift: Moralische Personenkategorien als Transformationsmechanismus in politischen Dienstleistungsbeziehungen: Das Beispiel Jobcenter-Interaktion, Zeitschrift für Soziologie 43, 2014: 150-166.
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft, 2014, S. 4 4 3 - 4 4 4
Alphabetisches Verzeichnis der Autorinnen und Autoren des Sonderheftes
Greve, Jens, PD Dr. Fakultät für Soziologie Universität Bielefeld Postfach 100131 D-33501 Bielefeld [email protected]
Krischer, André, PD Dr. Historisches Seminar Universität Münster Hittorfstraße 17 D-48149 Münster [email protected]
Heintz, Bettina, Prof. Dr. Universität Luzern Soziologisches Seminar Frohburgstrasse 3 CH-6002 Luzern [email protected]
Kühl, Stefan, Prof. Dr. Fakultät für Soziologie Universität Bielefeld Postfach 100131 D-33501 Bielefeld [email protected]
Hirschauer, Stefan, Prof. Dr. Johannes Gutenberg-Universität Mainz Institut für Soziologie Jakob-Welder-Weg 12 D-55128 Mainz [email protected]
Mahlert, Bettina, Dr. Institut für Soziologie RWTH Aachen Eilfschornsteinstraße 7 D-52062 Aachen [email protected]
Kalthoff, Herbert, Prof. Dr. Johannes Gutenberg-Universität Mainz Institut für Soziologie Jakob-Welder-Weg 12 D-55128 Mainz [email protected]
Meyer, Christian, Prof. Dr. Institut für Kommunikationswissenschaft Universität Duisburg-Essen D-45141 Essen [email protected]
Kauppert, Michael, Jun.-Prof. Dr. Institut für Sozialwissenschaften Universität Hildesheim Marienburger Platz 22 D-31141 Hildesheim, [email protected] Köllner, Sonja, Johannes Gutenberg-Universität Mainz Institut für Soziologie Jakob-Welder-Weg 12 D-55128 Mainz [email protected]
Müller, Marion, Jun.-Prof. Dr. Universität Trier Fachbereich IV - Soziologie Universitätsring 15 D-54286 Trier [email protected] Petzke, Martin, Dr. Universität Luzern Soziologisches Seminar Frohburgstrasse 3 CH-6002 Luzern [email protected]
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Alphabetisches Verzeichnis der Autorinnen und Autoren des Sonderheftes
SchefFer, Thomas, Prof. Dr. Institut für Soziologie Johann Wolfgang Goethe-Universität Grüneburgplatz 1 D-60323 Frankfurt am Main [email protected]
Tyrell, Hartmann, Prof. Dr. Fakultät für Soziologie Universität Bielefeld Postfach 100131 D-33501 Bielefeld [email protected]
Schlögl, Rudolf, Prof. Dr. Universität Konstanz Fachbereich Geschichte und Soziologie D-78457 Konstanz [email protected]
Vollmer, Hendrik, PD Dr. Universität Bielefeld Fakultät für Soziologie Postfach 100131 D-33501 Bielefeld [email protected]
Schmidt, Johannes F. K., Fakultät für Soziologie Universität Bielefeld Postfach 100131 D-33501 Bielefeld [email protected]
Weinbach, Christine, PD Dr. Universität Potsdam Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät August-Hebel-Straße 89 D-14482 Potsdam [email protected]
Schneider, Wolfgang Ludwig, Prof. Dr. Fachbereich Sozialwissenschaften Universität Osnabrück D-49069 Osnabrück [email protected] Schwinn, Thomas, Prof. Dr. Universität Heidelberg Max-Weber-Institut für Soziologie Bergheimerstr. 58 69115 Heidelberg [email protected]
Werron, Tobias, PD Dr. Universität Luzern Soziologisches Seminar Frohburgstrasse 3 Postfach 4466 C H - 6 0 0 2 Luzern [email protected]
Weltgesellschaft Theoretische Zugänge und empirische Problemlagen Herausgegeben von Bettina Heintz, Richard Münch und Hartmann Tyrell Sonderheft der Zeitschrift für Soziologie 2005. VI/514 S., kt., EUR 48,-. ISBN 3-8282-0303-5 Dieser Sonderband der "Zeitschrift für Soziologie" ist der Thematik der „Weltgesellschaft" gewidmet, der Frage also nach den Grenzen und der Reichweite der Gesellschaft heute. Umfassend behandelt der Band die Theorie und Theoriegeschichte der Weltgesellschaft und setzt sich detailliert mit dem Problem von Differenzierung und Integration der Weltgesellschaft auseinander und ebenso mit empirischen Fragen wie Welthandel, Region, Nationalität, Lokalität, der Rolle Europas u.a.
Johannes Lis
Nutzen oder Glück Möglichkeiten und Grenzen einer deontologisch-theoretischen Fundierung der economics of happiness Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft Band 101 (Herausgegeben von T. Apolte, M. Leschke, A.F. Michler, C. Müller, R. Schomaker und D. Wentzel) 2014. X/276 S., kt., EUR 39,-. ISBN 978-3-8282-0608-3 Die Forschungsrichtung der economics of happiness hat in den letzten Jahren die Wirtschaftstheorie mit der Frage herausgefordert, ob Ökonomen wirklich genug davon verstehen, was den „Wohlstand der Nationen" (Adam Smith) beeinflusst. Johannes Lis untersucht daher, inwiefern sich die empirischen Ergebnisse der sog. Glücksökonomik durch philosophische, politikwissenschaftliche oder psychologische Glückstheorien — von der Antike bis zur Gegenwart — fundieren lassen. Nutzen und Glück — so legen diese Ansätze nahe — könnten dabei grundsätzlich zu unterscheidende Konzeptionen von Wohlstand und Zufriedenheit sein. Als Kern einer ökonomischen Glückstheorie wird eine pflichtenethische (deontologische) Theorie praktischer Rationalität vorgeschlagen und für die Rezeption entfaltet: Glück (Euthymia) ist Effekt eines Zieles, das gewählt wird, weil es gut ist. Gut ist, was richtig ist und was dem Leben Sinn verleiht. Der Band schließt mit der Frage nach möglichen Rückwirkungen, welche diese Glückskonzeption für die ökonomische Theoriebildung und Politik aufweisen kann.
et
Stefan Hirschauer, Birgit Heimerl, Anika Hoffmann, Peter Hofmann
Soziologie der Schwangerschaft Explorationen pränataler Sozialität Qualitative Soziologie Band 19 (Herausgegeben von Jörg R. Bergmann, Stefan Hirschauer und Herbert Kalthoff) 2014. VI/305 S„ kt. EUR 19,80. ISBN 978-3-8282-0606-9 Eine Soziologie der Schwangerschaft gibt es nicht. Dieses Buch will sie ins Leben rufen. Es begreift das Schwangersein als einen grundlegenden sozialen Prozess: als eine kommunikative Tatsache, die festgestellt wird und sich herumspricht, als Beziehungsgeflecht zwischen Ungeborenen, Austragenden, Ko-Schwangeren und Publikum, sowie als kollektiven Erwartungszustand, in den Frauen durch eine soziale Schwängerung hineingeraten. Das Buch verfolgt diesen Prozess auf der Basis einer langjährigen explorativen Studie: die soziale Geburt einer Schwangerschaft in der Entdeckung durch Paare und deren Coming Out als werdende Eltern, die Herstellung eines inwändigen Anderen in den visuellen Kontakten des Ultraschalls und den leiblichen Sondierungen der Kindsregungen, sowie die Formierung des Ungeborenen als Person durch Geschlechtszuschreibung und Namensgebung. Ein erwartetes Kind wird zur Person, indem mit der organischen Teilung von Körpern zugleich eine soziale Bindung konstituiert wird.
Frank Oberzaucher
Übergabegespräche Interaktionen im Krankenhaus Eine Interaktionsanalyse und deren Implikationen für die Praxis Qualitative Soziologie Band 18 (Herausgegeben von Jörg R. Bergmann, Stefan Hirschauer und Herbert Kalthoff) 2014. VIII/266 Seiten, kt. EUR 44,-. ISBN 978-3-8282-0593-2 Diese Studie beschäftigt sich mit Übergabegesprächen im Krankenhaus und den Implikationen der Analyse für die Praxis. Übergabegespräche sind ein zentraler Aufgabenbereich des Pflegepersonals mit rituellem Charakter hinsichtlich des Ablaufs, des Gesprächszeitpunkts und des Gesprächsortes. Jeder Schichtdienst beginnt und endet mit dem Übergabeereignis, an dem das Pflegepersonal zu Beginn als Übernehmerln und zu Dienstende als Übergeberln teilnimmt. Im Rahmen einer ethnomethodologisch informierten Ethnografie untersucht Frank Oberzaucher basierend auf Audio- und Videodaten das Interaktionsverhalten des Pflegepersonals. Was kennzeichnet die Ablaufstruktur von Übergabegesprächen? Wie wird über abwesende Dritte gesprochen und welche Kategorisierungen werden hierfür eingesetzt? Wie bewältigen die Teilnehmerinnen die für Übergaben typische Asymmetrie der unterschiedlichen Erfahrungsinhalte? Und wann macht es Sinn, die Konversationsanalyse als Methode der Gesprächssupervision einzusetzen?
LUCIUS L U C I U S
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