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German Pages 290 Year 1994
Interaktion Modellierung, Kommunikation und Lenkung in komplexen Organisationen
Wirtschaftskybernetik und Systemanalyse Herausgegeben von
Prof. Dr. Jörg Baetge, Münster/Westfalen Prof. Dr. Heribert Metl'ert, Münster/Westfalen Prof. Dr. Karl-Ernst Schenk, Harnburg Prof. Dr. Bemd Schiemenz, Marburg Band 17
Interaktion Modellierung, Kommunikation und Lenkung in komplexen Organisationen Wissenschaftliche Tagung der Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialkybernetik aus Anlaß ihres 25jährigen Bestehens am 8. und 9. Oktober 1993 an der Universität in Koblenz
herausgegeben von
Bernd Schiemenz
Duncker & Humblot · Berlin
Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialkybernetik e. V. FrankfurtiMain Sekretariat: Am Plan 2, D-35032 Marburg Tel. 0 64 21 I 28 37 39
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Interaktion : Modellierung, Kommunikation und Lenkung in komplexen Organisationen ; wissenschaftliche Tagung der Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialkybernetik aus Anlass ihres 25jährigen Bestehensam 8. und 9. Oktober 1993 an der Universität Kob1enz I hrsg. von Hemd Schiemenz. Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Wirtschaftskybemetik und Systemanalyse; Bd. 17) ISBN 3-428-08200-1 NE: Schiemenz, Hemd [Hrsg.]; Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialkybemetik; GT
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6992 ISBN 3-428-08200-l Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI-Norm flir Bibliotheken
Vorwort Ziel der in das 25. Gründungsjahr fallenden Tagung der Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialkybernetik war es, einen Eindruck zu vermitteln, in wie vielen Bereichen deren Mitglieder kybernetisches Gedankengut einsetzen. In Absprache mit dem zweiten Vorsitzenden der Gesellschaft, Prof. Dr. Werner Schumann, und dem Vorsitzenden des Kuratoriums, Prof. Dr. Jörg Baetge, wurde das Rahmenthema "Interaktion - Modellierung, Kommunikation und Lenkung in komplexen Organisationen" gewählt. Denn Interaktion ist von Anbeginn ein Kerngedanke der Kybernetik, die von Norbert Wiener als Wissenschaft der Kommunikation und Lenkung in und zwischen Lebewesen und Maschinen charakterisiert wurde. Es ist spezielles Ziel der Kybernetik, -
Interaktionen zwischen Regler und Regelstrecke, Interaktionen zwischen den verschiedenen Elementen eines Systems, Interaktionen zwischen verschiedenen Systemebenen, aber auch Interaktionen zwischen Wissenschaftsdisziplinen und Interaktionen zwischen Theorie und Praxis
zu berücksichtigen bzw. zu fördern. Angesichts der zunehmenden Vernetzung aller Bereiche erscheint das immer notwendiger. Zwar werden dadurch auch die Denkansätze, Modelle und Problemlösungsmethoden komplexer. Kybernetik und Systemtheorie helfen jedoch zugleich, diese Komplexität besser zu handhaben. Der vorliegende Sammelband enthält die Fachvorträge der Tagung, die ich, seinerzeit dort geschäftsführender Leiter des Instituts für Wirtschaftsinformatik im Fachbereich Informatik, an der Universität in Koblenz organisieren konnte. Für die technisch-materielle Unterstützung in dieser Hinsicht darf ich deren Präsidenten, Herrn Prof. Dr. Hermann Saterdag, an dieser Stelle herzlich danken. Zugleich danke ich ihm, ebenso wie Herrn Hubert Scherer, Präsident der Industrie- und Handelskammer zu Koblenz, für die Begrüßung der Teilnehmer. Zwei Ausnahmen von der oben angeführten Regel, daß der Tagungsband die Fachvorträge der Tagung enthält, sind zu nennen: Herr Dipl.-Kaufmann Holger U. Birkigt, damals Vorsitzender der Geschäftsleitung der Kellogg (Deutschland) GmbH, der auf der Tagung zum Thema "Interaktive Lenkung industrieller Fertigungsprozesse" beitrug, übernahm zwischenzeitlich einen
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Vorwort
neuen Vorstandsbereich und konnte deshalb an der Schriftformulierung nicht mitwirken. Andererseits ist der Beitrag von Prof. Dr. Reinhard Tietz über "Vereinfachung und Komplexität - das Dilemma der Wirtschaftstheorie" zusätzlich in den Tagungsband aufgenommen worden. Herr Kollege Tietz konnte den Beitrag auf der Tagung nicht vortragen, weil er bereits vor der Planung eine Verpflichtung in Australien eingegangen war. Der Beitrag wurde mit aufgenommen, weil er die Wirkung unserer Gesellschaft auch in den Bereich von Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik hinein verdeutlicht und sehr gut in das Rahmenthema paßt. Danken möchte ich bei dieser Gelegenheit auch nochmals den Sitzungsleitern der Kohlenzer Tagung, - Herrn Prof. Dr. Hans Rühle von Lilienstern, Frankfurt, - Herrn Prof. Dr. Peter Milling, Mannheim, - Herrn Prof. Dr. Markus Schwaninger, St. Gallen, - Herrn Prof. Dr. Karl Steinbuch, Ettlingen, -Herrn Prof. Dr. Eberhard Dülfer, Marburg, - Herrn Prof. Dr. Roland Fahrion, Heidelberg, und - Herrn Prof. Dr. Hans Czap, Trier. Den Teilnehmern in angenehmer Erinnerung blieb der Ernfang durch den Bürgermeister der Stadt Koblenz, Herrn Peter Knüpper im Rathaussaal der Stadt Koblenz, dem ich hier ebenfalls ausdrücklich danke. Ein Wort des Dankes gebührt für finanzielle Unterstützung der Tagung: der Dresdner Bank AG, der Grisson GmbH & Co.KG, der Kohlenzer Elektrizitätswerk und Verkehrs-AG, der Kohlenzer Volksbank eG, der Mittelrhein-Verlag GmbH, der Sebapharma GmbH & Co. KG und der Technologie- und Innovationsberatung der Rheinland-Pfälzischen Wirtschaft e.V. BITT. Meinen Kohlenzer Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, insbesondere Herrn Dipl.Kaufmann Andreas Obst, danke ich für engagierte Mitwirkung bei der Organisation der Tagung und der Herausgabe des vorliegenden Tagungsbandes. Dem Verlag Duncker & Humblot, in dem bereits zahlreiche Tagungsbände unserer Gesellschaft erscheinen konnten, danke ich für die Veröffentlichung auch dieses Bandes und - abschließend aber ganz besonders - den Autoren für die Überlassung ihrer Manuskripte zur Veröffentlichung.
Marburg, im Juli 1994 Prof. Dr. Bernd Schiemenz Vorsitzender der Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialkybernetik e.V.
Inhalt Bernd Schiemenz
Kybernetik und Systemtheorie als Hilfen zur Lösung komplexer Probleme - Zugleich eine Einführung in den Tagungsband -................
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Jörg Baetge und Clemens Krause
Der Einsatz Künstlicher Neuronaler Netze zur Kreditwürdigkeitsprüfung...............................................................................................
31
Hubert B. Beuter, lngo Reiss und Hans Joachim Rust
Erfahrungen mit formalisierten Verfahren bei der Kreditwürdigkeitsprüfung ...................................................................................... ........
55
Hermann Krallmann
Die interaktive Lenkung industrieller Fertigungsprozesse auf der Basis kooperierender Systeme.......................................................................
75
Klaus Henning und lngrid Isenhardt
Kybernetische Organisationsentwicklung - Gestaltungsprinzipien für komplexe, sozio-technische Systeme.................................................... 103 Helmut Schulte und Christoph Wunn
Unternehmenskybernetik in der Praxis - Betriebliche Erfahrungen und Perspektiven ............................................................................ .... 129 Herbert Druxes
Ganzheitliche Mathematisch-Naturwissenschaftliche Ausbildung auf der Basis von Kybernetik und Systemtheorie .. ......... ......... ...... ..... ... .... 141 Klaus G. Troitzsch
Modeliierung sozialer Interaktion ........ .. .... .. .. ...... ................ ...... ... .... . . 159
Inhaltsverzeichnis
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Heiner Müller-Merbach Kybernetik als methodischer Rahmen ganzheitlicher Leitung: Gestalten und Lenken von Sozialsystemen ..........................................
181
Thomas Fischer und Hans Stiejler Ein integriertes Logistik-Konzept -Voraussetzung für eine arbeitsteilige Produktion in Europa .. .. .. .. .. .. .. .... .. .. .. .. .... .... .. ..... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 205
Günter Altrogge Unternehmung und Umwelt ............................................................... 225
Werner Schuhmann Rekursives Lernen am Beispiel Qualitätsmanagement ........................ 249
Reinhard Tietz Vereinfachung und Komplexität - Das Dilemma der Wirtschafts theorie ... . .......... .......... ...... .... .... .. ........ .......... ......... ............. ... ..... ...... ... 265
Kybernetik und Systemtheorie als Hilfen zur Lösung komplexer Probleme - Zugleich eine Einführung in den Tagungsband von Bernd Schiemenz 1
1. Einleitung Der vorliegende Beitrag soll einen kurzen Einblick in Konzepte, Methoden und Erkenntnisse von Systemtheorie und Kybernetik geben. Sie können bei der Beschreibung, Erklärung und Gestaltung unserer zunehmend komplexer werdenden Welt helfen und finden deshalb in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen Anwendung. Das gilt insbesondere auch für Betriebswirtschaftslehre, Wirtschaftsinformatik und allgemein das Management. Auch soll mit diesem Beitrag in den Tagungsband eingeführt werden.
2. Systemsicht und Komplexität Ein für Kybernetik und Systemtheorie zentraler Begriff ist der des Systems. Ein System besteht aus einer Menge von Elementen (Objekten, Systemen niedrigerer Ordnung, Subsystemen) mit Attributen und den zwischen diesen gegebenen Beziehungen2 . Zugleich ist das System Bestandteil eines umfassenderen Systems (System höherer Ordnung, Supersystem), mit dem es interagiert. Sowohl die Elemente als auch das umfassendere System können dabei wiederum als Systeme im definierten Sinne aufgefaßt werden.
1 Univ.-Prof. Dr. Bemd Schiemenz, Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, BWL I: Allg. Betriebswirtschaftslehre und Industriebetriebslehre, Am Plan 2, 35032 Marburg. 2 Hall, A. D./ Fagen, R. E.: Definition of System, in: General Systems, Vol. I, 1956, S. 18-28.
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Die erkenntnistheoretische Frage, ob die Realität nun ein System ist oder System nur eine Sichtweise - von mehreren möglichen - der Realität ist, soll hier nicht vertieft werden. Der Verfasser vertritt die letztere Position. Die Systemsicht ist nützlich. Sie fördert das Denken in Zusammenhängen und wirkt so reduktionistischem Denken entgegen. Sie hat auch in der Praxis große Bedeutung gewonnen, zum Teil unter Begriffen wie Vorgangsketten, Vernetzung und Strukturierung bis hin zum "vernetzten" Denken3. Nach Skizzierung der Systemsicht kann nun auch der im Titel genannte Begriff Komplexität etwas näher umrissen werden. In der Literatur gibt es dafür zwei unterschiedliche Verwendungsformen. Die erste, hier besonders relevante, soll als strukturorientiert bezeichnet werden, die zweite als aufwandsorientiert.4 Die erstere Sicht finden wir vorwiegend in den (systemorientierten Ansätzen der) Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Sie geht von der erläuterten Systemsicht aus und nimmt als Maß für die Komplexität eines Realitätsausschnittes die Zahl und Art der Elemente sowie die Zahl und Art der Beziehungen zwischen diesen Elementen.5 Die zweite Begriffsverwendung finden wir in der Komplexitätstheorie, einem Teilbereich von Mathematik bzw. theoretischer Informatik. Sie setzt Komplexität mit Rechenaufwand gleich. "Die Komplexität eines Algorithmus ist der erforderliche Rechenaufwand bei einer konkreten Realisierung des Algorithmus innerhalb des Berechnungsmodells. Die Komplexität einer Funktion ist die Komplexität des bestmöglichen Algorithmus der Menge aller Algorithmen, die die Funktion berechnen. ... Statt von der Komplexität einer Funktion spricht man oft auch von der Komplexität des Problems, das durch die Funktion gelöst wird. "6 Beide Begriffsinhalte korrelieren miteinander. Die folgenden Ausführungen stellen auf den ersteren, strukturorientierten, Komplexitätsbegriff ab.
3 z. B. Probst, Gilbert J. B. I Gomez, Peter (Hrsg.): Vemetztes Denken - Unternehmen ganzheitlich führen, Wiesbaden 1989. 4 Zelewski spricht von strukturorientiertem Ansatz einerseits, verhaltensorientiertem Ansatz andererseits. Vgl. Zelewski, Stephan: Komplexitätstheorie als Instrument zur Klassifizierung und Beurteilung von Problemen des Operations Research, Braunschweig und Wiesbaden 1989, S. I. 5 Vgl. z.B. Luhmann, Niklas: Komplexität, in: Grochla, Erwin (Hrsg.): Handwörterbuch der Organisation, 2. Aufl., Stuttgart 1980, Sp. I 064-1070, hier Sp. I 064 f. Unter Verwendung eines noch allgemeineren Komplexitätsbegriffes schreibt Willke, Helmut: Systemtheorie, 3. Auf!., Stuttgart 1991 (S. 16): "Komplexität bezeichnet den Grad der Vielschichtigkeit, Vemetzung und Folgelastigkeit eines Entscheidungsfeldes." 6 Duden Informatik, Mannheim u. a. 1988, S. 297.
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3. Hierarchisierung als Mittel zur Komplexitätsreduktion
Die bei Verwendung der Systemsicht zu berücksichtigenden Zusammenhänge gehen in zwei Richtungen: Einmal gilt es, die - horizontalen - Beziehungen zwischen Elementen eines Systems zu beachten. Man kann hier von Vernetzungsaspekt sprechen. Zur Gestaltung des Logistiksystems innerhalb eines Betriebes sind unter anderen die Elemente Produktionsstätten, Lager und Transportmittel, deren Attribute wie Kapazität und Kosten pro Einheit und Relationen wie Entfernungen zu beachten. Zum anderen gilt es, die Beziehungen des gerade betrachteten Systems - also eines Systems auf einer bestimmten Auflösungsebene - zu seinem Umsystem in die Betrachtung mit einzubeziehen. Dieser vertikale Aspekt wird meist als Hierarchieaspekt bezeichnet, in der Informatik oft auch als Struktur. Es geht um die Zerlegung von Mengen in Untermengen oder umgekehrt der Zusammenfassung von Mengen zu Obermengen. Abb. I zeigt exemplarisch die Projekthierarchie eines Anlagenbauers. In der Betriebswirtschaftslehre wird Hierarchie weitgehend mit Leitungshierarchie identifiziert. Leitungshierarchie ist aber nur eine Ausprägung von Hierarchie. Und es ist nicht die Leitungshierarchie, sondern die Hierarchie im erläuterten mengenmäßigen Sinne, deren Analyse den Nobelpreisträger Simon7 zu der Aussage führte, sie sei ein wesentliches Konzept, dessen sich ein Architekt komplexer Systeme bedient. Sozialsysteme (Familie, Gemeinde, Kreis, Land etc.) sind ebenso nach diesem Konzept aufgebaut wie Konzerne, Maschinen oder Software. Im Konstruktionsbereich ist es als modulare Bauweise bekannt. Der Hierarchieaspekt lenkt die Aufmerksamkeit darauf, daß jedes betrachtete System, jeder als System gesehene Realitätsausschnitt, Bestandteil eines umfassenderen Systems ist. 8 Das Logistiksystem eines Betriebes ist beispielsweise Bestandteil eines umfassenderen Logistiksystems, das auch die Logistiksysteme der Lieferanten und Kunden und öffentliche Logistiksysteme einbezieht, mit denen es in Interaktion steht. Insgesamt - und hier liegt auch ein Grund für das Tagungsthema und das des Tagungsbandes - berücksichtigt die Systemsicht also die horizontalen und vertikalen Interaktionen von zu analysierenden oder zu gestaltenden Tatbeständen. 7 Simon, H. A.: The Architecture of Complexity, in: Proceedings of the American Philosophical Society, Vol. 106, 1962, S. 467-582. 8 Der Gedanke läßt sich bis in die griechische Antike zurückverfolgen. Nach Platon erbaute der "Bildner" "diese Welt als ein einziges Ganzes, welches selbst wieder aus lauter Ganzen besteht." Vgl. Müller-Merbach, H.: Vier Arten von Systemansätzen, dargestellt in l..ehrgesprächen, in: ZfB, 62. Jg., 1992, S. 853-876, hier S. 856.
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Abb. 1: Projekthierarchie9
Im Hinblick auf Gestaltungsmaßnahmen lenkt der Hierarchieaspekt die Aufmerksamkeit darauf, komplexe Systeme aus stabilen Subsystemen aufzubauen. Wenn möglich, sollen diese stabilen Subsysteme vielfach verwendbar sein. Zerfällt dann - aus welchen Gründen auch immer - das System in seine Bestandteile, bspw. die UdSSR in unabhängige Staaten oder ein Konzern in selbständige Unternehmungen, lassen diese sich wieder zu neuen Systemen zusammensetzen. 9 Entnommen aus Schiemenz, Bemd: Hierarchie und Rekursion im nationalen und internationalen Management von Produktion und Information, in: Schiemenz, Bemd, Wurl, Hans-Jürgen (Hrsg.): Internationales Management- Beiträge zur Zusammenarbeit, Wiesbaden 1994, S. 285-305, hier S. 299.
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4. Rekursion als Mittel der Vereinfachung
Bei Hierarchie unterscheiden sich die Elemente auf der Auflösungsebene n+l von dem Element der Auflösungsebenen und auch untereinander. Demgegenüber finden wir bei Rekursion auf der Ebene n das gleiche System wieder wie auf der Ebene n+ 1. Das Konzept stammt wohl aus der Informatik. Dort ist Rekursion ein häufig verwendeter Ansatz zur Problemlösung einerseits, zur Modeliierung andererseits. Im Hinblick auf Problemlösung versteht man dort unter Rekursion die "...Zurückführung der allgemeinen Aufgabe auf eine 'einfachere' Aufgabe der selben Klasse.'' 10 Ein kleines Beispiel soll das verdeutlichen: Ein einfaches Verfahren zur Einsortierung von Karten in eine Kartei (ohne Reiter) geht wie folgt: Man schlägt eine beliebige Karteikarte auf und vergleicht diese mit der einzusortierenden. Je nach Ergebnis wiederholt man den Vorgang mit der davorliegenden bzw. dahinterliegenden (Untermenge der) Kartei bis die Karte in eine leere Kartei bzw. Kartenmenge einzusortieren ist. Hier wird das Einsortieren in eine Kartei also auf das Einsortieren in eine relevante kleinere Kartei zurückgeführt.
Abb. 2: Rekursive Lösung des Einsortierens von Kartenil
10 Bauer, Friedrich L. I Goos, Gerhard I Dosch, Walter: Informatik - eine einführende Übersicht, Berlin u. a. 1991, hier S. 59. Milling spricht in ähnlichem Zusammenhang von Reflexivität; vgl. Milling, Peter: Systemtheoretische Grundlagen zur Planung der Untemehmenspolitik, Berlin 1981. II Entnommen aus Schiemenz, 1994, a.a.O., S. 290.
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Ein zweites Beispiel für Rekursion: Man zerlegt die Berechnung einer unbekannten Fläche in die Berechnung einer bekannten Teilfläche und die Berechnung der unbekannten Restfläche.
a+b a A= - - *h b 2
+
h Abb. 3: Rekursive Lösung der Ermittlung eines Flächeninhaltes 12
Ein drittes Beispiel der Verwendung des Rekursionsansatzes zur Problemvereinfachung findet man im Beitrag von Schuhmann über rekursives Lernen am Beispiel Qualitätsmanagement im vorliegenden Werk. Wie bereits gesagt, läßt sich der Rekursionsansatz nicht nur zur Problemlösung, sondern auch zur Modeliierung verwenden. Ein Modell bzw. "ein Objekt heisst rekursiv, wenn es sich selbst als Teil enthält oder mithilfe von sich selbst definiert ist." 13 Ein solches rekursives Objekt ist bspw. ein Fernsehbild, das beim Senden live aufgenommen wird, so daß man auf dem Bildschirm den Bildschirm, auf diesem wiederum den Bildschirm, ..., sieht. Ein zweites Beispiel für rekursive Objekte ist die russische Matrioschka. Sie enthält eine weitere Matrioschka (siehe Abb. 4). Auch Ansätze wie "Fabrik in der Fabrik", "Unternehmung in der Unternehmung", "Organisation in der Organisation" oder "Regelkreis im Regelkreis" können hier angeführt werden. Die Systemsicht selbst ist insofern rekursiv, als ein System aus (Sub-) Systemen aufgebaut ist. Bspw. entfaltet sich ein Block eines Netzplans der Projekthierarchie in Abb. 1 zu einem neuen Netzplan. Erläuterungen und Beispiele sollten gezeigt haben, wie durch Rekursion der Modellierungsaufwand und der Problemlösungsaufwand reduziert werden können. In ersterer Hinsicht versucht man, Elemente eines Objektes mittels gleicher Modelle zu beschreiben, wie die Objekte selbst. Der Problemlösungs-
12 Entnommen aus Schiemenz, 1994, a.a.O., S. 290. !3 Wirth, Niklaus: Algorithmen und Datenstrukturen, 3. Auf!., Stuttgart 1983, S. 149.
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aufwand wird reduziert, indem zur Lösung des Teilproblems ein ähnliches Verfahren verwendet wird wie zur Lösung des Gesamtproblems. 14 Wie die Beispiele zeigen, gibt es auch bei Vorliegen von Rekursion auf der Ebene n+ 1 noch andere Elemente. Hierarchie und Rekursion sind also kein Gegensatz, sondern betreffen verschiedene Aspekte der Problemmodeliierung und -Iösung.
Abb. 4: Matrioschka als Beispiel eines rekursiven Objektsl5
5. Die Analyse von Elementen mittels Black-Box-Methoden
Zur Analyse der Reaktionsweise bzw. Funktion von Systemen liefern die Systemtheorie und Kybernetik leistungsfähige Instrumente in Form der BlackBox-Analyse. Man verzichtet dabei auf eine weitere Aufgliederung des Systems in Subsysteme, und sieht das ganze System als Schwarzen Kasten, als Black Box, an. Dieser Schwarze Kasten transformiert einen oder mehrerer Eingänge (wie Ventilstellung, Preis, Kapitalzufuhr, Faktoreinsatzmengen) in einen oder mehrere Ausgänge (wie Wasserfluß, Absatzmenge, Gewinnänderung, Produktionsmengen). 14 Nähere Erläuterungen findet man in Schiemenz, Bernd, 1994, a.a.O. 15 Entnommen aus Schiemenz, 1994, a.a.O., S. 288.
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Auf welchem Auflösungsniveau man dies Konzept verwendet ist eine Frage des Problem-Kontextes, bspw. der vorhandenen eigenen Kenntnisse der Subsysteme, der Informationsbeschaffungsmöglichkeiten und des Nettonutzens detaillierter Information. Dabei ist zu berücksichtigen, daß oft trotz Unbestimmtheit des Verhaltens der Elemente das Verhalten des Systems (bspw. als statistischer Mittelwert) ausreichend bestimmt ist 16, so daß sich dessen weitere Zergliederung nicht lohnt. Mittels der BlackBox-Methoden werden die Systemeingänge systematisch erfaßt oder manipuliert und die Ausgänge klassifiziert. Durch Inbeziehungsetzung beider erkennt man das Systemverhalten. Und zwar unabhängig von der Natur des Systems, also ob technisch, biologisch, sozial etc. Insbesondere erhält man durch einen chaotischen Input einen Output, der über die Black Box allein etwas aussagt 17 . Machen Sie den Test: Reden Sie Ihrem Partner gegenüber wirres Zeug. Sie gewinnen interessante Erkenntnisse über diesen! Schwarze Kästen, deren Output auf Input man kennt, deren Inneres sich nur dem Fachmann öffnet, und das hierarchisch gestuft, sind ein gutes Mittel, um sich in der heutigen zunehmend komplexeren Welt zurechtzufinden. Die Informatik nutzt den Ansatz im Rahmen der an Bedeutung gewinnenden objektorientierten Modellierung. Und zuhause bedient man nach diesem Prinzip Radio, Fernseher, Fotoapparat etc. Reagiert ein solches Gerät auf Input nicht erwartungsgemäß, geht man zum Fachmann, der die Input/Output-Beziehungen der Elemente und die Funktionsfähigkeit der Kopplungen der Elemente beurteilen kann, und der für einzelne Elemente möglicherweise weitere Spezialisten hinzuzieht. Im Detail ergeben sich dabei viele Einzelfragen, die aber hier nicht behandelt werden können.
6. Die Nutzung von adaptiven Modellen und Experimenten
DasBlackBox-Konzept ist im Grunde der Ansatz zur Bildung von Verhaltensmodellen. Man erfaßt das Verhalten durch Korrelation von Input und Output. Änderungen im Verhalten der BlackBox, die sich in der Zeit ergeben - man denke etwa an einen Absatzmarkt -, werden auf diese Weise automatisch mit berücksichtigt. Das Verfahren führt deshalb zu einer Modelladaption im doppelten Sinne: Das Modell paßt sich einer (zeitinvarianten) Realität im16 Laszlo, E.: The Systems View of the World, Oxford 1972, spricht hier von "Makrodetermination". 17 vgl. Masani, P. R.: Norbert Wiener 1894-1964, Basel Boston Berlin 1990, S. 265.
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mer besser an. Darüberhinaus berücksichtigt es Änderungen im Verhalten des abzubildenden (zeitvariablen) Objekts. Die Grundgedanken dieses Ansatzes wurden schon in den 40er Jahren von dem Vater der Kybernetik, Norbert Wiener, vorgestellt. 18 Ein physikalisches Implementierungsmodell findet man als "Lernmatrix" bereits in den 60er Jahren in dem Buch "Automat und Mensch" von Steinbuch. 19 Der Verfasser sieht in diesen Pionierarbeiten für die Theorie neuronaler Netze. Solche neuronalen Netze stellen im Vergleich zu den von-Neumann-Maschinen - unseren heutigen Universalrechnern - eine andersartige, eher der biologischen Informationsverarbeitung entsprechende Konzeption dar, die heute auch in der Informatik zunehmend an Bedeutung gewinnt. 20 Über ihre Einsatzmöglichkeiten für die Kreditwürdigkeitsprüfung berichten Baetge und Krause im nächsten Beitrag. Auch die Ausführungen von Beuter, Reiss und Rust können dem Bereich der adaptiven Modellbildung - konkret der Zahlungsfähigkeit von Kunden zugeordnet werden. Auf dem BlackBox-Konzept aufbauend wurden auch Methoden zur Lenkung bis hin zur Optimierung von Systemen entwickelt. Bei der experimentellen Optimierung manipuliert man nach bestimmten Strategien die Eingänge eines Systems, erfaßt die Ausgänge, bewertet beide und wiederholt das, bis sich keine Verbesserung mehr ergibt2 1.
7. Die Bedeutung von Rückkopplung und Regelung Bei der Modellbildung bzw. -verbesserung verwendet man, wie wir sahen, die Ergebnisse von Einwirkungen. Nur so lassen sich originäre Modelle des Verhaltens von Realitätsausschnitten bilden bzw. anpassen. Die Bedeutung der Berücksichtigung von Ergebnissen ist aber weit größer. In komplexen Systemen wirken die Ausgänge von Elementen häufig und auf verschiedenen Wegen auf die Elemente zurück. Solche Zusammenhänge werden in Systemtheorie und Kybernetik, insbesondere durch Systems Dyna18 Wiener. N.: Cybemetics or control and communication in the animal and the machine, 2. Auf!., New York et al. 1961; deutsch: Kybernetik- Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine, Düsseldorf und Wien 1963, S. l3 ff. 19 Steinbuch, Kar!: Automat und Mensch - Auf dem Weg zu einer kybernetischen Anthropologie, 4., neubearb. Auf!., Berlin Heidelberg New York 1971. 20 Siehe z. B. Hecht-Nielsen, Roben: Neurocomputing, Reading, Mass., et al. 1990; Ritter, Helge I Maninetz, Thomas I Schulten, Klaus: Neuronale Netze - Eine Einführung in die Neuroinformatik selbstorganisierender Netzwerke, Bonn et al. 1990. 21 Vgl. Schiemenz, Bernd: Automatisierung der Produktion, Göttingen 1980, S. 82 ff. 2 Schiemenz
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mies, in Wirkungsdiagrammen erfaßt.22 Die Unterscheidung zwischen insgesamt positiven, d.h. verstärkenden Wirkungskreisen einerseits, negativen, d.h. abschwächenden Wirkungskreisen andererseits ist ein wichtiges Mittel zur Beschreibung langfristigen Systemverhaltens. Sie helfen bei der Analyse mehrstufiger Lagerhaltungsprozesse ebenso wie bei der Analyse des Gesundheitssystems, von Ballungsgebieten und von Welt-Wachstumsgrenzen. Rückkopplung ist auch ein wesentlicher Bestandteil der Regelung. Nach DIN 19226 handelt es sich dabei um den "... Vorgang, bei dem eine Größe*, die zu regelnde Größe (Regelgröße*), fortlaufend erfaßt, mit einer anderen Größe, der Führungsgröße*, verglichen und abhängig vom Ergebnis dieses Vergleichs im Sinne einer Angleichung an die Führungsgröße beeinflußt wird. Der sich dabei ergebende Wirkungsablauf findet in einem geschlossenen Kreis, dem Regelkreis*, statt. "23 Der Regler verändert die Stellgröße solange, bis der Istwert der Regelgröße dem Sollwert (im vorgegebenen Toleranzbereich) entspricht. Dabei ist im Prinzip nur ein angenähertes Modell des Verhaltens des zu lenkenden Realitätsausschnittes, der Regelstrecke, erforderlich. Doch wächst auch hier die Qualität des Regelungssystems mit der Qualität des im Regler implementierten Modells der Regelstrecke. 24 Bei relativ zur Regelstrecke starker Reaktion des Reglers und nicht sachgerechter Berücksichtigung von Verzögerungen in der Regelstrecke kann es, anders als bei Steuerung, sogar zu Instabilität kommen, bei der die Soll-Ist-Abweichung ständig größer wird. Die Stabilitätstheorie als Teilbereich der Regelungstheorie leistet hier analytische und konstruktive Hilfe. Die Bedeutung von Rückkopplung und Regelung als technisches Gestaltungsprinzip ist erst seit relativ kurzer Zeit bekannt und wurde erst seit 1920 theoretisch durchdrungen. Ihre Betonung für Gestaltungszwecke ist eine der Leistungen der Kybernetik. Leistungsfähige Systeme werden stets Rückkopplungen enthalten, sei es auch nur periodisch oder im StörungsfalL Die Komplexitätsreduktion durch Verwendung des Regelungsprinzips ist enorm. Bspw. braucht bei einer entsprechend ausgelegten Klimaanlage der 22 z. B. Forrester, J. W.: Principles of Systems, Cambridge 1972. Milling, Peter M. I Zahn, Erich 0 . K. (Eds.): Computer-Based Management of Complex Systems, Berlin und Heidelberg 1989. Niemeyer, G.: Kybernetische System- und Modelltheorie: system dynamics, München 1977. Roberts, E. B. (Hrsg.): Managerial Applications of System Dynamics, Cambridge 1978. 23 DIN 19226, Regelungstechnik und Steuerungstechnik, Begriffe und Benennungen, Berlin et al. 1968, s. 3. 24 Conant, R. C. I Ashby, W. R.: Every good regulator ofa system must be a modelofthat system, in: Int. J. of Systems Science, Bd. 1, 1970, Nr. 2, S. 89-97; Schiemenz, Bemd: Die Leistungsfahigkeit einfacher betrieblicher Entscheidungsprozesse mit Rückkopplung, in: Zeitschrift fiir Betriebswirtschaft, 41. Jg. (1971), S. 107-122; wieder abgedruckt in: Grochla, Erwin (Hrsg.): Organisationstheorie, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 595-609.
Kybernetik und Systemtheorie als Hilfen zur Lösung komplexer Probleme
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Nutzer nur eine ihm angenehme Temperatur einzustellen. Er braucht sich nicht um die Wirkungen von unterschiedlicher Außentemperatur, Wärmeleitfahigkeit der Außenwände, weiteren Wärmequellen im Raum, Sonneneinstrahlung, Heizwert des Brennmaterials etc. zu kümmern. Die Klimaanlage steuert äquifinal den eingestellten Wert an. Deshalb erscheint auch eine finale Erklärung des Geschehens der Situation oft angemessener als eine kausale. Es erscheint bspw. oft angemessener, den Grund einer bestimmten Raumtemperatur im am Thermostat eingestellten Wert zu sehen, als in den detaillierten thermodynamischen Tatbeständen. Das Ziel wird in funktionierenden Regelkreisen zur Ursache von Ergebnissen. Kausalität und Finalität, zwei hinsichtlich ihrer Realisierung im biologischen Bereich intensiv diskutierte Kategorien, sind in Regelkreisen nur zwei verschiedene Sichten des gleichen funktionalen Zusammenhangs. Das Regelungsprinzip ist breit verwendbar. Genannt seien die Führungstechniken Management by Objectives, bei der das Schwergewicht auf der Vereinbarung bzw. Vorgabe der anzustrebenden Ziele liegt sowie Management by Results, also Management durch Erfassung der Ergebnisse und deren Vergleich mit Sollwerten. Ein weiteres Beispiel sind Verkehrsleitsysteme, die für einen eingegebenen Zielpunkt den aktuell günstigsten Weg weisen. Bei der Konzeption liegt natürlich oft der Teufel im Detail. Regelungs- und Stabilitätstheorie im besonderen und Kybernetik und Systemtheorie im allgemeinen stellen hierfür geeignete Werkzeuge zur Verfügung. Dafür gibt es Spezialisten. Für den Systemnutzer sind das Probleme der nächstniedrigeren Systemebene, mit denen er sich nicht befassen muß. Für ihn reduziert sich das Problem im wesentlichen auf die Festlegung der Sollwerte.
8. Die Gestaltung von mehrstufigen vermaschten Lenkungssystemen Regelungssysteme lassen sich über mehrere Ebenen ausdehnen. Wir erhalten dann Regelungskaskaden, bei denen, abgesehen von der untersten Ebene der ausführenden Subsysteme, die Regelstrecke eines Reglers (höherer Ordnung) jeweils wieder ein oder mehrere Regler niedrigerer Ordnung sind. Die Regler höherer Ordnung bestimmen die Sollwerte für die jeweils untergeordneten Regler neu, wenn diese entweder nicht (mehr) deren Regelungskapazität entsprechen oder wenn dies aus Gründen der Koordination mit anderen Subsystemen erforderlich wird oder wenn entsprechende Vorgaben von den übergeordneten Reglern kommen. Man gelangt auf diese Weise zu Systemen mit mehreren Ebenen und mehreren auf die und den Ebenen verteilten Zielen. In mechanischen Systemen lassen sich die Ziele der untergeordneten
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Regler aus denen der übergeordneten weitgehend ableiten. In sozialen Systemen sind die "Regelstrecken" selbst Zielsubjekte und versuchen, im Rahmen von Rückkopplungsprozessen, diese Ziele in den Zielbildungsprozeß einzubringen.25 Die Berücksichtigung der Ziele von Subsystemen als Orientierungsgröße, nicht nur als Störgröße, ist wegen der Ziel-Mittel-Interdependenz, insbesondere des Eigenwertes der Mittel26, aus Effizienz- und Effektivitätsgründen in der Regel sinnvoll.
9. Varietät und Selbstorganisation
Eine bedeutsame Erkenntnis der Kybernetik ist Ashby's Gesetz der erforderlichen Varietät. Unter Varietät versteht Ashby dabei die Zahl unterscheidbarer Elemente einer Menge, also bspw. der Handlungsalternativen, der Umweltzustände und der verschiedenen Ergebnisse.27 Das Gesetz stellt eine mathematische Beziehung her zwischen der Varietät der Handlungsmöglichkeiten, der Varietät der Umweltzustände und der Varietät der Ergebnisse. Will man die Varietät der Ergebnisse konstant halten, muß man bei sich erhöhender Varietät der Umweltzustände-und das geschieht aktuell- die Varietät der Handlungsmöglichkeiten erhöhen. Ein Ansatz zur Varietätserhöhung in sozialen - und auch technischen - Systemen ist die Selbstorganisation. Wegen begrenzter Informationsverarbeitungskapazität tendiert ein einzelner Organisator zu einer stärkeren Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten als nötig. Durch Selbstorganisation der verschiedenen Systemebenen hofft man, diese Einschränkung zu vermeiden und zugleich eine bessere Kongruenz von Handlungen, Fähigkeiten und individuellen Wünschen und Zielen herzustellen.28 Dabei ist man angeregt von Analogien im Bereich der Naturwissenschaften, die oft unter der Überschrift Synergetik abgehandelt werden29.
25 Die Situation wird recht gut durch die Agency-Theorie beschrieben. Siehe dazu z.B. Schiemenz, Bemd: Grundlagen eines Management-Unterstützungssystems mit selbstanpassendem Zentralisationsgrad, in: Ballwiesec Wolfgang I Berger, Karl-Heinz (Hrsg.): Information und Wirtschaftlichkeit, Wiesbaden 1985, S. 617-637. 26 Siehe dazu Ackoff, Russe! L.: Optimization + objectivity = opt out, in: European Journal of Operational Research, Bd. I (1977), S. 1-7. 27 Ashby, W . R.: An Introduction to Cybemetics, London 1963, S. 126. 28 Vgl. Probst, G. J. B.: Selbstorganisation-Ordnungsprozesse in sozialen Systemen aus ganzheitlicher Sicht, Berlin et al. 1987. 29 Vgl. Haken, H.: Erfolgsgeheimnisse der Natur - Synergetik: Die Lehre vom Zusammenwirken, 2. Aufl., Stuttgart 1981.
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10. Facetten der Systembewegung Damit sind die dem Verfasser als zentral erscheinenden Ansätze von Systemtheorie und Kybernetik angesprochen. Andere Autoren hätten die Schwerpunkte vielleicht anders gelegt und weitere genannt. Erwähnt seien hier nur die Begriffe Künstliche Intelligenz, Spieltheorie, Informationstheorie, Automatentheorie, Algorithmentheorie, Autopoiese, Zustandskonzept, und Unschärfetheorie im Sinne der Fuzzy Systems. Aus Raumgründen soll auf deren Erläuterung hier verzichtet werden. Zusammen mit den vorgenannten Modellen, Methoden und Konzepten finden sie Eingang in zahlreiche, der sog. Systembewegung zuzurechnende Publikationen. Im folgenden werden die wesentlichen Facetten dieser Systembewegung skizziert. Ihre Erfahrungs- und Erkenntnisobjekte überlappen sich teilweise. Auch werden Erkenntnisse der anderen Ansätze in das eigene Aussagensystem mit eingebaut. Das erschwert eine Differenzierung. Stark von Mathematik und Technik beeinflußt sind systemtheoretische Ansätze der sogenannten "harten" Systemtheorie, die im Schrifttum auch unter Begriffen wie "Mathematische Systemtheorie", "Regelungs- bzw. Kontrolltheorie", sowie als technische Kybernetik behandelt werden. Sie haben ihre Bedeutung in der Lenkung von Maschinen, von Prozessen, haustechnischen Anlagen und Verkehrsströmen Andere Systemansätze konzentrieren sich auf besonders komplexe Systeme, wie wir sie etwa in der Biosphäre und noch mehr im sozialen Bereich finden. Die meisten der in der harten Systemtheorie berücksichtigten Systemaspekte treffen wir auch dort wieder. Doch kommen weitere hinzu. So gilt in verstärktem Maße die Ganzheitsidee, derzufolge "das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile". Anders ausgedrückt weist ein System aus zusammenwirkenden Elementen zusätzliche, sog. emergente bzw. synergetische Eigenschaften auf, die nur dem System, nicht aber den Elementen zuordenbar sind. Eine gerne zur Erläuterung dieser Ganzheitsidee verwendete Metapher ist die Rasterdarstellung eines Bildes. Man erhält die eigentliche Information erst, wenn man auf die Betrachtung der Einzelelemente verzichtet und sogar den Informationsinput (durch Blinzeln) reduziert. Systems engineering, eine erste Ausprägung dieser Richtung, baut auf den oben angeführten harten Systemansätzen auf und ergänzt diese durch verfahrensmäßige Aussagen zur Analyse und Gestaltung30. 30 Siehe z. B. Machol. R. E. (Hrsg.): System Engineering Handbook, New York et al. 1965; Daenzer, W. (Hrsg.): Systems Engineering - Leitfaden zur methodischen Durchführung umfangreicher Planungsvorhaben, 6. Aufl., Zürich 1988.
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Bemd Schiemenz
Systemforschung läßt sich charakterisieren als 1. die Anwendung wissenschaftlicher Methodik in Form der - möglichst quantitativen - Modeliierung 2. durch interdisziplinär zusammengesetzte Teams 3. auf Probleme der Lenkung "soziotechnischer" Systeme. 3! Ähnlich sind die Inhalte der Begriffe Operations Research und Systemanalyse. Das bereits angesprochene System Dynarnics stellt eine Ausweitung des Regelungsprinzips auf mehrfach vernetzte Systeme unter Verwendung eines spezifischen Simulationsansatzes dar. Die Modelle "Living Systems" von Miller3 2 und "Viable Systems" von Beer33 versuchen, Erkenntnisse über biologische Organismen in die Organisationspraxis hineinzutragen. Der "Soft Systems Methodology" 34 geht es insbesondere um die unterschiedliche Perzeption komplexer Probleme durch die beteiligten Personen, die sich durch Interaktion mit der Realität und den anderen Personen weiterentwickelt. Die Modelle sollen deshalb nicht so sehr Realitätsausschnitte abbilden als vielmehr eine Diskussion über die Realität erleichtern. Am ambitiösesten und umfassendsten ist der Ansatz der Allgemeinen Systemtheorie. Im Gegensatz zu den bisher genannten, mehr gestaltungsorientierten Ansätzen hat sie eine eher theoretisch-deskriptive Zielsetzung. Sie möchte der zunehmenden Trennung der Wissenschaften und der daraus resultierenden Doppelarbeit entgegenwirken. Dazu sollen auf der Basis einer einheitlichen Terminologie und weitgehender Verwendung mathematischer Formulierung allgemeine, für verschiedene Erfahrungsbereiche gültige Systemgesetze herausgearbeitet werden35. In neuerer Zeit finden wir eine Ergänzung der Erforschung beobachteter Systeme durch eine Erforschung beobachtender Systeme36. Gefragt wird, was mit einem Beobachter geschieht, der etwas beobachtet. Diese Verschiebung, die auch unter dem Begriff "Kybernetik zweiter Ordnung" oder "Kybernetik der Kybernetik" bekanntgeworden ist37 , ist eng mit einerin Entwicklung be31 Vgl. Hanssmann, Friedrich: Einführung in die Systemforschung, München 1978, S. 22; Meyer, Manfred: Operations Research - Systemforschung, 2. Aufl., Stuttgart 1986. 32 Miller, J. G.: Living Systems, New York 1978. 33 Siehe z.B. Espejo, Rau!/ Hamden, Roger (Hrsg.): The Viable System Model - Interpretations and Applications of Stafford Beer's VSM, Chichester u. a. 1989. 34 Checldand, Peter I Scholes, Jim: Soft Systems Methodoiogy in Action, Chichester u. a 1990. 35 Vgi. Bertalanffy, L. von: General System Theory: Foundations, Development, Applications, rev. ed., tenth print., New York 1988. 36 Vgl. Foerster, H. von: Observing Systems, Intersystems Publication, Seaside 1982. 37 Vgl. Foerster, H. von: Cybemetics ofCybemetics, in: Krippendorff, K. (Hrsg.): Communication and Control in Society, New York 1979.
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findliehen allgemeinen Theorie der Selbstorganisation38 verbunden. Sie hat sowohl erkenntnistheoretische als auch neurophysiologische Implikationen. In der Betriebswirtschaft fördert sie, daß der Manager oder Organisator sich selbst als Bestandteil des zu beeinflussenden Systems sieht, auf dessen Selbstorganisation er hinwirken muß39.
11. Einflüsse auf den Unternehmensbereich Die Sichtweise, Konzepte, Methoden und Erkenntnisse von Systemtheorie und Kybernetik fanden in vielfältiger Weise und auf verschiedenen Wegen Eingang in Betriebswirtschaftslehre und Management.40 Am weitestgehenden ist der Ansatz, die ganze Betriebswirtschaftslehre systemorientiert zu entwickeln41 . Umfassend sind auch "systemtheoretischkybemetisch orientierte Ansätze" der Organisationstheorie42 , die nach Grochla43 zugleich einen möglichen Integrationsbereich für die anderen organisationstheoretischen Ansätze schaffen. Die Beiträge von Henningllsenhardt und Schulte/Wunn im vorliegenden Band zeigen exemplarisch den Nutzen kybernetisch-systemtheoretischen Denkens in diesem Bereich. Weitere Bedeutung gewann der kybernetisch-systemtheoretische Ansatz in der betrieblichen Kontrolle44 und, wegen der Relevanz der Führungsfunktion für die anderen Funktionen, auch für diese. Besonders im Bereich von Produktions- und Fertigungslenkung wird gern auf kybernetische Erkenntnisse zurückgegriffen. Hier kann auf den Beitrag von Krallmann im vorliegenden 38 Vgl. z. 8. Eigen, M.: Selforganization of Matter and the Evolution of 8iological Macromolecules, in: Die Naturwissenschaften, 58. Jg., 1971, S. 465-523; Haken, H., a.a.O.; Jantsch, E.: Die Selbstorganisation des Universums, München 1982. 39 Siehe z.B. Probst, G. J. 8.: Selbstorganisation - Ordnungsprozesse in sozialen Systemen aus ganzheitlicher Sicht, 8erlin et al. 1987: 4 0 Siehe auch Schiemenz, 8 .: Fortschritte des kybemetik- und systemtheoriegestützten Managements, in: Schiemenz, B. I Wagner, A. (Hrsg.): Angewandte Wirtschafts- und Sozialkybemetik, 8erlin 1984. 41 Siehe z.8 . Ulrich, H.: Die Unternehmung als produktives soziales System, 2. Aufl., Bem 1970; Gomez, P.: Modelle und Methoden des systemorientierten Managements, Bem et al. 1981; Dülfer, E.: Betriebswirtschaftslehre der Kooperative, Göttingen 1984; Malik, F.: Strategie des Managements kom-
plexer Systeme - Ein Beitrag zur Management-Kybernetik evolutionärer Systeme, Bem und Stuttgart, 2. Aufl. 1986. 4 2 Vgl. z.B. Bleicher, K. (Hrsg.): Organisation als System, Wiesbaden 1972; Fuchs, H.: Systemtheorie und Organisation, Wiesbaden 1973; Mirow, H. M.: Kybernetik - Grundlage einer allgemeinen Theorie der Organisation, Wiesbaden 1969. 43 Grochla, E . (Hrsg.): Organisationstheorie, I.+ 2. Teil, Stungart 1975n6. 44 Vgl. z. 8 . Baetge, J.: Kontrolltheorie, in: HWO, 2. Aufl., 1980, S. 1091-1103.
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Werk verwiesen werden. Zu nennen ist aber auch die Logistik45 , die in starkem Maße das für Systemtheorie und Kybernetik charakteristische Denken erfordert, wie man aus dem Beitrag von Fischer und Stiefler entnehmen kann. Von Anbeginn sind Kybernetik und Systemtheorie eng mit der Entwicklung von Informatik bzw. Wirtschaftsinformatik verbunden. So verwendet bspw. Kargl die "systemtheoretische Orientierung als methodische Leitlinie" 46 für den Fachentwurf für DV-Anwendungssysteme. Denn "das Denken in den Begriffskategorien der allgemeinen Systemtheorie ermöglicht es, komplexe Sachverhalte der Realität leichter zu verstehen und Gestaltungsvorhaben effizienter durchzuführen ...''4 7. Letzteres läßt sich für das betriebliche Management verallgemeinern. Dort gewinnt die Systemtheorie einmal über die Betriebswirtschaftslehre Bedeutung. Zum anderen finden wir kybernetisch-systemtheoretische Ansätze auch in anderen Disziplinen wie Technik, Biologie, Pädagogik, Politikwissenschaft, Soziologie oder Volkswirtschaftslehre. Die in diesem Tagungsband wiedergegebenen Beiträge von Druxes über Ganzheitliche Mathematisch-Naturwissenschaftliche Ausbildung und von Troitzsch über Modeliierung sozialer Interaktion enthalten Beispiele aus diesen Bereichen. Wegen der Nähe der Problemstellung zur Führungsfunktion greifen in Managementfunktionen gelangte Vertreter der genannten Disziplinen häufig auf kybernetisch-systemtheoretisches Gedankengut zurück. Dadurch beeinflußt der Systemansatz auch zunehmend das strategische Denken der deutschen Wirtschaft. So wird eine der Leistungsstärken der deutschen Industrie in der Systemführerschaft gesehen. Bspw. liest man in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4. 4. 92 (aufS. 14): "Systemintegration ... Für Siemens ein aussichtsreiches Betätigungsfeld" und weiter: "Wie Hermann Franz, Vorstandsmitglied der Siemens AG in Hannover festgestellt hat, ist aus dem Projektführer einer Anlage, der früher gewissermaßen Bausteine zusammengesetzt hat, ein Systemintegrator geworden. Er hat die Aufgabe, Komponenten von verschiedenen Herstellern mit unterschiedlichen Schnittstellen und Anwendungen zusammenzufügen und zu optimieren .... Das Prinzip der Systemintegration ist überdies unabhängig von der Branche, gilt für Hütten- oder Stahlwerke und Paketverteilzentren der Post ebenso wie für Lastverteiler in der Elektrizitätsversorgung."
4 5 Siehe z.B. Pfohl, H.-C.: Logistiksysteme- Betriebswirtschaftliche Grundlagen, 3. Aufl., Berlin et al. 1988. 4 6 Kargl, H.: Fachentwurf für DV-Anwendungssysteme, 2. Aufl., München et al. 1990, S. 13. 47 Ebenda, S. 18.
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Im BMW-Magazin 3/1993 liest man: "BMW veranschaulicht ... die Wandlung des Unternehmens vom Automobilhersteller zum Systemhaus Mobilität" (S. 16). AufS. 24 heißt es: "BMW präsentiert sich auf der IAA 1993 ... vor allem als Entwickler und Garant für vernetzte Mobilitätslösungen, als Systemhaus Mobilität." Und Günther von Briskorn, Mitglied des Direktoriums der Henkel KGaA schreibt in seinem Beitrag Ego und Echo in der Zeitschrift Innovatio (7/8 1989, S. 28): "Für die menschliche Existenz besonders schwerwiegend scheint die Erkenntnis der modernen Naturwissenschaftler zu sein, daß der Mensch in einem sich beschleunigenden kybernetischen Kreislauf das Ergebnis der Umwelt wird, die er selbst so entschlossen und tiefgreifend umgestaltet." Gerade für die permanent an Bedeutung gewinnende Umweltproblematik ist das Denken in horizontalen und vertikalen Interdependenzen, wie es durch die Systemsicht gefordert und gefördert wird, notwendig. Aber auch der Rückkopplungsgedanke- man denke bspw. an die Forderung nach Internalisierung externer Effekte - , Adaptivität, Selbstorganisation usw. sind zur Analyse und Bewältigung der Umweltproblematik hel'Vorragende Konzepte. Viele interessante Gedanken in dieser Hinsicht findet man in dem Beitrag von Altrogge über Unternehmung und Umwelt. Wir erkennen die Spannweite des Einflusses kybernetisch-systemtheoretischen Denkens. Besonders deutlich wird er auch in dem aus dem Festvortrag hervorgegangenen Beitrag von Müller-Merbach über Kybernetik als methodischem Rahmen ganzheitlicher Leitung.
12. Grundgedanke unserer Tagung
Aus den Ausführungen dürfte deutlich geworden sein, daß Interaktion ein Kernelement des wissenschaftlichen Gegenstandes unserer Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialkybernetik ist. Das gilt sowohl für den Wortbestandteil "Inter" wie für den Wortbestandteil "Aktion". Es kann sich, abstrakt formuliert, um Interaktion zwischen Elementen einer Systemebene und zwischen solchen verschiedener Systemebenen, bspw. in Form von Rückkopplungen, handeln. Es geht aber auch - konkreter - um Interaktion zwischen verschiedenen Disziplinen sowie zwischen Theorie und Praxis. Das Erkenntnisziel ist dabei zum einen theoretischer Natur im Sinne des Erkennens des "So-Seins" und des "Warum-So-Seins" (als Realtheorie) und formaler Strukturen (als Formaltheorie). In noch stärkerem Maße ist das Erkenntnisziel aber praxeologischer Natur. Es geht um die aktive, gestaltende Einflußnahme (auch auf aktiv
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gestaltende Einflußnahme ...• siehe Abschnitt 4.), also um Interaktion. Die französische Kybernetik-Schule bezeichnet Kybernetik deshalb auch .als "Kunst, die Wirksamkeit einer Aktion sicherzustellen". Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, daß eine Aktion in der Regel um so besser ist, je besser die dahinterstehende Real- und Formaltheorie ist. Das Tagungsprogramm und der vorliegende Tagungsband sollen diese Beziehungen zum Ausdruck bringen. Sie sollen auch zeigen, daß die Mitglieder unserer Gesellschaft und deren Praxispartner kybernetisch-systemtheoretische Erkenntnisse in den verschiedensten Bereichen erfolgreich einsetzen. Die Bereiche gehen aus den Beiträgen weitgehend hervor. Es geht um Kreditvergabe, Fertigungslenkung, Führung, Bildung, Gesellschaft, Logistik sowie Unternehmung, Umwelt, Qualität und Wirtschaftstheorie. Als Reihenfolge der Beiträge ist dabei die der Tagung gewählt worden. Wir hoffen, daß bei einem solch breiten Angebot jeder Leser dem Tagungsband zumindest einige neue Gedanken entnehmen kann, die er in seinem beruflichen wissenschaftlichen oder praktischen oder auch persönlichen Bereich nutzen kann. Gerade das Zusammentreffen von Aussagen aus verschiedenen Bereichen gibt aus unseren Erfahrungen dazu Gelegenheit.
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Der Einsatz Künstlicher Neuronaler Netze zur Kreditwürdigkeitsprüfung von Jörg Baetge und Clemens Krause 1
1. Einleitung Kreditgeber machen ihre Entscheidung, Kredite zu vergeben, abhängig von der Kreditwürdigkeit (Bonität) des Kunden, also von der Bereitschaft und Fähigkeit des Kunden, seinen Kredit sowie die anfallenden Zins- und Tilgungsraten ordnungsgemäß zu begleichen. Allerdings beruhen die bei der Kreditwürdigkeitsprüfung angewendeten Bewertungskriterien und deren Gewichtung fast ausschließlich auf den Erfahrungen der einzelnen Kreditsachbearbeiter und sind dementsprechend uneinheitlich, subjektiv und teilweise undurchsichtig. Deshalb werden z.T. statistische Verfahren2 , aber auch Verfahren der Mustererkennung3 ergänzend eingesetzt, mit denen die Bilanzbonität des Kunden objektiv und rationell ermittelt wird. Die Bilanzbonitätsprüfung kann und soll dabei lediglich die anderen erforderlichen Methoden der Kreditwürdigkeitsprüfung unterstützen und ergänzen bzw. vorbereiten. Besonders häufig wurde bislang das statistische Verfahren der multivariaten linearen DiskriminanzAnalyse (MDA) zur Bilanzbonitätsprüfung mit Erfolg eingesetzt, u. a. bei der Bayerischen Vereinsbank AG4 , der Deutschen Bundesbank5, der Deutschen Bank AG6 beim Deutschen Sparkassen- und Giroverband e. V. 7 und der Allge1 Univ.-Prof. Dr. Jörg Baetge und Dr. Clemens Krause, Institut filr Revisionswesen, Westtalische Wilhelms-Universität Münster, Universitätstr. 14-16, 48143 Münster. 2 Vgl. zu den statistischen Verfahren die Übersicht bei Rösler, J., Die Entwicklung der statistischen Insolvenzdiagnose, S. 105-ll2. 3 Mustererkennungsverfahren wurden eingesetzt bei Heno, R., Kreditwürdigkeitsprüfung mit Hilfe von Verfahren der Mustererkennung, und Fischer, J., Computergestützte Analyse der Kreditwürdigkeit. 4 Die Diskriminanzanalyse filr die Bayerische Vereinsbank AG wurde in Zusarnmenart>eit mit dem Institut filr Revisionswesen durchgefllhrt, vgl. Baetge, J. I Huß, M./ Niehaus, H.-J., Informationsgewinnung bei der Abschlußprüfung, S. 605-613. 5 Vgl. Lampe, W., Anhang zu K. Thomas, S. 204. 6 Vgl. Breuer, R.-E., Bilanzanalyse aus der Sicht der Kreditinstitute, S. 154.
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Jörg Baetge und Clemens Krause
meinen Kreditversicherung AG 8 . Der vorliegende Beitrag prüft, ob und wieweit Künstliche Neuronale Netze (KNN), die zu den Mustererkennungsverfahren der Künstlichen Intelligenz gehören, für die Kreditwürdigkeitsprüfung geeignet sind.9 Für die Analyse stehen uns fast 20.000 Jahresabschlüsse (6.667 nach AktG 1965 und 12.295 nach HGB 1985) zur Verfügung. Die 6.667 Jahresabschlüsse nach dem AktG 1965 entstammen dem Untersuchungszeitraum vom 31.12.1973 bis 31.08.1987, d. h., das letzte einbezogene Geschäftsjahr ist 1986. Sie stammen aus einer Zusammenarbeit mit der Allgemeinen Kreditversicherung AG, in deren Hause sie erfaßt wurden. Für die Jahre 1987 bis 1992 standen 12.295 weitere Jahresabschlüsse zur Verfügung, die nach dem HGB 1985 im Hause der Baden-Württembergischen Bank AG erhoben worden sind. 10
2. Das verwendete Datenmaterial und die Beurteilung der Klassif'lkationsergebnisse Für die Untersuchung standen zunächst die 6.667 Datensätze nach AktG 1965 der AKV zur Verfügung, die jeweils einen Jahresabschluß eines Unternehmens repräsentieren. Die anband der Datensätze analysierten Unternehmen sind nicht staats- und nicht konzernabhängig, und ihre Gesamtleistung ist jeweils größer als 500.000 DM. 11 Banken und Versicherungen wurden wegen deren andersartiger Bilanzstruktur von der Untersuchung ausgeschlossen. Aus den 6.667 Jahresabschlüssen nach AktG 1965 wurden 73 Kennzahlen gebildet und damit Unterschiede zwischen insolventen und solventen Unternehmen analysiert. Diejenigen Unternehmen, bei denen z. B. ein Konkurs oder Vergleich vorlag, werden im folgenden als insolvent bezeichnet.l 2 Alle anderen Unternehmen wurden als solvent betrachtet. 7 Vgl. v. Stein, J. H., Zut Weiterentwicklung der Kreditbeurteilung, S. 218-222. 8 Die Diskriminanzanalyse fUr die Allgemeine Kreditversicherung AG (AKV) wurde in Zusammenarbeit mit dem Institut fUr Revisionswesen durchgefilhrt, vgl. Baetge, J. I Beuter, H. B. I Feidicker, M., Kreditwürdigkeitsprüfung mit Diskriminanzanalyse, S. 749-761. 9 Mit diesem Problem befassen sich auch Odom, M. D. I Sharda, R., A Neural Network Model for Bankruptcy Prediction; Rehkugler, H. I Poddig, Tb., Klassifikation von Jahresabschlüssen; Schumann, M. l Lohrbach, T. I Bährs, P., Kreditwürdigkeitsprognose mit Künstlichen Neuronalen Netzen; Tam, K. Y.l Kiang, M., Pedicting Bank Failures; Yoon, Y.l Swales, G.l Margavio, Tb. M., Discriminant Analysis Versus Artificial Neural Networks. 10 In Zusanunenarbeit mit der Baden-Württembergischen Bank wird am Institut fiir Revisionswesen an "einer neuen Diskriminanzfunktion fUr die HGB-Daten gearbeitet. 11 Vgl. zu den Bedingungen im einzelnen Niehaus, H.-J., Früherkennung von Unternehmenskrisen, S. 59 f.; Baetge, J., Möglichkeiten der Früherkennung, S. 799. 12 Vgl. zur Definition der Insolvenz Feidicker, M., Kreditwürdigkeitsprüfung, S. 37.
Neuronale Netze zur Kreditwürdigkeitsprüfung
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Bei der vorliegenden Untersuchung wurden die Diskriminanzfunktion und die Neuronalen Netze mit Hilfe der 6.667 Jahresabschlüsse nach AktG 1965 ermittelt, getestet und validiert. Dieses Datenmaterial haben wir entsprechend in drei Stichproben gegliedert: 13 Tabelle 1 Aufteilung der Jahresabschlüsse
Analysestichprobe
Parameter-Teststichprobe Validierungsstichprobe
Solvente
Insolvente
Solvente
Insolvente
Solvente
Insolvente
336
336
2686
343
2654
312
Summe=672
Summe=3029
Summe=2966
Mit der Analysestichprobe wurde sowohl das KNN trainiert als auch die Diskriminanzfunktion berechnet. Die Analysestichprobe umfaßt 672 Datensätze mit den Jahresabschlußinformationen von 112 insolventen und 112 solventen Unternehmen aus jeweils drei aufeinanderfolgenden Jahren. Mit t-0 wird der Zeitpunkt der Insolvenz bezeichnet. t-1 ist die Periode 7-18 Monate vor der Insolvenz, t-2 die Periode 19-30 Monate vor der Insolvenz und t-3 die Periode 31-42 Monate vor der Insolvenz. Bei den gesunden Unternehmen ist der Abstand nicht auf das Datum der Insolvenz, sondern auf den Zeitpunkt der Datenerhebung bezogen: Der jüngste vorliegende Jahresabschluß wird t-1, der älteste der drei Jahresabschlüsse t-3 zugeordnet. Die Klassifikationsergebnisse, die mit KNN bei der Analysestichprobe erzielt werden, sind indes noch nicht hinreichend aussagefähig, weil ein Problem existiert, welches als 'überlernen · bezeichnet wird. 14 Überlernen bedeutet, daß bei KNN die Fähigkeit zu generalisieren schwindet, je genauer die Datendetails der Analysestichprobe gelernt werden. Wegen des Überiemens kann die Güte der Klassifikation nicht mit Datensätzen der Analysestichprobe, sondern nur mit Daten beurteilt werden, mit denen das KNN nicht trainiert wurde. Die Klassifikationseigenschaften von KNN können grundsätzlich über mehrere Parameter beeinflußt werden. Mit der Parameter-Teststichprobe wird deshalb die Klassifikationsleistung verschiedener Parametereinstellungen des 13 Die Dreiteilung des Datenmaterials entspricht dem Vorschlag Hecht-Nieisens (vgl. HechtNie/sen, R., Neurocomputing, S. 115 f.). 14 Hecht-Nielsen bezeichnet dieses Problem als "overtraining" (vgl. Hecht-Nie/sen, R., Neurocomputing, S. 115 f.). Andere Autoren bevorzugen die Bezeichnung "overfitting" (vgl. Henz. J. I Krogh, A. I Palmer, R. G., Introduction to the Theory ofNeural Computation, S. 145-147. 3 Schiemenz
34
Jörg Baetge und Clemens Krause
KNN getestet. Mit der bei der Parameter-Teststichprobe besten Parametereinstellung wird abschießend die Klassifikationsleistung anband der Validierungsstichprobe ermittelt, denn nur diese Ergebnisse sind repräsentativ für neu zu klassifizierende, dem KNN unbekannte Datensätze der Grundgesamtheit Damit wir die verschiedenen Klassifikationsergebnisse vergleichen können, wurde in unserer Untersuchung der kritische Trennwert bei jedem Klassifikationstest in einem iterativen Suchprozeß so bestimmt, daß der Alpha-Fehler auf gleichem Niveau liegt. Die Klassifikationsgüte wird dann bei allen folgenden Tests jeweils durch die Höhe des Beta-Fehlers wiedergegeben. Das Niveau wurde für den Alpha-Fehler bei 8,75 % so gewählt, daß die Gesamtkosten der Fehlklassifikationen in dem betreffenden Unternehmen minimal sind. 15
3. Aufbau und Funktionsweise des verwendeten Backpropagation Netzes Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf Backpropagation Netze (BPN), da sich BPN als sehr leistungsfähig bei Klassifikationsaufgaben erwiesen haben. 16 Die Klassifikationsversuche beginnen aus Effizienzgründen mit einem sehr kleinen dreischichtigen BPN.17 Dieses BPN wird zunächst mit den vier mit der MDA ermittelten Kennzahlen trainiert. Für jede Kennzahl hat dieses BPN in der Eingabeschicht ein Neuron. In der Ausgabeschicht befindet sich lediglich ein Neuron, da ein Neuron für die Klassifikation in solvente (Ausgabewert=O) und insolvente Unternehmen (Ausgabewert=l) genügt. Das BPN hat zunächst nur eine verborgene Schicht. Theoretisch ist eine verborgene Schicht zur Problemlösung ausreichend.18 Mehrere verborgene Schichten können sich aber als effizienter erweisen. Die Minimalausstattung der verborgenen Schicht mit einem Neuron be15 Die Kostenminimierung wurde übernommen von Feidicker, M., Kreditwürdigkeitsprufung,
s. 208-214. 16 Mit BPN
haben wir in Voruntersuchungen bereits gute Erfahrungen gemacht, vgl. Erxleben, K.l Baetge, J. I Feidicker, M. I Koch, H. I Krause, C. I Mertens, P., Klassifikation von Unternelunen, S. 1237-1262. Auch Rehkugler I Poddig arbeiten u. a. mit vergleichbaren Netzen bei der Klassifikation von Jashresabschlüssen, vgl. Rehkugler, H. I Poddig, Tb., Klassifikation von Jahresabschlüssen S. 30-35. 17 Yoon I Swales I Margavio und Erxleben I Baetge I Feidicker I Koch I Krause I Mertens verwenden jeweils ein KNN mit vier Neuronen in der Eingabeschicht, zwei Neuronen in der verborgenen Schicht und zwei Neuronen in der Ausgabeschicht, vgl. Yoon, Y.l Swales, G. I Margavio, T., Discriminant Analysis Versus Artificial Neural Networks, S. 57; Erxleben, K. I Baetge, J. I Feidicker, M./ Koch, H. l Krause, C. l Mertens, P., Klassifikation von Unternehmen, S. 1240. 18 Vgl. Hecht-Nie/sen, R., Neurocomputing, S. 131 f.
Neuronale Netze zur Kreditwürdigkeitsprüfung
35
Ausgabedaten: Unternehmen insolvent (N=l) oder solvent (N=O) N _ . Ausgabefkt. - -Gewichtung .Ausgabefkt.
Kl
K2
K3
Neuronales Netz
K4
Eingabedaten: Kennzahlen (K) eines Unternehmens Abbildung 1: Netzarchitektur in der Ausgangslage schränkt zwar die Lernkapazität, vermindert aber das Problem des Überlernens.19 In späteren Tests wird aber geprüft, ob mit mehr Neuronen und mehr verborgenen Schichten bessere Ergebnisse zu erzielen sind. Den Empfehlungen von NeuralWare folgend, wird als SchweBwertelement ein sogenanntes Bias verwendet, welches stets den Wert 1 an alle Neuronen der verborgenen Schicht und der Ausgabeschicht liefert. 20 In der verborgenen Schicht und der Ausgabeschicht werden die Eingangssignale der Neuronen einschließlich des Bias gewichtet (d. h. mit den Verbindungsgewichten multipliziert) und summiert. Auf die Summe wird die Ausgabefunktion angewendet. Folgende Ausgabefunktionen sind möglich: Sinus, Tangens Hyperbolicus, die sigmoide oder die lineare Funktion (Identitätsfunktion). Bei dem oben skizzierten Aufbau des BPN können folgende Parameter verändert werden: I. Netzspezifische Parameter:
a) Zahl der Iterationen: Die Zahl der Iterationen gibt an, wie viele Datensätze dem BPN beim Lernen präsentiert werden.
19 Vgl. zur Dimensionierung der veiborgenen Schicht Kratzer, K. P., Neuronale Netze, S. 153. 20 Vgl. NeuralWare Inc. (Hrsg.), Neural Computing, S. 106. 3•
147-
36
Jörg Baetge und Clemens Krause
b) Lemrate: Die Lernrate beeinflußt die Geschwindigkeit und Schrittweite beim Lernen. Die Standardeinstellung der Lernrate fJ der generalisierten Delta-Regel beträgt 0,9. c) Lernregel: Nach Maßgabe der Lernregel werden die Verbindungsgewichte während des Lernens verändert. Die übliche Lernregel bei BPN ist die generalisierte Delta-Regel, bei der die Verbindungsgewichte nach jeder Iteration verändert werden. Neben der generalisierten Delta-Regel kann auch die kumulierte generalisierte Delta-Regel verwendet werden, die nicht bei jeder Iteration die Verbindungsgewichte anpaßt, also einen Lernschritt vorsieht, sondern jeweils erst nach einer vorzugebenden Zahl von Iterationen die Verbindungsgewichte um die bis dahin kumulierten Gewichtsänderungen modifiziert. d) Wertetransformation: Damit KNN befriedigende Ergebnisse liefern, ist häufig eine Wertetransformation notwendig.21 Zur Wertetransformation gehört die Verarbeitung der Eingabedaten (Eingabetransformation) und die Verarbeitung innerhalb des BPN mit der Ausgabefunktion in den Neuronen. Die Eingabetransformation führt zum einen dazu, daß das Intervall, in dem die Eingabedaten, also die Kennzahlen, streuen, vergrößert oder verkleinert wird, und zum anderen dazu, daß die verschiedenen Kennzahlen in einem einheitlichen Intervall streuen. In den Neuronen der Eingabeschicht kann außerdem eine sigmoide Ausgabefunktion verwendet werden, was den störenden Effekt von Ausreißern im Datenmaterial vermindern kann. e) Netzarchitektur: Die Netzarchitektur umfaßt die Zahl der verborgenen Schichten des BPN sowie die Zahl der Neuronen in den verborgenen Schichten. II. Anwendungsspezifische Parameter: a) Umfang und Zeitbezug der Analysestichprobe: Die Analysestichprobe umfaßt je 224 Datensätze aus drei verschiedenen Perioden, t-1, t-2 und t-3. Es soll geprüft werden, ob ein periodenspezifisches Training sinnvoll ist und wie viele Datensätze verwendet werden sollten. b) Auswahl und Zahl der Kennzahlen: Hierbei soll getestet werden, ob und ggf. wieweit das BPN bei der Auswahl der Kennzahlen auf die Ergebnisse zur Kennzahlenauswahl der MDA zurückgreifen muß. Getestet wurden verschiedene Auswahlen mit 4 bis 73 Kennzahlen.
21 Vgl. zur Wertetransformation NeuralWare Inc. (Hrsg.), Reference Guide, S. 217-220.
Neuronale Netze zur Kreditwürdigkeitsprüfung
37
4. Die Ergebnisse der Parametertests beim Backpropagation Netz
Die oben angegebenen Parameter wurden einzeln nacheinander an der Parameter-Teststichprobe getestet und verbessert. Die Ergebnisse dieser Parametertests lassen sich wie folgt zusammenfassen:22 Ia) Zahl der Iterationen: Beim Test dieses Parameters hat sich gezeigt, daß mit steigender Iterationenzahl der Beta-Fehler bei der Parameter-Teststichprobe zunächst fällt, dann aber wieder steigt. Deshalb wurden bei jeder Parametereinstellung mehrere Iterationenzahlen getestet und nur jeweils das beste Ergebnis gewertet. In Verbindung mit der kumulierten generalisierten DeltaRegel und einer Lernrate von 0,45 wurden die besten Ergebnisse mit etwa 100.000 Iterationen erzielt. lb) Lemrate: Die Lernrate hat einen relativ geringen Einfluß auf die Klassifikationsergebnisse. In Verbindung mit der kumulierten generalisierten DeltaRegel lieferte eine Lernrate von 0,45 die besten Ergebnisse. Ic) Lernregel: Die kumulierte generalisierte Delta-Regel benötigt zwar mehr Iterationen, führt aber zu geringfügig besseren Klassifikationsergebnissen als die generalisierte Delta-Regel und hat zusätzlich den Vorteil, daß die Fehlerkurve relativ flach und stetig verläuft, so daß es einfach ist, die bestmögliche Iterationenzahl zu finden.
ld) Wertetransformation: Die Eingabetransformation hat den größten Einfluß auf die Klassifikationsergebnisse. Das beste Ergebnis wird erzielt, wenn die Werte aller Kennzahlen so transformiert werden, daß sie in einem Intervall von -3 bis +3 streuen und auf die so transformierten Werte in der Eingabeschicht die sigmoide Ausgabefunktion angewendet wird. Die sigmoide Ausgabefunktion in der Eingabeschicht transformiert in einem zweiten Schritt die Kennzahlenwerte in ein Intervall von 0 bis 1. Durch diese zweite Transformation mit der sigmoiden Ausgabefunktion wird der Effekt von Ausreißern im Datenmaterial gemindert, denn die Werte mit dem höchsten Absolutbetrag rücken bei dieser Transformation stärker zusammen. le) Netzarchitektur. Die Zahl der Neuronen in der verborgenen Schicht hatte keinen nennenswerten Einfluß auf die Klassifikationsergebnisse. Auch bei einem Versuch ohne verborgene Schicht verschlechterten sich die Klassifikationsergebnisse nur leicht. Bei mehreren verborgenen Schichten waren deutlich mehr Iterationen (3,44 Mio.) für das Training notwendig und die Klassifi~
22 Die von Krause veröffentlichten Ergebnisse zu Parametertests haben wir in diesem Beitrag teilweise erweitert (vgl. Krause , C., Kreditwürdigkeitsprüfung mit Neuronalen Netzen, S. 148-194).
Jörg Baetge und Clemens Krause
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kationsergebnisse verschlechterten sich ebenfalls. 2 3 Die besten Ergebnisse wurden mit einem sehr einfachen und schnell zu trainierenden BPN erzielt, das lediglich ein Neuron in einer Zwischenschicht besaß. Insgesamt hat die Optimierung der netzspezifischen Parameter den Beta-Fehler bei der Parameter-Teststichprobe von anfänglich 46,57% auf41,92% reduzieren können. lla) Umfang und Zeitbezug der Analysestichprobe. 24 Das BPN konnte am besten klassifizieren, wenn es mit den 672 Datensätzen aus allen drei Perioden trainiert wurde. Versuche, bei denen wir die Analysestichprobe mit bis zu 312 Datensätzen insolventer Unternehmen aus verschiedenen Perioden sowie einer entsprechenden Zahl von Datensätzen solventer Unternehmen aus der Validierungsstichprobe erweiterten, führten nicht zu besseren Klassifikationsergebnissen bei der Parameter-Teststichprobe. Das bislang beste Klassifikationsergebnis bei der Parameter-Teststichprobe von 41,92% Beta-Fehler konnte auf diesem Wege nicht übertroffen werden. Überraschend sind allerdings die Klassifikationsergebnisse mit weniger als 672 Datensätzen in der Analysestichprobe: 50%
Fehlkl. der Solventen der Teststichprobe (Beta-Fehler)
48% 46%
... -
44%
42,93%
42%
42,03% - -
.
41,92% --
t-3
t-1/t-2/t-3
..
40%
t-1
t-2
Daten der Analysestichprobe aus Alpha-Fehler=8,7%
Abbildung 2: Tests zum Zeitbezug der Analysestichprobe 23 Auch Rehkugler I Poddig konunen zu dem Ergebnis, daß die Verwendung von mehr als einer Zwischenschicht keine Vorteile hat, vgl. Rehkugler, H. I Poddig, Th., Klassifikation von Jahresabschlüssen S. 15. 24 Die Testergebnisse zum Umfang und Zeitbezug der Analysestichprobe stammen aus Baetge, J. I Krause, C., Kreditmanagement mit Neuronalen Netzen, S. 393-395.
Neuronale Netze zur Kreditwürdigkeitsprüfung
39
Mit den 224 Datensätzen aus der Periode t-3 konnten nämlich annähernd ebenso gute Ergebnisse wie mit den 672 Datensätzen aus allen drei Perioden erzielt werden. Die Datensätze aus den Perioden t-1 und t-2 waren indes deutlich schlechter zur Klassifikation geeignet. Die Datensätze aus den Perioden t-1 und t-2 weisen deutlichere Unterschiede in den Werten der Jahresabschlußkennzahlen von solventen und insolventen Unternehmen auf als die Datensätze aus t-3. Dennoch sind die weniger deutlichen Unterschiede in den Kennzahlenwerten der Datensätze aus t-3 offenbar besser geeignet, das BPN so weit zu sensibilisieren, daß besonders frühzeitig auch schwierige Fälle richtig klassifiziert werden können. Dieser Zusammenhang läßt sich mit den Mittelwerten einer zur Klassifikation besonders geeigneten Kennzahl von solventen und insolventen Unternehmen verdeutlichen. Die folgende Abbildung 3 zeigt den typischen Verlauf der Mittelwerte einer univariat gut trennenden Kennzahl bei solventen und insolventen Unternehmen im Zeitablauf, z.B. der Eigenkapitalquote (EKQ).25 EKQ
Mittelwertvergleich solvente Unternehmen (*)
30%
-e - - - - - - - - - - 20%
10%
insolvente Unternehmen (x) Zeit t-3
t-2
t-1
Abbildung 3: Idealisierter Mittelwertvergleich Die Verläufe der Mittelwerte der EKQ von solventen und insolventen Unternehmen in Abbildung 3 erinnern an eine Trompete. 26 Wird bei der Klassifikation mit einer Kennzahl der kritische Trennwert auf Basis der Daten aus t-1 berechnet (Analysestichprobe nur mit Daten aus t-1), so wird der kritische 25 Vgl. zu Mittelwertvergleichen Feidicker, M., Kreditwürdigkeitsprüfung, S. 95. 26 Vgl. Baetge, J., Früherkennung negativer Entwicklungen, S. 654.
40
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Trennwert etwa in der Mitte zwischen den Mittelwerten der solventen und insolventen Unternehmen dieser Periode liegen. Wie die Abbildung zeigt, würden aber mit diesem kritischen Trennwert die Unternehmen aus t-2 und t-3 nicht gut zu trennen sein. Wird hingegen der kritische Trennwert mit den enger beieinander liegenden Mittelwerten aus t-3 berechnet, so ist der sich ergebende Trennwert auch geeignet, Unternehmen aus den Perioden t-2 und t-1 zu klassifizieren, deren Mittelwerte deutlich weiter auseinander liegen. Da die obigen Tests zum Zeitbezug der Analysestichprobe bereits ergeben haben, daß mit den 224 Datensätzen aus t-3 nahezu ebenso gute Klassifikationsergebnisse zu erzielen sind wie mit 672 Datensätzen aus allen drei Perioden, haben wir in mehreren Schritten die Zahl der Datensätze aus t-3 durch Zufallsauswahl jeweils halbiert. Das Verhältnis von 50% solventen Unternehmen zu 50 % insolventen Unternehmen in der Analysestichprobe wurde dabei aber beibehalten. Mit 56 Datensätzen, d. h. 28 solventen und 28 insolventen Unternehmen, aus der Periode t-3 waren nahezu ebenso gute Ergebnisse zu erzielen, wie mit 672 Datensätzen aus allen drei Perioden [t-1/t-2/t-3 (672)]. Bei der Diskriminanzanalyse sind wir bislang stets davon ausgegangen, daß mindestens 100 solvente und 100 insolvente Unternehmen mit Daten aus allen drei Perioden benötigt werden, d. h. etwa 600 Datensätze. Mit BPN kommen wir offenbar mit einem Viertel der Unternehmen und einem Zwölftel der Datensätze aus. In einem weiteren Test haben wir versucht, noch bessere Ergebnisse dadurch zu erzielen, daß wir in die verkleinerte Analysestichprobe nur besonders positive solvente und besonders negative insolvente, d.h. also die typischen Fälle von Solvenz und Insolvenz einbezogen haben. Zu diesem Zweck haben wir mit dem bislang besten BPN die Analysestichprobe selbst klassifiziert und alle Fälle aus der Analysestichprobe eliminiert, die falsch klassifiziert wurden. Das Klassifikationsergebnis mit dem BPN auf Basis der typischen Fälle war aber enttäuschend. Hier zeigt sich also, daß die Analysestichprobe nicht nur typische oder sehr drastische Fälle von Solvenz und Insolvenz enthalten sollte, sondern auch zweifelhafte Fälle, damit das BPN auch aus Fehlklassifikationen lernen kann und dadurch stärker sensibilisiert wird. Ilb) Auswahl und Zahl der Kennzahlen. Bei den Tests zu den Parametern Ia-e und Ila des BPN wurde mit Kennzahlen gearbeitet, die bereits von der MDA ausgewählt worden waren. Die folgenden Tests sollen klären, ob und wieweit geeignete Kennzahlen für die Klassifikation von BPN ausgewählt werden können. Folgende Kennzahlkombinationen haben wir verglichen: I. Die beste Lösung des BPN, die mit den vier MDA-Kennzahlen erzielt wurde (BPN-4). 21 Dieser Versuch zeigt die Möglichkeit, die Klassifikationsergebnisse der MDA in einer zweiten Stufe durch ein KNN zu ver27 Vgl. zu den vier Kennzahlen Feidicker, M., Kreditwürdigkeitsprüfung, S. 158-162.
Neuronale Netze zur Kreditwürdigkeitsprüfung
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bessern. Es wurden folgende vier Kennzahlen in der Diskriminanzfunktion verwendet (die verwendeten Abkürzungen sind im Anhang erläutert): Tabelle 2 Die in der Diskriminanzfunktion enthaltenen Kennzahlen
Kennzahl
Definition
K_21 K_45 K_47
Cash Flow I : Kurzfristiges Fremdkapital Wirtschaftliches Eigenkapital li : Bilanzsumme (Verbindlichkeiten aus Lieferung und Leistung + Akzeptverpflichtungen + Kurzfristige Bankverbindlichkeiten) : Fremdkapital Gesamtverschuldung : Umsatzerlöse
K_55
2. Feidicker hat 73 Kennzahlen mit einer Clusteranalyse zu sieben Informationsbereichen (Clustern) zusarnrnengefaßt. Bei BPN-7 wurde aus jedem der sieben Informationsbereiche jene Kennzahl verwendet, die univariat in t-3 am stärksten trennt. 28 3. Mit BPN-59 wurden jene 59 aus 73 Kennzahlen mit dem KNN getestet, die keine Mittelwertüberschneidungen hatten und deren Werte vollständig erfaßt worden sind. 29 4. Die wenigsten Vorarbeiten sind bei BPN-73 notwendig. Bei diesem Versuch wurden alle von Feidicker aufgeführten 73 Kennzahlen berücksichtigt. 30 5. Mit Hilfe des BPN wurden 13 Kennzahlen aus den 73 Kennzahlen (BPN-13) ausgewählt. Bei diesem Versuch wurde mit den Mitteln des BPN geprüft, wie viele der 73 Kennzahlen zur Klassifikation tatsächlich notwendig waren. Dabei wurden BPN mit 5-15 Kennzahlen trainiert. Als Kennzahlen wurden jeweils diejenigen ausgewählt, die in dem Netz BPN-73 die höchsten Verbindungsgewichte besaßen. Die besten Klassifikationsergebnisse wurden mit 13 Kennzahlen erzielt. Es handelt sich um folgende Kennzahlen (die verwendeten Abkürzungen sind im Anhang erläutert):
28 Vgl. zur Clusteranalyse Feidicker, M., Kreditwürdigkeitspriifung, S. 129. 29 Vgl. zu den 14 von der Untersuchung ausgeschlossenen Kennzahlen Feidicker, M., Kreditwürdigkeitsprüfung, S. 108-110. 30 Vgl. zu den 73 Kennzahlen Feidicker, M., Kreditwürdigkeitspriifung, S. 55-69.
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Tabelle 3 Die 13 vom Backpropagation Netz ausgewählten Kennzahlen
Kennzahl
Definition
K_06 K_lO K_11 K_13
Cash Flow I : Gesamtleistung Jahresüberschuß/-fehlbetrag: Umsatzerlöse Jahresüberschuß/-fehlbetrag : Bilanzsunune (Gesamtleistung - Materialaufwand - Normalabschreibungen Sonstige betriebliche Aufwendungen) : Bilanzsunune Cash Flow I : Fremdkapital (Akzeptverpflichtungen +Verbindlichkeiten aus Lieferung und Leistung) * 360 : Umsatz Kurzfristiges Fremdkapital : Bilanzsumme Kurzfristige Verbindlichkeiten gegenüber Kreditinstituten : Fremdkapital Wirtschaftliches Eigenkapital I : (Bilanzsunune - Flüssige Mittel Grundstücke und Bauten) Gesamtverschuldung : Umsatz (Unfertige Erzeugnisse+ Fertige Erzeugnisse/Waren) : Umsatz (Verbindlichkeiten aus Lieferung und Leistung + Akzeptverpflichtungen) * 12: Materialaufwand Gesamtverschuldung (ohne 'Anzahlungen auf unfertige Erzeugnisse'): Umsatz
K_15 K_28 K_43 K_44 K_52 K_55 K_59 K_63 K_73
Die Klassifikationsergebnisse der BPN-7, BPN-59, BPN-73 und BPN-13 sind im Vergleich zu BPN-4 mit den 4 von de.r MDA ausgewählten Kennzahlen enttäuschend. Wird der Eingabevektor von vier auf sieben Kennzahlen vergrößert, verschlechtert sich das Klassifikationsergebnis bei der ParameterTeststichprobe deutlich auf einen Beta-Fehler von 49,26 %. Mit steigender Zahl der Kennzahlen verbessern sich die Klassifikationsergebnisse des BPN allerdings wieder. Mit 73 Kennzahlen wird ein Beta-Fehler von 46,95 % erreicht, der etwa dem Beta-Fehler bei der Klassifikation der Parameter-Teststichprobe mit Hilfe der Diskriminanzfunktionen (47,21 %) entspricht. Wird der Eingabevektor vergrößert, gibt es zwei gegenläufige Effekte. Zum einen kann unterstellt werden, daß mehr Kennzahlen auch mehr oder zumindest gleich viel relevante Informationen enthalten. Die 7 Kennzahlen der Clusteranalyse (BPN-7) enthalten drei der vier Kennzahlen der Diskriminanzfunktion und die 59 Kennzahlen (BPN-59) enthalten alle vier Kennzahlen der Diskriminanzfunktion. Die Ergebnisse müßten unter diesem Gesichtspunkt
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Fehlkl. der Solventen der Teststichprobe (Beta-Fehler) 50%
49,26%
!'-
..
..
~8,06%
48%
. 46,95%
46%
-.
. . _45,42%
44%
42%
41,92%'
•
40%
BPN-4 Alpha-Fehler=8,7%
BPN-7
BPN-59
BPN-73
BPN-13
Verschiedene Backpropagation Netze
Abbildung 4: Test verschiedener Kennzahlauswahlen gleich bleiben oder sich verbessern. Zum anderen scheint das BPN nicht in der Lage zu sein, den störenden Einfluß zusätzlicher, ungeeigneter Kennzahlen voll auszuschalten. Bei weiteren Versuchen mit 73 Kennzahlen zeigte sich außerdem, daß sich die Klassifikationsergebnisse deutlich verschlechtern, wenn die Zahl der Datensätze in der Analysestichprobe verringert wird (vgl. dazu die Ausf. zu Parameter Ila oben). Offenbar kann ein BPN nur mit einer großen Zahl von Datensätzen in der Analysestichprobe den störenden Einfluß ungeeigneter Kennzahlen ausgleichen. Mit den 13 durch das BPN selbst ausgewählten Kennzahlen konnte BPN-13 die Parameter-Teststichprobe um ca. zwei Prozentpunkte besser klassifizieren als die MDA. 31 Dieses Ergebnis belegt, daß ein BPN, das die verwendeten Kennzahlen mit netzspezifischen Methoden auswählt, besser klassifizieren kann als die MDA, die ihre Kennzahlen mit statistischen Verfahren auswählt. Dieses Ergebnis belegt aber auch, daß ein BPN nicht absolut robust gegenüber zusätzlichen, ungeeigneten Kennzahlen ist, denn BPN-13 klassifiziert ca. I ,5
3l Auch Rehkugler I Poddig kommen mit 13 vom KNN ausgewählten Kennzahlen zu guten Ergebnissen, vgl. Rehkugler, H. I Poddig, Tb., Klassifikation von Jahresabschlüssen S. 25. Zur den 13 Kennzahlen vgl. Krause, C., Kreditwürdigkeitsprüfung mit Neuronalen Netzen, S. 108-110 u. S. 189.
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Jörg Baetge und Clemens Krause
Prozentpunkte besser als BPN-73, obwohl in den 73 Kennzahlen von BPN-73 auch die 13 Kennzahlen von BPN-13 enthalten sind.
5. Die Klassifikationsergebnisse der besten Backpropagation Netze mit der Validierungsstichprobe Die Klassifikationsergebnisse wurden bisher stets mit der Parameter-Teststichprobe getestet und anband der so ermittelten Ergebnisse die Parametereinstellungen der KNN "optimiert". Die mit der Parameter-Teststichprobe besten KNN werden mit den Daten der Validierungsstichprobe überprüft. -
Das BPN mit vier Kennzahlen (BPN-4), das BPN mit 73 Kennzahlen (BPN-73), das BPN mit 13 aus 73 Kennzahlen (BPN- 13) und zum Vergleich die Klassifikationsergebnisse der MOA (MDA).
Die Abbildung 5 zeigt die Klassifikationsergebnisse dieser KNN anband der Parameter-Teststichprobe und der Validierungsstichprobe. BPN-4 liefert für die Parameter-Teststichprobe mit 41,92% den absolut niedrigsten Beta-Fehler, der um mehr als fünf Prozentpunkte niedriger liegt als bei der MDA. Allerdings ist der Beta-Fehler bei der Validierungsstichprobe mit 44,5 % genauso hoch wie der Beta-Fehler bei der MDA. Die unterschiedlich guten Ergebnisse von BPN-4 sind vermutlich darauf zurückzuführen, daß die Parametereinstellung von BPN-4 Ergebnis einer langen Suche ist, bei der die Ergebnisse der Parameter-Teststichprobe maßgebend waren. Offensichtlich ist diese Parametereinstellung so stark an der Parameter-Teststichprobe ausgerichtet, daß diese deutlich besser klassifiziert wird als die Validierungsstichprobe. Repräsentativ für dem KNN unbekannte Unternehmen sind aber nur die mit der Validierungsstichprobe erzielten Klassifikationsergebnisse. BPN-4 klassifiziert demnach genauso gut wie die MDA . BPN-73 klassifiziert sowohl die Parameter-Teststichprobe als auch die Validierungsstichprobe geringfügig besser als die MDA. Dieses Ergebnis ist bemerkenswert, weil es zeigt, daß ein einfaches BPN ohne statistische Vorarbeiten genauso gut klassifizieren kann wie die MDA , die aufwendige statistische Vorarbeiten zur Auswahl der Kennzahlen erfordert.
Mit den 13 durch das BPN selbst ausgewählten Kennzahlen konnte BPN-13 die Parameter-Teststichprobe um ca. zwei Prozentpunkte und die Validierungsstichprobe um ca. 2,5 Prozentpunkte besser klassifizieren als MDA. Dieses Ergebnis belegt, daß ein BPN, das die verwendeten Kennzahlen selbst
45
Neuronale Netze zur Kreditwürdigkeitsprüfung Fehlkl. der Solventen (Beta-Fehler) 50% 48%
47,21 %
46% 44% 42% 40% 38% MDA
D Teststichprobe
BPN-4
BPN-73
BPN-13
~ Validierungsstichprobe
Alpha-Fehler=8,7%
Abbildung 5: Die besten Ergebnisse im Überblick
auswählt, sowohl besser klassifizieren kann als die MDA, die ihre Kennzahlen mit statistischen Verfahren auswählt, als auch besser als BPN-73, das ohne Vorauswahl der Kennzahlen arbeitet.
6. Klassifikationsergebnisse mit weiteren Datensätzen Das Institut für Revisionswesen hat in Zusammenarbeit mit der BadenWürttembergischen Bank AG in Stuttgart anläßtich einer neuen Untersuchung Jahresabschlußdaten von Unternehmen erhoben, die nach den Vorschriften des aktuellen HGB bilanziert haben. Es handelt sich dabei um 11205 Jahresabschlüsse von solventen Unternehmen und 1090 Jahresabschlüsse von insolventen Unternehmen aus den Jahren 1987 bis 1992. Die bisher dargestellte Untersuchung hat ausschließlich Daten von Jahresabschlüssen aus den Jahren 1973
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bis 1986 verwendet, die nach dem AktG a. F. aufgestellt wurden. Die folgende Abbildung zeigt die Klassifikationsergebnisse mit HGB-Daten der Neuronalen Netze BPN-4 und BPN-13 sowie der Diskriminanzfunktion, die jeweils mit den Daten nach AktG berechnet wurden. Fehlkl. der Solventen (Beta-Fehler) 50% 48% 46% 44,5%
44,5% 44% 42%
42%
40,96%
41,58%
40%
39,13%
38%
0
MDA Validierungsst. (AktG)
BPN-4
BPN-13
~ neue HOB-Daten
Alpha-Fehler=8,7%
Abbildung 6: Klassifikationsergebnisse mit Jahresabschlüssen nach AktG und HGB
Die Abbildung zeigt drei wichtige Ergebnisse. Das erste wichtige Ergebnis ist, daß die HGB-Daten in jedem Fall besser klassifiziert werden als die Daten nach dem AktG. Die Ursache für die besseren Ergebnisse bei den HGB-Daten konnten noch nicht festgestellt werden und sind Gegenstand weiterer Forschungsaktivitäten am Institut für Revisionswesen. Folgende Ursachen halten wir für möglich: - Die Jahresabschlüsse nach dem HGB sind besser zur Insolvenzprognose geeignet als die Jahresabschlüsse nach dem AktG a. F. - Die HGB-Daten haben größtenteils eine andere Herkunft als die AktGDaten, sie stammen nämlich von einer Bank und nicht von einer Kreditversicherung. Eventuell ist die Kundschaft der Bank homogener (bzgl. Branche, Größe, Rechtsform) als die der Kreditversicherung. Je homoge-
Neuronale Netze zur Kreditwürdigkeitsprüfung
47
ner die Kundschaft, desto besser läßt sie sich mit einem einheitlichen System klassifizieren. - Die HGB Jahresabschlüsse wurden nach einem anderen Gliederungsschema erfaßt. Eventuell führt das verfeinerte Gliederungsschema dazu, daß dieselben Jahresabschlußkennzahlen wie bei den AktG-Daten aussagefähiger werden. Das zweite wichtige Ergebnis, welches Abbildung 6 zeigt, ist, daß die Unterschiede bzgl. der Klassifikationsgüte der drei Systeme MOA, BPN-4 und BPN-13 bei den HGB-Daten etwa genauso groß sind wie bei den AktG-Daten. Dieses Ergebnis bestätigt, daß nur die Ergebnisse der dritten Stichprobe, der Validierungsstichprobe, repräsentativ für weitere Datensätze sind. Die Klassifikationsergebnisse der Parameter-Teststichprobe (vgl. Abbildung 5) hätten für die AktG-Daten zu anderen, mißweisenden Ergebnissen geführt. Die in dieser Untersuchung vorgenommene Dreiteilung des Datenmaterials hat sich also bewährt. Das dritte wichtige Ergebnis ist, daß BPN-13 auch bei den HGB-Daten die besten Ergebnisse liefert. Damit bestätigen die Ergebnisse bei den HGB-Daten, daß Neuronale Netze auch ohne statistische Vorarbeiten besser als das statistische Verfahren der MDA klassifizieren können, denn BPN-13 kommt vollkommen ohne statistische Vorarbeiten aus. Die 13 Kennzahlen von BPN-13 werden allein vom Neuronalen Netz ohne betriebswirtschaftliehen Sachverstand und ohne statistische Verfahren aus 73 vorgegeben Kennzahlen ausgewählt. BPN-13 zeigt somit einen Weg, wie man mit einem Neuronalen Netz sehr effizient zu sehr guten Lösungen gelangen kann. Die Klassifikationssysteme sind nicht nur zur dichotomen Klassifikation geeignet, sondern können auch für ein Rating von Unternehmen verwendet werden. Die Ausgabewerte der Systeme werden zu diesem Zweck so normiert, daß 90% aller Werte in dem Intervall +10 bis -10 liegen und die Nulllinie einem Fehlerverhältnis von 13 % Alpha-Fehler zu 35 % Beta-Fehler entspricht. In der Praxis werden bei einem Rating von 1,5 und darüber Kredite problemlos gewährt, während bei niedrigeren Werten i.d.R. eingehendere Kreditprüfungen notwendig sind. Abbildung 7 zeigt ein Rating ausgewählter Chemieunternehmen mit BPN-4.32
32 Die Zeitschrift TOPBUSINESS hat in Zusanunenarbeit mit dem Institut für Revisionswesen in der Novemberausgabe ein Rating der 24 Industrieunternehmen aus dem Deutschen Aktienindex (DAX) veröffentlicht (vgl. TOPBUSINESS, November 1993, S 20-34). Vgl. dazu ebenfalls Baetge, J., Rating von Unternehmen anhand von Bilanzen, in: WPg, 47. Jg., 1994, S. 1-20.
48
Jörg Baetge und Clemens Krause Rating
Güteklasse AA A BB B
cc c Risikoklasse I
D
m IV
10
Bayer
8 6 4
2 0 -2 -4
-6
-8 -10 1988
1989
1990
1991
1992
Abbildung 7: Rating von Unternehmen der Chemiebranche
Das Rating liefert ein sehr aussagefahiges Bild über die Bilanzbonität der betrachteten Unternehmen und deren Entwicklung im Zeitablauf. Die Chemiebranche ist als eine sehr gesunde Branche zu bezeichnen, da alle Werte in den hohen Güteklassen liegen. Allerdings verschlechtern sich die Indices von BASF und Contineotal im Zeitablauf, was zeigt, daß BASF und Contineotal anscheinend weniger als die beiden anderen Unternehmen in der Lage sind, dem Problem einer rückgehenden Branchenkonjunktur zu begegnen. Ein wesentlich drastischeres Bild zeigt die folgende Abbildung bei der Lufthansa. Rating Güteklasse AA A BB B
cc c Risikoklasse I
n
m
IV
10 8
Lufthansa
6
4
2 0 -2 -4
-6 -8
-10 1988
1989
1990
Abbildung 8: Rating der Lufthansa
1991
1992
Neuronale Netze zur Kreditwürdigkeitsprüfung
49
Die Bilanzbonität der Lufthansa hat sich in den vergangeneo fünf Jahren um mehrere Güteklassen verschlechtert. Wir sehen darin keine Insolvenzgefahr für die Lufthansa, aber wenn es dem Management des Unternehmens nicht in naher Zukunft gelingt, diese Entwicklung aufzuhalten, würde die Bilanzbonität der Lufthansa in eine Risikoklasse eingestuft. Zum Vergleich den Verlauf des Bonitätsindex eines insolventen Unternehmens in der folgenden Abbildung:
Rating
Güteklasse AA A
BB B
cc c Risikoklasse I D
m
IV
10 8 6
4 2
0 -2 -4
-6
-8 -10
1987
1988
1989
1990
1991
Abbildung 9: Rating eines insolventen Unternehmens
Die Abbildung zeigt die Entwicklung der Bilanzbonität eines im Oktober 1992 tatsächlich insolvent gewordenen Unternehmens. In diesem Fall eines langsam dahinsiechenden Unternehmens hat unser Bonitätsindikator bereits Jahre vor der Insolvenz das Unternehmen in Risikoklassen eingeordnet. Allerdings kann ein derartiger Indikator nicht allein für die Bonitätsbeurteilung verwendet werden, sondern es sind eine Reihe von anderen, qualitativen Kriterien ebenfalls von hoher Bedeutung, wie die Branche, das Management, die Organisation, die konkrete Unternehmensplanung usw. Dennoch gibt unser Bilanzbonitätsindikator deutliche Hinweise auf die Unternehmensentwicklung. Künftig werden wir versuchen, Bonitätsindikatoren zu entwicklen, die neben den Bilanzkennzahlen auch qualitative Kriterien berücksichtigen.
4 Schiemenz
50
Jörg Baetge und Clemens Krause
7. Zusammenfassung
- KNN sind bei der dichotomen Klassifikation von Kreditkunden in die Klassen "kreditwürdig" und "nicht kreditwürdig" der MDA überlegen. - Bei den Parametern des BPN hat die Wertetransformation den größten Einfluß, die Netzarchitektur hingegen nahezu keinen Einfluß. - Backpropagation Netze (BPN-73, BPN-13) kommen ohne statistische Vorarbeiten aus. - Das am besten klassifizierende Netz (BPN-13) wählt die zur Klassifikation geeigneten Kennzahlen selbst mit netzspezifischen Methoden aus. - Da beim KNN nicht die restriktiven Annahmen bzgl. der verwendeten Kennzahlen wie bei der MDA gelten, ist das KNN universeller anwendbar. Beim KNN können neben quantitativen Kriterien auch qualitative Kriterien berücksichtigt werden. Sofern man entsprechende qualitative Daten erhebt, könnte sich mit diesem integrierten Ansatz die Klassifikationsleistung noch einmal deutlich verbessern lassen. - Die Klassifikationsleistungen der betrachteten Systeme sind im Zeitablauf relativ stabil. Auch die Umstellung der Rechnungslegung vom AktG zum HGB hat nur einen geringen Effekt auf die Klassifikationsgüte. - Die KNN lassen sich ebenso wie die MDA für ein Unternehmensrating verwenden, das z.B. für Kreditverhandlungen bedeutsam sein kann. - Ein wichtiger Kritikpunkt an KNN ist, daß die Entscheidungstindung der KNN nicht so einfach transparent zu machen ist, wie bei einer linearen Diskriminanzfunktion. Hieran arbeiten wir am IRW.33
33 Vgl. zur Erklärungsfähigkeit von KNN Baetge, J. I Schmedt, V . I Hüls, D. I Krause, C. I Uthoff, C., Bonitätsbeurteilung von Jahresabschlüssen, S. 341-343.
Neuronale Netze zur Kreditwürdigkeitsprüfung
Anhang
Tabelle 4
Berechnungsschema für den Cash-Fiow I
+
+ + + + +
=
Jahresüberschuß/-fehlbetrag Abschreibungen Erträge aus dem Abgang v. Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens Erträge aus der Zuschreibung zu Forderungen Erträge aus der Auflösung v. Rückstellungen Erträge aus der Auflösung v. Sonderposten mit Rücklageanteil Verluste aus dem Abgang v. Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens Verluste aus dem Abgang v. Wirtschaftsgütern des Umlaufvermögens Einstellung in Sonderposten mit Rücklageanteil Steuern vom Einkommen und vom Ertrag (zufließendes) Ergebnis aus Unternehmensverträgen a. o. Aufwendungen a. o. Erträge Cash-Flow I (ertragswirtschaftlicher Cash- Flow)
Tabelle 5
Berechnungsschema rur die verwendeten Eigenkapitalvarianten
+ + +
-
+ +
Gezeichnetes Kapital Rücklagen Gewinn-Nerlustvortrag Jahresüberschuß/-fehlbetrag (bzw. + Bilanzgewinnl-verlust) Aufwendungen für Ingangsetzung und Erweiterung Ausstehende Einlagen 50 % des Sonderposten mit Rücklageanteil Nicht haftende Gesellschafterdarlehen
=
Wirtschaftliches Eigenkapital I
+
50 % des Sonderposten mit Rücklageanteil
=
Wirtschaftliches Eigenkapital II
51
52
Jörg Baetge und Clemens Krause Tabelle 6
Berechnungsschema für die Gesamtverschuldung
Gesamtes Fremdkapital (ohne lang- und mittelfristige Rückstellungen) Wertberichtigungen im Umlaufvermögen Passive RAP Flüssige Mittel (Kasse, Bank, Wertpapiere, Wechsel, Scheck)
=
Gesamtverschuldung
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Neuronale Netze zur Kreditwürdigkeitsprüfung
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Erfahrungen mit formalisierten Verfahren bei der Kreditwürdigkeitsprüfung von Hubert B. Beuter, lngo Reiss und Hans Joachim Rust1
1. AUgemeine Kredit
Unter dem Begriff der Kreditversicherung versteht man - die Delkredereversicherung oder Kreditversicherung im engeren Sinne, - die Kautionsversicherung sowie - die Vertrauensschaden Versicherung und Computer-Mißbrauch-Versicherung. Wir beschäftigen uns hier mit der Delkredereversicherung. Sie umfaßt die Warenkreditversicherung, die Ausfuhrkreditversicherung und die Investitionsgüterkreditversicherung. Der Kreditversicherer hat es hier mit der Absicherung von Krediten aus Warenlieferungen und Dienstleistungen zu tun, die zwischen der Lieferung einer Ware bzw. der Dienstleistung und der Bezahlung des Gegenwertes entstehen. Versichert ist das Insolvenzrisiko. Im Falle der Zahlungsunfähigkeit des Abnehmers ersetzt der Kreditversicherer dem Versicherungsnehmer den Ausfall, den dieser durch die Nichtzahlung seitens des Abnehmers erleidet, abzüglich Selbstbehalt Sowohl bei AKV als auch bei WKV haben wir es mit kurzfristigen Forderungen zu tun, d. h. in der Regel bis zu 180 Tagen. Bei mittelfristigen Forderungen bis zu 5 Jahren sprechen wir von Investitionsgüterkreditversicherung oderiKV. Das Deckungsvolumen, d. h. die von uns gezeichneten Limite, betrug Ende 1992 knapp 84 Mrd. DM. Sie erkennen daran, daß die Kreditversicherung und
1 Dr. Hubert B. Beuter, Vorsitzender des Vorstandes der Allgemeinen Kreditversicherung Aktiengesellschaft, Dipl. -Math. logo Reiss, Direktor der Allgemeinen Kreditversicherung fiir Organisation und Datenverarbeitung, Dipi.-Betriebswirt Hans Joachim Rust, Prokurist, Abteilungsleiter Kredit, Ernst-Ludwig-Straße 2, 55116 Mainz.
56
Hubert B. Beuter, lngo Reiss und Hans Joachim Rust
die damit verbundene Sicherung des Lieferantenkredites auch eine volkswirtschaftliche Bedeutung hat (vgl. Abbildung 1).
100
/
- -
-
-
-
- -
...
80
-
-
/
/
60
-
- - - - - -
/
~
~
//
V
/
V
30
/
1990
0 AKV 0 WKV
40
0
OKTV
~
1991
~
1992
V
Mrd. DM Abbildung 1: Allgemeine Kredit: Deckungsvolumen 1990 - 1992
Ein typischer Warenkreditversicherungsvertrag ist wie folgt gestaltet: Wir schließen mit einer Firma einen sogenannten Mantelvertrag ab. Darin verpflichtet sich der Versicherungsnehmer, alle oder im vorhinein bestinunte Bereiche seiner Forderungen der Kreditversicherung anzubieten. Die Anbietungspflicht hat den Sinn, eine Negativselektion zu vermeiden. Wir befassen uns in der Kreditprüfung mit dem Kunden unseres Kunden - also mit dem Abnehmer des Lieferanten. Ein Ziel der Kreditversicherung ist, unsere Kunden vor einem durch eine Insolvenz bedingten Forderungsausfall zu bewahren. 2. Ablauf Kreditprüfung Der Kreditantrag
Kern der Kreditversicherung ist die Bonitätsprüfung durch den Kreditversicherer. Um Versicherungsschutz für seine Forderungen zu erhalten, stellt der Versicherungsnehmer einen Kreditantrag. Mit diesem beantragt der Versiehe-
Kreditwürdigkeitsprüfung
57
rungsnehmer ein Kreditlimit. Innerhalb dieses Limits besteht Versicherungsschutz (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 2: Ablauf Kreditprüfung
Die täglich über verschiedene Medien (Online, per Telefax, schriftlich oder telefonisch) eingehenden Kreditanträge unserer Versicherungsnehmer werden zunächst in der EDV erfaßt und je nach Informationsstand sofort oder nach wenigen Tagen entschieden. Unser Versicherungsnehmer erhält die Entscheidung je nach Wunsch entwederperPost oder per Fax zugesandt. In 1990 haben wir als erster deutscher Kreditversicherer unseren OnlineService angeboten. Die Versicherungsnehmer können vom Bildschirm direkt auf unsere Datenbank zugreifen und ihren Limitwunsch aufgeben. Sie erhalten unsere Entscheidung im Regelfall sofort vom Computer. Bei Bedarf kann diese Entscheidung ausgedruckt werden.
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Hubert B. Beuter, lngo Reiss und Hans Joachim Rust
Bonitätsbeurteilung
Der Kreditprüfer prüft nach Eingang des Kreditantrages die Bonität des zu versichemden Kunden. Basis für unsere Bonitätsbeurteilung sind Informationen aus unterschiedlichsten Quellen. Im einzelnen handelt es sich hierbei um (vgl. Abbildung 3) -
Wirtschaftsauskünfte Bankauskünfte Geschäftsberichte, Bilanzen Informationen der Versicherungsnehmer über das Zahlungsverhalten ihrer Kunden - Presseinformationen und Branchenanalysen - Selbstauskünfte (Gespräche mit dem Kunden vor Ort). Umfeldanalysen
Bankauskünfte
Bilanzen
Recherchen von Kreditspezialisten
Wirtschaftsauskünfte
Presseinformation
.. Entscheidung/ Uberwachungsservice für VN Abbildung 3: Ablauf Kreditprüfung: Bonitätsbeurteilung
Anband dieser Informationen entscheidet der Kreditversicherer über die Vergabe des Kreditlimits. Bis zur festgelegten Grenze des Kreditlimits genießt der Versicherungsnehmer Deckungsschutz für seine Forderungen. Für Forderungen, die über das eingeräumte Limit hinaus bestehen, haftet der Kreditver-
Kreditwürdigkeitsprüfung
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sicherer nicht. Zielsetzung ist eine möglichst wirtschaftliche und fundierte Entscheidung. Um eine hohe Entscheidungsbereitschaft für unsere Versicherungsnehmer gewährleisten zu können, werden täglich tausende von Informationen per EDV ausgewertet und aktualisiert. Hinzu kommen die bonitätsrelevanten Informationen unserer Versicherungsnehmer über das Zahlungsverhalten ihrer Kunden. Alle diese Informationen werden gewichtet und fließen zum großen Teil in einen von der EDV automatisch vergebenen Kreditrahmen. Bei Überschreitung des Kreditrahmens oder bei Veränderung der Bonität des Kunden erfolgt die Vorlage in der Kreditabteilung. Diese ist untergliedert in vier branchenbezogene Kreditabteilungen, um der unterschiedlichen Entwicklung in den einzelnen Branchen gerecht zu werden. Sollten die auf einen Kunden zur Verfügung gestellten Versicherungssummen eine bestimmte Größenordnung erreichen, erfordert dies die Einsicht in seine Bilanzunterlagen. Die Anforderung der Jahresabschlüsse erfolgt ebenfalls per EDV. Hier ist es wichtig zu wissen, daß der Kunde nicht verpflichtet ist, uns seine Bilanz vorzulegen. In den meisten Fällen erhalten wir ab einer gewissen Größenordnung dennoch Bilanzeinsicht Dies hängt damit zusammen, daß die Marktteilnehmer um die Bedeutung der Kreditversicherung wissen und schon im eigenen Interesse darauf bedacht sind, dem Kreditversicherer Einblick in ihre Vermögensverhältnisse zu geben. Verweigert ein Unternehmen den Einblick in die wirtschaftlichen Verhältnisse, so hat dies meist zur Konsequenz, daß wir den Deckungswünschen unserer Versicherungsnehmer nicht in der gewünschten Größenordnung entsprechen können oder unter Umständen den Versicherungsschutz ganz ablehnen müssen. In bestimmten Fällen ist es notwendig, daß wir vor Ort oder bei uns im Hause sogenannte Selbstauskunftsgespräche führen, um uns von den Unternehmen die Bilanzen und die kurzfristige Erfolgsrechnung sowie die zukünftige Entwicklung erläutern zu lassen. Bei deutlicher Verschlechterung der Bonität eines Unternehmens oder bei bereits kritisch eingestuften Engagements werden unsere Spezialisten unmittelbar vor Ort tätig. Sie führen Gespräche mit dem Unternehmen, mit Lieferanten und Kreditinstituten, um Möglichkeiten zu finden, durch geeignete Maßnahmen, wie z. B. Sicherheitenabgrenzungsverträge, zusätzliche Sicherheiten usw., das Engagement weiterhin zu begleiten. Oberstes Ziel ist die Schadenverhütung für unsere Kunden.
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Hubert B. Beuter, Ingo Reissund Hans Joachim Rust
3. Warum formalisierte Verfahren?
Der Einsatz von formalisierten Verfahren in der Kreditprüfung ist für uns kein Selbstzweck. Wir haben auch keinen wissenschaftlichen Ehrgeiz. Vielmehr bestimmen wir unsere Motivation für den Einsatz solcher Verfahren ganz pragmatisch und ausschließlich aus dem Nutzen für unsere Kunden und für unser Unternehmen. Wir möchten begründen, weshalb wir formalisierte Verfahren einsetzen. Erstens ist der quantitative Aspekt zu betonen. Bei der Allgemeinen Kredit werden große Mengen verarbeitet. Hochqualifizierte Kreditprüfer verarbeiten täglich eine Vielzahl von Vorgängen und Entscheidungen. Um einige Beispiele zu geben: - Wir treffen monatlich über 43.000 Entscheidungen, d.h. durchschnittlich verläßt alle 13 Sekunden eine Entscheidung unser Haus. - Ca. 530.000 Limite werden von uns ständig überwacht. Ein solches Massengeschäft kann nur bewältigt werden, wenn Abläufe und Prozesse strukturiert und vorgedacht sind. Die Informationen müssen mit EDV -Unterstützung gespeichert, weitergeleitet und ausgewertet werden. Nur mit der EDV und dem damit einhergehenden Zwang zur Formalisierung sind wir in der Lage, die Mengen zügig abzuarbeiten. Dabei ist das Tempo, mit dem wir den EDV-Einsatz vorantreiben, weiter steigend. Es gibt einige bei uns, die sagen, die Kreditversicherung ist mittlerweile eine Organisationsveranstaltung mit angehängter Kreditprüfung. Zweitens ist der Kostenaspekt hervorzuheben. Im Wettbewerb um den Kunden können wir nur bestehen, wenn es uns gelingt, unsere Produkte und Dienstleistungen weiterzuentwickeln und kostengünstig anzubieten. Aus diesem Wettbewerb heraus resultiert ein ständiger Zwang zur permanenten Rationalisierung und Verbesserung der Kostenstrukturen. Auch hier zwei Beispiele: - In unserer inländischen Kreditprüfung stieg die Produktivität von 1986 bis 1992 um 71 %. - In einer Abteilung mit der Aufgabe der technischen Vor- und Nachbereitung der Kreditentscheidungen arbeiten wir gegenüber 1986 mit 28 % weniger Mitarbeitern die doppelte Anzahl von Vorgängen ab. Eine solche Produktivitätssteigerung ist in einem Dienstleistungsunternehmen wie dem unseren, in dem die Personalkosten etwa 50 % der Gesamtkosten ausmachen, nur mit erhöhtem EDV-Einsatz möglich.
Kreditwürdigkeitsprüfung
61
Dabei ist eine interessante Beobachtung festzuhalten: In den Anfängen der EDV waren es vor allem administrative und einfache Hilfstätigkeiten, die durch den Computer ersetzt oder vereinfacht wurden. In den 80er Jahren waren es EDV-Systeme zur Unterstützung und Verbesserung der einfachen Sachbearbeitung und technischen Zuarbeitung. Heute sind hier die Rationalisierungspotentiale weitgehend ausgeschöpft, und es geht seit einigen Jahren darum, den Kreditprüfungsprozeß selbst zu verbessern und - wenn möglich für eine große Anzahl von Fällen zu automatisieren. Wir können und wollen es uns nicht mehr leisten, hochqualifizierte Kreditprüfer in einer nicht optimalen Weise einzusetzen und hier potentielle Automatisierungsmöglichkeiten auszulassen. Die Entwicklung der Technik kommt uns dabei zugute. Auch hier wiederum ein Beispiel: Etwa 55% der Kreditentscheidungen auf deutsche Unternehmen werden nach vorgegebenen Regeln und auf Basis von bei uns entwickelten formalisierten Verfahren vom Computer getroffen. Wir gehen davon aus, daß sich dieser Prozentsatz in den nächsten Jahren noch um knapp 20 % steigern läßt. Aufgrund von Schadenanalysen stellten wir fest, daß die Entscheidungen des Computers nach den Regelwerken der Kreditprüfung nicht schlechter, ja sogar eher besser sind als entsprechende manuell getroffene Entscheidungen. Ein solcher Erfolg ist natürlich nur möglich, wenn die entsprechenden Einflußgrößen formalisiert sind und der Computer aufgrund von Parametern und Informationsdaten aus unseren Datenbanken zum verlängerten Arm - oder besser Kopf- des Kreditprüfers wird. Drittens ist der qualitative Bereich zu nennen: Wir müssen unsere Entscheidungen besser machen. Besser heißt objektiver. Das verlangt das gestiegene Qualitätsbewußtsein unserer Kunden. Der Einsatz von formalisierten Verfahren ermöglicht, daß individuelle Fehler oder mangelnde Qualität in der Arbeit von einzelnen drastisch reduziert werden. Ein Beispiel: Warnsignale werden aus der in der Datenbank abgespeisten Informationsfülle herausgefiltert und dem Kreditprüfer übersichtlich für seinen Entscheidungsprozeß aufbereitet. So erkennt heute der Computer, wenn für eine zu treffende Entscheidung die Informationsbasis nicht ausreicht, oder ob kritische Negativ-Indikatoren zum Unternehmen vorliegen. In diesem Zusammenhang möchten wir betonen, daß die individuelle Erfahrung, das individuelle Wissen und Fingerspitzengefühl des einzelnen Kreditprüfers sehr wohl noch gefragt sind. Es kommt darauf an, daß die Entscheidungen in Kenntnis aller vorliegenden Daten und Fakten getroffen werden.
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Hubert B. Beuter, Ingo Reiss und Hans Joachim Rust
4. Unsere Vision Wir möchten Ihnen nun die Zukunft skizzieren, wie wir sie uns vorstellen. Im Zentrum stehen unsere Kunden, unsere Versicherungsnehmer. Für sie erbringen wir unseren Service. Unsere Kunden wollen wir durch eine gute Kreditprüfung vor Schäden bewahren. Sie kommunizieren über unser OnlineSystem per Bildschirm direkt mit unserer Datenbank. Die Limitwünsche werden gemäß den vordefinierten Regeln für den größten Teil der Fälle in Sekundenschnelle beantwortet. Dies geschieht aufgrund von ausgewerteten Informationen und Fakten in einer integrierten Datenbank und formalisierten Regelwerken. Für Millionen von Unternehmen sind Basisinformationen, Auskünfte, Kennzahlen und Analyseergebnisse im Computer abgelegt und gespeichert. Sollte der Informationsstand dennoch nicht ausreichen, so stellt der Computer dieses fest und spielt die fehlenden Informationsbausteine automatisch, papierlos und ohne manuellen Bearbeitungsschritt durch einen Menschen in unsere Datenbank ein. Intelligente Systeme analysieren diese eingehenden Informationen laufend, z. B. Bilanzen und Wirtschaftsauskünfte, und treffen Entscheidungen oder geben Entscheidungsvorschläge, die der Kreditprüfer am Bildschirm akzeptieren oder verändern kann. Permanent wird das Wissen über die Unternehmen automatisch ergänzt. Die ausgehenden Entscheidungen werden von der EDV wiederum ohne manuellen Bearbeitungszwischenschritt erstellt und automatisch per Telefax oder über elektronische Medien an den Versicherungsnehmer gesandt. Wo bleibt in dieser automatisierten Welt der Kreditprüfer? Wir sehen ihn weiterhin in der zentralen Rolle. Er ist der Motor und Kopf, der diesen Prozeß am Laufen hält. Durch Vorgabe, Überprüfung und Weiterentwicklung von Parametern und Regeln. Er wird seine Konzentration auf die schwierigen Fälle und drohende Schadensituationen richten können. Hier sind seine Erfahrung und sein Wissen besonders gefragt. Weitgehend frei von administrativen und technischen Routineaufgaben wird er seine Kreativität einbringen können und so seinen Beitrag zum Unternehmenserfolg erhöhen. An drei Beispielen soll gezeigt werden, daß die so skizzierte Zukunft schon längst begonnen hat.
Kreditwürdigkeitsprüfung
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5. Codierte Auskünfte
Jährlich wurden in unserer Inlandskreditprüfung über 200.000 Papierauskünfte von Wirtschaftsauskunfteien bearbeitet, analysiert und archiviert. Aus der Wirtschaftsauskunft erkennt der Kreditprüfer traditionell wichtige Basisinformationen, wie z. B. Firmierung, Rechtsform, Branche und Firmenalter, Umsatz, Mitarbeiterzahl, das Zahlungsverhalten, die Gesellschafterstruktur und die Untemehmensentwicklung. Natürlich sind diese Daten auch in ihrer Veränderung über die Zeit in ihrer Aussagekraft zu sehen, und eine Entscheidung kann nur im Kontext mit weiteren Informationen getroffen werden. Dabei wird die Auskunft bei mehreren Limitwünschen für das betroffene Unternehmen wiederholt gelesen und analysiert (vgl. Abbildung 4).
Wirtschaftsauskunftei
200.000
I Auskünfte I
per Papier
Archivierung, Registrierung
.... Analyse, Bewertung
Kreditentscheidung
I
Analyse, Bewertung
Kreditentscheidung
Wie kann Bearbeitung optimiert werden? Kann Analyse formalisiert/automatisiert werden? Abbildung 4: Codierte Auskünfte: Traditioneller Ablauf
I
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Hubert B. Beuter, lngo Reiss und Hans Joachim Rust
Zu Beginn des Projektes mit dem Titel "Codierte Auskünfte" sahen wir uns mit zwei Fragen konfrontiert: - Wie kann die Bearbeitung der Papiermengen optimiert werden? - Kann die Analyse einer Wirtschaftsauskunft formalisiert oder gar automatisiert werden? Der erste Projektschritt war die elektronische, EDV-gerechte Übertragung der Auskunftsdaten. Im Jahre 1988 haben wir in Zusammenarbeit mit der größten deutschen Wirtschaftsauskunftei dieses Projekt verwirklicht. Seither sind die Auskunftsdaten codiert in der Datenbank abgelegt und damit per EDV auswertbar (vgl. Abbildung 5).
Datenbank Auskunftei
~~""'-~,-----------, Datenbank Allgemeine Kredit 1. Speicherung+ Archivierung Inhalt Adresse Umsatz Zahlungsverhalten Rechtsform ...
20Mio vereinbarungsgem. GmbH
Bewertung Gewichtung 2
4%
2
35%
4
4%
2. Bewertung, Ermittlung Rating Bonitätsindex = Gewichtung 1 x Bewertung 1 + Gewichtung 2 x Bewertung 2 + Gewichtung 3 x Bewertung 3
Kreditentscheidung
Kreditentscheidung
Abbildung 5: Codierte Auskünfte: Heutiger Ablauf
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Alle Mitarbeiter arbeiten nur noch mit der codierten Auskunft, entweder am Bildschirm oder bei Bedarf mit einem Ausdruck. Nicht gelöst hatten wir mit diesem ersten Projektschritt jedoch das Problem, daß die Auskünfte individuell und unter Umständen mehrfach gelesen und analysiert wurden. Diese Fragestellung wurde im zweiten Projektschritt angegangen. Die relevanten Variablen aus der Auskunft, wie z. B. das Zahlungsverhalten, die Branche, die Rechtsform, werden nach einem Punkteschema automatisch bewertet und gewichtet. Der Computer kombiniert die gewichteten und bewerteten Variablen dann zu einem Rating, der zwischen I für ein sehr gutes Unternehmen und 6 für ein insolventes Unternehmen schwanken kann. Die schwierige Aufgabe ist dabei die Auswahl und Gewichtung der Variablen entsprechend der bonitätsrelevanten Aussagekraft So kommt z. B. der Verschlechterung der Zahlungsweise im Hinblick auf eine mögliche bevorstehende Insolvenz eine höhere Bedeutung zu als der Produktionskennziffer Umsatz pro Mitarbeiter. Dieses Punktebewertungsverfahren ist empirisch festgelegt und wissenschaftlich nicht abgesichert. Das Verfahren arbeitet jedoch gut, und wir überprüfen die Wirkung anhand der Schadenverläufe und Stichproben permanent im nachhinein. Das vom Computer berechnete Rating gibt dem Kreditprüfer ein knappes und übersichtliches Analyseergebnis. Die Bewertung der Auskunft wurde objektiviert und in der Qualität verbessert. Der Kreditprüfer braucht bei einem sehr guten oder schlechten Rating in der Regel gar nicht in eine weitere Analyse einzusteigen. Der Computer signalisiert zudem etwaige Unplausibilitäten, wie z. B. die Zeichnung auf ein Unternehmen mit einem schlechten Rating oder die Ablehnung eines Limits für ein Unternehmen mit einem guten Rating. Seit etwa 1989 arbeiten wir durchgängig mit diesem Ratingverfahren in unserer Kreditprüfung und haben in weiteren Projekten dieses Element in unsere automatische Entscheidungstindung eingebunden. Den Einsparungseffekt des Gesamtprojektes "Codierte Auskunft" schätzen wir auf mehrere Millionen DM p. a.
6. Maschinelle Bilanzanalyse und Krisensignalwert (Diskriminanzanalyse)
Einer der wichtigsten Informationsquellen für die Bonitätsprüfung ist der Jahresabschluß des Kunden. Seit 1984 erfolgt die Auswertung der Bilanzen 5 Schiemenz
Hubert B. Beuter, Ingo Reissund Hans Joachim Rust
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durch ein EDV-gestütztes Analyse-System, kurz MABILA genannt, das aus drei aufeinanderfolgenden Jahresabschlüssen die wichtigsten Kennziffern einer Bilanz errechnet. Im vergangeneo Jahr wurden über 15.000 Jahresabschlüsse im MABILA-System erfaßt. Die Mitarbeiter in der Kreditprüfung können durch dieses System die Bilanzinformationen sowie Kennzahlen am Bildschirm entweder im Gesamtüberblick oder im Detail abrufen und diese in ihre Kreditentscheidung einfließen lassen. Gestützt auf einen umfangreichen Bestand von gespeicherten Bilanzen und auf ein leistungsfähiges Mabila-System wurde in 1989 in unserem Hause damit begonnen, die bestehenden klassischen Bilanz-Analysesysteme weiter zu entwickeln (vgl. Abbildung 6).
I
- Bilanzeingang, - Gliederung
I Bilanzanalyse
per EDV, MABILA
I
Berechnung D-Funktion
I
Bonitätsbeurteilung Abbildung 6: Maschinelle Bilanzanalyse
Um die Bilanzanalyse zu objektivieren - die klassischen Analysesysteme haben den Nachteil, daß der Analyst oftmals auch widersprüchliche Aussagen über die Bilanzbonität des analysierten Unternehmens erhält - wurde zusammen mit dem Institut für Revisionswesen der Universität Münster unter der Leitung von Prof. Dr. Baetge auf Basis der multivarianten Diskriminanzfunktion ein Krisensignalwert entwickelt. Das Ziel dieser Zusammenarbeit bestand darin, eine geeignete Kennzahlenkombination zu finden, die frühzeitig krisenhafte Unternehmensentwicklungen anband des Jahresabschlusses erkennt, die Kreditprüfung entlastet und die Überwachung der Kreditrisiken erleichtert. Das heißt, unsere Bonitätsbeurteilung wird unterstützt.
Kreditwürdigkeitsprüfung
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Um dieses Ziel zu erreichen, wurde auf die multivariate Diskriminanzanalyse zurückgegriffen. Hierbei handelt es sich um eine bewährte statistische Methode, die es ermöglicht, Unternehmen in "gesunde" und "kranke" Gruppen zu trennen. Dazu werden die signifikanten Unterscheidungsmerkmale (Kennzahlen) zwischen den Gruppen herausgearbeitet und so zusarnmengefaßt und gewichtet, daß die zu klassifizierenden Unternehmen möglichst gut der einen oder der anderen Gruppe zugeordnet werden können. Eine solche Diskriminanzfunktion läßt sich allgemein wie folgt beschreiben: D
= -ao
+ al. XI + a2. x2 + ... + az. Xz
In dieser linearen Funktion werden mit Hilfe des Verfahrens die trennfähigsten Kennzahlen X 1 bis X2 mit ihren jeweiligen Gewichten a 1 bis a2 multipliziert. Die Summe aus den so gewichteten Kennzahlen und dem absoluten Term - ....
IZl
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Handlung
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Erkenntnisse
Lemkontrolle, Reflexion
~
Abb. 8: Lernen und Arbeiten als Zyklus (vgl. Henning, 1990) Beteiligungsprozesse besteht (Krewer/Sell, 1992, S. 190ft). Unter "Beteiligungsqualifizierung" versteht man demnach "das Vermitteln der qualifikatorischen Grundlagen der Beteiligung" (Abb. 8). Darüber hinaus fallen unter diesen Begriff auch solche Qulifizierungsmaßnahmen, die geeignet sind, bereits angelaufene Beteiligungsmaßnahmen zu fördern und zu effektivieren" (Bitzer, 1991, S. 27). Hier werden die wesentlichen Kompetenzen geschult, die für eine Beteiligung unerläßlich sind. Dies sind im wesentlichen (Sell/FuchsFrohnhofen, 1993, S. 34ff und S. 103): Methodenkompetenz, verstanden als die Fähigkeit, den Problemlösungsprozeß sinnvoll zu planen, zu strukturieren und rückgemeldet durchzuführen; Innovationskompetenz, verstanden als die Fähigkeit, kreative Ideen gemeinsam zu erzeugen und effektiv in den Problemlöseprozeß einzubringen; Entscheidungskompetenz, verstanden als die Fähigkeit, nach umfassender Orientierung den jeweils nächsten Problemlöseschritt zielgerichtet gemeinsam zu verabreden; sowie, als übergeordnete Kompetenz: kommunikative und soziale Kompetenz, verstanden als die Fähigkeit, Arbeitsprozesse kooperativ zu gestalten, kommunikative Regeln zu beachten und Teamarbeit zu moderieren.
Durch die Qualifizierung dieser Schlüsselfähigkeiten sollen den Beschäftigten insbesondere die aktive Teilnahme an betrieblichen Vereinbarungsprozessen über die Gestaltung von Qualifizierung, Arbeitsorganisation und Technik ermöglicht werden; sie sollte demnach sinnvollerweise zu einem möglichst frühen Zeitpunkt im Rahmen von Innovationsprozessen aktiviert werden.
Kybernetische Organisationsentwicklung
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4. Konsequenzen für die Gestaltung von Innovationsprozessen
Bedenkt man abschließend die getroffenen Aussagen, angefangen von den Ausgangsbedingungen (Komplexitätsanstieg, Organisationskrebs) über die Prinzipien, die komplexorientierte sozial- und naturwissenschaftliche Ansätze nahelegen (Selbstähnlichkeit, Selbstorganisation und Prozeßorientierung) bis hin zur neuen Leitvorstellung "selbstähnliche Organisation", so sollen diesbezüglich einige immer wieder auftretende Defizite in der Praxis dargestellt werden. Sie können als so etwas wie "Ratschläge für das Poesiealbum von Projektleitern" verstanden werden (vgl. hierzu auch Grinda et al., 1993, S. 131ff): Hemmende Faktoren bei Geschäftsführungen und Projektleitern:
- Sie unterschätzen häufig den "revolutionären" Charakter der Veränderung hin zum selbstähnlichen und selbstorganisierten Unternehmen. Veränderungen dieser Art sind mit herkömmlichen nicht zu vergleichen. Wo strategische Entscheidungen gefragt sind, begnügt man sich häufig mit vermeintlich unverbindlichen Versuchen. - Sie glauben, den Soll-Zustand zu kennen, und meinen, den Prozeß dorthin lückenlos unter Kontrolle haben zu können. Wenn man Beteiligung ernst nimmt, dann können unerwartete Lösungsvorschläge von Mitarbeitergruppen ein ursprüngliches Konzept über den Haufen werfen. - Sie sehen in einer Organisationsentwicklung "von unten" nicht selten ein Instrument zur Akzeptanzförderung bereits beschlossener Konzepte. Nicht Akzeptanz-, sondern Motivationsförderung durch Einbeziehung in Entscheidungen ist gefragt. - Sie vertrauen zu sehr rationalen, weil ökonomisch begründeten Argumenten und übersehen dabei, daß so mancher Beschäftigte aus der Veränderung als Verlierer hervorgeht oder sich zumindest als Verlierer sieht. Durch diesen Motivationsverlust gehen wertvolle Potentiale für den Innovationsprozeß verloren. - Sie haben unrealistische Erwartungen bezüglich der Meßbarkeit erster Erfolge und setzen damit den Innovationsprozeß und seine Bearbeiter unnötig unter Druck. Ein Krebsgeschwür kann man auch nicht mit der Einnahme einer Kopfschmerztablette bekämpfen. - Sie unterschätzen den Widerstand von etablierten Strukturen. Verkrustungen kann man nicht einfach übertünchen. - Sie legen zu wenig Wert auf die frühzeitige Einbindung der betrieblichen lnteressenvertretungen, erfüllen allenfalls die Vorgaben des Betriebsver-
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Klaus Henning und lngrid Isenhardt
fassungsgesetztes ("Beteiligung nach Vorschrift"). In den neuen Organisationen sind aber neue Kooperationsformen gefragt.
Hemmende Faktoren bei Projektleitern: - Sie wissen zu wenig über die mögliche Dynamik von Beteiligungsgruppen und trauen ihnen keine selbständige Arbeit zu. Gerade dort zeigt sich aber das Potential der Selbstorganisation. - Sie stehen unter Druck, möglichst rasche Erfolge vorweisen zu können. Dadurch wird häufig die Rückkopplung an die Mitarbeitergruppen bezüglich des "weiteren Schicksals" ihrer Vorschläge vernachlässigt, was wiederum Demotivation verursacht. Dadurch gehen aber auch viele Lösungsvorschläge verloren, die es Wert wären, genauer betrachtet zu werden. - Sie scheuen sich, vermeintliche Problemgruppen (Ungelernte, Ausländer) oder auch offensichtliche Problemgruppen (Kritiker des Projektes) frühzeitig "ins Boot", d.h. in die Projektgruppen zu nehmen. Hier mangelt es häufig an methodischem Rüstzeug (Moderation etc.). Aber nur, wenn man sich mit diesen "Problemgruppen" offen auseinandersetzt, kann man Stolpersteine aus dem Weg räumen.
Hemmende Faktoren bei Sachbearbeitern: - Sie sind es oft nicht gewohnt, daß man sie nach ihrer Meinung fragt, und bringen solchen Offerten eher Mißtrauen entgegen. Selbst wenn sie dieses Mißtrauen überwinden, herrscht Skepsis darüber vor, was nun mit ihren Äußerungen und Vorschlägen geschieht. - Die Selbstorganisation von Lernprozessen scheitert häufig entweder an didaktischem Unvermögen oder an der Angst, sich durch Preisgabe seines zum Teil über Jahre angesammelten Wissens entbehrlich zu machen. - Motivierte Mitarbeiter, die offen sind für derartige Veränderungen und die neue Verantwortung begrüßen, neigen schnell zur Selbstausbeutung (vgl. Krewer, 1993).
Hemmende Faktoren bei der betrieblichen Interessenvertretung: - Der ungewohnten Kooperationsbereitschaft von seiten der Geschäftsführung stehen sie oft skeptisch gegenüber. Anstalt durch Mitwirkung im Projekt Einfluß zu nehmen, ziehen sie sich gerne auf die Beobachterrolle zurück, um im Zweifelsfall besser opponieren zu können. - Sie befürchten, ihr Vertretungsmonopol zu verlieren, wenn Mitarbeiter in Projektgruppen mitwirken. Sie verkennen die auch für sie bestehenden Potentiale selbstähnlicher Organisationsstrukturen.
Kybernetische Organisationsentwicklung
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- Sie neigen dazu, die Gefahr der Selbstausbeutung bei dezentralen Strukturen überzubetonen. Eine auf Dauer überlebensfähige Organisation sollte auch in ihrem Interesse sein. Die aufgeführten Defizite rühren im wesentlichen aus einem noch ungewohnten neuen Denken, das durch den eingangs beschriebenen Paradigmenwechsel gekennzeichnet ist. Wir müssen aber alle umlernen, weil viele bewährte Konzepte der Vergangenheit für Organisationen untauglich sind, die unter dem Einfluß turbulenter Märkte stehen. Wenn wir in solchen Märkten bestehen wollen, dann brauchen wir neue Organisationsansätze, um unsere Unternehmen effizient gestalten zu können. Die Überlegungen zum selbstähnlichen, selbstorganisierten Unternehmen sollten dazu Denkansätze geben.
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Unternehmenskybernetik in der Praxis Betriebliche Erfahrungen und Perspektiven von Helmut Schulte und Christoph Wunn 1
1. Einleitung
In einer Zeit, in der die Unternehmen sich in ihrer Umwelt einer steigenden Komplexität und Dynamik gegenübersehen, stellt sich die Frage, wie die Unternehmen damit umgehen. In den allermeisten Unternehmen fehlen kybernetische Konzepte zur zielorientierten Führung. Das hat zu einer mangelhaften Anpassungsfahigkeit an sich verändernde Umweltbedingungen geführt. In der schwierigen Lage, in der sich die gesamte Wirtschaft zur Zeit befindet, kann dies für ein einzelnes Unternehmen fatale Folgen haben. Umfassende kybernetische Steuerungskonzepte sind aus theoretischer Sicht eine mögliche, wenn nicht sogar die einzige Lösung. Allerdings sind nach unserer Erfahrung solche umfassenden, das bisherige Unternehmen revolutionierenden Konzepte nicht umsetzbar. Vielmehr müssen die Denkweisen der Unternehrnenskybernetik mit kleineren, konkreten Projekten transparent und verständlich gernacht werden. Erst dann können unternehmensweite und ganzheitliche kybernetische Steuerungskonzepte in den Unternehmen eingeführt und von den Mitarbeitern gelebt werden.
1 Dip!. rer. pol. (techn.) Helmut Schulte, Vorstand der agiplan AG, Zeppelinstraße 301, 45470 Mülheim an der Ruhr und Dipl.-Ing., Dipl.-Wirt.lng. Christoph Wunn, Institut ftlr Unternehmenskybernetik e. V., Kaiserstraße 20, 45468 Mülheim an der Ruhr. 9 Schiemenz
Helmut Schulte und Christoph Wunn
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Der Beitrag gliedert sich - wie in dieser Einleitung grob dargestellt - in drei Teile: - Beobachtungen - Fallbeispiele - Perspektiven
2. Beobachtungen
In vielen Unternehmen werden die eigentlichen Ursachen der Steuerungskrisen nicht richtig erkannt. Es werden oft nur die schlechte Qualität der Produkte und die schlechte Produktivität festgestellt und versucht, mit Kontrollen und Akkordlöhnen gegenzusteuern. Diese Reparaturmaßnahmen, die bestenfalls eine kurzfristige Besserung erreichen, sind leider auch heute noch sehr häufig anzutreffen. Schlechte Qualität und Produktivität sind jedoch nur die Auswirkungen von mangelnder Prozeßtransparenz und geringer Einsatzfreude der Mitarbeiter. Dies sind allerdings auch nur Symptome von noch tieferliegenden Ursachen. Auf der Ebene der Symptome greifen solche Maßnahmen wie Gemeinkostenwertanalysen und die in jüngster Zeit von vielen Unternehmen verfolgte Zertifizierung von Qualitätssicherungs-Systemen an, ohne etwas Grundlegendes ändern zu können.
Auswirkungen
Symptome
Beispiele
Maßnahmen
schlechte Qualität schlechte Produktivität
Kontrollen
mangelnde Prozeßtransparenz geringe Einsatzfreude
Akkord
Gemeinkostenwertanalyse
Abbildung 1: Beobachtungen von Ursachen, Symptomen und Auswirkungen
Unternehmenskybernetik in der Praxis
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Die eigentlichen Ursachen dieser Schwierigkeiten liegen in der mangelhaften Zusammenarbeit der Mitarbeiter und Abteilungen im Unternehmen. Nur wenn die Systeme Mensch, Technik und Organisation ganzheitlich gestaltet und in einer kybernetischen Weise zusammenwirken, können die beispielhaft genannten Schwierigkeiten und Probleme gemeistert werden. Wir beobachten weiterhin in vielen Unternehmen, daß bestimmte wiederkehrende Zustände nicht erkannt oder einfach ignoriert werden. Statt erst in der jetzigen, schwierigen wirtschaftlichen Lage die Produktion und die Verwaltungen schlank zu machen, hätte man dies in den "guten Zeiten" wesentlich einfacher erreichen können. Auch die vielgepriesene Konzentration auf das Kerngeschäft sollte nicht von der wirtschaftlichen Lage abhängig gemacht werden, sondern sollte eine langfristige, strategische Entscheidung des Managements sein. Das schlanke Unternehmen kann nicht, wie von vielen Unternehmen offenbar erwartet, durch reinen Personalabbau erreicht werden. Die Reduzierung auf einen Minimalbestand an Mitarbeitern - und teilweise zu Lasten der Mitarbeiter sogar noch darunter - verneint die Hoffnung auf bessere Zeiten. Kommen dann neue Aufträge und damit "Gute Zeiten", müssen wieder Mitarbeiter gesucht werden; Stäbe und Verwaltung werden wieder aufgebläht, die Produktion wird wieder tiefer und breiter. Damit werden die Schwierigkeiten im nächsten wirtschaftlichen Abschwung vorprogrammiert. Man muß vielen Managementetagen den Vorwurf machen, daß solche systemischen Zusammenhänge nicht ausreichend berücksichtigt werden. Damit kann die kybernetische Kopplung zwischen Strategie und operativer Tätigkeit nicht hergestellt werden. Dieses Manko ist in der Theorie schon vor langer Zeit erkannt und thematisiert worden. Als Beispiele mögen hier die Arbeiten von W. R. Ashby und Stafford Beer genügen.2 Die Kybernetik ist bei diesen Arbeiten als Wissenschaft von effektiven Organisationen zu verstehen. Sie bietet die Möglichkeit, Erfahrungen zu ordnen und daraus neue Strategien abzuleiten. In Anbetracht der komplexen und dynamischen Umwelt können diese Strategien aber niemals einfach sein. Einfache Darstellungen eines komplexen Systems bergen die Gefahr, daß ein Problem "wegtrivialisiert" wird. Die Umsetzung sehr umfassender Konzepte in den Unternehmen gelingt jedoch fast nie, obwohl z. B. Beer sich um eine sehr anschauliche und nachvoll-
2 Vgl. z.B. Ashby, W. R.: An lntroduction to Cybemetics, London 1956; Beer, S.: Diagnosing the System for Organizations, Chichester et al. 1985. Vgl. auch Schuhmann, W.: Informations-Management, Frankfurt-New York 1991.
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Helmut Schulte und Christoph Wunn
ziehbare Darstellungsweise bemüht. 3 In seinem Viable System Model sind fünf verschiedene Steuerungs-Ebenen von einer normativen bis zu einer operativen, umsetzenden Ebene unterschieden. Die Unternehmen sind nach unserer Meinung nicht in der Lage, derart umfassende Konzepte in ihrem Management durchzusetzen und sie ihren Mitarbeitern verständlich zu machen. Letzteres ist absolute Voraussetzung für einen erfolgreichen Einsatz. Eine ganzheitliche Anwendung in der Unternehmensführung ist unseres Wissens noch nicht realisiert. Stattdessen muß im kleinen und konkreten angesetzt werden. Kontinuierliche Verbesserungsprozesse oder -um die inzwischen fast gängige japanische Terminologie zu verwenden - Kaizen sind Beispiele für einen Fortschritt in kleinen Schritten.4 Jedoch gibt es eine ganze Reihe von singulären, partiellen Anwendungen, die als Beispiele dienen können. Dabei geht es im wesentlichen um eine prozeßorientierte Kombination der Bereiche Mensch, Technik und Organisation. Diese geforderte, stärkere Prozeßorientierung bedingt bei erhöhter Komplexität in den Unternehmen die Bildung von eigenverantwortlichen Gruppen, die sich mehr als bisher selbst steuern können. Im folgenden wollen wir an drei Fallbeispielen solche Projekte vorstellen.
3. Fallbeispiele Als Beispiele für die Vermittlung von kybernetischen Denkweisen sollen folgende, in Unternehmen durchgeführte Projekte dienen: 1. Bildung werkstattähnlicher Arbeitsgruppen in einem Instandsetzungsbetrieb zur Steigerung der Qualität und Produktivität 2. Ganzheitliche Fabrikplanung durch gleichzeitige und gekoppelte Gestaltung der Bereiche Mensch, Technik und Organisation für ein Maschinenbauunternehmen 3. Einsatz eines Kanban-Spiels zur Vermittlung kybernetischer Prinzipien im Auftragsdurchlauf
3 So stellt Beer im Anhang seines Buchs (Beer, S.: Diagnosing the System for Organizations, Chichester et al. 1985) Blanko-Vordrucke seines Viable System Model zur selbständigen Identifizierung der Funktionen im eigenen Unternehmen zur Verfügung. 4 So werden solche kontinuierlichen Prozesse mit jeweils unterschiedlichen Bezeichnungen z. B. von den Automobilherstellern durchgeführt.
Unternehmenskybernetik in der Praxis
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3.1 Bildung werkstattähnlicher Arbeitsgruppen
Die Arbeitsgruppen wurden in dem Unternehmen PFA (Partner für Fahrzeug-Ausstattung) in Weiden gebildet.5 Aufgabe dieses Unternehmens ist der Umbau der Schnellzugwagen der Deutschen Bundesbahn zu "InterRegio-Wagen". Die alten Wagen entsprechen in Design, Komfort und Ausstattung nicht mehr dem gewünschten Stand. Da aber die Substanz der Wagen noch gut ist, werden sie nicht verschrottet, sondern in umfangreicher Weise inslandgesetzt und modernisiert. Hierzu werden die Wagen von den Fahrgestellen genommen, die in einer speziellen Werkstatt bearbeitet werden. Die Wagen selbst werden mit Hilfe von Luftkissenfahrzeugen an eine von zwanzig Bearbeitungszonen bewegt und dort abgesetzt. In diesen Bearbeitungszonen wird der gesamte Innenausbau eines Wagens von einer Arbeitsgruppe, hier "Meisterfamilie" genannt, durchgeführt. Die Meisterfamilien setzen sich aus 20 bis 25 Mitarbeitern zusammen, die gemeinsam an einem Wagen arbeiten. Die Mitarbeiter sind keine Spezialisten, sondern eher "Allround-Mitarbeiter", so daß jeder alle anfallenden Arbeiten durchführen kann. Hierzu sind alle notwendigen Maschinen und Werkzeuge in der Meisterfamilie und damit direkt am Wagen vorhanden. Die Arbeitseinteilung innerhalb der Meisterfamilie erfolgt selbständig - es gibt hierfür keine Arbeitsvorbereitung mehr. Der bewußt gewählte Begriff Meisterfamilie soll die Selbständigkeit und den Zusammenhalt der Gruppe verdeutlichen. Der Meister ist für die Beschaffung der benötigten Materialien und die Terminkoordination verantwortlich. Die Selbständigkeit zeigt sich auch in der eigenverantwortlichen Einstellung neuer Mitarbeiter. Prämien werden als Gruppenprämie an die Meisterfamilie insgesamt gezahlt; hierdurch soll das gemeinsame Unternehmerische Handeln des Meisters und der Meisterfamilie gefördert werden. Zwischen den Meisterfamilien ist ein Wettbewerb bezüglich Produktivität und Qualität entstanden. Oberstes Ziel bei der Bildung der Meisterfamilien war eine menschengerechte Innovation. Dies läßt sich in drei Bereichen konkretisieren: 1. Technische Ziele 2. Personelle Ziele 3. Organisatorische Ziele Technische Ziele sind insbesondere die flexible Nutzung von Personal und Betriebsmitteln, eine Optimierung der Auslastung, ein Just-in-Time- Material-
5 Vgl. hierzu auch Kleinschmidt, H. I Rechmann, H.: Wagenbau mit Meister-Familien. Eine neue Arbeitswirtschaft, in: Fabrik der Zukunft 11/89, S. 14-17.
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Helmut Schulte und Christoph Wunn
fluß sowie die Gewährleistung einer hohen Qualität. Dies bewirkt dann eine Minimierung von Durchlaufzeiten und Urnlautbeständen. Als personelle Ziele werden die Erweiterung des Handlungsspielraums, die Erhöhung der Arbeitszufriedenheit und Leistungsbereitschaft sowie die Verbesserung von Kooperation und Kommunikation zwischen den Mitarbeitern verfolgt. Diese Ziele sollen die Fluktuations- und Abwesenheitsraten senken beziehungsweise niedrig halten. Organisatorische Ziele sind ein verringerter Aufwand für die Arbeitsvorbereitung, selbständige Gruppen und geringer Abstimmungsaufwand. Ergebnis soll insbesondere eine schnellere Auftragsabwicklung sein. Durch die Zusammenfassung mehrerer, üblicherweise getrennter Arbeitsprozesse und ihre Durchführung in kleinen, überschaubaren Arbeitsgruppen werden die Arbeitsabläufe flexibel und gleichzeitig für die Mitarbeiter transparenter. Wirkungszusammenhänge werden hierdurch begreitbar und damit für die Mitarbeiter beeinflußbar.
3.2 Ganzheitliche Fabrikplanung
Dieses Projekt in der Branche des Schwermaschinenbaus hatte den Neubau einer wettbewerbsfähigen Fabrikanlage zur Aufgabe. Zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeitdes Unternehmens waren Zielkosten des Endprodukts in DM pro Tonne beziehungsweise in DM pro Stunde vorgegeben. Als wesentliche Anforderungen ergaben sich daraus eine geeignete Dimensionierung der Technik, die (rechtzeitige) Qualifizierung des Personals sowie eine möglichst schlanke Organisation. Zur Realisierung einer ganzheitlichen Fabrikplanung ist ein deduktives Vorgehen unbedingt notwendig. Die Lösung für das Gesamtsystem bestimmt die Lösung im Detail, keinesfalls umgekehrt. Folglich muß von der Zielplanung ausgegangen werden, die von den Fabrikbetreibern vorgegeben wird oder mit diesen erarbeitet werden muß.6 Hier ist eine intensive Kommunikation zwischen Planern und Betreibern erforderlich. Nur durch diese Kommunikation kann einerseits die Akzeptanz der Zielvorgaben durch die Fabrikplaner und andererseits die Akzeptanz der vorgeschlagenen Lösung durch die Setreiber sichergestellt werden.
6 In vielen Unternehmen wird eine selbständige Erarbeitung von Zielen nur ungenügend vorgenommen. Der Fabrikplaner sollte dann als Moderator dieses Zielplanungsprozesses agieren.
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Unternehmenskybernetik in der Praxis Zielplanung
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